Kraft und Bewegung: Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit 9783787339297, 9783787339280

Das Erkenntnisziel dieses Buches liegt in der Bedeutung des antiken Erbes für die Ausbildung der frühneuzeitlichen Ästhe

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Kraft und Bewegung: Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit
 9783787339297, 9783787339280

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Dennis Borghardt

Kraft und Bewegung Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit

Paradeigmata · Band 41

Meiner

PARADEIGMATA 41

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

DENNIS BORGHARDT

Kraft und Bewegung Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-3928-0 ISBN eBook 978-3-7873-3929-7

Der Studie liegt die Dissertation ›An- und abstoßende Naturen. Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit‹ zugrunde, die 2018 von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen und 2019 mit dem Dissertationspreis derselben Universität ausgezeichnet wurde.

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Hanc deus et melior litem natura diremit. (Ov., met., 1, 21)

Inhalt

I.

Einführung in die Fragestellung

..........................

1. Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike 1.a. Qualitätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.b. Relevanzargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.c. Originalitätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.d. Konkurrenzargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.e. Naturargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.f. Kraftargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

14 14 16 18 19 21 24

2. Warum Mechanik und Ästhetik? – Anknüpfungspunkte an die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

3. Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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32

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46

4. Anmerkungen zu den Übersetzungen II.

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49

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49

Vermögen und Kräfte in der antiken Poetik und Rhetorik

1. Der antike Naturbegriff

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11

2. Poetik und Naturphilosophie

.........................

3. Extensive Vermögensbegriffe . . . . . . . . . . 3.a. Die Rolle der Lehrdichtung . . . . . . . . . Exkurs: Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortsetzung: Die Rolle der Lehrdichtung 3.b. Platons untechnische τέχνη . . . . . . . . 3.c. Die Rolle der Sophistik . . . . . . . . . . . .

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4. Intensive Vermögensbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.a. Platons göttliche δύναµις . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.b. (Ps.-)Longins Traktat Περὶ ὕψους (De sublimitate) 4.b.α. Die Kraft des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . 4.b.β. Noetisches und Pathetisches . . . . . . . . . . 4.b.γ. Autorenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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57

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. 73 . 73 . 80 . 84 . 91 . 100

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106 107 118 121 124 129

5. Komplexe Vermögensbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.a. Aristoteles' Poetik als Verbund von Extensivierung und Intensivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

8

Inhalt

5.a.α. Formale Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.a.β. Stoffliche Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . 5.a.γ. Das Mögliche im Poetischen . . . . . . . . . . . 5.a.δ. Das Prinzip der Dynamisierung . . . . . . . . 5.b. Wirkkräfte und Vermögen bei Cicero . . . . . . . . . 5.b.α. Kompetenz in der Kraft . . . . . . . . . . . . . . 5.b.β. Kraft in der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . 5.c. »vim dico δύναµιν« – Kräfte in Quintilians Institutio oratoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.c.α. Kräfte und wahre Kräfte . . . . . . . . . . . . . . 5.c.β. Autorenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.d. Résumé zum rhetorischen Kraftbegriff . . . . . . . . . 6. Das Erbe des antiken Essentialismus

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138 141 145 150 158 177 185

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191 197 205 209

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

III. Antikenrezeption in der Naturphilosophie um 1700

. . . . . . . . . . . . 219

1. Die Entwicklung der neuen Naturen: Descartes, Newton und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.a. Der frühneuzeitliche Naturbegriff . . . . . . . . . . . . 1.b. Zur Ausgangslage der Mechanik . . . . . . . . . . . . . 1.b.α. Mechanische Probleme zwischen (Ps.-)Aristoteles und Archimedes . . . . . . . 1.b.β. Kräftetheorie und mechanische Methodik . 1.c. Masse, Materie und das Innerste der Dinge . . . . . 1.c.α. Die Neubewertung der Innerlichkeit . . . . . 1.c.β. Der historische Aufstieg der Masse – moles, massa und inertia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.c.γ. Die doppelte Aufwertung der Materie . . . .

. . . . . . . 219 . . . . . . . 219 . . . . . . . 244 . . . .

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244 255 283 287

. . . . . . . 294 . . . . . . . 332

2. Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 2.a. Bewegung I: Descartes, Hobbes und Newton . . . . . . . . . . . 344 2.b. Bewegung II: Aristoteles, Kepler und Leibniz . . . . . . . . . . . 364 3. Kraft und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.a. Leibniz' Platon, Vergil und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . 3.b. Newton und sein klassisch-revolutionärer Kraftbegriff . . . . 3.c. Leibniz' Kritik an Newton in seinem Briefverkehr mit Clarke 3.d. Zur psychologischen Funktion des Erhaltungssatzes . . . . . . Fortsetzung: Kraft und Energie

373 388 411 421 428

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Inhalt

9

. . . . . 443

IV. Die Entwicklung der Ästhetik: Seelenkräfte und ihre Kontexte

1. Baumgarten und Aristoteles

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

2. Begriffe und Vorstellungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448

3. Die mathematische Grundlegung der Psychologie . . . . . . . . . . 466 3.a. Der merkmalsästhetische Aspekt in der psychologischen Begriffslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 3.b. Der realdefinitorische Aspekt in der psychologischen Begriffslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 4. Psychomechanik bei Kepler, Leibniz und Wolff . . . . . . . . . 4.a. Keplers Fortentwicklung der platonischen δύναµις ἡλίου 4.b. Die psychologische Bedeutung der intima rerum . . . . . 4.c. Leibniz' Auffassung von der Monade (µονάς) . . . . . . . . 4.d. Wolff und die horazische Tradition des componere . . . . 5. Baumgartens Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.a. Das Heterokosmische – die ontologische Fundierung der Fiktionstheorie Baumgartens . . . . . . . . . . . . . . . 5.b. Zur Diversifizierung ästhetischer Kräfte . . . . . . . . . 5.c. Die Funktionsweisen antiker Autoren in Baumgartens Aesthetica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V.

.. . .. .. ..

. . . . .

489 494 509 515 523

. . . . . 542 . . . . . 558 . . . . . 573 . . . . . 587

6. Das Erbe der ästhetischen Kräfte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597

Die neuen Kräfte der Antike ab 1747

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603

1. Poetologische Grundpositionen um 1747 . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 1.a. Die ›Negativfolie‹: Nachahmung von Mustern . . . . . . . . . . 605 1.b. Sinnlich-metaphysische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 2. Psychomechanische Kritik am Nachahmungsparadigma

. . . . . . 621

3. Nachahmung als Bewegungsform: Die Antike in Klopstocks Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 4. Die Psychomechanik der antiken Gattungen 4.a. Die Ode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.a.α. Die pindarische Ode . . . . . . . . . 4.a.β. Die horazische Ode . . . . . . . . . 4.b. Die Elegie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.c. Das Lehrgedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.d. Das Versepos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.e. Exkurs: Ossian-Rezeption . . . . . . . . . .

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634 634 649 654 658 663 670 679

Inhalt

10

5. Sulzers Lehre von sinnlicher Empfindung und antiker Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 5.a. Kraft, Empfindung und die »zwo Seelen« . . . . . . . . . . . . . . 687 5.b. Wirkkräfte und Energien der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 6. Kraft, Antike und antiker Kraftverlust bei Herder 6.a. Psychomechanik im Geiste Homers . . . . . . . 6.b. Raum mal Zeit: Poesie als Multiplikation . . . 6.c. Von der Antike zur (historischen) Gegenwart: Die Theorie vom Kraftverlust . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733

Literaturverzeichnis

1. Textausgaben (Antike)

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734

2. Textausgaben (außer Antike) 3. Forschungsliteratur 4. Übersetzungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812

5. Lexika, Glossare, Wörterbuchartikel 6. Didaktische Werke 7. Online-Quellen Abbildungsnachweise

Dank

. . . . . . . . . . . 718

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727

VI. Schlussbetrachtung

Personenregister

. . . . . . . . . . . 702 . . . . . . . . . . . 708 . . . . . . . . . . . 713

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825

I. Einführung in die Fragestellung

Im Jahr 1761 hält Moses Mendelssohn (1729–1786) in einer seiner einflussreichsten ästhetischen Schriften, der Rhapsodie, Folgendes fest: Araspes konnte mit Recht, so wohl als Medea sagen: aliud cupido, mens aliud suadet; video meliora proboque, deteriora sequor. Die Seele kann durch einen richtigen Vernunftschluß überzeugt sein, A sei gut, und sich dennoch zu B entschließen, wenn sie in B zwar nicht so deutlich, nicht so gewiß, aber doch eine größere Menge des Guten wahrnimmt, und in einer kurzen Zeit überdenken kann. Geschiehet dieses, so ist die Quantität der Triebfedern für B mächtiger, als die Quantität der Bewegungsgründe für A, und B erhält den Vorzug. 1

Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich Mendelssohn gut vertraut mit der antiken Literatur; er führt zwei Figuren aus Geschichtsschreibung (Araspes) und Mythos (Medea) an, die sowohl auf die griechische als auch die römische Literatur rekurrieren, namentlich auf Xenophons Kyropädie 2 und Ovids Metamorphosen, woraus auch das von ihm herangezogene Zitat stammt. 3 Was indes unmittelbar zur Erläuterung seelischer Sinneswandlungen folgt, ist eine »Quantität der Triebfedern«. Diese »Quantität« wird zudem recht formal mithilfe von Variablen (»A«, »B«) eingeführt, wie man es aus der Mathematik, insbesondere aus Algebra und Geometrie, kennt, und speist sich ganz offensichtlich gerade nicht aus der antiken Mythologie, sondern gemahnt an eine Psychologie, die auf mechanischen Wirkkräften (»Triebfedern«) beruht. Hiermit ist die Frage, die in der vorliegenden Studie behandelt wird, in nuce erfasst: Wie konnte es gelingen, dass die Etablierung des mechanistischen Weltbildes in der Frühen Neuzeit ab dem 16. Jahrhundert keine Verabschiedung von der klassischen antiken Literatur nach sich zog, sondern diese noch weiter affirmierte? Und wie konnte es, damit einhergehend, dazu kommen, dass die Etablierung neuer Konzepte von Kraft und Bewegung auch die Ästhetik und Poetik im 17. und 18. Jahrhundert in der Weise beeinflusste, dass die aus Mendelssohn, Rhapsodie, 178. Vgl. Xen., cyr., 5, 1, 1; 6, 1, 31–44; 6, 3, 14–21, worin Araspes zunächst als Freund des späteren persischen Großkönigs Kyros eingeführt wird, dann jedoch als vermeintlicher Deserteur scheinbar zu Kroisos überläuft, um schließlich wieder zu Kyros zurückzukehren. 3 Vgl. Ov., met., 7, 19–21: »aliudque cupido, / mens aliud suadet; video meliora proboque, / deteriora sequor.« (»Die Begierde rät das eine, / der Geist das andere; ich sehe und schätze das Bessere, / und folge doch dem Schlechteren.«). 1 2

Einführung in die Fragestellung

12

der Antike tradierte Literatur teils ihren alten kanonischen Platz behaupten konnte, teils aber auf spezifische Weise umgewertet wurde? In welcher Weise wurden überhaupt Philosophie und Literatur der Antike als Begründungsinstanzen für mechanistische Weltbilder angesetzt und ausgedeutet, wo doch der Mechanizismus gemeinhin als eine dezidiert novatorische, mit hergekommenen Überzeugungen brechende Weltsicht aufgefasst wird? 4 Ins Blickfeld rücken somit der Bezug der aus der Antike tradierten schönen Künste (artes liberales, artes ingenuae) zur Naturphilosophie (philosophia naturalis) – die in der Frühen Neuzeit weitestgehend deckungsgleich mit Naturwissenschaft ist – sowie der umgekehrte Bezug der Naturphilosophie zu den schönen Künsten. Die Studie schließt damit an gegenwärtige Forschungsrichtungen an, insofern das generelle Wechselverhältnis zwischen jenen Disziplinen in jüngerer Zeit vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten hat. 5 Die Aufgaben einer sich mit diesen Interdependenzen beschäftigenden Ideengeschichte sind indes nicht darauf zu beschränken, historische Entwicklungen schlichtweg zu ›registrieren‹; ebenso sind Modellierungen der strukturellen Genese von Begriffen, Konzepten und Diskursen vorzunehmen, die sie überhaupt erst greifbar machen. Mag sich das vielzitierte Diktum Goethes über die Rechenschaft, die man sich von (mindestens) 3000 Jahren 6 zu geben habe, auch zum Gemeinplatz eines bildungsbürgerlichen Habitus entwickelt haben, ist dennoch der fachübergreifende Wert nicht zu unterschätzen, der sich aus der präzisen Beschäftigung mit geschichtlichen Phänomenen ergibt. Historische Geltungsansprüche bemessen sich nicht allein in der Beanspruchung von Traditionen, sondern im kritischen und produktiven Umgang mit ihnen. 7 Die Beschäftigung mit der Besonders prägnant unter den zahlreichen Stimmen, die dem mechanistischen Weltbild eine wissenschafts- und philosophiegeschichtlich revolutionäre Stellung zuschreiben, ist bis heute das Diktum von Harman (1983), 3 f.: »The mechanistic world view of the Scientific revolution undermined many traditional ideas about man’s place in nature. More fundamental than the establishment of any particular theory about the natural world is the change in philosophical perspective which was achieved, a new conception of man’s capacity to understand and control the world around him«. 5 So macht seit 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg das ›Erlanger Forschungszentrum für Literatur- und Naturwissenschaften (ELINAS)‹ den Austausch zwischen diesen Disziplinen zum Thema, was sich seit 2015 auch in einer eigenen Schriftenreihe ›Literaturund Naturwissenschaften‹ niederschlägt. Sein Programm ist gleichwohl schwerpunktmäßig auf die Physik der Moderne und deren Verhältnis zur Gegenwartsliteratur, nicht so sehr auf historische Fragen ausgerichtet. 6 Goethe, West-östlicher Divan, Rendsch Nameh: Buch des Unmuths, 59: »Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben / Bleib im Dunkeln unerfahren / Mag von Tag zu Tage leben«. 7 Faber und Kytzler wollen hieran auch ein Defizit der Altertumswissenschaften – zu denen auch die Fächergruppe der klassischen Philologie gezählt wird – erkennen, wobei sie an dem Primordialstatus der Antike selbst nicht rütteln: »Die Bedeutung der antiken Tradition für die 4

Einführung in die Fragestellung

13

Antike bildet hierzu in doppelter Hinsicht ein wichtiges Feld, da sie einerseits aus der Perspektive der klassischen Philologie und aus der Perspektive der neueren Philologien zu jeweils eigenen fachspezifischen Erkenntnissen führt, andererseits aber einen allgemeinen Aufschluss über die Funktionsweise kultureller Paradigmen gibt. 8 Zwei bedeutende Schlüsselbegriffe für die europäische Geschichte sind ›Antike‹ und ›Natur‹. Das Hauptargument der vorliegenden Studie lässt sich, da es das Verhältnis zwischen Literatur und Naturphilosophie in den Blick nimmt, als ein Naturargument verstehen: Besonders häufig wird in der Frühen Neuzeit ein Begriff von Natur (natura, φύσις) in der Mechanik, der Ästhetik und der Poetik herangezogen, um das Verhältnis zwischen künstlichen und natürlichen Kräften (Mechanik) oder zwischen Kunst und Natur überhaupt (Ästhetik, Poetik) theoretisch aufzuwerfen. 9 Das bevorzugte Exerzierfeld, auf dem sich dies ausdrückt, besteht – so die leitende These – in der Frühen Neuzeit in der Antikenrezeption. Der Erklärungsansatz, Natur und Antike in ein übereinstimmendes Verhältnis zu bringen, ist daher von der Frage der Antikenrezeption selbst her moderne Kultur und ihr Selbstverständnis ist unstrittig, die explizite Beschäftigung mit der Antike aber nicht mehr selbstverständlich. Zugleich haben weite Bereiche der Altertumswissenschaften den Bezug zur Gegenwart verloren.« (Faber / Kytzler [1992], 3). 8 So wurde noch zur Jahrtausendwende ein Dilemma konstatiert, in dem sich die professionelle Beschäftigung mit der Antikenrezeption nach Meinung mancher Literaturwissenschaftler befand. Sie konnte, zumindest dem Anschein nach, entweder ihren eigenen Untersuchungsgegenstand angesichts schwindender Latein- und Griechischkenntnisse in den neueren Philologien nicht mit den erforderlichen Kompetenzen erschließen; oder aber sie wendete sich – wenn diese Kompetenzen wie im Falle einer klassisch-philologischen Ausbildung vorhanden waren – eher den antiken Gegenständen selbst zu, verharrte gleichsam in diesen und übte sich bestenfalls daran, die Rezeptionsphänomene mit den traditionellen Mitteln der klassischen Philologie zu erschließen. Aussagekräftig hierfür ist etwa Riedels Urteil, demzufolge »neuphilologische Disziplinen [. . . ] sie [die Rezeption der Antike; D. B.] gelegentlich als eine quantité négligeable [betrachten] [. . . ] und klassische Philologen [. . . ] die Untersuchung des ›Nachlebens‹ nicht selten bloß als schmückende Zugabe zu altertumswissenschaftlichen Forschungen [sehen].« (Riedel [2000], 3) Dieses Bild, sofern es in dieser zugespitzten Form überhaupt je zutraf, hat sich mittlerweile deutlich gewandelt. Die Publikationsbreite in den klassischen Philologien zur Rezeption der Antike wie auch in den modernen Philologien weist auf ein gestiegenes Interesse hin. Es wird sich dabei auf ganz unterschiedliche Themen, Autoren, Gattungen und Epochen bezogen – vgl. etwa Hohenwallners Antikerezeption in den Gedichten Bertolt Brechts (2004), Göhlers Antikerezeption im literarischen Expressionismus (2011), Wagners Antike Mythen, Kafka und Brecht (22012) oder Weils Antikenrezeption im Werk von Marie Luise Kaschnitz (2017). Auch eine methodische Öffnung, etwa hin zu medientheoretischen, kulturwissenschaftlichen oder literaturtheoretischen Aspekten, hat mittlerweile in einigen Bereichen des wissenschaftlichen Feldes stattgefunden. Die Etablierung von Sonderforschungsbereichen wie Transformationen der Antike (Humboldt-Universität zu Berlin) oder Projekte wie Antike-Rezeption im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin) dokumentieren diese Entwicklung. 9 Zum der Arbeit zugrundeliegenden Begriff der Frühen Neuzeit vgl. den umfassenden Beitrag von Achermann (2016), worin die bisherigen Forschungstraditionen zusammengetragen werden.

Einführung in die Fragestellung

14

zu perspektivieren. Eine Einordnung und Bewertung der Antike kann – was gewiss auch auf andere Epochen allgemein übertragbar erscheint – auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden. So berührt die Überzeugung, dass es sich bei den homerischen Epen bis heute um komplexe literarische Erzeugnisse handle und es darum unabhängig von der eigenen räumlich-zeitlichen Situierung lohnend sei, sich mit ihnen zu beschäftigen, eine andere Dimension als die Forderung, dass man, um die Geschichte einer Gesellschaft zu verstehen, sich mit den geistigen Ursprüngen derselben befassen müsse. Die Frage, was überhaupt als Ursprung zu fungieren hat, wird zudem bisweilen auf verschiedene Bildebenen wie diejenige der ›Wurzel‹ oder der ›Quelle‹ gebracht, wodurch sich Vorstellungen des Abstammens oder des Ausschöpfens ergeben. Dass solche Bildebenen bisweilen zur Signatur eines ganzen Zeitalters in seinem Umgang mit der Antike gerinnen können, ist historisch vielfach belegt. 10 Da die unterschiedlichen Arten der Argumente, mit denen die Antike ins Spiel gebracht wird, bisweilen auch simultan verwendet sowie in wechselseitige Begründungsverhältnisse gesetzt werden, ist es hilfreich, sich deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten systematisch vor Augen zu führen. Somit kann ein heuristischer Zuschnitt vor allem den Zweck haben, den Punkt, um den es in dieser Studie geht, die Engführung der Antike mit Natur (›Naturargument‹) und Kraft (›Kraftargument‹), im Kontext anderer Argumenttypen aufscheinen zu lassen. Die dazu angeführten Beispiele sind historisch nicht weiter eingeschränkt; sie sollen nicht so sehr zur Erhellung spezifischer geschichtlicher Sachverhalte beitragen, sondern dienen in diesem einleitenden Teil vor allem der Veranschaulichung und Zuspitzung des jeweiligen Arguments.

1. Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike 1.a. Qualitätsargument

Ein in Fragen der Antikenrezeption mit großer Häufigkeit wiederkehrendes Argument stellt das Qualitätsargument dar. Betrachtet man es von seiner begrifflichen Seite, so zielt es auf nichts anderes als auf die Beschaffenheit (qualitas) der antiken Werke ab. Diese Beschaffenheit wird freilich nicht als beliebige aufgefasst, sondern als außergewöhnlich, als hervorragend, nicht selten gar als unerreichbar eingestuft. Die Aufgabe der zeitgenössischen Dichter muss So drückt, um nur ein prominentes Beispiel unter vielen heranzuziehen, in der Renaissance das Ad fontes-Paradigma eine Rückkehr zu den Quellen aus, aus denen dann eine regelrechte Wiedergeburt aus dem Geiste der Antike gelingen könne; vgl. als konzisen Überblick zu diesem weithin erforschten Topos Kristeller (1988). 10

Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike

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demzufolge darin bestehen, dieser Qualität nachzueifern, sie nachzuahmen (imitari). Auffällig ist an diesem Argument, dass es schon in der Antike selbst eine große Tradition vorweisen kann. Bereits in den poetologischen Diskussionen, die in der Antike geführt wurden, hat es weitreichende Prominenz erlangt. Wenn Horaz in der Ars poetica feststellt, dass er nicht mehr – aber auch nicht weniger – als den Status eines »kundigen Nachahmer[s]« 11 der Griechen postulieren könne, so klingt darin auch ein Bewusstsein der eigenen Epigonalität an. Insofern dieses Bewusstsein jedoch von einem kundigen Sprecher (doctus) vorgebracht wird, der auf das Ideal des gelehrten Dichters (poeta doctus) verweist, ist es zugleich auch ein Selbstbewusstsein, das hier anklingt. Somit verschränken sich die Vorbildhaftigkeit der griechischen Vorgänger mit der eigenen Fähigkeit zur Anverwandlung, aus der dann wiederum eigene Produktivität resultieren kann. Daher lautet das Argument, wollte man es auf einen Punkt bringen: Die antiken Autoren sind vorbildlich, weil ihre dichterischen Erzeugnisse alle späteren an Qualität übertreffen; ihre Kunstwerke sind demgemäß bis heute – und womöglich bis in alle Zeiten – unerreicht, wenn nicht gar unerreichbar. Wir können jedoch als Epigonen von ihnen lernen. Der Qualitätsbegriff wird dadurch zu einem Begriff von Klassizität fortentwickelt, wie Friedrich Creuzer 1807 geradezu musterhaft formuliert: So sind nun auch jene Werke [sc. der Alten] nothwendig gebildet nach dem unwandelbaren Gesetze der Schönheit, frei von dem Manierirten, Interessanten, Charakteristischen. Darum heissen sie classisch; wobei man demnach eben sowohl auf die Bestimmtheit und Richtigkeit der Gedanken, auf die Schärfe und Feinheit des Urtheils, auf den Tiefsinn und Universalität des unbewusst wirkenden Genius sieht, als auf das Gewand, worein er seine Gedanken hüllet, die reine Form des Vortrags, die schöne Einfalt, die plastische Gediegenheit und die sich selbst vergessende Unschuld und stille Größe seines Ausdrucks. 12

Mit dem Qualitätsargument geht zudem bisweilen eine geschichtsphilosophische Vorstellung von Dekadenz einher, die besagt, dass die Qualität, nach der man strebt, überhaupt nicht mehr erreicht werden könne. Ob diese Denkfigur schlichtweg mit einem Kulturpessimismus gleichzusetzen ist, kann hier offenbleiben; jedenfalls prägt sie ein kontinuierliches Element im weiteren Verlauf der Geschichte zur Rezeption der Antike aus, auf das in diversen Teilen der Studie, insbesondere in Kapitel v.6, noch einzugehen sein wird.

11 12

Hor., ars, 318: »doctum imitatorem«. Creuzer, Das akademische Studium des Alterthums, 5 f.

Einführung in die Fragestellung

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1.b. Relevanzargument

Nicht in jeder Hinsicht vom Qualitätsargument präzise zu trennen ist das Relevanzargument. Denn intuitiv lädt die Annahme, eine Sache sei von einer grundsätzlich hohen Qualität, leicht zu der Schlussfolgerung ein, sie sei damit auch von einer höheren Wichtigkeit. Dass dies aber nicht immer so ist, zeigt ein Blick auf die Herausforderungen, denen sich scheinbar längst kanonisierte Autoren und Texte immer wieder ausgesetzt sehen. Es geht bei diesem Argument in hohem Maße um funktionale Aspekte, die man mit der Aneignung der Antike verbindet. Die Frage nach der Legitimierung, die Frage ›Wozu ist die Befassung mit der Antike relevant?‹, hat bis in unsere Gegenwart weite Verbreitung gefunden, wenn etwa problematisiert wird, worin denn der Sinn bestehe, sich mit antiker Literatur überhaupt auseinanderzusetzen und sich dafür, nicht selten mühsam und langwierig, Kompetenzen in den alten Sprachen anzueignen. Das Argument erscheint gerade aus dem Grund so reizvoll, dass wir im geschichtlichen Horizont zahlreiche Epochen ausmachen können, in denen dies genau umgekehrt gesehen wurde. So war bei der Einführung des humanistischen Gymnasiums im Zusammenhang mit der humboldtschen Bildungsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts eher erklärungsbedürftig, warum Latein und Altgriechisch nicht zum obligatorischen Bildungscurriculum zählen sollten. Der mit Abstand größte Anteil am Unterrichtspensum kam den alten Sprachen zu. 13 Durch die Aufrechterhaltung eines klassischen Spracherwerbs wurde der Stellenwert der Antike als für die Gegenwart relevanter Epoche affirmiert. 14 Im 20. Jahrhundert, besonders in der Nachkriegszeit, entwickelte sich die Situation in Deutschland bekanntlich in eine andere Richtung. Der Status Vgl. die preußischen Lehrpläne von 1816, in denen zwischen 20 und 30 Wochenstunden für die alten Sprachen reserviert waren und dabei ausdrücklich keine Bevorzugung der einen Sprache vor der anderen angezeigt war: »Wenn hier der lateinische Sprachunterricht voranstehet, so soll dadurch die Frage über die Priorität des Griechischen nicht dieser absolut zuwider entschieden werden. Vielmehr behält sich die Abtheilung für den Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Innern in einzelnen Fällen, wenn die Lehrer einer Anstalt sich darüber einigen, den Unterricht im Griechischen dem im Lateinischen vorangehen zu lassen, nach Vorlegung ihres Planes die Entscheidung vor.« (Preußische Unterrichts-Verfassung 1816, 68). 14 Vielsagend hierzu Leonhardt (2009), 260: »Paradoxerweise bedeutete gerade die faktische Kontinuität der Stundenverteilung im Lehrplan [des preußischen Gymnasiums; D. B.] einen Paradigmenwechsel der Bildungsvorstellung, wie er extremer kaum gedacht werden kann. Das international kopierte Erfolgsmodell eines Gymnasiums, das Latein als Bildungsgut ungeachtet seines fehlenden Nutzwertes im Alltag in den Mittelpunkt stellte, verlieh dem Lateinischen letztlich sogar eine noch breitere globale Präsenz als zuvor. [. . . ] Es fällt schwer, in der gesamten Weltgeschichte einen Parallelfall zu finden, wo eine Sprache, die von kaum jemand gesprochen oder geschrieben wurde, eine so große Bedeutung für die ganze Gesellschaft hatte«. 13

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philologischer Grundlagenfächer, den Latein und Griechisch seit dem 18. Jahrhundert innehatten, wird zunehmend durch eine teils schleichende, teils auch politisch geförderte Marginalisierung relativiert. Sie hat bis heute spürbare Auswirkungen auf die sprachlichen Kompetenzen in den literarischen Fächern von Schule und Wissenschaft, was wiederum das grundlegende Verständnis von Geschichte und Geschichtlichkeit berührt. Als entscheidender Faktor für die Relevanz historischer Fächer wird nichtsdestoweniger der lebendig gehaltene Bezug zur Gegenwart empfunden – der Bezug zur »Aktualität des Lebens«, wie Maier für das Unterrichtsfach Latein ausführt: Latein ist ein historisches Fach; seine Stoffe liegen tief »unten« in der Vergangenheit. Und doch sucht es – als Disziplin einer modernen Schule – stets den Kontakt zur Aktualität des Lebens. Das Bild des Fahrstuhls erfasst ein solches »Auf und Ab« zwischen Antike und Gegenwart treffend. Wo liegen die Wurzeln Europas? Die Lektüre bringt Lehrer und Schüler gleichsam mit dem Fahrstuhl in das 5. Jh. v. Chr. Damals begann sich Europa als Begriff und Idee im Bewusstsein der Menschen zu verfestigen. Als 480 v. Chr. König Xerxes, der Despot des Perserreichs, den Angriff auf Griechenland unternahm, vollzog sich gewissermaßen die Geburt Europas. Dieses »Westland« wurde nämlich vom Griechen Herodot, dem »Vater der Geschichtsschreibung«, nur kurze Zeit später, als er über dieses Ereignis berichtete, auch »Europa« genannt. 15

Unabhängig davon, ob man sprachliche Bilder wie das hier bemühte des »Fahrstuhls« befürwortet, wird das ausgeführte Argument anhand einer zeitlichen Dimension entwickelt – einer Dimension, die über die Historizität von Ereignissen, Personen und Werke hinausgeht, insofern sie die Bedeutung des Gegenstands ›Antike‹ als für die Gegenwart fruchtbar erklärt und zudem Ideen ausprägt, die auf die Zukunft konzeptuell mit verweisen. Denn anhand der Debatten über die Weiterentwicklung Europas, die sich in den politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte wahrnehmen lassen, 16 spannen sich Maier (2008), 47. Wie die jüngere Vergangenheit gezeigt hat, geht dies bisweilen so weit, dass selbst die über viele Jahrzehnte wenig bestrittene Sinnhaftigkeit des europäischen Einigungsprozesses angezweifelt wird. Dabei lassen sich mit den Vertretern eines ›Europas der Vaterländer‹ und den Befürwortern eines administrativ und politisch geeinten Europas zwei fundamentale Interessenparteien unterscheiden, deren soziologische Erforschung bereits begonnen wurde. Insgesamt scheint die Idee einer europäischen Einigung mit einer Wertschätzung des antiken Erbes nicht nur besser vereinbar, sondern – mit dem Imperium Romanum als einer Art Präzedenzfall – auch historisch auf valideren Füßen zu stehen. Die durchaus provokative Frage, ob die Demokratie indes ein Reich benötigte, um sich zu entfalten, hat am prominentesten wohl Hermann Broch im Tod des Vergil (1945) aufgeworfen; vgl. hierzu die Studie von Eiden-Offe (2011). Da diese Frage zu sehr vom eigentlichen Thema wegführen würde, wird sie hier nicht weiter verfolgt. 15 16

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Einführung in die Fragestellung

Vergangenheit und Gegenwart in einer solchen Weise auf, dass sie eine in die Zukunft weisende Dimension mit enthalten, ja diese sogar mit einfordern. 17 Der Aspekt der Zukunftsfähigkeit ist ebenfalls mit spezifischen Erwartungen oder auch Befürchtungen verbunden; daher ist das Relevanzargument nicht selten von einem gewissen Kulturoptimismus auf der einen Seite und von einem Kulturpessimismus auf der anderen Seite getragen. Festzuhalten bleibt, dass es funktional gesehen in solchen Fragen zuvorderst um den Nutzen geht, den man aus der Beschäftigung mit einer Sache zieht oder den man für sich erhofft, daraus ziehen zu können. 18

1.c. Originalitätsargument

Im Originalitätsargument spiegelt sich ein grundsätzliches Epochenbild wider, das darauf fußt, Ursprünge für Entwicklungen anzunehmen, die historisch möglichst eindeutig benennbar seien. Zugleich stellt es eine besondere Spielart des Qualitätsarguments dar: Die Geschichte der abendländischen Dichtkunst wird demzufolge vornehmlich aus einem Ursprung (origo) heraus gedacht. Die Paraphrase hierzu könnte lauten: ›Die antiqui waren die Ersten, die in ihren Werken diejenigen Gattungen und Formen hervorgebracht haben, aus denen alle spätere Poesie erst entstehen konnte.‹ Die Alten waren demnach nicht nur die ›Alten‹, sondern vor allem die Ersten. Und selbst wenn Homer nicht der erste Dichter gewesen sein sollte, so ist er dann doch zumindest der erste gewesen, der die epische Dichtkunst zur Vollkommenheit, zur überragenden Qualität (›Klassizität‹) gebracht hat. 19 Es geht hierbei also um die Setzung von Ursprünglichkeit durch einen Aussagentypus historisch-genetischer Art. Auch das Ad fontes-Paradigma aus der Renaissance ist in diesem Sinn nicht 17 Vgl. etwa Le Goff (1994), 50: »Die moderne Welt ist die Welt von heute und morgen. Diese Welt muss mit den Strukturen, den Traditionen und der Kultur Europas konfrontiert werden, die in mindestens zweieinhalb Jahrtausenden entstanden sind«. 18 Diesen Umstand beklagt etwa – durchaus wortgewaltig – Fuhrmann in seiner kleinen Studie Bildung: »Unsere Zeit ist offenbar so narzisshaft, so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie all das, was in vielen Jahrhunderten, in anderen kulturellen Zusammenhängen und in anderen Epochen, von den klügsten Köpfen ihrer Zeit gedacht und geschrieben worden ist, nicht erst einmal bei sich selbst belassen und um seiner selbst willen betrachten kann, dass sie vielmehr schon im ersten Zugriff nach dem Nutzen fragen zu müssen glaubt, der für sie dabei herausspringt.« (Fuhrmann [2002], 110). 19 Vgl. hierzu die Art und Weise, wie Lianeri den Begriff ›archê‹ in ihrem Aufsatz The Homeric Moment? verwendet: »It follows that the archê, in its role as a principle and a source of power, is predicated on the link between the beginning and the end, between the ancients and the moderns. This condition brings the processes of reception and translation to the centre of the category of classicalness.« (Lianeri [2006], 150).

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allein auf die Dimensionen des Qualitätsarguments zu beziehen, sondern in der Hauptsache ebenfalls ein Originalitätsargument, das den Bogen zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufspannt. Das Originalitätsargument enthält neben seiner literarästhetischen auch eine editionsphilologische Dimension: Die zwischen dem antiken und unserem Zeitalter liegenden Epochen haben die antiken Texte zwar überliefert, in Form des Kopierens und Transkribierens jedoch auch an vielen Stellen gleichsam verunreinigt. Die Textkritik spricht daher von Verderbnissen beziehungsweise Korrupteln (loci corrupti) und setzt es sich zum Ziel, diese Verunreinigungen gleichsam zu säubern. Das Ziel ist es, den ›Originaltext‹ wiederherzustellen, selbst wenn es sich dabei nur um einen hypothetisch konstruierten Archetypus handelt; die Konstruktion eines Archetypus setzt aber wiederum stets die Annahme einer ἀρχή (arch´¯e), mithin einer origo, und damit eine gewisse Vorstellung von Originalität voraus. Ebenfalls vom Prinzip der Originalität getragen ist die Annahme einer regelrechten Erbschaftsbeziehung, einer Heredität, die aus dem antiken Ursprung heraus erwachse; in diesem Sinn spricht man auch heute noch von einem ›Erbe der Antike‹ 20 – unabhängig davon, ob dieses ›Erbe‹ nun künstlerisch, philosophisch, wissenschaftlich, politisch oder ganz allgemein kulturell zu deuten ist. Damit einher geht immer wieder die Bewertung des Unterrichtsund Studienfachs Latein, das einen »Zugang zu den Quellen von Dichtkunst und Philosophie« 21 bieten solle; dasselbe gilt für das Fach Griechisch, wie der Altphilologenverband in seiner Online-Präsenz konstatiert: »Besonders charakteristisch ist [. . . ] das im Griechischunterricht vermittelte Erlebnis von Ursprungsprozessen (z. B. die Entstehung von Literatur, Wissenschaft und Philosophie).« 22

1.d. Konkurrenzargument

Bereits in der griechischen und römischen Antike verbreitet ist der Gedanke eines Wettkampfs, eines ἀγών (ago´¯ n) beziehungsweise certamen, auf dem Feld der Dichtkunst. Hierin zeigt sich, dass dem dichterischen Schaffen auch etwas Kompetitives innewohnt, dass es um ein Übertreffen von Vorgängern oder zeitgenössischen Konkurrenten geht (aemulari). Verallgemeinert man diesen Konkurrenzgedanken von individuellen Dichterpersönlichkeiten auf ganze Epochen, so kann der Antike keine monolithi20 21 22

Vgl. in jüngerer Zeit Leppin (2010). Maier (2008), 68. Deutscher Altphilologenverband (2018).

Einführung in die Fragestellung

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sche Stellung zukommen; vielmehr muss sie ihren Status in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Literaturen immer wieder aufs Neue behaupten – beziehungsweise: Die Gegenwart muss sich umgekehrt gegenüber der Antike behaupten. Diese auf einem Alteritätsverständnis von Epochen beruhende Denkfigur ist gewiss nicht nur für die Frühe Neuzeit kennzeichnend; sie bildet aber gerade dort einen der ersten und wichtigsten Streitpunkte um den Status der antiken Werke, die in einer Jahrzehnte andauernden Debatte, der Querelle des anciens et des modernes (1687–∼ 1720), aufgeht. Der Streit, der sich zwischen den anciens und den modernes entzündet, ist zunächst ein Streit zwischen zwei Mitgliedern der Académie française, Charles Perrault und Nicolas Boileau. Wenn der Status der Antike angezweifelt wird, so geschieht das in gleichzeitiger Bezeugung der Vortrefflichkeit der eigenen Epoche. So sei das Zeitalter des französischen Absolutismus demjenigen des Augustus mindestens ebenbürtig, wie Perrault 1687 in einem berühmt gewordenen panegyrischen Gedicht, dass er anlässlich der Genesung Louis' xiv. von einer schmerzhaften Krankheit verfasst hat, zum Ausdruck bringt:

5

La belle Antiquité fut toujours vénérable; Mais je ne crus jamais qu'elle fût adorable. Ils sont grands, il est vray, mais hommes comme nous; Je voy les Anciens sans plier les genoux, Et l'on peut comparer sans craindre d'estre injuste, Le Siecle de Louis au beau Siecle d'Auguste. 23

Die Provokation, um die es hier geht, wird bereits in den ersten beiden Versen deutlich: Die Antike sei in ihrer Bedeutung zu relativieren; sie sei zwar ehrwürdig (vénérable), aber nicht anbetungswürdig (adorable). Das Konkurrenzargument kann demgemäß lauten: Die Alten (antiqui, anciens) fordern uns allein schon aufgrund ihrer häufig als universell angenommenen Vorrangstellung heraus. Die Modernen (moderni, modernes) müssen sich ihren Platz neben ihr erst erkämpfen, haben aber prinzipiell durchaus Aussicht auf Erfolg.

Perrault, Le Siècle de Louis le Grand, 1–6: »Die schöne Antike war stets ehrwürdig; / aber ich glaubte niemals, dass sie anbetungswürdig war. / Sie [sc. die Alten] sind großartig, das ist wahr, aber Menschen wie wir; / ich sehe die Alten, ohne in die Knie zu gehen, / und man kann ohne Skrupel einen Vergleich anstellen / zwischen L OUIS’ Zeitalter und dem schönen Zeitalter des Augustus.« Sämtliche Übersetzungen stammen vom Verfasser; zu den Übersetzungskriterien siehe die Anmerkungen in Kapitel I.4. 23

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1.e. Naturargument

Ein gerade in der Frühen Neuzeit weit verbreitetes Argument zur Beurteilung der Antike besteht darin, dass die Antike Kunstwerke hervorbrachte, welche die Natur der Dichtung bis in die Gegenwart hinein verkörpern. Dieses Argument ist von einem bemerkenswert umfassenden und zugleich in sich differenzierten Zuschnitt. Bereits in der Antike wird an prominenten Stellen davon gesprochen, dass die Musen »den Griechen Begabung« 24 im Sinne einer natürlichen Anlage (ingenium) geradezu im Übermaß verliehen hätten. Damit wird zugleich eine Trennung zwischen den Vorgängern und der Gegenwart vollzogen sowie die Abhängigkeit der Kunst von einem intrinsischen Prinzip, dem von Natur mitgegebenen Vermögen, behauptet. 25 Mit ›Natur‹ lässt sich bis in den gegenwärtigen Sprachgebrauch vieles konnotieren: Sie kann im Sinne eines Ursprungs gefasst werden und entspräche damit dem Originalitätsargument. Sie lässt sich, in Anlehnung an Rousseau, als bester Zustand des Menschen fassen und entspräche damit dem Qualitätsargument. Sie lässt sich als ubiquitär wirksames Prinzip fassen, das in allen künstlerischen Verfahrensweisen zu berücksichtigen ist, und entspräche damit dem Relevanzargument. Die Vielfältigkeit des Naturbegriffs weist eine erhebliche historische Dimension auf, die in der Studie strukturell geltend gemacht werden soll. 26 Dem Naturargument kommen vor allem auf zwei Ebenen systematische Funktionen zu: Die ›Natur der Antike‹ ist zum einen diejenige Natur, das Verhältnis zwischen Mensch, Welt und Kunst konstituiert, zum anderen ist sie eine Natur, die in ihren Gestaltformen für den Beurteilenden überzeitlich wirksam erscheint, mithin so etwas wie eine Essenz bildet. Die seit der Antike traditionsreichsten Begriffe hierfür sind die griechische φύσις und die lateinische natura. Den antiken Autoren ist insofern eine Absolutheit zuzusprechen, als sie die essentiellen Eigenschaften der Menschheit in ihren Werken zu einer vorbildlich-gültigen Form gebracht haben. 27 Eine berühmte Einlassung John Drydens (1631–1700) im Life of Plutarch (1683) enthält genau die Vorstellung einer absolut gültigen Essenz menschlichen Handelns und Empfindens und fügt sie zudem in einen geschichtsphilosophischen Zusammenhang: Hor., ars, 323: »Grais ingenium«. Vgl. Georges (81998), s. v. »ingenium«, 261 f.: »die angeborene, natürliche Art u. Beschaffenheit, Natur, [. . . ] die Naturanlage, [. . . ] die angeborene Fähigkeit, natürliche Anlage, der natürliche Verstand, Kopf«. 26 Besonders ausführlich wird der Naturbegriff in den die Hauptteile einleitenden Kapiteln II .1 und III.1.a behandelt werden. 27 Wie diese Eigenschaften dann genau zu bestimmen sind, wäre daran anschließend eine berechtigte, jedoch davon erst abhängige Frage. 24 25

Einführung in die Fragestellung

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For mankind being the same in all ages, agitated by the same passions, and moved by the same interests, nothing can come to pass some precedent of the like nature has already been produced, so that having the causes before our eyes, we cannot easily be deceived in the effects, if we have judgement enough to draw the parallel. 28

Dryden sieht – im Gegensatz zur sich vier Jahre später in Versailles entfachenden Querelle – demnach eine im Wesentlichen unveränderte Natur des Menschen, die ihn zu allen Zeiten auszeichne. Auch das Konkurrenzargument lässt sich mit einer Vorstellung von Natur dadurch neu wenden, dass man die Nachahmung der Alten (imitiatio veterum) mit der Nachahmung der Natur (imitatio naturae) gleichsetzt. Die Epigonen müssen sich dann gar nicht mehr so sehr mit der Frage beschäftigen, ob man in Konkurrenz zu den Alten treten wollte, sollte oder dürfte, sondern können darauf verweisen, dass es die Natur selbst ist, die nachgeahmt wird. Umgekehrt kann sich hieraus eine gewisse Ignoranz beziehungsweise Ablehnung der zeitgenössischen Literatur und deren ›Moden‹ herleiten. Bei alledem geht es um nichts weniger als eine ästhetische Grundsatzfrage. Das Argument kann demgemäß die Prämisse enthalten, dass sich in den Kunstwerken der Antike die Natur der Dichtkunst überhaupt verkörpert, indem die antiken Dichter und Philosophen in vollkommener Weise die Regeln der Natur durchdrungen haben, und dass diese in den konkreten Werken zur Gestalt und Wirkung kommt. An kanonischer Stelle hat dies Johann Christoph Gottsched (1700–1766) in der Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) festgehalten, demzufolge die Griechen [. . . ] die vernünftigsten Leute von der Welt [waren]. Alles philosophierte daselbst: alles urteilte frei und folgte seinem eigenen Kopfe. Daher entdeckte man nach und nach die wahrhaften Schönheiten der Natur. 29

Dieser historisch durchaus verklärende Befund kulminiert daraufhin in einem berühmt gewordenen Postulat Gottscheds: All dieses nun geht einzig und allein dahin, daß ein Poet sich an den Geschmack seiner Zeiten und Örter nicht zu kehren, sondern den Regeln der Alten und den Exempeln großer Dichter zu folgen habe. 30

Das Naturargument ist – so die weitergehende Überlegung, die auch Gottsched weiter verfolgt – 31 gleichfalls auf generische Bereiche zu beziehen, beispiels28 29 30 31

Dryden, Life of Plutarch, 55. Gottsched, Critische Dichtkunst, 67. Ebd., 76. Vgl. ebd., 79–103.

Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike

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weise auf das ›homerische Epos‹, die ›sophokleische Tragödie‹, das ›anakreontische Lied‹, die ›horazische Ode‹ die ›menippeische Satire‹ etc. Sie alle schließen nicht nur die Urheber bestimmter Textcorpora nominal mit ein, indem sie deren Eigennamen als Attribute bei sich führen, sondern behaupten – wie in der Studie noch ausführlicher zu zeigen sein wird – auch eine Wesentlichkeit, die den von den jeweiligen Autoren verfassten Texten zukomme. Diese Wesentlichkeit besteht, von ihrer begrifflichen Oberfläche her betrachtet, ganz offenkundig in einer Verschränkung von gattungs- und autorpoetischen Aspekten: So wesentlich es für Horaz ist, Oden zu schreiben, so wesentlich ist die Gattung der Ode durch Horaz getroffen und vervollkommnet worden. Ein solch scheinbarer Zirkelschluss dient gerade nicht dem Zweck, die Qualität des Œuvres eines Dichters in irgendeiner Weise zu relativieren, wie vielleicht angenommen werden könnte; 32 vielmehr wird der Stellenwert des Autors hierdurch nochmals hervorgehoben und dessen Bedeutung in einem bestimmten Bereich der Poesie affirmiert. 33 Wo das Qualitätsargument aber nun diese Verbindung dadurch begründen würde, dass es eben nun einmal genau diese Autoren waren, deren Werke für die jeweilige Gattung von höchstem Rang gewesen seien (und es bis heute seien) und wo das Originalitätsargument das homerische Epos dafür hochschätzen würde, dass es – zumindest in der uns bekannten Form und auf Grundlage des uns zur Verfügung stehenden historischen Wissens – die erste vollständig überlieferte Gattungsform ist, zeigt sich das Naturargument gemeinhin stärker an überzeitlich gültige Prämissen gebunden: Zeitliches wird gewissermaßen mit Überzeitlichem zu erklären versucht. Eine Huldigung Homers als angenommenen ›Erfinders‹ der Gattung Versepos kann dann darin bestehen, sich auf den Status einer unverfälschten, vollkommenen Natur der ihm zugeschriebenen dichterischen Werke zu beziehen. Rezeptionsgeschichtlich kann diese Überlegung dahin gewendet werden, dass »[d]as Alterthum [. . . ] für uns das [wurde], was die Natur für die Alten gewesen war« 34 – wie es Johann August Schlegel (1734–1776) in seiner 1770 publizierten Übersetzung und Kommentierung von Charles Batteux' Les beaux arts réduits à un même principe (1746) pointiert formuliert.

32 Im Sinne einer Unterstellung, Horaz sei nur hinsichtlich der Ode ein herausragender Dichter gewesen. 33 Homer gilt dann nicht als epischer Dichter, sondern als der epische Dichter, Horaz nicht als Odendichter, sondern als der Odendichter etc. 34 Schlegel, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, 65.

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1.f. Kraftargument

Der Naturbegriff lässt sich neben den bisher skizzierten Dimensionen auf eine Formel bringen, die darin besteht, der Antike und ihrer Literatur wohne eine besondere Kraft, ein Vermögen oder eine Energie, inne, die in der Lage sei, bis in die Gegenwart hinein die Literatur maßgeblich zu prägen. 35 Hierbei handelt es sich um ein Argument, dem sich in der Forschung bislang in unzureichendem Maße gewidmet wurde. 36 Es soll hier zunächst ganz allgemein ›Kraftargument‹ genannt werden. Die Kraft, um die es geht, ist dabei grundsätzlich als zweifaches Wirkpotential aufzufassen: als ein Vermögen, das bei der Rezeption eines antiken Werks zur affektiven Beanspruchung führt, sowie als ein Antrieb, selbst derartige Werke zu schaffen, die eine ähnliche – oder vielleicht gar noch stärkere – Wirkung hervorrufen können. Während in den letzten Jahren und Jahrzehnten in zahlreichen Beiträgen literaturwissenschaftlicher, -geschichtlicher und -theoretischer Provenienz Ausweitungen eines zunächst auf Literatur fokussierten Gegenstandsbereichs vollzogen worden sind und Bezüge wie beispielsweise diejenigen zwischen Recht und Literatur vielfach erforscht werden, 37 nähert man sich dem Zusammenhang von Literatur und Kraft nur zögerlich oder in einem wenig spezifischen Sinn an. 38 Dies steht in auffälligem Kontrast zu der Tatsache, dass sich Aussagen hierüber durch alle Epochen hinweg finden lassen – und zwar nicht nur Die Begriffe ›Kraft‹, ›Vermögen‹ und ›Energie‹ werden an dieser Stelle genau wie zuvor ›Qualität‹, ›Originalität‹, ›Relevanz‹, ›Konkurrenz‹ und ›Natur‹ zunächst heuristisch gesammelt und im weiteren Verlauf der Studie genaue Konturierungen im Kontext der antiken und frühneuzeitlichen Naturphilosophie erfahren. 36 Im unspezifischen Sinn formuliert Latacz (1992), 19: »Durch Homer zu sehen, was wir damit [mit dem Ende der Antike; D. B.] verloren haben, kann neue Kräfte wecken.« Was hier von Latacz katachrestisch und mit Vagheit formuliert wird, fügt sich in den Topos einer Zeitenwende: Die Erkenntnis eines Kraftverlusts wird zum Ausgangspunkt neuer Produktivität. Es muss dabei aber zunächst etwas erkannt werden, um Kräfte zu entfalten. Worin genau dann diese »neue[n] Kräfte« bestehen sollen – etwa in weiterführenden Erkenntnissen, in künstlerischer Produktivität oder in einer neuen Haltung zur eigenen Gegenwart – bleibt dabei indes offen. Es bleibt ein unscharfer Kraft-Begriff, der sich vorwiegend auf eine Vorstellung des Verlustes, auf Neues, das aus verlorenem Alten entstehen kann, bezieht. 37 Vgl. Greiner – Thums – Vitzthum (2010) und Lieb / Strosetzki (2013). Bemerkenswert ist zudem die Etablierung von Sonderforschungsbereichen zu ›Recht und Literatur‹ wie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 2019. 38 Häufig in Literatur wie Feuilleton zu beobachten ist ein bloß metaphorischer Gebrauch des Kraftbegriffs. So nennt Berve seinen historischen Abriss über das Altertum Gestaltende Kräfte der Antike (Berve [21966]), und Seubert betitelt in seiner umfangreichen Studie Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen ein Kapitel mit »Die Kraft der Poiesis. Antike Philosophenschulen und die poietische Wissenschaft des Aristoteles« (Seubert [2015], 97–109), ohne an irgendeiner Stelle auf so etwas wie ›Kraft‹ systematisch einzugehen. Auch ein jüngerer Artikel der Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung neigt in einem Plädoyer für den altsprachlichen Unterricht einem metaphorischen Gebrauch 35

Argumentationstypologie zur Rezeption der Antike

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in erwartbaren naturphilosophischen, sondern zumal in ästhetischen und poetologischen Kontexten. Ein metaphorisch verengter Gebrauch wird in der vorliegenden Studie gerade dadurch vermieden, dass die philosophische Genese des Kraftbegriffs und dessen Applikationsfähigkeit in naturphilosophischen, ästhetischen und poetologischen Kontexten nachvollzogen wird, namentlich als eine realistische Größe, die zwar zu manchen Sprachspielen einladen mag, aber ihrem grundsätzlichen ontologischen Zuschnitt nach ernst zu nehmen ist. Von Seiten der Kunstphilosophie wurde sich diesem Phänomen gegenüber bereits deutlich besser angenähert, etwa durch die Arbeiten Menkes, die einen dezidierten Bezug zur Kunstontologie 39 und zur Ästhetik 40 aufweisen. Menke wirft das Problem von Kunst und Kraft mit der Stimme eines prominenten antiken Philosophen auf: Nach Sokrates ist die Kunst bloß die Erregung und Übertragung von Kraft. So aber gibt es keine Kunst. Die Kunst ist vielmehr die Kunst des Übergangs zwischen Vermögen und Kraft, zwischen Kraft und Vermögen. Die Kunst besteht in einem paradoxen Können: zu können, nicht zu können; fähig zu sein, unfähig zu sein. Die Kunst ist weder bloß die Vernunft der Vermögen noch bloßes Spiel der Kraft. Sie ist die Zeit und der Ort der Rückkehr vom Vermögen zur Kraft, des Hervorgehens des Vermögens aus der Kraft. 41

Es stellt sich die Frage, ob Sokrates' Meinung über Kunst tatsächlich auf »bloß[e]« Kraftübertragung zu beschränken ist oder ob sie nicht über die Aspekte der Erregung und Übertragung in ›natürlichen‹ Kontexten noch hinausreicht. Denn der Begriff der Erregung deutet auf etwas wie Affekte hin, während das Können neben seiner handwerklichen Dimension auch intellektuelle und kreative Vermögen umfasst. Mit Blick auf die Geschichte europäischer Poetiken lässt sich feststellen, dass zu den Fragen über die Dichtkunst (τέχνη ποιητική, ars poetica) zählt, ob ihr eine besondere Kraft innewohne, ob diese Kraft übertragbar und / oder ›erlernbar‹ sei, und auf welcher (kognitiven oder nicht-kognitiven) Grundlage sich die Weitergabe von Wirkkräften vollziehen könne. Die sich daran anschließende Frage, ob Kunst – in antiker und frühneuzeitlicher Lesart – ein dialektisches, vielleicht auch ›spielerisch‹ zu nennendes Verhältnis zum komplexen Apparat menschlicher Seelenvermögen, insbesondere der Kognitions- und Wirkvermögen, einnimmt, wird daher mit zu den zu: »›Sunt lacrimae rerum‹ – auf Deutsch übersetzen kann man das nicht. In den drei Worten steckt eine Energie, die mit jeder Umschreibung verpufft.« (Ribi [2019]) Der zitierte Halbvers stammt aus Verg., Aen., 1, 462. 39 Vgl. die Studie Die Kraft der Kunst (Menke [22013]). 40 Vgl. die Studie Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (Menke [2008]). 41 Menke (22013), 14.

Einführung in die Fragestellung

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leitenden Interessen der vorliegenden Studie gezählt. Der Fokus richtet sich dabei dezidiert auf die mechanischen Kräfte, 42 aus denen jene Vermögen ihre Begründungen erhalten.

2. Warum Mechanik und Ästhetik? – Anknüpfungspunkte an die Forschung

Bis in die Gegenwart hinein wird die Mechanik geläufigerweise mit einer Vorstellung von Technik in Verbindung gebracht. Das ist durch die sprachgeschichtlichen Beziehungen beider Begriffe auch durchaus erklärbar. 43 ›Technik‹ im Sinne einer maschinellen Apparatur wird in der Moderne jedoch nicht unbedingt als eine die Kunst im emphatischen Sinn befördernde Fertigkeit gesehen. 44 Dass die Mechanik als Disziplin anschlussfähig an Kunsttheorien ist, erscheint prima facie nicht unbedingt zwingend. Die Herausstellung des Die Ausdrücke ›Mechanik‹ und ›Mechanizismus‹ sowie die dazugehörigen Adjektive ›mechanisch‹, ›mechanistisch‹ und ›mechanizistisch‹ unterliegen in der deutschen Sprache keinem durchweg einheitlichen Gebrauch. Vielmehr werden sie regelmäßig auf verschiedenen Ebenen vermischt – ein Problem, das auch Dijksterhuis gleich zu Beginn seiner Studie konstatiert; vgl. Dijksterhuis (1956), 1. Die vorliegende Studie verwendet die Ausdrücke in der Weise, dass es sich bei ›mechanisch‹ um das Adjektiv zu ›Mechanik‹ handelt, dass ›mechanistisch‹ eine Philosophie bezeichnet, die sich mechanisch instruierter Theoreme bedient, und dass ›mechanizistisch‹ eine Stellung zwischen Ideologie und Philosophie einnimmt. Die Wissenschaft ›Mechanik‹ arbeitet in diesem Sinn ›mechanische‹ Gesetze aus, die Philosophie argumentiert ›mechanistisch‹ und die Ideologie nimmt ›mechanizistische‹ Standpunkte ein. Mögen also auch zahlreiche Philosophien mit ›mechanistischen‹ Theoremen operieren, bewegt sich die Bezeichnung ›Mechanizismus‹ in die Richtung einer Radikalphilosophie, die im Grunde überhaupt nichts anderes mehr zulässt als mechanische Gesetze, die in allen Bereichen der Welt walteten. Der Studie liegt die Hypothese zugrunde, dass sich das mechanistische Weltbild mitnichten als bloße Abfolge mechanizistischer Standpunkte ausnimmt, sondern in immer wieder neuen Zusammenhängen Axiome formuliert, die nicht-mechanistischen, etwa metaphysischen oder theologischen, Denktraditionen entnommen sind. 43 Die etymologische Herleitung der Technik aus τέχνη (téchne ¯ ) legt dies nahe. Sie meint eine Kunstfertigkeit, etwas vom Menschen Geplantes und Hervorgebrachtes. Der etwa in der ars mechanica, aber auch der ars poetica und der ars dicendi (rhetorica) enthaltene Begriffsbestandteil ars bildet das lateinische Pendant der τέχνη; vgl. zur antiken Begriffsgeschichte der τέχνη mit zahlreichen Belegstellen Löbl (1997), Löbl (2003) und Löbl (2008). Die Ästhetik wiederum wurde im Zuge ihrer philosophischen Etablierung in der Frühen Neuzeit als ars aesthetica bezeichnet und damit an den Kanon der artes angeschlossen. 44 So lautete noch Volkmann-Schlucks Befund in Bezug auf die Gegenwartskunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig optimistisch: »Die moderne, von den positivistischen Wissenschaften im Verein mit der Technik beherrschte Welt hat die Kunst in eine noch nicht dagewesene Krise gebracht. Das bezeugt die unübersehbar gewordene Vielfalt der Stilformen ebenso sehr wie deren Wechsel, der es mit der Veränderung der Mode, zumindest was die Geschwindigkeit anbelangt, durchaus aufnehmen kann. Auch die Kunst richtet sich in eine Dauer ein, die nicht die Gestalt des Bleibenden hat, sondern die den Wechsel von einem Neuen zu einem anderen Neuen 42

Warum Mechanik und Ästhetik? – Anknüpfungspunkte an die Forschung

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engen Zusammenhangs zwischen Kunst und Technik, der in der Tradition der antiken ars angelegt ist, gehört daher zu den grundlegenden Linien der Studie. Technik, verstanden als Fortentwicklung des Menschen aus der Natur, die dann wiederum zu deren Beherrschung führt, muss für sich genommen nicht kunstfeindlich sein. Sie kann vielmehr eine Verbindung herstellen zwischen der natürlichen Determiniertheit des Menschen und dessen Bedürfnis, diese Determiniertheit qua Kunst herauszufordern, sie zu überwinden und dabei über seine eigene Natur, sein Wesen umso mehr zu erfahren. Wenn sich Natur und Technik einer in der Moderne verbreiteten Auffassung nach scheinbar distinktiv zueinander verhalten, 45 so wird leicht der enge Zusammenhang übersehen, der zwischen der Schaffung von Lebenswelten, von Artefakten, mithin von ›Kultur‹, und der Beherrschung einer bestimmten Technik hierzu besteht. 46 Der Blick auf die europäische Poetik- und Ästhetikgeschichte zeigt, dass Kunst zwar häufig an die Fragen nach dem Guten, Wahren und – natürlich zuvorderst – Schönen gekoppelt wurde; sie insistiert jedoch mit fast der gleichen Hartnäckigkeit auf Vorstellungen von Affekt, Empfindung, Eindruck und Rührungsvermögen. Hierfür spielen aber Konzepte von Kraft, Bewegung und Energie eine entscheidende Rolle. Die enge Beziehung der Mechanik zu eben diesen Größen wiederum ist geradezu konstitutiv zu nennen. Umso erstaunlicher ist es, dass in den zur Ästhetik verfassten Geistesgeschichten zwar durchaus regelmäßig auf die genannten psychologischen Größen eingegangen wird, dabei jedoch die Begriffe von Kraft und Bewegung nicht reflektiert werden. 47 Auch systematische Untersuchungen räumen einer mechanistisch begründeten Psychologie im Rahmen der Ästhetik in der Regel ist. Sodann verschwinden zufolge der zunehmenden Verwendung technischer Mittel die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst immer mehr.« (Volkmann-Schluck [2002], 9). 45 Die Rede vom ›Hinausfahren in die Natur‹, um dem hochtechnisierten Großstadtalltag gleichsam zu entkommen, ist nur einer von zahlreichen populären Gemeinplätzen für diese Distinktion. 46 In neueren technikgeschichtlichen Darstellungen wird auf diesen wichtigen Umstand wieder vermehrt hingewiesen; vgl. etwa Bayerl (2013), 6: »Technik ist das Mittelsystem, das der Mensch anwendet, um aus dem Dargebot der Natur seine ›Lebensmittel‹ (im weitesten Sinne) zu fertigen. Es gibt kein ›technisches Zeitalter‹, da es auch kein ›nichttechnisches Zeitalter‹ gibt. Der Mensch richtet sich die Natur zu, aus ihren Beständen erschafft er seine Technik und damit technisiert er auch die Natur. Dennoch bleiben Mensch – der ja nicht nur homo faber, sondern auch ein Naturwesen ist – und Natur in ihren eigenen, nichttechnischen Qualitäten erhalten«. 47 Vgl. Pochat (1986), der sich mit der Geschichte der Ästhetik in einem umfassenden Sinn auseinandersetzt, dabei aber die Frage, ob die in der ars aesthetica verhandelten psychologischen Rührungsaspekte auch nach mechanischen Gesetzen auslegbar sind, außen vor lässt. Der primär als Vortragssammlung konzipierte Sammelband Die Mechanik in den Künsten (Berns / Möbius [1990]) wiederum enthält zwar nicht weniger als 22 facettenreiche Beiträge, jedoch keinen solchen, der sich dezidiert mit der Antikenrezeption im mechanistischen Weltbild der Frühen Neuzeit auseinandersetzen würde.

Einführung in die Fragestellung

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wenig Raum ein 48 – Gleiches gilt für lexikographische Einträge – 49 und ignorieren damit, dass der Weg der in der Kunst waltenden Kräfte spätestens ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht ohne die Mechanik zu denken ist. Den Paradigmen ›Kraft‹ – nebst ihrem Pendant ›Energie‹ – und ›Bewegung‹ kommt, so die in der Studie verfolgte These, eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Ausprägung einer Psychologie zu, die auf Mathematik und Mechanik beruht. Ohne die Etablierung einer in diesen Disziplinen verankerten Psychologie wiederum wäre, so die weitere These, die ars aesthetica nicht nur in ihren vielfältigen Erklärungsansprüchen, sondern in ihrem grundsätzlichen Gerüst nicht denkbar. 50 Die oben aufgeworfene Frage nach der Technik ruft also dringlich die Frage nach einer ars auf. Und diese Frage führt unmittelbar in die Antike zurück: Sie brachte diverse artes hervor und ist mit diesem Begriff teils taxonomisch streng, teils aber auch spielerisch umgegangen. Ein aus philologischer Sicht bis heute wichtiger Umstand besteht darin, dass die Antike eine Redekunst (ars dicendi, ars rhetorica) und eine Dichtkunst (ars poetica) kannte, die sich komplementär ergänzen konnten. Eine ars kannte sie jedoch nicht: die ars aesthetica. Dieses Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) zugesprochene Verdienst, mithilfe einer Psychologie, die selbst auf Vermögen und Kräften beruht, eine Philosophie der sinnlichen Erkenntnis zu begründen, 51 soll in der vorliegenden Vgl. etwa Brandstätter (2008), der in seinen äußerst knapp gehaltenen Ausführungen zum Kunstbegriff im Sinne einer Transformation von Energie kaum darauf eingeht, was ›Energie‹ ihm zufolge überhaupt bedeuten soll. Der Begriff erfährt dort keine wissenschaftliche Begründung, sondern wird praktisch als auf irgendeine Weise bekannt vorausgesetzt. Stattdessen dominieren in den aufgeworfenen Grundfragen erkenntnis-, wissenschafts-, erfahrungs- und medientheoretische Beschreibungsaspekte. Gar keine Rolle spielen Kraft und Energie in Schneiders Geschichte der Ästhetik (52010). 49 So ist ›Kraft‹, um nur wenige Beispiele zu nennen, weder im Lexikon der ästhetischen Grundbegriffe (Barck – Fontius – Schlenstedt – Steinwachs – Wolfzettel [2010]) noch in Becks Lexikon der Ästhetik (Henckmann / Lotter [22004]) vertreten; ebenso wenig findet sich ein Eintrag hierzu in Metzlers Lexikon Ästhetik (Trebeß [2006]). 50 Treffend hierzu Torra-Mattenklott (2002), 249 f.: »Man kann die Funktion des mechanischen Diskurses für die Wissenschaften des 18. Jahrhunderts als die einer lingua franca beschreiben, mit deren Hilfe Erkenntnisse verschiedenster Disziplinen ineinander übersetzbar sind«. Über die von Torra-Mattenklott genannten »Disziplinen« hinausgehend, wird sich die vorliegende Studie der ›Übersetzbarkeit‹ der Epochen der Antike und der Frühen Neuzeit zuwenden. Der zweite Punkt, der über Torra-Mattenklott hinausgeht, besteht darin, die Mechanik nicht nur als lingua, sondern als neue essentia hergebrachter Konzepte aus der Antike zu begreifen. 51 Vgl. exemplarisch zu diesem philosophiegeschichtlichen Gemeinplatz die facettenreichen neueren Sammelpublikationen von Allerkamp / Mirbach (2016), Campus – Haverkamp – Menke (2015) und Aichele / Mirbach (2008). Generell sind gerade die Forschungs- und Übersetzungsleistungen Mirbachs zu Baumgarten aus den letzten beiden Jahrzehnten hervorzuheben. Von einiger Bedeutung sind in jüngerer Zeit außerdem die Beiträge von Buchenau hierzu; in Baumgartens 48

Warum Mechanik und Ästhetik? – Anknüpfungspunkte an die Forschung

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Studie im Sinne eines Traditionsstranges aus der Mechanisierung des Weltbildes zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert heraus nachvollzogen werden – und zwar in Tradition der antiken Philosophie, Poetik und Rhetorik. Hierzu genügt es beispielsweise nicht festzustellen, dass eine Dichtungstheorie auf mechanischen Bewegungen beruhen kann, wenn man einfach nur eine Kenntnis über oder Vertrautheit mit den entsprechenden mechanistischen Theoriegebäuden seitens der poetologischen und ästhetischen Protagonisten voraussetzt. 52 Bereits die Etablierung einer dezidiert ars aesthetica genannten Disziplin im 18. Jahrhundert wäre ohne die Präzedenzleistung der in der Antike verankerten artes-Lehre nicht denkbar. Die Lehre von einer ars kann jedoch, wie insbesondere Teil iii der Studie zeigen wird, nicht ohne eine Vorstellung von natura funktionieren. Und diese Vorstellung kann spätestens ab dem 16. Jahrhundert nicht ohne eine Vorstellung von Mechanik funktionieren. Zwar spielt das Vernunftparadigma auch gegenwärtig eine große Rolle in den Auseinandersetzungen mit den europäischen Aufklärungen; dabei darf jedoch nicht außer Acht geraten, dass die Entstehung der europäischen Aufklärungen ebenso mit veränderten Auffassungen über den Naturbegriff einhergingen, deren eine – und in der Frühen Neuzeit dominante – Deutungsmöglichkeit diejenige des Mechanischen darstellte. 53 Die Beschäftigung mit dem mechanistischen DenAesthesis (2012) und in The Founding of Aesthetic in the German Enlightenment (2013) beschreibt Buchenau die Ästhetik vor allem als ein Phänomen der Aufklärungsphilosophie, ohne allerdings die Präliminarien früherer Epochen, insbesondere das mechanistische Weltbild, ausführlicher zu berücksichtigen. 52 Somit wird in der vorliegenden Studie dasjenige in den Blick genommen, was Wels (2009) durchgängig ausspart, wenn er den Dichtungsbegriff der Frühen Neuzeit ohne mechanistischen Einfluss denkt. Seine Studie bespricht die ideengeschichtlichen Transformationen der Mimesis und des Enthusiasmos. Exkurse zur Theologie, wie sie bei Wels (2009), 179–196 vollzogen werden, wird man in der vorliegenden Studie nicht finden, dafür aber ausführlichere Kapitel zu Kräften und Bewegungen (die ihrerseits – selbst in mechanistischen Weltbildern – in theologische Begründungszusammenhänge rücken können, ja sie teils sogar benötigen). 53 Die vielrezipierten Arbeiten Ernst Cassirers in der Philosophie der Aufklärung (1932) verfolgen bereits wichtige Gedanken zur frühneuzeitlichen Mechanik. Der wohl wichtigste Schritt hin zu einer fachübergreifend konsistenten Einordnung der Epoche gelingt indes in Panajotis Kondylis’ großer Studie Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981) worin die exzeptionelle Bedeutung des cartesischen Rationalismus und Mechanizismus für die Frühe Neuzeit herausgehoben wird und auch Naturwissenschaftlern wie Newton eine umfangreiche ideengeschichtliche Behandlung zukommt. Kondylis’ Studie war in der Erstauflage von 1981 lange Zeit vergriffen und wurde 2002 vom Meiner-Verlag in der zweiten Auflage von 1988 wieder nachgedruckt. Kaum weniger bedeutsam als Kondylis’ Fundamentalwerk sind Gaukrogers Studie The Emergence of a Scientific Culture (2006) sowie die nachfolgenden Monographien The Collapse of Mechanism and theRise of Sensibility (2010) und The Natural and the Human (2016), die eine innere Einheit bilden. Zum bei Kondylis wie bei Gaukroger regelmäßig aufgeworfenen Verhältnis zwischen Metaphysik und Mechanik in einem historisch verdichteten Zeitraum zwischen Newton und Lagrange vgl.

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Einführung in die Fragestellung

ken hat in der Forschung bereits wertvolle Erkenntnisse geliefert, 54 jedoch ist dabei nur selten eine Übertragungsleistung auf die ästhetische Theoriebildung, insbesondere in ihren psychologischen (›psychomechanischen‹) Zuschnitten, vorgenommen worden. 55 Der Mechanik war jedoch, wie die Studie genauer zeigen wird, stets gleichsam ein Begehren zu eigen, alle Kräfte der Natur, die außerdem Boudri (2002). Das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit, Transzendenz und Mechanik wird auch in der vorliegenden Studie noch an zahlreichen Stellen eine zentrale Rolle spielen. 54 Nach Ernst Machs Pionierarbeit Die Mechanik in ihrer Entwickelung (1883) sind es im 20. Jahrhundert Max Jammer – insbesondere mit seinen Studien Concepts of Force (1957) und Der Begriff der Masse in der Physik (1964) – sowie Dijksterhuis mit seiner umfassenden Monographie Die Mechanisierung des Weltbildes (1956), die das mechanistische Denken zu konsistenten Darstellungen in seinen historischen Zusammenhängen bringen. Ähnliches leisten auch Hall mit The scientific Revolution 1500–1800 (1954) und Harman mit The scientific revolution (1983). Ebenso hat Maier mit ihren Zwei Untersuchungen zur nach-scholastischen Philosophie (darin besonders mit dem ersten Teil Die Mechanisierung des Weltbilds im 17. Jahrhundert), besonders beachtet in der zweiten Auflage von 1968, Wesentliches zur Erhellung ideengeschichtlicher Zusammenhänge im Kontext des Mechanizismus geleistet. Zu den Vorzügen dieser Studien zählt, dass sie die Geschichte der Mechanik nicht auf deren ›klassischen‹ Aufbau, wie er vor allem für die Naturphilosophie Newtons angesetzt wird, reduzieren, sondern deren Genese anhand wichtiger Stationen nachverfolgen, die prinzipiell von der Antike über Mittelalter und Frühe Neuzeit bis in die Gegenwart reichen. Der epochenübergreifende Anspruch von Dijksterhuis’ Studie ist in dieser Hinsicht besonders hervorzuheben. Dass die Darstellungen solcher Verlaufsformen von Kontinuitäten wie von Diskontinuitäten bestimmt sind, steht dabei außer Frage; bemerkenswert ist in jedem Fall der revolutionäre Charakter, der dem mechanistischen Weltbild von Seiten so gut wie aller Philosophiehistoriker zugesprochen wird. Nachdrücklich weisen hierauf neben den bereits Angeführten etwa Kuhn (1980), Westfall (1978) und Lampariello (1965) hin. 55 Die diachrone Auseinandersetzung mit der bedeutenden Rolle, die der Psychologie für die ars aesthetica zukommt, beginnt im 19. Jahrhundert mit Hermann Lotzes Geschichte der Aesthetik in Deutschland (1868). Wichtige Impulse gehen zudem von Robert Sommers Studie Grundzüge einer Geschichte der Deutschen Psychologie und Ästhetik (1892) sowie Max Dessoirs Geschichte der neueren deutschen Psychologie (1894) aus. Insbesondere Sommers Studie gelangt in Form einer differenzierten Beschreibung der Philosophenschulen von Wolff bis zu Kant und Schiller zu Ergebnissen, die bis heute Gültigkeit beanspruchen dürfen. Was für Ernst Mach auf dem Gebiet der Mechanik gilt, lässt sich auf dem Gebiet der psychologischen Ästhetik für Lotzes, Sommers und Dessoirs Studien veranschlagen: Sie können als Pionierarbeiten der historisch fundierten Auseinandersetzung hinsichtlich der Verbindung von Ästhetik und Psychologie betrachtet werden. Weiterhin verdienstvoll ist der umfassende historische Blick in Alleschs Geschichte der psychologischen Ästhetik (1987). Auffällig bleibt bei alledem, dass in diesen historischen Grundrissen der Kraftbegriff so gut wie keine Rolle spielt. Auch die wichtigen Überblicksstudien von Pochat (1986) und Hammermeister (2002) behandeln psychologische Implikationen der Ästhetik, ohne dabei indes einen Kraftbegriff zu definieren, der überhaupt ›ästhetisch‹ zu nennen wäre. Dies hat sich seit der Jahrtausendwende beträchtlich geändert: Die bereits angeführten Arbeiten Menkes Die Kraft der Kunst (22013) und Kraft, Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (2008) wenden sich genau dem Zusammenhang zwischen Ästhetik und (psychologischen) Kräften zu. Dürbecks Studie Aufklärung und Einbildungskraft (1998) fokussiert wiederum mit der Einbildungskraft das für die Ästhetik zentrale Seelenvermögen; sie verschreibt sich gleichwohl anderen ideengeschichtlichen Zusammenhängen und Herleitungen als dem mechanistischen Denken – ebenso Gisis Studie Einbildungskraft und Mythologie (2007), die sich zudem an einigen Stellen kritisch mit Dürbecks Auffassungen auseinandersetzt. Eine für die

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menschlichen wie die tierischen, die körperlichen wie die geistigen, universell beschreibbar zu machen. Somit besteht eine philosophische Hauptlinie, die hier verfolgt werden soll, in der Entwicklung eines Kraftbegriffs, der die Natur zugleich in der menschlichen Seele selbst wie auch im Kosmos verortet. Hieran spiegeln sich bereits die Fragen wider, die im frühen 18. Jahrhundert zu einer neuen Beschreibung der Dichtkunst im Rahmen einer ästhetischen Erneuerung führen. Damit verbunden ist zugleich die Hoffnung, dass die Ästhetik nicht zuletzt auch als Disziplin durch ihre Einbettung in naturphilosophische Zusammenhänge umso mehr an Kontur gewinnt. 56 Wenn in diesen Kontexten von Kräften die Rede ist, so wird sich zwar bisweilen auch auf die Antikenrezeption bezogen, dies jedoch vorwiegend in einem rein philosophischen Sinn oder mit Bezug auf die bildenden Künste. 57 Es ist in diesem Zusammenhang also zu erwägen, was eine mechanistisch grundierte Ästhetik und Poetik für die Antikenrezeption der Frühen Neuzeit bedeutet. In einem aktuellen Beitrag stellt Evers mit Blick auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts folgende, in der Forschung verbreitete Position dar: Der Traum einer ästhetischen Revolution wird auf Griechenland projiziert. Griechenland, das Land Homers, Platons und Phidias', wird seit Winckelmann das gelobte Land. Denn die Römer gelten als Imitatoren, die Griechen als ursprünglich, als ›natürlich‹. 58

Im geschichtlichen Zusammenhang, der hier aufgerufen wird, ist einerseits die Frage zu stellen, ob der Lobpreis auf Griechenland beschränkt sein muss – denn im 18. Jahrhundert spielen Vergil, Ovid und, vielleicht noch vor allen anderen, Horaz in den poetologischen Diskussionen überragende Rollen –, andererseits stellt sich die Frage, was denn in diesem Sinn alles als ›natürlich‹ zu gelten habe. Evers setzt hierzu ideengeschichtlich »[d]ie ästhetische Revolution als Alternative für das mechanistische Weltbild« an. 59 Mechanik und Ästhetik sind jedoch, Verbindung von mechanistischem und ästhetischem Denken im 18. Jahrhundert herausragende Forschungsleistung stellt Torra-Mattenklotts Metaphorologie der Rührung (2002) dar. Dort wird allerdings die Antikenrezeption nicht systematisch ausgebreitet – was in dem Fall nicht als Makel zu verstehen ist, da dieser Fokus gar nicht erst angekündigt wird. Wichtige und bis dahin von der Forschung teils übersehene, teils vernachlässigte Berührungspunkte zwischen Mechanik und Ästhetik in der Frühen Neuzeit erläutert zudem Achermanns Aufsatz Im Spiel der Kräfte (2010). 56 Noch 1973 galt die Ästhetik manchem Geisteswissenschaftler »als Randgebiet der Philosophie« (Schweizer [1973], 9). 57 So befasst sich der im Zusammenhang mit der Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« (Universität Hamburg) entstandene Sammelband Kraft, Intensität, Energie (Fehrenbach – Felfe – Leonhard [2017]) mit der Dynamik der Künste zwischen Früher Neuzeit und Moderne, fokussiert dabei jedoch in erster Linie die bildenden Künste. 58 Evers (2017), 27. 59 Ebd., 59.

Einführung in die Fragestellung

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so die in der vorliegenden Studie favorisierte Haltung, nicht zwei Alternativen, sondern weisen einen gemeinsamen Entwicklungsweg auf. 60 Für die bisherige Forschung lässt sich demnach eine unbefriedigende Situation festhalten: Entweder mangelt es an der Herausstellung mechanistischer Implikationen in der frühneuzeitlichen Ästhetik und Poetik, oder es mangelt, wenn dies gesehen wird, an einer umfassenden Einbindung der antiken Vor- und Gegenbilder hierzu.

3. Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

Bei der avisierten Darstellung, welche die Antike und die frühneuzeitliche Mechanik zusammen denkt, geht es nicht um eine möglichst vollständige Chronologie – eine solche ließe sich ohnehin kaum je erzielen –, sondern um die Fokussierung naturphilosophischer Konzepte in bestimmten geschichtlichen Kontexten, welche die Ästhetik und Poetik – sowie in Teilen die Rhetorik – entscheidend geprägt haben. Die vorliegende Studie verfolgt in der Hauptsache den Weg, aspektbezogen zu argumentieren und die Philosophien, die sich auch innerhalb des mechanistischen Weltbilds durchaus voneinander unterscheiden können, nicht so sehr als geschlossene Systeme zu betrachten als vielmehr die historischen Entwicklungswege naturphilosophischer Paradigmen in zwei Richtungen – einerseits ihrer antiken Verankerung, andererseits ihrer frühneuzeitlichen Neu- und Umwertung nach – zur Darstellung zu bringen. Es geht daher gerade nicht um statisch fixierte Philosophenschulen (noch weniger um Philosophenbiographien) als vielmehr um die Darstellung von Kraftund Bewegungskonzepten, die – obschon sie spätestens ab dem 16. Jahrhundert in ihrem mechanischen Profil reüssieren – nicht genuin mechanistischen Gemengelagen entstammen müssen, sondern sich erheblich aus der antiken Philosophie, Poetik und Rhetorik speisen und in ein interagierendes Verhältnis zueinander treten. Mehr noch eröffnen Kraft- und Bewegungskonzepte insbesondere aufgrund der in ihnen vollzogenen Aufwertung materialistischer Deutungsangebote gegenüber metaphysischen neue Rezeptionsmöglichkeiten der Antike. Hierdurch kommen die Entwicklung, Anverwandlung und Transformation antik vorgeprägter Kräfte, Bewegungen und Vermögen im Sinne der reception studies 61 ins Blickfeld. Um den Doppelcharakter von Überlieferung und Progression nachzuvollziehen, ist es einerseits notwendig, sobald die Studie den Bereich der Antike verlässt, manche Kapitel überwiegend auf 60 61

Dies wird ein zentrales Thema in Teil III – IV der Studie bilden. Vgl. Hardwick / Stray (2008).

Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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die Entwicklung des mechanistischen Weltbilds zu richten und dabei Aspekte in den Blick zu nehmen, die prima facie keinen expliziten Antikenbezug aufweisen, jedoch zum Verständnis des mechanistischen Weltbildes Wichtiges beitragen. 62 Andererseits gilt es, die Rezeption antiker Autoren 63 und deren Funktionsweisen 64 in ihren ästhetischen und poetologischen Dimensionen zu erläutern. Im Zusammenschluss arbeitet dies dem Ziel zu, die übergeordnete Frage zu beantworten, wie es gelingen konnte, ein so neues, ja revolutionäres Weltbild wie das mechanistische zu einem dominanten Schema der Weltdeutung zu entwickeln und die Antike dabei gleichsam mit im Boot zu halten. 65 Auf diesem Hintergrund erhält das (nicht nur) dieser Studie titelgebende Kompositum ›Antikenrezeption‹ neben seiner in den Kapiteln i.1.a–f bereits ausgebreiteten argumentativen auch eine analytische Dimension. Obschon die Begriffsgeschichte der ›Antikenrezeption‹ selbst nicht Thema der Studie ist, sind die Komponenten dieses Terminus aufzuschlüsseln, um die Breite des hier veranschlagten Horizonts, die Erklärungsziele und deren Darstellungsform zu erläutern. ›Antike‹ und ›Rezeption‹ bilden für sich genommen bereits systematisch voraussetzungsreiche Begriffe, wobei in der vorliegenden Studie ›Antike‹ von einer epochentheoretischen und ›Rezeption‹ von einer ideengeschichtlichen Warte her verstanden werden. Gehen wir zunächst von der Epochenseite aus: Spätestens mit dem Einsetzen poststrukturalistischer Metaphysik-Kritik 66 gilt es als problematisch, Begriffe einem etwaigen ontologischen Gehalt nach bestimmen zu wollen. Für die in Rede stehenden Eochenbegriffe ergeben sich dann bestimmte Fragen: Worauf verweisen ›Epochen‹ und was können sie zur Erhellung einer Gemengelage beitragen, die gemeinhin als historische, als vergangene Wirklichkeit bezeichnet wird? Was ist es eigentlich, was durch Epochenbegriffe bezeichnet wird? Der Versuch einer Beantwortung lässt sich zumindest ex negativo darin erkennen, die Forderung aufzustellen, dass Epochenbegriffe grundsätzlich zu ›entontologisieren‹ seien, 67 dass sie also keinen eindeutig fixierbaren historischen Gehalt in sich trügen und in erster Linie mentale Schöpfungen Dies sind vor allem die Kapitel III.1.c.γ und IV.2–3. Beispielsweise in Kapitel III.3.a, IV.4.a und IV.4.d. 64 Beispielsweise in Kapitel IV .5.c. 65 Zum Aspekt der Tradition im Kontext der reception studies vgl. Budelmann / Haubold (2008). 66 Vgl. Foucault (1974), Derrida (1967) und Deleuze / Guattari (2000), verstanden als repräsentative Auswahl. Darauf, dass bereits bei Hegel bestimmte Aspekte der Metaphysik-Kritik Derridas indirekt vorweggenommen werden, hat zuletzt Schülein (2016) hingewiesen. 67 Im 20. Jahrhundert haben insbesondere der radikale Konstruktivismus, der Dekonstruktivismus, der Poststrukturalismus, Teile der Diskursanalyse, insbesondere foucaultscher Prägung, der Psychologismus sowie der Mentalismus diese Position prominent vertreten oder in ihren Theoriebestand integral eingebaut. 62

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Einführung in die Fragestellung

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beziehungsweise sprachliche Konstrukte seien. Bildlich gesprochen, dienen sie dann bestenfalls einer bestimmten Orientierung im Dickicht der Geschichte. Dürr, Engel und Süßmann haben diese Haltung bereits 2003 folgendermaßen zusammengefasst: Die Geschichtstheorie der letzten Jahrzehnte hat den Epochenbegriff radikal entontologisiert. Nicht der Welt der historischen Erscheinungen wird eine Geschichtsepoche wie die Frühe Neuzeit mehr zugezählt, sondern der Welt des Wissens; nicht in der Wirklichkeit wird sie aufgesucht, sondern in den Köpfen, wo sie die Wahrnehmung vergangener Wirklichkeiten strukturiert. 68

Die hier aufgeworfene »Welt des Wissens« hängt von der Annahme einer nachträglichen Strukturierung ab, die den Gegenständen der Geschichte – wenngleich hier begrifflich eingeschränkt auf die »Wahrnehmung vergangener Wirklichkeiten« – zuzuteilen wäre. Die Existenz historischer Erscheinungen als schiere Existenz in den »Köpfen« der Menschen allein läuft indes Gefahr, allzu sehr auf bewusstseinstheoretische Voraussetzungen reduzibel zu sein, und sieht sich wiederum Kritik ausgesetzt, wie sie etwa von Achermann vorgebracht wird: Sind Epochen Kopfgeburten, und wenn ja, sind sie dies in anderer Weise als etwa dasjenige, was wir mit Ausdrücken wie ›Klima‹, ›Bundestag‹, ›Fahrgastrecht‹ oder ›Pappbecher‹ bezeichnen? Es ist wohl wahr, dass ›Klima‹ nur in unserer Rede und unserer Schrift existiert, doch ist es mehr als fraglich, dass dies auch für das Klima gilt. Und es ist ebenso wahr, dass Vorstellungen nur im Kopf existieren, doch sind solche Vorstellungen, falls sie keinen Objekten, Prozessen oder Eigenschaften in der Welt entsprechen, Irrtümer, Lügen oder Fiktionen; fiktiv nämlich werden Gegenstände und Ereignisse genannt, die entweder nicht existieren oder nicht existiert haben. Das Klima aber scheint bis auf weiteres zu existieren, und dies ungeachtet der Tatsache, dass unter dieser Bezeichnung eine unüberschaubare Menge von Ereignissen subsumiert wird und auch ganz unterschiedliche Vorstellungen von Klima in den Köpfen existieren. Und auch ein Pappbecher existiert, ungeachtet des Umstandes, dass von dessen Wahrnehmung, dessen Identifikation, dessen Vorstellung und dessen Bezeichnung trivialerweise nichts übrig bliebe, wären unsere Köpfe nicht. 69

Mag sich Achermanns zuletzt angeführtes Beispiel des Pappbechers, insofern es sich dabei um ein der maschinellen Produktionskraft entsprungenes, mithin ein kulturelles Artefakt handelt, nicht auf derselben ontogenetischen Ebene 68 69

Dürr – Engel – Süßmann (2003), 1. Achermann (2016), 90 f.

Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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befinden wie der zunächst angeführte, im Wortsinn deutlich globalere Begriff des Klimas, und daher als Vereinzelung eines allgemeineren ontologischen Problems erscheinen, so ist der in beiden Fällen ausgedrückte Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem schwerlich hintergehbar. Anders gewendet: Unterstellt man, dass Epochenbegriffe nichts Wirkliches bezeichnen, könnte man auch zugespitzt behaupten, dass überhaupt kein Begriff irgendetwas Wirkliches bezeichnet oder überhaupt zu bezeichnen in der Lage wäre. Epochenbegriffe lassen sich daher angemessener verstehen als Konstrukte über einen bestimmten historischen Zeitraum, die komplexe Sachverhalte vereinfachen, zu einem gewissen Grad heuristisch sind und nur bestimmte – gleichwohl begründete – Aspekte geltend machen und dergestalt stets eine gewisse Deutungsmacht über Geschichte ausüben. Die Folgerung also, dass Begriffe ontologisch leer seien und keine zuverlässig überprüfbare Beziehung zu den von ihnen bezeichneten Objekten hätten, muss Zweifel auf den Plan rufen, die – wenn schon nicht aus einer streng realistischen, so doch zumindest aus einer epistemologischen Warte heraus – zu begründen sind. Zur Frage steht dann Grundsätzliches, nämlich ob und wie wir überhaupt Wissen über etwas erlangen und weitergeben können. Die drei großen epistemologischen Schulen des 20. Jahrhunderts – Realismus, Kritischer Rationalismus und Skeptizismus – 70 sowie die bereits erwähnte poststrukturalistische, postmoderne, dekonstruktivistische Wissenskritik sind bis heute und voraussichtlich auch künftig von zentraler Bedeutung für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Begriffen und den Objekten, die jene benennen und erklären wollen. Welche epistemologischen Grundüberlegungen muss man also anstellen, wenn man über die Möglichkeit reflektiert, von einer Epoche wie der Antike zu sprechen? 71 Nimmt man an, dass die realistische Position einen Punkt trifft, wenn sie sagt, dass es Ereignisse, Personen und Gegenstände in dieser Welt und in vergangenen Welten gibt beziehungsweise gab, deren Existenz sich unabhängig zu(m) subjektiven Blickwinkel(n) verhält, so ist indes noch nicht die Frage geklärt, was es dann heißt, dass sich eine Darstellung ›adäquat‹ zu eben diesen Gegenständen verhält. Adäquat wäre sie dann zu nennen, wenn sie Wissen Vgl. prominent für den Realismus Putnam (1981), für den Kritischen Rationalismus Popper (1979) sowie für den Skeptizismus Marquard (31982). 71 Zum Problem des Realismus von Begriffen in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen vgl. neben den Standardwerken von Baumann (2006), Gabriel (2015) und Schneider (1998), die auf klassische Positionen wie diejenigen Platons, Sextus Empiricus’, Descartes’, Freges und Wittgensteins referieren, vor allem die zur Vagheit und Ambiguität von Begriffen nach wie vor präzise sprachphilosophische Analyse von Pinkal (1985), 61–94, die Einlassungen zur epistemischen Ursächlichkeit bei Grundmann (2008), 453–541 sowie, als eine generell überaus schätzenswert geschriebene Argumentation für den Außenwelts- und Wissensskeptizismus, Schmoranzer (2010), 99–155. 70

Einführung in die Fragestellung

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vermittelt, wenn ihre Aussagen Wahrheit – sei sie nun ›objektiv‹ oder eben gänzlich diskursiv verstanden – enthalten und diese Wahrheit sprachlich angemessen vermittelt wird. Unzweifelhaft erscheint dabei, dass sowohl der epistemische Gehalt eines historischen Epochenbegriffs als auch die Vorbehalte gegenüber solchen epistemischen Gehalten jeweils für sich auf epistemologischen Verfahren, auf spezifischen Formen der Wissensproduktion beruhen. Ein bekanntes Beispiel: Wenn man von der ›Zeit des Römischen Bürgerkriegs‹ spricht und damit Wahres beziehungsweise wahrhaftig Geschehenes behaupten will, so hängt dies entscheidend davon ab, dass bestimmte Ereignisse in einem (vom Sprecher freilich zu präzisierenden) Zeitraum stattgefunden haben und dass Dokumente – oder andere Medienformate – eben davon zeugen; 72 dass ferner die zur Explikation und Explanation bemühten Begriffe adäquat zu den angenommenen Ereignissen und Vorgängen sind; und dass die Verstehensleistung nicht der ›Konstruktion‹ von Epochen zuwider läuft, sondern ganz im Gegenteil deren notwendiger Zulieferer ist. Aber auch der Zweifel hieran muss epistemisch begründet sein und betrifft dabei auch die bezeichnenden Funktionen historischer Paradigmen bzw. die epochentheoretischen Signifikationsprozesse selbst. Denn natürlich bedeutet die Setzung eines solchen Paradigmas (›Römischer Bürgerkrieg‹, ›Hellenismus‹, ›Französische Aufklärung‹ etc.) immer auch einen konstruktiven Akt, insofern ein Signifikant gesetzt wird, der nicht zwingend in den von ihm zu benennenden historischen Zeitaltern nachweisbar, geschweige denn emphatisch vertreten worden sein muss und der sich (auch) aus Wissenssystemen, mit Dorschel: aus ›Ideen‹, generiert, die von späteren Generationen entwickelt worden sind und der im Sinne Foucaults bestimmte Ereignisse einbezieht, andere ausklammert, um einen epochenspezifischen Allgemeinbegriff ansetzen zu können. Die Einordnung, Systematisierung und Diskursivierung epistemischer Größen – der Wissensgehalt über historische ›Ereignisse‹ bildet hierfür nur ein Beispiel – ist selbst von epistemologischem Zuschnitt. Die Idee ›Römischer Bürgerkrieg‹ strukturiert und ermöglicht ein bestimmtes Wissen über die Ermordung Caesars und Ciceros, den Aufstieg Octavians zum princeps, damit verbunden den Beginn des römischen Prinzipats etc. Die konkurrierenden Konzepte wie etwa ›Real-‹ beziehungsweise ›Ereignisgeschichte‹ versus ›Ideengeschichte‹ stellen daher nur scheinbare Alternativen dar, insofern beide sowohl hinsichtlich ihrer Gegenstandsbestimmung als auch Zur Funktionalität historischer Zeugnisse wurde im deutschsprachigen Raum am prominentesten von Assmann die Unterscheidung zwischen monumentalem und dokumentarischem Gedächtnis eingebracht. Als Spielarten des kulturellen Gedächtnisses zeigen sie die schöpferischen und deskriptiven Dimensionen menschlicher Artefakte an. Menschen schaffen etwas zu ihrem eigenen Gedächtnis; sie schaffen aber auch etwas, was aufgrund des Interesses anderer Menschen weiter tradiert – und interpretiert – wird; vgl. Assmann (1988) und Assmann / Czaplicki (1995). 72

Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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ihrer explanatorischen Dimensionen nicht ohne Ideen – im skizzierten Verständnis – auskommen: Im Mittelalter war die ökonomische Verfassung der europäischen Gesellschaften die feudale. Den ersten Rang in ihnen nahm der Adel ein; auf seine Interessen war das Gesellschaftssystem zugeschnitten. Was aber ist Adel anderes als eine Idee? Es gibt kein blaues Blut. ›Adel‹ ist der Gedanke, eine Minderheit von Menschen sei höherer Abkunft und übertrage ihre hervorragenden Eigenschaften von Generation zu Generation. Menschen niederen Standes seien dazu da, dem Adel zu dienen. Eine sogenannte Realgeschichte – eine Sozialund Wirtschaftsgeschichte – des europäischen Mittelalters, die nicht auf diese Idee Bezug nähme, verfehlte ihren Gegenstand. [. . . ] Wer ›Realgeschichte‹ oder ›Ereignisgeschichte‹ der Ideengeschichte entgegensetzt, sitzt insofern einer methodischen Illusion auf. Wären die Handlungen der Menschen bloße Ereignisse, gäbe es nichts an ihnen zu verstehen. Handlungen werden verständlich, wenn, weil und insofern sie Ausdruck von Ideen sind. 73

Das hier herangezogene Beispiel ist nicht so eindeutig auf einen vereinzelten Gehalt reduzibel, wie es bei einem so vertrauten Wort wie ›Adel‹ vielleicht den Anschein hat. Mit gutem Grund spricht Dorschel nicht von ›genau dem Gedanken‹, sondern ›nur‹ von »de[m] Gedanke[n]«. In Kombination mit anderen Gedankeninhalten neben den angeführten 74 kann der Adel als komplexe Idee begriffen werden. Dorschels Einlassungen zum Verhältnis von Real- und Ideengeschichte haben auch über dieses Beispiel hinaus für die hier skizzierte epochentheoretische Problemstellung einen veranschaulichenden Charakter, wobei der Vorzug einer Berücksichtigung von Ideen auch in der Ereignis- bzw. Realgeschichte zutage tritt. So würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit Widerspruch hervorrufen, davon auszugehen, dass es Ereignisse beziehungsweise Handlungen 75 wie ›Caesar überschritt den Rubikon‹, ›Pompeius erhielt vom Senat den offiziellen Befehl, Rom gegen Caesar zu verteidigen‹, ›Pompeius, Crassus und Caesar bildeten ein Triumvirat‹ etc. nicht gab, sehr wohl aber den ›Römischen Bürgerkrieg‹. Aber erst mit Setzung dieses letzten Paradigmas wird den singulären Ereignissen und Handlungen auch ein retrospektiver Sinn zugeschrieben, der freilich nicht die einzig mögliche semantische Option darstellt. Ein Begriff mit historiographischem Geltungsanspruch ist, so er sich einem wissenschaftlichen Werturteil aussetzt, auf die Annahme der ihm zugrundeliegenden Sachverhalte ebenso angewiesen. Ebenso relevant erscheint es, sich Dorschel (2010), 38 f. Wie etwa ›Vererbbarkeit sozialer Eigenschaften‹ oder ›konservativer Umgang mit Privilegien‹. 75 Zu Differenz und Berührungspunkten dieser Begriffe, die von Dorschel nicht systematisch behandelt werden, vgl. Davidson (42015). 73 74

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Einführung in die Fragestellung

die jeweils veranschlagten terminologischen Beschreibungskriterien und Plausibilisierungsverfahren zu vergegenwärtigen, auf denen jedwedes Konstatieren eines historischen Sachverhalts aufruht. 76 Wie zuverlässig dann ein solcher Zugriff sein kann – materiell etwa in Hinsicht auf die Überlieferung, epistemisch wiederum in Hinsicht auf die Wissens- und Verstehenskategorien, die wir ansetzen, oder argumentativ hinsichtlich der Frage, inwiefern uns deren Zusammenhänge überzeugen, bildet einen Fragehorizont, dessen fortwährende Reflexion zu den elementaren Aufgaben der Philosophie und der philologischen Wissenschaften zählt. Ohne darauf eine ›endgültige‹ Antwort zu liefern, zeigt sich doch, dass epistemische Ansprüche und ihre Möglichkeitsbedingungen im oben veranschlagten Sinn als ein Scharnier zwischen Ereignis, Epoche und Idee fungieren können. Hiervon zu scheiden ist nochmals die genaue Frage nach Chronologie und Diegese in den ideengeschichtlichen Darstellungsverfahren – insofern diese in erster Linie bestimmten Konventionen unterliegen und jeweils Wissen vermitteln können. Die Literaturgeschichtsschreibung hegt selbst spätestens mit Einsetzen des Konstruktivismus und der Systemtheorie erhebliche Zweifel an der Plausibilität des Kriteriums einer Epochenabfolge, die sich im Sinne einer universellen Literaturgeschichte (historia lit[t]eraria universalis) noch beschreiben ließe. Anders gewendet: Ideengeschichtliche Betrachtungen arbeiten darstellerisch auch mit Verfahren wie Prolepse und Metalepse und unterscheiden sich gerade in dieser diegetischen Vielseitigkeit und Präsentationsweise von einem schlicht chronologisch-rekonstruierenden Abriss. Zwar kann sich Ideengeschichte der Chronologie bedienen, ist aber darauf nicht allein angewiesen. Bereits die Konstruktion einer erzählerischen Raumzeit (›Diegese‹) kann auf Mittel wie die oben genannten setzen, um illustrative und argumentative Dimensionen auszufüllen, ohne dass deren Elemente sich inkonsistent 76 Darüber hinaus ist es keine Frage von Beliebigkeit, welche historischen Größen dazu zu zählen sind und welche nicht. Unter welchen Bedingungen lässt sich sagen, dass Caesar den Rubikon überschritt? Auf unser Thema übertragen hieße dies etwa, dass es merkwürdig wäre, beispielsweise eine ›Geschichte der Ästhetik‹ anzusetzen, die im 18. Jahrhundert großen Einfluss auf die Philosophie, Philologie und Psychologie nahm, wenn nicht nach unserem bestmöglich verfügbaren Wissen – neben zahlreichen anderen Vermutungen – die Annahme gerechtfertigt erschiene, dass Baumgarten in der Zeit eine Aesthetica (1750/58) geschrieben hätte und diese Schrift uns – in mehr oder weniger zuverlässiger Weise – überliefert wäre und wir einen kognitiven Zugriff auf diese Quelle hätten. Zur Begründung ist dann anzuführen, dass es plausibel ist, eine Geschichte der Ästhetik anzunehmen, wenn sich die dazu herangezogenen kulturellen Artefakte in bestimmten Weisen zueinander kohärent verhalten: dass also etwa Baumgartens Schrift Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) Kohärenzen zur späteren Aesthetica aufweist, auch wenn dies nicht aus ihrer begrifflichen und programmatischen Anlage, die mehr auf etwas Poetologisches (ad poema) denn auf etwas Ästhetisches hinzuweisen scheint, unmittelbar erkennbar ist.

Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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zueinander verhalten müssten. Somit ist Rezeptionsgeschichte nicht falsch zu verstehen als eine Geschichte, in der permanente Bezugnahmen auf eine – mit welchem ontologischen Grad auch immer versehene – Epoche stattfinden. 77 Zwar wäre es merkwürdig und überdies zu kurz gegriffen, zu sagen, dass Rezeption historische Realität auf irgendeine schlichte Weise ›abbilden‹ wolle; sie kommt aber ohne die Grundannahme, dass die Texte in einer Zeit produziert worden sind, die sich von unserer unterscheidet, schwerlich aus; die Objekte der Bezugnahmen sind, ganz unabhängig davon, ob man ihre Qualität ›zeitlos‹ oder andersartig, zum Beispiel ›sprachlich konstruiert‹, bezeichnet, in jedem Fall vorgängig zu nennen. 78 Ihre verbindliche Verfasstheit ist die Form der Sprache. Batstone hat diesen so basalen wie wichtigen Umstand im Kontext der reception studies zum Ausdruck gebracht: This means that in terms of our consciousness, language precedes the world. It is the medium into which we are born and it carries with ist values and meanings that reach as far back into the past as they do into the future. This is possible because from within language meaning is not arbitrary; metaphor is connected to metaphor, metonomy to metonomy and the briefcase has long ceased to carry the lawyer's briefs while the word still does. [. . . ] Any symbolic system carries with it its history, its future and play. 79

Batstones Argument ist strukturalistisch vorgeprägt, insofern Metapher und Metonymie den paradigmatischen und syntagmatischen Dimensionen, durch die sich so etwas wie eine Diegese überhaupt aufspannen lässt, entsprechen, wobei die auftretenden Signifikanten – wie Batstone zu Recht festhält – nicht auf einen einzelnen Sprachgebrauch angewiesen sind. Es lässt sich ergänzen, dass die Ideen bezeichnenden Signifikanten bei aller Freiheit gleichwohl darauf angewiesen sind, dass ihr Gebrauch gut begründet wird. So wenig Ideen Diskurse sind, so sehr werden und wurden aus ihnen historisch je spezifische Geltungsansprüche formuliert, die universell in Bezug auf das in ihnen zur Geltung gebrachte Verhältnis zwischen Wahrheit und Wirklichkeit zu betrachten sind. Dieses Verhältnis ist wiederum dadurch gekennzeichnet, dass nicht jede Aussage über die Wirklichkeit eine Aussage über eine abstrakte Wahrheit bedeuten muss, jedoch ein Konzept beinhaltet, das die Produktion bestimmter Vgl. den auf Rezeptionsgeschichte und -ästhetik ausgelegten Sammelband Classics and the Uses of Reception (Martindale / Thomas [2006]), worin durchweg auf Grundlage präziser Kenntnisse der antiken Textcorpora Rezeptionsaspekte auf verschiedenen Ebenen wie ›Klassizismus‹, ›Historizität‹ und ›(Post-)Feminismus‹ zur Darstellung gebracht werden. 78 Zwar würde eine vollständig idealistische Geschichtsphilosophie selbst den zeitlichen Vorgang an sich bestreiten; dieser radikale Weg soll hier jedoch nicht verfolgt werden. 79 Batstone (2006), 15. 77

Einführung in die Fragestellung

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Texte und deren Kohärenz auf für außenstehende Rezipienten nachvollziehbare Nenner bringt. Ideengeschichte beschäftigt sich dementsprechend nicht ›nur‹ mit Ideen, sondern zuvorderst mit den Verfahren, wie Wahrheit und Erkenntnisse überhaupt gewonnen werden – und zwar auf einer transhistorischen Ebene, wobei ihr Fluchtpunkt stets die Historie bleibt. Foucault hält Ähnliches im Vorwort zur Ordnung der Dinge folgendermaßen fest: Es handelt sich eher um eine Untersuchung, in der man sich bemüht festzustellen, von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalitäten sich bilden können, um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen. 80

Das mechanistische Weltbild mutet in diesem Sinn prima facie als Reflexion der neuen Erfahrungswelten an, die durch den technischen Fortschritt freigesetzt werden – und überdies machtkritisch, da es mit Autoritäten bricht: Das Neue steht gegen das Alte, die Materie wird gegen die Metaphysik in Stellung gebracht, die Bewegung gegen eine statische Ontologie. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet erfährt Ideengeschichte, trotz ihrer vermeintlich metaphysischen Provenienz, eine erstaunlich ungebrochene Konjunktur. 81 Dabei ist trotzdem zu beachten, dass Ideen, wenn sie als Paradigmen für eine Geschichtsschreibung dienen sollen, nicht als der Wirklichkeit entrückte Ideen behandelt werden, sondern als »situierte Ideen«, 82 als »relationship between ideas and historical processes«, 83 als »in dem Verlauf« 84 verfolgbare Größen oder als »world-views and collective mentalités« 85 aufgefasst werden. Ideen wären demzufolge, im Gegensatz zu einer abstrakten Verortung in einem platonischen Ideenhimmel, in ihrem Verhältnis zu historischen Sachverhalten immer wieder aufs Neue zu prüfen. 86 Das dabei auftretende Problem, dass historische Wirklichkeiten – zumal bezogen auf die Geistesgeschichte – selbst in der Regel nur noch in Form von Texten und Bildern an uns gerichtet sind, verlangt nach einer den Quellen und den Ideen gemeinsamen Foucault (1974), 24. Vgl. die – teils Disziplinen übergreifenden – Beiträge von Nakamura (1995), Kelley (2002), Dorschel (2010), Piovani (2010), McMahon / Moyn (2014), Whatmore (2016) und Goering (2017). 82 Dorschel (2010), 23. 83 Whatmore (2016), 25. 84 Dilthey (41959), 415. 85 Darnton (1980), 337. 86 Zum relationalen Charakter von Ideen im Kontext von Ideen- und Problemgeschichte vgl. Dorschel (2010), 97–102. 80 81

Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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Beschreibungsebene. Die vorliegende Studie sieht diese Beschreibungsebene in zwei hauptsächlichen Dimensionen: Die eine ist die oben angesprochene Ebene des Wissens. 87 Die zweite ist diejenige der Textualität. Die zeichenhafte Präsenz von Ideen wird in der Regel als kulturelle, im Falle der Philosophie und Philologie: textuelle Leistung aufgefasst. Wenn es primär um Texte und Kontexte geht, die von wissenschaftlicher Seite in den Fokus gerückt werden, so wird der Text selbst nicht selten metaphorisch beschreibbar zu machen versucht. 88 Ontologisch tiefgreifender als diese erscheint gleichwohl die in den cultural studies vertretene Sicht, dass Kontexte nicht einfach Konstellationen und Beziehungen abbilden, sondern jede Form von Kultur bereits Text bedeutet respektive als Text behandelbar ist. 89 Baßlers allgemeiner Textbegriff beruft sich wissenschaftsgeschichtlich vor allem auf den New Historicism. Gleichfalls sind aber auch dem Strukturalismus entstammende Konzepte wie Intertextualität als darstellende Verfahren für die Frühe Neuzeit und andere Epochen fruchtbar zu machen. 90 Die bis heute wirkmächtigen Äußerungen Foucaults zum Verkettungscharakter von Zeichen im Vorwort zu Die Ordnung Vgl. zu diesem auch etymologisch relevanten Zusammenhang Dorschel (2010), 85: »Die ›Idee‹ steht ihrer griechischen Herkunft nach im Bann der vielleicht mächtigsten der westlichen Kultur: Wissen ist Sehen; erkannt hat, wer Einsicht gewann. Jedes ideengeschichtliche Vorhaben hat es nötig, sowohl über die erschließende Kraft dieser Metapher wie über ihre Grenzen ins Klare zu kommen; auf beides weist die Geschichte der Idee der ›Idee‹«. 88 Vgl. Boucher (1985), 1: »In the Phaedrus Socrates argues that the written word is far inferior to the spoken word as a means of communicating knowledge. The written word is incapable of distinguishing between the readers who are ignorant and unreceptive, and those who are knowledgeable and receptive to what the author has written ›And if it is ill-treated or unfairly abused it always needs its parents to come to its rescue; it is quite incapable of defending itself‹. [. . . ] A text, like a child, will have a character which exhibits extremes of mood, a variety of attitudes, inconsistent opinions and moral ambivalences. The parent may have found one characteristic more endearing than others and attempted to develop it as the most significant aspect of the child’s personality. But the child will appear differently in the eyes of many people with whom it comes into contact, and neither the parent nor the guardian is capable of legislating what is to be perceived by others as the personality of the child. [. . . ] The text, too, will appear differently in different company, and the essence of the problem of interpretation for those prescribers of principles for conducting such an endeavour, is identifying the appropriate company in terms of which the text should be comprehended. A text, like a child, they suggest, is nothing in isolation: it has to be understood in relation to something«. Die angeführte Stelle entspricht Plat., Phaedr., 275e2 f. 89 Vgl. die insbesondere in Germanistik und Kulturwissenschaft vieldiskutierte Text-KontextTheorie bei Baßler (2005). 90 Vgl. Vollhardt (2003), 145 f.: »An die Frühe Neuzeit wird man vielleicht nicht vorrangig denken, wenn man diesen durch Poststrukturalismus und Dekonstruktion prominent gewordenen Begriff [›Intertextualität‹; D. B.] verwendet. Dabei dürfte es kaum eine Periode der neueren Literaturgeschichte geben, in der literarische Netze von Anspielungen und die Übernahme von Textelementen eine so große Rolle gespielt haben, wie in der Zeit der Ausbildung unseres modernen Literatursystems«. Zur Intertextualität als Objektbereich der Textualität vgl. Baßler (2005), 65–72. 87

Einführung in die Fragestellung

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der Dinge supponieren ein Konzept, das sich auf eine bestimmte Suche, auf die Suche nach Verfahren der Kohärenzbildung in historischen Wissenssystemen begibt. 91 Ein so verstandenes Konzept von Ideen(verbünden), deren epistemischer Gehalt und deren systematische Kohärenz unhintergehbar an die zum Zwecke ihrer Repräsentation je aktualisierten Zeichen- respektive Textformen geknüpft ist, ist auch auf geschichtsphilosophischer Ebene seit dem Historizismus und New Historicism ein vieldiskutierter Gemeinplatz. 92 Es geht bei Vgl. Foucault (1974), 21 f.: »Wenn wir eine reflektierte Klassifizierung einführen, wenn wir sagen, daß die Katze und der Hund sich weniger ähneln als zwei Windhunde, selbst wenn diese beiden gezähmt oder einbalsamiert sind, selbst wenn sie beide wie Irre laufen und wenn sie gerade einen Krug zerbrochen haben, von welchem Boden aus können wir es mit aller Gewißheit feststellen? Auf welchem »Tisch«, gemäß welchem Raum an Identitäten, Ähnlichkeiten, Analogien haben wir die Gewohnheit gewonnen, so viele verschiedene und ähnliche Dinge einzuteilen? Welche Kohärenz ist das, von der man sofort sieht, daß sie weder durch eine Verkettung a priori und notwendig determiniert ist, noch durch unmittelbar spürbare Inhalte auferlegt wird? Denn es handelt sich nicht darum, Konsequenzen zu verbinden, sondern konkrete Inhalte aneinander anzunähern, zu analysieren, zu isolieren, anzupassen und zu verschachteln«. 92 Der Zusammenhang zwischen Determiniertheit und einem radikal kontingent zu nennenden Geschichtsverlauf wurde seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig als janusköpfige Typologie in der Ideengeschichte diskutiert und insbesondere in anglo-amerikanischen Forschungsbereichen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert. Um diese fast schon ›klassisch‹ zu nennende Disposition zu umreißen, sei auf die bis in die Gegenwart diskutierte Position von Bradley (1893) hingewiesen, der hierzu eine idealistische, von Hegel inspirierte Position einnimmt, während Oakeshott (1933) Geschichte vorwiegend als einen Verstehensmodus (mode of understanding) begreift. Collingwood (1946) wiederum nimmt hierzu die Haltung ein, dass Vergangenes eine doppelte Existenz aufweise: einmal in seiner vergangenen Semantik, einmal in seiner gegenwärtigen, ›reproduktiven‹ Semantik. Einen wichtigen Impuls aus diesem triadischen Begründungssystem heraus formuliert wiederum Boucher (1985), der im Zuge dessen auch die Grundpositionen von Bradley, Oakeshott und Collingwood en passant zusammenfasst: »Both Collingwood and Oakeshott, like Bradley, take history to be a specific, and not every and any, attitude towards the past. The philosophy of history, for them, is the critical examination of the postulates or conditions upon which the historical form of knowledge rests, and not the search for a rationale or grandoise plan in the movement of the past. However, the two types of philosophy of history cannot be entiredly divorced from one another. Collingwood’s theory of absolute presuppositions implies a conception of how the past is organized into distinct epochs which supersede each other. While [. . . ] Oakeshott’s conception of the whole of the history of philosophy is philosophically conceived. [. . . ] In what sense, then, can we apply the terms historicist, relativist, and sceptic, to Collingwood and Oakeshott? If we take historicism to mean the explanation of an occurrence in terms of relating it to its historical context, then both writers can be viewed as historicists. If we understand historicism to entail the recovery of the view of the world the agents themselves had, then Collingwood, although not exclusively, could be included in this category. But Oakeshott escapes it because the agent’s view of the world is not that of the historical mode of enquiry.« (Boucher [1985], 63) Boucher schließt mit einem eigenen Vorschlag, der sich auf die historischen Texte und Kontexte fokussiert: »Texts can tolerate a wide degree of interpretation, but there are limits beyond which interpretations cannot go without breaking the chains which secure the written work to its readers. Thus the case for accepting one interpretation can be argued by its supporters, and justified by means of producing relevant evidence. Likewise, alternative views can be supported in the same way. But methodological 91

Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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dem damit angezeigten, für diese Arbeit maßgeblichen ideengeschichtlichen Methodenhorizont nicht darum, einer bestimmten ›Schule‹, etwa dem New Historicism oder Foucaults ateleologischem Geschichtsverständnis zu folgen, als vielmehr um die Beantwortung der genannten Fragedimensionen: Auf welchen Bedingungen ruht die Genese des Wissens auf und wie lässt sich den Ideen und den durch sie konstituierten Wissensgefügen in ihrer textuellen und literarästhetischen Verfasstheit Genüge tun? Zumal nach den Entwicklungen der Wissenschaftsschulen des 20. Jahrhunderts und deren zahlreichen turns lässt sich aus dem heutigen Stand heraus leicht eine Fülle an poetischen Instanzen denken, die angetreten sind, den Konnex von Wissen und Textualität analytisch und gleichermaßen kritisch einzufangen: der Autor, der Rezipient, der Text und dessen Struktur, der Mythos, der Diskurs, das Sprachspiel, die Sprechhandlung, um nur wenige zu nennen. Zugleich bringen diese, sobald die Frage nach ihrer wissenschaftlichen ›Praktikabilität‹ aufkommt, regelmäßig methodische Instrumentarien hervor, um einen Text auf mehr oder weniger befriedigende Weise beschreib- oder erklärbar zu machen. Auch die griechisch-römische Antike hat sich für diese Fragen in hohem Maße interessiert, wenngleich sie keinen Begriff kannte, der den modernen Auffassungen von Literatur gänzlich gleichkäme. 93 Die pauschale Rede von ›der‹ antiken Literatur respektive Kunsttheorie kann dann entfallen, wenn man die antiken Texte als antike Texte deutet und in ein Verhältnis setzt zu ihrer Rezeption, die selbst wiederum als textueller Prozess zu denken ist. Im hier aufgeworfenen Sinn liegt der Studie die Annahme zugrunde, dass die Institutionalisierung des mechanistischen Weltbildes bislang allerdings gerade zu wenig Aufmerksamkeit seitens der philosophischen und philologischen Forschung hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Antike erfahren hat. Bemüht man die Metapher des revolutionären Weltbildes, so zeichnet sich ein solches gleichwohl nicht nur durch einen ›Willen zur Macht‹ aus. Neben hierarchische Strukturen treten auch bereichsweise Unterscheidungen, Allianzen, Überpluralism does not necessarily lead to relativism in interpretation. Interpretations achieved by means of the use of different methods of procedure do not mean the results will be incommensurable, or incapable of being compared. Certain considerations transcend the intra-theoretic confines of any particular method.« (ebd., 271). 93 Dieser Widerspruch zum Beschreibungsanspruch eines Fachs, das gerne von ›Antiker Literatur‹ spricht, wird in der klassischen Philologie nicht selten nivelliert oder gleich ganz übergangen (Positive, diesen Umstand reflektierende Ausnahmen sind allerdings Arweiler [2009] und Kroll [21964] sowie – bezogen auf die grammatici der Spätantike und des Frühmittelalters – Irvine [1994]). Davon abgesehen hat die Antike eine beträchtliche Zahl an Konzepten hervorgebracht, die sich bis heute – nicht nur in Fremd- und Lehnwörtern wie Begriffen wie ›Poetik‹, ›Poetologie‹, ›Metrum‹, ›Metrik‹, ›Vers‹, ›Versifizierung‹, ›Inspiration‹ etc. – auf zahlreiche Beschreibungsarten der Dichtkunst auswirken.

Einführung in die Fragestellung

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schneidungen, so dass eine ideengeschichtliche Analyse der Antikenrezeption im Zeitalter des Mechanizismus auch das Nebeneinander von Ideen und Strukturen zu berücksichtigen hat. Haynes hat diesen Anspruch anhand des Begriffs domain ausgeführt: In thinking about the relation between the reception of a classical text and the institutions, ideology, artistic activity, and scholarship that make this reception possible, two errors should be avoided: either denying any autonomy to the different domains of reception (as, for example, when scholarship or the art work is described as entirely ideological, solely an example of the will to power) or refusing to see the different domains as related to and constrained by others. 94

Bezogen auf die Etablierung der ars aesthetica im 18. Jahrhundert hat eine solche Etablierung auf dem Hintergrund der klassischen Poetiken zwar höchst novatorischen Charakter, dennoch konnten Ästhetik und Poetik in der Folge diskursiv ›koexistieren‹, was sie als domains im Sinne Haynes' auszeichnet. Auch ein Fortschrittsgedanke, der dem mechanistischen Weltbild in seiner engen Koppelung an die Sukzession der Technikgeschichte aneignet, bedeutet keinen geschichtlichen ›Fortschritt‹ im trivialen Sinn, sondern bildet selbst ein historisch situiertes Paradigma, das es in Form textueller Zugriffe in der vorliegenden Studie aufs Neue zu erschließen gilt – nicht nur in rezeptiver, sondern auch in produktiver Hinsicht. Denn Rezeptionsparadigmen bilden, so eine wesentliche Annahme der Studie, keine schiere Referenzfunktion aus (auf Epochen, Autoren, Werke, Mythen, Philosopheme etc.), sondern enthalten selbst gestalterisches Potential. Somit wird der Antikenbegriff auch in dieser Hinsicht fokussiert. 95 Erst hierdurch fügen sich ›Antike‹ und ›Rezeption‹ wieder zu einem Kompositum zusammen, das mehr bedeutet als der Einzelwert seiner Bestandteile. Was mit Bestimmtheit jedem Versuch einer Ideengeschichte anhaftet, ist, eine Spürbarkeit der Zeichen zu rekonstruieren, welche dem Wissen und damit Haynes (2006), 45. Im 18. Jahrhundert, insbesondere in der Dichtungsmode des Rokoko, fällt in diesem Sinn beispielsweise das Bestreben auf, eine ›weibliche‹ Antike zu (re-)konstruieren; vgl. Heinze / Krippner (2014a), etwa in Form eines mit neuzeitlichen Nuancen versehenen Kleopatra-Bilds in Dramen des 18. Jahrhunderts (vgl. Krippner [2014]), die beharrlich auf antike Geschlechtertypologien und deren Transformation verweisende Ausrichtung der Figuren in La Fontaines La matrone d’Éphèse (vgl. Wendt [2014]) oder Wielands Gestaltung stoischer und kynischer Philosophengestalten auf Grundlage antiker Muster in der Musarion (vgl. Borghardt [2014]). Der Epochenbegriff ›Antike‹ wird entsprechend diesen Rezeptionshaltungen mit bestimmten Eigenschaften und Konnotaten versehen, denen »die Einsicht zugrunde [liegt], dass Vergangenheiten nie stabile Entitäten sind [. . . ], sondern dass sie vielmehr erst im Prozess und im Effekt ihrer Transformation hervorgebracht und immer wieder neu gebildet wird.« (Heinze / Krippner [2014b], 10). 94 95

Zum Fragehorizont ›Antikenrezeption‹

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auch den Ideen eine neue Form geben. 96 Hierdurch gelangt man, gewollt oder ungewollt, zu demjenigen, was geradezu ein Grundthema der Aufklärungsphilosophie und einen wesentlichen inhaltlichen Punkt dieser Studie darstellt: der Überführung von sinnlichen Zeichen in ein kognitives Moment. 97 Dieser Prozess lässt sich verdichtend im Rekurs auf ein Prinzip beschreiben, das pointiert in der Frühen Neuzeit selbst – im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Rationalität – Gestalt gewinnt: das Prinzip der Evidenz (evidentia). Denn die Wahrheit ist – mit Descartes gesprochen – reine Evidenz; die Zeichen sind dementsprechend sinnlich präsent und beobachtbar (selbst wenn sie ›lediglich‹ in Form historischer Quellen vorliegen), dabei aber auch potentielle Träger respektive Übermittler von Wahrheiten. 98 Campe bringt diese Denkfigur bereits mit wissensgeschichtlichem Blick auf die von ihm so bezeichnete ›Epoche der Evidenz‹, die sich zwischen Descartes und Kant abgespielt habe, auf einen Punkt: In dieser, epistemologischen, Sicht erscheint die Epoche der Evidenz [die Zeit des Cartesianismus; D. B.] also als Zwischenbereich: als Zwischenbereich zwischen dem, was bei der Beobachtung der Welt als evident gilt, und dem, was als evidente Beobachtung sich beobachten lässt. Dafür gibt es eine klassisch gewordene Formel. Oft findet man in dieser Zeit die Rede von den zwei Arten der Evidenz: der mathematischen (oder metaphysischen) Evidenz, die volle Gewissheit gewährt, und der historischen Evidenz (im alten, aristotelischen, Sinne der historiae), die höhere oder mindere Grade von Gewissheit möglich macht. 99

Auf diesem Hintergrund seien, im kritischen Anschluss an die in Kapitel i.2 skizzierten Forschungsleistungen, als Ziele der vorliegenden Studie festgehalten, den Einfluss des mechanistischen Denkens – in Form der Mechanik als Disziplin oder des Mechanizismus als mit dieser Disziplin aufs Engste bezogener Denkart – auf die frühneuzeitliche Ästhetik und Poetik unter dem Leitaspekt der Antikenrezeption zu applizieren und zu beschreiben. Darüber hinaus soll die Studie einen neuen Aufschluss über das Bild geben, das sich die Frühe Neuzeit von der Antike gemacht hat, indem sie sich abseits transzendenter Verklärungsstrategien bewegte. Den Ausgangspunkt hierfür sollen gerade nicht die antike Mechanik oder die antike Technik bilden, sondern die Vermögenslehren der antiken Poetik und Rhetorik. In einer ausführlichen Behandlung dieser Sujets Vgl. hierzu auch Baßler (2005), 227–231. Vgl. Kondylis (22002), 9–19. 98 Zur Rolle des Wahrheitsbegriffs in epistemologischen Zusammenhängen vgl. Grundmann (2008), 33–69. 99 Campe (2006), 27. 96 97

Einführung in die Fragestellung

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in den Kapiteln ii.1–6 der Studie werden die Grundlagen für das Verständnis der Entwicklung ›neuer Naturen‹ in der Frühen Neuzeit in Auseinandersetzung mit der Antike geschaffen. Denn es macht nur wenig Sinn, von einer Antikenrezeption im Rahmen unseres Themas zu sprechen, wenn nicht zuvor geklärt ist, welche Haltung die Antike zu Kräften, Vermögen und Bewegungen in den sprachlichen Künsten vertritt. Auch wäre es problematisch, von einer ›neuen Natur‹ in der Frühen Neuzeit zu sprechen, wenn nicht zuvor die aus der Antike tradierten ›alten‹ Naturkonzepte klar umrissen würden. 100 Die Frühe Neuzeit wird nach Naturphilosophie (Kapitel iii.1–3) und Ästhetik (Kapitel iv.1–6) geteilt dargestellt, wobei Kraft und Bewegung passim die verbindenden Paradigmen bilden, während der Naturbegriff hierfür als dialektische Rahmung begriffen wird. Dialektisch ist diese Rahmung zu nennen, weil sich ›alte‹ und ›neue‹ Natur in einer Austauschbeziehung zueinander befinden – wie in Kapitel i.2 bereits dargelegt, konträr zur Annahme eines planen Ablösens der Antike durch die neuen Naturen. Der Einfluss des mechanistischen Weltbilds auf die Poetik(en) im 18. Jahrhundert wird anhand poetologischer Grundpositionen sowie der Kritik an diesen mit den in Teil iii–iv erarbeiteten Paradigmen, allen voran der ›Psychomechanik‹, in den Kapiteln v.1–6 zur Darstellung gebracht. Historisch wird die Studie mit der Philosophie Herders in den 1770er Jahren, also kurz vor der sogenannten Kantischen Wende, beschlossen.

4. Anmerkungen zu den Übersetzungen

Sämtliche fremdsprachigen Texte – mit Ausnahme der englischen – werden im Original sowie in einer eigenen Übersetzung geboten. Die Übersetzungen folgen dabei den Kriterien der sachlichen Treue und Genauigkeit; sie erheben dementsprechend, im Gegensatz zu den meisten der behandelten Autoren, keinen Anspruch, der selbst ästhetisch zu nennen wäre. Bei Übertragungen von Vers in Prosa werden, wo es sich anbietet, Schrägstriche zur groben Orientierung gesetzt. In der Regel wird die Übersetzung in den Haupttext integriert und das Original in der Fußnote angeführt; der umgekehrte Weg wird dann bevorzugt, wenn die behandelte Textstelle im Zuge des Argumentationsganges eine dezidiertere Analyse, insbesondere ihrer lexikalischen, grammatischen und stilistischen Komponenten erfährt; dann, wenn dem Text in seiner originalen Verfasstheit besondere Aufmerksamkeit zuteil kommen soll; außerdem dann, wenn ein synoptischer Vergleich mehrerer Textstellen die Betrachtung der Positionierung bestimmter Schlüsselbegriffe in den zitierten Passagen er100

Das Kapitel II.6 ist dabei als Übergang zum frühneuzeitlichen Teil gestaltet.

Anmerkungen zu den Übersetzungen

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forderlich macht. 101 Kursivierungen werden stets aus dem Original übernommen, 102 ebenso Sperrstellungen und idiosynkratische Schreibweisen; die Zeichensetzung – die mangels einer einheitlichen Regelsetzung in den meisten der hier behandelten Epochen ebenfalls idiosynkratisch geprägt ist – wurde in den Originaltexten beibehalten, in den Übersetzungen indes behutsam dem modernen Gebrauch angepasst.

Da dies in den Kapiteln zur Antike selbst in der Regel der Fall ist, findet sich dort überwiegend der Originaltext im Haupttext. 102 Bei zusätzlich vorgenommenen Kursivierungen oder anderen Neuformatierungen findet sich eine Anmerkung. 101

II. Vermögen und Kräfte in der antiken Poetik und Rhetorik

1. Der antike Naturbegriff

Als Ausgangspunkt der Darstellung wird die Unterscheidung zweier Prinzipien angesetzt, die bereits in der Antike topische Denkfiguren zur Beschreibung poetischer Artefakte ausgeprägt haben. Es handelt sich hierbei um den Gegensatz intrinsischer und extrinsischer Zuschreibungen. Die Wahl dieses Ansatzes sei im Folgenden kurz erläutert: Die Dichtkunst hat seit ihrer Bestimmung als τέχνη ποιητική mit einem auffälligen Problem der Instanziierung zu tun, dessen Rezeptionsgeschichte sich bis in die Neuzeit hinein regelmäßig an Fragen folgender Art ablesen lässt: Sind die Dichter von bestimmten Zuständen ergriffen, die dann in ihren Werken zum Ausdruck kommen, oder obliegt es der ontologischen Beschaffenheit, was in einem dichterischen Werk enthalten ist? Sind es innere Regungen des Dichters, die ihn zu einem sprachlichen Kunstwerk veranlassen oder sind es Eingebungen äußerer Umstände? Zählt vor allem die individuelle Bewegtheit oder doch eher die Allgemeingültigkeit poetischer Inhalte zur Dichtkunst? Sollte der Dichter sich demnach daran messen lassen, ob er die Zuhörer oder Leser zu bestimmten Affekten bewegt, oder daran, dass seine Werke Zugänge zur Welt entfalten, die uns ohne den poetischen Zugriff verwehrt blieben? Kurz, handelt es sich bei der Dichtkunst vorwiegend um eine Rührungs- oder um eine Aussagenkunst? Und sollte man beide Aspekte zugleich als relevant erachten, könnte man sich unbenommen fragen, welcher denn nun der wesentlichere sei, was das eigentlich Konstitutive an der poetischen Darstellung sei im Gegensatz zur nicht-poetischen. Will man diese Frage aus ihrer antiken Genese heraus erfassen, so ist die Dichotomie zwischen dem Wesen einer Sache – oder dem wesentlichen Ziel einer Kunstfertigkeit – und deren nachrangigen Bestimmungsmomenten mit einzubeziehen. Bei letzteren handelt es sich um Eigenschaften, die den Dingen zwar in durchaus beachtenswerter Weise zukommen können, jedoch besteht kein naturgegebener Zwang (ἀνάγκη, necessitas) dazu, dass sie die Existenz eines bestimmten Dinges gewährleisten; mithin sind sie nicht als notwendige Ursache in einem Gegenstand enthalten, um ihn zu einem solchen zu machen. Ähnliches lässt sich über die Produktionsverfahren sagen, die ein bestimmtes Artefakt hervorbringen sollen. Sie enthalten mitunter prozedurale Schritte, die nicht im Sinne des zu erzielenden Gegenstandes, sondern gewissermaßen

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nebensächlich durchgeführt werden: Praxiteles' berühmte Hermes-Statue mag auf einem Sockel oder auf dem Erdboden gestanden haben, und Praxiteles selbst mag sich während des Marmorbearbeitens fünfzig- oder hundertmal den Schweiß abgewischt haben, beides sind Bestimmungsmomente, die dem Kunstprodukt beziehungsweise dem Arbeitsprozess nur beiläufig zukommen – solange wir davon überzeugt sind, das artifizielle Konzept, das dem Werk eingegeben ist, auch unter Nichtberücksichtigung der genannten Umstände noch in ihm erkennen zu können. In dieser Hinsicht haben wir es mit Objekten zu tun, die sich nicht auf ihre äußerlich wahrnehmbaren Merkmale reduzieren lassen. Dieses sich von einer physizistischen Betrachtung 1 entfernende Kunstverständnis wurde in seiner philosophischen Begründbarkeit wie auch in seiner Anwendbarkeit in praxi von den ionisch-italischen Philosophen über die Sophistik bis hin zur Stoa und dem (Neo-)Platonismus in nahezu allen antiken Philosophen- und Rhetorenschulen – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – diskutiert. 2 Es hat Begriffssysteme und Denkfiguren hervorgeAls eine kunstontologische Haltung aufgefasst, nach der die materielle Manifestation des Kunstwerks mit diesem selbst in eins fällt. Kulenkampff hat hierzu die eingängige Formel vorgebracht, man könne »im Sinne eines reduktiven Materialismus die Behauptung versuchen, daß es auch im Fall von Kunstwerken nichts anderes gebe als physische Entitäten mit physikalischen Eigenschaften und daß mit Bezug auf sie alle Phänomene zu erklären seien oder daß das so nicht Erklärbare als nicht wirklich zu verwerfen sei.« (Kulenkampff [1983], 573) Hieraus ergeben sich dann allerdings gleich mehrere Anschlussfragen, die einer genaueren philosophischen Erörterung bedürfen – zum einen, warum manche Kunstwerke, wie etwa der Koloss von Rhodos, in genau einer physischen Repräsentation (›Unikatkünste‹) aufgehen, manche andere hingegen, wie etwa literarische Werke, gerade außerhalb ihres Trägermediums beziehungsweise in vielfältigen Gegebenheiten eines solchen zu existieren scheinen (›Multiplikatkünste‹); zum anderen, warum sich dann Aussagenreihen, die sich genuin auf das Kunstobjekt beziehen (›Das Werk ist geschmackvoll komponiert‹, ›Diese Figur hat Tiefe‹, ›Der Auftritt an dieser Stelle hat ironischen Charakter‹ etc.) nicht auf dessen physikalische Eigenschaften reduzieren lassen, sondern eine eigene Klasse von Aussagen zu generieren scheinen. Diese Problemkomplexe wurden mit besonders großer Nachwirkung von Wollheim (1968) aufgespannt und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regelrecht zu einer eigenständigen Teildisziplin der Ästhetik, namentlich zur Ontologie der Kunst, fortentwickelt. Bei der genannten Dichotomie zwischen ›Unikatkünsten‹ und ›Multiplikatkünsten‹ handelt es sich um einen Vorschlag Kulenkampffs, der sich auf die in der anglo-amerikanischen Philosophie bereits deutlich länger etablierten Ausdrücke der ›singular arts‹ und ›multiple arts‹ bezieht; vgl. Kulenkampff (1983), 574. 2 In dem Sinn, dass bereits das Ansetzen notwendiger Ursachen auch Auswirkungen auf die Verfahrensweisen hat, durch die ein Kunstwerk überhaupt erst hervorzubringen ist. In dem Fall muss zunächst nichts weiter unterstellt werden, als dass es nicht zuvorderst die Kontingenz sein kann, die hier ursächlich produktiv wird, sondern dass dem jeweiligen Artefakt ein gewisser wohlüberlegter Plan zugrunde liegt. Dies bedeutet nicht, dass der Kunstbegriff dadurch in einem planen Intentionalismus aufginge, wie er von Seiten einer positivistischen Wissenschaftssicht nicht selten vertreten wird. Denn auch bei Ansetzung einer sich auf Intentionen berufenden Werkursache kann nach wie vor die Bestimmung des Kunstwerks als eines Objektes im Vordergrund stehen – und gerade nicht die Rückspiegelung des Werkes auf dasjenige, was ein Künstler zu einem bestimmten 1

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bracht, die bis in die moderne Philosophie hinein ihr kontroverses Potential nicht erschöpft haben. Als eines der prominentesten und folgenreichsten Begriffspaare ist dabei die aristotelische Unterscheidung zwischen dem sich selbst Entsprechenden (καθ᾽ αὑτό) und der akzidentellen Bestimmung (κατὰ συµβεβηκός) einzustufen. 3 Daher sollen diese auch hier unsere ersten Bezugspunkte für die weitere Betrachtung bilden: Während im einen Fall eine konzeptionelle Wesentlichkeit behauptet wird, die den Dingen von Natur aus (κατὰ φύσιν, φύσει) zukomme, handelt es sich bei der zweiten Bestimmungsweise, derjenigen κατὰ συµβεβηκός, um Eigenschaften, die einem Gegenstand regelrecht zustoßen. 4 In letzterem Fall liegen also Ereignisse zugrunde, die auf die Seinsweise eines Gegenstandes wirken, ohne ihn als solchen zu sabotieren. Die Beschreibung derartiger Ereignisse kann dabei einer spezifischen Wissenschaft folgen oder – in Annahme eines interdisziplinären Zusammenhangs – durch verschiedene Aussagetypen getätigt werden. So erscheint ein Einbeziehen physikalischer Einflüsse unzweifelhaft als wichtig, um eine Statue etwa als verwittert, als beschädigt oder im weitesten Sinne als beeinträchtigt einzustufen; die zu einem solchen Urteil geeignetsten Erkenntnismethoden würden dann von der Haptik und der Optik bereitgestellt; eine Symphonie wiederum von Störgeräuschen zu sondern, würde die Akustik heranbemühen. Das Husten eines Konzertteilnehmers während einer Aufnahme der Symphonie wird dementsprechend als akzidentelle Eigenschaft der Aufnahme wahrgenommen, jedoch nur schwerlich als Teil des gebotenen Werks aufgefasst; Analoges lässt sich über die Verwitterung der oben genannten Statue sagen. Wir begreifen also in diesen Momenten die Essenz eines Werkes nicht zuletzt dadurch, dass wir das Werk als Werk, das heißt seiner selbst gemäß (καθ᾽ αὑτό), von den Eigenschaften, die seiner physikalischen Repräsentation zuzuteilen sind, trennen. Die wichtigste Chiffre Zeitpunkt mutmaßlich intendiert haben könnte. ›Intentionalität‹ würde demnach nicht Aussagen von der Art bedeuten wie ›Horaz wollte mit der epistula 1, 4 aller Welt zeigen, dass er ein Epikureer ist‹, sondern eine notwendige Ursache an dem Punkt ansetzen, dass das dem Werk inhärierende Konzept so und nicht anders, das heißt: in bestmöglicher Entsprechung zum Willen und Können des Künstlers umgesetzt worden ist. Demgegenüber prädiziert der angeführte Satz etwas über die historische Person ›Horaz‹ und dessen vermeintlichen Epikureismus – nicht jedoch etwas über das sprachliche Kunstwerk, das wir als epistula 1, 4 bezeichnen. 3 Vgl. in prägnanter Gegenüberstellung Aristot., metaph., 11, 8, 1065a6–9: »ὅτι δὲ τοῦ κατά συµβεβηκὸς ὄντος οὐκ εἰσὶν αἰτίαι καὶ ἀρχαὶ τοιαῦται οἵαιπερ τοῦ καθ᾽ αὑτὸ ὄντος, δῆλον. ἔσται γὰρ ἅπαντ᾽ ἐξ ἀνάγκης.« (»Dass die Ursachen und Anfangsgründe des Akzidentellen nicht so beschaffen sind wie die des an sich Seienden, ist offenkundig; denn sonst wird ja alles aus Notwendigkeit heraus sein.«). 4 Dies zeigt bereits die grammatische Genese des συµβεβηκός (»Zugestoßenes«) als resultatives participium perfectum zu ›συµβαίνει‹ (›Es stößt zu‹). Das Akzidens wiederum ist auf den ›συµβαίνει‹ entsprechenden lateinischen Ausdruck ›accidit‹ und das dazugehörige Partizip ›accidens‹ rückführbar.

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für dasjenige, was nach einem solchen Rezeptionsvorgang am Kunstwerk selbst bestehen bleibt, stellt in antiker Tradition die φύσις (natura) dar, die sich als ›Natur‹ beziehungsweise als ›Wesen‹ wiedergeben lässt. Sobald wir die Existenz eines solchen Natur- oder Wesenskonzeptes unterstellen – anhand dessen wir überhaupt aussagen können, dass das Kunstwerk beeinträchtigt ist beziehungsweise wo und inwiefern es beeinträchtigt ist, neigen wir auffälligerweise dazu, jenes Konzept von einer eigenen Warte, mithin aus einer eigenen philosophischen Disziplin heraus zu betrachten. 5 Es erscheint dann naheliegend, dass eine solche Methodik zur Erfassung von Kunst zumindest so etwas wie eine grobe Vorstellung von einem transzendentalen Blickpunkt voraussetzt: Wir blicken aus der Sicht eines nach bestimmten Kriterien zu veranschlagenden Konzeptes auf das uns vorliegende Kunstwerk und vermeiden es, dasjenige mit einzubeziehen, was uns akzidentell vorkommt. Es wäre demnach auch nicht mehr ganz so entscheidend, ob wir Homers Ilias auf einer Papyrusrolle, einem Pergament, in einer modernen Textausgabe oder auf einer – zugegebenermaßen dann sehr großen – Steintafel rezipieren. Der poetische Aufbau, der dem Werk eingegeben ist, nähme nämlich nicht nur einen Vorrang vor dessen physischer Realisation ein, sondern wäre das einzige, was sich überhaupt zur Beschreibung des Werkes ›Ilias‹ eignen würde – bis hin zu den Werturteilen, die wir für ein solches Werk veranschlagen wollen. 6 Die stoffliche Repräsentation stellte dann zwar fraglos eine notwendige Bedingung für die Präsenz des Kunstwerks (mithin auch für die Möglichkeit seiner Rezeption) dar, wäre jedoch streng von dessen Wesenskern zu scheiden. Aber auch der gegenläufige Weg abseits einer solchen Abstraktionsleistung mutet – wenn man an die genannten Beispiele des Symphoniekonzerts oder der Statue denkt – durchaus gangbar an: Erkennt man nämlich den beiläufigen und kontingenten Charakter an, der akzidentellen Eigenschaften zukomme, so besteht für Philosophen (φιλόσοφοι) wie für Naturforscher (φυσιόλογοι) in ungewohnter Einigkeit die Hoffnung, dass sich vice versa nach Abzug ebendieser Eigenschaften der Wesenskern einer Sache ermitteln ließe. In einem groben Sinn gedeutet, leitet sich daraus ab, dass im Ein beliebtes, dem Naturalismus entspringendes Beispiel hierfür ist die mit Witz gestellte Frage, ob es denn sinnvoll wäre, eine Katze, die nach einem Unfall mit drei Beinen auskommen muss, immer noch ›Katze‹ zu nennen. Während die Definition von Wesensmerkmalen für eine bestimmte physis traditionellerweise den Fachwissenschaften – im Falle der Katze etwa der Zoologie – unterliegt, wird die Frage nach dem Wesen selbst in der Metaphysik diskutiert. Allgemeine Naturphilosophie und Fachwissenschaft unterscheiden sich daher in ihren Definitionszielen wie auch in ihrem axiomatischen Anspruch. 6 So fiele es schwerlich in den Bereich überzeugender Literarkritik, ein bestimmtes Buch der Ilias als nachrangig gegenüber den anderen einzustufen, wenn dies daran festgemacht würde, dass sich in der dem Literarkritiker vorliegenden Textausgabe gerade in jenen Passagen zahlreiche Flecken oder sonstige Beschädigungen befinden, die das Lesevergnügen beeinträchtigen. 5

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ersten Fall das Wesenskonzept priorisch benutzt wird, um das Kunstwerk als eine Manifestation seines zugrundeliegenden Plans zu bestimmen; im zweiten Fall wird in umgekehrter Weise der Versuch unternommen, das Artefakt über den Ausschluss seiner kontingenten Eigenschaften ex negativo zu ermitteln. Zurück bleiben in diesem Fall die unveränderlichen Bestimmungsmomente und damit dasjenige, was das Werk als solches auszuzeichnen vermag. Derartige Überlegungen scheinen aus systematischer Sicht zunächst keine allzu großen Schwierigkeiten zu bereiten. Nimmt man indes eine geschichtliche Dimension mit hinzu, so wird wenigstens die letztgenannte Hoffnung – das Wesen eines Kunstwerks zu ermitteln, indem man alles ihm ›Zugestoßene‹ mit einem niedrigeren ontischen Grad versieht und vom Kunstwerk ›abzieht‹ – um einiges erschwert; denn die Antike hat – teils gar in schroffer Ablehnung – nun einmal durchweg darauf verzichtet, dem Akzidentellen eine eigene Disziplin zuzuweisen. Die Ausprägung der antiken Wissenschaften ist vielmehr dadurch bedingt, dass diese zuallererst in der Lage sind, eine wesensgemäße Beschreibung ihrer Gegenstände vorzulegen; und nichts anderes meint auch das von Aristoteles so häufig aufgeworfene und geradezu in einen formelhaften Gebrauch überführte κατὰ φύσιν (›naturgemäß‹); ebenso schwebt Platon in seiner Bestimmung der Dichtkunst vor, die Dichter explizit nach ihrem Wesen zu bestimmen. 7 In diesem Sinn eint nach einer weitläufigen antiken Grundüberzeugung die Poetik mit der Physik und der Metaphysik der unverbrüchliche Anspruch, gerade keine kontingenten Gegenstände zu verfolgen; ihre Erkenntnisziele verpflichten sich vielmehr der Notwendigkeit im Sinne jener bereits skizzierten ›naturgegebenen Ursächlichkeit‹. Gegenüber einem solchen Naturbegriff wird die Abkehr von einer widerspruchsfreien Wesensbestimmung bevorzugt der Sophistik und ihren Praktiken verkünstelter Wahrheitsverkehrung zugeschrieben. 8 Kurz, Naturphilosophen, Dichtungstheoretiker und Metaphy7 Vgl. etwa die τίς ποτ᾽ ἐστίν-Formel, die hinsichtlich der Bestimmung des nachahmenden Künstlers bei Plat., Pol., 10, 597b2–4 herangezogen wird: »βούλει οὖν, ἔφην, ἐπ᾽ αὐτῶν τούτων ζητήσωµεν τὸν µιµητὴν τοῦτον, τίς ποτ᾽ ἐστίν; εἰ βούλει, ἔφη.« (»Willst du nun, sprach ich, dass wir diesen Nachahmer anhand eben dieser Dinge erklären, was für einer er eigentlich ist? – Wenn du es willst, sprach er.«). 8 Vgl. besonders ausdrücklich hierzu Aristot., metaph., 11, 8, 1064b15–1065a21. Dass sich in diesem Sinn auch die Physik von der Kontingenz abhebt, mag auf den ersten Blick überraschen. Schließlich ist es gerade der Bereich der Naturphänomene, der – im Gegensatz zur Wahrheitsschau der Philosophen – in den antiken Wissenschaften regelmäßig mit Kontingenz besetzt wird. Denn im Gegensatz zu den Gesetzen der Wahrheit erfährt die Wirklichkeit offenkundig jederzeit Umschwünge, und ein sich auf die Wirklichkeitsbeschreibung kaprizierender Satz, der gerade noch wahr ist (›Die Sonne scheint‹), kann im nächsten Moment unwahr werden. Dies darf jedoch eine Wissenschaft nach antikem Verständnis nicht zuvorderst interessieren. So legt Aristoteles bereits in der Einleitung zum ersten Buch der Physik großen Wert darauf, dass die Naturwissenschaft, insofern es auch bei ihr um das Wissen und Verstehen (τὸ εἰδέναι καὶ τὸ ἐπίστασθαι) gehen müsse,

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siker kehren bereits ihrem eigenen Selbstverständnis nach immer wieder zu essentiellen Ausgangsfragen und Argumenten zurück. Dieser Punkt erscheint von einer derart umfassenden Tragweite, dass selbst in der Darstellung philosophischer Theorien, die sich zutiefst der Kontingenz verpflichtet fühlen, ein Wesens- beziehungsweise Naturbegriff enthalten ist, um einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu behaupten. 9 Daraus lässt sich für unser Thema zueine Forschung nach elementaren Ursachen darstelle: »[E]s ist offensichtlich, dass auch bei der Wissenschaft über die Natur der Versuch gemacht werden muss, zunächst dasjenige hinsichtlich der Anfangsgründe zu bestimmen.« (Aristot., phys., 1, 1, 184a14–16: »δῆλον ὅτι καὶ τῆς περὶ φύσεως ἐπιστήµης πειρατέον διορίσασθαι πρῶτον τὰ περὶ τὰς ἀρχάς.«) Diese Anfangsgründe ergeben sich bei Aristoteles aus Notwendigkeitsbestimmungen heraus; sie entziehen sich dementsprechend in einem sehr grundsätzlichen Sinn der Kontingenz; vgl. die ausführlichen Bestimmungen ebd., 1, 3, 187b13–188a34, wo zunächst die Notwendigkeit der Annahme mehrerer und einander konträrer Anfangsgründe entwickelt wird – aus denen allein überhaupt etwas entstehen könne –, um dann auf das Diktum hinauszulaufen, dass »nichts von Natur aus so beschaffen ist, dass es entweder Zufälliges erwirkt oder Zufälliges von Zufälligem erfährt; auch entsteht kein Beliebiges aus Beliebigem, es sei denn man fasste es im Sinne des Nebenbei-Zutreffens aus.« (ebd., 188a32–34: »οὐθὲν οὔτε ποιεῖν πέφυκεν οὔτε πάσχειν τὸ τυχὸν ὑπὸ τοῦ τυχόντος, οὐδὲ γίγνεται ὁτιοῦν ἐξ ὁτουοῦν, ἂν µή τις λαµβάνῃ κατὰ συµβεβηκός.«) Die Dinge, nach ihrer Präsenz katà symbebe¯ kós gefasst, existieren somit zwar in der Wirklichkeit, können jedoch nicht den eigentlichen Gegenstand des Naturforschers bilden. Dass die Wirklichkeit sich bald in der einen, bald in der anderen Weise offenbart, mag also dem Prinzip der Kontingenz unterliegen, die zu erforschenden Gesetze hinter ihren Erscheinungsarten weisen indes auf das genaue Gegenteil. Hieraus lässt sich bereits eine bedeutende disziplinäre Verschränkung ersehen, insofern die Suche nach Anfangsgründen keine rein metaphysische Frage darstellt, sondern in vorzüglicher Weise auch zu den Bestandteilen der Naturphilosophie zu zählen ist. 9 So verwendet selbst Lukrez, dem es in De rerum natura vor allem um eine geschlossene Darstellung des Epikureismus geht, mithin um den Inbegriff einer antiken Philosophie, in der die Kontingenz zum allseits gültigen Prinzip des Kosmos erhoben wird, den natura-Begriff, um in dem Lehrgedicht den Aufbau der Welt als einen solchen zu beschreiben, in dem die Phänomene als naturgemäße, das heißt geradewegs von der Natur hervorgebrachte bewiesen werden; vgl. die programmatische Ankündigung, der zufolge der Sprecher in seinem Werk ausbreiten wolle, »woraus die Natur alle Dinge schafft[.]« (Lucr., 1, 56: »unde omnis natura creet res«), oder auch Behauptungen, wie sie in Form von Negativargumenten auftreten: »So [sc. ohne die Annahme einer kleinen Bewegungsänderung des geraden Atomfalls] hätte die Natur niemals etwas hervorgebracht.« (ebd., 2, 224: »ita nil umquam natura creasset.«) Die recht rigorose und nicht weiter reduzible Naturbezogenheit – die sich im Übrigen erkennbar in die Tradition vorsokratischer Philosophen wie Empedokles einschreibt, wie Costa (1984), XIII darlegt (vgl. darüber hinaus zur rezeptionsästhetischen Gesamtanlage ausführlich Sedley [1998]) – kann somit auch für Theorien eines kontingenten Atomismus so etwas wie ein argumentatives Rückgrat bilden; sie fügt sich auch in die apodiktische Redeweise ein, die im gesamten Werk immer wieder wahrzunehmen ist und sich in rhetorischen Fragen wie »[W]as kann für uns gewisser sein als die Sinne selbst, wenn wir Wahres und Falsches bezeichnen?« (Lucr., 1, 699 f.: »quid nobis certius ipsis / sensibus esse potest, qui vera ac falsa notemus?«) oder »[M]uss denn nicht eingestanden werden, dass Geist und Seele aus einer körperlichen Natur bestehen?« (ebd., 3, 166 f.: »nonne fatendumst / corporea natura animum constare animamque?«) niederschlägt. Verbreitete Übersetzungstitel wie »Das Weltall« (Wüst [1927]), »Vom Wesen des Weltalls« (Ebener [1989]) oder »Welt aus Atomen«

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mindest vorläufig schließen: Die Poetik sollte, wenn es ihr mit der profunden Erklärung sprachlicher Kunstprodukte ernst ist, es tunlichst vermeiden, das Akzidentelle zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. Eine grundlegende Aufgabe der Poetik besteht demnach darin, sich mit der Existenzweise und den Existenzmöglichkeiten von dichterischen Artefakten zu befassen, und zwar anhand der ihnen zukommenden Wesentlichkeit. Hierin spiegelt sich einerseits, wie oben beschrieben, ein in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte regelmäßig verhandeltes Desiderat nach Erkenntnis wider, das um die modale Frage kreist, wie (quomodo, quibus modis) das Wesen einer Sache zu ermitteln sei; zudem geht es – noch grundsätzlicher – darum, ob das Wesen neben seinem konzeptuellen auch einen existentiellen Vorrang gegenüber den beiläufig erworbenen Eigenschaften habe, ob es also jeglicher physischen Realisation noch vorgelagert ist. Beide Teilfragen finden sich ausgiebig erörtert in der antiken Naturphilosophie und Metaphysik, insbesondere in den Diskussionen über das ὄν und die οὐσία. Sie wurden in der Folge durch alle Epochen der europäischen Philosophiegeschichte hindurch, etwa in den quid est-Fragen der mittelalterlichen Scholastik über den frühneuzeitlichen Rationalismus bis hin zur Fundamentalontologie des 20. Jahrhunderts, immer wieder rekapituliert – sei es, dass der substantielle Primat eines Wesens dabei, wie etwa im Falle der Essenzlehre eines Thomas von Aquin, 10 affirmiert oder, wie im jüngeren Falle der heideggerschen Phänomenologie, 11 bereits in seinen Elementarien verworfen wurde. Bezogen auf die eingangs erläuterte Dichotomie, der zufolge zwischen intrinsischen und extrinsischen Zuschreibungsmomenten zu unterscheiden ist, lassen sich – mit einer zunächst eingestandenen heuristischen Unschärfe – folgende Grundpositionen zur Dichtkunst im Sinn des antiken Essentialismus gegenüberstellen: Ein Gedicht darf durchaus auch Affekte beim Rezipienten hervorrufen; entscheidender ist aber, dass es allgemeine Aussagen über die Welt enthält. Oder man behauptet in entgegengesetzter Richtung: Zum Wesen eines Gedichtes zählt vor allem, dass es uns innerlich bewegt; es bringt dabei zwar durchaus bestimmte Sachverhalte zur Darstellung, arbeitet aber (Büchner [32012]), die den natura-Begriff in den Hintergrund treten lassen, haben gleichwohl dazu beigetragen, von diesem Umstand abzulenken. 10 Vgl. dessen Frühwerk De ente et essentia (um 1225), worin die Bestimmung des Verhältnisses von Wesen und Sein die Tradition der aristotelischen Metaphysik mit zeitgenössischen theologischen Fragestellungen verbindet. Sprachlich wie konzeptuell entspricht dabei das ens dem ὄν und die essentia der οὐσία. 11 Vgl. etwa dessen Hauptwerk Sein und Zeit (1927), das sich insbesondere durch den Vorrang einer zeitbegründeten Ontologie und den damit einhergehenden Antisubstantialismus von zahlreichen Hauptströmungen der bis dahin hergebrachten Metaphysik abgrenzt.

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stets dem Zweck zu, den Rezipienten psychisch zu affizieren. 12 Fragt man dann weiterhin nach den Verfahren, die ebendies leisten sollen, so scheinen diese entweder darin zu bestehen, einen inneren Zustand möglichst effektiv zur Darstellung zu bringen oder aus den Gegebenheiten einer vorgängig gedachten Welt, den πράγµατα, πράξεις und re¯s, ein Kunstwerk hervorzubringen. In diesen verschiedenen Zusammenhängen, die sich teils der Effektivität, teils der Repräsentativität verpflichten, dabei jedoch stets eine vorgelagerte Größe (›Wirkvermögen‹, ›Wirklichkeit‹) zulassen, können nun zwei Bestimmungsrichtungen der Dichtkunst ausgemacht werden. Sie sind, wie eingangs angeführt, in einem ersten Zugriff als nach außen und nach innen gerichtet auffassbar: Suchen wir nach Erklärungen dafür, wie Affekte durch ein Gedicht hervorgerufen werden können, fragen wir uns, inwiefern Affekte überhaupt in der menschlichen Psyche existieren, wie sie sich zueinander verhalten, wie sie in das Gedicht kommen und von dort aus weiter in den Leser oder Hörer gelangen können. Wir wenden uns in dieser Frage also in der Regel den interioren Vorgängen der Dichter und der Rezipienten, den πάθη, παθήµατα und affectu¯ s beziehungsweise – in rhetorischer Begriffstradition – den motu¯ s animi zu. Der Rezeptionsvorgang entspricht dann einer Intensivierung bestimmter Affekte im Leser, Hörer und Zuschauer. Möchte man ein Gedicht hingegen in seiner Sachstruktur erfassen, geht man vorwiegend davon aus, dass in ihm Dinge oder Sachlagen der Welt – seien diese konkreten oder abstrakten Zuschnitts – enthalten sind; das heißt, dass sie im Gedicht repräsentiert, referenzialisiert oder modifiziert werden. 13 Sie werden dann auf andere Zusammenhänge übertragen, es ließe sich auch sagen: extensiviert. Man konzentriert sich dann in 12 Dieser Konflikt scheint durchaus Einfluss auf unsere persönlichen Bewertungsmuster von Kunst zu haben. Ein dem Alltag entlehntes Beispiel könnte wie folgt aussehen: Kritiker A behauptet, im Hollywood-Film Air Force One (1997) werde der US-amerikanische Präsident auf pathetische Weise verherrlicht: »Der Film ist schlecht. Denn diese Art des Nationalstolzes lehnen wir doch wohl ab.« Kritiker B wendet darauf ein: »Die Figur hat alles verkörpert, um in mir Bewunderung, Solidarität, Identifikation und Spannung auszulösen. Und das ist doch das, was ein guter Film machen sollte.« Dass es nun gerade die figurale Darstellung eines US-Präsidenten ist, die in B solch starke Emotionen weckt, spielt für ihn offenbar keine so große Rolle wie für A. Es ließen sich auch andere Figuren oder Figurentypen denken, die zu solchen Affekten bewegen, während es für A ganz darauf ankommt, dass es gerade der US-Präsident ist, der zur Darstellung gebracht wird. Er argumentiert also vorwiegend mit dem Bezug auf weltlich-reale Größen, Kritiker B hingegen mit der eigenen Affiziertheit. Beide nehmen dabei für sich in Anspruch, über denselben Gegenstand, dasselbe Kunstprodukt, zu sprechen. 13 Um einem möglichen Einwand zu begegnen: Erklärungen wie ›Das lässt sich nicht voneinander trennen‹ oder ›Das bedingt sich gegenseitig‹ oder gar besonders emphatisch ›Man sollte Gefühle und Dinge nicht gegeneinander ausspielen‹ sind in solchen Fragen zugegebenermaßen schnell bei der Hand. Gleichwohl erklären sich daraus weder die Ursächlichkeit solcher Denkfiguren noch die Gründe, warum diese über bestimmte Traditionslinien regelmäßig in neuen Spezifikationen und Korrelationen auftreten.

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der Regel auf die analytische Bestimmung der durch das Gedicht aufgerufenen Entitäten und bezeichnet diese – so man sich einer hergebrachten Terminologie bedienen will – als Motive, Topoi und Themen. Beide Dimensionen, die Affekte und die Sachverhalte, haben nach antikem Verständnis indes eines gemeinsam: Sie zählen zur Natur, im einen Fall zur menschlichen Natur, im anderen Fall zur Natur eines den Menschen umgebenden beziehungsweise ihm übergeordneten Weltzusammenhangs.

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Seien es nun die Affekte oder die Sachverhalte, denen man den Vorzug bei der Bestimmung der τέχνη ποιητική gibt – zur Dichtkunst zählt nach antiker Auffassung verbindlicherweise, dass beide Bezugsgrößen gerade nicht in einer beliebigen Struktur vorliegen, sondern dass ihre Ordnung eine poetische ist und dass diese Ordnung erkennbar ist; im Falle der Affekte könnte man wohl auch sagen: dass sie – mit der horazischen Konditionale si vis me flere gesprochen – 14 eine Wirkung aufgrund eines sympathetischen Einfühlens, eines Mit- und Nachempfindens, erzielt. Auf das dolere des Dichters folgt dann im Idealfall das flere des Rezipienten. Erweitert man dieses Kriterium, indem man es dezidiert auf die Textsorte bezieht, so ließe sich die poetische Darstellungsart dann mehr oder weniger leicht von wissenschaftlichen, philosophischen, bio- oder historiographischen Macharten unterscheiden. Gleichwohl ist diese Differenzziehung nicht spezifisch antik zu nennen, 15 insofern die Ansetzung eines solchen Kriteriums auch unserer Gegenwart nicht völlig fremd zu sein scheint: Eine wissenschaftliche oder philosophische Abhandlung etwa sollte nach heute weitverbreiteter Ansicht überhaupt nicht erst auf Affekte abzielen oder solche gar ›enthalten‹; 16 ein Versepos über die Entstehung einer Nation sollte anders texturiert sein als eine geschichtlich-neutrale Abhandlung, sei sie auch mit demselben Gegenstand befasst; und ein Liebesgedicht sollte so etwas wie eine Neutralität im Umgang mit der Lage der Dinge geradewegs vermissen Vgl. Hor., ars, 102 f.: »Si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi« (»Wenn du willst, dass ich weine, so musst du zunächst selbst betrübt sein.«). 15 Die Antike vertrat, im Gegenteil, auch in ihren rhetorischen Lehrsystemen durchaus den Wert der Affekte durch verschiedenste Gattungen hindurch. Exemplarisch sei hier auf das sechste Buch der Institutio oratoria Quintilians sowie die Einlassungen in der Rhetorica ad Herennium 3, 2, 2 hingewiesen. 16 So würde es voraussichtlich merkwürdig bis unangemessen erscheinen, nach ausgiebiger Kant-Lektüre ›zornig‹ auf den kategorischen Imperativ zu sein. Auch ist kein Fall bekannt, in dem jemand Jammer und Schauder über die generative Transformationsgrammatik Chomskys empfunden hätte. 14

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lassen. Auf der Ebene des Wirklichkeitsbezugs lässt sich noch hinzufügen: Ein erotisches wie ein hymnisches wie auch ein enkomiastisches Gedicht gelten gerade dann als besonders gelungen, wenn sie ihren Gegenstand der Realität möglichst weit entrücken. 17 Die Wirklichkeit stellt demzufolge eine Welt und Gegenwelt dichterischer Produktivität dar. Daher lassen sich in den poetischen Verfahrensweisen bestimmte Regeln – oder weniger präskriptiv gewendet: Regelmäßigkeiten – ausmachen, nach denen sich sowohl die Gattungsmerkmale erkennen wie auch die Qualität der entsprechenden Spracherzeugnisse bemessen lassen. 18 Dieses Unterschiedsdenken hinsichtlich der generischen MachEiner der bekanntesten antiken Vertreter einer solchen Verfahrensweise lässt sich in Pindar sehen: Wenn in dessen epinikischen Oden die Gewinner sportlicher Wettkämpfe zu Grenzgängern menschlicher Leistungsfähigkeit stilisiert werden, so gelingt das insbesondere über das stabile Verhältnis zwischen irdischer und göttlicher Sphäre. So wird beispielsweise in der zehnten pythischen Ode der Sieger im Doppellauf Hippokles nach apostrophisch-emphatischer Einführung seiner Heimat, des »glückselige[n] Thessalien[s]« (Pind., P., 10, 2: »µάκαιρα Θεσσαλία«), in nautischer Metaphorik bis an die Grenzen der betretbaren Welt gerückt: »Was wir als sterbliches Volk an Glanz nur berühren können, erreicht er in grenzerkundender Seefahrt.« (ebd., 28 f.: »ὅσαις δὲ βροτὸν ἔθνος ἀγλαίαις ἁπτόµεσθα, περαίνει πρὸς ἔσχατον / πλόον.«) Dass diese Fahrt, die den siegreichen Athleten bis an die Peripherie der Welt, das Land der Hyperboreer führt (vgl. ebd., 30 sowie zu diesem Topos auch Pind., Ol., 3, 16, Soph., fr. 956 und die Scholien zu Apoll. Rhod., 2, 675), »nicht zu Schiff oder zu Fuß wandernd« (Pind., P., 10, 29: »ναυσὶ δ᾽ οὔτε πεζὸς ἰών«), sondern nur durch den Siegesruhm erfahrbar wird, verbürgt die mythologisch bezeugte Weltentrennung: Bei allem gegenwärtigen Ruhm ist »der eherne Himmel für ihn niemals ersteigbar« (ebd., 27: »ὁ χάλκεος οὐρανὸς οὐ ποτ᾽ ἀµβατὸς αὐτῷ«), insofern alles darüber hinaus Gehende den Göttern und Heroen wie Perseus (vgl. ebd., 31–36) vorbehalten ist. Dies meint jedoch offenbar keinen Verlust an Dignität; vielmehr gewinnt die Verklärung des Siegers ihren eigentümlichen, durch den Dichter verkündbaren Ruhmesgrad, indem sie als weitestmögliches Entrücken im Rahmen der historischen wie mythologischen Wirklichkeit gedacht wird. 18 Dass Gattungsdiskussionen wie selbstverständlich mit Werturteilen über deren prototypische Vertreter (etwa: Homer als der Epiker, Sophokles als der Tragiker, Sappho als die monodische Lyrikerin etc.) verbunden werden, begegnet als Phänomen bereits in den meisten poetologischen und rhetorischen Traktaten der Antike. Exemplarisch erwähnt seien die Rekurrenz auf den sophokleischen Ödipus in Aristoteles’ Poetik (vgl. Aristot., poet., 11, 1452a26, 1452a35; 15, 1454b7 f. etc.), die Homer-Emphase – samt raffender Übersetzung – in Horaz’ Ars poetica (vgl. Hor., ars, 140–152) und das Lob der Sappho im pseudo-longinischen Traktat De sublimitate (Long., sublim., 10, 1–3), das sich ebenfalls an eine ausführliche Homer-Diskussion anschließt (ebd., 9, 5–15). Mit Blick auf das Corpus rhetorischer Traktate eröffnet besonders prominent Cicero gleich zu Beginn im Orator eine Art Agon und Hierarchie zwischen den Dichtern und Rednern, durch die der jeweilige Aspirant gleichwohl nicht entmutigt werden solle: »Denn unter den Dichtern ist, um von den Griechen zu sprechen, nicht für Homer oder für einen Archilochos oder Sophokles oder Pindar allein Platz, sondern auch für solche zweiten oder noch geringeren Ranges.« (Cic., orat., 1 [4]: »nam in poetis non Homero soli locus est, ut de Graecis loquar, aut Archilocho aut Sophocli aut Pindaro, sed horum vel secundis vel etiam infra secundos.«) Derartige Wertbekundungen scheinen – bei aller zugeneigten Emphase, die man Cicero diesen Autoren gegenüber unterstellen darf – daneben stets auch den Zweck zu verfolgen, »eine Anleitung zum Nachvollzug von vorhandenen, einer längst vergangenen Epoche entstammenden Literaturwerken« (Fuhrmann [2003], 202), also eine 17

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art, das offenbar viel mit dem poetischen Umgang mit der Welt und der Wirklichkeit zu tun hat, hat seinen bis heute einflussreichsten Gemeinplatz in Aristoteles' Poetik (um 335 v. Chr.) gefunden. Die Poetik wird daher auch den Ausgangspunkt für die weitere Ausbreitung unseres Themas bilden. In ihr enthalten ist eine der prominentesten Annahmen zum Verhältnis von Poesie und Wirklichkeit: Sie besagt in ihrer prägnantesten Zuspitzung, dass die Dichter das Mögliche (δυνατόν) darstellten, während sich die Geschichtsschreiber mit Geschehnissen (γενόµενα) befassten. 19 In Verbindung mit den eingangs aufgeworfenen Fragen zur Wesenhaftigkeit bedeutet dies, dass die Essenz der dichterischen Kunstwerke nichts anderes darstellt als das Mögliche – und eben nicht das ›Wahre‹ oder das ›Ideale‹. Leider lenken die Diskussionen darüber, ob der bekannteste Ausdruck ebendieses Weltzugriffs, die Mimesis (µίµησις), nun eher ein nachahmendes oder ein darstellendes Verfahren meine, 20 leicht davon ab, dass die von Aristoteles zur Beschreibung der Wirklichkeitsbezüge eingebrachten Kategorien nicht allein auf das µιµεῖσθαι, sondern ganz elementar auf Vorstellungen von Vermögen und Möglichem, auf die δύναµις und das δυνατόν, rekurrieren. So wird bereits im Proömium, noch bevor die so prominente µίµησις überhaupt auf den Plan tritt, im Rahmen der allgemeinen Zielsetzung des Traktats von einem Vermögen poetischer Erscheinungsarten, einer δύναµις εἰδῶν, gesprochen: Περὶ ποιητικῆς αὐτῆς τε καὶ τῶν εἰδῶν αὐτῆς, ἥν τινα δύναµιν ἕκαστον ἔχει, καὶ πῶς δεῖ συνίστασθαι τοὺς µύθους εἰ µέλλει καλῶς ἕξειν ἡ ποίησις, ἔτι δὲ ἐκ πόσων καὶ ποίων ἐστὶ µορίων, ὁµοίως δὲ καὶ περὶ τῶν ἄλλων ὅσα τῆς αὐτῆς ἐστι µεθόδου, λέγωµεν ἀρξάµενοι κατὰ φύσιν πρῶτον ἀπὸ τῶν πρώτων. 21

Art von kanonischem Bildungsprogramm zu vermitteln. Dies setzt ausdrücklich kein einseitiges – etwa ›ciceronisches‹ – Kriterium zu Bestimmung von Poetizität beziehungsweise Rhetorizität voraus; im Gegenteil, nicht selten entscheidet sich – wenn man an grammatische und literarästhetische Kanonisierungsbemühungen denkt – erst anhand derartiger Zuschreibungen, was überhaupt als ›poetisch‹ oder ›literarisch‹ zu gelten hat – seien die Kriterien hierfür nun im einen Moment am Geschmack der Rede, im anderen an der Wirkkraft des Dichters und im nächsten an dessen vorzüglicher Bildung bemessen. Ebendiese Kriterienvielfalt zu homogenisieren, bildet seit der Antike eine Grundschwierigkeit, mit der sich die Literarkritik beständig auseinandersetzen muss. 19 Vgl. Aristot., poet., 9, 1451a36–1451b5. 20 Vgl. als eine ausführliche, chronologische Darstellung dieser begriffs- und ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen von der Antike bis zur Neuzeit Petersen (2000). Zweifel an der Mimesis als einem bloßen Wiedergabeprinzip finden sich außerdem bei Horn (2000) und Vogt-Spira (2007); darüber hinaus problematisiert Schmitt diese Bedeutungsaspekte regelmäßig in seinen Kommentierungen zur Poetik; vgl. beispielsweise Schmitt (22011), 50–53. 21 Aristot., poet. 1, 1447a8–13: »Über die Dichtkunst selbst sowie ihre Erscheinungsarten, welches Vermögen eine jede hat und wie man die Mythen zusammenfügen muss, wenn die Dichtung in gutem Zustand sein soll, außerdem aus wie vielen und wie beschaffenen Teilen sie besteht, ebenso

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Die gedankliche Bewegung reicht hier von der allgemeinen (τέχνη) ποιητική über formal differenzierbare Einheiten (εἴδη) 22 sowie deren Vermögen (δύναµις) bis hin zur Zusammenfügung der Mythen (συνίστασθαι τοὺς µύθους) und den damit verbundenen quantitativ-qualitativen Bestimmungen der einzelnen Dichtungsteile (ἐκ πόσων καὶ ποίων µορίων). Hierdurch stellt sich das Proömium, was in den aristotelischen Schriften allerdings nicht unüblich ist, in seiner begrifflich-rhetorischen Gliederung nicht nur als wissenschaftliche, sondern in souveräner Beiläufigkeit als wissenschaftstheoretische Verortung des Themas dar. Neben der Rekurrenz auf das Vermögen sowie die Quantität und Qualität der Teile einer ποίησις ist es auch die prägnante Schlussperiode »λέγωµεν ἀρξάµενοι κατὰ φύσιν πρῶτον ἀπὸ τῶν πρώτων«, deren naturphilosophische Diktion besonders ins Auge fällt. Sie verweist auf die naturgemäßen Anfangsgründe und somit auf einen axiomatischen Anspruch, der über die Programmatik einer reinen Fach- oder Spezialwissenschaft hinausgeht. 23 Der für Aristoteles entscheidende Ausgangsgedanke enthält einen viel umfassenderen Anspruch: Die menschliche Produktivität bringt Artefakte auch von den anderen Dingen, die zu demselben Vorgehen gehören, wollen wir hier sprechen, indem wir naturgemäß zunächst von den Anfangsgründen her beginnen«. 22 Hier sollen die εἴδη (Singular: εἶδος) bewusst noch nicht als ›Gattung‹ aufgefasst werden, zunächst als Ausdruck formaler Gestaltungsprinzpien fungieren: Die εἴδη äußern sich nach Aristoteles vor allem als Erscheinungsarten in einem ontologischen Gegensatz zur Materie (ὕλη) – eine topische Unterscheidung, die in der aristotelischen Metaphysik als ein integraler Bestandteil der Wesensschau (θεωρία τῆς οὐσίας) gelten kann; vgl. etwa im Rahmen der Lehre vom Substrat (ὑποκείµενον) Aristot., metaph., 7, 3, 1029a29 f.: »Demnach dürfte man der Ansicht sein, dass die Form und das aus beiden [sc. selbständige Trennbarkeit und eigentümliche Bestimmtheit] Hervorgehende mehr Wesenheit ist als die Materie.« (»διὸ τὸ εἶδος καὶ τὸ ἐξ ἀµφοῖν ούσία δόξειεν ἂν εἶναι µᾶλλον τῆς ὕλης.«) Es geht bei den εἴδη also zuvorderst um Formen, die – auf die Dichtkunst bezogen – in der konkreten Gestalt poetischer Artefakte vorliegen beziehungsweise die Bestimmung der dichterischen Produktion darstellen. Der Begriff der Gattung würde hingegen bereits auf diejenigen taxonomischen Bestimmungen vorausweisen, die Aristoteles ja gerade erst programmatisch voneinander abgrenzen möchte, indem er sie aus bestimmten ontologischen und anthropologischen Anfangsgründen heraus entwickelt. Zwar liegen die Gattungsbezeichnungen und -traditionen (Epos, Lehrgedicht, Tragödie, Dithyrambos etc.) für Aristoteles zweifelsohne vor, genügen aber offensichtlich noch nicht den systematischen Ansprüchen, die er erst aus den Unterschiedsmomenten ihrer Dynamik (vgl. Aristot., poet., 1, 1447a8 f.: »ἥν τινα δύναµιν ἕκαστον ἔχει«) und Mimetik (vgl. ebd., 1, 1447a13–18) gewinnen möchte, das heißt aus ihrem Potential und ihrer Darstellbarkeit heraus. Gegenüber der formalen Bestimmbarkeit anhand des εἶδος sind die von ebd., 6, 1450a3 an in die Erörterung mit einbezogenen ›Mythen‹ (µῦθοι) auf der stofflichen Seite der Dichtkunst anzusetzen. 23 Fast dieselbe Phrase wird auch bei Aristot., soph. el., 1, 1, 164a21 f. wieder aufgegriffen – an einer Stelle, wo es um die Grundlegung logischer Beweisführungen geht. Denn auch diese haben nach (nicht nur) antikem Verständnis disziplinenübergreifenden Charakter. Für die frühneuzeitliche Naturphilosophie und Ästhetik sollte die aristotelische Formulierung geradezu einen Vorbildcharakter annehmen; vgl. an prominenter Stelle Lessing, Laokoon, Teil I, Kap. XVI, 116: »Doch ich will versuchen, die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten«.

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von unterschiedlicher Form und mit einem bestimmten Vermögen hervor. 24 Die sich um das πρῶτον und die ἀρχή (beziehungsweise des ἄρχειν/ἄρχεσθαι) aufspannenden Wortfelder enthalten durch ihre philosophische Tradition sowohl einen allgemeinen wie auch einen naturgemäßen Bestimmungsanspruch. Aristoteles verbindet sie häufig miteinander, wenn es um die Frage nach den ersten Ursachen geht; das πρῶτον bezieht sich dabei – gelegentlich auch attributiv zu den Ursachen (αἰτία) gesetzt – tendenziell auf den logischen, die ἀρχαί hingegen auf den zeitlichen Vorrang einer Begründungsinstanz. 25 Neben der Tradition, die sich aus den Begriffssystemen der ionisch-italischen Philosophie heraus ersehen lässt, 26 hat auch die vor der ionisch-italischen Naturphilosophie bis ins achte Jahrhundert v. Chr. zurückreichende Lehrgedichtstradition zu diesem terminologischen Usus einiges beigetragen. Betrachtet man diese Tradition genauer, so rücken protologische Beschreibungsformen in den Blick, wie sie erstmals in der Theogonie Hesiods vorfindbar sind. Eine solche Diktion wird dort ebenfalls bereits im Proömium eingeführt 27 und darüber hinaus in den kosmogonischen Erzählpassagen topisch fortgesetzt. 28 Die Welt, so bereits die Programmatik Hesiods, soll gerade nicht Die verbreitete Übersetzung Fuhrmanns spricht anstelle von »Vermögen« von »Wirkung« (Fuhrmann [32008], 5; ebenso für »ἔργον« ebd., 23), was im weiteren Kontext der aristotelischen Philosophie einige Probleme aufwirft, wenn man Wirkung als aktuale Realität begreift, wie sie sich anhand der Begriffe der ἐνέργεια und ἐντελέχεια in der gesamten Metaphysik topisch widerspiegelt; vgl. in einem kontrastiven Zusammenhang Aristot., metaph., 11, 9, 1065b5–1066b35 sowie hinsichtlich der Prinzipien des Bewegens (κινητικόν) und des Hervorbringens (ποιητικόν) ebd., 12, 3, 1071b13–15. Im Gegensatz zu energetischen Zuständen zielt die δύναµις auf die Möglichkeit beziehungsweise das Vermögen ab. Schmitts Übersetzung spricht daher im Gegensatz zu Fuhrmann ganz zu Recht von »Potenz« (Schmitt [22011], 3); irritierend ist hingegen die Wiedergabe bei Schönherr (1972), 7 mit »Eigenart«. 25 Vgl. exemplarisch Aristot., metaph., 1, 1, 981b28 f.: »πρῶτα αἰτία καὶ τὰς ἀρχὰς«; zur Wortsemantik vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »ἀρχή«, 252: »first principle« sowie ebd., s. v. »πρῶτος« [»πρότερος«], 1535: »primary things, elements«, »the first undemonstrable propositions, on which all future conclusions rest«. 26 So sei Anaximander, wenn wir etwa Hippolytos von Rom glauben dürfen (und wenig spricht dagegen), der erste gewesen, der die Bezeichnung ›ἀρχή‹ in einem streng ontologischen Sinne, nämlich in Verbindung mit dem Unbegrenzten (ἄπειρον) als genetischem Urgrund der Welt, gebrauchte: »Dieser [sc. Anaximander] behauptete, dass der Anfangsgrund der seienden Dinge eine gewisse Natur des Unbegrenzten darstelle, aus der heraus die Himmel und die Welten in ihnen entstünden.« (Hippol., Haer., 1, 6, 1: »οὗτος ἀρχὴν ἔφη τῶν ὄντων φύσιν τινὰ τοῦ ἀπείρου, ἐξ ἧς γίνεσθαι τοὺς οὐρανοὺς καὶ τοὺς ἐν αὐτοῖς κόσµους.«). 27 Vgl. Hes., theog., 114 f.: »ταῦτά µοι ἔσπετε Μοῦσαι ᾿Ολύµπια δώµατ᾽ ἔχουσαι / ἐξ ἀρχῆς, καὶ εἴπαθ᾽ ὅτι πρῶτον γένετ᾽ αὐτῶν« (»Dies verkündet mir, Musen, die ihr olympische Häuser bewohnt, / von Anfang an, und sagt, was davon als erstes entstand.«). 28 Vgl. ebd., 116 (»πρώτιστα«), 126 (»πρῶτον«), 156 (»ἐξ ἀρχῆς«), 192 (»πρῶτον«), 202 (»τὰ πρῶτα«), 203 (»ἐξ ἀρχῆς«) etc. Umgekehrt verwendet Herodot zu Beginn seiner Historien ein analoges Begriffsfeld (vgl. Hdt., 1, 5, 1–3: »τὴν ἀρχὴν [. . . ] πρῶτον ὑπάρξαντα«), um sich gerade 24

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analytisch zergliedert, sondern aus ihren Urgründen heraus erklärt werden. Es geht also um die Entfaltung von Urpotenzen, die sich als so gewaltig ausnehmen, dass sie auch unsere gegenwärtige Welt mit konstituieren. Der für die Weltentstehung bedeutsame Übergang vom Chaos hin zur Sukzessionsmythologie wird von Hesiod dementsprechend nicht nur in seiner zeitlichen Ursächlichkeit, sondern vor allem in seiner überzeitlichen Wirksamkeit, mithin als Szenerien, in denen bestimmte Kräfte walten, präsentiert. Ansonsten gäbe es in der Zeus-Dynastie weder Himmel (Οὐρανός) und Erde (Γαῖα), noch Tag (῾Ηµέρη) und Nacht (Νύξ). Vielmehr weist sich die Zeus-Herrschaft ja gerade dadurch als gerecht aus, dass diese, obschon als titanische Urgrößen einer archaischen Generation von Göttern angehörig, auch dort ihren Platz haben – wenn auch in angemessener, das heißt gerechtfertigter Distanz zu den in den entscheidenden Kämpfen siegreichen olympischen Göttern. 29 Darauf, dass es sich bei den angeführten Naturpotenzen um Urkräfte handelt, die durch Zeus und Dike in den politisch-kulturellen Zusammenhängen der Gegenwart noch immer virulent sind, dass sich Hesiods Sukzessionsmythologie also als die kulturelle Bändigung von Kräften auffassen lässt, aus der dann eine persistente Ordnung hervorgehe – ohne dass damit das ursprüngliche Kraftmoment selbst aufgehoben würde –, wurde in jüngerer Zeit von Reckermann hingewiesen: Hesiod [. . . ] thematisiert mit dem Übergang von einer Natur, die zur Entartung tendiert, zu einer Sittlichkeit, die naturhafte Kraft nicht zerstört, sondern sie in gebändigter Form in das Eigene aufnimmt, den Vorgang der Kulturentstehung

von denjenigen Gattungen abzugrenzen, die das Erzählen von einem Ursprung zum Programm erheben, wie es etwa das Lehrgedicht vollführt. Herodot möchte demgegenüber mit dem beginnen, was durch sein eigenes Wissen verbürgt ist. 29 Vgl. Hes., theog., 729–731: »῎Ενθα θεοὶ Τιτῆνες ὑπὸ ζόφῳ ἠερόεντι / κεκρύφαται βουλῇσι ∆ιὸς νεφεληγερέταο / χώρῳ ἐν εὐρώεντι, πελώρης ἔσχατα γαίης« (»Dort unten [im Tartaros] sind die Titanen-Götter im finsteren Dunkel nach dem Willen des Wolkenversammlers Zeus verborgen, an einem modrigen Ort am Rande der riesigen Erde.«) Zur Illustration der Gerechtigkeit des Zeus vgl. auch den Katalog der Kinder der Themis (gerechte Satzung), der zweiten Ehefrau des Zeus nach Metis (Klugheit) ebd., 901–906: »∆εύτερον ἠγάγετο λιπαρὴν Θέµιν, ἣ τέκεν ῞Ωρας, / Εὐνοµίην τε ∆ίκην τε καὶ Εἰρήνην τεθαλυῖαν, / αἵ τ᾽ ἔργ᾽ ὠρεύουσι καταθνητοῖσι βροτοῖσι, / Μοίρας θ᾽, ᾗς πλείστην τιµὴν πόρε µητίετα Ζεύς, / Κλωθώ τε Λάχεσίν τε καὶ ῎Ατροπον, αἵ τε διδοῦσι / θνητοῖς ἀνθρώποισιν ἔχειν ἀγαθόν τε κακόν τε.« (»Zum zweiten führte er die glänzende Themis heim, welche die Horen gebar, nämlich Eunomia [gute Gesetze], Dike [Recht] und die blühende Eirene [Frieden], die über die Taten der sterblichen Menschen wachen, ebenso die Moiren [Zuteilerinnen], denen der ratgebende Zeus die höchste Ehre verlieh, Klotho, Lachesis und Atropos, die es den sterblichen Menschen zuteilen, Gutes wie Schlechtes zu besitzen.«).

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überhaupt, und zwar so, dass daraus deutlich wird, wie schwierig es ist, diesen Übergang zu finden und das, was man mit ihm gewonnen hat, auf Dauer zu stellen. 30

Kultur – sofern dieser Begriff hier überhaupt schon notwendig anzubringen ist – steht demnach nicht im Widerspruch zur Natur, sondern entsteht ganz im Gegenteil durch die Aneignung von Kräften, die von der Natur präsupponiert werden. Dieser Denkfigur zufolge wird der Urgrund der Natur auch im Prozess der Enkulturation immer weiter bekräftigt; die Natur hat somit elementaren Anteil an der Kunst. Dies gilt umso mehr, wenn künstlerische Leistungen in ihrer schöpferischen Dimension 31 vorgestellt werden. Einen solch engen Zusammenhang zwischen Natur und Kunst stellte in jüngerer Zeit Menke in seiner Beschreibung des Paradox von Tätigkeit und Werk heraus. 32 Menke geht es allerdings weniger um das Phänomen der Enkulturation schlechthin, wie es Reckermann in einem dann doch weitläufig gefassten Sinn vorschwebt, als um den Begründungskern der Ästhetik als einer Form jener schöpferischen Kraft, die sich aus der Natur selbst speist: Die Kunst wird ästhetisch, wenn sie der Natur nicht mehr in entscheidbarer Unterschiedenheit gegenübersteht, sondern wenn die Natur, die die Ordnung der menschlichen Kunst ›erleidet und erträgt‹, wieder in die Kunst eintritt. Dem Unwissen, was die ästhetische Kunst ausmacht – daß wir nicht sagen können, was sie ist: Kunst oder Natur –, entspricht ihre schöpferische Kraft. 33

Hesiod hatte – so viel darf vermutet werden – in seinen Lehrdichtungen nicht die Begründung einer ars aesthetica im Sinn. Und doch lässt sich das von Menke vorgebrachte Argument auch auf der Folie des von Reckermann veranschlagten Verhältnisses von Natur, Kraft und Kultur in der Theogonie lesen und damit auf einen der perspektivbildenden Texte der griechischen Literatur Reckermann (2011), 18. Gerade wenn es um dynastische Umstürze geht, lautet der von Hesiod hierfür am häufigsten verwendete Ausdruck ›βίη‹ (›Kraftakt‹, ›Gewalt‹); vgl. Hes., theog., 649, 670, 677 etc. 31 Im Gegensatz etwa zum resultativen Aspekt ›Werk‹ oder demjenigen der Effektivität als reiner ›Wirkästhetik‹. 32 Bei diesem Paradox geht es um das nicht letztgültig bestimmbare Verhältnis, das zwischen Machen und Werk vorherrscht. Paul Valéry hat diese Frage in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France von 1937 publikumswirksam aufgeworfen, indem er darauf hinwies, dass ein dichterisches Werk nur als unwahrscheinliches Resultat eines bewirkenden Tuns gelten könne; daraus, dass das Machen ein Werk bewirke, folge demnach noch lange nicht, dass eine entsprechende Wirkung dann auch vom Werk ausgehe; somit fielen Werk und Machen gewissermaßen auseinander, wodurch wiederum das Werk als solches unverständlich bliebe, ja geradezu bleiben müsse; vgl. die Zusammenfassung dieses Standpunkts bei Menke (22013), 29–31. 33 Ebd., 32. 30

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und Philosophie überhaupt anwenden: Die Ordnung, die der Mensch den Artefakten qua eigener schöpferischer Kraft eingibt, bedeutet weder eine Entfremdung von der Natur noch eine Selbstüberhöhung gegenüber dieser, sondern ruft – im Gegenteil – eine immer stärkere Indifferenz von Natur und Kunst hervor. Die Kräfte, die ein Kunstwerk hervorbringen, müssen demnach gar nicht als ›künstliche‹ betrachtet werden, sondern können mindestens ebenso leicht einem natürlichen Urgrund zugeordnet werden – einem Urgrund, der zudem in der Realisation des Werkes nicht verloren geht, sondern sich vielmehr darin zu manifestieren weiß. Somit wären es nicht mehr allein technische, sondern ebenso naturphilosophische Paradigmen, die wir zur Erklärung eines Kunstwerks benötigen würden. Nicht zuletzt die Ebene der ästhetischen Urteile wäre von einer solchen Sichtweise betroffen. Gelingt es dem Künstler nämlich, derartige Urkräfte in die eigenen Werke zu implementieren, so ist dies gleichermaßen als Ausweis für dessen eigene Kraft – denn er ›beherrscht‹ ja in diesem Moment die Naturkräfte – wie auch als ein wesentlicher Existenzgrund für das Artefakt zu werten. Die Natur selbst verhilft also der Kunst zu ihrer Kraft, und diese Kraft ist dann wiederum nach außen hin sichtbar. Das Kunstwerk kann demzufolge an Maßgabe und Stärke der in ihm liegenden Natur bemessen werden. Eine solche Gedankenfigur lässt sich bereits in der Antike in ganz unterschiedlichen Teilepochen beobachten. So zeigt ein vorauseilender Blick auf den pseudo-longinischen Traktat Über das Erhabene (Περὶ ὕψους, De sublimitate), 34 dass einer der am hartnäckigsten wiederkehrenden Punkte in demjenigen Credo besteht, dass Natur und Kunst ihre höchste Dignität gerade dann aufweisen, wenn sie scheinbar in eins fallen: »Dann nämlich ist die Kunst vollendet, wenn sie Natur zu sein scheint; die Natur wiederum hat ihr Ziel erreicht, wenn sie sie [sc. die Kunst] unmerklich mit einschließt.« 35 Bevor sich in Kapitel ii.4.b noch genauer diesem Traktat zugewandt wird und dabei – so viel ist schon zu erwähnen – ›Kraft‹ als diejenige argumentative Größe begriffen wird, durch die sich das Verhältnis zwischen Kunst und Natur am umfassendsten bestimmen lässt, sei an dieser Stelle zunächst noch näher auf Hesiod und Aristoteles eingegangen: Die Theogonie scheint gar nicht so sehr aufgrund ihres schieren Alters, also aufgrund ihrer weithin als archegetisch angenommenen Stellung im Gattungsbereich des Lehrgedichts, sondern vor allem wegen ihres so deutlich aus sich selbst heraus vorgetragenen philosoDessen Entstehungszeit ist mit einiger Wahrscheinlichkeit in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. anzusetzen. 35 Long., sublim., 22, 1: »τότε γὰρ ἡ τέχνη τέλειος, ἡνίκ᾽ ἂν φύσις εἶναι δοκῇ, ἡ δ᾽ αὖ φύσις ἐπιτυχής, ὅταν λανθάνουσαν περιέχῃ«. 34

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phischen Anspruchs 36 eine der literarischen Vorlagen zu liefern, die in der aristotelischen Physik und Metaphysik – neben den späteren Werken des Parmenides 37 und Empedokles 38 sowie der stets spürbaren Auseinandersetzung mit dem direkten Vorgänger Platon – zitiert und diskutiert werden. Dabei wird die Theogonie, ihrer protophilosophischen Rolle entsprechend, nicht selten an den Anfang einer Erörterungseinheit gesetzt. 39 Wenden wir uns an diesem Punkt wieder der Poetik zu: Die Klassifikation verschiedener Gattungen, die dort auf das Proömium folgt, zeichnet ein Bild von der Dichtung als mimetischer Kunst, deren Anfangsgründe im menschlichen Fundamentalvermögen zu suchen seien. 40 So setzt Aristoteles im Anschluss an das Proömium die menschliche Befähigung zur Mimesis 41 sowie die Freude daran 42 als Anstöße zur Produktivität, zur eingangs genannten (τέχνη) ποιητική, an. Der Anspruch Aristoteles' beschränkt sich also nicht auf das Skizzieren einer chronologischen Gattungsabfolge, wie es Fuhrmanns Übersetzung eventuell nahelegen könnte. 43 Zwar hat beispielsweise das Epos bereits aufgrund seiner Tradition unbestritten einen zeitlichen Vorrang gegenüber dem Dithyrambos und der Tragödie, nicht jedoch in Form seiner naturgemäßen Begründbarkeit. Denn seine Qualität gewinnt es stets aus der Verwirklichung der Das meint vor allem die Behandlung ontologischer sowie ethischer Fragen, worauf nachdrücklich Albert (72005) hinweist und der aus ebendiesem Grund die Theogonie an den Beginn seiner Reihe Texte zur Philosophie setzt. 37 Vgl. Solmsen (1960). 38 Vgl. dezidiert Hoffmann-Loß (1966). 39 Vgl. als ein illustres Beispiel die Herleitung des korporalen Raumbegriffs in Abgrenzung zum hesiodeischen Chaos-Mythos. Dort nämlich werde der Raum als bloßes Gefäß diskutiert, das Orte (τόποι) für die in der Welt vorfindbaren Körper gleichsam bereitstelle: »Denn auch Hesiod könnte scheinbar richtig sprechen, wenn er als erstes den ›leeren Abgrund‹ [Chaos] erdichtet. Er sagt jedenfalls: ›Zuerst gab es das Chaos, danach aber die breitbrüstige Gaia‹ [= Hes., theog., 116 f.] in dem Sinne, dass doch wohl zuerst ein Raum dem Seienden zur Verfügung stehen müsse.« (Aristot., phys., 4, 1, 208b29–32: »δόξειε δ᾽ ἂν καὶ ῾Ησίοδος ὀρθῶς λέγειν ποιήσας πρῶτον τὸ χάος. λέγει γοῦν ›πάντων µὲν πρώτιστα χάος γένετ᾽, αὐτὰρ ἔπειτα γαῖ᾽ εὐρύστερνος‹, ὡς δέον πρῶτον ὑπάρξαι χώραν τοῖς οὖσι.«) Diese recht speziell anmutende Auslegung der Kosmogenese Hesiods, die darin besteht, das Chaos als abstrakte Raumpotenz aufzufassen, dient Aristoteles zur Vorbereitung seines eigentlichen naturphilosophischen Arguments: »Aus dem Gedachten indes entsteht keine Raumgröße.« (ebd., 4, 1, 209a18: »ἐκ δὲ τῶν νοητῶν οὐδὲν γίγνεται µέγεθος.«) Dass diese Hesiod-Stelle einen nicht unerheblichen Eindruck auf Aristoteles gemacht hat, zeigt auch Aristot., metaph., 984b28–33, wo er sie ein weiteres Mal in noch größerem Umfang (Hes., theog., 116–120) zitiert – diesmal, um die Frage nach dem ersten Bewegungsprinzip aufzuwerfen. 40 Zur elementaren Bedeutung der ἀρχή als Funktionsbegriff des Hervorbringens und Bewegens vgl. zuletzt Böhler (2014). 41 Vgl. Aristot., poet., 1, 1447a19–30 sowie ebd., 4, 1448b7. 42 Vgl. ebd., 4, 1448b9. 43 Vgl. Fuhrmann (32008), 5: »indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist«. 36

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eigenen, das heißt: der vom Menschen ausgehenden und sich daraus weiter fort strukturierenden Natur (φύσις). 44 Der Mensch wird somit auch in kunstschaffender Tätigkeit nicht seiner eigenen Natur enthoben; von einer Abwendung oder einem Akt der artifiziellen Selbstüberhöhung kann hier nicht die Rede sein. Vielmehr stellt sich – wie denn auch die aristotelische Physik zeigt – die menschliche Schaffenskraft grundsätzlich als eine Art technische φύσις dar, gerade weil sie in ihrer Prozeduralität natürlichen Prinzipien, allen voran der Zweckursächlichkeit, dem τέλος folgt. Erst auf Grundlage eines Schaffensaktes lässt sich für Aristoteles überhaupt von einem Werkcharakter menschlicher Artefakte im Sinne ihrer Abgeschlossenheit, und das heißt auch: ›Vollendung‹ sprechen. 45 Der Zweck des Herstellungsbeginns muss dabei nicht immer nach In diesem wesensmäßig-teleologischen Sinne sind auch die in der Poetik vermittelten Vorstellungen über generische Entwicklungen zu sehen, wie Fuhrmann im Übrigen selbst an einer Stelle betont: »Die entwicklungstheoretische Grundlegung des allgemeinen Teils geht nahezu fugenlos aus der anthropologischen hervor. Die verbindende Klammer der beiden Gedankengänge ist der Begriff Physis, ›Natur‹, ›Wesen‹.« (Fuhrmann [2003], 22) Auch Büttner geht auf diesen Zusammenhang an verschiedenen Stellen ein, wobei ihm in Behauptungen wie der folgenden nur zur Hälfte zuzustimmen ist: »Er selbst [Aristoteles; D. B.] verwendet den Begriff [Natur; D. B.] im Sinne der ›schaffenden Natur‹ als strukturierender Kraft. Sein Verständnis von phýsis und eídos entspricht damit weitgehend demjenigen, was uns bei Platon unter dem Stichwort ›Idee‹ begegnet ist.« (Büttner [2006], 65) Die hier angedachte Gleichstellung des aristotelischen und des platonischen φύσις/εἶδος-Konzeptes hält, wenn man etwa die Politeia mit der Metaphysik oder den Phaidon mit De anima vergleicht, keiner synoptischen Überprüfung stand. Platon setzt die Ideen transzendental, also strikt vor aller Wirklichkeit an; für Aristoteles sind Formen indes ebenso wirkliche Paradigmen wie der Stoff – zwar von höherer, weil in Einheit befindlicher, Wesenhaftigkeit als die ὕλη, aber deswegen noch längst keine rein abstrakte Idee. Die Trennung von Stoff und Form erfolgt vielmehr erst durch eine bestimmte Abstraktionsleistung nach den Dimensionen von Möglichkeit und Wirklichkeit – und gerade nicht nach denjenigen von Idee und Abbild; vgl. Aristot., metaph., 8, 6, 1045b16–22: »αἴτιον δ᾽ ὅτι δυνάµεως καὶ ἐντελεχείας ζητοῦσι λόγον ἑνοποιὸν καὶ διαφοράν. ἔστι δ᾽, ὥσπερ εἴρηται, ἡ ἐσχάτη ὕλη καὶ ἡ µορφὴ ταὐτὸ καὶ ἕν, τὸ µὲν δυνάµει, τὸ δὲ ἐνεργείᾳ, ὥστε ὅµοιον τὸ ζητεῖν τοῦ ἑνὸς τί αἴτιον καὶ τοῦ ἕν εἶναι· ἕν γάρ τι ἕκαστον, καὶ τὸ δυνάµει καὶ τὸ ἐνεργείᾳ ἕν πώς ἐστιν, ὥστε αἴτιον οὐθὲν ἄλλο πλὴν εἴ τι ὡς κινῆσαν ἐκ δυνάµεως εἰς ἐνέργειαν.« (»Der Grund hierfür [sc. für die zurückzuweisende Ansicht, dass es sich bei den in der Wirklichkeit wahrnehmbaren Gegenständen um eine Zusammensetzung von Idee und Materie handle] ist, dass man nach einem einheitstiftenden Begriff sowie nach einem Unterschied von Vermögen und Wirkpotential sucht. Es ist aber vielmehr, wie gesagt, der letztgültige Stoff und die Form ein und dasselbe – das eine dem Vermögen nach, das andere der Wirklichkeit nach, so dass die Frage nach einem Grund des Einen und [sc. dem Grund], das Eine zu sein, die gleiche ist; denn ein jedes ist Eines, und das dem Vermögen nach Seiende und das in Wirklichkeit Seiende ist in gewisser Weise Eins; daher gibt es keine andere Ursache, als dass sich etwas vom Vermögen zur Wirklichkeit hin bewegt.«). 45 Vgl. die Simultaneität von Natur und Kunstfertigkeit, die sich aus ihrer Gebundenheit an einen Zweck (τέλος, ἕνεκά του) ergibt, wenn es darum geht, etwas zu vollenden ([ἐπι-]τελεῖν, ἀπεργάζεσθαι): »Im Allgemeinen bringt die Kunstfertigkeit teils dasjenige zu Ende, was die Natur nicht zu vollenden imstande ist, teils eifert sie ihr nach. Wenn nun die Vorgänge gemäß der Kunstfertigkeit wegen etwas ablaufen, so ist klar, dass es auch die gemäß der Natur so tun. Denn es 44

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außen hin sichtbar vorliegen, sondern erweist sich als vollends hinreichend im Bewegenden selbst (κινῶν/κινοῦν). 46 In diesem Sinn steht nichts außer eben akzidenteller und somit nicht wesensgemäßer ›Störungen‹ 47 der Bewegung im Schaffensakt bezogen auf ihr teleologisches Ziel entgegen. Insofern das aus der Bewegung (κίνησις) heraus entwickelte Produktivitätsprinzip auf alle Fabrikationsakte anwendbar erscheint, entwickelt Aristoteles auch in der Poetik eine generische Systematik nicht aus hypothetischen Naturunterschieden heraus, sondern nach instrumentellen, 48 gegenständlichen 49 und modalen 50 Gesichtspunkten, die sich auf den Schaffensakt und das daraus hervorgehende Werk beziehen. An das eingangs gesetzte Naturargument schließt sich also unmitverhält sich ja das Spätere zu dem Früheren sowohl in den Vorgängen gemäß der Kunstfertigkeit als auch in denen gemäß der Natur auf gleiche Weise zueinander.« (Aristot., phys., 2, 8, 199a15–20: »ὅλως δὲ ἡ τέχνη τὰ µὲν ἐπιτελεῖ ἃ ἡ φύσις ἀδυνατεῖ ἀπεργάσασθαι, τὰ δὲ µιµεῖται. εἰ οὖν τὰ κατὰ τέχνην ἕνεκά του, δῆλον ὅτι καὶ τὰ κατὰ φύσιν· ὁµοίως γὰρ ἔχει πρὸς ἄλληλα ἐν τοῖς κατὰ τέχνην καὶ ἐν τοῖς κατὰ φύσιν τὰ ὕστερα πρὸς τὰ πρότερα.«). 46 Vgl. die demonstrative Widerlegung derjenigen, die an der gleichen Finalursächlichkeit von Natur und Kunst zweifeln, qua Analogieschluss: »Unverständlich ist es, nicht zu glauben, dass etwas wegen etwas entsteht, wenn man nicht sieht, dass das [sc. aktiv] Bewegende sich einen Plan überlegt. Doch auch die Kunstfertigkeit überlegt nicht lang. Und wenn die Schiffsbaukunst im Holz läge, so träte sie auf gleiche Weise wie die Natur in Aktion. Daher gibt es, wenn es in der Kunstfertigkeit das ›Wegen etwas‹ gibt, dieses auch in der Natur. Am allerdeutlichsten ist dies, wenn jemand seine Heilkunst auf sich selbst anwendet: Diesem [Vorgehen] gleicht nämlich die Natur. Dass also die Natur eine Ursache darstellt, und zwar im Sinne eines ›Wegen etwas‹, ist offenkundig.« (ebd., 2, 8, 199b26–33: »ἄτοπον δὲ τὸ µὴ οἴεσθαι ἕνεκά του γίγνεσθαι, ἐὰν µὴ ἴδωσι τὸ κινοῦν βουλευσάµενον. καίτοι καὶ ἡ τέχνη οὐ βουλεύεται· καὶ εἰ ἐνῆν ἐν τῷ ξύλῳ ἡ ναυπηγική, ὁµοίως ἂν τῇ φύσει ἐποίει· ὥστ᾽ εἰ ἐν τῇ τέχνῃ ἔνεστι τὸ ἕνεκά του, καὶ ἐν τῇ φύσει. µάλιστα δὲ δῆλον, ὅταν τις ἰατρεύῃ αὐτὸς ἑαυτόν· τούτῳ γὰρ ἔοικεν ἡ φύσις. ὅτι µὲν οὖν αἰτία ἡ φύσις, καὶ οὕτως ὡς ἕνεκά του, φανερόν.«) Zekl übersetzt κινοῦν – in Betonung der Funktion eines Erstbewegers – mit dem Ausdruck des »Anstoßgebende[n]« (Zekl [1987], 93) Dies erscheint einerseits sehr prägnant – da es den Aspekt der ἀρχή mitschwingen lässt, andererseits aber auch einengend, da das teleologische Verwirklichen eines Plans bei Aristoteles ja gar nicht auf den Initialakt beschränkt wird, sondern – ebenso wie sich der Plan durch alle Prozedurschritte vorfinden lässt – sich auch die Bewegung im Schaffensakt noch ändern oder an bestimmte Schwierigkeiten anpassen kann. Dass die Kunstfertigkeit »nicht lang überlegt«, hat also in erster Linie für den Plan selbst Bedeutung, nicht jedoch so sehr für dessen prozedurale Ausführung, die sich gegebenenfalls mit akzidentellen Widrigkeiten auseinandersetzen muss, an ihrem Telos aber festhält. Zum engen Verhältnis von Bewegung, Vermögen und zweckgemäßer Verwirklichung vgl. auch Aristot., phys., 3, 1, 201a10 f.: »ἡ τοῦ δυνάµει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνησίς ἐστιν.« (»Die Verwirklichung eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es ein solches [sc. Vorhandenes] [ist], ist Bewegung.«). 47 Ebendiese Eingriffe werden ja von Aristoteles durch die κατὰ φύσιν-Formel kategorisch ausgeschlossen. 48 Vgl. die instrumentellen Kasussemantiken in Aristot., poet., 1, 1447a18–28. 49 Vgl. deren sachliche Differenzmomente ebd., 12, 448a1–18. 50 Vgl. die Aufzählung an Möglichkeiten, wie eine µίµησις überhaupt vollzogen werden könne, ebd., 3, 1448a19–1448b3.

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telbar die Frage an, wie der Mensch die Natur bewegt, das heißt mit welchen Mitteln und Methoden die poetische Darstellung gelingen kann. Die systematische Unterscheidung der poetischen Werke (Epos, Tragödie, Komödie etc.) wird nicht allein durch die φύσις selbst evident, sondern manifestiert sich – sofern sie eben κατὰ φύσιν betrachtet werden – in den generischen Erscheinungsarten (εἴδη), die sich aus den ihnen zukommenden Vermögen (δυνάµεις) und Darstellungsweisen (µιµήσεις) ergeben. Die Natur bedeutet daher nicht die verschiedenen εἴδη an sich, sehr wohl aber den Urgrund und die Verwirklichung der menschlichen Gestaltungskraft. 51 Die Natur stellt eine Instanz der Poesie dar, und zwar deren erste, und damit wird die Naturphilosophie auch zu einer ersten Instanz der Poetik; 52 wenn man so möchte, ist die Natur das Substrat, von dem aus jede Kunstfertigkeit überhaupt erst zu entwickeln ist. 53 In dieser Unterschiedlichkeit, die zwischen δύναµις und εἶδος herrscht, zeigt sich dasjenige, woran sich Valéry und Menke stoßen, wenn sie das Paradox anführen, das zwischen Machen und Werk herrsche. Augenfällig ist jedenfalls, dass Aristoteles seine Theorie vom menschlichen Schaffen auf natürlichen, finalursächlichen Bewegungsprinzipien gründet, den daraus hervorgehenden Werken jedoch selbst kein genuines Bewegungsvermögen zusprechen möchte. Besonders deutlich wird das an Äußerungen, dass die vom Menschen hervorgebrachten Artefakte als solche »keinen natürlichen Drang zur VerändeDie hier in den Blick genommene Vermögen der Kunst sind somit nicht allein auf die mit der reinen Essenz verhaftete Naturnachahmung zu beziehen, auf die sie so häufig beschränkt wird. Zwar hat etwa Blumenberg unzweifelhaft recht, wenn er konstatiert: »Natur und ›Kunst‹ sind strukturgleich. Die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre können für die der anderen eingesetzt werden.« (Blumenberg [1996], 56); es soll in der hier verfolgten Bestimmungsrichtung jedoch nicht allein um diesen essentiellen Einklang gehen, sondern – wie Aristoteles es selbst im ›ἐπιτελεῖν‹ und ›ἀπεργάζεσθαι‹ ausdrückt – um das Streben nach Vollendung, mithin um das Vermögen zur Schaffung eines Werks – ein Blickwinkel, der durchaus über die von Blumenberg benannten »immanente[n] Wesenszüge« hinaustritt, insofern er vorwiegend dynamisch und kinetisch ausgerichtet ist. 52 Das gilt in vergleichbarem Maße auch für die Rhetorik; vgl. Sallmann (1962), 272: »In der Rhetorik spielt die Physis-Techne-Antithese überhaupt die größte Rolle, da die Rhetorik der Inbegriff hellenistischer Erziehung ist: Physis und Techne sollen sich in optimaler Weise ergänzen, wobei auch die Natur wieder das Vorbild für die Techne liefert, und es wird durch das Studium der Natur, durch Physiologia erkannt«. Dieser enge Zusammenhang zwischen Rhetorik, Natur, Techne und Erziehung wird in Kapitel II.3.c der Studie noch dezidierter behandelt werden. 53 Nicht zu verwechseln ist dieses Substrat mit dem streng stofflichen Substrat (ὑποκείµενον), als das im Falle der Sprachkünste (Poetik und Rhetorik) die Sprache selbst anzusetzen wäre. So sehr ein Begriff von Natur als Ausgangslage der aristotelischen Poetik unumgänglich ist, so wenig folgt daraus die Setzung von ›Naturgattungen‹ oder ›-formen‹, wie sie beispielsweise Goethe in seinem berühmten Diktum von den drei Naturformen der Dichtkunst im West-östlichen Divan zum Ausdruck bringt: »Es giebt nur drey ächte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.« (Goethe, West-östlicher Divan, Naturformen, 206). 51

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rung haben« 54. Während die τέχνη also einen kinetisch-teleologischen Urgrund vorzuweisen hat, ist in den daraus resultierenden Werken, insofern sie eben als fertige Resultate betrachtet werden, kein naturgemäßes Strebevermögen (ὁρµή) mehr feststellbar. Das heißt wohlgemerkt längst nicht, dass sie nicht auch Wirkungen über sich hinaus zeitigen könnten; jedoch scheint dieses Wirkvermögen nicht so sehr in einem Bewegungsfortsatz des Schöpfungsaktes selbst zu bestehen; die dichterischen Werke treten vielmehr in neue Begründungszusammenhänge, indem sie nun nicht mehr von inneren (Befähigung zur und Freude an der Nachahmung), sondern von äußeren Naturprinzipien konstituiert werden. Hierdurch gehen sie über ihre intrinsischen Merkmale hinaus und treten als abgeschlossene in Erscheinung – Aristoteles bezieht sich in diesen Kontexten dann nicht mehr auf das ›Vollenden‹ ([ἐπι-]τελεῖν, ἀπεργάζεσθαι), sondern nennt dasjenige, worin sich die Eigenschaft als ›Werk‹ (ἔργον) überhaupt erst manifestiert, ein ›Ganzes‹ (ὅλον). Die wenn auch nicht erschöpfende, so doch einfachste Formel zu dieser Entitätsvorstellung lautet: Ein sprachliches Werk ist dann poetisch, wenn es konsistent dem Kriterium des naturgemäß Möglichen genügt. Der durch die prominente Verwendung des Möglichen neu akzentuierte Naturbegriff ist nicht mehr von einer zweckgerichteten Produktivität, sondern von einer modallogischen Wirklichkeitsauffassung geprägt. Ein solcher Perspektivwechsel erlaubt zugleich den Übergang von einer praktischen (πρακτικῶς, τεχνικῶς) hin zu einer gegenständlichsubstantiellen Betrachtungsweise (κατ᾽ οὐσίαν) der Dichtkunst. 55 Über den einleitenden Allgemeinteil hinaus lassen sich in der Poetik einige Problemstellungen ausmachen, deren Verständnis von Philosophemen ebensolcher Art abhängt, oder die mit ihnen ausdrücklich und an zentralen Stellen operieren; wie etwa das Wahrscheinliche (εἰκός) und das Notwendige (ἀναγκαῖον). Sie stellen Indikatoren der Weltbezogenheit dar, die der aristotelischen Auffassung über dichterische Kunstwerke in weiten Teilen zukommt. 56 Bleiben wir zunächst noch bei der grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Verortung, die der Dichtkunst bei Aristoteles zukommt: Wenngleich sich in der Hinwendung zu den anthropologischen und ontologischen Anfangsgründen einer als natürlich, vermögend und finalursächlich orientiert verstandenen τέχνη ein merklicher Schnittpunkt von Naturphilosophie, MeAristot., phys., 2, 1, 192b18 f.: »οὐδεµίαν ὁρµὴν [. . . ] µεταβολῆς ἔµφυτον«. Die Berücksichtigung beider Betrachtungswinkel im Rahmen einer naturphilosophischen Dichtungstheorie ist in der Antike keinesfalls selbstverständlich, wie unter anderem Platons streng ontologisch-objektive – und eben nicht praxeologische – Erläuterungen der τέχνη in der Politeia noch zeigen wird; siehe hierzu Kapitel II.3.b der Studie. 56 Hierauf wird in Kapitel II .5.a – unter Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den Wirkintensitäten – noch genauer eingegangen werden. 54

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taphysik und Poetik erkennen lässt, so scheint diese τέχνη – im Gegensatz zur neuzeitlichen ars aesthetica – weder bei Aristoteles noch bei einem anderen antiken Philosophen – einer ausdrücklichen Verschränkung mehrerer Disziplinen zu folgen. Vielmehr drücken sich in den jeweiligen poetologischen Fragen unterschiedliche Stellungen zu wirklichkeitsbeschreibenden Philosophemen aus, ohne dass eine entsprechende übergreifende Disziplin daraus hergeleitet würde. Mit einer gewissen Einschränkung: Erkenntnistheorie und Ontologie, Rhetorik und Poetik bleiben ihrer kanonischen Tradition gemäß zwar ihren jeweiligen Disziplinen verhaftet; dennoch finden dort – wie sich bereits an den Eingangspassagen der Poetik ersehen ließ – Positionierungen statt, indem bestimmten Theoremen und Lehrmeinungen der Vorzug gegeben wird; sie positionieren sich durch rhetorische Diktionen, begriffliche Verweise, das Anspielen auf Autoritäten oder das Zitieren poetischer wie poetologischer Vorgänger und schreiben sich dadurch in Traditionen ein, die, wie in Kapitel ii.3 noch genauer zu zeigen sein wird, über die Sophisten und Vorsokratiker hinaus bis hin zur Epik eines Homer und Hesiod zurückreichen. Im Folgenden soll es zunächst darauf ankommen, Kraft- und Vermögenskonzepte als Größen ebendieser Beziehungsgeflechte zu beschreiben. Sie lassen sich in zahlreichen theoretisch ausgerichteten Texten der griechisch-römischen Antike ausmachen und tragen dort an zentralen Argumentationsstellen zur Erläuterung vielfältiger Begründungszusammenhänge derjenigen artes bei, die sich mit künstlerisch verfertigter Sprache auseinandersetzen. Die Beschreibung solcher Kräfte erweist sich dabei – mit Blick auf die Leitbegriffe der δύναµις und der τέχνη – als besonders tragfähig anhand der Dimensionen von Potentialen und produktiven Fertigkeiten. Da diese durchaus einschlägig bei Aristoteles, aber auch weit darüber hinaus in recht unterschiedlichen Konstellationen – zudem teilweise indirekt – auszumachen sind, sind sie mit begrifflichen Abrissen nicht erschöpfend zu erfassen, sondern bedürfen einer geschichtlichen Verortung. Denn dass man es im Fortgang der antiken Poetik und Rhetorik mit recht unterschiedlichen, dabei aber immer wiederkehrenden, transformierten und modifizierten Vorstellungen von Vermögen und Fertigkeiten zu tun hat, ist schwer zu bestreiten: Einerseits scheint die den Menschen umgebende Welt Potentiale zu enthalten, die in der Dichtkunst auf besondere Weise – wie Aristoteles meint: im Modus des Möglichen – aufgerufen werden. Auch die Dichtungsarten selbst besitzen, Aristoteles' Eingangsbemerkungen nach, unterschiedliche Wirkvermögen. Ebenso verfügen aber auch Dichter und Redner über Vermögen, Kraft und Anstoßfähigkeit, über δύναµις (potentia, potestas, ingenium), ἰσχύς (vis) und ὁρµή (impetus, vehementia). Und dies nicht aus dem Grund, dass allen Dingen und Lebewesen diese Eigenschaften ohnehin einfach zufielen, sondern weil sie zu ihrem spezifischen Wesen, zu ihren unverkennba-

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ren Qualitäten gehören und diese Qualität zu Lebzeiten als formbar, steigerbar und sogar nachahmbar eingestuft wird. 57 Mehr noch, die Kraft des Dichters vermag den Tod ihres Trägers zu überdauern, indem sie in dessen Werken fortwirkt. 58 Hierdurch verschafft sie ihm – substantiell weitaus wirksamer, als es der zeitgenössische Publikumsbeifall vermag – Nachruhm und Unsterblichkeit. Die weitere Darstellung wird sich auf die Behandlung solcher Vermögen und Fertigkeiten im Zusammenhang der jeweiligen grammatischen, 59 rhetorischen und philosophischen Disziplinen konzentrieren, die sich zwischen den über die artes (τέχναι) kanonisierten Wirkansprüchen sprachlicher Artefakte auf der einen und den antiken Vorstellungen von natürlichem Sein auf der anderen Seite bewegen. Einen rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Fixpunkt wird dabei die Bezugnahme auf vis, potentia und ingenium in der klassischen Rhetorik eines Cicero und Quintilian bilden. Spezifisch stellt sich somit die Frage, in welcher Beziehung oratorisch-poetische Wirkziele wie διδάσκειν (docere, 60 ›belehren‹), τέρπειν (delectare, ›erfreuen‹), κινεῖν (movere, ›bewegen‹), ἐκπλάττειν (animos flectere, ›die Gemüter aufwühlen / beugen‹), ὁρµᾶν (impellere, ›antreiben‹) und ὀφελεῖν (prodesse, ›nützen‹) sowie naturphilosophische Instanzen wie φύσις (natura, ›Natur‹, ›Wesen‹) und πράγµατα (res, ›weltliche Gegebenheiten / Dinge‹) zu krafttheoretischen Konzepten wie den genannten ἰσχύς (vis), δύναµις (ingenium, potentia, potestas) und ὁρµή (impetus, vehementia) stehen. Um der Gefahr zu entgehen, die begriffliche Gemengelage anachronistisch zu behandeln, indem man etwa die antiken Natur- und Vermögensbegriffe aus den Kategorien der modernen Naturwissenschaften heraus deduzierte, seien außer der eingangs beschriebenen Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Wirkzusammenhängen für die poetologischen und rhetorischen Dieser Apekt wird insbesondere in Kapitel II.5.b–c. der Studie eine wichtige Rolle bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen magister und discipulus in den Redekünsten spielen. 58 Ein Topos, der sich gerade in der römischen Antike großer Beliebtheit erfreut; vgl. prominent Verg., Aen., 9, 446–449, Hor., carm., 4, 8 und 4, 9 sowie Ov., met., 15, 871–879. Besonders bildgewaltig wirkt die Ankündigung Ovids, »weder der Zorn noch das Feuer Jupiters« (ebd., 871: »nec Iovis ira nec ignis«) würden seine Werke je zerstören können. Eine gute Analyse von Hor., carm., 4, 9 hinsichtlich des Aspekts, sich als lyrischer Sprecher selbst zum ›Klassiker‹ zu stilisieren, bietet Kirichenko (2016). 59 Das meint vor allem die Poetik, nach antikem Verständnis »the finest part of grammar« (Holford-Strevens [1988], 142). 60 Die lateinischen Ausdrücke sind hier nicht im Sinne einer synonymen Entsprechung, sondern im Kontext ihres historischen Einflusses zu verstehen. Ihre Gemeinsamkeiten lassen sich dessen ungeachtet recht leicht kategorisch fassen: So meint das lateinische animos flectere (›die Gemüter beugen‹) zwar durchaus etwas anderes – weil Manipulativeres – als das griechische ἐκπλάττειν (›erschüttern‹), fällt jedoch in einen kategorisch ähnlichen Wirkbereich: die innere Veränderung der Rezipienten, die vom vortragenden Dichter beziehungsweise Redner ausgeht. 57

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Theoriegebäude zunächst keine weiteren Annahmen gemacht. 61 Für eine Darstellung der wichtigsten Traditionslinien wird der Zeitraum bestimmend sein, der bereits über die Poetik und Theogonie geöffnet wurde und von der sogenannten Archaik Hesiods bis in die sogenannte spätklassische oder frühhellenistische Zeit Aristoteles' hineinreicht. Nach den bisherigen Ausführungen sind zu den zu behandelnden Gesichtspunkten insbesondere zu zählen, was die Fertigkeit – so es sich denn um eine Fertigkeit handelt – des Dichters ausmacht, worin die Natur der Dichtkunst besteht (und dies heißt nach antikem Denken, wie sie sich zur Wahrheit und zur Wirklichkeit verhält), und welches Wirkvermögen von ihr ausgeht. Es soll also vor allem um diejenigen Konzepte gehen, die in der griechischen Tradition zu dynamischen (auf die δύναµις, ein Vermögen respektive eine Kraft bezogene) und technischen (auf eine τέχνη, eine erlernbare Fertigkeit bezogene) Begründungsebenen der Dichtkunst geführt haben. Diese seien hier, um eine Brücke zu den Ausführungen in Kapitel ii.1 zu schlagen, nach extensiven und intensiven Vermögen unterschieden. Extensive Vermögen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Umfang des Vermögens auf andere Bereiche erweitern, die nichts mehr mit Vermögen zu tun haben müssen. Sie sind mit Wissen, Fertigkeiten, rhetorischen und poetischen Zielen sowie der Funktionalität des Gelingens und Misslingens solcher Verfahren verknüpft, die zum Ziel führen sollen. Sie lassen sich daher leicht in propositionale Formen fassen wie ›Vermögen X dient dem Zweck Y‹ – oder, wie Lefebvre zuletzt treffend formuliert hat: »Die dynamis [im Sinne von ›Vermögen‹; D. B.] bezeichnet weder eine Kraft noch eine Spontaneität, sondern eine Fähigkeit mit Blick auf ein Ziel.« 62 Das Erreichen eines Wirkziels verhält sich mithin extensiv zum hierfür ursprünglich veranschlagten Vermögen. Intensive Vermögen hingegen werden nicht in erster Linie als eine solche Extension gefasst, sondern sind in ihrem jeweiligen Phänomenbereich präsent und daher primär in ihrem zeitlich-räumlichen Vollzug zu beschreiben, der jenseits der Differenz von Subjekt und Objekt sowie an sie herangetragener Zweckbereiche zu verorten ist. 63 Ihr propositionaler Gehalt ist – im Gegensatz zur Fertigkeit – stets ein Hinzu kommt, dass in diesem spezifischen Sinn auf keine umfassenden Vorarbeiten in der Forschung zurückgegriffen werden kann. 62 Lefebvre (2018), 500: »La dynamis ne désigne pas une force ni une spontanéité mais une capacité en vue d’une fin«. 63 Vgl. zuspitzend, aber treffend hierzu Kleinschmidt (2004), 83: »Die damit [mit einem Intensitätsbegriff] eingeleitete, für die Denk- und Kulturpraxis fortan relevante Konzeption läuft damit auf eine Erkenntnislogik unsegmentierter Mannigfaltigkeiten hinaus, die von Intensitätskontinuen bestimmt sind. In ihnen schließen sich Subjekt- und Objektsphäre zusammen. Auf der korrespondierenden Ebene der sprachlichen Äußerungen organisieren sich Ausdruck und Inhalt analog. Empfindungen von Realität befinden sich in einem Zustand von steter Verdichtung und Verstärkung«. 61

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nachträglich zugeschriebener. Ihr ästhetisches Paradigma ist die Kraft selbst; sie existiert, mit Menke gesprochen, »vor dem und daher über jeden Ausdruck hinaus.« 64

3. Extensive Vermögensbegriffe 3.a. Die Rolle der Lehrdichtung

Zunächst sei auf die extensiven Vermögen eingegangen: Ein zentraler Grundgedanke der antiken Philosophie zur Qualifizierung menschlicher Artefakte besagt in reduziertester Form, dass die Welt nicht immanent oder gar monistisch zu denken ist, sondern dass sie – spätestens mit Einsetzen des Erkennens und Benennens von Dingen – einer Trennung von Erfahrungs- und Wirkungsbereichen unterliegt. Bereits in der Tradition Homers und Hesiods lässt sich die Welt zuverlässig in die Sphären des Menschlichen und des Göttlichen scheiden. Zwar werden beide in einem regen Austausch gesehen, jedoch nie als Einheit oder auch nur als gleichberechtigt eingestuft. Die Wahrheit über die Welt ist naturgemäß den Göttern vorbehalten. Sie kann zwar in unterschiedlichem Grade in den menschlichen Erkenntnisbereich gelangen, muss dafür aber erst nach außen gekehrt, das heißt entborgen, verkündet oder offenbart werden. Diese Enthüllung wiederum bedarf eines außerhalb der gewöhnlichen Ordnung stehenden Zugriffsmoments. Dass den Dichtern dies bisweilen gelingt, obliegt dann allerdings ebenso wie jegliches andere menschliche Geschick wiederum dem Willen der Götter. 65 Figuren wie Tantalos, Prometheus oder Sisyphos, die sich zur Überschreitung der göttlichen Grenzen und Gesetze versteigen, werden für ihre Vergehen kurzerhand bestraft. 66 Unterweltfahrten, wie wir sie in der Odyssee (Buch 11) und der Aeneis (Buch 6) vorfinden, legen über jene Hierarchien ein unmissverständliches Zeugnis ab, indem sie die Frevler mit

Menke (2008), 53. Im Bereich der Dichtkunst am häufigsten dem des Apollon, des Dionysos und der Musen (Pieriden). Zur Differenzierung und historischen Entwicklung der musischen Zuständigkeitsbereiche vgl. ausführlich Barmeyer (1968). 66 Im Falle Sisyphos’ scheint dessen Bestrafung gar das dominante mythologische Sujet darzustellen. Denn bereits die antiken Schriftsteller und Scholiasten arbeiteten sich regelrecht daran ab, für Sisyphos ein passendes Vergehen zu ›finden‹; sei es dass er dem Flussgott Asopos von der Entführung seiner Tochter Aegina durch Zeus berichtet habe (vgl. Apollod., bibl., 1, 9, 3 und Paus., 2, 5, 1), sei es, dass er Tyro, die Tochter seines verhassten Bruders Salmoneus, getötet habe (vgl. Hyg., fab., 60), oder dass er – wie Servius in seinem einflussreichen Aeneis-Kommentar anführt – die Ratsbeschlüsse der Götter an die Menschen verraten habe (vgl. Serv., Aen., 6, 616). 64 65

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ihren individuellen Strafen einem Figurenkabinett gleich vorführen. 67 Dieses asymmetrische Verhältnis nimmt sich aus menschlicher Sicht bisweilen wie bloße Willkür aus und gibt den Dichtern – lange vor den so berühmten, von Relativismus und Polemik getragenen Einlassungen Xenophanes' zu diesem Thema – 68 Anlass zu virtuoser Religionskritik. Die Widersprüchlichkeit zwischen den Sphären, bereits zur Zeit der sogenannten Archaik durch eine weit zurückreichende mythologische Tradition belegt, 69 erscheint offenbar nicht nur philosophisch, sondern auch poetisch reizvoll. Sie etabliert sich einerseits als genuin-religiöse Denkfigur und wird darüber hinaus bereits früh in Form versifizierter Narrationen festgehalten. Einen der ersten Anhaltspunkte hierfür bietet nun ein weiteres Mal die Theogonie. In ihrem Proömium gelangt das Verhältnis von Wahrheit, Wirklichkeit und Dichtkunst zu einer Ausdrucksform, die ohne große Zugeständnisse poetologisch genannt werden kann. Im Bewusstsein ihrer Fähigkeit, auf die Wahrheit zuzugreifen, deren Erkenntnis für den Menschen doch so attraktiv erscheinen muss, formulieren die Musen: »ἴδµεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύµοισιν ὁµοῖα, / ἴδµεν δ᾽, εὖτ᾽ ἐθέλωµεν, ἀληθέα γηρύσασθαι.« 70 Sie kokettieren mit dem eigenen, überlegenen Wissen und setzen dabei das wahre Sein in einer höheren Sphäre, das heißt für Hesiod (wie auch für Homer) in einer Welt numinosen Vermögens an. Diese Seinsart wird in strikter Abgrenzung zur profanen, den Sachzwängen verhafteten Welt entworfen. Vermögend ist das höhere Sein in zweifacher Hinsicht: Zum einen befindet sich die überlegene Entscheidungsgewalt über die irdischen Geschicke in der Hand der Götter. Sie besitzen stets eine übergeordnete und bei Bedarf aktiv werdende Potenz, die sie in das Weltgeschehen eingreifen lässt. Dass sie diese Macht stets mit einer Art souveränen Willkür ausüben können, wird – neben Selbstaussagen wie dem »εὖτ᾽ ἐθέλωµεν« (»wenn wir es wollen«) – vielleicht am deutlichsten dadurch vorgeführt, dass sie sogar untereinander uneins sein können. 71 Zum anderen befinden sich, und das erscheint im Eingangsbild Vgl. auch den Ausruf des – mittlerweile offenbar einsichtig gewordenen – Phlegyas in Verg., Aen., 6, 620: »Discite iustitiam moniti et non temnere divos« (»Lernt, nachdem ihr zurechtgewiesen seid, Gerechtigkeit kennen und [lernt,] nicht die Götter zu verachten!«). 68 Vgl. Xenophan., DK 21 B 16: »Αἰθίοπές τε 〈θεούς σφετέρους〉 σιµούς µέλανάς τε / Θρῆικές τε γλαυκοὺς καὶ πυρρούς 〈φασι πέλεσθαι〉.« (»Die Äthioper behaupten, dass ihre Götter stumpfnasig und schwarz seien, / die Thraker aber [sc. behaupten], blauäugig und rothaarig.«). 69 Diese besteht zu einem bemerkenswerten Teil in einer Rezeption orientalischer Stoffe und Weisheitslehren; vgl. hierzu Burkert (32009) sowie als Abriss über den jüngeren Forschungsstand Renger (2008). 70 Hes., theog., 27 f.: »Wir verstehen es, zahlreich Erlogenes zu erzählen, das den wahren Dingen ähnelt. Wir verstehen es aber auch, sofern wir es wollen, Wahres zu verkünden«. 71 Die Entscheidungsfindung über irdische Geschicke ist daher für die Menschen nicht einsehbar, geschweige von sich aus transparent. Die Beziehungen zwischen wirklichen Sachverhalten und 67

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der Theogonie eigentlich noch bedeutsamer, dort auch die höher liegenden Wahrheiten. Die Menschen versuchen entsprechend ihrem Erkenntnisstreben, diese zu erreichen. Jedoch liegen diese Wahrheiten nun einmal noch nicht ausgesprochen vor, sondern sind noch aus dem Verborgenen zu entäußern. 72 Daher lässt sich auch mit ihrer Erkenntnis in potentia so spielerisch umgehen. Die Zuwendung des Dichters zur numinosen Sphäre gelingt in der Theogonie nur, nachdem sich die numinose Sphäre ihm zugewandt hat. Aus dem Verhältnis dieser Instanzen zueinander wird dabei eine spezifische Aussagenmodalität hervorgebracht. Bezeichnend hierfür ist die Junktur »ψεύδεα [. . . ] ἐτύµοισιν ὁµοῖα« (»Erlogenes [. . . ], das den wahren Dingen ähnelt«). Sie bezieht sich auf die Tätigkeit des Fingierens im epischen Erzählen, das zu dieser Zeit über die Rhapsodik bereits als weit verbreitet angenommen werden darf. 73 Wenn man der mittlerweile weithin anerkannten Lehrmeinung folgt, dass Homer seine Epen vor oder parallel zu Hesiod verfasst habe, 74 so ist Schadewaldt leicht darin zuzustimmen, daß Hesiod hier damit [»ψεύδεα [. . . ] ἐτύµοισιν ὁµοῖα«; D. B.] die alte und zumal die homerische Dichtung meint. Es ist der Charakter dieser homerischen Dichtung, daß man das, was im einzelnen erzählt wird, nicht unbedingt als ›Wahres‹ nehmen kann, es gibt viel Unverbürgtes. Aber es ist so, daß es doch einen Bezug hat auf die Wahrheit, einen Ähnlichkeitsbezug. 75

Neben dem Befund, dass mit ὁµοῖα bereits ein philosophisch-poetologisches Kriterium, namentlich dasjenige der Ähnlichkeit, früh eingeführt wird, lassen sich zwei unterschiedliche Konnotationsebenen für den Umgang mit Wahrheitskonzepten ablesen, von denen die Musen aber nur eine tatsächlich bedienen: Das in Vers 27 erwähnte »ἐτύµοισιν« führt die wahren Dinge im Sinne der ihnen zukommenden wahrhaften Substanz ein. Diese Substanz meint nun keine abstrakte Erkenntnisschau, wie sie in der späteren Philosophie als θεωρία den dahinter stehenden göttlichen Instanzen folgen somit nicht immer einer zuverlässigen Schematik. In seiner kuriosesten Form wird dieser Gedanke vielleicht in den Werken und Tagen illustriert, wo sogleich zwei namensidentische Zornesgöttinnen (῎Εριδες) auftreten, die gut (Konkurrenzanstoß) oder schlecht (blinder Neid) sein können; vgl. Hes., op., 11–26. 72 Gefolgt wird hierbei der weithin favorisierten Etymologie aus dem durch α-privativum negierten λανθάνειν (»verbergen«); vgl. den ersten Eintrag bei Liddell / Scott (91982), s. v. »ἀληθής«, 64: »unconcealed«. 73 Dieses Phänomen bildet unter dem Terminus der oral poetry einen eigenen Forschungszweig der Klassischen Philologie. Er wurde von Milman Parry begründet; vgl. Parry (1987). Die oral poetry befasst sich insbesondere mit den Problemen der Formelhaftigkeit (vgl. Latacz [2000b] und Clark [2004]), der Mnemotechnik (vgl. Ong [22016]) sowie des systematischen Zusammenhangs von Literarizität und Oralität (vgl. Havelock [1986] und Olson / Torrance [1991]). 74 Vgl. als einen der jüngsten Beiträge Szlezák (2012). 75 Schadewaldt (1978), 85.

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τῆς οὐσίας Schule machen wird. Die Musen künden hier gerade nicht von wissenschaftlichen Erkenntnissen welcher Art auch immer, sondern von Geschichten aus einer höheren Wirklichkeit – von dem, »was ist, was sein wird und was zuvor gewesen ist«. 76 Abstrakt gedachte Propositionen ließen sich hingegen in einer logischen Abfolge und nicht in einem zeitlichen Kontinuum verorten und wären daher eher dem πρῶτον als der ἀρχή verhaftet. Es handelt sich vielmehr um ein erzählbares, mithin geschichtliches Substrat, das zur Darstellung gebracht wird. Die Instanz der Wahrheit erschöpft sich hier also nicht in einer schieren Abstraktionskraft, sondern erhält eine poetologische Funktion: Die Existenz der Wahrheit ermächtigt die Musen im selben Zuge, von derselbigen zu künden. Die hier durchaus wahrnehmbare topische Nähe von Wahrheit und Wirklichkeit führt leicht zu der Annahme, die beiden Begriffe gänzlich synonym aufzufassen. 77 Während allerdings im einen Fall zunächst eine ontische Zuschreibung stattfindet, betont das im folgenden Vers gesetzte »ἀληθέα« vielmehr den Gegensatz zwischen Verborgenem und Unverborgenem. Die wahren Dinge (ἔτυµα) werden durch Verkündung erst manifest (ἀληθέα) und gelangen als enthülltes Wissen in den Bereich der epischen Dichtung. 78 Insofern ein solches Wissen eben keine Kenntnis über philosophische Lehrsätze, sondern über eine wahre Wirklichkeit – das heißt über Göttergeschichten und deren Bedeutung für die Menschen – meint, lässt sich durchaus eine gewisse Nähe zur homerisch-epischen Erzählweise nachvollziehen. So kommentiert auch Schönberger diese Stelle dahingehend, dass Hesiods Theogonie »wahrheitsähnliche Mythen wie Homer, doch auch (hauptsächlich) das Unverborgene, Wirkliche an sich« 79 darstellen wolle. Es ließe sich hieran noch anschließen: »Unverborgen«, also ›wahr‹, wird das Wirkliche, gerade indem es die Musen dem Menschen verkünden (γηρύσασθαι). 80 Sie entäußern es gegenHes., theog., 38: »τά τ᾽ ἐόντα τά τ᾽ ἐσσόµενα πρό τ᾽ ἐόντα«. Vgl. Menge (241981), s. v. »ἔτυµος«, 293: »wirklich, wahr«. 78 Um einem möglichen Missverständnis bezüglich des methodischen Zugriffs vorzubeugen: Hier ist keineswegs an die Trennung einer inner- und außertextuellen Welt gedacht; auch eignet sich diese Stelle nicht, um Text- und Wirklichkeitswelt generell voneinander zu scheiden – zumal sich die modernen Textualitätskonzepte natürlich erheblich von den antiken Vorstellungen zu sprachlichen Kunstwerken unterscheiden. Gemeint ist vielmehr: Indem Weltaussagen durch die genannten Begriffe in ganz unterschiedlichen Facetten konstruiert werden, werden ontologische wie poetologische Aussagen simultan hergestellt. 79 Schönberger (22005), 81. 80 Nebenbei zeichnet sich in der Herausstellung des Wahren ein besonderer generischer Anspruch ab, der ungewollt ein gewisses Problemfeld der späteren Poetiken bilden wird. Denn die Gattung des Lehrgedichts möchte Aristoteles ja gerade wegen ihrer Hinwendung zum Wahren (und nicht zum Möglichen) ausdrücklich aus dem Bereich der Poesie ausgenommen wissen; vgl. Aristot., poet., 1, 1447b17–20: »οὐδὲν δὲ κοινόν ἐστιν ῾Οµήρῳ καὶ ᾿Εµπεδοκλεῖ πλὴν τὸ 76

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über dem Dichter, der es daraufhin in die Welt trägt. 81 Die Musen stellen somit in ureigener mythologischer Personifizierung eine strikt äußerliche Entität, die Inspiration des Dichters hingegen dessen Fähigkeit dar, das in einer numinosen Sphäre Wirkliche als das Wahre darzustellen. Es ist ebendiese Art dichterischer Instanziierung, namentlich die Alterität zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, die bis weit in die römische Zeit hinein regelmäßig aufgegriffen und diskutiert wird – recht augenfällig beispielsweise in Ovids Fasti: So bemüht der Sprecher dort zu Beginn des sechsten Buches zunächst die numina, 82 also Gottheiten, die insbesondere als äußerlich wirkende Instanzen einzustufen sind, 83 um dann seine eigene dichterische Eingebung als interiore Gottheit 84 – die hier prägnant für den Enthusiasmus einsteht – zu inszenieren; gleichwohl bleiben es die numina, die sich für das »heilige Gesetz« 85 verbürgen, welches den Sprecher dann dazu befähige, »in die Gesichter der Götter zu schauen.« 86 Der Dichter µέτρον, διὸ τὸν µὲν ποιητὴν δίκαιον καλεῖν, τὸν δὲ φυσιολόγον µᾶλλον ἢ ποιητήν«. (»Homer und Empedokles haben außer dem Vers nichts Gemeinsames; daher ist es richtig, den einen als Dichter, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter zu bezeichnen.«) In der Zugewandtheit und Vorbedingtheit der Dichtkunst in Bezug auf die Welt ist Aristoteles jedoch mit den Lehrdichtern durchaus einer Meinung. Daher darf Effes Aussage leicht relativiert werden, der mit scheinbarer Sicherheit behauptet: »Im Rahmen einer solchen Dichtung an das Moment der Fiktionalität bindenden Theorie läßt sich das Lehrgedicht, welches sich zur Zeit des Aristoteles unter so anerkannten Namen wie denen des Hesiod, Parmenides und Empedokles präsentierte, genauso wenig legitimieren wie innerhalb späterer Konzeptionen, die bewußt oder unbewußt in der Tradition der aristotelischen Poetik stehen.« (Effe [1977], 19) Nimmt man die oben genannten Einlassungen zu Homer und Empedokles als eine Art wortgetreuen sowie ausschließlichen Maßstab, so mag man der kategorischen und nachträglichen Exklusion der Lehrdichtung aus dem Bereich der Fiktion fraglos zustimmen. Die Voraussetzung einer außerhalb des Dichters waltenden Wirklichkeitsnatur, welche die aussagen- und modallogischen Paradigmen wie ›Wahrheit‹, ›Falschheit‹, ›Wahrscheinlichkeit‹ und ›Möglichkeit‹ erst bereitzustellen vermag, ist hingegen, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, für das gesamte poetologische Reflexionsdenken von Hesiod bis Aristoteles konstant gegeben. 81 Auch Homer muss sich – mit teils identischer Wort- und Formelwahl – bei den Musen im zweiten Buch der Ilias nochmals rückversichern, um den Schiffskatalog darlegen zu können; vgl. Hom., Il., 2, 484–493. Ebenso schreiben sich die frühgriechischen Lyriker in ihren poetologischen Aussagen präzise in diesen von einer Alterität geprägten Gestus des Entäußerns ein, was sich unter anderem am Gebrauch des προφατεύειν oder des προφήτης beobachten lässt; vgl. als ein explizites Beispiel Pind., fr. 150: »µαντεύεο, Μοῖσα, προφατεύσω δ᾽ ἐγώ« (»Gib deinen göttlichen Spruch, Muse, und ich werde ihn verkünden.«) Auch hier ist weniger an eine irrationale Entrückung oder Ergriffenheit zu denken, als vielmehr (wie auch der Tempusgebrauch nahelegt) an die notwendige Reihenfolge der dichterischen Instanziierung. Somit ist Dodds darin zuzustimmen, »that it is the Muse and not the poet who plays the part of the Pythia; and the poet does not ask himself to be ›possessed‹, but only to act as an interpreter for the entranced Muse.« (Dodds [21963], 82) Zum Inspirationstopos in den pindarischen Oden vgl. zudem in jüngerer Zeit Bouchaud (2016). 82 Vgl. Ov., fast., 6, 4. 83 Vgl. Georges (81998), s. v. »numen«, 1215: »die wirkende, waltende Macht der Gottheit«. 84 Vgl. Ov., fast., 6, 5: »deus in nobis«. 85 Ebd., 6, 7: »fas«. 86 Ebd.: »voltus vidisse deorum«.

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führt uns also vor, dass es im Moment der dichterischen Initiation zwei Arten von Gottheiten gibt, eine äußere und eine innere. Sein Wahrheitsanspruch drückt sich nun – ähnlich wie bei Hesiod – darin aus, dass er »Tatsächliches besingen« 87 werde; die im Vergleich zu Hesiod beinahe vorwitzig zu nennende poetologische Aussage wird bei Ovid allerdings dahingehend entwickelt, dass es für das dichterische Resultat vielleicht gar nicht so erheblich sei, welcher von beiden Instanzen denn nun der Vorrang einzuräumen wäre – »sei es weil ich ein inspirierter Dichter bin, sei es weil ich heilige Dinge besinge.« 88 Die Kunst des Dichters kann somit in seiner inneren Verfasstheit oder in der Beschaffenheit des Gegenstandes bestehen – solange beide ein göttliches Gepräge aufweisen. Die auf diesem Wege erworbene Wahrheit bleibt im Moment der dichterischen Instanziierung keineswegs auf ihren religiösen Gehalt beschränkt – facta und sacra lassen sich daher umstandslos als Paronomasie einstufen –, sondern wird durch den Dichter auf säkulare Weise erfasst und zur Sprache gebracht. Das göttliche Wirkliche wird demnach in zweifacher Essenz, als facta und als sacra auffassbar gemacht und die Adaptation dieser in einem engen Zusammenhang mit einem Interiorisierungsprozess – fort von den numina hin zum deus in nobis – vorgestellt. Werden sie, wie es schon für Hesiod gelten konnte, konzeptionell miteinander enggeführt, erscheint es – auch für unseren Untersuchungsgang – hilfreich, dezidiert von einer ›wahren Wirklichkeit‹ zu sprechen, die von den Göttern gestiftet wird und als Teilbereich eines allgemeinen Weltvermögens gelten kann – und das sich als prinzipiell zur Darstellung fähig zeigt. Konzeptionelle Gegensätze zu diesen Sphären lassen sich demgegenüber in den von Kontingenzen geprägten Bereichen der physischen Oberwelt sowie in den unterweltlichen Topographien – letztere eben als gegenüber dem göttlichen Willen (numina) nachgestellte Instanzen – erkennen. Um an dieser Stelle wieder ganz auf die Theogonie zurückzukommen: Die Welt des dortigen Schafhirten erscheint in einer solchen Gemengelage lediglich als mittlere Alltagswelt, das heißt als ein den Sprecher umgebender Teilbereich der physischen Oberwelt. Die poetologischen Aussagen in der Theogonie gehen mit dieser Welt nun alles andere als zimperlich um. Sie erhält vielmehr, gerade weil sie von so schnöden Sachzwängen wie Produktion, Nahrung und Erholung geprägt ist, von oben herab ihre höhnische wie scheinbar gerechte Beschimpfung: »Ihr Hirtenpack, Draußenlieger, Schandkerle, nichts als Bäuche!«, 89 skandieren die Musen. Dass der Erzähler nach eigener Aussage im Moment seiner Inspiration 87 88 89

Ebd., 6, 3: »facta canam«. Ebd., 6, 8: »vel quia sum vates, vel quia sacra cano«. Hes., theog., 26: »ποιµένες ἄγραυλοι, κάκ᾽ ἐλέγχεα, γαστέρες οἷον«.

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just Schafe weiden ließ, entspricht daher zwar durchaus einer kontingenten – und durch »νύ ποθ[ε]« 90 auch als solcher markierten – Realität; diese erscheint jedoch gegenüber einer göttlichen Universalität 91 nicht nur abgespalten, sondern auch noch deutlich herabgesetzt – spöttisch vorgeführt durch eben diejenige Instanz, die sich für jegliche Inspiration und Legitimation des Dichtens höchstpersönlich verantwortlich zeigt. 92 Wenn der Sprecher sich ausgerechnet in diesem Moment immer wieder auf sich selbst bezieht, 93 so führt er damit auch zugleich die Darstellung eines allgemeinen philosophischen Dichtungsverständnisses vor. Kurz, die Alltagswelt eines böotischen Hirten mag von Kontingenzen geprägt sein, nicht jedoch das Moment seiner Inspiration. Vielmehr treffen in diesen Momenten zwei Wirklichkeiten mit unterschiedlichen Wertigkeiten aufeinander. Somit lässt sich die Asymmetrie zwischen dem Sprecher und den Göttinnen – bei allem spielerischen Ausdruck, der zweifellos in ihr steckt – als ein recht urtümlicher Konflikt poetischer Weltaneignung auffassen. Hierauf weist auch Fränkel in einer Paraphrase der Initiationsszenerie hin: Dem jungen Hirten, der mit seinen Gefährten auf der Sommerweide in öder Bergeinsamkeit ein halbtierisches und grob materielles Leben führte, auf nacktem Boden schlafend mit dem Vieh seines Vaters, das er hütete, wurde es klar, dass ihm ein geistiges Reich hoch über der elementaren Körperlichkeit zugänglich war: ein himmlischer, luftiger, gefährlicher Bezirk der Worte und Gedanken, wo Sein und Schein schwerer zu unterscheiden sind als in den niederen Bezirken, wo die Sachen wohnen. 94 Ebd., 22: »irgendwann gerade«. Zum kontingenten Bedeutungsaspekt des Indefinitums »ποτε« vgl. Liddell / Scott 91982, s. v. »πότε« [»ποτε«], 1454: »of some unknown point of time«. 91 Somit stellt es auch keine beliebige Zuschreibung dar, dass die Musen an dieser Stelle als »olympische« (Hes., theog., 25: »᾿Ολυµπιάδες«) bezeichnet werden. Der Olymp ist als Sitz der institutionalisierten Götter (θεοί) – im Gegensatz etwa zu Natur- (νύµφαι, δρύαδες, νηρεΐδες) und Privatgottheiten (δαίµονες, δαιµόνια) – dasjenige Universalsymbol, das die Griechen religiös eint. Demgegenüber werden die Musen im Eingangsvers noch als »Helikonische« (ebd., 1: »῾Ελικωνιάδων«) bezeichnet und dadurch mit der konkreten Alltagsästhetik des böotischen Schafhirten verbunden, der erst in der Folge, in Form einer dem Alltag ausgelagerten Situation, zum Dichter werden kann. 92 Ausgeführt als neun Töchter des Zeus und der Mnemosyne im kanonisch gewordenen Musenkatalog (ebd., 76–79), die – allerdings erst nach späterer Zuschreibung – auch bestimmten generischen Zuständigkeiten (Lyrik, Epos, Geschichtsschreibung etc.) zuordenbar sind. 93 Vgl. die Selbstbezüge ebd., 1–115, die in unterschiedlichen grammatischen Realisationen (unter Bezug auf die 1. Person, Singular, die 1. Person, Plural und die 3. Person, Singular) vorliegen. Das offenkundige Vexierspiel, das hier mit der Dichteridentität durchgeführt wird, ist in seinen Facetten bemerkenswert und verdiente durchaus einer dezidierteren, bis heute leider nicht vorliegenden Untersuchung. 94 Fränkel (31976), 106. Wo genau Fränkel die Gefährten in dieser Szene ausmachen will oder ob er hier bereits an Rezeptionsformen in der späteren Bukolik denkt, bleibt offen. 90

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Bei aller Herausstellung szenographischer Aspekte wird auch hier festgehalten, dass sich die Verbindung von Dichtung und Philosophie vor allem als Verhandlung dichotomer Wirklichkeitsparadigmen erweist. Über die Gegensätze des Ätherischen und des Elementaren, des Hohen und des Niedrigen, des Seins und des Scheins wird die Möglichkeit eines immanenten Erweckungserlebnisses recht radikal ausgeschlossen; vielmehr wird eine Diskrepanz zwischen den stofflich-sachlichen Phänomenen auf der einen und einer transzendenten Wirklichkeit auf der anderen Seite geöffnet. Die Alterität zweier Welten wird somit als Bedingung zur Entfaltung dichterischen Potentials diskutiert. 95 Die mit beträchtlicher Strenge vorgeführte Trennung der Alltagswahrnehmung von der höheren Erkenntnis ist über diese Setzungen hinaus – vornehmlich über die Tradition der Naturdichter (φυσικοί, φυσιόλογοι) – bis in die Zeit der akademischen und peripatetischen Philosophie nachvollziehbar. Das Nachaußenkehren universeller Zusammenhänge bedarf – was angesichts einer als dauerprekär markierten Position gegenüber den Göttern nicht zu überraschen vermag – dazu eines stabilisierenden Moments, einer Kontinuität stiftenden Chiffrierung. Diese kann nach griechischem Verständnis nur im Mythos liegen – was Anlass genug ist, einen kurzen Seitenblick auf dessen Funktion in den fokussierten Zusammenhängen zu werfen.

Exkurs: Mythos

Dass sich sowohl Parmenides als auch Empedokles, sowohl Platon als auch Aristoteles in der Darstellungsform elementarer Philosopheme regelmäßig des Mythos bedienen – und sei es nur in Form des Zitierens längst tradierter Vorlagen –, erhellt den Nexus, der zwischen poetischer und philosophischer Weltaneignung besteht. Der Mythos ist in der Lage, die Auseinandersetzungen des Menschen mit Daseinsfragen zu einer fassbaren Darstellung zu bringen; er liefert narrative Stoffe, in denen sich philosophische Grundprobleme widerspiegeln. Prägnant beschrieben hat dieses Phänomen Blumenberg. Er stuft es, Daher ist Tigerstedt zuzustimmen, der sich – ganz ähnlich wie Dodds – gegen die gelegentlich vertretene Lehrmeinung wendet, dass es sich hierbei um eine Art mantisch-irrationale Ekstase handele, sich Hesiod also in erster Linie zu einem religiösen Propheten erhebe: »What the real experience of the poet may have been, we do not know and it is useless to speculate about it. But his description of this experience is sober, even a bit dry. He is not dreaming, still less in a trance, when he hears the Muses and receives the branch of laurel.« (Tigerstedt [1970], 171 f.) Nicht nur der hier ins Feld geführte sachliche Duktus der Passage, sondern auch die hochreflektierte, rationale Betrachtung von Dichtung, Wahrheit und Wirklichkeit sprechen erheblich gegen die Annahme einer mantischen Erweckung. 95

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ausgehend von der Mythologie zur Zeit Hesiods, als eine Verfahrensordnung von geradezu transhistorischer Bedeutung ein: Man bemerkt, mit wie geringer Vorsicht man die späteren Probleme der Philosophie, unter Ausschluß ihres Abstraktionsgrades, im Mythos vorgeformt sehen kann, wenn man nur im Besitz einer Geschichtsphilosophie ist, die die Konstanz der großen Fragen für die Menschheit, die Menschheitsvernunft unterstellt. 96

Es lässt sich daher mit Recht von einer Ausdrucksform sprechen, die zum einen ein philosophisches Anspruchsdenken präformiert und zugleich ein unverbrüchliches Substrat darstellt, das der Dichtkunst überhaupt nur zukommen kann. Und ebendiese Ausdrucksform wird vorwiegend aus den ihr eigenen, inneren Entwicklungsprinzipien heraus gedacht. Am deutlichsten zeigt sich dies wohl in Mythologemen mit aitiologischem Anspruch. Deren Aufgabe ist es, das aition für eine Wirklichkeitsgegebenheit offenzulegen. 97 Die hierdurch entfaltete Geschichtsphilosophie meint für die griechische Tradition in der Hauptsache eine Naturphilosophie ἐξ ἀρχῆς. Sie verpflichtet sich nicht so sehr dem analytischen Anspruch, die Welt von einem späteren Standpunkt her zu beschreiben, sondern möchte sie vielmehr gemäß ihrer Genese erklären. 98 Anfangs- und Naturgrund gehen hierdurch ein reziprokes Begründungsverhältnis ein und erweisen sich als höherwertig gegenüber den Beschreibungsansätzen eines unmittelbareren, auf die Sinne bezogenen Weltzugriffs. 99 In der Art und Blumenberg (62006), 145. 97 Diese Verfahrensweise hat auch für die späteren Dichter eine gewisse Attraktion entwickelt; ein illustratives Beispiel aus römischer Zeit ist etwa Ovids elegische Adaptation des Argonautenmythos zur Erklärung des Stadtnamens Tomis in Ov., trist., 3, 9. 98 Dies ist in keinem Widerspruch zur Diversität von Geschichtsmodellen zu sehen, wie wir sie in linearen, zyklischen oder dekadenztheoretischen Denkschulen finden können. Denn ebendiese Abfolgen werden stets als notwendig und gesetzhaft erachtet und gelten daher nach griechischem Verständnis durchweg als ›natürlich‹. Besonders ausgeprägt findet sich ein solcher φύσις-Aspekt in der Diskussion um den Übergang politischer Verfassungen. So spricht Polybios davon, dass die Triaden der Verfassungsformen »von Natur aus verbunden« (Polyb., 6, 4, 6: »συµφυῆ«) seien; zudem bilde sich die erste Form der Alleinherrschaft »ohne besonderes Zutun und von Natur aus« (ebd., 6, 4, 8: »ἀκατασκεύως καὶ φυσικῶς«). Diese Grundüberzeugung hat Polybios insbesondere mit Aristoteles und Diodor gemein, worauf Mehr (2009), 24 f. hinweist. 99 Hiermit einher geht, dass der erste Anfangsgrund für die überwiegende Zahl der griechischen Philosophenschulen nicht identisch mit dem ersten Erkenntnisgrund ist, insofern die Welt, so wir sie mit unseren Wahrnehmungsorganen unmittelbar betrachten, ›lediglich‹ in Form ihrer Phänomene vorliegt. Es zeichnet demgegenüber gerade den (Natur-)Philosophen aus, über diese oberflächliche Stufe des Erkennens hinaus die genetischen Ursachen eines Gegenstandes offenzulegen. Seinen prägnantesten Ausdruck hat dieser Gedanke ein weiteres Mal in den Eingangspassagen der aristotelischen Physik gefunden; vgl. Aristot., phys., 1, 1, 184a16–21: »πέφυκε δὲ ἐκ τῶν γνωρι96

µωτέρων ἡµῖν ἡ ὁδὸς καὶ σαφεστέρων ἐπὶ τὰ σαφέστερα τῇ φύσει καὶ γνωριµώτερα· οὐ γὰρ ταὐτὰ ἡµῖν τε γνώριµα καὶ ἁπλῶς. διόπερ ἀνάγκη τὸν τρόπον τοῦτον προάγειν ἐκ τῶν ἀσα-

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Weise dieses Zugriffs, nämlich einen Sachverhalt sichtbarer zu machen, als er zuvor gewesen ist, liegt zwischen Dichtung und Philosophie demnach durchaus ein gemeinsames Interesse vor. Diese für das griechische Denken bezeichnende Art der Natur- und Welterklärung öffnet sich dabei historisch zusehends den Rationalisierungstendenzen materiell-elementarer Philosophien. Für den Übergang hin zur ionisch-unteritalischen Naturphilosophie möchte Mansfeld noch allgemein festhalten: Im Mythos und im Glauben wird die Welt personifiziert, vermenschlicht, es gibt Beziehungen persönlich-emotionaler Art zu ihr und zu dem, was in ihr ist oder zu sein hat. Die ›Natur‹ des Mythos ist ein Teil der Erlebniswelt. Zu den natürlichen Kräften Anaximanders sind jedoch nur begriffliche, keine emotionalen Beziehungen möglich. 100

Ob der hier angeführte Aspekt der persönlichen Emotion tatsächlich ins Zentrum des Zweifels gerückt werden sollte, erscheint diskutabel. Der Weltzugriff selbst, der nach griechischem Grundverständnis darin besteht, über die virtuose Gestaltung der Mythologie allgemeine Aussagen in neuen sprachlichen Erzählformen zu tätigen, tritt in seiner vorzüglichsten (und darum seltensten) Initiationsweise ja gerade nicht als Emotions-, sondern als Inspirationsmoment auf. Dieses erscheint wiederum einigermaßen losgelöst von einem inneren Gefühlsapparat. Der Dichter wird vielmehr mit dem Wissen ausgestattet, das zuvor in seiner natürlichen Umgebung, der Welt der Phänomene, nicht ohne Weiteres fassbar war. Er stellt seine Initiation als Eingebung aus einer höheren Wirklichkeit aus und kann dadurch schlechthin erst zum Dichter werden. Während der Dichter also auf äußere Eingebungen angewiesen ist, weist der Mythos ein bereits durch seine stoffliche Tradition durchweg angereichertes Potential auf, das zu unterschiedlichen Darstellungen gebracht, also semantisch neu besetzt und arrangiert werden kann. Transzendentale und mythologische Wirklichkeiten verhalten sich daher hochgradig selektiv zueinander. Sie treffen sich, wenn man einen solchen Tropus an dieser Stelle akzeptieren mag, erst in der Dichtkunst. Bei den Bedingungen eines solchen Zusammentreffens handelt es sich um die Bedingungen von Immanenz und Transzendenz, von Potential und Fertigkeit. φεστέρων µὲν τῇ φύσει ἡµῖν δὲ σαφεστέρων ἐπὶ τὰ σαφέστερα τῇ φύσει καὶ γνωριµώτερα.« (»Es ergibt sich daher natürlicherweise für uns der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren hin zu dem von Natur aus Bekannteren und Klareren. Denn das für uns [sc. Bekannte] und das allgemein Bekannte sind nicht dasselbe. Daher ist es notwendig, auf diese Weise vorzugehen: von dem der Natur nach Undeutlicherem, für uns aber Deutlicherem hin zu dem der Natur nach Deutlicherem und Bekannterem.«). 100 Mansfeld (32008), 23.

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Bei allen unterschiedlichen Begründungsformen, die dem Mythos zugeschrieben wurden, erscheint unzweifelhaft, dass der Mythos ein gewisses ikonisches Potential zur Verfügung stellt und dass in einem solchen ikonischen Gehalt zudem das formgebende Moment philosophischer Elementarfragen bereits mustergültig vorliegt. Blumenberg bringt dieses Phänomen auf einen schlicht anmutenden, aber durchaus umfassenden und überzeugenden Nenner: Ikonische Konstanz ist in der Beschreibung von Mythen das eigentümlichste Moment. Die Konstanz seines Kernbestandes läßt den Mythos als erratischen Einschluß noch in Traditionszusammenhängen heterogener Art auftreten. [. . . ] Stellt man sich die Frage, woher die ikonische Konstanz von Mythologemen kommt, so gibt es eine Antwort, die sich trivial und allzu schlicht anhört, als daß sie unseren Erwartungen genügen möchte: Die Grundmuster von Mythen sind eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne, daß sie immer wieder überzeugen, sich immer noch als brauchbarster Stoff für jede Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins anbieten. 101

Dass Blumenberg hier vom Überzeugen spricht, erscheint alles andere als lapidar. Es mutet gerade in Bezug auf die Lehrdichtung plausibel an, die »elementaren Sachverhalte des menschlichen Daseins« dem Mythos formal noch voranzustellen; 102 darüber hinaus ist allerdings der stoffliche Gehalt nicht nur relational zu den Sachverhalten zu sehen – die ihn lediglich als »brauchbar« erscheinen lassen –, sondern birgt – gerade weil er zwischen dem menschlichen Dasein und der Erkenntnis des selbigen zu vermitteln weiß – eine eigene Dynamik, die auch hohes formales Potential besitzt. Fuhrmann setzt dieses Potential in ein Verhältnis zur Aktualisierung, bemüht also aristotelische Kategorien, um Darstellungs- und Wirkmacht des Mythos zu illustrieren. Im Sinne Fuhrmanns ist zu beachten, daß den Mythos ein immer schon vorhandenes Potential ausmacht, das sich in je verschiedener Weise aktualisiert; weiterhin die Erfahrung, daß sich der Mythos der ›großen Dimension‹ zu bemächtigen sucht, die dem Menschen schlechthin oder jedenfalls dem Individuum entzogen ist, und daß er diese Dimension bald als Terror oder Zwang, bald als Spiel oder Freiheit erscheinen läßt. 103

Fuhrmann schreibt dem Mythos hier eine Zwischenstellung zu. Eröffnet wird eine Dichotomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit, die grundsätzlich nicht Blumenberg (62006), 165 f. Und nicht, wie Effe es favorisiert, als Koinzidenz; er spricht hierbei von einer Idealform, die das Lehrgedicht scheinbar zu erreichen suche; vgl. Effe (1977), 30 f. 103 Fuhrmann (1971), 9. 101

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nur auf die Antike, sondern auch auf den deutschen Idealismus in der Nachfolge Kants bezogen werden kann: auf ein ästhetisches Prinzip, das zwischen Freiheit und Zwang, zwischen formendem Prinzip (Geist) und stofflicher Nötigung (Natur) unterscheidet. Der Mythos nähme dann eine ähnliche Stellung ein, die bei Kant die Kunst und bei Schiller der Spieltrieb ausfüllt – die Rolle des ästhetischen Prinzips respektive des ästhetischen Zustands. An seiner antiken Rolle vermag dies allerdings nicht zu rütteln; der Mythos verhält sich ikonisch konstant und hält damit sein Grundpotential aufrecht. In den literarischen Kunstwerken sind seine energetischen Zustände zugleich Zeugnis seiner ästhetischen Stärke.

Fortsetzung: Die Rolle der Lehrdichtung

Mit dem Aufkommen der ionisch-unteritalischen Naturphilosophie (spätestens ab dem 6. Jahrhundert v. Chr.) scheinen diejenigen Entwürfe von Wirklichkeit eine gewichtigere Rolle zu gewinnen, die den Kosmos und dessen Kräfte als solche zum originären Naturstatus, das heißt zum Urgrund aller Erscheinungen in der Natur erheben. Unter den sogenannten 104 Vorsokratikern stellt Parmenides eine der bedeutendsten Figuren dar, die eine Transformation hin zu den späteren philosophischen Schulen leisten. Dies lässt sich neben seiner häufigen Rezeption durch Platon und Aristoteles auch aus den überlieferten Fragmenten seines Lehrgedichts Περὶ φύσεως (Über die Natur) selbst erkennen. Zunächst ist jedoch sein Anschluss an die Vorläufer zu beachten: So sieht Schadewaldt – in Anlehnung an Vorarbeiten Diels' – den Nexus zwischen Hesiod und Parmenides durch das jeweilige didaktische Anspruchsdenken bereits hinreichend gegeben. Beide wollen dem Leser respektive Zuhörer Inhalte über die Entstehung der Welt, über das Zustandekommen ihres Zustands, vermitteln. Unter Bezugnahme auf eines der wirkmächtigsten Eingangsmotive der griechischen Dichtung überhaupt, die Wagenfahrt zum Tor der Dike, fasst Schadewaldt die auffälligsten Analogien und Kontraste des parmenideischen Lehrgedichts zur Theogonie zusammen: Dies alles [einen neueren, strengeren Wahrheitsanspruch; D. B.] haben wir auch hier, viel großartiger durch das Symbol der Wagenfahrt und des Aufstiegs, aber dann doch wieder so, daß zwei verschiedene Sphären des Wissens geschieden werden wie bei Hesiod: das Trügerische und das Unentborgene. So spricht hier die Göttin, nachdem sie ihn gegrüßt hat, von dem, was er alles erfahren soll: ›sowohl das unerschütterliche Herz der wohlgerundeten Wahrheit (die keine 104

Zur Problematik dieses Begriffs vgl. die konzisen Ausführungen bei Mansfeld (32008), 9 f.

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Person ist; vielleicht sollte man es besser nicht groß schreiben, wie Diels es tut) und auf der anderen Seite die Meinungen der Sterblichen, denen nicht innewohnt eine sich nicht entziehende Gewähr (alethes pistis). Aber dennoch sollst du auch dieses (diese Meinungen der Menschen) erfahren, wie das bloß so Erscheinende auf eine probehaltige Weise sein sollte, indem dieses nur Scheinende ganz durch alles hindurchgeht.‹ Man hat viel an diesen Versen herumgerätselt. Offenbar ist die Tatsache, daß das Scheinende wirklich restlos durch das Ganze durchgeht, seine durchgehende Stimmigkeit, ein Kriterium dafür, daß die Dinge doch probehaltig sind, wenn sie auch nicht Gewähr erlangen. 105

Dem Scheinhaften die Eigenschaften der Probehaltigkeit und der Permeabilität zuzuweisen, ist durchaus nachvollziehbar; dennoch bleibt das daraus abgeleitete Problem eher ein vermeintliches und die zitierte Passage gar nicht so dunkel, wenn man bedenkt, dass es Parmenides wie Hesiod um den Umgang mit unterschiedlichen Weltvermögen geht. In der Welt ist nicht nur Kontingenz, sondern auch Transzendenz enthalten; dafür verbürgen sich ihre göttlichen Emanationen. Deren Verlässlichkeit in Form der Überzeugung (πίστις) wird daher grundsätzlich existentiell (und nicht bloß konzeptuell) gedacht. Parmenides fasst unter allen Lehrdichtern diesen Gedanken vielleicht in seiner radikalsten Form: »[D]enn dass man etwas erkennt, ist dasselbe wie dass es existiert.« 106 Ein solches Diktum steht nun in keinem völligen Widerspruch zur Scheinhaftigkeit menschlicher Meinungen. Vielmehr drückt sich im Gegensatzpaar von Wahrheit und Meinung ein weiteres Mal die notwendige Reihenfolge (ἠµὲν Α ᾿ ληθείης [. . . ] ἠδὲ βροτῶν δόξας) 107 des Entäußerns einer wahren Wirklichkeit aus. Die Meinungen der Menschen sind zwar gegenüber der Wahrheit sekundäre Instanzen, können jedoch eine gewisse Gültigkeit im Sinne ihrer Gegenwart im Bereich der weltlichen Dinge für sich beanspruchen. Anders gesprochen: Es erschiene leicht eindimensional, den Meinungen nicht auch zuzugestehen, dass sie gelegentlich wahr sein können; sie besitzen allerdings nicht das autarke Vermögen, dafür zu bürgen; 108 mit Parmenides gesprochen, stiften sie keine »wahre Überzeugung«. 109 Die dichterische LegitiSchadewaldt (1978), 319. Die übersetzte Passage entspricht Parm., DK 28 B 1, 29–32. Ebd., B 3: »τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι«. Dies stellt zugleich die zentrale und meistrezipierte Formel seiner ontologischen Erkenntnistheorie dar. 107 Ebd., B 1, 29 f.: »zunächst der Wahrheit, [. . . ] dann auch die Meinungen der Sterblichen«. 108 Vgl. zu diesem Berufungstopos auch die wohl zu ähnlicher Zeit entstandene, zehnte Olympische Ode Pindars, in der die Muse und die Wahrheit zugleich angerufen werden, um für die rechten Absichten des Sprechers zu bürgen; vgl. Pind., Ol., 10, 3–6: »ὦ Μοῖσ᾽, ἀλλὰ σὺ καὶ θυγάτηρ / Α ᾿ λάθεια ∆ιὸς, ὀρθᾷ χερί / ἐρύκετον ψευδέων / ἐνιπὰν ἀλιτόξενον.« (»O Muse, aber auch du, Wahrheit, Tochter des Zeus, vertreibt mit gerader [= gerechter] Hand die Lügen, ich wollte den Freund beleidigen!«). 109 Parm., DK 28 B 1, 30: »πίστις ἀληθής«. 105 106

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mierung besteht ja gerade in der Überführung eines höheren Weltvermögens in den endlichen Bereich der menschlichen Erkenntnisse, bleibt aber ohne diesen Schritt des Erkennens, eben der vorzüglichsten menschlichen Fähigkeit, ohne fassbare Sinngebung. 110 Die verlässliche Emanation einer vorgeformten Weltwahrheit meint somit nichts anderes als das Erkennen und verweist damit auf eine ›wahrhaft wirkliche‹ Existenzweise der erzählten Dinge. Gerade weil sich das wahrhaft Seiende einer (bei Hesiod) alltagsweltlichen beziehungsweise (bei Parmenides) physischen Kategorisierung zu entziehen scheint, enthält es darüber hinaus in vielen Aspekten Anlagen der späteren Metaphysik. Diese lassen zumindest in ihrer topischen Dimension bereits gar an den unbewegten Beweger Aristoteles' denken: Αὐτὰρ ἀκίνητον µεγάλων ἐν πείρασι δεσµῶν ἔστιν ἄναρχον ἄπαυστον, ἐπεὶ γένεσις καὶ ὄλεθρος τῆλε µάλ᾽ ἐπλάχθησαν, ἀπῶσε δὲ πίστις ἀληθής. 111

Hier soll zunächst weniger eine mögliche Linie zu den sich in späterer Zeit etablierenden großen metaphysischen Schulen, wie etwa derjenigen der Platoniker oder der Peripatetiker als vielmehr die Weiterentwicklung gegenüber Hesiod interessieren: Das bei Hesiod noch in hohem Maße sublimierte Wahre (ἀληθές) wird hier – nach DK B 1, 30 gar zum zweiten Mal – zum Attribut der Überzeugung (Πίστις) erklärt. Es ergibt sich somit die in sich komplementäre Vorstellung eines beständig-zuverlässigen und zugleich wahren Seins, jedoch – sobald dieses im Begriff ist, in den menschlichen Erkenntnisbereich einzutreten – unter der Ägide der reinen Überzeugungskraft. Ob also bestimmte Wahrheiten den Weg von den himmlischen in die niederen Sphären finden, ist nicht mehr von der Willkür der Musen oder anderer Gottheiten abhängig. Aussagen, An diesem Punkt lässt sich zugleich eine Gemeinsamkeit und ein Unterschied zwischen Hesiod und Parmenides ausmachen, die zuletzt von Geisenhanslüke konstatiert wurden: »Die beiden Texte von Hesiod und Parmenides zeigen, dass der Anspruch auf Wahrheit Dichtung und Philosophie zwar verbindet. Die Qualität der Wahrheit ist aber eine andere: Hesiod berichtet vom Ursprung der Welt und der Götter aus dem Chaos, dem Kampf der Götter um eine gerechte Herrschaft, die seiner Auffassung zufolge erst bei Zeus erreicht wird, und von vielem mehr. Parmenides dagegen hält sich an die strikte Wahrheit, dass das Sein strikt vom Nichtsein und dem Werden und Vergehen unterschieden werden muss. Für beide Texte gilt trotz dieser Unterschiede gleichermaßen, dass sie eine strenge Unterscheidung von mythos und logos unterlaufen, dass sich dichterische Erzählung und philosophische Wahrheit in ihnen vermischen.« (Geisenhanslüke [2015], 10 f.) Geisenhanslüke stellt richtigerweise den substantiellen Unterschied zwischen Hesiod und Parmenides hinsichtlich der vermittelten Wahrheitsqualitäten fest, ohne indes den durchaus wichtigen Schritt zu gehen, dass sich auch der Prozess des Erkenntnisgewinns bei beiden signifikant unterscheidet. 111 Parm., DK 28 B 8, 26–28: »Indes ist es [das Seiende] unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln, / ohne ein Beginnen, ohne ein Aufhören, da Entstehung und Untergang / in weiteste Ferne verstoßen worden sind; es verstieß sie nämlich die wahre Überzeugung«. 110

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die auf dem Hintergrund von Parmenides' Lehre absurd wirken müssen, etwa dass das Sein aus etwas bereits Existierendem entstanden sein könnte, »wird [. . . ] die Stärke der Überzeugung nicht zulassen«. 112 Somit sind Aussagen über das wahre Sein nicht mehr ausschließlich einem göttlichen Transzendentalbereich anhängig, sondern vornehmlich eine Frage der ihnen zukommenden Stärke (ἰσχύς). Diese Stärke generiert sich wiederum aus einem Zwischenbereich zwischen der Wahrheit (als göttlichem Medium) und den Meinungen (als menschlichem Medium). Die πίστις lässt sich somit nicht nur als Überzeugung, sondern – in unterschiedlichen Zuverlässigkeitsgraden – auch als Stärke auffassen. Der Bereich des Menschlichen gewinnt hierdurch fast beiläufig eine höhere Dignität im Vergleich zur hesiodeischen Vorlage. Hierzu stellt sich Parmenides' eigenes Lehrgedicht in einen Gegensatz: Da es nämlich ebendiese Überzeugungskraft dem eigenem Selbstverständnis nach natürlich besitzen muss, stelle es selbst eine »verlässliche Rede und [einen] Gedankeninhalt / bezogen auf die Wahrheit« 113 dar. Daher ist es die Überzeugungskraft, die zwischen den Meinungen und der Wahrheit zu vermitteln weiß. Die Erkenntnis des Wahren ist dadurch – im Umkehrschluss – nicht zuletzt immer auch mit einer gewissen Anstrengung verbunden. Auch in diesem Sinn ziehen die Stuten den Wagen des Sprechers »zum Licht hin«, 114 können dies aber nur »unter Anspannung« 115 vollführen. Die Transgression von einer Sphäre in die andere unterliegt hier also einem Paradigma, das sich nicht in seiner modallogischen Abstraktheit erschöpft, sondern seine poetische Gestalt durch Intensitätszuschreibungen erhält. Was im Vergleich zu Hesiod vielleicht am meisten überrascht: Es ist gar nicht die superiore Α ᾿ ληθείη, sondern mit der πίστις eine Art mediales Moment mit eigenem Bezug zu den in den inferioren Lebensbereichen der Menschen verorteten δόξαι, das solche Bewegungen freizusetzen vermag. Diese merkliche Neuordnung hergebrachter Topiken weist auf eine intellektualistisch, vielleicht sogar schon aufklärerisch zu nennende Emanzipation der Naturphilosophie von der Götterwelt eines Hesiod und Homer hin – und dies in einem Einschluss von Traditionsmustern aus Poesie und Mythos – auch wenn dieser Umstand bisweilen zu einer vordergründigen Beurteilung des Verhältnisses zwischen Naturphilosophie und Götterhimmel einladen mag:

Ebd., 12: »οὐδέ [. . . ] ἐφήσει πίστιος ἰσχύς«. Ebd., 50 f.: »πιστὸν λόγον ἠδὲ νόηµα / ἀµφὶς ἀληθείης«. 114 Ebd., B 1, 10: »εἰς φάος«. Die Vorstellung vom Licht, das durch Vernunft und Erkenntnis gleichermaßen strahlt, ist zu einem weit verbreiteten Bild im europäischen Rationalismus geworden; vgl. beispielsweise Descartes, Regulae ad directionem ingenii, Regula 2: »a sola rationis luce nascitur.« (»Sie [sc. die Erkenntnis] entsteht aus dem alleinigen Lichte der Vernunft.«). 115 Parm., DK 28 B 1, 5: »τιταίνουσαι«. 112

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Das Göttliche ist jetzt [zur Zeit des Wirkens Parmenides'; D. B.] nicht mehr selbständig, nicht mehr Subjekt oder Substanz, sondern Prädikat. Ob an die Götter des alten Glaubens trotzdem noch geglaubt wird, ist nicht entscheidend. Von Bedeutung ist nur, dass sie für die neuen Erklärungsversuche entbehrlich sind. 116

Mansfelds Abgesang auf die sogenannten »Götter des alten Glaubens« scheint einige Aspekte zu nivellieren und mitunter etwas weit zu gehen. Denn neben den herausgehobenen Rollen, welche die Pistis (πίστις) und die Dike¯ (∆ίκη) bei Parmenides spielen, 117 rekurriert auch Empedokles auf tradierte Göttergestalten wie Aphrodite¯, Ge¯thosyne, Philote¯s etc. 118 Eine Entbehrlichkeit ist hierin nicht zu erkennen und muss auch gar nicht angenommen werden. Unzweifelhaft hat sich jedoch bei Parmenides der Blick auf die Gottheiten gewandelt. Ihre Funktionalität für den menschlichen Wirkbereich wird im Vergleich zur früheren Dichtung deutlich mittelbarer gesehen. 119 So verweist Empedokles fast beiläufig darauf, dass die Sterblichen »sie [sc. die Götter] mit Beinamen belegen«, 120 eben um Weltzusammenhänge erklärbarer zu machen, sie jedoch vorzugsweise mit ihrem Verstand betrachten sollten. 121 Götterwelt Mansfeld (32008), 23. Der hohe Würdestatus beider Göttinnen sowie deren Anthropomorphie sind zudem bei Hesiod und Theognis belegt – vgl. die Rolle der Dike¯ als Tochter der Themis bei Hes., theog., 902 sowie Theogn., 1, 1137: »Πίστις, µεγάλη θεός« (»Pistis, eine große Göttin«). Selbst die genannte Stärke der Pistis lässt sich neben ihrer erkenntnistheoretischen Dimension umstandslos einer anthropomorphen Gottheit zuschreiben; vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »ἰσχύς«, 844: »might, power θεοῦ, θεῶν«. Auch hinsichtlich der Gestalt der Ale¯ theíe¯ – die bei Parmenides doch immerhin »ein unerschütterliches Herz« (Parm., DK 28 B 1, 29: »ἀτρεµὲς ἦτορ«) besitzt – darf man gerechtfertigt zur Ansicht Diels’ gegenüber derjenigen Schadewaldts neigen. Es handelt sich mehr um eine (allegorisierte) Göttin als um eine abstrakte Instanz. Eher wäre noch zu diskutieren, warum Diels und Kranz die Α ᾿ ληθείη groß schreiben, nicht jedoch die πίστις (beziehungsweise Πίστις). 118 Vgl. das Testimonium bei Simplikios in Phys., DK 31 B 17. Dies meint ausdrücklich nicht, dass Empedokles damit zuvorderst zu einem mythisierenden Geschichtenerzähler würde; keinesfalls erfüllen die uns überlieferten Fragmente die Funktion, bestimmte Mythen umfangreich aufzugreifen oder originell fortzuspinnen. Sehr wohl aber bedient sich Empedokles, wie vor ihm auch schon Parmenides, göttlicher Gestalten, ohne dabei eine Absage an numinose Wirksamkeiten auszudrücken oder überhaupt nur zu implizieren. 119 Auch in den Aussagen Demokrits zur Dichtkunst, die nicht selten als ekstatisch-irrationaler Gegenentwurf zu dem Modell voneinander getrennter Sphären eingeordnet werden, lässt sich die göttliche Vermittlung als Fluchtpunkt erkennen – namentlich in Aussagen, der Dichter dichte »mit Enthusiasmus und heiligem Hauch« (Demokr., DK 68 B 18: »µετ᾽ ἐνθουσιασµοῦ καὶ ἱεροῦ πνεύµατος«) und Homer habe »eine göttliche Natur erlangt« (Demokr., DK 68 B 21: »φύσεως λαχὼν θεαζούσης«). Hierbei handelt es sich um einen Begriffsbestand, der seine topische Wirkung auch für die kommenden Generationen an Philosophen und Literaten kaum verfehlt hat. 120 Simplikios in Phys., DK 31 B 17, 24: »καλεόντες ἐπώνυµον«. 121 Vgl. ebd., 21: »τὴν σὺ νόωι δέρκευ, µηδ᾽ ὄµµασιν ἧσο τεθηπώς« (»Schaue sie [die Philote¯ s] mit dem Verstande an, und sitze nicht da, während du sie mit den Augen anstarrst!«). 116 117

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und menschliche Erkenntnis gehen hier offensichtlich ein neues Verhältnis ein, wobei das Erkennen zur natürlichen Notwendigkeit erhoben wird. 122 Analog zur parmenideischen Pistis ist es hier der Nous (Νοῦς), der für die sichere Erkenntnis bürgt. Empedokles öffnet allerdings in der Eponymisierung der Philotes als Aphrodite beziehungsweise Gethosyne zugleich das ikonische Potential, das sie zwar nicht ›in Wahrheit‹, aber doch zumindest bei den Menschen genießt. Die Welt existiert immer vorrangig zur ihrer sprachlichen Entäußerung; wird sie nach bestimmten Parametern – ›poetischen‹, ›naturgemäßen‹, ›geschichtlichen‹ etc. – zur Darstellung gebracht, so geht sie zusehends Verbindlichkeiten in stofflich-formaler Verschränkung ein. Diese Verbindlichkeiten verschreiben sich bei den Vorsokratikern nicht mehr, wie in der früheren Epik, dem alleinigen Willen der Götter, sondern der Repräsentation der jeweils angenommenen Naturgesetze. 123 An die Seite von Stoff und Form tritt daher das Prinzip der Komposition. Es handelt sich hierbei um ein Darstellungsvermögen, das sich am menschlichen Erkennen orientiert, dieses als wahres Sein präsentiert und insofern eine vorwiegend intellektualistische Hinwendung 124 zur Welt ausdrückt. Hierin zeigt sich die Profession des philosophisch ambitionierten Dichters. Somit erweist sich das Walten der Götter fraglos auch in den Schranken der Naturgesetze, wird jedoch nicht mehr als die primäre Repräsentationsfunktion der Poesie gesehen. Bereits die beiden Eingangswörter »δίπλ᾽ ἐρέω« 125 des einleitenden Verses des umfangreichsten erhaltenen EmpedoklesFragments führen den substantiellen und zugleich formalen Zugriff vor, den der Sprecher kompositorisch für sich beansprucht: Er muss seinen Stoff in adäquater Weise 126 arrangieren, um die göttlichen Beziehungen sichtbar zu machen. 127 Die philosophische Zwischenstellung, die Empedokles – in AnIn merklichem Gegensatz zu Hesiod, wo die Naturnotwendigkeiten, wie sie sich etwa anhand der βίη (bíe¯ ) ausdrückten, nicht in der Kognition selbst lagen, sondern vielmehr Gegenstand des Erkennens selbst waren. 123 Hierzu können im Übrigen auch die metrischen Gesetze gezählt werden – die Frage hiernach wird noch besonders für die Gattungsdiskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts von Bedeutung sein. 124 In merklicher Abgrenzung zu Hesiods voluntaristisch eingestellten Musen und ihrem »εὖτ᾽ ἐθέλωµεν« (Hes., theog., 28). 125 Testimonium bei Simplikios in Phys., DK 31 B 17, 1: »Zweifaches werde ich verkünden«. 126 ›Adäquat‹ meint hier nicht nur eine bloße Berücksichtigung der Tradition, sondern ihren dezidierten Einschluss in ein Begehren nach Erneuerung. In diesem Sinn wird das Verhältnis zwischen Empedokles und seinem Lehrer Parmenides regelmäßig als illustres Beispiel dafür angeführt, wie sich ein Schüler die Lehre seines Vorbildes aneignet und diese zugleich umformt – eine Haltung, die ein Übereinführen von Epigonalität und Originalität fordert. In diesem Sinn nennt etwa Mansfeld Empedokles einen »originelle[n] Nachfolger des Parmenides« (Mansfeld [32007], 56). 127 Dem Vorrang, den eine numinosen Weltkonstitution noch vor dem Verkündungsgestus instanziell genießt, kommt hier keine ausführliche Beschreibung mehr zu. Er lässt sich allerdings 122

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schluss an seinen Vorgänger Parmenides – einnimmt, besteht darin, dass er die Beziehungen zu den Göttern in Form der Naturgesetzlichkeit wahrt, ohne sich zugleich allzu sehr von deren Willkür abhängig zu zeigen. Dies gilt umso mehr, insofern diese ihn – wie schon seinen Lehrer Parmenides – nicht mehr unmittelbar unterrichten. 128 Eine solche Haltung lässt darüber hinaus neue Rückschlüsse auf die mythologischen Bearbeitungsverfahren zu. In Anlehnung an die bereits angeführten Einlassungen Blumenbergs zum Kernbestand und zur Prägnanz von Mythen sei hier von einem formgebenden Potential gesprochen. Hierzu ist es, im Gegensatz zum Begriff des ›Kernbestands‹, nicht notwendig, auf Vorstellungen von Zentrum und Peripherie zu rekurrieren; 129 vielmehr ist hierbei – und dies in einer Linie zu Hesiod – an Äußerungsmöglichkeiten und damit an das Prinzip der Darstellbarkeit gedacht. 130 Dieses Repräsentationsprinzip enthält seinen eigenen philosophisch-poetischen Konnex gerade dadurch, dass seine Gegenstände die eigenen formalen Realisationsmöglichkeiten bereits als Transzendentalprinzip in sich tragen. Mit ›Kernbestand‹ ginge man eine gewisse Gefahr ein, den Aspekt einer Robustheit überzubetonen, die den Erzählgegenständen aus welchen Gründen und zu welchem Zeitpunkt auch immer zukomme. Insofern der Anspruch an die Divinität dichterischer Aussagen auch in den Textprodukten selbst unverbrüchlich und über die Tradition hinreichend gesichert erscheint, stellt sich im griechischen Denken profund selten die Frage, ob, sondern wie die numinose Wirklichkeit zur Darstellung kommt. Das modallogische Fundament europäischer Gattungspoetiken – welches in zurückgenommen – etwa in der syntagmatisch engen Voranstellung des Zweifachen (δίπλ[α]), welches den göttlichen Widerstreit zwischen Zuneigung (Φιλότης) und Abneigung (Νεῖκος) meint, vor dem Verkünden (ἐρέω) – erkennen: Zunächst muss derjenige Stoff vorhanden sein, von dem dann zu künden wäre. Auch der Tempusgebrauch mag hier ein weiteres Mal – es sei an Pindars »προφατεύσω« und an Homers »ἐρέω« (Hom., Il., 2, 493) erinnert – eine nicht ungefähre Rolle spielen. Ferner wird diese Programmatik durch eine Wiederholung des vollständigen Verses (vgl. das Testimonium bei Simplikios in Phys., DK 31 B 17, 16) ein weiteres Mal affirmiert. 128 Etwa in der Weise, wie die Musen »Hesiod einst schönen Gesang lehrten« (Hes., theog., 22: »ποθ᾽ ῾Ησίοδον καλὴν ἐδίδαξεν ἀοιδήν«). 129 Auf die Schwierigkeiten, die mit einer derartigen Sichtweise einhergehen, hat – am Beispiel des Prometheus-Mythos – unter anderem Röder hingewiesen, da »statt Sinngehalte zu erschließen, [. . . ] Abstufungen unterstellter Grundthematik festgesetzt« (Röder [1981], 12) würden. Das wichtigste graduelle Moment liegt indes, wie bereits aus der Entwicklung der Lehrdichtung ersichtlich wird, nicht so sehr in der bloßen Thematik als vielmehr in der Überzeugungskraft der Stoffe begründet. 130 Auch das Problem des Verhältnisses mythologischer Produktion und Rezeption – für dessen Beschreibung Blumenberg [62006], 327–358 einigen Aufwand betreibt – lässt sich im Potentialbegriff auflösen, da dieser sowohl bereitstellende (Zugriff gewährende) wie produktive (Entwicklung eines stofflichen Gehalts aus inneren Prinzipien heraus) Aspekte umfasst, die nicht wechselseitig begründet oder gar gegeneinander ausgespielt werden müssten.

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seiner elementaren Konfiguration besagt, dass sich manche Gattungen mit dem Wahren, andere nur mit dem Unwahren, andere wiederum nur mit dem Scheinhaften etc. auseinandersetzen – 131 erscheint erst über derartige Unterscheidungen begründbar. Die göttlichen Gesetze werden daher ebenso vorausgesetzt – bei unterschiedlicher Betonung ihrer Willkürlichkeit – wie die Mythentradition. Die formalen Ansprüche der Dichtkunst (Weltzugriff, Wahrheitsbezug, Entäußerung, Darstellung von Geschichten einer höheren Wirklichkeit etc.) liegen demnach nicht nur in einer abstrakten Form, sondern wiederum in einem stofflichen Prinzip, demjenigen von Mythos und dessen Tradierung, begründet. 132 Es lässt sich hierbei zusehends ein bestimmter Konsens beobachten: Die Sprecher- und Erzählerfiguren sind nicht darauf aus, jene Potentiale zu verinnerlichen oder gar mit ihrer eigenen Person zu identifizieren; daher wäre es verfehlt, im darstellerischen Gestus eine ingeniöse Aneignung zu sehen. Vielmehr bleiben die Diskrepanzen zwischen Dichterperson, sprachlichem Kunstwerk und göttlicher Wirklichkeit neben dem Mythos das wesentliche, vielleicht gar das einzige so nennbare Konstante poetischer Produktivität. Genau an diesem Punkt, der formalen Frage nach den Verhältnissen zwischen dichterischer Fertigkeit, poetischem Werk und den ontologischen Abstufungen der einzelnen Weltsphären setzen Platons Dichtungsverständnis und -kritik an.

3.b. Platons untechnische τέχνη

In Anknüpfung an die durch Parmenides vorgeprägte Bildtradition wird im siebten Buch der Politeia zunächst die Erkenntnis des ἀληθές einer ideellen Sphäre zugeschrieben. Sie wird mit derselben Lichtmetaphorik verknüpft, die in Parmenides' Lehrgedicht tragend war. 133 Wird hier vom ἀληθές beziehungsweise der ἀλήθεια gesprochen, so werden wirkliche Dinge im Sinne ihrer wahVgl. etwa Rhet. Her., 1, 8, 13. Porter stuft diese Prinzipien als einen neuralgischen Streitpunkt ein, der sich durch das gesamte ästhetische Denken der Griechen von der Archaik bis in die Kaiserzeit hindurch beobachten lasse. Deren Klassifizierung als Formalismus (›formalism‹) und Materialismus (›materialism‹) – vgl. Porter (2010), 70 f. – soll hier nicht verwendet werden, da sie eine ausgearbeitete, auf einer Philosophenschule beruhende Axiomatik nahelegen könnten. Es darf für unsere Zwecke vielmehr genügen, hier von verschiedenen Zugriffsarten zu sprechen. 133 Vgl. etwa Plat., Pol., 7, 518a2 f.: »ἔκ τε φωτὸς εἰς σκότος [. . . ] καὶ ἐκ σκότους εἰς φῶς« (»[Übergang] vom Licht zur Dunkelheit [. . . ] und von der Dunkelheit zum Licht.«) In ähnlicher Weise verwendet auch Aristoteles dieses Bild bei der Bestimmung des aktiven Verstandes (νοῦς ποιητικός), der »wie das Licht« (Aristot., an., 3, 6, 430a15: »οἷον τὸ φῶς«) aus Erkenntnispotentialen Erkenntnisinhalte mache. 131

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ren Existenz, als die vielbenannten »Ideen«, 134 prädiziert. Wer die materiellen Abbilder dieser Ideen für wahr hält, also »solche Leute [, die] wohl nicht irgendetwas anderes für wahr halten als die Schatten der Geräte«, 135 unterliegt daher einer Täuschung. Dass die Schau einer wahren Wirklichkeit nicht in den Sachphänomenen selbst liegt, lässt sich noch konsistent in der Tradition lesen, die wir bereits in der didaktischen Versepik angelegt fanden. Die Wirklichkeit im Sinne Platons ist jedoch innerhalb ihrer einzelnen Sphären noch weitaus subtiler strukturiert, als es die vorgängige Naturphilosophie für sich beanspruchen konnte – mit einigen Folgen für die Kunsttheorie: So nimmt im numinosen Bereich »die Idee des Guten« 136 nochmals eine exponierte Stellung ein; sie ist einerseits formierende Instanz weiterer Ideen, 137 fungiert als solche jedoch auch bereits in den weltlichen Sphären, insofern sie uns »als Herrscherin Wahrheit und verständige Einsicht darreicht.« 138 Das erkenntnisstiftende Licht werde von der Sonne – als der stellvertretenden Ikone für die Idee des Guten – geradewegs auf die Welt gebracht. 139 Daher komme es nun ganz besonders auf »die Kraft der Sonne« 140 an, um Wahrheit und Wissen bis in die inferioren ontischen Ebenen freizusetzen. Der Sonne kommt hier also das zweifache Vermögen zu, zunächst das Gute freizusetzen und darüber hinaus die Erkenntnis des selbigen zu stiften. Es geht also keineswegs um eine bloße Mustergültigkeit, die einer ewigen Idee hier zukommen mag, sondern auch um das Vermögen, diejenigen Kräfte freizusetzen, die zu ihrer eigenen Erkenntnis taugen. 141 Hierbei sind 134 Hier herrscht, mit Blick auf die Verwendungsweise, keine einheitliche Terminologie vor. Was im Deutschen einigermaßen indifferent mit ›Idee‹ wiedergegeben wird, wird von Platon je nach Kontext mit Bedeutungsnuancen versehen. Es werden neben ἰδέα auch das εἶδος oder – noch in anderer Bedeutung als später bei Aristoteles – τὸ καθ᾽ αὑτό (›Das sich selbst Entsprechende‹) aufgerufen. Da hier nicht der Ort ist, den kaum noch überschaubaren Explikationen der platonischen Ideenlehre, insbesondere des Höhlengleichnisses, eine weitere hinzuzufügen, sei auf die umfassenden Standardwerke von Ross (1951), Patterson (1985) und Eming (1993) hingewiesen. 135 Plat., Pol., 7, 515c1 f.: »τοιοῦτοι οὐκ ἂν ἄλλο τι νοµίζοιεν τὸ ἀληθὲς ἢ τὰς τῶν σκευαστῶν σκιάς«. 136 Ebd., 7, 517b8 f.: »ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα«. 137 Am prominentesten wohl in ihrer substantiellen Verschränkung mit dem Schönen (καλὸν κἀγαθόν, καλοκἀγαθία); vgl. zu diesem Konzept, das Gutes und Schönes bald miteinander engführt, bald miteinander identifiziert, umfassend Bourriot (1995) und Wankel (1979). 138 Plat., Pol., 7, 517c4: »κυρία ἀλήθειαν καὶ νοῦν παρασχοµένη«. 139 Vgl. ebd., 517c3: »τεκοῦσα«. Es handelt sich bei diesem Geburtstopos um einen aus den Sukzessionsmythologien bekannten Bildbestand. Zur generellen Adaptation vorsokratischer Konzepte bei Platon – die sich als ein eigenes Forschungsfeld bezeichnen lässt – vgl. in jüngerer Zeit ausführlich und umfassend Rodziewicz (2012). 140 Plat., Pol., 7, 517b3 f.: »τῇ τοῦ ἡλίου δυνάµει«. 141 Es handelt sich somit um eine Koinzidenz von Ursache und Ursprung (bezogen auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen); vgl. zu diesem Komplex auch Schottlaender (1988), 7: »Wenn wir das Licht erblicken, so reproduziert es sich in uns. Die Sonne ist nicht nur der Verursachungs-,

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durchaus auch Bereiche mit einzubeziehen, die profaner als die göttliche Ideenwelt anmuten. Während sich die reine Wahrheitsschau bei Platon zweifellos auf die oberen Erkenntnissphären konzentriert, ist die Einsicht (νοῦς) als ein Verstandesvermögen aufzufassen, das sich auch mit dem Erfassen der niederen Dinge beschäftigen kann. 142 Neben seiner ontisch-strukturierenden Funktion stiftet das Gute daher in gleichem Maße das Urteilsvermögen über die Dinge in der phänomenalen Wirklichkeit; es ließe sich auch sagen, ohne die Strahlkraft des Guten wären diese gar nicht erst ›phänomenal‹ – ›in Erscheinung tretend‹ – zu nennen. Aus dieser Übereinstimmung von Erkennbarem 143 und Gutem folgt, dass ontologische Urteile bei Platon in Einklang mit Werturteilen gesetzt werden können. Noch wichtiger ist indes, dass sich in der Beziehung zwischen den Werturteilen und den materiellen Gegenständen Wahrnehmung und Erkenntnis auf psychologischer Ebene verbinden. Es wird eine regelrechte psychologische Taxonomie erzeugt; denn die menschliche Seele wird durch das sinnliche Erfassen von Erscheinungen bisweilen ästhetisch 144 und kognitiv zugleich herausgefordert – ein Moment, das für Platons dualistische Ideenlehre eine weitere Differenzierung erfordert: Gegenstände, die paradoxe Eindrücke hervorrufen, werden – was als ein merklicher Schritt hin zu einer ›ästhetisch‹, mithin ›psychologisch‹ zu nennenden Kunsttheorie erscheint – als elementarer Anstoß für die oberen Seelenregionen eingeschätzt: δείκνυµι δή, εἶπον, εἰ καθορᾷς, τὰ µὲν ἐν ταῖς αἰσθήσεσιν οὐ παρακαλοῦντα τὴν νόησιν εἰς ἐπίσκεψιν, ὡς ἱκανῶς ὑπὸ τῆς αἰσθήσεως κρινόµενα, τὰ δὲ παντάπασι διακελευόµενα ἐκείνην ἐπισκέψασθαι, ὡς τῆς αἰσθήσεως οὐδὲν ὑγιὲς ποιούσης. 145

sondern zudem auch der Ursprungsort unseres Sehens, soweit es einen äußeren Ursprung hat. Im visuellen Geschehen ist die Lichtausstrahlung der Lichtquelle nicht nur Anfangsglied einer Folgenreihe, sondern auch Grund eines qualitativen Gleichbleibens, nämlich Grund dafür, daß die Lichtqualität der Lichtquelle im Leuchten des beleuchteten Bildes erhalten bleibt«. 142 Hierbei handelt es sich um eine ihrer wichtigsten Funktionen im Rahmen der platonischen Philosophie; vgl. umfassend hierzu Jäger (1967). 143 Wohlgemerkt, von Erkennbarem, nicht von der Erkenntnis selbst. Die Erkenntnis wird vom Guten gestiftet, so wie die Sonne das Licht stiftet, das zu ihrer eigenen Wahrnehmung benötigt wird. Nicht jedoch wird dadurch die Erkenntnis des Guten zum Guten schlechthin erhoben; vgl. hierzu auch Lefebvre (2018), 267 f. 144 Im wörtlich präzisen – und in der Antike vorherrschenden – Sinn als Tätigkeit des Wahrnehmungsapparats (αἰσθάνεσθαι) aufzufassen. 145 Plat., Pol., 7, 523a10–b4: »Ich weise nun, sagte ich, wenn du mir folgst, einerseits auf die Dinge in den Wahrnehmungen hin, welche die Denkkraft nicht zum Nachdenken anregen, da sie durch die Wahrnehmung hinreichend unterschieden sind, und andererseits auf die Dinge [sc. in den Wahrnehmungen] hin, die jene zum Nachdenken ausdrücklich auffordern, da die Wahrnehmung nichts Klares hervorbringt«.

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Hier werden einige wichtige Grundaspekte zur platonischen Ästhetik dargelegt, und dies in beträchtlicher Präzision. Denn im Sinne des hier vorgebrachten Klarheitskriteriums (ὑγιές) sei etwa die Wahrnehmung eines Fingers zunächst für den Verstand unproblematisch, insofern der Finger als Finger mit jedem anderen Finger wesensgleich ist. Seine physischen Teilmerkmale lassen sich gleichwohl nach verschiedenen Kategorien bemessen, da er hinsichtlich Größe, Wärme, Härte etc. der Wahrnehmung jeweils unterschiedliche Informationen liefern kann; kurz: »Die einen [sc. Wahrnehmungen] rufen das Denken auf, die anderen nicht.« 146 In diesen Zuschreibungen gründet sich ein Moment, das die Ästhetik erstmals mit einem zweifachen, teils einem nur über die oberen Seelenvermögen gangbaren, teils einem auf die bloßen Wahrnehmungen reduzierten Anspruch versieht: Unterschiede in der αἴσθησις lassen sich nach Platon nur mithilfe des Verstandes lösen, denn Prädikationsurteile wie ›Der Finger ist warm‹ sind nur über vorausgesetzte Oppositionen wie warm / kalt, groß/klein, hart / weich etc. zu gewinnen. Diese binären Gegensätze erfordern eine geistige Vorkonzeptualisierung. Wesenheit (›Finger‹) und Beschaffenheit (›Weichheit‹) sind demnach zwar derselben intelligiblen Sphäre zugehörig und können durchaus beide als ›Ideen‹ gelten, werden jedoch erst je nach Erfordernis der ästhetischen Urteilsbildung relevant. Zudem kommt es vor, dass die Wahrnehmungen unklar sind und erst durch den Verstand voneinander separiert werden müssen. Der Gedanke, dass Differenzziehungen in der sinnlichen Wahrnehmung (ὑπὸ τῆς αἰσθήσεως κρινόµενα) auch zu unterschiedlicher Stimulation der Denkkraft (νόησις) 147 beitragen, lässt sich in der Vorsokratik nicht nachweisen. 148 Die in der frühneuzeitlichen ars aesthetica diskutierte Unterscheidung zwischen distinkten (distincta, clara) und verworrenen (confusa) Erkenntnissen, Wahrnehmungen und Vorstellungen scheint hier – lange vor Descartes und Leibniz – 149 ihren Archegeten zu haben. Zudem findet hier Ebd., 7, 524d2 f.: »τὰ µὲν παρακλητικὰ τῆς διανοίας ἐστί, τὰ δὲ οὔ«. Zur Wortsemantik, die auf Kraft und Bewegung rekurrierende Momente enthält, vgl. Menge 24 ( 1981), s. v. »νόησις«, 472: »Denkkraft« sowie Liddell / Scott (91982), s. v. »νόησις«, 1246: »processes of thought«. 148 Vielmehr hatten wir in Kapitel II .3.a die Trennung der einzelnen Sphären in Elementar- und Kognitionssphäre als Bedingung für den Übertritt über eine mythische Schwelle verstanden, als einen Topos, der bereits bei Hesiod zur Inspiration und damit zur Verkündung der Wahrheit führte. Die Substanz der materiellen Welt hatte aber dort – wie auch bei Parmenides – praktisch keinen Einfluss auf die Betätigung der verständigen Vermögen. Zwar wurde Parmenides’ Pistis eindeutig als eine Größe bestimmt, die mit unterschiedlichem Grade an Kraft waltet; sie bewegte sich dabei aber ausschließlich im Bereich der Erkenntnis, demjenigen des Intelligiblen und Plausiblen. 149 Vgl. zunächst Descartes’ clare et distincte percipere als sicheres Kriterium der Erkenntnis: »Und daher meine ich, es bereits als allgemeine Regel aufstellen zu können, dass all dasjenige wahr ist, was ich sehr klar und deutlich erfasse.« (Descartes, Meditationes, Med. III, 35: »ac proinde iam videor pro regula generali posse statuere illud omne esse verum, Quod valde clare et distincte 146

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die Vorstellung einer hierarchisch aufgebauten Seelenarchitektur ihren wirkmächtigen Niederschlag, namentlich über das konstitutive Gegensatzpaar von νόησις und αἴσθησις. Die Wechselbeziehung zwischen phänomenaler Wirklichkeits- und abstrakter Wahrheitsschau ist maßgeblich; 150 der Schritt zu einer sinnlichen Erkenntnis, wie sie der Ästhetik spätestens mit Baumgarten vorschweben wird, kann hier nicht vollzogen werden, gerade weil die niederen Seelenteile darauf angewiesen sind, dass ihnen der Verstand bei der Urteilsbildung hilft. Die Verortung der Sinnlichkeit prädizierenden Ausdrücke weist eine zweifache Ausrichtung auf, einerseits eine Ausrichtung auf die Wirklichkeit, andererseits auf die Seelenvermögen selbst: Die oben genannten Widerspruchspaare ›warm / kalt‹, ›hart / weich‹ etc. sind als Ideen zwar der numinosen, ›hinter‹ der Ebene der Phänomene stehenden Sphäre zuordenbar; ihre Erkenntnisinhalte bilden jedoch nicht das wahrhafte, erste Sein (πρώτη οὐσία) des entsprechenden Gegenstandes ab; denn die Wahrhaftigkeit im Sinne Platons muss zweifellos im Wesen eines Gegenstandes bestehen, und ein Wesen kann schwerlich von inneren Widersprüchen bestimmt sein. Nicht anders verhalten sich ästhetische Urteilskategorien, indem sie Zuschreibungen enthalten, die skalierbar sind (›weich‹ vs. ›hart‹). Das Erkenntnisobjekt ist als Objekt weder skaliernoch intensivierbar. Die ästhetische Realisationskraft liegt daher, in Abgrenzung zur ideellen Realisationskraft, vollständig im körperlichen Bereich, also in der Haptik, Optik, Akustik etc. vor. Das Gute stiftet zwar in persistenter Weise das Urteilsvermögen hinsichtlich einer verstandesgemäßen Bewertung der jeweiligen Gegenstände; daraus folgt jedoch keinesfalls, dass der Verstand fortwährend zur Beurteilung einer rein ›ästhetischen‹ Anschauung herangezogen werden müsste. Er behält sich diese Beurteilung gleichsam vor. Somit ist das Urteilsvermögen über die phänomenal sichtbare Welt von einem sich wechselseitig bedingenden Beziehungsgefüge bestimmt. Dieses Gefüge wurde in der vorsokratischen Naturphilosophie noch zwischen Mensch und Gott situiert, bei Platon wird es indes vollständig in den Bereich zwischen Wahrnehmung und Intellekt, mithin auf den Menschen selbst verschoben. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Wertigkeit von Kunstprodukten ist deren ontologischer Status im Rahmen einer Seinsschau zu berücksichtigen: Gegenüber den Korporalsubstanzen wird durch die hohe Dignität, die der ideellen Betrachtung des Seins (οὐσία) zukommt, überhaupt erst jegliche percipio.«) Zur leibnizschen Bewertung einer solchen Kognitionsästhetik vgl. exemplarisch die Behandlung der perception claire und des sentiment confus bei Leibniz, Discours de Métaphysique, § 33. 150 Eben darum können, wie mehrfach gesehen, auch die Wahrnehmungen den Verstand ausdrücklich zum Nachdenken ›auffordern‹ (›παρακαλοῦντα‹, ›διακελευόµενα‹, ›παρακλητικὰ‹).

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wissenschaftliche Beschäftigung begründet. Auffälligerweise wird hierfür ausgerechnet die Geometrie, also eine Wissenschaft die sich mit Figuren beschäftigt und daher ihrer eigenen Repräsentationskraft nach ›körpernah‹ anmutet, als Beispiel herangezogen: »Sie [die Geometrie] ist dann brauchbar, wenn sie zur Schau des Seins zwingt«. 151 Strebte sie, so ließe sich ergänzen, in die entgegengesetzte Richtung, also diejenige der sinnlichen Kräfte, so wäre sie Mechanik. 152 Das von Platon herangezogene Kriterium der Schau des Seins, das auch Aristoteles in der Metaphysik noch programmatisch und in direkter begrifflicher Anlehnung an Platon aufgreifen wird, 153 trennt dabei zwar in durchaus vergleichbarer Weise zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, wie wir es aus der physiologischen Tradition kennen; jedoch geht es hierbei nun weder um die Sublimierung eines Wahren (ἀληθές) noch um dessen Verhältnis zur Überzeugungskraft (πίστις), sondern um dessen Wirklichkeitsgrad, 154 wie er sich sukzessive von der intelligiblen hinab zur körperlichen Welt zu hypostasieren vermag. Es rücken daher, ausgeführt an den Beispielen von Liege (κλίνη) und Tisch (τράπεζα), drei Seinsarten in der Spanne von Wahrnehmung (αἴσθησις) und Denkkraft (νόησις) in den Blick: zum einen die »in der Natur seiende«, 155 die mit der idealischen Wesenheit vollständig identifizierbar ist, dann die Gegenstände der phänomenalen Welt – hierzu zählen »nicht nur alle Geräte [. . . ], sondern auch alles, was aus der Erde wächst« – 156 und schließlich die fingierten »Scheinbilder, jedoch nicht die in Wahrheit seienden Dinge«. 157 Die Gegenstände, seien sie künstlerischer oder naturwüchsiger Provenienz, sind uns daher durch das ὄν beziehungsweise die οὐσία immer wieder von Neuem in unterscheidbarer Wirklichkeit gegeben; die Möglichkeiten ihrer Entäußerung weisen sich – in Analogie zu den oben beschriebenen Seelenteilen – mithin als ontisch-graduelle aus. Diese Gliederung selbst bildet nun den Hintergrund, vor dem menschliche Kunstprodukte (ἔργα) und -fertigkeiten (τέχναι) in ihren Vermögensweisen einzuordnen sind. Es stellt sich indes – und dies ein weiteres Mal im Anschluss an die Gemeinplätze der naturphilosophischen Tradition – die Frage, was den Techniken und den Artefakten naturgemäß zukommen

Plat., Pol., 7, 526e6: »εἰ µὲν οὐσίαν ἀναγκάζει θεάσασθαι, προσήκει«. Vgl. hierzu auch Krafft (1970). 153 Vgl. Aristot., metaph., 12, 1, 1069a18: »Περὶ τῆς οὐσίας ἡ θεωρία.« (»Vom wahrhaften Sein [handelt] die Betrachtung.«). 154 Vgl. Menge (241981), s. v. »οὐσία«, 507: »wahrhaftes Sein«, »Wirklichkeit«. Liddell / Scott 9 ( 1982), s. v. »οὐσία«, 1274 führen hierzu »substantiality« an. 155 Plat., Pol., 10, 597b6: »ἐν τῇ φύσει οὖσα«. 156 Ebd., 10, 596c5 f.: »οὐ µόνον πάντα [. . . ] σκεύη [. . . ], ἀλλὰ καὶ τὰ ἐκ τῆς γῆς φυόµενα ἅπαντα«. 157 Ebd., 10, 596e4: »φαινόµενα, οὐ µέντοι ὄντα γέ που τῇ ἀληθείᾳ«. 151

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muss, um überhaupt jene Beziehungen zur Wahrheit und zur Wirklichkeit einzugehen. Was an Platons Behandlung der τέχνη auffällt: Nach seiner Auffassung nehmen die Werke der Menschen in der skizzierten Hierarchie zunächst gar keinen von den Naturerzeugnissen geschiedenen Rang ein. Auf der ›mittleren‹ – das heißt der sich zwischen den numinosen Ideen und den Produkten der Dichter bewegenden – macht es offenkundig keinen großen Unterschied, ob ein Tischler einen Tisch verfertigt oder ob ein Baum aus der Erde wächst. Denn beide sind in gleicher Weise von der Teilhabe (µέθηξις) an den Ideen bestimmt – unabhängig davon, ob ihre Produktionsbedingungen von natürlicher oder von künstlerisch-technischer Art sind. 158 Die im griechischen Denken schon so häufig vorgefundene Haltung, keinen genuinen Unterschied zwischen Natur und Kultur anzusetzen, sondern beide in größtmöglicher Übereinstimmung zu behandeln, erscheint auch auf dieser Beschreibungsebene platonischer Seinslehre ganz stabil. Ausgerechnet die Dichtkunst selbst bildet innerhalb dieses Rahmens nun allerdings für Platon den problematischsten Fall: Sie habe ausschließlich an den Dingen der mittleren Seinsstufe Anteil, indem sie diese fingiere / nachahme (µιµεῖσθαι). Hierbei handelt es sich nicht einmal mehr um eine µέθηξις im eigentümlichen platonischen Sinne. 159 Vielmehr ist sie ihrer ontologischen Entsprechung nach noch niedriger einzustufen, der Dichter nach platonischer Lehre also nichts anderes als »irgendein Dritter von der Wahrheit her gesehen«. 160 Insofern sich die Dichtkunst zwei ontologische Schritte von der Wahrheit entfernt, entfernt sie sich mit derselben Selbstverständlichkeit auch »von der Natur« 161 selbst. Eine solche Natur meint daher nicht eine wie auch immer geartete innere Disposition, sondern die höchste extrinsische, 162 der Phänomenwelt entrückte Seinsart. Diesem Schluss liegen in der Politeia drei Argumentationsschritte zugrunde: Zunächst wird über das Analogon des Handwerkers (δηµιουργός) das Verhältnis von phänomenaler Gegenständlichkeit und Ideenhaftigkeit beschrieben, insofern ein Handwerker zu einem Vgl. die Einlassungen bei Plat., Pol., 10, 597a1–e8. Zu den Prädikaten, die der platonischen µέθηξις im Einzelnen zukommen, vgl. ausführlich Meinhardt (1968). 160 Plat., Pol., 10, 597e7: »τρίτος τις ἀπὸ [. . . ] τῆς ἀληθείας πεφυκώς«. Hier tritt mit dem in seiner Wortwurzel ›φυ‹ auf die φύσις verweisenden Partizip »πεφυκώς« ein indirektes Naturargument bei der Bestimmung des Dichters auf; vgl. auch die vorangehende Verwendung des Verbums φύειν ebd., 10, 597c4 f. 161 Ebd., 10, 597e3 f.: »ἀπὸ τῆς φύσεως«. 162 Auch das Höhlengleichnis selbst operiert mit solchen Paradigmen, die eine äußere Lokalisation festsetzen. Denn das für die Erkenntnis maßgebliche Bild ist dasjenige eines Feuerlichts, welches »von oben und von ferne hinter ihnen [sc. den Menschen in der Höhle] brennt« (ebd., 7, 514b2 f.: »ἄνωθεν καὶ πόρρωθεν καόµενον ὄπισθεν αὐτῶν«). 158 159

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Schöpfer (ποιητής) von Artefakten wird, die an den Ideen Anteil haben. Diese Gegenstände weisen demnach einen noch recht hohen Wirklichkeitsgrad hinsichtlich des Wahren (ἀληθές) auf. Im Gegensatz zu dieser Art eines ποιητής bringe der Dichter nun Gegenstände als »Scheinbilder, nicht jedoch die in Wahrheit seienden Dinge« 163 hervor, so dass sich drei hierarchisch getrennte Arten von Schöpfern (ποιηταί) entsprechend der Nähe ihrer Artefakte zum wahren Sein, das heißt aus der Perspektive der ersten οὐσία, ergeben: (1) Gott als ποιητής der wahren Ideen, die ontologisch mit der ersten οὐσία in eins fallen (2) der Handwerker als ποιητής der an der ersten οὐσία orientierten Gegenstände (3) der Maler als fingierender / nachahmender ποιητής (= ›µιµητής‹) 164 Die ontischen Stufen bezeichnen, wie gesehen, zugleich unterschiedliche Wahrnehmungsgrade. Platon kommt somit, auf der Folie einer kognitiv-sinnlichen Ästhetik, zu neuen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Möglichkeiten der Dichtkunst sowie des ontologischen Status poetischer Erzeugnisse. Dadurch, dass alle Künstler lediglich eine Mimesis derjenigen Gegenstände betreiben, die selbst wiederum Scheinbilder (εἴδωλα) sind, sind ihre Erzeugnisse erst recht »entfernt vom Seienden.« 165 Sie weisen also eine größtmögliche Distanz zur wahren οὐσία auf. Mehr noch, während der Handwerker zwar keine Ideenschau, keine θεωρία τῆς οὐσίας wie der Philosoph betreibt, aber doch zumindest in den Dingen kompetent ist, die er hervorbringt, indem er durch sein Geschick und den Gebrauch dieses Geschicks einen Anteil an den Ideen erwirbt, sind die Mimeten nicht einmal zwingend in den Dingen kompetent, die sie zur Darstellung bringen. Hieraus ergibt sich als dritter Typus die τέχνη µιµησοµένη (»Kunst, die fingieren / nachahmen wird«), in Abgrenzung zur τέχνη χρησοµένη (»Kunst, die Gebrauch machen wird«) und zur τέχνη ποιήσουσα (»Kunst, die hervorbringen wird.«). 166 Handwerker können daher an der ideellen Wahrheit, Dichter jedoch ›nur noch‹ an der Wirklichkeit partizipieren. Was Platon unter einer solchen Teilhabe verstanden wissen will, wird im Folgenden klar. Ebd., 10, 596e4: »φαινόµενα, οὐ µέντοι ὄντα γέ που τῇ ἀληθείᾳ«. Vgl. ebd., 10, 597e2. Die epochemachende Übersetzung Schleiermachers spricht von einem »Werkbildner« (ποιητής) und einem »Nachbildner« (µιµητής) – vgl. Hülser (1991), 725. Zu den Problemen, die der Begriff der Nachahmung hier aufwirft, vgl. allgemein Büttner (2004) sowie konzise Petersen (2000), 19–35 und Halliwell (2002), 37–148. 165 Plat., Pol., 10, 599a1: »ἀπέχοντα τοῦ ὄντος«. Der hier gewählte Ausdruck »ὄντος« ist auf das Engste mit der platonischen Transzendentalvorstellung einer wahren οὐσία verbunden. Mit zu berücksichtigen ist hierbei die ähnliche grammatische Genese der beiden Formen als Nominalderivat (οὐσία) sowie als Partizip (ὄν) zu »εἶναι« (»sein«). 166 Vgl. ebd., 10, 601d1 f. 163

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Es handelt sich um ein Verhaftetsein (ἅπτεσθαι), das sich hier im Sinne einer produktiven Aneignung verstehen lässt; und da poetischen Kunstwerken eine solch hohe Verhaftung ontologisch abgeht, ist im selben Zuge auch das Urteil über die Dichter rasch gefällt: οὐκοῦν τιθῶµεν ἀπὸ ῾Οµήρου ἀρξαµένους πάντας τοὺς ποιητικοὺς µιµητὰς εἰδώλων ἀρετῆς εἶναι καὶ τῶν ἄλλων περὶ ὧν ποιοῦσιν, τῆς δὲ ἀληθείας οὐχ ἅπτεσθαι, ἀλλ᾽ ὥσπερ νῦν δὴ ἐλέγοµεν, ὁ ζωγράφος σκυπτοτόµον ποιήσει δοκοῦντα εἶναι, αὐτός τε οὐκ ἐπαΐων περὶ σκυπτοτοµίας καὶ τοῖς µὴ ἐπαΐουσιν, ἐκ τῶν χρωµάτων δὲ καὶ σχηµάτων θεωροῦσιν; πάνυ µὲν οὖν. 167

Die τέχνη ποιητική – so die durchaus polemisch getragene Einlassung Platons – stellt also gar nicht die Profession eines ποιητής dar, sondern diejenige eines µιµητής. Diese recht verblüffende und folglich in der europäischen Geschichte vieldiskutierte Suspendierung der Künstler kann nur auf Grundlage eines Mimesis-Begriffs gelingen, der auf die Vorstellung einer unvollkommenen, weil dem Schein verhafteten Wirklichkeit rekurriert – ungeachtet des späteren Streitfalls, ob es sich dabei nun eher um ein darstellendes oder um ein nachahmendes Verfahren handelt. Sie wird dabei in einer analogen Entsprechungsrichtung zur Rangfolge der Seelenvermögen gedacht. Denn es kommen nun die Affekte unweigerlich ins Spiel: Die τέχνη µιµησοµένη bringt Artefakte hervor, die nicht diejenigen Seelenteile affizieren, die sich auf »Maß und vernünftige Erwägung« 168 gründen, sondern diese – so Platons wenig zurückhaltender Ausdruck – geradewegs »vernichten« 169 wollen, indem sie erwünschtermaßen zu Leidenschaften antreiben: »Wir loben denjenigen als guten Dichter, der uns so am meisten erregt«. 170 Ebenso wie bei der ontologischen Einstufung der Dichtkunst werden auch hier Werturteile eingebracht, die zugleich einen Seinsstatus markieren. Es scheint, dass dieser Anspruch – der nicht an die im Sonnengleichnis beschriebene Kraft heranreichen kann – 171 für 167 Ebd., 10, 600e4–601a3: »Wollen wir also festsetzen, dass – von Homer angefangen – alle Dichter nur Nachbildner von Abbildern der Tugend sind sowie der anderen Dinge, worüber sie dichten, dass sie aber die Wahrheit gar nicht berühren; vielmehr wie wir gerade bereits sagten: der Maler wird jemanden schaffen, der einem Schuhmacher gleicht, ohne selbst etwas von der Schusterei zu verstehen und zwar für diejenigen, die nichts davon verstehen und nur aus den Farben und Umrissen heraus auf sie blicken? – Ganz genau«. 168 Ebd., 10, 603a4: »µέτρῳ γε καὶ λογισµῷ«. 169 Ebd., 10, 605b4: »ἀπόλλυσι«. 170 Ebd., 10, 605d4 f.: »ἐπαινοῦµεν ὡς ἀγαθὸν ποιητὴν, ὃς ἂν ἡµᾶς ὅτι µάλιστα οὕτω διαθῇ«. 171 Vgl. hierzu auch Hauskeller (1998), 13 f.: »In der Kunst erhält das Sinnliche und seine Schönheit einen Rang, der ihm nicht zusteht. Darüber hinaus ist es zumeist das Ziel der Kunst, die

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Platon in einem grundsätzlichen Sinn nicht hintergehbar ist. Somit bringt die hier mit einer hierarchischen Seinslehre verbundene (Proto-)Ästhetik 172 auch eine mehrfache Taxierung der τέχνη selbst hervor; jede der angeführten Berufsgruppen, sofern sie es sich nur zum Ziel setzt, Artefakte hervorzubringen, scheint hier einer gleichermaßen durch die Seinsgrade wie auch durch die seelentopologischen Stadien bewertbaren Kunstfertigkeit zuordenbar. Erstaunlich ist neben der genannten Geringschätzung der Dichtkunst die Vielzahl an Möglichkeiten, die der τέχνη zugeschrieben werden – und die wie alles andere als eine Herabstufung anmuten. Denn die τέχνη wird bisweilen als produktive, als pragmatische, als nachahmende, als fingierende oder als täuschende vorgestellt. Es liegt nahe, diese Unterschiedlichkeit nicht allein im Rahmen der platonischen Seinslehre erklärbar zu machen, sondern auch über die sophistischen Aufklärungsdiskurse zu kontextualisieren. Denn nicht nur die im Bereich der Philosophie und Metaphysik sowie im Zuge des Aufstiegs der Akademie reüssierenden Denkrichtungen, sondern auch die allgemein konstatierbaren sozialgeschichtlichen Umbrüche haben zur Entwicklung der entsprechenden begrifflichen und konzeptuellen Nuancen beigetragen. Sowohl die platonischen Ontologeme wie auch diejenigen der aristotelischen Philosophie sind – bei aller Selbständigkeit, die beiden zweifellos zukommt – in ihren Ausprägungen nicht ohne diese Einflüsse zu denken. Daher gilt es, die Sophistik wenigstens in ihren Grundausrichtungen mit einzubeziehen. Im Folgenden werden einige zentrale Bedeutungsaspekte der sophistischen Fertigkeitsvorstellungen mit Blick auf das fünfte und vierte vorchristliche Jahrhundert dargelegt.

3.c. Die Rolle der Sophistik

Es kann zu den weiter verbreiteten Geschichtsbildern gezählt werden, dass in dieser Zeit entscheidende Umbrüche im Bereich der Politik, der Philosophie und der Kunst stattfinden, da es in nahezu allen Bereichen der griechischen Kultur zu wesentlichen Neubestimmungen hergebrachter Bedeutungs- und Bewertungsmuster kommt. Diese Umwälzungen betreffen die politisch-kulturellen Institutionen ebenso wie den gesellschaftlichen Status künstlerischer FaSinne und Leidenschaften des Betrachters oder Zuhörers zu erregen, und das heißt, die Herrschaft der Vernunft zu unterwandern und so die rechte Ordnung der Seele zu zerstören. Da in dieser Ordnung aber die Schönheit der Seele besteht, vernichtet die Kunst paradoxerweise gerade durch ihre übergroße Schönheit eine andere, höhere Schönheit. Wenn die Kunst überhaupt irgendeine Berechtigung haben soll, muß sie sich in den Dienst des Guten stellen lassen«. 172 Die Aisthesis ist demzufolge in einer Philosophie eingeschlossen, die noetische und ideelle Größen als eigentlich existierende Entitäten annimmt.

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brikate. Als Phänomen und zugleich Triebfeder dieser Neujustierungen gilt die attische Polis-Kultur. Im Zuge der stadtstaatlichen Demokratisierungsprozesse und durch die Erfolge attischer Institutionen wie Gericht, Volksversammlung und eben auch des Theaters werden die Grundsätze und Praktiken der hergebrachten Aristokratie, wie etwa das Blutrecht oder die Vererbbarkeit sozialer Eigenschaften, teils in bis dahin nicht gekannter Weise in Frage gestellt, modifiziert, teils auch zugunsten neuer soziopolitischer Maßstäbe überwunden. 173 Daher scheint auch das Gros der geistesgeschichtlichen Erklärungsmodelle häufig in ebendiesem Zeitraum anzusetzen, wenn es darum geht, entscheidende Zäsuren bei der menschlichen Selbstbestimmung in Bezug auf den Privatbereich (οἶκος), den öffentlichen Bereich (πόλις), die Götter (θεοί) und die Welt (κόσµος) auszumachen. 174 Typische Phänomene der griechischen Frühaufklärung wie die Religionskritik eines Xenophanes, 175 die Re-Etablierung der praktischen Bedürfnisse in den Wissenschaften oder die bisweilen etwas verengend als ›sokratische Wende‹ bezeichnete Hinwendung zu ethischen Fragen in der Philosophie werden dabei durchweg als epochenbestimmende Paradigmenwechsel ausgemacht. Sie sind somit zum obligatorischen Bestandteil jeder Geschichtsschreibung über die griechische Antike, zu einer Form von Handbuchwissen geworden. 176 Im Zuge solcher Innovationsbestrebungen erfahren in dieser Zeit diejenigen Diskurse einen merklichen Aufmerksamkeitsgewinn, die sich mit dem Verhältnis von Mensch und Natur befassen. Deren Bedeutungsfelder werden hierbei gleichwohl nicht schlichtweg affirmiert, sondern in erheblichem Maße neu ausgehandelt. Es wird dabei die institutionelle Entwicklung derjenigen Paradigmen forciert, die vor allem als gemeinschaftsformend gelten. Besonderes Augenmerk kommt hierbei dem scheinbaren Gegensatz zwischen natürlichen und kulturellen Gesetzmäßigkeiten zu. Die in Jahrhunderten verstetigte Haltung, keine Trennung zwischen den gegebenen, unübertretbaren und den noch Vgl. zur gesellschaftlichen Bedeutung des attischen Gerichtswesens – die hier nicht ausführlicher Gegenstand sein kann – konzise Bleicken (41995), zu derjenigen des Theaters, insbesondere der Tragödie, Latacz (22003) und Meier (1988). 174 Bezeichnend hierfür sind Leskys resümierende Äußerungen über das letzte Drittel des fünften Jahrhunderts v. Chr.: »Auf so gut wie allen Gebieten des Lebens stand dem Verharren in der Tradition ihre radikale Bekämpfung im Geiste der Sophistik gegenüber. Die Götterfeste zeugten von dem Fortbestande alter Frömmigkeit, während sich um die neuen Weisheitslehrer Zirkel bildeten, die den Mythos auflösten oder auf eigene Weise deuteten. Für die einen blieb das Gesetz der Stadt die letzte Norm, anderen hatte sich eine neue Sicht mit dem Naturrecht eröffnet, das seinerseits in sehr verschiedene Weise aufgefaßt wurde.« (Lesky [1957], 555 f.). 175 Vgl. hierzu ausführlich Heitsch (1994). 176 Vgl. Saïd – Trédé – Le Boulluec (22010), Hose (1999), Dihle (31998) oder den bereits zitierten Lesky (1957). 173

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hervorzubringenden und übertretbaren Gesetzessphären zuzulassen, bedarf in dieser Zeit offenbar einer besonderen Legitimierung oder einer naturrechtlichen, mithin naturphilosophischen Neubewertung. So tritt der Sophist Hippias an einer zentralen Stelle des platonischen Protagoras (um 388 v. Chr.) mit den Worten vor seine Zuhörerschaft, die anwesenden Menschen seien »zusammengehörig, verwandt und allesamt Mitbürger von Natur aus und nicht durch eine Satzung«. 177 Dass es mit Hippias von Elis ein Vertreter der frühen Sophistik ist, der hier φύσις und νόµος gegeneinander ausspielt, um ein emphatisches und gewissermaßen nicht hintergehbares Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, entspringt – wie schon die auf Gemeinschaft gerichtete Redeszene an sich zeigt, durchaus einer zeitgenössischen communis opinio, gegen die sich Platon in seiner naturalistisch anmutenden Art, Kunstprodukte zu betrachten, offenkundig wendet. Tatsächlich lassen sich die Progressionen der neuen Weltbilder besonders augenfällig – wenn auch bei nicht immer gleicher philosophischer Konsistenz – anhand der sophistischen Aufklärung sowie der damit verbundenen Gesellschaftsdidaktik aufzeigen. Augenfällig sind in diesem Zusammenhang neben den einschlägigen Inszenierungen im Protagoras auch die Einlassungen in anderen Sophisten-Dialogen wie dem Gorgias (um 390 v. Chr.). 178 Das prominente Diktum Leskys, nach dem sich »keine andere geistige Bewegung [. . . ] an Dauerhaftigkeit ihrer Folgen mit der Sophistik vergleichen« 179 könne, ja dass alles »was sie auflöste, [. . . ] innerhalb des griechischen Lebens nie wieder ein wirklich Ganzes werden [konnte]«, 180 erscheint in vielerlei Hinsicht zutreffend, bleibt indes in seinem Erklärungsanspruch noch auf allgemeine Entwicklungslinien, so Lesky hier überhaupt Linien im Blick hat, bezogen. Es lässt sich – wenn auch gewiss nicht ausschließlich – auf einen der Sophistik inhärenten Konflikt hin präzisieren, namentlich auf das Wechselspiel hin zwischen Naturargumenten auf der einen und Bildungsargumenten auf der anderen Seite, wodurch sich nämlich das seit der archaischen Versepik verbürgte Spannungsfeld zwischen natürlichen und menschlichen Gesetzen noch auf ein anderes Spannungsfeld ausweiten lässt: Es sind Natur (φύσις) und Bildung (παιδεία), die den Menschen – gerade weil sie in einem so offenkundigen wie widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen – maßgeblich zu dem formen, Plat., Prot., 337c8–d1: »συγγενεῖς τε καὶ οἰκείους καὶ πολίτας ἅπαντας εἶναι φύσει, οὐ νόµῳ«. Zur geschichtlichen Einordnung dieser Stelle vgl. auch Lesky (1957), 397. 177

Vgl. Plat., Gorg., 482e5–494c3. Diese Passagen beginnen mit der programmatischen Einlassung »So sind sich diese doch meistens einander gegenübergesetzt, die Natur und das Gesetz.« (ebd., 482e5 f.: »ὡς τὰ πολλὰ δὲ ταῦτα ἐναντί᾽ ἀλλήλοις ἐστίν, ἥ τε φύσις καὶ ὁ νόµος.«) Zur weiteren Explikation dieses Gedankens wird unter anderem Pindar (Pind., frg. 169a) herangezogen; vgl. Plat., Gorg., 484b4–9. 179 Lesky (1957), 388. 180 Ebd. 178

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was er ist und darstellt. Sie verleihen ihm, nicht zuletzt als Eintrittsbedingung für eine Ämterkarriere in der Polis, Kraft und Kompetenz, um selbstbestimmte Handlungen zu verfolgen, sie mithin in eigenständiger Verantwortlichkeit hervorzubringen. 181 Als das geschichtlich mit Abstand folgenreichste Paradigma für ebendiese regelgeleitete Schaffenskraft ist die téchne (τέχνη) einzustufen. Sie meint – spätestens ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. – in neuer Prägnanz eine methodisch klare, in zielgerichteten Prozessen ablaufende Tätigkeit sowie die Fertigkeit, die der Mensch dazu besitzt. 182 Gegenüber ihren zeitgenössischen Konkurrentinnen wie der paideía (παιδεία), die in der Regel mit ›Erziehung‹ (›Pädagogik‹) oder ›Bildung‹ wiedergegeben wird, oder der epistéme (ἐπιστήµη), die sich in individuierter Form als fachliches Wissen oder, in einem umfassenderen Sinne, als Wissenschaft auffassen lässt, 183 ist sie im Zuge des Aufschwungs philosophischer und rhetorischer Schulen einer ungleich stärkeren Verallgemeinerung ausgesetzt. 184 Diese Verallgemeinerung scheint jedoch zugleich erst recht zu ihrem Erfolg beizutragen. Dieser besteht – was nicht häufig genug betont werden kann – zuvorderst in einer Popularisierung, die sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen niederschlägt, sowohl in den didaktischen Verheißungen der Sophisten – dies meint die rhetorische Ausbildung politischer Aspiranten in der demokratischen Gesellschaft – wie auch in der akademischen Kontrapunktierung eines Platon hierzu sowie in zahlreichen fach- und spezialwissenschaftlichen Kompilationen, wie etwa dem Corpus Hippocraticum. 185 Sie erhält schließlich bei Aristoteles einen systematischen Gemeinanspruch für sämtliche Disziplinen, die sich mit den Regeln der Produktivität und des Handelns befassen. 186 181 Zu den Umwälzungen der Ethik im hellenistischen Griechenland, die hier nicht ausführlicher Gegenstand sein können, vgl. Nussbaum (1994). 182 Dies scheint dem am nächsten zu kommen, was eine Mehrzahl der Griechen, Athener wie Spartaner, Delier wie Rhodier, einigermaßen einhellig als einen gemeinsamen Nenner unter einer »τέχνη« verstanden wissen wollten; vgl. hierzu den umfassenden lexikalischen Eintrag bei Liddell / Scott (91982), s. v. »τέχνη«, insbesondere ebd., 1785: »an art or craft, i. e. a set of rules, system or method of making or doing«. 183 Zur historischen Dimension dieses epistemischen Anspruchs der Sophistik vgl. umfassend Fromberg (2007). 184 Die weitere Ausweitung des παιδεία-Begriffs war demgegenüber noch kein dezidiert attisches Anliegen, sondern den Alexandrinern vorbehalten. Sie wiesen – im Zuge ihrer Tendenz zur grammatischen Kanonisierung – sich selbst die Aufgabe zu, die literarische Tradition in möglichst umfassendem Sinne zur Formung einer πᾶσα παιδεία (pâsa paideía) neu zu taxieren; vgl. Irvine (1994), 15. 185 Vgl. den darin enthaltenen, schlicht »Περὶ τέχνης« betitelten Traktat über die Heilkunst. 186 Vgl. zu dieser Taxonomie Aristot., metaph., 11, 7, 1064a10–19. Die neben der Poetik maßgebliche Wissenschaft, die sich in einem wesentlichen Sinn als Herleitung einer Fertigkeit auffassen lässt, ist die des Handelns (ihr Objekt ist die τέχνη πρακτική). Beide sind trotz ihrer technischen Gegenständlichkeit auch als ἐπιστήµη auffassbar – mit dem Unterschied zur her-

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Hieraus ergeben sich neue Anforderungen an die hergebrachten poetologischen Grundannahmen: War die divinatorische Inspiration seit Homer und Hesiod durch höchste Autoritäten in der Versepik, Hymnik, Lyrik und Lehrdichtung verbürgt, so wird der Mensch selbst nunmehr als gestalterisches und dadurch gemeinschaftsstiftendes Wesen gedacht; er wird mithin zum Ausgangspunkt seiner eigenen Soziabilität und Produktivität erhoben. 187 Im Zuge dessen werden auch die Mittel, mit denen Kunstwerke überhaupt verfertigt werden könnten, zusehends unter Gesichtspunkten des Zweckes und Gebrauchs abgeschätzt. Die poetologischen wie rhetorischen Diskurse müssen sich, wenn sie von den Bezugsmomenten zwischen Welt und Dichter beziehungsweise Redner handeln, spätestens mit dem Aufschwung der Sophistik mit dem Anspruch einer professionell erwerbbaren Gestaltkraft auseinandersetzen. 188 Eine solche Kraft muss sich im Vergleich zu den hergebrachten Inspirationstopoi in einer viel objektiver anmutenden Weise an ihren Resultaten messen lassen und kann dadurch – in der Beschreibung der Prozedur selbst wie auch des Resultats – eben auch als ›misslungen‹ gelten. Es handelt sich somit gebrachten Naturphilosophie, dass ihr Untersuchungsobjekt nicht im Gemachten (ποιούµενον), sondern im Machenden (ποιῶν) liegt. Diese Differenzierung, die wir bei Aristoteles dezidierter als bei jedem anderen antiken Philosophen vorfinden, erscheint philosophiegeschichtlich nicht nur als ein Höhepunkt der zeitgenössischen Tendenzen zu einer Systematisierung der Wissenschaften, sondern darf – bei aller Skepsis gegenüber der Sophistik, die Aristoteles mit seinem Lehrer Platon teilt und die wir teils auch sehr explizit, etwa in Aristot., top., 9, 165a19–31, vorfinden – wohl auch als Beleg für die nachhaltige Wirksamkeit der neuen aufklärerischen Wissenschaftsansprüche gelten. Diesen Aspekt hat – durchaus im Sinne einer klar abgrenzbaren Zäsur – umfassend Ford (2002) analysiert. Auch wenn seine Einteilung in einen preclassical criticism und einen classical critcism gelegentlich etwas strikt anmutet, so ist seiner Grundannahme zuzustimmen, dass die poetic theory des 4. Jahrhunderts v. Chr. ganz wesentlich von dem Versuch bestimmt sei, »to give systematic accounts of the nature of poetry in the most scientific terms available« (ebd., 4 f.). 187 Dieser Anspruch lässt sich bis hin zum hellenistischen Mythenumgang nachvollziehen, wie er etwa in Kallimachos’ origineller Abkehr von topisch-traditionellen Ordnungskriterien zu beobachten ist; vgl. hierzu Fantuzzi / Hunter (2004), Ambühl (2005) sowie konzis Asper (2004), 20: »Die Intention der Gemeinsamkeitsstiftung zeigt sich in der verblüffenden Masse und vor allem der regellosen Zusammenstellung aller denkbaren Schauplätze und mythischen Zeitstufen aus der griechischen Vergangenheit«. 188 Vgl. treffend in Bezug auf die Rhetorik Leeten (2017), 592: »Die rhetorische Übung bringt ein natürliches Potential zur Entfaltung, weil Sozialität immer schon aus einer diskursiven Praxis entspringt. Gleichzeitig strahlt diese Bildungspraxis (lógo¯ n paideía) dann auf die übrige gesellschaftliche Praxis aus, indem sie ein kollektives Subjekt konstituiert und die Einheit der Polis stärkt.« Die Justierung eines solchen Redepotentials, oder der menschlichen Gestaltkraft überhaupt, ist zudem auch mit dem homo mensura-Paradigma verknüpft zu denken. Insofern dieses allerdings zunächst auf die Weltwahrnehmung und die Produktionsbedingungen kultureller Artefakte abzielt – vgl. etwa Blumenberg (1981) und die Replik hierauf bei Bornscheuer (1985) –, es hier jedoch um die Produktionsfähigkeiten selbst gehen soll, kann sich bei der verfolgten Bestimmungsrichtung – gerade im Sinne einer Vermögensverwirklichung – nicht allein auf diese Ebene bezogen werden.

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bei der τέχνη unter den Vorzeichen der Sophistik zunächst um den Versuch, ein bestimmtes Vermögen aus einem streng teleologischen Blickwinkel Wirklichkeit werden zu lassen. Hierdurch ließe sich dann auch in einem philosophisch fundierten Sinne von einer ›Fertigkeit‹ sprechen. Diese Fertigkeit kann nun, darin das Schicksal des nómos (νόµος) teilend, ohne weitergehende Erläuterung als Gegenbegriff zur phýsis (φύσις) angeführt werden. 189 In einem derart erweiterten Rahmen kann sie als eine grundlegende Bezeichnung für handwerkliches Geschick auftreten. 190 Sie kann – mal im Sinne ihres »eigentlichen Vermögens«, 191 mal als bloßes »Schattenbild« 192 der wirklichen Künste – mit unterschiedlichen Wertigkeiten bedacht werden; sie kann dabei schlimmstenfalls – mit einer dann moralischen Konnotation – gar als unlauterer Kunstgriff 193 gelSo wird in der Poetik hinsichtlich der Einheitlichkeit der Erzählungsinhalte gesagt, Homer scheine »auch diesen Punkt gut gesehen zu haben, sei es seiner Fertigkeit oder seiner Natur wegen.« (Aristot., poet., 8, 1451a23 f.: »καὶ τοῦτ᾽ ἔοικεν καλῶς ἰδεῖν, ἤτοι διὰ τέχνην ἢ διὰ φύσιν.«) Fertigkeit und Natur stehen hier über »ἤτοι [. . . ] ἢ« exkludierend zueinander. Wie bereits anhand der Physik gesehen, stellt eine solche Disjunktion jedoch keineswegs Aristoteles’ Grundüberzeugung dar; vielmehr ist hier angezeigt, dass sich der Einheitsaspekt der Handlung kaum an den zeitgenössischen Debatten um die Dichterperson und deren Naturanlagen und Fertigkeiten entscheidet. Dessen ungeachtet sagt es viel über die Relevanz dieses Diskurses aus, dass er selbst in dieser Frage wenigstens en passant anzitiert wird. 190 Vgl. Soph., Oid. K., 472: »κρατῆρές εἰσιν, ἀνδρὸς εὔχειρος τέχνη« (»Mischkrüge sind es, das Handwerk eines geschickten Mannes.«). 191 Vgl. die grundsätzlich aufgeworfene Frage bei Plat., Gorg., 460a2, »worin eigentlich das Vermögen [sc. der Rhetorik] besteht« (»τίς ποθ᾽ ἡ δύναµίς ἐστιν«). 192 Ebd., 463d2: »εἴδωλον« (gemeint ist auch hier die Rhetorik [τέχνη ῥητορική] im regelrechten Sinne eines Abklatsches der Staatskunst [τέχνη πολιτική]). Analog – bezogen auf die körperlichen Künste – verhalte es sich dann mit dem Verhältnis von Koch- und Heilkunst (vgl. ebd., 465b1–466a4). Den zum εἴδολον analogen Begriff bildet in diesen Zusammenhängen die »erfahrungsgemäße Übung« (vgl. prägnant ebd., 465a2 f.: »ἐµπειρία« [»empeiría«]). Die τέχνη πολιτική und die τέχνη ἰατρική bilden somit hierarchiehöhere Fertigkeiten als die dazu zwar benötigten, gleichwohl taxonomisch auf niedrigerer Schwelle anzusetzenden Rede- und Kochkünste. Ein Abklatsch liegt demzufolge genau dann vor, wenn sich die Redekunst dazu aufschwingt, die Staatskunst schlechthin zu verkörpern, oder die Kochkunst sich selbst zur Heilkunst verklärt. 193 Vgl. Aischin., Tim., 1, 117: »ἔστι δ᾽ ὁ µὲν πρότερός µοι λόγος προδιήγησις τῆς ἀπολογίας ἧς ἀκούω µέλλειν γίγνεσθαι, ἵνα µὴ τοῦτο ἐµοῦ παραλιπόντος ὁ τὰς τῶν λόγων τέχνας 189

κατεπαγγελλόµενος τοὺς νέους διδάσκειν ἀπάτῃ τινὶ παραλογισάµενος ὑµᾶς ἀφέληται τὸ τῆς πόλεως συµφέρον.« (»Die Anfangsrede besteht für mich nun in einem Vorbericht zu derjenigen Verteidigung, von der ich vernehme, dass sie im Begriff ist gehalten zu werden, damit nicht – wenn ich dies ausließe – derjenige, der sich erbietet, die jungen Leute Trugworte zu lehren, uns mit einem gewissen Betrug täuscht und dasjenige fortzerrt, was für die Stadt das Nützliche ist.«) Dieser Bedeutungsaspekt weist bereits vor Aischines eine beträchtliche Tradition auf. So konstatiert Löbl schon für die Texte Hesiods, »daß von den insgesamt neun Versen, in denen das Wort τέχνη auftritt, sieben in einem Zusammenhang stehen, in dem es um List und Täuschung geht, in dem das Ausdenken und das Ausführen einer List ein Weg ist, der zu einem Ziel führen soll.« (Löbl [1997], 54) Ähnliches gilt zudem für die homerischen Epen, insbesondere die Odyssee, wenn man an Episoden wie die Kalypso- oder Polyphem-Erzählungen denkt. Der listenreiche Odysseus wird in all diesen

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ten. Sie kann in gorgianischer Tradition als umfassende Gegenstandslehre, 194 mit Protagoras indes in Engführung zur Erziehung (παιδεία) gefasst werden. 195

4. Intensive Vermögensbegriffe

Im vorangegangenen Kapitel zur Sophistik wurden zahlreiche τέχνη-Konzepte aufgefächert, die sich alle von dem Gegensatz zwischen (abstrakten, erlernbaren) Regeln und deren Verwirklichung abhängig zeigen. Die τέχνη kann schließlich, mit Blick auf Platons Diskussion, die er der Rhapsodenkunst im Ion (nach 399 v. Chr.) 196 zukommen lässt, als genuin menschliche Fertigkeit eine Kontrafaktur zum ›göttlichen Vermögen‹ (θεία δύναµις) der Dicht- und Rezitationskunst bilden. Im letztgenannten Sinn kann die τέχνη zudem eine grundlegende Skepsis an der divinatorischen Inspirationslehre widerspiegeln, wohingegen genau der Bereich der Inspiration mit intensiven 197 Kraftkonzepten belegt wird. Dem Ion wurde, als verhältnismäßig kurzem Dialog Platons, in der Philologie und Philosophie nicht immer die gleiche Aufmerksamkeit entgegengebracht. Dies mag bisweilen auch daran gelegen haben, dass er häufig

Kontexten stets auch als der technisch beschlagene vorgeführt; vgl. hierzu Schneider (2007), 14: »Mit der Anwendung der technischen Hilfsmittel ist bei Homer eine Täuschung des Stärkeren verbunden; in der frühen griechischen Literatur besteht also eine enge Verbindung zwischen Technik und List«. 194 Vgl. die zahlreichen Gorgias-Schüler wie etwa den Dithyrambiker und Sophisten Likymnios von Chios, (vgl. Radermacher [1951], XVI, 2 und Lesky [1957], 401) oder Polos von Akragas (vgl. hierzu Fowler [1997]), die jeweils Lehrbücher der Redekunst verfassten und diese prägnant ›Τέχνη‹ betitelten. Auch der vor allem aus Platons Politeia bekannte Sophist Thrasymachos soll ein Lehrbuch der Rhetorik (›Μεγάλη τέχνη‹) verfasst haben (vgl. hierzu Kerfeld / Flashar [1998]). 195 Um dieses Begriffspaar im Zuge der allgemeinen Ausweitung des téchne-Begriffs stabil zu halten, bedarf es eines gemeinsamen Elements, das Protagoras in der ›Übung‹ (ἄσκησις, µελετή) verortet. Vorausgesetzt bleibe hierbei indes eine gute ›Naturanlage‹ (φύσις), ohne die auch die beste Übung keinen Erfolg zeitigen könne; vgl. die Erörterungen in Plat., Prot., 319a3– 342a5, deren Ausgangspunkt zunächst die politische Fertigkeit (τέχνη πολιτική) bildet, sowie das gnomisch zu verstehende Testimonium bei DK 80 B 3: »φύσεως καὶ ἀσκήσεως διδασκλία δεῖται.« (»Unterricht benötigt Naturanlage und Übung.«) Eine genauere Analyse dieser Begriffsbeziehungen bietet Wilms (1995), 35–39. 196 Vgl. zum Datierungsproblem die ausführliche Analyse von Moore (1974). Zu den erstaunlichsten, nichtsdestoweniger überzeugenden Befunden Moores zählt, dass der Ion – entgegen der seit Marsilio Ficino verbreiteten Annahme – nicht einmal zwingend zu den platonischen Frühwerken gezählt werden muss; daher plädiert er für eine »relative position within the Platonic corpus« (ebd., 439). Da im Rahmen unseres Themas vor allem ein systematischer Zugriff benötigt wird, sei die Kontroverse um die Datierung gleichwohl hier nicht weiter verfolgt. 197 Im Sinne des in Kapitel II .1–2 aufgeworfenen Gegensatzes. Der Begriff des ›Irrationalen‹ ist demgegenüber zu meiden.

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sehr rasch mit Werturteilen belegt wurde. 198 Kritik an der vermeintlich geringeren literarischen oder philosophischen Qualität des Dialogs im Vergleich zu den Sophistendialogen oder den größeren Dialoggebäuden wie der Politeia werden dem Gehalt des Textes jedoch nicht gerecht. Denn dafür ist bereits die Gemengelage hinsichtlich des τέχνη-Begriffs beim Übergang vom fünften zum vierten Jahrhundert v. Chr., wie gesehen, zu komplex. Der Dialog lässt sich gewinnbringend hinsichtlich der Fragen nach Kunstfertigkeiten (τέχναι), Wissen (ἐπιστῆµαι) und Vermögen (δυνάµεις) betrachten. Und diese Aspekte fordern im Rahmen unseres Themas gleichsam eine genauere Betrachtung. 199

4.a. Platons göttliche δύναµις

Eine neuerliche Lektüre des Ion kann sich vor einem so voraussetzungsreichen Hintergrund wie dem skizzierten nicht darauf beschränken, von einer bloßen rhetorischen Experimentalform auszugehen, wie es noch Goethe vorschwebte. Vielmehr sind die auffälligen Eingebungen zu berücksichtigen, die sich hier in den drei genannten Anspruchsdimensionen niederschlagen: Die im Ion vorgeführte Herausforderung für die Inspirationskunst stellt das (im Zuge der Demokratisierung freier verfüg- und verhandelbar gemachte) Wissen dar. Wie in vielen anderen Dialogen Platons, sind auch im Ion die das Wissen betreffenden Gesichtspunkte von der Darstellung sophistischer Diktionen und der teils polemischen Kritik an diesen getragen. Der Ion lässt Rückschlüsse auf die neuen epistemischen Konzepte zu, die in der griechischen Aufklärungszeit zur Entfaltung kommen: Der Mensch begreift sich in der Gemeinschaft als prinzipiell gleichberechtigt, um am Wissen zu partizipieren, das zuvor den Epikern zugeschrieben wurde und mit dem Attribut ›göttlich‹ versehen wurde. Zeus, Apollon und die Musen verfügen über das wahre Wissen, und der Dichter verkündet es kraft seiner Berufung. Wer oder was aber beruft den Rhapsoden dazu, die Werke des Dichters zu verkünden? Es scheint in diesem Sinn geboten, Äußerungen wie die folgende als Kommentierung dieses Sachverhalts, der zeitgenössischen Haltungen zum Verhältnis von Poesie, Kraft und Wissen zu lesen: 198 Die nicht immer günstigen Urteile über den Ion, wie wir sie prominent bei Schleiermacher (Über die Philosophie Platons von 1805) und Wilamowitz (Aristoteles und Athen von 1893) vorfinden, konnten sich dabei fatalerweise auf polemische Einschätzungen wie diejenige Goethes von 1796 berufen: »Denn wie kommt zum Beispiel Ion dazu, als ein canonisches Buch mit aufgeführt zu werden, da dieser kleine Dialog nichts als eine Persiflage ist?« (Goethe, Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung, 170). 199 Lefebvre geht in seiner Darstellung des platonischen dynamis-Begriffs merkwürdigerweise nur an drei Stellen – zudem eher lapidar – auf den Ion ein; vgl. Lefebvre (2018), 255, 263 und 271.

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ἔστι γὰρ τοῦτο τέχνη µὲν οὐκ ὂν παρὰ σοὶ περὶ ῾Οµήρου εὖ λέγειν, ὃ νυνδὴ ἔλεγον, θεῖα δὲ δύναµις ἥ σε κινεῖ, ὥσπερ ἐν τῇ λίθῳ ἣν Εὐριπίδης µὲν Μαγνῆτιν ὠνόµασεν, οἱ δὲ πολλοὶ ῾Ηρακλείαν. 200

Hier wird – in merklicher Anspielung auf die Interpretations- und Kommentierungstraditionen zur homerischen Epik (περὶ ῾Οµήρου εὖ λέγειν) – 201 eine Fähigkeit angenommen, die den Rhapsoden in professioneller Weise zukomme; und es lassen sich zwei wesentliche Ursprünge dieser Fähigkeit ausmachen: Sie wird entweder göttlich verliehen oder sie wird unter irdischen Mühen erworben. 202 Beide Konzepte, das göttliche Vermögen, das sich im Enthusiasmus (ἐνθουσιασµός) niederschlägt und in seiner vehementesten Ausprägung bis zu einer Manie (µανία, im Lateinischen als furor poeticus rezipiert) reichen kann, sowie die Gestaltkraft bilden hier die beiden grundlegenden Ursachen der Initiation. Insofern beide sowohl aus den naturphilosophischen Traditions- als auch aus den zeitgenössisch-sophistischen Diskursen herzuleiten sind, zeichnet sich ein Moment ab, über das auch die hergebrachten φύσις-Vorstellungen neu modifiziert werden: Waren es in den traditionellen poetologischen Kontexten die Wechselbestimmungen zwischen transzendenten und substantiellen Hinwendungen, die in ihrem Spannungsverhältnis die Weltzugriffe des Dichters in Gang setzten, Plat., Ion, 533d1–4: »Es steht dir nämlich dies nicht als fachliches Können zur Verfügung, über Homer trefflich zu reden, was ich eben bereits sagte; vielmehr ist es ein göttliches Vermögen, das dich bewegt, wie in dem Stein, den Euripides den Magneten nennt, die meisten aber den herakleischen [sc. nennen]«. 201 Diese waren in den sophistischen Bildungskreisen dieser Zeit stark verbreitet; zur Entwicklung solcher Traditionen vgl. die historische Übersicht von Latacz (2000a). 202 Ebendiese Opposition zwischen erlernbaren und inspirationsabhängigen Fertigkeiten reicht, wie Fuhrmann herausstellt, in ihrer motivischen Tradition selbst zurück bis zur homerischen Epik. So tritt in der Odyssee der Dichter Phemios auf, der von sich behauptet, dass er seine Lieder keinem irdischen Lehrer, sondern einem göttlichen Einfluss verdanke. Gerade der in diesem Zusammenhang auftretende Ausdruck des Selbstlernens (»αὐτοδίδακτος«, Hom., Od., 22, 347) impliziere bereits »den Gegensatz einer lehrbaren Dichtkunst« (Fuhrmann [2003], 77) zur φύσις, einer – wenn man denn so möchte – prototypischen τέχνη Die göttliche Eingebung ist demgegenüber bereits auf das Engste mit einem φύσις-Konzept, namentlich dem des Einpflanzens (ἐµφύειν), verbunden: »θεὸς δέ µοι ἐν φρεσὶν οἴµας / παντοίας ἐνέφυσεν« (Hom., Od., 22, 347 f.: »Ein Gott hat mir mannigfache Lieder in die Seele eingepflanzt.«) Ganz ähnlich – wenn auch von Fuhrmann nicht erwähnt – wird in der Odyssee der Sänger Demodokos präsentiert: Man solle »den göttlichen Sänger Demodokos rufen; ihm nämlich hat ein Gott den Gesang geschenkt, um zu erfreuen, wodurch auch immer sein Gemüt ihn anregt zu singen.« (ebd., 8, 43–45: »καλέσασθε δὲ θεῖον ἀοιδόν, / ∆ηµόδοκον· τῷ γάρ ῥα θεὸς πέρι [van Thiel: περὶ] δῶκεν ἀοιδὴν / τέρπειν, ὅππῃ θυµὸς ἐποτρύνῃσιν ἀείδειν.«) Kurz, Homer wird im Ion keineswegs als beliebige Referenzfigur verwendet, sondern war als erster Dichter zugleich auch der philosophische Archeget, der den möglichen Gegensatz zwischen einer erlernbaren Fähigkeit und einer göttlichen Gabe bei den Dichtern und Sängern erkannt und zum Ausdruck gebracht hatte. 200

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mithin als Bewegungsgründe hierfür gelten konnten, so erweisen sich die stofflichen Zugriffe (auf die Gegenstände der Dichtkunst) wie auch die formalen Bezüge (auf die göttliche Transzendenz) hier als entschiedene Aporie – und dies in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der eigenen poetischen Tradition, nunmehr allerdings mit den Materialien, die diese behandelt. Denn es ist zunächst der Gesangsstoff, der hier massiv in Zweifel gezogen wird: Der HomerRhapsode kann sich – genauso wenig wie Homer selbst – nicht sicher sein, woher sich seine eigentümliche Leistung ἐξ ἀρχῆς generiert; geschweige, was sie darzustellen vermag. Diese Unsicherheit stellt hier das eigentliche dialektische Thema dar. Verhandelt werden innerhalb dieser Problemlage zwei Paradigmen mit sehr unterschiedlichen Zuschreibungen: In merklicher Anlehnung an die Sophistik ist die im Ion angeführte τέχνη zunächst als ein fachliches Können 203 aufzufassen. Sie kann sich auf ein erworbenes Wissen berufen, ohne in diesem gänzlich aufzugehen – ansonsten unterschieden sich Dichter und Rhapsoden auch nicht wesentlich von einem Polyhistor oder einem exzessiven Stoffesammler. 204 Ihre Antipode wird nun aber nicht über die φύσις selbst, sondern über die θεία δύναµις ausgeführt, es ließe sich – angesichts der kolloquialen Stillage, die den gesamten Dialog durchzieht – auch sagen: provoziert. Eine solche δύναµις lässt sich in einem ersten Schritt scheinbar mühelos emphatisch aufladen, indem sie etwa mit Standardmotiven aus dem Bereich poetischer Eingebungen verknüpft wird: πάντες γὰρ οἵ τε τῶν ἐπῶν ποιηταὶ οἱ ἀγαθοὶ οὐκ ἐκ τέχνης ἀλλ᾽ ἔνθεοι ὄντες καὶ κατεχόµενοι πάντα ταῦτα τὰ καλὰ λέγουσιν ποιήµατα, καὶ οἱ µελοποιοὶ οἱ ἀγαθοὶ ὡσαύτως[.] 205

Der von Flashar bevorzugte Ausdruck des »Fachwissens« (Flashar [32009], 17) scheint durch die im Ion topisch vorfindbare Nähe zur ἐπιστήµη motiviert zu sein. Hier sollen hingegen die Unterschiedsmomente beider Ausdrücke, sofern sie nicht einen Begriffskomplex bilden, aufrechterhalten werden; daher wird von ›fachlichem Können‹ (τέχνη) sowie ›fachlichem Wissen‹ (ἐπιστήµη) gesprochen. Dass sie daneben als Hendiadyoin eine Verschränkung von Wissen und Können meinen und natürlich nach wie vor Seme der Kunstfertigkeit und der Wissenschaft implizieren können, bleibt davon unberührt. 204 Die blinde Hinwendung zum Wissensstoff um des Stoffes willen ist in der Antike, wie nicht nur Heraklits zur Sentenz gewordenes Diktum »Vielwisserei lehrt nicht, Verstand zu besitzen« (Herakl., DK 22 B 40: »πολυµαθίη νόον ἔχειν οὐ διδάσκει«) zeigt, von Rhetoriklehrern wie Quintilian (vgl. Quint., inst., 10, 3, 17; dort mit silva ausgedrückt, was wie die griechische ὕλη gleichermaßen ›Wald‹ und ›Stoff‹ heißen kann) bis hin zu Miszellanschriftstellern (vgl. Gell., praef., in der jenes Heraklit-Diktum zitiert wird) einigermaßen verpönt. 205 Plat., Ion, 533e5–e8: »Denn alle guten Ependichter singen nicht aus einem fachlichen Können heraus, sondern, da sie göttlich begeistert und ergriffen sind, all diese schönen Gedichte – und die guten Liedermacher ebenso«. 203

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Die im Dialog ins Auge gefasste Frage, ob die Dichter aus einem fachlichen Können heraus oder in göttlicher Erfülltheit (ἔνθεοι ὄντες) ihre Werke hervorbrächten, 206 wird hier – im Anschluss an den zweitgenannten Aspekt – in einen paradigmatischen Zusammenhang des κινεῖν (»bewegen«), 207 ὁρµᾶν (»antreiben«) 208 und ἕλκειν (»heranziehen«) 209 gesetzt. Hiermit werden durchweg Bewegungen bezeichnet, die sich zwischen den Seelen (ψυχαί) der Dichter, der Rhapsoden (beziehungsweise der Schauspieler [ὑποκριταί]) und der Zuhörer (beziehungsweise der Zuschauer [θεαταί]) abspielen. Das aus diesem Zusammenhang heraus entworfene, parapsychologische Bild ist dasjenige des herakleischen Steins. Dieser gilt bereits in der antiken Naturwissenschaft als die evidenteste Form des Magnetismus, steht also für Fernwirkungen im Bereich der phänomenalen Wirklichkeit ein. 210 Der Begriff der δύναµις gewinnt hierdurch eine neue semantische Prägnanz; er kann nunmehr als das Prinzip der Kraftübertragung gelten: οἶσθα οὖν ὅτι οὗτός ἐστιν ὁ θεατὴς τῶν δακτυλίων ὁ ἔσχατος, ὧν ἐγὼ ἔλεγον ὑπὸ τῆς ῾Ηρακλειώτιδος λίθου ἀπ᾽ ἀλλήλων τὴν δύναµιν λαµβάνειν; ὁ δὲ µέσος σὺ ὁ ῥαψῳδὸς καὶ ὑποκριτής, ὁ δὲ πρῶτος αὐτὸς ὁ ποιητής· ὁ δὲ θεὸς διὰ πάντων τούτων ἕλκει τὴν ψυχὴν ὅποι ἂν βούληται τῶν ἀνθρώπων, ἀνακρεµαννὺς ἐξ ἀλλήλων τὴν δύναµιν. 211 Zu diesem geradezu textkonstituierenden Gegensatz vgl. die bereits zitierte Stelle bei Plat., Ion, 533e6 f. (»οὐκ ἐκ τέχνης, ἀλλ᾽ ἔνθεοι ὄντες«) und darüber hinaus ebd., 534b8–c1 (»οὐ τέχνῃ ποιοῦντες [. . . ], ἀλλὰ θείᾳ µοίρᾳ«), ebd., 534c5 f. (»οὐ γὰρ τέχνῃ [. . . ], ἀλλὰ θείᾳ δυνάµει«) und ebd., 536c1 f. (»οὐ γὰρ τέχνῃ οὐδ᾽ἐπιστήµῃ [. . . ], ἀλλὰ θείᾳ µοίρᾳ καὶ κατοκωχῇ.«). 207 Vgl. ebd., 533d3. 208 Vgl. ebd., 534c3. 209 Vgl. ebd., 536a2. 210 Die heute geläufigere Bezeichnung hierfür ist der ›Ferromagnet‹. In der Einführung und Ausarbeitung dieses Bildes sieht Flashar eine der genuinsten Leistungen Platons im Ion – so sei »die Ausgestaltung des Bildes von der Magnetkette in vertikaler und horizontaler Richtung, wie sie in der zweiten Sokratesrede (535e–536d) entwickelt ist, ganz Platons Eigentum.« (Flashar [32009], 62). Ein möglicher Einfluss Demokrits, wie er im Titel-Fragment »Über den Stein« (»ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΛΙΘΟΥ« [DK 68, B 11k]) vielleicht angedeutet wird, wurde zuerst von Delatte (1934) diskutiert. Wenig überraschend widmet Lukrez in De rerum natura dem Topos eine eigene Beschreibung, in welcher der Begriff der Kraft (vis) – gleichwohl in einem wenig spezifischen Sinn – aufgegriffen wird (vgl. Lucr., 6, 910–916). Auch Herder, der dem Ion offenbar mehr Wertschätzung entgegenbrachte als etwa Goethe, greift den Topos in seinem Traktat Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten (1778) auf: »Wie der Magnet das Eisen, kann er [sc. der Dichter] Herzen an sich ziehen, und wie der elektrische Funke allgegenwärtig durchdringt, allmächtig fortwandelt: so trifft auch sein Blitz, wo er will, seine Seele.« (Herder, Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, 433 f.). 211 Plat., Ion, 535e7–536a3: »Weißt du also, dass dieser Zuschauer der letzte von den Ringen ist, von denen ich sagte, dass sie durch den herakleischen Stein ihre Kraft voneinander empfangen? Der mittlere bist du als der Rhapsode und Schauspieler, der erste jedoch ist der Dichter persönlich. 206

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Das göttliche Vermögen, das den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete, wird durch die Kunst des Rhapsoden in seine äußere Wirksamkeit gebracht und geht in dieser über sein – hier immer noch vorrangig vorgestelltes – Potential hinaus, indem er die Menschen rührt und in Bewegung versetzt. Die rhapsodische Fertigkeit lässt sich mithin dadurch als Kraft auffassen, dass sie auf andere Seelen wirkt; ferner werden diese Kräfte in wechselseitigen Beziehungen (ἀπ᾽ ἀλλήλων, ἐξ ἀλλήλων) sowie in wechselseitiger Abhängigkeit (ἀνακρεµαννὺς) entworfen. Hierdurch eröffnet sich ein Feld an Aktions- und Reaktionsweisen zwischen den Dichtern, den Rhapsoden und den Rezipienten, die prinzipiell auf derselben Ebene beschrieben werden können, nämlich auf derjenigen der Bewegung. Als Auslöser einer solchen Kettenreaktion muss – ganz ähnlich zur Idee des Guten im Sonnengleichnis der Politeia – allerdings eine göttliche δύναµις stehen. 212 Es geht daher nicht so sehr um die Verwirklichung eines Vermögens im Sinne des Ausschöpfens eines poetischen ›Grundbestandes‹ an Motiven, Topoi und Themen, auch nicht nur um die Überführung eines Vermögens in eine Realität in actu, sondern um die mechanisch instruierte Weitergabe von Kräften. 213 Über ihren intrinsisch angelegten Ausgangspunkt als θεία δύναµις werden diese Kräfte jedoch bereits Der Gott indes zieht durch all diese hindurch die Seele der Menschen, wohin auch immer er will, indem er ihre Kraft gegenseitig bindet«. 212 Ein solches Begründungsmotiv ist in der Antike keineswegs auf Dichter, Rhapsoden und Philosophen beschränkt. So beanspruchen seit jeher auch Gaukler und Wahrsager, dass sie ihre Kraft von den Göttern her bezögen. Im Gegensatz zu den ›wahren‹ Dichtern und Weisen gelten sie darin jedoch als Scharlatane; vgl. etwa Plat., Pol., 2, 364b5–c5 : »ἀγρύται δὲ καὶ µάντεις ἐπὶ

πλουσίων θύρας ἰόντες πείθουσιν ὡς ἔστι παρὰ σφίσι δύναµις ἐκ θεῶν ποριζοµένη θυσίαις τε καὶ ἐπῳδαῖς, εἴτε τι ἀδίκηµά του γέγονεν αὐτοῦ ἢ προγόνων, ἀκεῖσθαι µεθ᾽ ἡδονῶν τε καὶ ἑορτῶν, ἐάν τέ τινα ἐχθρὸν πηµῆναι ἐθέλῃ, µετὰ σµικρῶν δαπανῶν ὁµοίως δίκαιον ἀδίκῳ βλάψει ἐπαγωγαῖς τισιν καὶ καταδέσµοις, τοὺς θεούς, ὥς φασιν, πείθοντές σφισιν ὑπηρετεῖν.« (»Gaukler und Wahrsager kommen indes vor die Türen der Reichen und machen sie glauben, dass ihnen durch Opfer und Zaubersprüche eine Kraft von den Göttern verliehen sei, sie unter Freudenfesten zu heilen, wenn sie selbst oder einer ihrer Vorfahren eine Verfehlung begangen hätten; und wenn einer einem Feinde etwas antun wolle, könnten sie für ein wenig Speise gleichermaßen dem Gerechten wie dem Ungerechten Schaden zufügen durch gewisse Sprüche und Flüche, indem sie – wie sie behaupten – die Götter dazu gewinnen, ihnen zu helfen.«). 213 Eine Zusammenfassung dieses Prozesses bietet Murray (82008), 10: »Despite its eulogistic tone, however, the central speech of the Ion undermines the authority traditionally accorded to poets by deprivating them of techne. And we cannot ignore its context: the image of the magnet at the beginning (533d cf. 535e7–9) emphazises the interconnexion between the various elements in the chain of poetic communication – Muse, poet, rhapsode and audience – so that it is difficult to separate our judgement on the activity of the poet.« Hieran anknüpfend ist der Aspekt der mechanisch gedachten Kraftweitergabe allerdings noch zu ergänzen. Die von Murray angeführte Deprivation der Dichter von einer téchne¯ bezieht sich gerade nicht auf die téchne¯ poie¯ tike´¯ als schöpferische und rezipierbare Tätigkeit, sondern zielt auf die ontologische Beurteilung der Artefakte und lässt dadurch den Aspekt der Wirkweise merkwürdig unterbestimmt.

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frühzeitig aus dem Bereich des Akzidentellen gelöst. Die θεία δύναµις wird keineswegs als ein passiv verharrendes Vermögen gedacht, sondern kann durch Kraft mechanisch weitergegeben werden; sie kann sich daher auf die Dichter, Sänger und Rhapsoden selbst übertragen und in diesen die göttliche Substanz fortbestehen lassen. 214 Die Dynamik dieses Prozesses wird darüber hinaus gerade anhand der Bewegungsparadigmen als ein seelischer Impetus immer wieder von Neuem begründ- und beobachtbar gemacht. Die sich hier anbietende Deutungsmöglichkeit, Platon operiere mit einer Art ›philosophischen‹ ἐνθουσιασµός, der sich eben nicht mehr allein auf die Dichtkunst beziehen lasse, sondern sich ihrer zugunsten eines idealisierten Naturbegriffs entledige, wird gelegentlich herangezogen, um eine angeblich problematische Stellung des Ion im Rahmen des platonischen Œuvres zu begründen. 215 Diese Ansicht ist dahingehend zu teilen, dass es sich hier nicht um einen von der Vernunft völlig entgrenzten ἐνθουσιασµός-Begriff handeln kann; er wird vielmehr als dialektische Größe im Spannungsfeld zwischen technischer Fähigkeit und göttlicher Wirkkraft diskutiert – denn natürlich bringt der Rhapsode in seiner Tätigkeit als Rhapsode durchaus wohlgeordnete Verse und Narrative hervor, deren Ziel es – der antiken Grundvorstellung eines begrenzten und geordneten Verses entsprechend – kaum sein kann, sich eines verständigen Rezipientenblicks zu entziehen. Daher erscheint es zu weitgreifend, in der Bestimmung der Dichtkunst eine völlige Abkehr von rational geordneten Prinzipien herzuleiten. Vielmehr wird hier mit dem planen Gegenteil gespielt: Es lässt sich – gerade in Bezug auf die Art, wie die Weitergabe von Affekten hier behandelt wird – kaum etwas Folgerichtigeres denken als die verbindliche Sukzession (πρῶτος – µέσος – ἔσχατος), mit der hier aus einem göttlichen Potential eine Wirkästhetik erzeugt wird. Der ›philosophische‹ ἐνθουσιασµός ist dabei durchweg in Form der für Sokrates typischen Elenxis (ἔλεγξις) zu bestimmen. 216 Hierauf lohnt sich ein genauerer Blick: Am Beginn dieses Schlussverfahrens steht im Ion nämlich bezeichnenderweise die Behauptung, dass Hesiod und Homer zwar in Teilen durchaus über dieselben Gegenstände – ganz besonders natürlich über die Welt der Götter und Halbgötter – sprächen, die enthusiastische Fähigkeit des Rhapsoden Ion jedoch allein auf Homer bezogen bliebe – mit Ausnahme 214 Vgl. in diesem Sinn auch die Charakterisierung des Simonides in der Politeia als eines »göttliche[n] Mann[es]« (Plat., Pol., 1, 331e6: »θεῖος ἀνήρ«) oder der Sprachkünstler (λογοποιοί) im Euthydemos, die grundsätzlich eine »göttliche Fertigkeit« (Plat., Euthyd., 289e3 f.: »τέχνη [. . . ] θεσπεσία«) besäßen. Murray spricht in hier lediglich vage von einer »Muse’s power« (Murray [82008], 8), von der die Dichter besessen seien. 215 Eine These, die prominent etwa von Fuhrmann (2003), 79 f. vertreten wird. 216 Der gedankliche Vektor dieser Argumentationsstrategie ist hier analog zu dem im Hippias minor aufgebaut; vgl. Flashar (32009), 66 f.

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eben jener Gegenstände, die von beiden Dichtern behandelt werden. Kurz, Ions Wissen als Homer-Spezialist kann sich mit den Gegenständen anderer Dichter durchaus akzidentell überschneiden und ihn dann dazu befähigen, auch Passagen anderer Dichter in entsprechender Qualität aufscheinen lassen. Es wäre demnach der Stoff, der – in Gestalt des Wissens – auch das Vermögen des Rhapsoden abbildete; dieses käme dann dadurch zur Geltung, dass dieser von jenem künden kann. Ein solcher Vorrang einer stofflich verankerten Episteme wird, nach der göttlichen δύναµις, als das zweite Kernparadigma diskutiert, aus dem sich die Profession des singenden Rhapsoden im Allgemeinen speisen könnte: ΣΩ. Καὶ µὴν ἐγὼ ἔτι ποιήσοµαι σχολὴν ἀκροάσασθαί σου, νῦν δέ µοι τοσόνδε ἀπόκριναι. πότερον περὶ ῾Οµήρου µόνον δεινὸς εἶ ἢ καὶ περὶ ῾Ησιόδου καὶ Α ᾿ ρχιλόχου; ΙΩΝ. Οὐδαµῶς, ἀλλὰ περὶ ῾Οµήρου µόνον. ἱκανόν γάρ µοι δοκεῖ εἶναι. ΣΩ. ῎Εστι δὲ περὶ ὃτου ῞Οµηρός τε καὶ ῾Ησίοδος ταὐτὰ λέγετον; ΙΩΝ. Οἶµαι ἔγωγε καὶ πολλά. ΣΩ. Πότερον οὖν περὶ τούτων κάλλιον ἂν ἐξηγήσαιο ἃ ῞Οµηρος λέγει ἢ ἃ ῾Ησίοδος; ΙΩΝ. ῾Οµοίως ἂν περί γε τούτων, ὦ Σώκρατες, περὶ ὧν ταὐτὰ λέγουσιν. 217

Vordergründig scheint es der übertriebene (und mutmaßlich sophistische) Glaube an den Vorzügen der Fachwissenschaften zu sein, der in diesem Dialog vorgeführt wird. Die probehalber getätigte Annahme, dass sich die Fähigkeit der Homer-Rhapsoden auf einem Fachwissen über Spezialwissenschaften gründe, wird im Folgenden durch die Konzentration der traditionellen Naturprinzipien auf die θεία δύναµις zu einem gewissen Widersinn hin degradiert. 218 Mag sich also auch hier das dialektische Ziel des Ion als die Bloßstellung einer vorgeblich sophistischen Dichterkonzeption ausweisen – die eben auf die Vermittlung von Wissen setzt –, so behält das Wissen in den unterschiedlichen 217 Plat., Ion, 530d9–531b1: »S O . Und wirklich werde ich mir einmal die Zeit nehmen, dich anzuhören; nun aber beantworte mir nur so viel: Bist du allein bezüglich Homer befähigt oder auch bezüglich Hesiod und Archilochos? I ON. Keineswegs, sondern nur bezüglich Homer. Das scheint mir auch zu reichen. S O. Gibt es denn einen Gegenstand, über den Homer und Hesiod das gleiche sagen? I ON. Ich meine sogar recht viele. S O. Könntest du nun hinsichtlich dieser Dinge besser darlegen, was Homer sagt als was Hesiod sagt? I ON. Wohl gleich gut bei den Gegenständen, Sokrates, über die sie dasselbe sagen«. 218 Vgl. auch Flashar (32009), 65 f.: »[D]er Rhapsode Ion kann nicht aufgrund von Fachwissen über Homer reden, auf die sachliche Klärung des in diesem Dialog angewendeten Wissensbegriffes überhaupt hinaus, mit der Konsequenz, daß es überhaupt nicht möglich ist, über die Gegenstände der Dichtung ein technisches Fachwissen zu haben. Das führt zu einer Deutung des dichterischen Schaffens, in der der Begriff Enthusiasmus im Mittelpunkt steht«.

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Gegenstandsbereichen bei allem polemischen Duktus seinen essentiellen Status bei: Es existiert – sei es in Form der Seherkunst, in Form der Feldherrenkunst oder in Form der Heilkunst – vorrangig zur spezifischen Fähigkeit des Sängers, dieses Wissen in einer bestimmten Form vortragen zu können. Was Sokrates an dieser Stelle zur Ironie reizt, lässt sich vor allen Dingen als die Frage nach Aneignung und Entäußerung von Wissensformationen lesen. 219 Diese müssten, will man hierin zu einer befriedigenden Antwort gelangen, entweder durch angeworbenes Können oder eben als Folge einer göttlichen Kraftübertragung in Erscheinung treten. Somit treten hier sophistische und dynamische Begründungsweisen in Konkurrenz zueinander. Gerade über diese Zuschreibungsarten öffnen τέχνη und δύναµις über den Bereich der rein auf den Menschen fokussierten, im weiten Sinne ›anthropologisch‹ zu nennenden Poetik hinaus zwei Vektoren: zum einen den nicht mehr weiter reduziblen Enthusiasmus, zum anderen den Bereich der Epistemologie. Dabei geht es jedoch von Beginn an und bis zum Ende um das Einflussvermögen dieser Größen auf die Rezipienten. Diskutiert werden somit im Ion auch die Fragen nach der Wirksamkeit von Wissen und derjenigen von Fiktionen anhand sprachlicher Artefakte. Jene Frage nach dem Fachwissen, das einem Dichter – als einem Kundigen – 220 zukommen müsse, wird Platon darüber hinaus auch in der Politeia noch beschäftigen: ἀνάγκη γὰρ τὸν ἀγαθὸν ποιητήν, εἰ µέλλει περὶ ὧν ἂν ποιῇ καλῶς ποιήσειν, εἰδότα ἄρα ποιεῖν, ἢ µὴ οἷόν τε εἶναι ποιεῖν. δεῖ δὴ ἐπισκέψασθαι πότερον µιµηταῖς τούτοις οὗτοι ἐντυχόντες ἐξηπάτηνται καὶ τὰ ἔργα αὐτῶν ὁρῶντες οὐκ αἰσθάνονται τριττὰ ἀπέχοντα τοῦ ὄντος καὶ ῥᾴδια ποιεῖν µὴ εἰδότι τὴν Einen guten Vergleichspunkt für die Anverwandlung dieses Komplexes bietet Xenophons Symposion (um 375 v. Chr.). Dort wird von Sokrates etwas launig die Behauptung aufgestellt, die Rhapsoden könnten zwar Homers Werke aus dem Gedächtnis vortragen, würden aber »die Gedanken nicht verstehen«. (Xen., symp., 3, 6: »τὰς ὑπονοίας οὐκ ἐπίστανται«) Der angesprochene Nikeratos wehrt sich in scherzendem Tonfall gegen diesen Vorwurf unter Verweis auf die so lehrreichen Gegenstände, welche die homerische Epik doch wohl auszeichneten und die sich der Rhapsode wie selbstverständlich mit aneigne; vgl. ebd., 4, 6: »ἴστε γὰρ δήπου ὅτι ῞Οµηρος ὁ σοφώτατος πεποίηκε σχεδὸν περὶ πάντων τῶν ἀνθρωπίνων. ὅστις ἂν οὖν ὑµῶν βούληται ἢ 219

οἰκονοµικὸς ἢ δηµηγορικὸς ἢ στρατηγικὸς γενέσθαι ἢ ὅµοιος Α ᾿ χιλλεῖ ἤ Αἴαντι ἤ Νέστορι ἢ ᾿Οδυσσεῖ, ἐµὲ θεραπευέτω. ἐγὼ γὰρ ταῦτα πάντα ἐπίσταµαι.« (»Ihr wisst doch wohl, dass Homer als der Gelehrteste so ziemlich über alle menschlichen Dinge gedichtet hat. Wer auch immer von euch nun ein Hauswirt, Staatsmann oder Feldherr werden oder einem Achilleus, einem Nestor oder einem Odysseus gleich zu werden wünscht, der möge sich um meine Gunst bemühen. Denn ich verstehe mich auf all diese Dinge.«). 220 Platons Auffassung von Wissen, das einen Menschen berechtigterweise überhaupt als Kundigen nennbar macht, wird hier so verwendet, wie sie im Theaitetos als gerechtfertigte, wahre Meinung (vgl. Plat., Tht., 201c–206a9) diskutiert wird. Zur vorplatonischen Begriffsgeschichte – die hier nicht ausführlicher Gegenstand sein kann – vgl. die grundlegende Studie von Snell (1924).

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ἀλήθειαν – φαντάσµατα γὰρ ἀλλ᾽ οὐκ ὄντα ποιοῦσιν – ἤ τι καὶ λέγουσιν καὶ τῷ ὄντι οἱ ἀγαθοὶ ποιηταὶ ἴσασιν περὶ ὧν δοκοῦσιν τοῖς πολλοῖς εὖ λέγειν. 221

Wurde der Aspekt des εὖ λέγειν im Ion noch spezifisch auf Homer bezogen (περὶ ῾Οµήρου), so geht es hier nunmehr um einen allgemeinen Wissensanspruch, den die Dichter gegenüber ihren Rezipienten nicht einzulösen vermögen. Dass die Dichter in Platons Idealstaat keine wohlgelittene Stellung einnehmen, war bereits durch die harschen Qualitätsurteile über die jeweiligen τέχνη-Auffassungen deutlich geworden. Sie sind – wie in Kapitel ii.3.b gezeigt – metaphysisch nicht ohne die Ideenwelten des Wahren, Guten und Schönen begründbar. Die Scheinhaftigkeit poetischer Fabrikate wird hier gleichwohl besonders drastisch mit dem Vorwurf des Betrügens (ἐξηπάτηνται) belegt. Platon lässt hier nachdrücklich große Zweifel daran aufkommen, dass über Vorstellungen (φαντάσµατα) – ein weiteres Mal sowohl als Ausdruck einer οὐσία-Lehre als auch anhand einer Topologie von Seelenvermögen vorgeführt – 222 Wissen transportiert werden könnte. Im Rahmen seines dualistischen Idealismus lässt Platon für die Essenz des Wissens grundsätzlich eine höhere Wertigkeit veranschlagen als es für die enthusiastischen Rührungsprinzipien überhaupt in Frage käme; das Wissen kann daher auch vor den behaupteten Vermögen der Propheten und Orakeldeuter problemlos bestehen. In all diesen Fällen scheint stets die essentielle Tragweite der Dichtkunst auf dem Prüfstand zu stehen. Ebenso spielt an einer prominenten Stelle der Apologie – dort, wo Sokrates vor dem Richtertribunal über seinen Besuch bei den Dichtern spricht – dieser Gegensatz, bei nur geringfügiger Variation im Ausdruck, eine wesentliche Rolle: ἔγνων οὖν αὖ καὶ περὶ τῶν ποιητῶν ἐν ὀλίγῳ τοῦτο, ὅτι οὐ σοφίᾳ ποιοῖεν ἃ ποιοῖεν, ἀλλὰ φύσει τινὶ καὶ ἐνθουσιάζοντες ὥσπερ οἱ θεοµάντεις καὶ οἱ χρησµῳδοί· 223 Plat., Pol., 10, 598e3–599a4: »Denn notwendigerweise muss der gute Dichter, wenn er über das, worüber er dichtet, gut dichten soll, als ein Kundiger dichten, oder er ist nicht imstande zu dichten. Es ist also zu erwägen, ob diese [Kundigen] von diesen Nachahmern etwa betrogen worden sind, und, wenn sie ihre Werke sehen, nicht bemerken, dass diese um das Dritte vom Seienden entfernt sind, und auch leicht für jemanden zu dichten sind, der die Wahrheit nicht kennt – denn sie erdichten Vorstellungen, nicht Seiendes; oder [sc. es ist zu erwägen,] ob sie tatsächlich etwas sagen und die guten Dichter wirklich darin kundig sind, worüber sie für die meisten gut zu reden scheinen«. 222 Ausgedrückt in den beiden φαίνεσθαι-Derivaten φαντάσµατα (psychologisch) und φαινόµενα (ontologisch). 223 Plat., apol., 22b8–c2: »Ich erkannte nun auch bei den Dichtern in kurzer Zeit dies: Sie dichten nicht aus einer Weisheit heraus dasjenige, was sie dichten, sondern von Natur aus, indem sie in Begeisterung verfallen wie die Seher und Weissager«. Die Wahl der σοφία (und nicht der ἐπιστήµη) 221

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Der Enthusiasmus fungiert hier, ähnlich wie im Ion, als Chiffre für den göttlichen Anstoß, der zunächst die Dichter in eine innere Bewegung versetzt. Diese Bewegung wird dann durch die dichterischen Werke an die Rezipienten weitergegeben. Während der Enthusiasmus also dazu geeignet ist, Kräfte – genauer: Kraftfolgen – freizusetzen, entfalten die epistemischen Gegenstände hingegen ihre Wirkungen erst durch die entsprechenden Äußerungsakte. Will ein Dichter also von Stoffen künden, von denen er nichts versteht, so besteht die Möglichkeit, ihn an seiner Wirkmacht zu messen (hier kann das Urteil ungeachtet seiner Inkompetenz positiv ausfallen) oder in Erwägung zu ziehen, wie angemessen und kompetent er über seine Gegenstände spricht. In Frage gestellt wird hier also weder der Sinngehalt von Wissen an sich noch die göttliche Beseeltheit, sondern derjenige der Dichtkunst auf Grundlage einer neu zu definierenden Rolle des Dichters – in der das Wissen eine neue Rolle einnimmt und die enthusiastischen Inspirationstheorien gleichsam herausfordert. In beiden Fällen geht es darum, aus einer intensiven Größe (innere Bewegtheit, Kompetenz in Wissensbereichen) eine extensive (Affizierung des Publikums, Vermittlung von Wissen) zu machen. Beide Essenzen, diejenige des Wissens und diejenige der göttlichen Kraft, sind ihrem Ursprung nach grundverschieden (menschlich oder göttlich), ihrem Ziele nach aber stets auf den Menschen selbst gerichtet; sie machen ihn im einen Fall zum Kundigen, nicht jedoch zwangsläufig zum Dichter, im anderen Fall zum Dichter, nicht jedoch zwangsläufig zu einem Kundigen. Aus dieser zweifachen Perspektive hängt die Dignität des Untersuchungsgegenstandes, der τέχνη ποιητική, an zwei Beziehungen – an derjenigen zwischen Gott und Mensch und an derjenigen zwischen Mensch und Mensch. Dichtkunst tritt hier nicht so sehr als Ursprung, sondern als Vermittlung und Weitergabe einer bestimmten Primärgröße auf. Ist diese Größe – unter Bezug auf Göttlichkeit (Enthusiasmos) beziehungsweise Wahrheit (Wissen) – umstandslos dem Bereich des Essentiellen zuordenbar, so fällt das Prinzip der Weitergabe in den Bereich der Kontingenz – im einen Fall, dass sich für die Wirkkräfte überhaupt empfängliche Seelen in der Welt finden lassen; im anderen Fall, dass das Wissen des Rhapsoden mit demjenigen der in den vorgetragenen Werke enthaltenen Wissen übereinstimmt. Somit sehen wir hier auch den alten Streitfall zwischen Wesentlichem und Akzidentellem in einer neuen Gemengelage aufscheinen. 224 ist durch den zu widerlegenden delphischen Orakelspruch motiviert, dass »niemand weiser [sc. als Sokrates] sei.« (ebd., 21a6 f.: »µηδένα σοφώτερον εἶναι.«). 224 Daher erscheint es auch zu kurz gegriffen, die δύναµις primär auf einen Leistungsgedanken zu beziehen, der im Spannungsfeld von Eigen- und Fremdverdienst zu verorten wäre, wie es etwa Müller vorschwebt: »Dass nicht jede dem Menschen verfügbare d[ynamis; D. B.] sich eigener Leistung verdankt, zeigt hierbei die Kennzeichnung der Rhapsodistik als göttlicher Fähigkeit (theia

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Es lässt sich somit festhalten: Das Problem der dichterischen Initiation tritt spätestens ab der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. nicht in einfachen Mustern vor Augen, sondern wird in technischen, dynamischen und epistemischen Zusammenhängen gedacht. Der Ausgangspunkt der Dichtkunst kann daher grundsätzlich – bei unterschiedlicher aspektueller Gewichtung – auf eine professionelle (menschliche) Aneignung, auf ein (göttliches) Vermögen oder auf ein Wissenssystem bezogen werden. Hierbei werden auch auf diskursiver Ebene zusehends Fragen metonymischen Zuschnitts aufgeworfen, denn mit dem Aufstieg und der gleichzeitigen Diversifizierung der einzelnen τέχναι rücken auch deren Beziehungen zueinander verstärkt in den Blickpunkt des philosophischen Interesses – ein Phänomen, das sich übergreifend sowohl bei den Sophisten wie bei Platon wie auch bei Aristoteles feststellen lässt. Derartige Justierungen sind als Bestandteile eines gegenüber der Archaik erheblich erneuerten Weltverständnisses einzustufen; die genannte Trias gewinnt somit auch eine Art neue Deutungshoheit gegenüber der seit Hesiod bekannten Dualität von Stoff und Transzendenz. Die Problemstellung, die hierin aufgeworfen wird – und für die der Ion bei all seiner impliziten Polemik und seiner teils spielerischen Diktion durchaus ernst zu nehmen ist –, besteht darin, dass das göttliche Vermögen nicht mehr eine ihm eigentümliche Form erstrebt – um die sich traditionellerweise der Mythos bemühte –, sondern mit einem weiteren zur Entäußerung geeigneten Gegenstand, dem Weltwissen, konkurriert. Beim Wissen handelt es sich indes, im Gegensatz zum göttlich aufgefassten Enthusiasmus, um eine genuin menschliche Kompetenz, die Stoffe nach bestimmten Regeln verarbeitet, arrangiert und weitergibt. Daher kommt ihr – begünstigt durch den generellen Aufstieg der παιδεία in der attischen Poliskultur – ein hoher gesellschaftspolitischer Wert zu. Was hier auf dem Prüfstand steht, ist das bis dahin über Jahrhunderte kaum angetastete göttliche Wirkvermögen und damit substantiell auch das heilige Wissen der Dichter. Dieses Wissen erscheint hier geradezu profaniert, indem es durch die praktischen Disziplinen herausgefordert und recht unmittelbar ersetzt wird. 225 Der von den Lehrdichtern erstmals in Richtung einer Transzendenz formulierte Wissensanspruch wird unter dem Einfluss der sophistischen Lehren – die das Wissen in genau die entgegengesetzte Richtung, nämlich auf die Ansprüche des politischen Lebens hin ausrichten – mit rhetorischem Aufwand nach Kompetenzen in dynamis) in Abgrenzung von einer bewusst erworbenen und kognitiv fundierten technê (Ion 553c, 534c), was in Verbindung mit dem enthusiasmos-Motiv zur Erklärung der Fähigkeiten der Dichter zu sehen ist.« (Müller [22013], 304 f.). 225 Feldherrenkunst, Ökonomik und Politik genießen zwar in der attischen Poliskultur ein zweifellos hohes Ansehen, scheinen aber formal doch weit entfernt von den Wissensansprüchen eines Hesiod, Parmenides oder Pindar.

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bestimmten irdischen Bereichen abgestuft. Das Universelle muss sich daher am Speziellen messen, so dass – so man wieder das alte Gegensatzpaar bemühen möchte – der Stoff nicht mehr zu seiner ihm eigenen Form gelangt, sondern sich nunmehr Stoff an Stoff misst. Dies ruft eine Art der Neubestimmung hervor, die weder der Epistemologie noch den Fiktionskünsten gemäß erscheinen kann.

4.b. (Ps.-)Longins Traktat Περὶ ὕψους (De sublimitate)

Eine herausgehobene Rolle für die Entwicklung der Affektenlehre spielt der wohl im frühen römischen Prinzipat entstandene pseudo-longinische Traktat Über das Erhabene (Περὶ ὕψους, De sublimitate). 226 Er kreist nicht nur um die Poetik, sondern auch um die Rhetorik, was den Text für unser Thema besonders attraktiv erscheinen lässt. Das Erhabene wird darin ausdrücklich nicht in einer wie auch immer gearteten, transzendentalen Sphäre verortet, in der es dann für sich als metaphysische Größe walten würde – wie wir es etwa noch bei Parmenides' Pistis oder bei der Idee des Guten in Platons Sonnengleichnis beobachten konnten – und von der aus es dann auf eine noch näher zu bestimmende Weise im Menschen tätig würde; vielmehr erfährt es seine Bestimmung aus der Wirkintensität, also den verschiedenen Graden an Affekten, die im Menschen selbst über innere Sinne wahrnehmbar sind. 227 Zu diesem Zweck werden Leitvorstellungen aus den poetologischen und rhetorischen Traditionslinien miteinander verknüpft. Besonders augenfällig zeigt sich das in einer Passage, der man vielleicht einen proömialen, gewiss aber einen programmatischen Zuschnitt zusprechen kann: οὐ γὰρ εἰς πειθὼ τοὺς ἀκροωµένους, ἀλλ᾽ εἰς ἔκστασιν ἄγει τὰ ὑπερφυᾶ· πάντη δέ γε σὺν ἐκπλήξει τοῦ πιθανοῦ καὶ τοῦ πρὸς χάριν ἀεὶ κρατεῖ τὸ θαυµάσιον, εἴγε τὸ µὲν πιθανὸν ὡς τὰ πολλὰ ἐφ᾽ ἡµῖν, ταῦτα δὲ δυναστείαν καὶ βίαν ἄµαχον προσφέροντα παντὸς ἐπάνω τοῦ ἀκροωµένου καθίσταται· καὶ τὴν µὲν Vgl. Böhn (2009b), 1387: »Bei Pseudo-Longin tritt mit dem Erhabenen eine ästhetische Wirkung hinzu, die aus der Affektenlehre der Rhetorik stammt (páthos, movere) und auch an Modelle religiöser Erfahrung angelehnt ist. In seiner Schrift Περὶ ὕψους, Perí hýpsu¯ s wird diese Wirkung dem Redner zugeschrieben, der die natürliche Begabung zum begeisterten Pathos hat und seine Zuhörer im richtigen Moment blitzartig ergreift und erschüttert, wodurch die Seele in platonischer Tradition sich dem Göttlichen annähert. Diese Erhebung der Seele ist zugleich eine Quelle der Beglückung für die Zuhörer«. 227 Halliwell (2011), 327–367 nähert sich diesem Phänomen auf dem umgekehrten Weg, indem er von Topiken der Wahrheit in De sublimitate ausgeht und dadurch zu indirekten Ausdrucksweisen über die Natur des Erhabenen gelangt, die in De sublimitate zwar zweifellos auch vorliegen, jedoch den ontischen Status der Kraft unterbestimmt lassen. 226

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ἐµπειρίαν τῆς εὑρέσεως καὶ τὴν τῶν πραγµάτων τάξιν καὶ οἰκονοµίαν οὐκ ἐξ ἑνὸς οὐδ᾽ ἐκ δυεῖν, ἐκ δὲ τοῦ ὅλου τῶν λόγων ὕφους µόλις ἐκφαινοµένην ὁρῶµεν, ὕψος δέ που καιρίως ἐξενεχθὲν τά τε πράγµατα δίκην σκηπτοῦ πάντα διεφόρησεν καὶ τὴν τοῦ ῥήτορος εὐθὺς ἀθρόαν ἐνεδείξατο δύναµιν. 228

Der Passus schreibt sich seiner Diktion nach in ein aus der aristotelischen Poetik bekanntes Begriffsfeld ein, 229 um daraus eine eigenständige Position zu entwickeln: Während Aristoteles das Glaubwürdige noch als wichtigen Nexus zwischen den Ebenen der Wirkintensität und Weltpotentiale hoch hielt, erscheint es hier zur Begründung des Erhabenen nicht geeignet. Denn Überzeugen ist – bei aller psychologischen Raffinesse, die es voraussetzt – ein Akt, der nun einmal gelingen oder misslingen kann, sich mithin an seiner Zielsetzung zu messen hat. Das Wunderbare hingegen herrscht autark, indem es auf seine Stärke vertrauen kann (κρατεῖ), und ebenso weist das Großartige eine dynamische Ausprägung (δυναστείαν καὶ βίαν) auf. Mehr noch, in ihm schlägt ausdrücklich auch die Kraft des Redners (ἡ τοῦ ῥήτορος δύναµις) selbst durch. Es lässt sich somit zunächst festhalten: Die hier diskutierte Kraft ist nicht an Momente des Reüssierens gekoppelt – wie wir es vor allen Dingen bei der sophistischen und der aristotelischen τέχνη, aber auch bei manchen Aspekten der ciceronischen vis (etwa im Sinne ihres Redeerfolgs) ausmachen können –, sondern entfaltet sich vielmehr selbst im Paradigma des Großartigen. Ebendiese Kraftbestimmung bildet zugleich einen kompositionellen Rahmen um den Hauptteil des Werks, der sich mit der psychologischen Explanation des Großartigen befasst. 230 Bevor der Autor nämlich auf die Erläuterung der einzelnen rhetorischen Figuren zu sprechen kommt, 231 betont er nochmals, dass die den Verstand überzeugende Beweisführung, das πείθειν, dem Erhabenen nicht gerecht werde. Vielmehr habe dessen δύναµις im Erschüttern des Vorstellungsvermögens (τὸ κατὰ φαντασίαν ἐκπληκτικόν) zu bestehen:

Long., sublim., 1, 4: »Das Großartige nämlich treibt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern in die Verzückung; denn überall und ständig wirkt das Wunderbare mit seiner Erschütterung stärker als das Glaubwürdige und Gefällige, insofern ja das Glaubwürdige in den meisten Fällen von uns beherrscht wird, dieses [sc. Großartige] indes unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt; auch die Kunst der Erfindung sowie die Ordnung und Einrichtung der Stoffe [›Gegebenheiten‹] sehen wir nicht aus ein oder zwei Stellen, sondern im ganzen Gewebe der Rede kaum hervorscheinen, wobei das Erhabene, wenn es am richtigen Punkt hervorbricht, die Stoffe gänzlich wie ein Blitz zerteilt und mit einem Schlag die geballte Kraft des Redners aufzeigt«. 229 Diese stellen – um nur die auffälligsten zu nennen – das Glaubwürdige (πιθανόν), die Erschütterung (ἔκπληξις), das Wunderbare (θαυµάσιον) sowie die ›Ordnung der Gegebenheiten‹ (τάξις πραγµάτων, in möglicher Anlehnung an die aristotelische σύστασις πραγµάτων) dar. 230 Vgl. ebd., 1, 4–15, 12. 231 Beginnend ab ebd., 16, 1. 228

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φύσει δέ πως ἐν τοῖς τοιούτοις ἅπασιν ἀεὶ τοῦ κρείττονος ἀκούοµεν, ὅθεν ἀπὸ τοῦ ἀποδεικτικοῦ περιελκόµεθα εἰς τὸ κατὰ φαντασίαν ἐκπληκτικόν, ᾧ τὸ πραγµατικὸν ἐγκρύπτεται περιλαµπόµενον. καὶ τοῦτ᾽ οὐκ ἀπεικότως πάσχοµεν· δυεῖν γὰρ συνταττοµένων ὑφ᾽ ἕν ἀεὶ τὸ κρεῖττον εἰς ἑαυτὸ τὴν θατέρου δύναµιν περισπᾷ. 232

Die sachlich aufzeigende Beweisführung (τὸ ἀποδεικτικόν) tritt gegenüber der Obmacht der Stärke (τὸ κρεῖττον) zurück, durch die erst der Hörer fortgezogen wird (περιέλκεσθαι). 233 Die Bestimmungsrichtung eines solchen Impetus ist die Vorstellungswelt (φαντασία). Sind es in der Rhetorik die inferioren Affekte (cupiditates) sowie die Verstandestätigkeit (probatio), also unterste und oberste psychologische Instanzen, die als Rahmensetzung einer dreigeteilten Stillehre herangezogen werden, so ist es hier ein mittleres Seelenvermögen, das ins Zentrum gerückt wird. Im zentralen Ausdruck »τὸ κατὰ φαντασίαν ἐκπληκτικόν« liegt ein intensivierendes Moment vor: Das Erhabene hat die Kraft, unsere Vorstellungswelt 234 aufzuwühlen und mit Bildern zu füllen, die wiederum eine nachhaltige Wirksamkeit entfalten.

Ebd., 15, 11: »Von Natur aus nämlich hören wir an all solchen Stellen [sc. der Rede] stets das Stärkere heraus, von wo aus wir uns von der Beweisführung zu demjenigen fortziehen lassen, was das Vorstellungsvermögen erschüttert und wodurch der Sachbeweis in strahlendem Glanz verborgen wird. Werden nämlich zwei Elemente verbunden, so zieht stets das Stärkere die Kraft des anderen an sich«. 233 Durchaus in anderer Bedeutung als noch das ἕλκειν im Ion. Während es dort die Rhapsoden waren, welche die Zuhörer parapsychologisch an sich zogen, so ist es hier ein immanenter Prozess des Hingerissenwerdens, der sich aus der spontanen Konfrontation mit dem Erhabenen im Zuhörer selbst ergibt. 234 Der Phantasiebegriff wird hier wiederum nach zwei artes geschieden, insofern es »dir [sc. Terentianus] nicht entgangen sein dürfte, dass die rhetorische und die dichterische Phantasie jeweils etwas Anderes wollen – weder [ist dir entgangen], dass das Ziel der dichterischen Phantasie die Erschütterung darstellt, noch [ist dir entgangen], dass dasjenige der rhetorischen jedoch die klare Darstellung ist; beiden ist indessen gemein, dass sie [. . . ] und erregen wollen.« (Long., sublim., 15, 2: »ὡς δ᾽ ἕτερόν τι ἡ ῥητορικὴ φαντασία βούλεται καὶ ἕτερον ἡ παρὰ ποιηταῖς, οὐκ ἂν λάθοι σε, οὐδ᾽ ὅτι τῆς µὲν ἐν ποιήσει τέλος ἐστὶν ἔκπληξις, τῆς δ᾽ ἐν λόγοις ἐνάργεια, ἀµφότεραι δ᾽ ὅµως τό τε * ἐπιζητοῦσι καὶ τὸ συγκεκινηµένον.«) Bedauerlicherweise fehlt in der Überlieferung der erste Teilaspekt der gemeinsamen Wirkziele. Es dürfte sich – auch wenn das nur eine Mutmaßung bleiben kann – allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen Bewegungsausdruck, komplementär zum συγκεκινηµένον, gehandelt haben. 232

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4.b.α. Die Kraft des Erhabenen

An eine solche dynamische Bestimmung wird im achten Kapitel in noch differenzierterer Weise angeknüpft, als es in den ersten Passagen der Fall war. Es kann hinsichtlich der Explikation des Erhabenen als das zentrale gelten. Hierzu werden fünf Quellen der erhabenen Sprachkunst angeführt, deren gemeinsame Grundlage »die Redekraft [ist], ohne die überhaupt nichts wäre«. 235 Am wichtigsten sei hierbei die »Kraft hinsichtlich der Denkinhalte«. 236 Die zweite Quelle sei »das starke, begeisterte Pathos«. 237 Beide beruhen dabei »zum größten Teil auf eigenständiger Anlage«, 238 während die übrigen drei Quellen – dies sind die Figurenbildung (πλάσις τῶν σχηµάτων), die großartige Sprechweise (γενναία φράσις) sowie die Zusammenstellung in Wort und Satz (ἡ ἐν ἀξιώµατι καὶ διάρσει σύνθεσις) – »auch durch Kunst« 239 erlernt werden können. Somit finden sich selbst die im grammatischen Elementarunterricht vermittelten Figuren und Tropen im Rahmen eines wirkintensiven Begriffs vom Erhabenen wieder. 240 Auffällig ist bei alledem die gleichbleibende Grundstruktur, die sich nach den beiden Seiten des Autochthonen und des künstlich Erlernbaren richtet. Sie sind dem Traktat durchweg in Form eines Anschlusses an traditionelle Diskurse 241 wie auch immanenter Argumentationswege eingegeben, indem sie an ganz unterschiedliche Begründungszusammenhänge gekoppelt werden. In diesem Sinn genießt für die Bestimmung des Erhabenen die Klärung des Bezugs Ebd., 8, 1: »τῆς ἐν τῷ λέγειν δυνάµεως, ἧς ὅλως χωρὶς οὐδέν«. Ebd., 8, 1: »τὸ περὶ τὰς νοήσεις ἁδρεπήβολον«; vgl. zu dieser Junktur Liddell / Scott 9 ( 1982), s. v. »ἁδρεπήβολος«, 24: »power of forming great conceptions«. 237 Long., sublim., 8, 1: »τὸ σφοδρὸν καὶ ἐνθουσιαστικὸν πάθος«. Der Beitrag von Lackenbacher (1911) hierzu ist ebenso knapp wie mittlerweile überholt; vgl. besser hierzu Bompaire (1973). 238 Long., sublim., 8, 1: »κατὰ τὸ πλέον αὐθιγενεῖς«. 239 Ebd.: »καὶ διὰ τέχνης«. 240 Diese Lehrmeinung befindet sich durchaus im Einklang mit der poetologisch-rhetorischen Tradition, nach der sich auch syntagmatische Figuren und gedankliche Wendungen in die Affektenlehre einfügen lassen; vgl. Vickers (2008), 115: »So galten die Figuren und Tropen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als mimetischer Ausdruck spezifischer, klar definierter Gefühlszustände.« Dies führt Vickers im Folgenden noch genauer anhand des Demetrios-Kommentars zu Demosthenes aus, in dessen Tradition er auch (Ps.-)Longin berechtigterweise verortet (vgl. ebd., 116). Angesichts der sowohl formal wie auch lexikalisch stark regulierten attisch-sophistischen Kunstprosa ist an Vickers These eher anzuzweifeln, dass Aristoteles für die topische Verbindung von Figuren, Tropen und Affekten einen Archegeten darstellte; vgl. bereits die Ausführungen hierzu bei Norden (51958a), 12–47. Weiterhin lässt sich anführen, dass es keinesfalls ›nur‹ ein mimetischer Ausdruck der Sprecherpsyche ist, der den Figuren und Tropen in aristotelischer Tradition zukommt, sondern insbesondere eine äußere Wirkkraft, die sich noch an den Rezipienten ablesen lässt. 241 Zu diesen traditionellen Diskursen sind, wie die bisherigen historischen Betrachtungen gezeigt haben, maßgeblich die sophistischen, die akademischen sowie die poetologischen und rhetorischen zu zählen. 235

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von Kunst und Natur einen Vorrang, was sich ebenfalls bereits zu Beginn der Abhandlung zeigt: ἡµῖν δ᾽ ἐκεῖνο διαπορητέον ἐν ἀρχῇ, εἰ ἔστιν ὕψους τις ἢ βάθους τέχνη, ἐπεί τινες ὅλως οἴονται διηπατῆσθαι τοὺς τὰ τοιαῦτα ἄγοντας εἰς τεχνικὰ παραγγέλµατα. γεννᾶται γάρ, φησί, τὰ µεγαλοφυῆ καὶ οὐ διδακτὰ παραγίνεται, καὶ µία τέχνη πρὸς αὐτὰ τὸ πεφυκέναι· χείρω τε τὰ φυσικὰ ἔργα, ὡς οἴονται, καὶ τῷ παντὶ δειλότερα καθίσταται ταῖς τεχνολογίαις κατασκελετευόµενα. ἐγὼ δὲ ἐλεγχθήσεσθαι τοῦθ᾽ ἑτέρως ἔχον φηµί, εἰ ἐπισκέψαιτό τις, ὅτι ἡ φύσις, ὥσπερ τὰ πολλὰ ἐν τοῖς παθητικοῖς καὶ διηρµένοις αὐτόνοµον, οὕτως οὐκ εἰκαῖόν τι κἀκ παντὸς ἀµέθοδον εἶναι φιλεῖ, καὶ ὅτι αὕτη µὲν πρῶτόν τι καὶ ἀρχέτυπον γενέσεως στοιχεῖον ἐπὶ πάντων ὑφέστηκεν, τὰς δὲ ποσότητας καὶ τὸν ἐφ᾽ ἑκάστου καιρόν, ἔτι δὲ τὴν ἀπλανεστάτην ἄσκησίν τε καὶ χρῆσιν ἱκανὴ παρορίσαι καὶ συνενεγκεῖν ἡ µέθοδος[.] 242

Besonders hervor sticht in diesem Passus die programmatische Zentrierung des φύσις-Begriffs, der mit der Versicherung einhergeht, dass Kunst und Natur sich doch keinesfalls auszuschließen haben. Ein weiteres Mal – nachdem dies auch bereits bei Aristoteles beobachtet werden konnte – ist es die Regelhaftigkeit, die einen gemeinsamen Bestimmungsvektor von Kunst und Natur ausmacht. Anders gesprochen: Der natürliche Urgrund des Erhabenen wird nicht dadurch aufgehoben, dass zu seiner Umsetzung auch eine technische Methode benötigt wird. Das Erhabene tritt vielmehr aus beiden Urgründen hervor, die simultan zu denken sind, namentlich aus der natürlichen – bisweilen unsichtbaren – Naturimmanenz und der – äußerlich wahrnehmbaren – Fertigkeit. Diese konzeptuelle Verschränkung wird an keiner Stelle der Abhandlung ernsthaft in Zweifel gezogen, sondern immer wieder betont. 243 Dessen ungeachtet ergibt sich die Frage, was der Rede denn konkretermaßen zur Erhabenheit verhelfen könne. Und hierzu greift der Verfasser ein weiteres Mal auf die Diskurse zurück, Long., sublim., 2, 1: »Wir müssen indes gleich zu Beginn der Frage nachgehen, ob es eine Kunstfertigkeit des Erhabenen oder Tiefgründigen gibt, da manche ja meinen, es würden diejenigen sich gänzlich täuschen, die derartige Dinge in Kunstregeln überführen. Die großartigen Dinge nämlich, heißt es, werden geboren und sind nicht als lehrbare aufzufassen, und eine einzige Kunstfertigkeit führe zu ihnen, nämlich die Naturanlage; und die Werke der Natur werden, wie sie glauben, nur schlechter und im Ganzen kümmerlicher, wenn sie durch die Kunstregeln zum bloßen Knochengerüst gemacht werden. Ich hingegen behaupte, dass das Gegenteil bewiesen werden kann, wenn man in Erwägung zieht, dass die Natur zwar meistens im Pathetischen und Gehobenen nach eigenem Gesetz, nicht jedoch irgendwie willkürlich und ganz ohne Regel zu sein beliebt, und dass diese als Prinzip und urtümliches Element des Werdens in allen Dingen wirkt; dass ferner die Bestimmung des rechten Maßes und des jeweils richtigen Zeitpunkts und schließlich des richtigen Einübens und Gebrauchs eine Aufgabe der Verfahrensweise ist«. 243 Etwa im Zusammenhang mit der stilistischen Diskussion über die Verwendung von Hyperbata; vgl. ebd., 22, 1. 242

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die wir in unserer historischen Betrachtung entscheidend kennengelernt hatten, auf die Naturphilosophie, die Affektenlehre sowie auf den Aristotelismus. Teils zeigt sich das in verdichteter topischer Form: οὐκοῦν ἐπειδὴ πᾶσι τοῖς πράγµασι φύσει συνεδρεύει τινὰ µόρια ταῖς ὕλαις συνυπάρχοντα, ἐξ ἀνάγκης γένοιτ᾽ ἂν ἡµῖν ὕψους αἴτιον τὸ τῶν ἐµφεροµένων ἐκλέγειν ἀεὶ τὰ καιριώτατα, καὶ ταῦτα τῇ πρὸς ἄλληλα ἐπισυνθέσει καθάπερ ἕν τι σῶµα ποιεῖν δύνασθαι. ὃ µὲν γὰρ τῇ ἐκλογῇ τὸν ἀκροατὴν τῶν ληµµάτων, ὃ δὲ τῇ πυκνώσει τῶν ἐκλελεγµένων προσάγεται. οἷον ἡ Σαπφῶ τὰ συµβαίνοντα ταῖς ἐρωτικαῖς µανίαις παθήµατα ἐκ τῶν παρεποµένων καὶ ἐκ τῆς ἀληθείας αὐτῆς ἑκάστοτε λαµβάνει. 244

Während zunächst über Ausdrücke wie φύσει, πράγµατα, ὕλη, ἐξ ἀνάγκης etc. eine physiologische Diktion, wie man sie bereits in den Begriffstableaus von Aristoteles nachverfolgen konnte, entwickelt wird, ruft der paronomastische Gegensatz zwischen πράγµατα und παθήµατα zwei wesentliche Größen aus den poetologischen Traditionen auf: die Behandlung von Wirklichkeitssubstraten sowie die Erzeugung von Affekten. Vorrang im Rahmen einer solchen Bestimmung genießt gegenüber dem stofflichen Substrat – obschon es einen elementaren Naturgrund markiert (τινὰ µόρια ταῖς ὕλαις συνυπάρχοντα) – indes die Kraft des Erhabenen. Den Hörer an sich zu reißen, wie es hier vorgestellt wird, mehr noch, Affekte aus der Wahrheit selbst zu deduzieren (ἐκ τῆς ἀληθείας αὐτῆς), zeigt ein wesentliches Anliegen des Traktats an: die Überwindung einer strengen Teilung von philosophischer Wahrheitssuche und pathetischer Rührung in den sprachlichen Kunstwerken. In den Vordergrund gerückt werden zur Explikation zwei poetologisch-rhetorische Bestimmungsbereiche, die – wie gesehen – bereits seit vielen Jahrhunderten systematische Behandlungen erfahren haben; einerseits – wenn man etwa die Lehrgedichtstradition und Platons Politeia rekapituliert – die Lehr- und Denkinhalte; andererseits – wenn man etwa den platonischen Ion und Teile der aristotelischen Poetik fokussiert – die Affekte. Die Überwindung dieser Dichotomien zugunsten einer legitimen Stellung des Erhabenen gelingt vorwiegend über die Festigung genau eines Begriffs. Dieser lautet, wie im Folgenden ausgehend vom Pathos und der Noesis noch genauer zu zeigen sein wird, Kraft. Long., sublim., 10, 1: »Da ja nun an allen Dingen von Natur aus gewisse Bestandteile haften, die in ihrer Substanz enthalten sind, so sollte für uns notwendigerweise der Urgrund des Erhabenen darin bestehen, aus den Elementen stets die Wichtigsten auszuwählen und diese gerade wie in einem einzigen Körper miteinander verbinden zu können. Das eine zieht den Hörer durch die Wahl der Gegenstände, das andere durch die Verdichtung des Gewählten zu sich heran. Sappho zum Beispiel nimmt die Affekte, die sich aus den Liebesräuschen ergeben, jedes Mal aus den Begleitumständen und aus der Wahrheit selbst«. 244

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4.b.β. Noetisches und Pathetisches

Das Erhabene lässt sich in Bezug auf seine Kraft (δύναµις) – darin dem rhetorischen ingenium ähnlich und der θεία δύναµις des Ion unähnlich – sehr diversifiziert betrachten. So werden im Hauptteil des Traktats bereits die Urgründe eines solchen Vermögens nach verschiedenen Gesichtspunkten ausgeführt. Als maßgebliche Größen treten hierbei die Kraft der Denkinhalte und die Kraft des Pathos hervor. Zunächst zu den Denkinhalten: Diese liegen bereits ohne rednerische Verwirklichung vor, allerdings nicht, wie in der klassischen Rhetorik, in einem abstrakten Theoriegebäude, sondern in den höheren Seelenregionen des Menschen selbst, und somit in konkreter Wirklichkeit. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick wie eine Selbstverständlichkeit anmuten, ist jedoch generell nicht unerheblich für eine poetologisch-rhetorische Theorie, die sich den Bewegungen in der menschlichen Seele verschreibt. Im Anschluss an ein pädagogisches Amalgam platonischer und stoischer Prägung, welches besagt, dass es notwendig sei, die Seelen zur Größe zu erziehen (τὰς ψυχὰς ἀνατρέφειν πρὸς τὰ µεγέθη) und mit edlen Gedanken gleichsam zu befruchten (ὥσπερ ἐγκύµονας ἀεὶ ποιεῖν γενναίου παραστήµατος), wird mit einer Frage des in Form eines Interlocutors herangezogenen Terentianus fortgefahren. Hierbei werden die hohe Gesinnung und die hohen Gedanken topisch miteinander verknüpft: τίνα, φήσεις, τρόπον; γέγραφά που καὶ ἑτέρωθι τὸ τοιοῦτον· ὕψος µεγαλοφροσύνης ἀπήχηµα. ὅθεν καὶ φωνῆς δίχα θαυµάζεταί ποτε ψιλὴ καθ᾽ ἑαυτὴν ἡ ἔννοια δι᾽ αὐτὸ τὸ µεγαλόφρον, ὡς ἡ τοῦ Αἴαντος ἐν Νεκυίᾳ σιωπὴ µέγα καὶ παντὸς ὑψηλότερον λόγου. 245

Die oberen Seelenvermögen und der Sitz des Ethos werden hier vor allem als Größen von hervorgehobener Dignität aufgerufen und in einer Abhängigkeit, namentlich in Form eines Widerhalls (ἀπήχηµα), zueinander gestellt. Ein Primärziel des Redners – oder im Falle des angeführten exemplum Aias eben: Schweigers – stellt in diesem Sinn die Erzeugung des Erhabenen in einem noetischen Bereich (ἔννοια) dar, der gar nicht explizit nach außen treten muss, um seine hohe Gesinnung (µεγαλοφροσύνη) auszudrücken. Das heißt freilich nicht, dass es okkasionell angebracht erscheinen kann, auch in den äußerlich wahrnehmbaren Gesichtspunkten einer Person Derartiges sichtbar 245 Long., sublim., 9, 2: »›Auf welche Weise [sc. erzieht man die Seele zur Größe und erfüllt sie mit edlen Gedanken]?‹, wirst du fragen. Ich habe anderswo ja schon etwa Folgendes geschrieben: Erhabenheit sei Widerhall von großer Gesinnung. Daher findet bisweilen schon ohne gesprochenes Wort der Gedanke für sich allein wegen seines hohen Sinns Bewunderung – in dem Sinn ist etwa das Schweigen des Aias in der Totenbeschwörung etwas Großes und Erhabeneres als jede Rede«.

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zu machen. Wenn es genau hierum geht, nähert sich der Autor des Traktats über den aus der rhetorischen Tradition bekannten Leitaspekt der richtigen Lebensweise einer Parallelisierung von Rede und Leben an. Diese an Cicero und Horaz gemahnende Figur lautet hier paraphrasiert: Die im Leben erkennbare Gesinnung (φρόνηµα, φρονεῖν) spiegelt sich auch in der Denkweise wider, woraus sich dann wiederum recht unmittelbar auch die Qualität der Worte des erhabenen – oder eben nicht erhabenen – Redners bemessen lasse. 246 Der Weg von der Lebens- zur Redeweise ist hier grundsätzlich konsistent zu denken. Es ist augenfällig, dass sich der Verfasser gerade in dieser Überzeugung durchaus leicht apodiktisch gibt: πρῶτον οὖν τὸ ἐξ οὗ γίνεται προυποτίθεσθαι πάντως ἀναγκαῖον, ὡς ἔχειν δεῖ τὸν ἀληθῆ ῥήτορα µὴ ταπεινὸν φρόνηµα καὶ ἀγεννές. οὐδὲ γὰρ οἷόν τε µικρὰ καὶ δουλοπρεπῆ φρονοῦντας καὶ ἐπιτηδεύοντας παρ᾽ ὅλον τὸν βίον θαυµαστόν τι καὶ τοῦ παντὸς αἰῶνος ἐξενεγκεῖν ἄξιον· µεγάλοι δὲ οἱ λόγοι τούτων, κατὰ τὸ εἰκός, ὧν ἂν ἐµβριθεῖς ὦσιν αἱ ἔννοιαι. 247

Die Kraft der gewichtigen Gedanken (ἔννοιαι ἐµβριθεῖς) kommt hier über eine nautische Metaphorik zur Darstellung; 248 sie wird geradezu als eine natürliche Folge aus der hohen Gesinnung ihres Urhebers heraus vorgestellt, woraus überhaupt eine hohe Vermögensweise resultieren könne. 249 Insgesamt zeigt sich in diesen Einlassungen, dass Lebens-, Denk- und Redeweise nur in einer Verschränkung zu sehen sind. Das Affektive und das Ethologische werden über das Erhabene allerdings noch enger geführt, als es sich für die Bereiche der Rhetorik und Poetik allein festmachen ließe. Einen durchgängigen Begründungsvektor Interessant ist, dass – wie wir in Kapitel II.5.b bei Cicero noch genauer sehen werden – auch hier nicht letztgültig bestimmbar erscheint, wem der kausale Vorrang in diesem Zusammenspiel gebührt, was also genau durch was bedingt wird. Ebenso wie bei Cicero ist dies aber auch gar nicht allzu entscheidend, solange beide Teilaspekte auf die Formung einer δύναµις (beziehungsweise bei Cicero: eines ingenium) hinarbeiten und schließlich deren / dessen Ausdruck darstellen. 247 Ebd., 9, 3: »Zunächst nun ist es notwendig, als eine Grundbestimmung festzusetzen, dass der wahre Redner keinen niedrigen oder unedlen Sinn hat. Auch ist es nämlich nicht möglich, dass Menschen, die ihr ganzes Leben lang kleinlich und unterwürfig denken und handeln, irgendetwas Bewundernswertes und der Ewigkeit Würdiges hervorbringen. Groß hingegen, versteht sich, sind die Worte derjenigen, deren Gedanken gewichtig sind«. 248 Das Adjektiv ›ἐµβριθῆς‹ wird in den ältesten Bezeugungen von Schiffstauen ausgesagt, findet sich jedoch metaphorisch dann vor allen Dingen auf Sitte (ἦθος) und Gesinnung (φρόνηµα) bezogen; vgl. die einschlägigen Belegstellen (Herodot, Plutarch, Aristoteles), die Liddell / Scott (91982), s. v. »ἐµβριθῆς«, 421 anführt. 249 Es ist gerade aufgrund dieser sich vornehmlich an Produktivität orientierenden Verschränkung eine dynamisch-genetische und eben keine abstrakt-propositionale Bestimmungsweise, die den Gedanken (ἔννοιαι) hier zukommt. Konzeptuell zeigt sich daher auch eine größere Nähe zur νόησις (Denkakt) als zum νόηµα (Denkgegenstand). 246

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bildet dabei die diätetische Kraft des Urhebers, die sich in der Stärke seiner Denkinhalte und somit auch in der δύναµις des Erhabenen selbst niederschlägt. Die Kraft des Erhabenen speist sich an diesen Stellen ganz erheblich aus dem Urgrund der Geistesinhalte – und nicht der Affekte – seines Urhebers. Neben den Denkinhalten sei die zweite wichtigste Quelle für die Kraft des Erhabenen nun »das starke, begeisterte Pathos«. 250 In diesem Zusammenhang wird es geradezu zur Programmatik des Traktats erhoben, dem Pathos eine Neubehandlung 251 zukommen zu lassen, die letztlich zu dessen Sublimierung führen soll: θαρρῶν γὰρ ἀφορισαίµην ἄν, ὡς οὐδὲν οὕτως ὥς τὸ γενναῖον πάθος, ἔνθα χρή, µεγαλήγορον, ὥσπερ ὑπὸ µανίας τινὸς καὶ πνεύµατος ἐνθουσιαστικῶς ἐκπνέον καὶ οἱονεὶ φοιβάζον τοὺς λόγους. 252

Die Stelle schreibt sich über ein Inspirationsvokabular (µανία, πνεῦµα/πνεῖν, ἐνθουσιαστικῶς) merklich in die Diskussionen über göttliche Wirkkräfte ein, bezieht diese jedoch nicht so sehr auf die Rhapsodenperson, wie man es noch in Platons Ion beobachten konnte, sondern auf das Pathos selbst. Dieses muss bereits im Dichter vorhanden sein, jedoch nicht – wie bei Aristoteles – im Sinne eines Voraugenstellens, sondern in genuiner und ungebrochener Weise. Es erfährt bei (Ps.-)Longin eine merklich sinnlichere Prägung. Der Autor wendet sich in diesem Zusammenhang in einem recht ausführlichen Exkurs Homer zu – dies nach eigener Aussage aus zwei Gründen: zum einen, um festzustellen, dass auch große Dichternaturen bisweilen allzu sehr ins episodische Ausschweifen gerieten 253 – ein Phänomen, das traditionellerweise mit der Überspannung des stofflichen Vermögens in Verbindung gebracht wird und

250 Long., sublim., 8, 1: »τὸ σφοδρὸν καὶ ἐνθουσιαστικὸν πάθος«. Vgl. hierzu den Artikel von Lackenbacher (1911) sowie den Beitrag von Bompaire (1973). 251 Die zu geringe Berücksichtigung der Affekte in Caecilius’ verlorengegangener kleiner Abhandlung über das Erhabene, wird vom Autor ausdrücklich kritisiert; vgl. Long., sublim., 8, 1. Ob das Studium dieses Traktats – wie vom Autor behauptet – den ›tatsächlichen‹ Anlass zum Verfassen von Περὶ ὕψους geboten hat, ist nicht entscheidbar. 252 Ebd., 8, 4: »Ich wage wohl frohen Mutes zu behaupten, dass nichts so sehr wie das echte Pathos an der richtigen Stelle einen erhabenen Eindruck schafft, das wie aus einer gewissen Raserei und eines [göttlichen] Hauchs heraus mit Begeisterung ausströmt und die Worte gewissermaßen von Phoibos ergriffen macht«. Im Gegensatz zu Schönberger (22002), 21 muss das φοιβάζον nicht unbedingt auf den apollinischen Wirkbereich des Prophetischen, sondern sollte noch dezidierter auf denjenigen der Dichtkunst bezogen werden. Dies steht in keinem Widerspruch dazu, dass beide Bereiche in der Antike – etwa anhand des poeta vates-Topos – mitunter enge semantische Verbindungen eingehen. 253 Vgl. Long., sublim., 9, 14.

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einen basalen technischen Fehler darstellt; 254 zum anderen, dass Dichternaturen höchstselbst durchaus mit erschlaffender Leidenschaft zu kämpfen haben. Das im Dichter vorhandene Pathos ist daher für dessen Produktivität zuständig und lässt sich darüber hinaus auch in gattungspoetische Aussagen überführen: δευτέρου δὲ εἵνεκα προσιστορείσθω τὰ κατὰ τὴν ᾿Οδυσσείαν, ὅπως ᾖ σοι γνώριµον ὡς ἡ ἀπακµὴ τοῦ πάθους ἐν τοῖς µεγάλοις συγγραφεῦσι καὶ ποιηταῖς εἰς ἦθος ἐκλύεται. τοιαῦτα γάρ που τὰ περὶ τὴν τοῦ ᾿Οδυσσέως ἠθικῶς αὐτῷ βιολογούµενα οἰκίαν οἱονεὶ κωµῳδία τίς ἐστιν ἠθολογουµένη. 255

Auf eine Formel gebracht, führt zu wenig Pathos zu einem Übermaß des Ethos; letzteres wiederum stellt ein konstitutives Merkmal der Charakterkomödie (κωµῳδία ἠθολογουµένη) dar. 256 Der Verlust des Pathos markiert somit auch einen Verlust an generischer Höhe, insofern die Charakterkomödie sich bei all ihren Vorzügen nach antikem Verständnis kaum mit dem genus grande des Versepos – einer Gattung, der die Odyssee mühelos entsprechen sollte – messen kann. 257 Eine solche generische Aussage kann indes nur einen Teilaspekt des Affektiven, nämlich dessen Implementierung in ein literarisches Werk, beschreiben. Es müssen indes darüber hinaus bestimmte Bedingungen erfüllt sein, um einen Affekt in actu erhaben zu machen: zum einen sollten die Leidenschaften nicht singulär auftreten, sondern nur in einer Versammlung von Affekten (παθῶν σύνοδος), die dann erst im dichterischen Werk zu einem Ganzen vereinigt werden (συναίρεσις). 258 Die Übertragung des aristotelischen Formalkriteriums einer σύστασις πραγµάτων auf den Bereich seelischer ReEs sei hier an Aristoteles’ Diktum erinnert, nach dem die Dichter »den Erzählstoff nicht über sein Vermögen hinaus strapazieren« (Aristot., poet., 9, 1451b38: »παρὰ τὴν δύναµιν παρατείνοντες τὸν µῦθον«) sollen. 255 Long., sublim., 9, 15: »Aus einem zweiten Grund noch seien die Beobachtungen zur Odyssee angemerkt: dass du nämlich darüber einsichtig wirst, dass erschlaffende Leidenschaft bei großen Schriftstellern und Dichtern sich in einer Charakterdarstellung auflöst. So nämlich sind seine [sc. Homers] sittlichen Lebensschilderungen vom Hause des Odysseus gewissermaßen eine Charakterkomödie«. 256 Diese Korrelation wird in den klassizistischen Debatten des 18. Jahrhundert noch eine wichtige Rolle spielen – insbesondere in Auseinandersetzung mit der französischen Antikenrezeption sowie mit den Kategorien der lexis und des mythos. 257 Dass also eine als majestätisch geltende Gattung wie das Versepos ausgerechnet von der Frage nach menschlichen Affekten bestimmt wird, mag aus einer voreingenommenen Sichtweise ein wenig überraschen, wird jedoch plausibel, wenn man in Erwägung zieht, dass bereits das Initialwort der überlieferten europäischen Literatur die µῆνις (›Groll‹) des Achilleus ist, die geradezu als thematische Einführung in die Ilias gelten darf. Auch im weiteren Verlauf ist es dort ganz wesentlich der Widerstreit der Affekte, über den die Konflikte zwischen Figuren wie Agamemnon, Menelaos und Paris aufgerufen und fortgeführt werden. Versepos und Affekte sind also seit ihrer nachvollziehbaren Überlieferung eng miteinander verknüpft. 258 Vgl. Long., sublim., 10, 3. 254

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gungen wird hier in Form eines Sappho-Lobs vollzogen. Denn das Auswählen und wechselseitige Verbinden (ἐκλέξαι καὶ εἰς ἄλληλα συνδῆσαι) der Höhepunkte (τὰ ἄκρα) und Spannungen (ὑπερτεταµένα) der Affekte könne als ihr eigentümlicher Vorzug gepriesen werden. 259 Ein drittes Merkmal für den hohen Wert eines Affektes stellt dessen Spontaneität dar. Denn pathetische Mittel reißen nach Meinung des Sprechers gerade dann stärker mit, wenn sie im Augenblick geboren werden: ἄγει γὰρ τὰ παθητικὰ τότε µᾶλλον, ὅταν αὐτὰ φαίνηται µὴ ἐπιτηδεύειν αὐτὸς ὁ λέγων, ἀλλὰ γεννᾶν ὁ καιρός, ἡ δ᾽ ἐρώτησις ἡ εἰς ἑαυτὸν καὶ ἀπόκρισις µιµεῖται τοῦ πάθους τὸ ἐπίκαιρον. 260

Der Ausbruch der Leidenschaft wird zwar nach wie vor als mit der Fiktion verhafteter (µιµεῖται), jedoch in seiner Intensität gewissermaßen als ein vom Augenblick selbst hervorgebrachter gedacht. Die von einer unmittelbaren Frage ausgehende Bedrängtheit des Empfängers und dessen Zwang zur Antwort bildet hier das Gleichnis zur Illustration der besagten Unmittelbarkeit. 261 Die im Folgenden aufgeführten Beispiele aus Prosa (Xenophon) und Poesie (Homer) zeigen an, dass die sublimierende Funktion, die den Affekten hier zugeschrieben wird, auch auf die Literar- beziehungsweise Autorenkritik auszuweiten ist. Dementsprechend sollte sich diese, wie das Erhabene selbst, an Paradigmen von Natur, Kraft und Pathos – und nicht so sehr an einer abstrakten Mustergültigkeit – orientieren. Anders gewendet: Ebenso wenig, wie das Erhabene für den Verfasser in metaphysischen Höhen aufgeht, sind die Vorbilder in Poesie, Rhetorik und Historiographie in einer der Welt entrückten Sphäre zu verorten. Da Περὶ ὕψους eine solche Autorenkritik so konsequent eingegeben ist, dass sie zu den wichtigsten Elementen des Traktats gezählt werden kann, sei dieser Aspekt nochmals gesondert aufgegriffen.

Vgl. ebd., 10, 1. Es folgt ebd., 10, 2 ein Zitat des bereits in der Antike vielgerühmten, von Catull im carmen 51 adaptierten φαίνεται µοι-Fragments zur Illustration ebendieser Vorzüglichkeit. 260 Long., sublim, 18, 2: »Das Pathetische nämlich treibt dann umso stärker an, wenn es nicht der Sprechende selbst als Mittel zu verwenden, sondern der Augenblick hervorzubringen scheint; ja, die Frage und die Antwort an sich selbst ahmt das Aufkommen der Leidenschaft nach«. Vgl. zur Junktur »τοῦ πάθους τὸ ἐπίκαιρον« Liddell / Scott (91982), s. v. »ἐπίκαιρος«, 635: »spontaneous outburst of passion«, wo sich auf ebendiese Stelle bezogen wird. 261 Im Folgenden (Long., sublim., 18, 2, sowie ebd., 19, 1, wobei in der Überlieferung vier Seiten verloren sind) wird dieser Aspekt noch weiterentwickelt und dabei auf die Wortfügungen beziehungsweise -fluss selbst bezogen. Bei mitreißenden Autoren nämlich würden »die Worte hervorbrechen und sich gleichsam ergießen, wobei sie dem Sprechenden selbst schon fast zuvorkommen.« (ebd., 19, 1: »ἐκπίπτει καὶ οἱονεὶ προχεῖται τὰ λεγόµενα, ὀλίγου δεῖν φθάνοντα καὶ αὐτὸν τὸν λέγοντα.«). 259

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4.b.γ. Autorenkritik

Bei den im Traktat verhandelten Kräften handelt es sich vor allem um Individualvermögen. Darauf, dass ihr Anspruch eben nicht allgemeiner, sondern spezifischer Natur ist und dass die Leidenschaften auch in ihrer weiteren Verkettung (aus der Interiorität des Urhebers über dessen Worte bis hin zu den Rezipienten) nicht ihren Status als Leidenschaften einbüßen, 262 gründet sich die Autorenkritik, die in Περὶ ὕψους verfolgt wird. Diese findet sowohl über Beurteilungen immanenter Kräfte als auch über äußere Vergleiche statt: Zum einen sind Dichter und Redner selbst nicht mehr vor Kraftverlusten gefeit. Wie bereits gesehen, kann selbst Homers Vermögen durchaus nachlassen – das heißt, er büßt an göttlicher Beseeltheit (πνεῦµα) ein; 263 zum anderen lässt sich das Pathos auch zwischen den Dichtern und Rednern als Vergleichsmoment ansetzen. So werden Demosthenes und Platon dezidiert über den Aspekt ihrer Leidenschaftlichkeit verglichen: ὅθεν οἶµαι κατὰ λόγον ὁ µὲν ῥήτωρ ἅτε παθητικώτερος πολὺ τὸ διάπυρον ἔχει καὶ θυµικῶς ἐκφλεγόµενον, ὁ δὲ καθεστὼς ἐν ὄγκῳ καὶ µεγαλοπρεπεῖ σεµνότητι οὐκ ἔψυκται µέν, ἀλλ᾽ οὐχ οὕτως ἐπέστραπται. 264

An dieser Stelle klingt die antike Stillehre aus der römischen, spätrepublikanischen Zeit an – noch bezogen auf den Gegensatz von Philosophie und Rhetorik sowie auf den Bereich der griechischen Vorbilder. Es kommen hierfür Kategorien ins Spiel, denen über Hitze und Kälte Wirkintensität zugeschrieben wird. Werden die Vergleichsgrößen indes geändert, also ein Grieche mit einem Römer in demselben Professionsbereich verglichen, so erfährt auch die Bildebene noch eine merkliche Erweiterung. Aber auch in dem Fall kommt der Autor nicht ohne Naturparadigmen aus, die Kraft und Stärke bedeuten. So unterscheide sich etwa Demosthenes gerade in seiner Schnelligkeit, Kraft und Leidenschaft selbst noch von Cicero: ὁ µὲν γὰρ ἐν ὕψει τὸ πλέον ἀποτόµῳ, ὁ δὲ Κικέρων ἐν χύσει, καὶ ὁ µὲν ἡµέτερος διὰ τὸ µετὰ βίας ἕκαστα, ἔτι δὲ τάχους ῥώµης δεινότητος οἷον καίειν τε ἅµα Ganz im Gegensatz zum Ion, wo sie in einem späteren Stadium mit der Episteme gleichsam kollidieren mussten. 263 Vgl. Long., sublim., 8, 13. Deren stärkste Präsenz habe sich in der Verfassung der Ilias ausgedrückt und in der Odyssee bereits nachgelassen. 264 Ebd., 12, 3: »Somit meine ich dementsprechend, dass der eine Redner [sc. Demosthenes], da er viel leidenschaftlicher ist, viel Glut und heftig brennendes Feuer besitzt, dass aber der andere [sc. Platon], da er in Hoheit und hoher Würde verharrt, zwar nicht abgekühlt, aber auch nicht so mitreißend ist«. Das Adjektiv πολύ kann – anders als bei Schönberger (22002), 39 – durchaus in apò koinoû-Stellung in steigernder Funktion zu παθητικώτερος und τὸ διάπυρον gesehen werden. 262

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καὶ διαπράζειν σκηπτῷ τινι παρεικάζοιτ᾽ ἂν ἢ κεραυνῷ, ὁ δὲ Κικέρων ὡς ἀµφιλαφής τις ἐµπρησµός, οἶµαι, πάντη νέµεται καὶ ἀνειλεῖται, πολὺ ἔχον καὶ ἐπίµονον ἀεὶ τὸ καῖον καὶ διακληρονοµούµενον ἄλλοτ᾽ ἀλλοίως ἐν αὐτῷ καὶ κατὰ διαδοχὰς ἀνατρεφόµενον. 265

Dass Demosthenes – wie der Verfasser hier betont – die Zuhörer ›mit Gewalt‹ (µετὰ βίας) an sich reiße, mag wie eine geradezu brachiale Einlassung anmuten. Die konstatierte Gewalt beruht elementar auf Wirkkraft und Geschwindigkeit; das entsprechende asyndetische Trikolon (τάχους ῥώµης δεινότητος) bereitet im Folgenden auf die im Bild des Gewitters kulminierende Idee des rhetorischen Vermögens vor; die aufsteigende Silbenzahl bildet dabei das Hervorbrechen ab, wie es die für den Autor so wichtigen Aspekte der Gebundenheit an den Augenblick und der Spontaneität einfordern. Bei Cicero sei es hingegen die innere Komplexität (ἄλλοτ᾽ ἀλλοίως ἐν αὐτῷ), die ihn zu einer so wirkmächtigen Rednerperson mache. Gerade weil seine psychologische Innenwelt an diversen Stellen so unterschiedlich eingefärbt – beziehungsweise in trophologischer Manier genährt ist (ἀνατρεφόµενον) –, kann er auch die Seelen der Zuhörer in entsprechender Weise bewegen. Urwüchsigkeit und Diversität können daher als die beiden Immanenzen gelten, die das Rede- und Wirkvermögen eines Redners bestimmen. In den folgenden Passagen wird ein solch dynamische Psychagogik in den Diskussionen über die Autoren weitestgehend aufrechterhalten. Die imitatio und aemulatio auctorum werden dabei wie selbstverständlich mit in den Argumentationsgang einbezogen: ἐνδείκνυται δ᾽ ἡµῖν οὗτος ἁνήρ, εἰ βουλοίµεθα µὴ κατολιγωρεῖν, ὡς καὶ ἄλλη τις παρὰ τὰ εἰρηµένα ὁδὸς ἐπὶ τὰ ὑψηλὰ τείνει. ποία δὲ καὶ τίς αὕτη; τῶν ἔµπροσθεν µεγάλων συγγραφέων καὶ ποιητῶν µίµησίς τε καὶ ζήλωσις. καί γε τούτου, φίλτατε, ἀτρὶξ ἐχώµεθα τοῦ σκοποῦ· πολλοὶ γὰρ ἀλλοτρίῳ θεοφοροῦνται πνεύµατι τὸν αὐτὸν τρόπον, ὅν καὶ τὴν Πυθίαν λόγος ἔχει τρίποδι πλησιάζουσαν, ἔνθα ῥῆγµά ἐστι γῆς ἀναπνεῖν ὥς φασιν ἀτµὸν ἔνθεον, αὐτόθεν ἐγκύµονα τῆς δαιµονίου καθισταµένην δυνάµεως παραυτίκα χρησµῳδεῖν κατ᾽ ἐπίπνοιαν. 266 Long., sublim., 12, 4: »Der eine [sc. Demosthenes] nämlich wirkt meist durch eine scharf abgeschnittene Höhe, Cicero hingegen durch ein Ausgießen. Und weil der unsrige [sc. Demosthenes] alles mit Gewalt, dazu noch mit Schnelligkeit, Stärke und Eindringlichkeit gewissermaßen in Flammen setzt und zugleich fortreißt, könnte man ihn einem Blitz oder Donner gleichstellen. Cicero hingegen greift, meine ich, wie eine Feuersbrunst überall um sich und erfasst alles mit starker, dauernder Glut, die sich in ihm an verschiedenen Orten auf verschiedene Weise verteilt und immer wieder nährt«. 266 Ebd., 13, 2: »Dieser Mann [sc. Platon] führt uns vor, wenn wir es nicht außer Acht lassen wollen, dass noch ein anderer Weg außer dem Genannten sich zum Erhabenen erstreckt. Welcher 265

Komplexe Vermögensbegriffe

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Dieser nicht nur für die poeta vates-Topik einflussreiche Passus bewegt sich in seiner eigenen Gedankenführung selbst mit regelrechter Rasanz von Platon – und damit von dessen Ideenhimmel – bis hin zur delphischen Pythia – und damit bis zu deren chthonischer Inspirationstiefe. Parallel werden dabei die poetologisch bedeutsamen Bereiche von Nachahmung und Wetteifer (µίµησίς [∼ imitatio] und ζήλωσις [∼ aemulatio]) zur göttlichen Kraft (τῆς δαιµονίου [. . . ] δυνάµεως [∼ vis divina]) hin entwickelt. Es kann kaum genug betont werden, dass es sich bei der Ausführung dieser Größen hier gerade nicht um eine Assimilation an ein vorausgesetztes Muster handelt, sondern vielmehr um eine göttliche Kraftübertragung – wodurch sowohl die θεία δύναµις-Diskurse aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. eine Regeneration erfahren als auch die Vorstellungen von dichterischer Vorbildhaftigkeit erweitert werden. Wettstreit und Nacheifern zwischen den Dichtern setzen demzufolge Kräfte höchster Dignität frei. Das Zusammenführen eines derartigen Begriffsbestands, der sich nicht zuletzt im prägnanten Ausdruck des ἔνθεον niederschlägt, erfüllt somit die Funktion, ein allzu starres Nachahmungsdenken durch den Hinweis auf den dynamischen Urgrund des Dichtens und der Dichter in doppelter Hinsicht wieder auf sein Fundament zu stellen. Und dieses Fundament heißt Kraft.

5. Komplexe Vermögensbegriffe 5.a. Aristoteles’ Poetik als Verbund von Extensivierung und Intensivierung

Bei Aristoteles liegt der Vergleich mit Platon nahe, da hierdurch das Neuartige der Poetik deutlich gezeigt werden kann: Während in Platons Politeia eine von der Ideenlehre geprägte Hierarchie von den εἴδη und ἰδέαι hinab zu den φαντάσµατα und ποιήµατα vorherrschte und sich im Ion das dialektische Wechselspiel zwischen epistemischen und dynamischen Größen bewegte, lässt sich bei Aristoteles als grundlegende Richtung erkennen, die Entwicklungen, die sich in der akademischen Philosophie und der sophistischen Aufklärung zusehends auf die epistemische Seite der Dichtkunst verschlugen, auf eine neue Systematik hin auszurichten. Dabei werden die formgebenden Aspekte der Poiesis neu betont. Aristoteles' Philosophie behandelt, im Gegensatz zu Platon, ist es und wie ist er beschaffen? Es ist die Nachahmung und der Wetteifer gegenüber den früheren großen Schriftstellern und Dichtern. Und an diesem Ziel wollen wir, bester Freund, hartnäckig festhalten. Viele nämlich werden durch fremden Anhauch mit Gott erfüllt – auf dieselbe Weise, die man von der Pythia berichtet: Nähere sich diese nämlich einem Dreifuß bei einem Erdspalt, so hauche dieser, wie man sagt, göttliche Dämpfe aus, und sie empfange daraus eine göttliche Kraft und weissage sogleich durch den Anhauch«.

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die epistemische Frage in den sprachlichen Künsten kaum mehr als eine grundlegende; 267 er tut dies erst recht nicht in Bezug auf die Fachwissenschaften. Vielmehr veranschlagt er für die sprachlichen Disziplinen einen Anspruch auf Allgemeinheit, wie ihn die Rhetorik und Dialektik verkörpern. Er ergibt sich aus den Diziplinen selbst und bedarf keiner ausführlichen Herleitung. Diejenige Schrift, in der dieser Gedanke wohl am prägnantesten formuliert wird, ist die Rhetorik selbst: ἀµφότεραι γὰρ περὶ τοιούτων τινῶν εἰσιν ἃ κοινὰ τρόπον τινὰ ἁπάντων ἐστὶ γνωρίζειν καὶ οὐδεµιᾶς ἐπιστήµης ἀφωρισµένης. διὸ καὶ πάντες τρόπον τινὰ µετέχουσιν ἀµφοῖν. πάντες γὰρ µέχρι τινὸς καὶ ἐξετάζειν καὶ ὑπέχειν λόγον καὶ ἀπολογεῖσθαι καὶ κατηγορεῖν ἐγχειροῦσιν. 268

Man mag in dieser Äußerung auch einen Versuch erkennen, den durch die akademische Kritik an der Sophistik leicht ramponierten Ruf der Rhetorik wiederherzustellen. Denn das Allgemeine, dem hier der Kompetenzanspruch des Redners entsprechen möge, genießt bei Aristoteles – wie im Übrigen auch die Poetik zeigen wird – grundsätzlich eine höhere Wertigkeit als das Spezielle. Der gute Redner behält es sich daher stets vor, über alle Gegenstände sprechen zu können und erhebt sich dadurch indirekt über die Spezialwissenschaften. Er ist es, der die Gemeinplätze (τόποι) beherrscht. Man könnte ihn, auch wenn das mit einer gewissen Hybris einherginge, in diesem Punkt selbst als dem Philosophen überlegen bezeichnen. 269 Der souveräne Umgang mit den unterDiese Abgrenzung trifft Aristoteles mit größtmöglicher Klarheit in der Schrift Peri hermeneias, wo er programmatisch ankündigt, nur Aussagen mit Wahrheitswert behandeln zu wollen. Die Rhetorik und Poetik seien demgegenüber, da sie eben nicht vorrangig auf den propositionalen Wahrheitsgehalt einer Aussage abzielten, als Disziplinen von der logischen Sprachbetrachtung (›Hermeneutik‹) abzugrenzen; vgl. Aristot., herm., 4, 17a4–7: »Οἱ µὲν οὖν ἄλλοι ἀφείσθωσαν – ῥητορικῆς γὰρ ἢ ποιητικῆς οἰκειοτέρα ἡ σκέψις –, ὁ δὲ ἀποφαντικὸς τῆς νῦν θεωρίας.« (»Die übrigen [Redeformen] seien nun beiseite gelassen – denn deren Betrachtung ist der Rhetorik oder der Poetik angemessener –, die aussagende Redeform ist vielmehr Gegenstand der jetzigen Betrachtung.«) Für Platon hingegen gingen aus genau solchen epistemologischen Fragen noch die wichtigsten Kritikpunkte hervor: Die Rhetorik ziele nicht auf die Wahrheit ab, sondern vermöge im schlimmsten Falle Menschen sogar vom Unwahren zu überzeugen, und die Poesie ziele nicht auf die höchste Seinsart ab, sondern könne den Menschen, in umgekehrter Richtung, vielmehr nur Scheinbilder von Scheinbildern vermitteln. 268 Aristot., rhet., 1, 1, 1354a1–6: »Denn beide [die Rhetorik und die Dialektik] befassen sich mit Dingen von solcher Art, deren Erkenntnis gewissermaßen allen [sc. Menschen] und nicht einer speziellen Wissenschaft gemein ist. Daher haben auch alle auf irgendeine Weise Anteil an beiden [Disziplinen]; denn alle bemühen sich bis zu einem gewissen Grad, ein Argument zu überprüfen oder zu stützen sowie sich zu verteidigen oder anzuklagen«. 269 Eine typisch sophistische Denkfigur, die auch in der römischen Antike noch häufiger aufgegriffen wird; vgl. besonders pointiert Cic., de orat., 3, 143: »[S]in eos diiungent, hoc erunt inferiores, quod in oratore perfecto inest illorum omnis scientia, in philosophorum autem cognitione non 267

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schiedlichsten Stoffen beschränkt sich daher nicht auf die Generierung und Darstellung von bestimmten Wissensformationen – Platon hätte mit der Applikation dieses Kriteriums, wie in Kapitel ii.3.b gesehen, hingegen eher geringe Schwierigkeiten –, sondern es stellt Aufgabe (ἔργον) und Vermögen (δύναµις) des Redners dar, das Überzeugende (πιθανόν) in einem jeden Redegegenstand zu erkennen und herauszustellen: πρὸς δὲ τούτοις ὅτι τῆς αὐτῆς τό τε πιθανὸν καὶ φαινόµενον ἰδεῖν πιθανόν, ὥσπερ καὶ ἐπὶ τῆς διαλεκτικῆς συλλογισµόν τε καὶ φαινόµενον συλλογισµόν· ἡ γὰρ σοφιστικὴ οὐκ ἐν τῇ δυνάµει, ἀλλ᾽ ἐν τῇ προαιρέσει. 270

Durch die topische Verbindung des πιθανόν mit der δύναµις (die hier ausdrücklich keine reine Absicht [προαίρεσις] darstellt, also nicht auf eine Handlungsebene [πρᾶξις] zu beschränken ist) erhalten die epistemischen Größen diejenigen Eingebungen, die auf Wirkungen – hier auf das Überzeugtsein des Rezipienten – abzielen. Diese Wirkungen spielen für das Rednervermögen offenkundig eine größere Rolle als der propositionale Wissens- und Wahrheitsgehalt, der in den Äußerungsgegenständen liegt – was freilich längst nicht heißt, dass das Überzeugende, das Wissen und das Wahre ein kontradiktorisches Verhältnis innehätten. Wichtig ist vielmehr, dass es hier weder einen Gott noch eine göttliche Idee gibt, welche(r) so etwas wie Wahrheit überhaupt stiften müsste. Die platonischen ἐπιστήµη/δύναµις-Aporien kommen somit gar nicht erst zur Geltung. Ähnliches gilt nun erklärtermaßen für die Poetik: Reine Wissensvermittlung ist für Aristoteles eines der denkbar unpoetischsten Ziele und daher ein leeres Argument, wollte man es – wie es noch Platon vorschwebte – gegen die Dichtkunst überhaupt ins Feld führen. Vielmehr scheint die Darstellung allgemeiner Weltzusammenhänge für Aristoteles eine gewichtigere Rolle bei der Bestimmung der Dichtkunst einzunehmen. Hierbei kann er an Traditionslinien anschließen, die – wie im historischen Verlauf bisher continuo inest eloquentia.« (»[W]enn man diese [Philosophen und Redner] jedoch unterscheiden wollte, so werden sie [die Philosophen] dadurch einen geringeren Rang einnehmen, dass sich in einem vollkommenen Redner das gesamte Wissen jener [Philosophen] befindet, in der Erkenntnisgabe der Philosophen jedoch nicht notwendig die Beredsamkeit vorhanden ist.«). 270 Aristot., rhet., 1, 1, 1355b15–17: »Hinzu kommt, dass es ihre [der Rhetorik] Aufgabe ist, das Überzeugende und das überzeugend Scheinende zu erkennen, wie es auch bei der Dialektik die Aufgabe ist, den Syllogismus und den scheinbaren Syllogismus [zu erkennen]: Die sophistische [Fertigkeit] nämlich gründet sich nicht auf ein Vermögen, sondern auf eine Absicht«. Der rhetorische Vermögensbegriff, hier noch in Abgrenzung zur Sophistik, jedoch in Analogie zur Dialektik vorgeführt, erfährt im Folgenden zusätzlich noch eine funktionale Bestimmung; vgl. ebd., 1, 2, 1355b25– 27: »ἔστω δὴ ἡ ῥητωρικὴ δύναµις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόµενον πιθανόν. τοῦτο γὰρ οὐδεµίας ἑτέρας ἐστὶ τέχνης ἔργον.« (»Daher muss das rhetorische Vermögen darin bestehen, hinsichtlich eines jeden [Gegenstandes] das darin befindliche Überzeugende zu betrachten. Denn dies ist die Aufgabe keiner anderen Kunstfertigkeit.«).

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gesehen – seit der griechischen Archaik als Standardmotive gedient haben: an die Erfindungsgabe, die Substrate der Wirklichkeit und die Wirkweisen der Poesie. Wo nun die Rhetorik hieraus vor allem die Wirkweisen favorisiert, nimmt für die Dichtkunst der zweite Punkt eine gewisse Vorrangstellung vor den anderen beiden ein, wie Fuhrmann ausführt: Sie [die Poetik; D. B.] nahm auch auf und verwandelte sich an, was man außerhalb der Akademie über Fragen der Dichtkunst geäußert hatte. Es waren insbesondere drei Themen, welcher sich die ältere Tradition mehr oder minder intensiv angenommen hatte. An erster Stelle pflegte man über das Wesen und die Quellen der dichterischen Erfindung nachzudenken: Hierbei haben von Anfang an, seit Homer, die Kategorien der Inspiration und der Technik, der erlernbaren Regeln, eine Rolle gespielt. Desweiteren ging es in der älteren Tradition – von den Anfängen bis zu den Zeitgenossen des Sokrates, den Sophisten – um den Wirklichkeitsbezug der Dichtung, um die Frage also, wie sich die Dichtung zur Natur, zur Wahrheit verhalte und verhalten müsse. [. . . ] An dritter Stelle endlich diskutierte man über die Wirkungen und Wirkungszwecke der Dichtung, wobei man sich von der Antithese ›Vergnügen – Belehrung (Nutzen)‹ leiten ließ. Für die aristotelische Poetik war von alledem vornehmlich das Stratum von Bedeutung, das die Sophistik hinterlassen hatte. 271

Der hier vorgenommenen Gewichtung zugunsten eines vorwiegenden Bezugs auf Wirklichkeit, Wahrheit und Natur, der in der aristotelischen Poetik vorliege, lässt sich nach den Vorbetrachtungen in Kapitel ii.2 problemlos zustimmen – gleichwohl ist noch anzufügen, dass Wirklichkeit, Wahrheit und Natur nicht unbedingt in einem Verbund betrachtet werden sollten, sondern als jeweils selbständige Instanzen einzustufen sind und im vierten Jahrhundert v. Chr. mittlerweile in höchst diversifizierten Begründungsverhältnissen auftreten, nämlich in den benannten technischen, epistemischen und dynamischen. Das bedeutet auch, dass diese Zuschreibungen weder hinter die in Kapitel ii.3.c erläuterten Bedeutungsdimensionen der τέχναι noch hinter einen diese τέχναι umfassenden Beschreibungsanspruch zurückfallen dürfen. Genau dieser Anspruch ist es, den die aristotelische Philosophie – es genügt ein beliebiger Blick auf ein beliebiges Proömium – an sich selbst stellt und geradezu akribisch verfolgt. Für den Bereich, der uns hier am meisten interessieren soll, den der Poiesis (ποίησις), zeigt sich nunmehr ein τέχνη-Begriff bestimmend, der erheblich von einer produktiven 272 Aneignung von weltkonstitutiven Paradigmen Fuhrmann (2003), 71. Der von Aristoteles ausgeführten naturalistischen Analogie von τέχνη und φύσις folgend, meint ›produktiv‹ hier ein Prinzip des Hervorbringens, das auf einer menschlich-gestalterischen Form der Bewegung (κίνησις) beruht. 271 272

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geprägt ist, um diese dann in eine allgemeine Bedeutsamkeit zu überführen. Wie schon der im Proömium indizierte κατὰ φύσιν-Anspruch gerade nicht – wie man vielleicht mit Blick auf die Rezeptionsspanne der späteren römischen ingenium/natura-Debatten vermuten könnte – auf innere Anlagen des Dichters oder damit in Zusammenhang stehende Größen (enthousiasmós/furor poeticus) verweist, sondern ganz basal auf die naturgemäßen Anfangsgründe der Dichtkunst, so wird auch in den modallogischen Paradigmen der Naturphilosophie und Metaphysik eine eher regelgeleitet anmutende Zugriffsweise auf die Wirklichkeit beibehalten. Im Anschluss an die bisherigen Darstellungen zum Verhältnis von Dichtung und Weltvermögen sowie nicht zuletzt aus seiner eigenen Programmatik heraus lässt sich diese Perspektive in einem ersten Zugriff als extrinsisch geprägt auffassen. 273 Die Poetik erscheint als ein Traktat, der sich von der Frage nach der Dichterperson als solcher durchaus entfernt; was demgegenüber in den Mittelpunkt tritt, sind die Dimensionen von Stoff und Form des dichterischen Kunstwerks. Um nun die Verschränkung von Stoff und Form als ein Vermögen sui generis zu begreifen, genügt es nicht anzuführen, dass der κατὰ φύσιν-Anspruch erkennbar nicht auf die Dichterperson zu beziehen ist und dass interiore Produktionsaspekte in der aristotelischen Poetik – abgesehen von der kurzgehaltenen Erwähnung einer εὐφυία – eine merklich untergeordnete Rolle spielen. 274 Wichtiger ist demgegenüber, dass die überwiegende Zahl an Begründungsinstanzen sich auf die Wirklichkeit und deren Darstellungsmodi in der DichtUm ein mögliches Missverständnis zu vermeiden: Hierdurch ist keineswegs ausgesagt, dass die von Aristoteles herangezogenen und als konstitutiv behaupteten Eigenschaften den dichterischen Werken nicht in gewisser Weise ›innewohnen‹. Jedoch wird dasjenige, was die Dichtkunst in ihrer genuinen Machart auszeichnet – sei diese nun als sprachliche Substanz oder als Wirkvermögen gedacht – argumentativ nicht wie in der Physik aus physikalischer Technizität (gerade weil diese dort bereits umfassend und prospektiv beschrieben worden ist), sondern aus externen Bezugsbereichen gewonnen: Der Dichter, der Geschichtsschreiber und der Philosoph unterscheiden sich nicht dadurch, dass sie eine andere Gemütslage hätten, sondern dass sie einen nach unterschiedlichen Regeln geleiteten Zugriff auf die Welt verfolgen. Dazu bedarf es jedoch vorrangig einer Welt. 274 Vgl. die Vorstellung von einer εὐφυία in Bezug auf die Fähigkeit, Metaphern zu bilden (Aristot., poet., 22, 1459a6 f.) sowie in einem ähnlichen, jedoch auf die Rhetorik bezogenen Sinn auch Aristot., rhet., 3, 10, 1410b8. Dilcher (2009), 174 fasst die εὐφυία als eine wohlgeordnete Naturanlage und daher als Gegensatz zum manisch-ekstatischen Dichter auf. Dass der aristotelischen Auffassung von Begabung ein irrationales Moment fehlt, ist dabei einigermaßen unstrittig. Zu fragen wäre allerdings, ob der zweite Typus, gerade wenn er einem ἐνθουσιασµός, einer göttlich gestifteten Begeisterung entspringt, tatsächlich keinerlei, nicht einmal metonymischen Ordnungsprinzipien unterliegt. Gegenüber Kyriakou, für den »human nature in general and the artist’s nature and ἦθος in particular« (Kyriakou [1993], 351) in der aristotelischen Poetik geradezu gleichberechtigt nebeneinanderstehen, scheint doch der erste Aspekt eines allgemein gefassten menschlichen Fundamentalvermögens – gerade im Verhältnis zur Frage nach dem Individualvermögen eines Dichters – signifikant zu überwiegen. 273

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kunst beziehen. Auch die Mimesis bildet hierzu keine Ausnahme, sondern im Gegenteil das prominenteste Beispiel. Als anschlussfähig an Fuhrmanns Vorschlag erweisen sich Höffes Einlassungen, denen zufolge Mimesis weder ein naturalistisches Nachahmen noch in planer Entgegensetzung pure Fiktion [bedeutet, D. B.], sondern dass ihre Werke kein bloß innersprachliches Phänomen sind; sie beziehen sich vielmehr auf eine unabhängige, vorgängig existierende Wirklichkeit. 275

Hieran anschließend drängt sich allerdings die Frage auf, ob es sich – wie von Fuhrmann und Höffe angenommen – um einen bloßen Wirklichkeitsbezug handelt, mit dem in der Poetik operiert wird, oder um komplexere Verfahren, die hier für die Entstehung des poetischen Kunstwerks verantwortlich sind. Eine richtungsweisende Rolle zur Beantwortung dieser Frage spielt die im Proömium genannte δύναµις εἰδῶν. Die dort angeführte δύναµις scheint nur äußerst wenig mit göttlichen Anstößen, inneren Begabungen oder metonymischen Kraftübertragungen zu tun zu haben. Vielmehr drückt sich bereits in der Kopplung an das εἶδος ein Anspruch aus, der auf gewisse, von der Form herrührende Wirkprinzipien verweist. Ebendiese Formgebung ist nun gerade nicht als bare äußerliche Gestalt einzustufen (der von Aristoteles hierfür bevorzugte Begriff hieße ohnehin µορφή), sondern fußt auf mimetischen Prinzipien, die sich nach modallogischen und somit naturgemäßen Dimensionen ausrichten. Erst eine solche Fundierung verhilft – worauf noch genauer einzugehen sein wird – der Dichtkunst zu ihrer eigentümlichen Wirkkraft. Für Aristoteles leitend ist der Gedanke, dass ohne ein prospektives Vorverständnis einer äußeren Welt die Poiesis mit einiger Grundsätzlichkeit nicht gelingen kann. Hierdurch liegt es für den Leser nahe, zunächst von einer Überführung von Weltinhalten in poetische Inhalte auszugehen. Mithin erscheint es einerseits von großem Interesse, welche metaphysischen Prädikamente es sind, die Aristoteles' τέχνη ποιητική zu einer derart natürlich bestimmbaren machen, andererseits erscheint es dann erst recht erläuterungswürdig, wie aus einem vorangestellten Wirklichkeitsbezug – sollte es sich hierbei tatsächlich um eine Referenz-, Repräsentations- oder Assimilationsfunktion handeln – affektive Wirkungen erzielt werden können. Und schließlich stellt sich in diesem Zusammenhang die für unser Thema vielleicht drängendste Frage, welchen Umfang nämlich die δύναµις der poetischen Erscheinungsarten – auch in Abgrenzung zu den zeitgenössischen akademischen und sophistischen Auffassungen – hier eigentlich innehat. Denn neben ihrer proömialen Erwähnung findet sich die δύναµις in diversen Bestimmungsmomenten der Dichtkunst wieder. Dabei zeichnet sich 275

Höffe (2009), 3.

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in den jeweiligen Begründungskontexten ein vielschichtiger Vermögensbegriff ab, den wir bereits in der Naturphilosophie kennengelernt hatten. Wird er im Proömium als vorwiegend formaler eingeführt, so ist er in seinem weiteren Gebrauch auf Stoff und Form zu beziehen – etwa wenn gefordert wird, die Dichter sollten »den Erzählstoff nicht über sein Vermögen hinaus strapazieren«, 276 oder die Melopoiia sei »dasjenige, was sein Wirkvermögen gänzlich als offenbares besitzt.« 277 Während im ersten Fall die auf den mythischen Stoff bezogene δύναµις im Sinne eines intrinsischen Potentials auftritt, das durch die Dichtkunst erst zur angemessenen Wirksamkeit kommen solle, lässt sich die der Melopoiia zugewiesene δύναµις φανερά als eine den Sinnen geöffnete und daher bereits in ihrer energetischen Überführung befindliche auffassen. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Melopoiia um die lyrische Gestaltung der Dichtkunst handelt, deren Energetizität hier thematisiert wird, wird die δύναµις hier mit einem formalen Kriterium verknüpft. Mag Aristoteles mit all diesen Begrifflichkeiten taxonomisch in der Poetik auch nicht ganz so präzise operieren, wie er es in der Physik und der Metaphysik tut, so lässt sich dennoch anhand der beiden dynamischen Grundaspekte, zum einen des Potentials eines in der Welt vorzufindenden Stoffs, zum anderen der affektiven Wirkweisen, ein Gesamtbild nachzeichnen, das sich von der Tradition eines enthusiastischen Hervorbrechens weitestgehend entfernt, dafür jedoch dem Welt- und Rezipientenzugriff von Seiten der Dichter einen hohen Stellenwert zuschreibt. Hier ist gewissermaßen die Brücke zwischen der Welt und den Rezipienten zu vermuten. Daher sind es vor allem die strukturellen Beziehungen zwischen den kompositionellen und den wirkästhetischen Beschreibungsebenen, die zur Erläuterung der Vermögensweisen poetischer Artefakte beitragen. Unter besonderer Ansehung des Spannungsverhältnisses von εἶδος und µῦθος wird der Blick im Folgenden zunächst auf die formalen und die stofflichen Kategorien gerichtet, die dem dichterischen Kunstwerk prinzipiell zuordenbar sind. Die Blickrichtung dieser Beschreibung soll dabei bereits auf die für das Verhältnis von Dichtung und Welt entscheidende Kategorie, das Mögliche (δυνατόν) selbst abzielen.

276 Aristot., poet., 9, 1451b38: »παρὰ τὴν δύναµιν παρατείνοντες τὸν µῦθον« – ein Appell, den auch Horaz in der Ars poetica noch aufgreifen wird; vgl. Hor., ars, 38–40: »Sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam / viribus et versate diu, quid ferre recusent, / valeant umeri. cui lecta potenter erit res,/nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo.« (»Nehmt, die ihr schreibt, einen Stoff, der euren Kräften entspricht, und erwägt lange, was eure Schultern zu tragen verweigern und was sie [sc. tragen] können. Demjenigen, der die Sache mit der nötigen Kraft gewählt hat, wird es nicht an Redegewandtheit und klarer Ordnung fehlen.«). 277 Aristot., poet., 6, 1449b35 f.: »ὃ τὴν δύναµιν φανερὰν ἔχει πᾶσαν«.

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5.a.α. Formale Ansprüche

Nach Aristoteles besteht eine Darstellung von Handlungen (µίµησις πράξεων) im sprachlichen Kunstwerk konkreterweise in einer Zusammenstellung von Gegebenheiten (σύστασις πραγµάτων). Die Bestandteile der Poesie erscheinen nicht ungeordnet, vielmehr folgen sie Kriterien der Kohärenz, die den poetischen Erscheinungsformen zuzukommen hat. Die τέχνη ποιητική verhält sich mithin dann naturgemäß, wenn sie eine gewissen Anforderungen genügende Struktur an Entitäten im Gedicht hervorbringt; diese Zusammenstellung gehört somit zu den wichtigsten Ansprüchen, die an die Dichtkunst überhaupt gestellt werden können. 278 Angesichts einer differierenden Begriffswahl – hier sind die µίµησις gegenüber der σύστασις und die πράξεις gegenüber den πράγµατα zu nennen – erscheint es etwas eng gefasst, ein πρᾶγµα mit einer πρᾶξις gänzlich gleichzusetzen, also in beiden Fällen von ›Handlungen‹ zu sprechen. Für die weitere Betrachtung sei daher für πρᾶγµα als heuristischer Terminus ›Gegebenheit‹ vorgeschlagen. 279 Dies schließt mit ein, dass diese im Kunstwerk auftretenden Gegebenheiten von Aristoteles bald konkreter, 280 bald abstrakter 281 gefasst werden können. Die Erläuterung derartiger Einheiten nach quantitativen und qualitativen Aspekten spielt bereits entsprechend den Äußerungen im Proömium (ἐκ πόσων καὶ ποίων) eine funktional höchst relevante Rolle für die Poetik: Ein Mythem wie ›Ödipus tötet seinen Vater‹ lässt sich, je nach veranschlagter Ebene, nicht nur im engeren Sinn als Handlung Vgl. etwa ebd., 6, 1450a15: »µέγιστον δὲ τούτων ἐστὶν ἡ τὼν πραγµάτων σύστασις« (»Am wichtigsten von diesen [Teilen der Tragödie] ist indes die Zusammenstellung der Gegebenheiten«) oder ebd., 7, 1450b22 f.: »ἐπειδὴ τοῦτο καὶ πρῶτον καὶ µέγιστον τῆς τραγῳδίας ἐστίν.« (»da dies das Erste und Wichtigste an der Tragödie ist.«). 279 Die meisten verbreiteten Übersetzungen scheinen durchaus ähnliche Bedenken zu haben; vgl. Schönherr (1972) und Fuhrmann (32008) sowie in jüngerer Zeit Schmitt (22011). Dass es bei den hier genannten πράγµατα nicht direkt und ausschließlich um Handlungen oder Taten geht, drücken Schönherr (1972), 27 und Fuhrmann (32008), 21 in ihren Übersetzungen mit »Begebenheiten« beziehungsweise ›Geschehnisse[n]‹ aus. Eine sehr allgemeine und dadurch eher ungenaue Übersetzung wäre es, von ›Sachen‹ oder ›Dingen‹ zu sprechen. Der hier vertretene Vorschlag ›Gegebenheiten‹ möchte – auch in Abgrenzung zum dynamischeren Begriffsaspekt der πράξεις – auf die Anordnung abgeschlossener oder zumindest abschließbar gedachter Sachlagen und Umstände abzielen. Denn gegenüber dem recht beliebten Translationsausdruck ›Sache‹ betont ›Gegebenheit‹ den im µα-Suffix enthaltenen Aspekt der Abgeschlossenheit. Nach Liddell / Scott wird dieser Sachaspekt vor allem im Pluralgebrauch repräsentiert – vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »πρᾶγµα«, 1457: »in pl., πράγµατα, 1. circumstances, affairs« –, der in der Poetik wiederum die häufigste Erscheinungsform ist. 280 Vgl. Aristot., poet., 6, 1450a33, dort auf die Stoffe bezogen. 281 Vgl. ebd., 7, 1451a10, dort anhand ihrer Natur, Größe und Fassbarkeit diskutiert. Es mag ein wenig überraschen, dass auch Platon bereits von dieser einer solch ›höheren‹ Semantik Gebrauch machte – bisweilen gar im Rahmen der Ideen- und Seelenlehre; vgl. Plat., Phaid., 66e2. 278

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(πρᾶξις) oder als stoffliche Grundlage (µῦθος) auffassen, sondern in seiner vorzüglichsten Weise als Sachverhalt, dem es innewohnt, auf etwas allgemein Bedeutsames zu verweisen, und der daher geradezu als ein solches gelten kann. 282 Seine Bedeutsamkeit erschließt sich jedoch keineswegs allein aus seiner topischen Präsenz heraus, sondern erst im Verhältnis zu weiteren Entitäten – eben in jener benannten σύστασις πραγµάτων. Ihrer eigenen Substanz nach sind die πράγµατα, ganz in der Tradition stofflicher Dispositive, nach wie vor an den Mythos gebunden; 283 unter dem Mythos ist demnach kein statisches Reservoir an Erzählungen oder Geschichten zu verstehen, das dann vom Dichter nach Belieben auszuschöpfen wäre – ein solches Bestreben wäre nach Aristoteles dezidiert »lächerlich« 284 zu nennen –, sondern, wie in der Neuzeit vor allem Lévi-Strauss in seinem strukturanalytischen Ansatz aus einer universal-anthropologischen Perspektive heraus vorgeschlagen hatte, als ein Beziehungsbündel aufzufassen, das vorwiegend in einem Verhältnis zu anderen Erzähl- und Verstehenspatterns einzuordnen ist. Der Mythos erscheint seinem Sinngehalt nach hier nicht orphisch tief oder dunkel, sondern enthält bereits eine noch zu verwirklichende Erzählgestalt. 285 Seine stoffliche Anlage bestimmt auch bereits seine zukünftige Form. Die Gegebenheiten können daher als handelndes wie auch als erzählendes Element auftreten, müssen jedoch in beiden Fällen über ihre jeweilige Funktionsweise qualitative Rechenschaft ablegen. Nach Aristoteles schlagen sich derartige Patterns konkret in den Struktureinheiten der Zusammenstellungen (συστάσεις, συνθέσεις) nieder, insofern diese Anfang (ἀρχή), Mitte (µέσον) und Ende (τελευτή) besitzen. Sie liefern zugleich diejenigen Paradigmen, die ihrer natürlich-notwendigen Ordnung gemäß erscheinen: 282

Vgl. auch Liddell / Scott (91982), s. v. »πρᾶγµα«, 1457: »thing of consequence or impor-

tance«. Vgl. am ausdrücklichsten Aristot., poet., 6, 1450a3 f.: »ἔστιν δὴ τῆς µὲν πράξεως ὁ µῦθος ἡ µίµησις« (»Die Darstellung der Handlung ist der Mythos.«); hier ist für πρᾶξις – in Hinblick auf das den Gedankengang einleitende »πράττοντες« (ebd., 6, 1449b31; »Handelnde«) – tatsächlich der Begriff ›Handlung‹ zu wählen. Zur definitorischen Abgrenzung der σύστασις und des µῦθος zur ῥῆσις vgl. ebd., 6, 1450a29–34. 284 Ebd., 6, 1451b25: »γελοῖον«. 283

Nach den bekannten Ausführungen bei Lévi-Strauss (1977), 226–254. Es mutet erstaunlich an, dass Lévi-Strauss den hohen Stellenwert, den Aristoteles der σύστασις sowie der semantisch benachbarten σύνθεσις beimisst, in seine eigene Strukturanalyse nicht mit einbezieht. Zur methodischen Erfassung dieser Beziehungen in einem weniger anthropologischen als vielmehr diskurstheoretischen Sinne erscheint demgegenüber der foucaultsche Begriff des Dispositivs geeignet; vgl. dessen Erstbestimmung: »Was ich unter diesem Titel (Dispositiv; D. B.) festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.« (Foucault [1978], 119 f.). 285

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διωρισµένων δὲ τούτων, λέγωµεν µετὰ ταῦτα, ποίαν τινὰ δεῖ τὴν σύστασιν εἶναι τῶν πραγµάτων, ἐπειδὴ τοῦτο καὶ πρῶτον καὶ µέγιστον τῆς τραγῳδίας ἐστίν. κεῖται δὴ ἡµῖν τὴν τραγῳδίαν τελείας καὶ ὅλης πράξεως εἶναι µίµησιν, ἐχούσης τι µέγεθος· ἔστιν γὰρ ὅλον καὶ µηδὲν ἔχον µέγεθος. ὅλον δὲ ἐστιν τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ µέσον καὶ τελευτήν. ἀρχὴ δὲ ἐστιν ὃ αὐτὸ µὲν µὴ ἐξ ἀνάγκης µετ᾽ ἄλλο ἐστίν, µετ᾽ ἐκεῖνο δ᾽ ἕτερον πέφυκεν εἶναι ἢ γίνεσθαι· τελευτὴ δὲ τοὐναντίον ὃ αὐτὸ µὲν µετ᾽ ἄλλο πέφυκεν εἶναι ἢ ἐξ ἀνάγκης ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, µετὰ δὲ τοῦτο ἄλλο οὐδέν· µέσον δὲ ὃ καὶ αὐτὸ µετ᾽ ἄλλο καὶ µετ᾽ ἐκεῖνο ἕτερον. δεῖ ἄρα τοὺς συνεστῶτας εὖ µύθους µήθ᾽ ὁπόθεν ἔτυχεν ἄρχεσθαι µήθ᾽ ὅπου ἔτυχε τελευτᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι ταῖς εἰρηµέναις ἰδέαις. 286

Anfang, Mitte und Ende repräsentieren einerseits – wie hier über ihre Funktion als substantielle Kernelemente – ausdrücklich quantitative Prinzipien (τι µέγεθος); darüber hinaus treten sie als diejenigen Grundgrößen in Erscheinung, die für die taxonomische Abgrenzung der Fiktion von wirklichen Geschehnissen (γενόµενα) von Bedeutung sind. Denn die durch Kontingenzen stets aufs Neue umformatierte Wirklichkeit kann schwerlich ein Ganzes (ὅλον) bilden – geschweige, dass man sie derartig erfassen könnte. Vielmehr bedarf es der Kunstfertigkeit, um ein solches Ganzes in Form einer wohlgeordneten Handlungs- und Verlaufsstruktur überhaupt erst hervorzubringen. Die Exponierung des ὅλον weist daher bereits auf den Allgemeinheitsaspekt (καθόλου) voraus, der an späterer Stelle noch für die höhere Dignität der Dichtkunst gegenüber der Historiographie herangezogen wird. Anders gewendet: Die Wirklichkeit ist für sich genommen niemals allgemeiner Natur, sondern aufgrund ihrer kontingenten Ereignishaftigkeit immer eine spezielle und uns nur über Teilansichten gegeben. Die Dichtkunst hingegen strebt bereits dadurch nach dem Allgemeinen, dass sie die Wirklichkeit in poetische Strukturen transformiert und im selben Zuge ein Ganzes schafft. In der naturphilosophischen Diktion (πέφυκεν, ἐξ ἀνάγκης, etc.), mit der ebendiese poetische Vorstellung Aristot., poet., 7, 1450b21–34: »Da diese Dinge nun bestimmt sind, wollen wir daraufhin darlegen, von welcher Art die Zusammenstellung der Gegebenheiten sein muss, da dies ja das erste und bedeutendste an der Tragödie ist. Es ist von uns festgestellt worden, dass die Tragödie die Darstellung einer vollendeten und ganzheitlichen Handlung ist, die eine gewisse Größe hat. Es gibt ja auch ein Ganzes, das gar keine Größe hat. Ein Ganzes jedoch ist, was Anfangsgrund, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht aus Notwendigkeit nach einem anderen steht, nach dem jedoch etwas anderes natürlicherweise steht oder entsteht. Ein Ende hingegen ist im Gegenteil dasjenige, was selbst nach einem anderen natürlicherweise steht, und zwar entweder aus Notwendigkeit oder wie es der Regel nach geschieht, dass nämlich nach diesem nichts anderes mehr steht. Ein Mittleres indes ist, was sowohl selbst nach einem anderen steht als auch ein anderes, das nach jenem steht. Also müssen die Mythen, wenn sie auf gute Weise zusammengefügt sein sollen, weder von einem beliebigen Punkt aus beginnen noch an einem beliebigen Punkt enden, sondern sie müssen sich der genannten Konzepte bedienen«. 286

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von Ganzheit ausgedrückt wird, tritt darüber hinaus der transdisziplinäre, sich souverän zwischen Physik, Metaphysik und Poetik bewegende Ansatz Aristoteles' ein weiteres Mal zutage.

5.a.β. Stoffliche Ansprüche

In den bisher betrachteten Passagen lässt auch der Mythos sein Potential erkennen: Zum einen bildet er das grundlegende stoffliche Element nicht nur bei Aristoteles, sondern überhaupt der antiken Fiktionskünste. Mythen werden, im Gegensatz zur Wirklichkeit, bei Aristoteles grundsätzlich nicht mimetisch gedacht, also ›nachgeahmt‹ oder ›zur Darstellung gebracht‹; vielmehr werden die auf das Allgemeine abzielenden poetischen Aussagen durch sie erst in Form von Handlungs- und Narrationsmustern fassbar. Sie selbst repräsentieren daher die Ebene der Darstellung – eben um die µίµησις πράξεων in ihren jeweiligen Ausdrucksformen zu vollziehen. 287 Sie sind daher keine beliebig verwendbare Substanz, die man nur deswegen benötigte, um überhaupt über irgendetwas dichten zu können. Das mythologische Potential lässt sich mithin über seine Rolle eines formbaren Potentials auch als formgebendes Prinzip verstehen. Denn für Aristoteles ist die Ebene, auf der Mythen eine bestimmte Handlung zur konkreten Gestalt bringen, wichtiger als die Funktion eines bloßen StoffReservoirs. Mythen weisen somit ihrerseits einen genuin passiven Charakter auf, insofern sie stofflich vorliegen; sie haben jedoch darüber hinaus ein aktivierendes Potential inne, insofern sie in der Lage sind, das Allgemeine in Form von epischen und dramatischen Handlungen zu einem anschaulichen Ausdruck zu bringen. Die Zusammenstellung der Mythen (σύνθεσις µύθων), sei sie nun an den mündlichen Vortrag, an die schriftliche Fixierung oder an die szenische Darstellung geknüpft, meint somit nicht den Darstellungsprozess an sich – dieser hieße tatsächlich einmal µίµησις –, sondern die stoffliche Sichtbarmachung der πράγµατα (als deren Gegensatz ihre weitere Transzendierung anzusehen wäre) anhand der jeweiligen πράξεις. Ihre Komposition muss dabei Gesetz- und Regelmäßigkeiten folgen, die der Natur der Dichtkunst entsprechen. Insofern die Mythen vom Dichter mit derselben Sorgfalt wie die πράγµατα und πράξεις, das heißt nach bestimmten Regeln zusammengestellt werden müssen, ergibt sich hinsichtlich der Aufgabe des Fingierens ein mehrgliedriger Kompositionsan-

287

Vgl. am ausdrücklichsten hierzu ebd., 6, 1450a3 f.: »ἔστιν δὲ τῆς µὲν πράξεως ὁ µῦθος ἡ

µίµησις« (»Der Mythos ist die Darstellung der Handlung.«).

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spruch. 288 Er bewegt sich entlang der drei Ebenen des Zusammenfügens, der Darstellung und der Wirkaufgaben: ὧν δὲ δεῖ στοχάζεσθαι καὶ ἃ δεῖ εὐλαβεῖσθαι συνιστάντας τοὺς µύθους, καὶ πόθεν ἔσται τὸ τῆς τραγῳδίας ἔργον, ἐφεξῆς ἂν εἴη λεκτέον τοῖς νῦν εἰρηµένοις. ἐπειδὴ οὖν δεῖ τὴν σύνθεσιν εἶναι τῆς καλλίστης τραγῳδίας µὴ ἁπλῆν ἀλλὰ πεπληγµένην, καὶ ταύτην φοβερῶν καὶ ἐλεεινῶν εἶναι µιµητικήν (τοῦτο γὰρ ἴδιον τῆς τοιαύτης µιµήσεώς ἐστιν), πρῶτον µὲν δῆλον [·] 289

Die mimetische Darstellungsart ([τέχνη] µιµητική) wird nicht einfach als die poetische schlechthin eingestuft, sondern dezidiert als verflochtene Zusammenstellung (σύνθεσιν [. . . ] µὴ ἁπλῆν ἀλλὰ πεπληγµένην) gedacht – und nur als solche vermag sie ihre Wirkziele, namentlich das Jammer- und Schaudervolle, zu erreichen. Das generische Beispiel, das zudem im überlieferten Textbestand der Poetik am ausführlichsten behandelt wird, ist dasjenige der Tragödie. Sie zielt auf die beiden genannten Hauptaffekte ab und ruft diese nie durch eine einfache Darstellungsweise, sondern durch die µίµησις in Form der σύνθεσις πεπληγµένη hervor. 290 Die in der Folge aufgezählten Kriterien bleiben daher nicht auf ihre qualitativen Eigenschaften beschränkt, sondern verweisen darüber hinaus auf ihre korrelativen Zuschreibungen im Zusammenhang des Handlungsverlaufs: Zur ersten Dimension, derjenigen der inneren Qualität, zählt die Disposition des Handlungsträgers. Dieser sollte in hohem Maße von seiner eigenen Handlungsfreiheit bestimmt sein; ohne diese grundsätzliche Autonomie erschiene es wenig sinnvoll, überhaupt darüber zu spekulieren, was den tragischen Helden oder den spezifischen Effekt tragischer Elemente 288 Vgl. ebd., 6, 1450a35–38: »ἔτι σηµεῖον ὅτι καὶ οἱ ἐγχειροῦντες ποιεῖν πρότερον δύνανται τῇ λέξει καὶ τοῖς ἤθεσιν ἀκριβοῦν ἢ τὰ πράγµατα συνίστασθαι, οἷον καὶ οἱ πρῶτοι ποιηταὶ σχεδὸν ἅπαντες.« (»Außerdem ist ein Anzeichen hierfür [für den höheren Komplexi-

tätsgrad der Handlung gegenüber der sprachlichen Gestaltung und den Charakteren], dass auch diejenigen, die sich als Anfänger daran versuchen zu dichten, es eher vermögen, in der sprachlichen Gestaltung und in den Charakteren Treffliches zu erreichen, als die Gegebenheiten zusammenzustellen – was auch bei fast allen ersten Dichtern der Fall ist.«). 289 Ebd., 13, 1452b28–34: »Was man beachten und was man vermeiden muss, wenn man die Mythen zusammenfügt, und woher die Funktion der Tragödie kommen wird, das sollte nunmehr im Anschluss an das Gesagte dargelegt werden. Da nun die Zusammenfügung der bestmöglichen Tragödie nicht einfach, sondern verflochten sein muss und da diese Schauer- und Jammervolles darstellen muss (dies nämlich ist das Eigentümliche einer derartigen Darstellung), ergibt sich klarerweise zuerst«. 290 Ob es sich beim Aufrufen dieser Affekte, die im besten Fall zur Katharsis führen mögen, um einen Vorgang handelt, der unmittelbar im Rezipienten stattfindet und in der Folge gar dessen Ethos verbessert, ist dabei keineswegs ausgemacht. Am prominentesten hat dies wohl Goethe in seiner Nachlese zu Aristoteles’ »Poetik« (1827) bestritten. Demzufolge handle es sich um einen werkimmanenten Vorgang, insofern der Zuschauer nach Betrachtung des Schauspiels grundsätzlich »um nichts gebessert nach Hause gehen« (Goethe, Nachlese zu Aristoteles’ »Poetik«, 125) werde.

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auszeichnen könnte. Das Vermögen, das einem Charakter zukommt, meint das freie Handlungsvermögen, das dann wiederum nicht nur speziellen, sondern allgemeinen Zuschnitts ist, insofern es am Charakter selbst liegt, gemäß seinem Vermögen zu handeln, also πράξεις hervorzubringen und damit auch die Struktur der πράγµατα des dichterischen Werks zu bestimmen. Es kann dann nicht mehr nur darum gehen, wie ein bestimmter Held handelt, sondern welche Bedeutungsweite seinem Tun überhaupt zukommt. Wie zuletzt von Schmitt gezeigt, lässt sich nämlich gerade in der prinzipiellen Offenheit der Handlungsmöglichkeiten eines Helden ein Moment erkennen, in dem sich der Allgemeinheitsbegriff der Poiesis mit einem auf den dramatischen Charakter bezogenen Vermögensbegriff trifft: Wenn Aristoteles dieses Allgemeine zugleich ein ›Mögliches‹ nennt (51a38) und die dieses Mögliche verwirklichende Handlung eine Handlung, die zeigt, ›wie etwas geschehen müsste‹ (51a37), dann wird hier also das Allgemeine mit den Handlungsmöglichkeiten eines Charakters identifiziert. Diese Möglichkeiten sind [. . . ] nicht unbestimmte Möglichkeiten zu allem und jedem, sondern es sind die von einem Menschen zu bestimmten Grundhaltungen ausgebildeten Vermögen, über die er als Mensch im Allgemeinen und als dieser einzelne Mensch im Besonderen verfügt. Ein Vermögen ist immer, wie Aristoteles betont, ein Vermögen zu etwas Bestimmtem. Wer sehen kann, kann Farben und Formen unterscheiden, wer laufen kann, kann Bewegungsrichtungen unterscheiden, Gleichgewicht halten usw. Ausgebildete Vermögen enthalten also ein Arsenal an zu ›Fertigkeiten‹ entwickelten ›Fähigkeiten‹. Ein Tapferer zum Beispiel ist in aristotelischem Sinn nicht tapfer, weil er einen eisernen Willen, standzuhalten, hat, sondern weil er über ein reiches Arsenal an Erfahrung verfügt, gegen wen oder was, wann, in welcher Weise, in welchem Maß er einer Bedrohung standhalten kann. Diese aus Erfahrung gewonnene Tapferkeit steht ihm allgemein zur Verfügung als ›ein Mögliches‹, d. h. als etwas jederzeit Verwirklichbares (soweit es an ihm liegt). 291

Hieran ist zu erkennen, dass sich der poetologische Anspruch mit dem metaphysischen deckt. Die Eigenschaften des tragischen Helden sind nun im Vergleich zu dem von Schmitt beschriebenen Vermögen wiederum auch relational zum Dichtwerk selbst, nämlich in einem Verhältnis zum Handlungsverlauf, zu sehen – insbesondere hinsichtlich der für die Tragödie so elementaren Verlaufsumschwünge (µεταβολαί). 292 So offen der tragische Held also in seiner HandSchmitt (2013), 209. Diese Vorstellung eines Umschwungs (µεταβολή, µεταβάλλειν, µεταπίπτειν) ist das für die Tragödie wichtigste – und in der weiteren Geschichte europäischer Poetiken am häufigsten diskutierte – Handlungsmoment. 291 292

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lungsfähigkeit gedacht wird, so klar und eindeutig ist er eingeschränkt hinsichtlich seiner ethologischen Eingebungen: Er dürfe weder den »makellosen Menschen« 293 noch den »Schurken« 294 zugerechnet werden, noch dürfe es sich um einen »gewaltig schlechten« 295 Menschen handeln. Die Merkmale, die der Dichter ihm einschreibt, meiden vielmehr derartige Extrema und konvergieren in der Forderung nach dem »mittleren [Charakter]«. 296 Dieser zeichne sich wiederum dadurch aus, dass er »weder durch Tugend und Gerechtigkeitssinn hervorsticht noch wegen Schlechtigkeit und Gemeinheit ins Unglück stürzt.« 297 Mit dem Ins-Unglück-Stürzen (µεταβάλλων εἰς τὴν δυστυχίαν) wird indes ein Aspekt angeführt, der nicht mehr die Eigenschaften des Helden, sondern die Handlungsstruktur des dichterischen Werks betrifft. Der mythische Stoff kündet also von Helden und deren Grundeigenschaften (der vielgewandte Odysseus, der fromme Aeneas etc.), die Handlungsmöglichkeiten stiften und dann über Handlungen die Form des poetischen Werks konstituieren. Dass hier kein willkürliches Verhältnis vorherrscht, sondern die möglichen Verlaufsformen des (erzählerischen oder dramatischen) Kunstwerks bereits in den Charakteristika vorgeprägt werden, lässt sich wie folgt nachvollziehen: Da Odysseus in den Stoffen (µῦθοι) der Ilias und Odyssee als überzeugender Kriegsredner gilt, 298 erschiene es wenig konsistent, wenn er die Achaier nicht davon überzeugen könnte, weiterzukämpfen. 299 Oder es entstünde eine neue Anforderung an das dichterische Werk, etwa zu vermitteln, warum er ausgerechnet in einer seiner elementaren Professionen 300 scheitert. Unter solchen Inkonsistenzen würde Aristot., poet., 13, 1452b34: »ἐπιεικεῖς ἂνδρας«. Ebd., 13, 1452b36 f.: »τοὺς µοχθηροὺς«. 295 Ebd., 13, 1453a1: »τὸν σφόδρα πονηρὸν«. 296 Ebd., 13, 1453a7: »ὁ µεταξύ«. 297 Ebd., 13, 1453a8 f.: »µήτε ἀρετῇ διαφέρων καὶ δικαιοσύνῃ µήτε διὰ κακίαν καὶ µοχθηρίαν µεταβάλλων εἰς τὴν δυστυχίαν«. 298 Vgl. Hom., Il., 2, 273: »βουλάς τ᾽ ἐξάρχων ἀγαθὰς πόλεµόν τε κορύσσων« (»der gute Ratschläge anbringt und zur Schlacht antreibt.«). 299 Gegen seinen Vorredner Thersites, der die Achaier zur Heimkehr bewegen will; vgl. ebd., 2, 224–244. 300 Zu diesen zählen etwa seine bis zur Verschlagenheit reichende List (vgl. zum Beispiel ebd., 2, 173: »πολυµήχαν᾽ ᾿Οδυσσεῦ«; ganz ähnlich auch Verg., Aen., 2, 90: »pellacis Ulixi«), seine Gewandtheit (vgl. etwa Hom., Od., 1, 1: »πολύτροπον«), seine Klugheit (vgl. beispielsweise Hom., Il., 3, 200: »πολύµητις«), seine Kriegskunst (vgl. ebd., 2, 278: »πτολίπορθος ᾿Οδυσσεὺς«) Derartige epithetische Zuschreibungen arbeiten einerseits, wie die mit der oral poetry befassten Forschungstendenzen herausgestellt haben, metrischen wie mnemotechnischen Ansprüchen zu (vgl. hierzu Parry [1972], Clark [2004] und Latacz [2000b]); sie enthalten allerdings auch – wie im Falle des πτολίπορθος – häufig proleptische Sachverhalte, die in der Erzählung noch einzulösen sind (›Durch Odysseus wird Troja untergehen‹), erzeugen also zugleich Erwartungen für den weiteren Handlungsverlauf, mit denen wiederum durchaus gebrochen werden kann; zu den Begriffen einer actorial oder eben false prolepsis vgl. in jüngerer Zeit De Jong (2014), 84–87. Wichtig für uns ist, 293

294

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dann auch die Handlung selbst leiden: Dass etwa ein Mensch in einer Tragödie stirbt und kurz darauf wieder auf der Bühne steht, würde einen hochgradig außernatürlichen Eingriff oder einen unglaubwürdigen Charakter erfordern. Zwar gesteht Aristoteles einer Figur hier Ungleichmäßigkeiten zu, aber nur solange diese Ungleichmäßigkeiten auf einer höheren Ebene wieder ausgeglichen würden; der Charakter solle dann – so die fast schon sophistisch anmutende Einlassung – »immerhin auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig sein«. 301 Es sind demnach die Handlungsmöglichkeiten des Charakters, die – als Mittleres zwischen dessen Eigenschaften und Handlungen – den Konnex zwischen den stofflichen und den formalen Aspekten des Kunstwerks bilden. Dies lässt die Frage ins Blickfeld rücken, wie das Mögliche im dichterischen Werk in einem weiteren Sinn aufzufassen ist.

5.a.γ. Das Mögliche im Poetischen

Wie schon an mehreren Stellen gesehen, kann es zu den wichtigsten Aufgaben des Dichters gezählt werden, über ein Zusammenfügen (σύστασις, συνίσταναι) beziehungsweise Zusammenstellen (σύνθεσις, συντίθαναι) von Gegebenheiten, Handlungen und Mythen poetische Entitäten zu erzeugen. Diese befinden sich gerade deswegen nicht in einer beliebigen Abfolge, da sie von zwei verbindlichen Teilaspekten aus dem Bereich der Ontologie reguliert werden: Der gute Dichter hat stets das Notwendige (τὸ ἀναγκαῖον) und das Wahrscheinliche (τὸ εἰκός) in den Blick zu nehmen; beide Kriterien gewährleisten im Zusammenschluss, dass die Dichtung ebenjene gleichmäßige Form annimmt, die Aristoteles an die Charaktere stellt. Diese Forderung ist nun nicht den Charakteren allein, sondern auch den Zusammenstellungen selbst eingegeben. Hierdurch wird – nach den oben beschriebenen Vermögensweisen der Charaktere – eine weitere Schnittstelle zwischen Allgemeinem und Möglichem begründet: Χρὴ δὲ καὶ ἐν τοῖς ἤθεσιν ὁµοίως, ὥσπερ καὶ ἐν τῇ τῶν πραγµάτων συστάσει, ἀεὶ ζητεῖν ἢ τὸ ἀναγκαῖον ἢ τὸ εἰκός, ὥστε τὸν τοιοῦτον τὰ τοιαῦτα λέγειν ἢ πράττειν ἢ ἀναγκαῖον ἢ εἰκός, καὶ τοῦτο µετὰ τοῦτο γίνεσθαι ἢ ἀναγκαῖον ἢ εἰκός. 302 hierbei festzuhalten, dass ein solcher Bruch bei Aristoteles nicht als Bruch bestehen bleibt, sondern wieder in eine konsistente Handlunsfolge zu überführen respektive einzubetten ist. 301 Vgl. Aristot., poet., 15, 1454a27 f.: »ὅµως ὁµαλῶς ἀνώµαλον δεῖ εἶναι«. 302 Ebd., 15, 1454a33–36: »Man muss indes auch bei den Charakteren, genauso wie auch bei der Zusammenstellung der Gegebenheiten, stets das Notwendige oder das Wahrscheinliche anstreben, so dass es notwendig oder wahrscheinlich ist, dass ein bestimmter Mensch etwas

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Poetische Entitäten werden also vorwiegend anhand der grundlegenden Wirklichkeitskategorien des Wahrscheinlichen und Notwendigen hervorgebracht, die sich wiederum – nach einer der bekanntesten Zuspitzungen in der Poetik – von den Aussageformen der Philosophen und der Geschichtsschreiber unterscheiden. Im Möglichen (δυνατόν) ist also der poetische Seinsbegriff konstitutiv enthalten, insofern es gleichermaßen durch das Wahrscheinliche (εἰκός) und das Notwendige (ἀναγκαῖον) reguliert wird. Betrachtet man die entscheidende Aussage hierzu, Φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρηµένων καὶ ὅτι οὐ τὸ τὰ γενόµενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ᾽ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον 303,

so zeigt sich, dass der Dichter Handlungen und Ereignisse nach deren (und nicht seiner) Möglichkeit darstellt, indem er nicht auf Geschehnisse, γενόµενα, sondern auf die δυνατά rekurriert; 304 deren Pendant auf der Ebene des Aussagemodus drückt sich hier im potentialen Optativ οἷα ἂν γένοιτο (»was geschehen könnte«) aus. Die Bedeutungsfelder der δυνατά beziehungsweise der verwandten δύναµις belassen demnach auf der einen Seite die Möglichkeit an ihrem naturphilosophischen Ort eines innewohnenden Vermögens. 305 Dieser Aspekt wird nicht selten als der vorherrschende eingestuft und auf die aristotelische Herleitung des dichterischen Werks als solches bezogen. 306 Noch wichtiger hinsichtlich des eingeforderten Weltzugriffs erscheint jedoch noch ein zweiter Aspekt, der – wie in poet. 9 und 13 beschrieben – besagt, dass sich die Darstellungsweise als mögliche durch ihre Gemäßheit zur Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit konstituiert. 307 Dass das Notwendige das Mögliche Bestimmtes sagt oder tut und dass das eine nach dem anderen entweder als Notwendiges oder als Wahrscheinliches geschieht.«). 303 Ebd., 9, 1451a36–38: »Aus dem Gesagten ergibt sich offensichtlich, dass nicht dies die Aufgabe eines Dichters ist, das Geschehene mitzuteilen, sondern dasjenige, was geschehen könnte, das heißt das Mögliche gemäß dem Notwendigen und Wahrscheinlichen«. Schmitt ergänzt in seiner mit vielfachen Erläuterungen versehenen Poetik-Übersetzung an dieser Stelle noch einen sinngemäßen Bezug auf die πρᾶξις: »d. h. was 〈als eine Handlung eines bestimmten Charakters〉 möglich ist« (Schmitt [22011], 13). 304 Vgl. zu dieser Forderung ex negativo auch Aristot., poet., 25, 1460b23: »ἀδύνατα πεποίηται, ἡµάρτηται« (»Dichtet man Unmögliches, so macht man einen Fehler.«). 305 Vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »δύναµις«, 452: »capability of existing or acting, potentiality« sowie ebd., s. v. »δυνατός«, 453: »of things, possible«. 306 So etwa Söring (1976), 46: »Daher ist auch der Ausdruck ›Verwirklichung‹ von ›Werk‹ gebildet und zielt auf die Vollendung (entelecheia), und zwar auf die Vollendung eines in der Anlage, dem Vermögen (dynamis) nach vorhandenen«. 307 Zur Abgrenzung des δυνατόν vom analytisch geprägten und deutlich abstrakter gefassten Modalbegriff ἐνδεχόµενον vgl. Buddensiek (1994), 13–26, insbesondere 25 f.

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mitbestimmt, mag auf den ersten Blick in einem gewissen naturphilosophischen Widerspruch stehen: Der Intuition nach werden Dinge ja häufig gerade dadurch als ›mögliche‹ aufgefasst, dass sie eben nicht aus Notwendigkeit heraus, sondern eben nur ›möglicherweise‹ entstünden. Das Argument wird von Aristoteles jedoch konsistent im Sinne der regelmäßig betonten Gesetzmäßigkeiten fiktionaler Gebilde – der vielbesprochenen σύστασις πραγµάτων – eingebracht, insofern auf ein Mögliches natürlicherweise nicht ein beliebiges Mögliches folgt, sondern eben ein wahrscheinliches Mögliches oder notwendiges Mögliches. 308 Denn würde ein jedes Mögliches ein jedes andere Mögliches hervorbringen, so fiele das daraus resultierende Werk vollständig in den Bereich der Kontingenz. Dies widerspräche nicht nur der Forderung nach einer plangemäßen Gestaltung, einer technisch realisierten φύσις, die dem dichterischen Kunstwerk zugrunde liegen muss, sondern auch der finalursächlichen Bewegung, die den Schöpfungsprozessen schlechthin eingegeben ist. Die stofflichformalen Ansprüche erscheinen, da genau jene Kontingenz nach Aristoteles zu vermeiden ist, insgesamt von jeglicher Willkür und extrinsischen Einflüssen befreit. Dasselbe gilt für die Auflösung (λύσις) der Mythen, die aus sich selbst heraus und nicht durch einen göttlichen Eingriff (ἀπὸ µηχανῆς) geschehen sollte. 309 Hier bietet sich nun an zu überprüfen, wo die τέχνη innerhalb dieses gesetzten φύσις-Rahmens ansetzen kann. Zunächst gilt: Das Notwendige liegt Zur Illustration ein Beispiel: Die Sätze, (1) dass es regnet oder (2) dass es nicht regnet, lassen sich umstandslos als konträre Wirklichkeitsaussagen beschreiben. Dass es regnet, kann dabei grundsätzlich als ein wahrscheinliches Ereignis gelten. Als solches ist es auch in der Kunst darstellbar. Wenn es im Kunstwerk allerdings regnet, so sollte auch dort daraus folgen, dass die Straße nass wird (wobei diese Forderung zugestandenermaßen im Gros der Avantgarde-Theorien schwerlich funktionieren würde). Aus der Perspektive eines äußeren Betrachters heraus sind die beiden Sachverhalte, (1) dass es regnet, und (3) dass die Straße nass wird, im Rahmen des Kunstwerks als mögliche supponierbar, denn beide Sachverhalte sind darin Teile einer möglichen Realität. Ihr innerer Zusammenhang jedoch ist ein notwendiger. Daher genügt es nicht, alle in einem Kunstwerk fingierten Ereignisse als schlechthin mögliche zu bezeichnen, sondern sie weiterhin, wie es Aristoteles eben auch vollzieht, nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit zu differenzieren. 309 Auch in der Behandlung des Wunderbaren – das nach Aristoteles’ Auffassung ein sehr geeignetes Mittel darstellt, Jammer und Schauder hervorzurufen oder auch überhaupt nur eine Handlung interessant zu machen – bleiben die rationalen Anforderungen des Zusammenfügens bestehen. Das Wunderbare tritt überraschend auf und genügt dabei dennoch den Kriterien in der Handlungsfolge; vgl. etwa Aristot., poet., 9, 1452a3–11: »ταῦτα δὲ γίνεται καὶ µάλιστα [καὶ µᾶλλον], ὅταν γένηται παρὰ τὴν δόξαν δι᾽ ἄλληλα· τὸ γὰρ θαυµαστὸν οὕτως ἕξει µᾶλλον ἢ εἰ ἀπὸ τοῦ αὐτοµάτου καὶ τῆς τύχης [. . . ]· ὥστε ἀνάγκη τοὺς τοιούτους εἶναι καλλίους µύθους.« (»Diese [Wirkungen] entstehen am allermeisten dann, wenn die Dinge wider Erwarten und doch einander bedingend eintreten; so besitzen sie nämlich eher den Charakter des Wunderbaren, als wenn sie aus Zufall und Willkür entstünden. [. . . ] Daher müssen die so beschaffenen Erzählstoffe die besseren sein.«). 308

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nach Aristoteles als Prinzip im Stoff selbst begründet, der gemäß seinen Möglichkeiten zu der ihm eigenen Gestalt gelangen kann. Das zweifellos wichtigste Prinzip stellt hierfür die Zweckursache (τέλος) dar, denn eine solche verfolge eine jede Kunstfertigkeit geradezu wie die Natur selbst: φανερὸν δὴ ὅτι τὸ ἀναγκαῖον ἐν τοῖς φυσικοῖς τὸ ὡς ὕλη λεγόµενον καὶ αἱ κινήσεις αἱ ταύτης. καὶ ἄµφω µὲν τῷ φυσικῷ λεκτέαι αἱ αἰτίαι, µᾶλλον δὲ ἡ τίνος ἕνεκα· αἴτιον γὰρ τοῦτο τῆς ὕλης, ἀλλ᾽ οὐχ αὕτη τοῦ τέλους· καὶ τὸ τέλος τὸ οὗ ἕνεκα, καὶ ἡ ἀρχὴ ἀπὸ τοῦ ὁρισµοῦ καὶ τοῦ λόγου, ὥσπερ ἐν τοῖς κατὰ τέχνην. 310

Aus dem Einschluss von Kunst und Natur über das Prinzip des Telos kann gefolgert werden: Durch die τέχνη lässt sich ein bestimmter Stoff grundsätzlich zu seiner finalursächlichen Bestimmung führen; dabei vollzieht sich gewissermaßen all dasjenige, was sonst der Natur obliegen würde. Ausgerechnet in der Behandlung des Möglichen scheint diese Analogie zwischen Poetik und Physik aber nun an ihre Grenze zu gelangen: Während in der Natur praktisch fortwährend Dinge aus ihrem Vermögen (δύναµις) in ihre Verwirklichung (ἐνέργεια, ἐντελέχεια) überführt werden, 311 können in der Dichtkunst selbst Dinge, die bereits entelechische Wirklichkeit erlangt haben, als mögliche vorgestellt und dadurch poetisch werden. 312 Indem Dinge, die längst eine aktuale Realität erAristot., phys., 2, 9, 200a30–b1: »Offenkundig ist also, dass das Notwendige in den natürlichen Dingen das ist, was gleichsam der Stoff genannt wird und dessen Bewegungen. Und beide Ursachen müssen vom Naturforscher benannt werden, besonders aber diejenige wegen etwas. Denn dies ist die Ursache des Stoffes, nicht jedoch [ist] dieser [Ursache] für das Ziel. Und das Ziel ist das wegen etwas. Und der Anfangsgrund ergibt sich aus der Bestimmung und dem Begriff, so wie auch in den Dingen gemäß einer Kunstfertigkeit«. 311 Zur Frage nach dem Vorrang von δύναµις oder ἐνέργεια vgl. Aristot., metaph., 12, 6, 1072a3–18. Das δυνατόν selbst wird unter dem Aspekt seiner aussagenlogischen (ebd., 9, 4, 1047b3–30) und hinsichtlich seiner praxeologischen Geltungsweise (ebd., 9, 6, 1048a25–1048b36) beschrieben. 312 Das Faktische kann ohne Einschränkungen gedichtet werden, denn es lässt sich konsistent auch als ein Mögliches hervorbringen. Hierin zeigt sich ein weiteres Mal in eindrucksvoller Weise der für die Dichtkunst konstitutive Vorrang des Wahrscheinlichen vor dem Wirklichem; vgl. Aristot., poet., 9, 1451b29–32: »κἂν ἄρα συµβῇ γενόµενα ποιεῖν, οὐθὲν ἧττον ποιητής ἐστι. τῶν γὰρ γενοµένων ἔνια οὐδὲν κωλύει τοιαῦτα εἶναι οἷα ἂν εἰκὸς γενέσθαι [καὶ δυνατὰ γενέσθαι], καθ᾽ ὃ ἐκεῖνος αὐτῶν ποιητής ἐστιν.« (»Auch wenn es vorkommt, dass er Geschehnisse dichtet, so ist er doch um nichts weniger Dichter. Denn nichts hindert daran, dass von den Geschehnissen einige so beschaffen sind, dass sie nach der Wahrscheinlichkeit und daher als Mögliche geschehen könnten; und im Hinblick auf diese [Wahrscheinlichkeit] ist er ein Dichter dieser [Geschehnisse].«) Fuhrmanns Auffassung, den relativischen Anschluss »καθ᾽ ὃ« ganz auf das Beschaffen-Sein zu beziehen (vgl. Fuhrmann [32008], 33), ist nicht ohne Alternative; vielmehr lässt er sich auf das zuvor ausdrücklich genannte εἰκός, das Wahrscheinliche, beziehen. Dass die Dichtkunst es vermag, Faktisches auf ein Mögliches hin zu dynamisieren (und eben nicht zu assimilieren), stellt darüber 310

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langt haben – wie etwa bestimmte Orte, Ereignisse und Personen –, in eine Reihe mit anderen δυνατά treten, wird auch ihr eigener ontischer Status zu dem eines δυνατόν. Ein Wirkliches in ein Mögliches zu transformieren kann daher als eine der eigentümlichsten Aufgaben und Leistungen der Dichtkunst gelten. Das Allgemeine, in dem sich nach Aristoteles diese Vorzüglichkeit dann anschließend ausdrücken müsste, fällt daher durchaus unter dieselben Prädikamente wie das Mögliche, betont jedoch darüber hinaus den Aspekt seiner Dignität und wird erst als eine Folge der Transformation aufgefasst; denn es konstituiert sich aus den Struktureinheiten gemäß einem Ganzen (καθόλου), die wir im siebten Kapitel der Poetik erläutert fanden. In diesem verfahrenstechnischen – und nicht etwa auf die Topik abzielenden – Sinne sei dann die Dichtkunst, einem vielfach rezipierten Passus der Poetik nach, höher einzustufen als die Historiographie, insofern sie ja gerade in dieser Darstellungsmethode philosophischer sei: διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ µὲν γὰρ ποίησις µᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ᾽ ἱστορία τὰ καθ᾽ ἕκαστον λέγει. ἔστιν δὲ καθόλου µέν, τῷ ποίῳ τὰ ποῖα ἄττα συµβαίνει λέγειν ἢ πράττειν κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον, οὗ στοχάζεται ἡ ποίησις ὀνόµατα ἐπιτιθεµένη· τὸ δὲ καθ᾽ ἕκαστον, τί Α ᾿ λκιβιάδης ἔπραξεν ἢ τί ἔπαθεν. 313

Dass die Gegenstände der Dichtkunst allgemeiner Natur (τὰ καθόλου) sind, heißt also nicht, dass Dichtkunst über alles und jeden in jeglicher Weise sprechen könne, sondern vielmehr, dass die Dichtkunst durch die Verfahren der µίµησις und σύστασις die Dinge des Seins strukturell offenlegt; sie operiert gleichermaßen mit Faktischem, Notwendigem und Wahrscheinlichem, indem sie sie über das Mögliche auf eine Ebene bringt, und darf gerade in diesem souveränen Umgang mit den unterschiedlichsten ontologischen Aussageformen – der sich erkennbar eher Transformations- denn Nachahmungsaspekten verschreibt – eine höhere Allgemeingültigkeit im Vergleich zu denjenigen sprachlichen Kunstwerken, die sich der bloßen Bezugnahme auf wirkliche Dinge verschreiben, für sich beanspruchen. Ein wesentlicher Prozedurschritt bei der Transformation in ein Mögliches besteht in der Dichtkunst nun darin, dass sie hinaus ein evidentes Argument gegen die Annahme dar, bei der aristotelischen Mimesis handele es sich im wörtlichen Sinne um einen Nachahmungsprozess; vgl. Petersen (2000), 43. 313 Aristot., poet., 9, 1451b5–11: »Daher ist die Dichtkunst auch etwas Philosophischeres und Bedeutenderes als die Geschichtsschreibung. Die Dichtkunst spricht nämlich mehr vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Speziellen. Das Allgemeine indes bedeutet, dass einem bestimmten [sc. Charakter] etwas Bestimmtes zu sagen oder zu handeln zukommt gemäß dem Wahrscheinlichen oder dem Notwendigen; auf dieses [sc. Allgemeine] zielt die Dichtkunst ab, auch wenn sie Eigennamen hinzusetzt. Spezielles hingegen bedeutet, was Alkibiades getan oder was er erlitten hat«.

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sich nicht in ihrem Wirklichkeitsgehalt erschöpft, sondern ihre Wirkziele mit ihren ontologischen Bedingungen dynamisch zu verknüpfen weiß.

5.a.δ. Das Prinzip der Dynamisierung

Wie an der Betrachtung der modallogischen Eingebungen gesehen, erlangen die in der Dichtkunst verhandelten Gegenstände bei Aristoteles erst über bestimmte Argumentationswege diejenige Bedeutsamkeit, die man seit der Archaik zum Universalanspruch der Dichtkunst zählen durfte. Verbürgte sich in der Tradition des Lehrgedichts noch in autarker Weise die Wahrheit als das dominante Paradigma für die Universalität von Weltwissen, so blieb ihr numinoser Zuschnitt dabei im Wesentlichen unangetastet. Es kann zu den bemerkenswertesten Leistungen Aristoteles' gezählt werden, diesen Schwerpunkt zugunsten neuer Paradigmen zu verschieben und die Dichtkunst von den Wahrheitsdiskursen weitestgehend zu entkoppeln. Denn die Transformation einer als vorrangig angesetzten Wirklichkeit auf ein Mögliches und ein Allgemeines hin, wie sie sich in der poetischen Darstellung vollzieht, hat nicht mehr viel mit einer Alterität von Wahrheit und Falschheit zu tun, auch nicht mit den Problemen ontologischer Verhaftungen auf Grundlage eines mehrgliedrigen Weltenbaus, wie sich unter Berufung auf Platon behaupten ließe. Diskutabel erscheint jedoch, dass eine solche Auffassung von Poiesis, wie Aristoteles sie vertritt, gelegentlich als eine Tendenz zur Transzendierung schlechthin verstanden wird. So fasst Söring die naturphilosophischen Aspekte der aristotelischen Poiesis in einem Grundriss wie folgt zusammen: Poiesis als kunstfertige Hervorbringung in solchem Gegebenen, für welches Wirklichkeitsbezug immer schon konstitutiv ist, vereinigt, so will uns scheinen, beide Momente: Abhängigkeit wie Autonomie in sich. Denn sie ist einerseits angewiesen auf das, was im Sprachgebrauch als dem Substrat poietischer Genese an Welt erschlossen ist, gewinnt jedoch andererseits durch Transformation [als dasjenige Verfahren, das nicht zuletzt im Prozeß einer qualitativen Veränderung (alloio¯ sis) des ›Materials‹ die eigentliche Veränderung durch Gestaltwandel (metabole¯) bewirkt], Möglichkeiten hinzu, die jede bestehende Wirklichkeit transzendieren. 314

Berücksichtigt man die modallogische Einbettung, in der das hier benannte Umschwungs- beziehungsweise Veränderungsmoment zu sehen ist, so ist einzuwenden: Der in der Poiesis angestrebte Gestaltwandel (µεταβολή) wirkli314

Söring (1976), 59.

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cher Gegenstände (πράγµατα) hat nicht zum eigentümlichen Ziel, die Welt zu transzendieren, sondern zu dynamisieren. Im Hervorbringen einer σύστασις πραγµάτων, die sich, wie gesehen, erst aus einer Verschränkung mit der σύνθεσις µύθων und πραξέων und dementsprechend aus den damit verbundenen Teilaspekten von Anfang, Mitte und Ende ergibt, kurz: in der sorgsamen Ausarbeitung und Kombination der einzelnen Mytheme tritt der Folgeaspekt der δύναµις, nämlich die angestrebte Verwirklichung eines Ausgangsstoffes am deutlichsten zutage. Die Poiesis selbst ist nun jedoch, bei all ihrer Analogizität zur φύσις, kein Prozess, der sich aus der Natur allein erklären ließe, sondern entspringt unverbrüchlich der τέχνη ποιητική. Diese macht sich mit der Natur in zweifacher Hinsicht gemein: Einerseits folgt sie einer gewissen Bestimmungsrichtung, strebt also wie die Natur nach Vollendung; dabei allerdings nur scheinbar einer metaphysisch vorgelagerten Welt entgegen. Denn einem der Wirklichkeit entnommenen Substrat eine neue Form nach den hier aufgeführten Kriterien zu verleihen, kann sowohl ihrer eigenen poetischen Entsprechungsrichtung als auch dem aristotelischen Möglichkeitsbegriff nach keinen Transzendierungsprozess meinen. 315 Denn ohne die Ansetzung konkreter Paradigmen, die überhaupt verwirklicht werden sollen, ist auch die Ansetzung eines Möglichen Aristoteles zufolge schlichtweg unnötig. Die τέχνη ποιητική stellt daher in ihrer Hinwendung zum Möglichen keine metaphysische Abstraktionsleistung dar, sondern erzeugt Handlungsverläufe, die der Natur – 315 Schon gar nicht in dem von Söring wohl angedachten Sinne, sich weg von der Wirklichkeit und hin zur Möglichkeit zu bewegen. Vielmehr liegt in der wirklichen Tätigkeit eine metaphysische Priorität gegenüber der δύναµις im umfassenden Sinne, das heißt hinsichtlich ihres Anfangsgrundes (ἀρχή) und Zieles (τέλος) vor, insofern sich diese Größen bereits auf energetische Handlungen und Zustände richten. Besonders nachdrücklich führt Aristoteles dies unter Anführung mehrerer Beispiele im neunten Buch der Metaphysik aus: »Nachdem das Vorrangige bestimmt worden ist, nämlich auf wie viele Weisen es ausgesagt werden kann, ist offenbar, dass die Wirklichkeit vorgängig gegenüber dem Vermögen ist. [. . . ] Sie ist es indes auch der Wesenheit nach. Zunächst deshalb, weil dasjenige, was der Entstehung nach später ist, der Form und der Wesenheit nach früher ist (zum Beispiel der Mann früher als das Kind, der Mensch früher als der Same; denn das eine hat bereits die Form, das andere jedoch nicht), ebenso weil alles, was entsteht, auf einen Anfangsgrund und ein Ziel hingeht (Anfangsgrund nämlich ist das Weswegen, das Entstehen indes gibt es wegen des Ziels); Ziel aber ist die Wirklichkeit, und um ihretwillen erhält man das Vermögen. Denn nicht, um den Gesichtssinn zu haben, sehen die Lebewesen, sondern um zu sehen, haben sie den Gesichtssinn.« (Aristot., metaph., 9, 8, 1049b4–1050a11: »ἐπεὶ δὲ τὸ πρότερον διώρισται ποσαχῶς λέγεται, φανερὸν ὅτι πρότερον ἐνέργεια δυνάµεώς ἐστιν. [. . . ] ἀλλὰ µὴν καὶ οὐσίᾳ γε, πρῶτον µὲν ὅτι τὰ τῇ γενέσει ὕστερα τῷ εἴδει καὶ τῇ οὐσίᾳ πρότερα (οἷον ἀνὴρ παιδὸς καὶ ἄνθρωπος σπέρµατος· τὸ µὲν γὰρ ἤδη ἔχει τὸ εἶδος, τὸ δ᾽ οὐ) καὶ ὅτι ἅπαν ἐπ᾽ ἀρχὴν βαδίζει τὸ γιγνόµενον καὶ τέλος (ἀρχὴ γὰρ τὸ οὗ ἕνεκα, τοῦ τέλους δὲ ἕνεκα ἡ γένεσις), τέλος δ᾽ ἡ ἐνέργεια, καὶ τούτου χάριν ἡ δύναµις λαµβάνεται. Οὐ γὰρ ἵνα ὄψιν ἔχωσιν ὁρῶσι τὰ ζῷα ἀλλ᾽ ὅπως ὁρῶσιν ὄψιν ἔχουσιν[.]«) Es macht demzufolge keinen Sinn, überhaupt eine Möglichkeit für etwas anzusetzen, für das es kein entsprechendes Wirklichkeitsparadigma gibt.

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beziehungsweise unseren Vorstellungen über die Natur – entlehnt sind. Damit verhält sich die Mimesis auch produktiv zur Wirklichkeit beziehungsweise zu unseren Annahmen über dieselbe. Wo Fuhrmanns und Höffes Ansetzen eines Wirklichkeitsbezug, eines bloßen Referenzmoments – das im Übrigen zuletzt von Geisenhanslüke ein weiteres Mal vertreten wurde –, 316 als eine allzu zurückhaltende Einschätzung anmutet, scheint mit Sörings Transzendierungsargument wohl in umgekehrter Richtung zu viel ausgesagt. Auch im Gegensatz zu Fuhrmanns Vorschlag von einer Nachahmung der Möglichkeit, die sich in der Dichtkunst, wie sie Aristoteles vorschwebt, vollzöge, 317 lässt sich – wollte man hierzu überhaupt einen einheitlichen Terminus veranschlagen – besser von einer ›Vermöglichung der Wirklichkeit‹ sprechen. Wir befinden uns dann an dem Punkt, an dem der Terminus der Dynamisierung eine poetologische Bedeutung erhält. Es lassen sich darüber hinaus noch weitere Punkte anführen, die für eine solche Dynamisierung sprechen. So lässt sich anhand der Linie des von Natur aus Möglichen hin zu den psychologischen Wirkvermögen ein umfassender Erklärungsanspruch geltend machen, den Aristoteles verfolgt: Das δυνατόν nämlich enthält nicht nur die Naturkategorien einer äußerlich vorgelagerten Welt, namentlich die des Wahrscheinlichen und Notwendigen, in ihm liegt darüber hinaus auch die Wirkweise auf die Rezipienten und damit ein energetisch auf den Menschen gerichtetes Moment begründet. Um diesen Zusammenhang zu illustrieren, lässt sich am sinnvollsten beim bereits aus der Rhetorik beVgl. die Ausführungen zur aristotelischen Poetik bei Geisenhanslüke (2015), 20: »Nicht die Darstellungsweise allein macht etwas zur Kunst, sondern der Bezug zum Gegenstand, wobei es sich im Falle der Dichtkunst eben um den Gegenstand der Nachahmung handelt, die Handlung«. In diesen Äußerungen lässt sich eine eigenwillige Auslegung des von Arbogast Schmitt vorgelegten Poetik-Kommentars sehen, insofern Schmitt an der von Geisenhanslüke in diesem Kontext zitierten Stelle – noch unter Verwendung der Erstauflage der Poetik-Übersetzung Schmitts von 2008 – erkennbar kein Bezugsmoment meint; vgl. Schmitt (2008), 196: »Ein künstlerischer Gegenstand ist nicht der Gegenstand selbst, sondern ein (der Wirklichkeit entnommener oder erfundener) Gegenstand, der in einem – von ihm verschiedenen – Medium auf eine bestimmte Weise dargestellt wird«. Die Diskrepanz besteht in einer sprachlichen Ungenauigkeit, dass nämlich die von Schmitt angeführten Verfahren ›Darstellen‹, ›Entnehmen‹ und ›Erfinden‹ nicht einfach mit dem Momentum des Referierens gleichzusetzen sind. 317 Diese Position lässt sich als ein – im Übrigen von Petersen (2000) vehement kritisierter – Rettungsversuch des konventionellen Nachahmungsgedankens auffassen: Die aristotelische Mimesis ziele Fuhrmann zufolge – in Abgrenzung zum platonischen Begriffsgebrauch – »nicht auf die Nachahmung von Wirklichem, als vielmehr auf die Nachahmung von Möglichem« ab (Fuhrmann [2003], 18). Eine solche Haltung setzt sich tatsächlich zumindest dem Verdacht aus, hier werde lediglich eine Verschiebung des Problems von einer ontologischen Kategorie auf die nächste vorgenommen. Zudem würde eine Nachahmung von Möglichem selbst nur Mögliches zweiter Stufe hervorbringen – und dies stünde im Widerspruch zu der von Aristoteles verfochtenen Energetizität, die von dichterischen Werken ausgeht, mithin einen Schritt zur aktualen Wirklichkeit verfolgt. 316

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kannten Glaubwürdigkeitskriterium (πιθανόν) ausholen. Dieses kann – noch dezidierter als das Mögliche – als wirkintensiv gelten, insofern es auf die Seelenteile – wie auch bereits viel früher bei Parmenides gesehen – in unterschiedlichem Grade wirkt. Exemplarisch hierfür tritt bei Aristoteles die Frage ein, warum Tragödiendichter in ihren Werken überhaupt historische Eigennamen verwenden, die doch auf den ersten Blick als referenzielle Wirklichkeitsgrößen par excellence aufzufassen sind. Die Antwort hierauf führt die Verbindung zwischen dem Wirkbereich (Glaubwürdiges) und dem Transformationsbereich (Mögliches) vor Augen: αἴτιον δ᾽ ὅτι πιθανόν ἐστι τὸ δυνατόν. τὰ µὲν οὖν µὴ γενόµενα οὔπω πιστεύοµεν εἶναι δυνατά, τὰ δὲ γενόµενα φανερὸν ὅτι δυνατά. οὐ γὰρ ἂν ἐγένετο, εἰ ἦν ἀδύνατα. 318

Dem Möglichen gelingt es demzufolge über seine Eigenschaft der Glaubwürdigkeit, auch Faktisches als poetisch erscheinen zu lassen. Im selben Zuge gelingt es durch die Poiesis, etwas Faktisches als möglich erscheinen zu lassen. Die Delegierung der Glaubwürdigkeit – die hier nicht mit der parmenideischen πίστις, dafür aber mit dem damit eng verwandten Verb πιστεύειν aufgeworfen wird – an die δυνατά erweist sich hier bereits freilich als eine graduelle. In demselben Maße, in dem sich das Mögliche dem Unglaubwürdigen nähert, muss sich das Glaubwürdige von ihm lossagen und sich dem Wahrscheinlichen und gegebenenfalls gar dem Unmöglichen zuwenden. 319 Der Grad der Glaubwürdigkeit befindet sich in einem poetischen Spiel mit dem Grad der Möglichkeit. Das πιθανόν wird dadurch fast beiläufig zum neuen Telos der poetischen Darstellungsrichtung erklärt. Diese auf die Rezipienten fokussierte Bestimmung wird von Aristoteles noch weiter verfolgt: Während das Glaubwürdige mit dem Verstandesvermögen in Verbindung zu bringen ist, geht es in einem weiteren Schritt um den Bereich des rein Affektiven: Aristot., poet., 9, 1451b16–18: »Grund dafür [dass die Tragiker Eigennamen verwenden] ist, dass das Mögliche glaubwürdig ist. Von demjenigen, was nicht geschehen ist, glauben wir nicht ohne Weiteres, dass es möglich sei, während es offenkundig ist, dass das Geschehene möglich ist. Denn es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre«. 319 Vgl. die chiastisch gesetzten Asyndeta ἀδύνατα εἰκότα und δυνατὰ ἀπίθανα ebd., 24, 1460a26 f.: »προαιρεῖσθαι τε δεῖ ἀδύνατα εἰκότα µᾶλλον ἤ δυνατὰ ἀπίθανα.« (»Das Unmögliche, aber Wahrscheinliche verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist«), der sich auf den ersten Blick gegen das Mögliche als poetologische Leitkategorie zu richten scheint, tatsächlich jedoch hier – sowie fast entsprechend ebd., 25, 1461b11 f. – etwas anderes ausdrückt, dass es nämlich neben dem ›regulären Fall‹ (das Mögliche erscheint uns glaubwürdig) auch die umgekehrte Perspektive gibt, indem die Rezipienten bereit sind, zugunsten ihrer eigenen Überzeugtheit Abstriche an eine streng realistische Darstellungsweise zu machen. Hierin zeigt sich besonders deutlich, dass es sich bei der Glaubwürdigkeit im aristotelischen Sinne nicht um ein rationales, sondern um ein wirkintensives Moment handelt. 318

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Die Zuwendung zum Unmöglichen sei erst recht legitimiert, »wenn sie [die Dichtkunst] auf solche Weise entweder dem entsprechenden Teil selbst oder einem anderen Teil ein stärkeres Erschütterungsmoment verleiht«. 320 Anders gesprochen: Aristoteles erlaubt hier dem poetischen Kunstwerk eine Verringerung an Weltstärke zugunsten der Wirkstärke auf die Rezipienten. Dass es sich hierbei um eine Größe handelt, die graduell korreliert zu denken ist, drückt sich im Gebrauch des Komparativs ἐκπληκτικώτερον aus. Das Wirkvermögen der Dichtkunst wird demnach zum einen von der Überzeugungskraft des δυνατόν selbst gespeist; zum anderen müssen, soll die Seele intensiv gerührt werden, auch Verstärkungseffekte eine Rolle spielen. Sie erinnern auf den ersten Blick an die in der poetologischen Tradition so häufig diskutierten Schemata zur Übermittlung interiorer Zustände vom Dichter an sein Publikum. Denn am überzeugendsten wirke die Dichtkunst, wenn die hervorzurufenden Affekte bereits im Produktionsstadium beim Urheber vorlägen: πιθανώτατοι γὰρ ἀπὸ τῆς αὐτῆς φύσεως οἱ ἐν τοῖς πάθεσίν εἰσιν, καὶ χειµαίνει ὁ χειµαζόµενος καὶ χαλεπαίνει ὁ ὀργιζόµενος ἀληθινώτατα. διὸ εὐφυοῦς ἡ ποιητική ἐστιν ἢ µανικοῦ· τούτων γὰρ οἱ µὲν εὔπλαστοι οἱ δὲ ἐκστατικοί εἰσιν. 321

Die hier verhandelten Affekte der leidenschaftlichen Erregung und des Zorns sind bei aller Bezugnahme auf die gängige Begriffstradition (ἐκστατικοί) indes nicht zu verwechseln mit dem enthusiastischen Vermögen, das von Platon noch im Ion diskutiert wurde. Die Glaubwürdigkeit wird durch jene Emotionen, das heißt: in ihrer Wirkintensität, vielmehr verstärkt und auf ihren höchsten Grad (πιθανώτατοι) gebracht. Dass sie sich dabei aber nicht auf einen göttlichen ἐνθουσιασµός verlassen kann, sondern durchaus mit der regelgeleiteten τέχνη verhaftet bleibt, zeigt sich in der rationalen Behandlung des πάθος. Denn insofern der Dichter sich in eine Handlung, die er darzustellen beabsichtigt, nur hineinversetzen, sie sich gleichsam »möglichst vor Augen stellen« 322 solle, bleibt ein Distanzmoment bestehen, das sich schwerlich mit der Kraftübertragung der im Ion verhandelten θεία δύναµις gleichsetzen lässt. Aristoteles' δύναµις käme vielmehr auf problematische Abwege, wollte sie sich auf ein Gemüt des Dichters berufen, das von einem Gott enthusiastisch erhitzt worden

Ebd., 25, 1460b25 f.: »εἰ οὕτως ἐκπληκτικώτερον ἢ αὐτὸ ἢ ἄλλο ποιεῖ µέρος«. Ebd., 17, 1455a30–34: »Am überzeugendsten nämlich sind diejenigen, die bei selbiger Naturanlage sich in Leidenschaften versetzt haben, und am wahrhaftigsten stellt der selbst Erregte die Erregung und der Erzürnte den Zorn dar. Daher ist die Dichtkunst die Sache eines wohlbegabten oder eines leidenschaftlichen Menschen; von diesen nämlich sind die einen wandlungsfähig, die anderen erregbar«. 322 Ebd., 17, 1455a23: »µάλιστα πρὸ ὀµµάτων τιθέµενον«. 320

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wäre. 323 Die Intensität des πιθανόν zeigt sich vielmehr anhand zweier Dimensionen: Sie wird vom Grad des Möglichen (je möglicher, desto glaubwürdiger) sowie vom Grad eines priorisch vorgestellten Affektes (je aufgeregter, desto ekstatischer) bestimmt. Das technische Vermögen des Dichters, sei es in einem glaubwürdigen, phantasiebegabten oder erregbaren Urgrund vorgestellt, behält bei alledem indes stets seinen regulativen Zugriff im Sinne des einmal gefassten Plans, und das heißt: der einmal gefassten κίνησις bei. Die Art von Poiesis, die Aristoteles vorschwebt, erfordert somit mehrere prozedural aufeinander abgestimmte Fertigkeitsaspekte: Sie geht von einer anthropologisch fundierten τέχνη aus, vollzieht sich über stofflich-formale Zusammenfügungen nach Maßgabe des δυνατόν und reicht – konkret auf das Beispiel der Tragödie bezogen – bis hin zur Bewirkung des Jammer- und Schaudervollen. Wendet sie sich den Affekten zu, so darf sie sich indes auch bis zu einem gewissen Grade anderen Paradigmen als dem Möglichen zuwenden. Genau diese Umfänglichkeit impliziert die im Proömium genannte δύναµις εἰδῶν. Handelte es sich, wie Geldsetzer zusammenfasst, bei der dezidiert naturphilosophischen Betrachtung der δύναµις »noch [um] reine Beschreibungsmittel, die erinnerte und erwartete Zustände auf Substanzen und Lebewesen beziehen«, 324 so schwingt hier stets das konkrete kinetische Potential mit, das die δύναµις als »der Anfangsgrund der Bewegung oder der Veränderung«, 325 das heißt in Form ihres poetischen Darstellungsvermögens und ihrer Wirkkraft besitzt. In der Poetik ist sie daher kein rein abstraktes Beschreibungsmittel, das einem Gegenstand zukommt, sondern eine aus und entlang der poetischen Tätigkeit entwickelte Bestimmungsrichtung. Die dichterischen Kunstwerke beZur Bedeutung des Vor-Augen-Stellens – das sich nicht auf einen irrationalen Schaffensakt beziehen kann, sondern in seiner Begründung durch das naturphilosophische Prinzip der ἐνέργεια, und darin verweisend auf die κίνησις, als rational erfassbar und reduzibel erweist – vgl. Aristot., rhet., 3, 11, 1411b24–27: »λέγω δὴ πρὸ ὀµµάτων ταῦτα ποιεῖν ὅσα ἐνεργοῦντα σηµαίνει, οἷον τὸν ἀγαθὸν ἄνδρα φάναι εἶναι τετράγωνον µεταφορά (ἄµφω γὰρ τέλεια, ἀλλ᾽ οὐ σηµαίνει ἐνέργειαν: ἀλλὰ τὸ, ἀνθοῦσαν ἔχοντος τὴν ἀκµήν᾽ ἐνέργεια, καὶ τὸ, σὲ δ᾽ ὥσπερ ἄφετον᾽ ἐλεύθερον ἐνέργεια, καὶ, τοὐντεῦθεν οὖν ῞Ελληνες ᾁξαντες ποσίν.« (»Ich verstehe unter ›VorAugen-Stellen‹ all das, was Wirksamkeit zum Ausdruck bringt – beispielsweise zu sagen, dass ein guter Mann ein Quadrat sei, ist eine Metapher (denn beides ist vollkommen, indes bringt es nichts Wirksames zum Ausdruck) – wohingegen ›Er steht im blühenden Alter‹ Wirksamkeit bedeutet, ebenso wie ›dich, gleichsam entfesselt‹ und ›Da sprangen die Griechen auf ihre Füße‹« sowie im Anschluss daran ebd., 1412a10: »ἡ δ᾽ ἐνέργεια κίνησις.« (»Wirksamkeit aber ist Bewegung.«) Die ersten beiden von Aristoteles bemühten Zitate finden sich bei Isokr., or., 5, 10, 127, das dritte bei Eur., Iph. A., 80. (dort allerdings δορί statt ποσίν überliefert). Zu alledem tritt der für das antike Verständnis so grundlegende Gedanke, dass die Geometrie als eine mathematische Teildisziplin selbst in ihrer rhetorischen Nutzbarmachung abstrakt bleiben muss, hier hervor. 324 Geldsetzer (2009), 47. 325 Aristot., metaph., 5, 12, 1019a15 f.: »ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως ἢ µεταβολῆς«. 323

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sitzen nach diesem Prozess keinen Veränderungsdrang (ὁρµή) mehr, da sie ja – ausgehend vom natürlichen Urgrund ihrer Bewegung, der bereits ein Ziel enthalten muss – nunmehr zu ihrem teleologischen Zustand in se gelangt sind; wohl aber besitzen sie eine aus ihrer jeweiligen Realisation gewonnene Wirkkraft. Die Momente, in denen sich deren Intensität bemessen lässt, sind dabei, wie gezeigt, begrifflich und konzeptionell eng mit poetischen Formen, Vermögen und Darstellungsweisen verbunden. Einige wesentliche Schritte in diesem Vorgehen können nach den bisherigen Betrachtungen folgendermaßen zusammengefasst werden: (1) Der aus Vermögen (δύναµις) und Darstellung (µίµησις) hervorgehende Formaspekt (εἶδος) der Dichtkunst betrifft vor allen Dingen die Zusammenstellung und -fügung (σύστασις, σύνθεσις) von Gegebenheiten (πράγµατα), Handlungen (πράξεις) und Mythen (µῦθοι). Sie sind extrinsischen Zusammenhängen entnommen und erzeugen auch wiederum solche Zusammenhänge, insofern Mythen einen allgemeinen kulturellen Schatz an Geschichten und Handlungen zum Ausdruck bringen. (2) Der poetischen Zusammenstellung wird als Leitparadigma das Mögliche (δυνατόν) zugrunde gelegt. Dieses setzt sich naturphilosophisch aus den Prinzipien des Wahrscheinlichen (εἰκός) und Notwendigen (ἀναγκαῖον) zusammen. (3) Mit dem Möglichen eng verhaftet ist die Glaubwürdigkeit (πίστις). Denn was uns als möglich erscheint, erscheint uns grundsätzlich auch als glaubwürdig (πιθανόν). Zudem lässt sich die Glaubwürdigkeit – im Sinne ihrer Verunmittelbarung – über Affekte weiter intensivieren. Das Wunderbare (θαυµαστόν) kann dabei zur Wirkintensität elementar beitragen, muss sich aber im Rahmen des Glaubwürdigen, das heißt: immer noch nach den Regeln der σύστασις beziehungsweise der σύνθεσις abspielen. Der Schnittpunkt zwischen der Extensivierung von Sachverhalten (›Vermöglichung‹, selbst von Faktischem / Historischem, in der Dichtkunst) und der Intensivierung von Affekten liegt demnach in vorzüglicher Weise in der Koinzidenz von Möglichkeit und Glaubwürdigkeit vor. (4) In der weitestgehenden Entkopplung der Dichtkunst von Wahrheits- und Wissensdiskursen zugunsten der genannten wirkintensiven Kategorien (πάθος/παθητικόν, πίστις/πιθανόν, θαῦµα/θαυµαστόν, ἔκπληξις/ἐκπληκτικόν) lässt sich nicht nur eine neue Verankerung der Stoff- und Formfunktionen der Poiesis, sondern auch eine deutlich stärkere Dynamisierung des poetischen Produktionsaktes feststellen. Diese Dynamisierung nimmt im Vergleich zu Referenzialisierungs- und Transzendierungsmodellen eine autarke Stellung ein. Hierin zeigt sich eine augenfällige Weiterentwicklung

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sowohl in Hinsicht auf die Inspirationstopiken der Lyrik, Epik und Lehrdichtung als auch auf die Epistemologien der sophistischen Aufklärung sowie auf die Argumentationsmuster eines Platon, der noch die Transzendenz als oberste (und für die Dichtkunst praktisch unerreichbare) ontische Ebene festsetzte. Nimmt man die Art und Weise in den Blick, wie sich in der Poetik ontologische und psychologische Größen miteinander verbinden, kann es nicht verwundern, dass ihre Rezeptionsgeschichte so vielfältig ausfallen musste. Durchweg lässt sich dabei eine gewisse Konstanz in der Hinwendung zu regelgeleiteten Kohärenzprinzipien feststellen. Selbst in der Behandlung der Affekte und des Wunderbaren, die wohl noch die geeignetsten Kandidaten für irrationale Begründungsmomente darstellen könnten, scheinen Aspekte einer taxonomisch geordneten Prozeduralität durch. Kontingenzaspekte, die ja in der Behandlung von Produktionsprozessen durchaus einer Erwähnung wert wären, werden demgegenüber geradezu eliminiert. Aristoteles überführt dadurch die Dichtkunst aus der vorsokratischen und platonischen Vertikalen (θεοί – ἄνθρωποι) auf die horizontale Ebene der Kohärenz (πρᾶγµα – πρᾶγµα). Jene so häufig als eine Art initialer Topos eingeführte Diskrepanz zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre wird daran anschließend durch eine neue Vertikale ersetzt. Diese verläuft, von den Mythen (µῦθοι) ausgehend, über die Handlung (πρᾶξις) und die allgemein bedeutsame Gegebenheit (πρᾶγµα) über deren Strukturfolgen (σύστασις, σύνθεσις) bis hin zu den Affekten (πάθη) selbst. Struktur und Wirkung werden dadurch nicht länger voneinander geschieden, sondern als sich zu einer gemeinsamen Bestimmungsrichtung ergänzende Aspekte betrachtet. Die narrative und performative Kraft der Handlung finden sich in der Kategorie des Glaubwürdigen (πιθανόν) wieder. Dieser formale Anspruch, den Aristoteles an die Dichtkunst stellt, wird für zahlreiche Grundgedanken der frühneuzeitlichen ars aesthetica – die sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach selbst aus einer naturphilosophisch fundierten Psychologie heraus generiert – von einiger Bedeutung sein – etwa in den Geltungsansprüchen des nexus rerum und der series in Bezug auf Wahrnehmungen, Wörter und Vorstellungen, der rationalen Betrachtung der inneren repraesentationes sowie in den modallogischen Implikationen, die für Gottsched, Wolff, Baumgarten, Bodmer und Breitinger von elementarer Bedeutung für die Bestimmung des poetischen Kunstwerks sind.

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5.b. Wirkkräfte und Vermögen bei Cicero

Im Sinne der oben genannten Zielsetzung, individuelle Tugenden und Vermögen mit der Möglichkeit der Nachahmung zu belegen, wird der Topos der imitatio oratorum in der spätrömischen Republik sowie in der frühen Kaiserzeit weitgehend im Sinne einer Vorbildsfunktion aufgefasst: Der Schüler orientiert sich an dem, was sein magister oder praeceptor ihm vorgibt, ja geradezu vorlebt. Er entwickelt seine eigenen rhetorischen Fähigkeiten anhand der Beispielhaftigkeit seines magister dicendi. 326 Hierbei geht es nicht um das Erlernen abstrakter Regeln, etwa aus den Bereichen der Logik, der Mathematik oder verwandter Disziplinen; vielmehr steht die Aneignung eines bestimmten Lebensmodells auf Grundlage der eigenen Begabung zur Diskussion. Varwig führt dies mit Blick auf Cicero und Quintilian folgendermaßen aus: Es geht also um die Frage, wie weit begabungsbedinge (d. h. sensibilisierbare) Erfahrungen und Erkenntnisse, die ›schlecht‹ in Kunstregeln zu fassen sind, durch Modelle ›erlernbar‹ gemacht werden können, und – hier speziell – wie weit zur perfekten ›Imitation‹ (= Modell und damit als ›tertium comparationis‹ verschwunden und deshalb ohne besonderen Terminus von der Konzeption der Nachahmung getrennt) Begabung Voraussetzung ist. So kann die willentliche, nachahmende Veränderung der ›natura hominis‹, d. h. Bildung z. B. nach dem Modell Cicero [. . . ] eines Tages in die Erfüllung dieses Modells übergehen und damit das ›imitatio‹-Verfahren abgeschlossen sein. Den Gegensatz bildet die logische Methode, d. h. ›ars‹, die immer als Verfahren Gültigkeit hat und nie abgeschlossen ist [. . . ]. 327

Die Beispielhaftigkeit des Lehrers ist, wie bereits oben angedeutet, zuallererst in der Tugend (virtus) selbst zu suchen. Dieser Nexus ist so weit verbreitet, dass er nicht nur für Autoren gilt, die sich zuvorderst der Ausbreitung einer rhetorischen Theorie verschreiben. So wirkt Horaz' Spott in der epistula 1, 19 über denjenigen, der sich ausgerechnet Untugenden (vitia) zum nachahmenswerten Vorbild nehmen wolle umso eindringlicher, wenn er in Form einer gnomisch anmutenden Sentenz angeführt wird: »Es täuscht ein Vorbild, das durch seine Laster nachahmenswert ist.« 328 Zudem klingt in diesem Zusammenhang die Forderung an, dass sich Nachahmung stets auf etwas Interiores richten solle – denn »würde jemand, wenn er ungeschlacht barfuß mit finsterem Blick und Vgl. zu dieser Tradition die exemplarisch angeführten Streitpunkte des Redeschmucks bei Cic., orat., 5 (17) sowie der Vokalverschleifung ebd., 44 (151). 327 Varwig (1976), 74. 328 Hor., epist., 1, 19, 17: »[D]ecipit exemplar vitiis imitabile«. 326

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im Gewand einer knapp geschnürten Toga Cato nacheifert, dessen Tugend und Charakter widerspiegeln?« 329 Von einem tugendhaften und charaktervollen Cato wird hier nicht grundlos gesprochen. Der ältere Cato, den auch Cicero noch so hoch schätzen wird, dass er ihm mit Cato maior de senectute (44 v. Chr.) ein regelrechtes literarisches Denkmal setzt, verkörpert nicht nur all die nachahmenswerten Charakteristika 330 eines römischen Ehrenmannes in Personalunion, sondern forderte ebendiese Tugenden auch stets von seinen Zeitgenossen ein – dies besonders nachdrücklich in seinen Auftritten im Senat. 331 An ihm spiegeln sich daher nicht nur die Vorzüge eines vir honestus, sondern auch die damit verbundene Aufforderung wider, sich eine solche Tugendhaftigkeit auch selbst anzueignen. Durch die explizite Nennung Catos positioniert sich Horaz zu solchen Werten, die mit der virtus und damit auch der imitatio einher gehen, scheinbar in ganz ähnlicher Weise. 332 Für unser Thema konstitutiver als diese Tugendkataloge Ebd., 1, 19, 12–14: »si quis voltu torvo ferus et pede nudo / exiguaeque togae simulet textore Catonem, / virtutemne repraesentet moresque Catonis?« Der Fragemodus ist hier rhetorisch und impliziert seine eigene ablehnende Antwort bereits (coniunctivus indignationis); ab Vers 21 überträgt Horaz im Übrigen die Frage, ob Nachahmung auf der reinen Oberfläche überhaupt als Nachahmung gelten dürfe, auf einen zeitgenössischen poetologischen Diskurs, in den er sich auch selbst mit einbezieht. Namentlich verweist er auf den eventuell vorbringbaren Vorwurf, er selbst stelle nicht mehr als einen elitären Nachahmer griechischer Vorbilder dar. Die rhetorische Verfahrensweise, durch expliziten Hinweis auf ein Negativbeispiel das darzustellende Positive umso deutlicher hervortreten zu lassen, ist aus den sermones bekannt und wird, worauf Steidle (1939), 10 hinweist, programmatisch in Hor., serm., 1, 4, 103–106 ausgeführt und wohl am prominentesten in Hor., ars, 1–4 zur Anwendung auf ästhetische Urteile gebracht. In der hier diskutierten Stelle scheint es vor allem die diätetische, die Lebensweise betreffende Ebene zu sein, auf der es um die Frage nach Vor- und Gegenbildern geht. 330 Hierzu zählen etwa die auctoritas, die gravitas und die dignitas, ganz besonders aber die virtus, die zur Zeit der späten Republik nach Ciceros Auffassung angesichts eines mutmaßlichen Sittenverfalls einen derart schweren Stand habe, dass es für einen Autor fast schon gefährlich werden könnte, überhaupt noch ein Enkomion auf Cato zu schreiben; vgl. Cic., orat., 10 (35): »Itaque hoc sum aggressus statim Catone absoluto, quem ipsum numquam attigissem tempora timens inimica virtuti, nisi tibi hortanti et illius memoriam mihi caram excitanti non parere nefas esse duxissem.« (»Daher bin ich sogleich an dieses [sc. Werk, nämlich den Orator] gegangen, sobald der Cato beendet war, den ich niemals angerührt hätte – da ich die Zeitumstände fürchtete, die der Tugend feindlich gesonnen sind –, wenn ich nicht geglaubt hätte, dass es ein Frevel wäre, dir nicht Folge zu leisten, so du mich doch zu der mir lieben Erinnerung an jenen nachdrücklich ermahnst und aufforderst.«) Zur Ethik der exempla in Ciceros theoretischen Schriften und Dialogen vgl. in jüngerer Zeit Sauer (2018). 331 Zum Leben und Fortwirken Catos aufgrund seiner virtutes vgl. den Abriss bei Albrecht (1992), 314–326; zum Cato-Bild bei Cicero vgl. Kammer (1964); zur Rezeption Catos als historischer Figur insgesamt vgl. Della Corte (21969). 332 Dies heißt wohlgemerkt nicht, dass sich Horaz durch solche – immerhin in einem stichischhexametrischen Kunstbrief verfassten – Äußerungen de facto solchen Werten verschreiben noch dass er sich zu ihnen persönlich ›bekennen‹ würde. Vielmehr bilden die Lebensweisen des älteren 329

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oder -projektionen – und erst recht die Frage, inwiefern es legitim ist, von derartigen Projektionen auf die Haltung des Dichters Horaz selbst zu schließen – ist nun die Rolle, welche die simulatio selbst an dieser Stelle spielt. Die im Text aufgerufene Funktion der simulatio richtet sich offenkundig nach dem Äußeren, dem Anschein und wird für diese Oberflächlichkeit auch getadelt; 333 zudem erscheint sie kaum von einem selbständigen Interesse geleitet und kann gar, wie auch die ihr verwandte assimulatio, bis hin zu einer ›Selbstverstellung‹ reichen. 334 Die richtig verstandene imitatio hingegen verweist unmittelbar auf persön-liche Anlagen, auf Vorstellungen innerer Güter, kraft derer ein Mensch überhaupt erst zum exemplar wird. Bezogen auf die Rhetorik kann dies nur heißen, dass sich in der rednerischen Performanz des magister dicendi daher zugleich auch die beispielhaften Vorzüge (exempla) seiner natürlichen Anlage (ingenium) manifestieren. Sie sind dabei ihren Äußerungsformen nach durchaus empirisch bestimmbar – man kann sie loben (laudare), bewundern (admirari), nachahmen (imitari) etc. – und beziehen auch ihren Wirkgehalt zu nicht unerheblichen Teilen aus der sich im täglichen Auftreten offenbarenden Lebenspraxis. In ihr verbinden sich so unterschiedliche Lebensbereiche wie Kriegskunst, Politik und Poesie. Krasser hat dieses Zusammenspiel unter Bezug auf das horazische carmen 3, 2 herausgestellt: Alle Qualitäten, die Horaz an großer virtus rühmt, sind zugleich die spezifischen Qualitäten der eigenen Dichtung und der eigenen Existenzform als Lyriker. Umgekehrt bedeutet dies, daß man getrost auch dort, wo Horaz die Größe der (und auch des jüngeren) Cato in der Rhetorik- und Bildungstheorie der römischen Republik florierende Topoi, die bevorzugt in rhetorischen, politischen und philosophischen Diskursen als Vorbilder für bestimmte Grundhaltungen aufgegriffen werden; so wird etwa Cato maior geradezu im Sinne einer Chiffre für eine sittenstrenge und altrömische Lebensführung verwendet; hinsichtlich der politischen und moralischen Qualitäten von Cato minor lassen sich demgegenüber gewisse Kontroversen ausmachen; man betrachte nur Ciceros Lobschrift (46 v. Chr.) sowie die darauf folgenden Repliken, wie sie sich in Brutus’ Cato und Caesars Anticatones zeigen. Über die letztere Schrift sind wir – neben wenigen erhaltenen Fragmenten – durch Plutarchs Caesar-Biographie unter- richtet; vgl. Plut., Caes., 3 und 8. Horaz bedient sich solcher Vorbilder allerdings – wie Müller treffend zuspitzt – insbesondere in den Epistulae auf eklektische Weise, die »weniger auf Rezeption und Weiterentwicklung einer bestimmten philosophischen Schule beruht, sondern in der Vermittlung einer bestimmten Lebenshaltung liegt, die für Horaz das Ziel ethischer Reflexion markiert.« (Müller [2018], 118) Zum Rezeptionsverhältnis, das im ersten Jahrhundert n. Chr. Seneca bezüglich der stoischen Tugendlehre und auch allgemein zu Horaz einnimmt, vgl. Stöckinger – Winter – Zanker (2017). 333 Zu dieser lexikalischen Grundbedeutung vgl. Georges (81998), s. v. »simulo«, 2679: »etwas zum Scheine äußern, [. . . ] sich den Anschein geben«. Sie ist sowohl bei prosaischen (etwa bei Cicero, Sallust und dem jüngeren Plinius) wie auch poetischen Autoren (etwa bei Ovid und Vergil) umfangreich belegt. 334 Vgl. Georges (81998), s. v. »simulatio«, 2678 und ebd., s. v. »assimulatio«, 643.

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eigenen Dichtung rühmt, selbst wenn der Begriff virtus nicht genannt wird, die hier zugrundeliegende Konzeption von virtus voraussetzen darf. Wie der Soldat oder der Politiker kann also auch der in iii 2 nicht unmittelbar genannte, nur im Zitat latent gegenwärtige Dichter als Repräsentant der hier beschriebenen virtus gefaßt werden. Dies bedeutet, daß Horaz die virtus-Ideologie, die ja auch realiter [. . . ] der Selbstdarstellung von Feldherren und Politikern vorbehalten war, zur Beschreibung poetischer Leistungen einsetzt und damit eine prinzipielle Gleichwertigkeit politisch-militärischer und poetischer Tüchtigkeit behauptet. 335

An Krassers Einlassungen lässt sich manches gewiss kritisieren, wie etwa der heroisch-männlich konnotierte Begriffe der »politisch-militärische[n] [. . . ] Tüchtigkeit«. Dass aber eine Forderung nach Ideologie überhaupt in den rhetorischen Künsten eine hohe Verbreitung findet, verwundert nicht so sehr, wenn man den Stellenwert mit einbezieht, den der Lebenswandel in einer politischen Ämterkarriere an der Seite der rednerischen Ausbildung genießt. Zudem wird auch in poetologischen Begründungszusammenhängen der vita, die zum exemplum taugt, ein durchaus hoher Stellenwert beigemessen. So wird nicht nur in Horaz' carmina, sondern auch in der Ars poetica als ein elementarer Anspruch an den Dichter formuliert: »Auf das Musterbild des sittlichen Lebens zu blicken, dazu will ich auffordern, und [dazu auffordern,] als gelehrter Nachahmer von dort lebendige Worte abzuleiten«. 336 Während Horaz sich in seinen Ausführungen auf die Dichter bezieht, kann Cicero als Verfechter der Lebenstüchtigkeit in Bezug auf die Rhetorik gelten. Mit am prägnantesten kommt das in De Oratore zum Ausdruck: Krasser (1995), 70. Hor., ars, 317 f.: »Respicere exemplar vitae morumque iubebo / doctum imitatorem et vivas hinc ducere voces«. Dass es sich bei dem hier angeführten exemplar vitae um eine derartige Lebenswirklichkeit handeln könne, dass sie in einem rein assimilierenden Sinne von der Poesie nachgeahmt werde, vertritt Fuhrmann (2003), 153. Dem kann indes mit Kiessling (51957), 344 und Petersen (2000), 73–76 entgegengehalten werden, dass es sich durchaus um Ideale handelt, die durch die Lebensführung gleichsam lebendig werden und dadurch zu einer Aneignungsfähigkeit gelangen können. Der Dichter muss die exempla gewissermaßen in ihrer sinnlichen Gegebenheit zunächst erkennen und dann auf eine eigene, lebendige Vorstellungswelt hin entwickeln (vivas voces ducere). Er behält dabei – darin dem aptum/decorum-Anspruch der Redner durchaus ähnelnd (vgl. auch Hor., ars., 308) – im Blick, dass Ausdruck und Gesagtes in angemessener Weise zueinander passen mögen – so sehr beim Vorbild wie beim darauf blickenden Redner und Dichter. Der doctus imitator ist daher alles andere als ein bloßer Kopist oder gar Nachäffer, sondern jemand, der mit verständigem, tiefem Blick die Mustergültigkeit in den beispielhaften Vorbildern erkennt und daraus – in Verbindung mit seiner eigenen Gelehrsamkeit – etwas Eigenes, und zwar Lebendiges schafft. Für beide mit der Sprachkunst befassten artes, die Poetik und die Rhetorik, ist somit die Rolle der Mustergültigkeit und der Vorbildhaftigkeit in Verbindung mit ihrer sinnlichen Repräsentationskraft zentral. 335 336

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Valet igitur multum ad vincendum probari mores et instituta et facta et vitam eorum, qui agent causas, et eorum, pro quibus, et item improbari adversariorum, animosque eorum, apud quos agetur, conciliari quam maxime ad benevolentiam cum erga oratorem tum erga illum, pro quo dicet orator. Conciliantur autem animi dignitate hominis, rebus gestis, existimatione vitae; quae facilius ornari possunt, si modo sunt, quam fingi, si nulla sunt. 337

Die Worte des Redners erhalten ihren besonderen Wert erst aufgrund der Quelle und mit welchem Können sie zur Darstellung gebracht werden – und nicht dadurch, dass der Rezipient sie auf willkürliche Weise ›schön‹ findet. Die Quelle der Redekunst ist daher nicht platonisch idealisiert zu denken, sondern ein Ideal, das aus der Begabung, der Bildung und der lebensweltlichen Praxis einer Person gleichermaßen schöpft. ›Muster‹ und ›Vorbilder‹ lassen sich somit anhand von Bildungsidealen präzisieren. Die Ideale vir bonus, vir peritus und vir doctus arbeiten weder dem Eigeninteresse noch der Rhetorik als Disziplin zum Selbstzweck zu, sondern werden als Leitbilder mit weiteren überindividuellen Wirkgehalten, dabei besonders häufig einem politischen, assoziiert. 338 Ein solcher Anspruch beschränkt sich nicht auf die bloße Beherrschung der officia oratoris, die traditionellerweise ganz in taxonomischen Gerüsten eingehegt sind, 339 sondern meint stets auch eine Aneignung elementaren Wissens über die Welt vermittels der freien Künste (artes liberales). Hierfür tritt zunächst das bereits von Cato eingeforderte – und nach Meinung seiner zeitgenössischen Zuhörer durchaus auch von ihm selbst verkörperte – Ideal eines vir bonus dicendi peritus ein. 340 In der peritia lässt sich somit zum einen die konkrete Erfahrung im Reden, die in einem grundlegenden Sinne überhaupt erst zur rednerischen Praxis befähigt, 341 jedoch darüber hinaus auch ein durch WelterfahCic., de orat., 2 (182): »Es ist also für den Erfolg [sc. der Rede] wichtig, dass man die Sitten, die Gepflogenheiten, die Taten und das Leben derer, die einen Fall verteten, wie auch derer, für die [sc. der Fall vertreten wird], anerkennt, ebenso die der Gegenseite verwirft und dass man die Gemüter derjenigen, vor denen [sc. der Fall] verhandelt wird, möglichst zum Wohlwollen hin neigt, sowohl gegenüber dem Redner als auch gegenüber jenem, für den der Redner spricht. Die Gemüter lassen sich aber gewinnen durch die Würde eines Menschen, durch seine Taten und durch die Beurteilung seines Lebens. Diese Dinge kann man leichter hervorheben, wenn sie vorhanden sind, als sie zu erfinden, wenn sie nicht vorhanden sind«. 338 Hier sei auf die Bemerkungen bei Kühnert (1996), 457 hingewiesen. 339 Zu den einflussreichsten Referenztexten, aus denen Taxonomien wie die partes orationis, die genera orationis oder auch die partes rhetorices hervorgegangen sind, zählen Aristoteles’ Rhetorica und Topica, Ciceros Brutus, Orator, De oratore und De inventione sowie die anonym verfasste und lange Zeit Cicero zugeschriebene Schrift Rhetorica ad Herennium. 340 Vgl. die diesbezügliche Äußerung bei Quint., inst., 12, 1, 1, worauf bei der Behandlung der Institutio oratoria in Kapitel II.5. noch näher einzugehen sein wird. Zu den Rollenbildern Catos und ihrer Funktionalität im Rahmen politischer Kommunikation vgl. Nickl (2011). 341 Vgl. Georges (81998), s. v. »peritia«, 1607: »durch Erfahrung erlangte praktische Kenntnis«. 337

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rung angereichertes Vermögen ausmachen. Der die römische Antike prägende und rezeptionsgeschichtlich einflussreiche Ausdruck für einen solchen vollkommenen Rednerstatus ist derjenige des orator perfectus. 342 Fuhrmanns Diktum, dass »das rhetorische Handwerkszeug [. . . ] in einem größeren Ganzen, in einer Allgemeinbildung philosophisch-literarischen Gepräges auf[ging]«, 343 lässt sich noch dahingehend präzisieren, dass die produktive Aneignung der artes zur natürlichen Aufgabe des nach Perfektion strebenden Redners zählt und dass dieser in seiner Weltzugewandtheit Dinge verkörpert, die über ihn selbst hinausgehen. Dabei verschränken sich in ihm Vermögen (ingenium, δύναµις) und persönliche Beispielhaftigkeit (exemplar, παράδειγµα) zu einem gelehrten Rednerideal. Anders gewendet: Das Rednerideal weist in sich bereits eine Komplexität auf, die aus der Diversität der artes liberales gespeist wird, um dann im Redner selbst zu einer Einheit gebracht zu werden. Aus der Vielfältigkeit der artes entsteht erst die Vielseitigkeit des Redners; aus dieser Vielseitigkeit resultiert dann wiederum eine bestimmte Umfänglichkeit der Kompetenz. Und diese sich aus so verschiedenen Wissensbereichen heraus entwickelnde Kompetenz ist es dann, die sich in der Lage zeigt, Anknüpfungspunkte zur Nachahmung zu bieten. Dass an die Seite eines Weltwissens immer auch eine entsprechende, nach außen hin wirksame Repräsentationsweise zu treten habe, wird dadurch angezeigt, dass sich nach römischer Überzeugung das ingenium über seine intrinsischen Qualitäten hinaus notwendigerweise auch in der Lebens- und Redeweise eines Menschen in praxi niederschlagen müsse. 344 Die ars dicendi eines Redners geht dabei wohl nicht so sehr – wie es Fuhrmann vorschwebt – »in einem größeren Ganzen auf«, sondern sie wird umgekehrt über die WeltaVgl. hierzu vor allem Ciceros ausführlichen Traktat De oratore, der hauptsächlich um diesen Gegenstand kreist und ihn auch anhand historischer Größen exemplifiziert: Cic., de orat., 2 (92–95); (122–201). Eine prägnante Zusammenfassung dieses Konzepts formuliert Möller (2004), 149: »Er [der orator perfectus; D. B.] zeichnet sich durch gute theoretische wie praktische Kenntnisse in allen Bereichen aus, besonders auch in den iura und in der Historie, und auf diesem Wege gelangt er zu philosophischer Einsicht, von der er mittels politischer Aktivität die Gesellschaft profitieren läßt«; vgl. außerdem die den Sachverhalt treffenden Beiträge von Classen (1986) und Narducci (2002); zur systematisch-theoretischen Verortung der De oratore-Programmatik vgl. Merklin (1987); zur Trias von Leben, Rhetorik und Schönheit bei Cicero vgl. Gammel (2015). 343 Fuhrmann (52003), 61. 344 Eine solche Dialektik zwischen rednerischer Befähigung und Lebenspraxis scheint mehr noch eine Bedingung für die Entwicklung der historischen Literarkritik – insbesondere in der Frage nach der imitatio auctorum; vgl. die diesbezüglichen Erläuterungen von Möller (2004), 137–165. Das Verhältnis der vita zur oratio scheint zudem in der Frage, welcher Größe der Vorrang gebühre, nicht mit letzter Sicherheit bestimmbar zu sein, da »aus den ciceronischen Formulierungen nicht ganz klar hervorgeht, was durch was beeinflußt wurde: das Leben durch die Rede oder die Rede durch das Leben« (ebd., 151). Unstrittig erscheint dabei indes, dass beide Größen, vita wie oratio, stets Ausdruck eines ingenium sind. 342

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neignung regelrecht gespeist, um dann im Individuum selbst eine Einheit zu bilden – und um letztlich in dessen Reden und Handeln zu ihrer eigenen vollen Repräsentations- und Wirkkraft zu gelangen, sich mithin als vis dicendi zu erweisen. Die vis dicendi befindet sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen Redner, Künsten und den Dingen in der Welt. Im Bildungsprozess des Redners erscheinen die artes zunächst von außen nach innen, von der Welt auf den Menschen gerichtet, werden dann jedoch in entscheidendem Maße durch die Befähigung, ein Vorbild in den entsprechenden gesellschaftlich anerkannten Bereichen zu sein, wieder entäußert. So allgemein das Rednerideal als Ideal auch sein mag, es nimmt durch die lebenspraktische Bezugsebene immer wieder eine individuierte und zugleich unifizierte Form an, aus der die rednerische Kraft selbst hervorgeht. Diese nicht als Widerspruch zur Mannigfaltigkeit, sondern als deren Vollendung verstandene Einheit ermöglicht das Lernen durch Nachahmen in einem umfassenden, die vita im Ganzen betreffenden Sinne. Es darf angenommen werden, dass der von Cicero wie von Horaz so prominent angeführte Cato maior genau hierfür eine Chiffre darstellt, die von einem römischen Leser unmittelbar verstanden wurde. 345 Für die Nachahmung derlei prominenter viri boni sind indes natürlich auch Fähigkeiten von Seiten des Schülers nötig, namentlich die oben genannte Art der imitatio, die auf die dezidierte Entwicklung einer wahren Tugendhaftigkeit gerichtet ist und sich somit auch von einer bloßen simulatio und assimulatio klar abgrenzt. Ganz im Gegenteil: Erst in einem vielgliedrigen, an unterschiedlichen Fähigkeiten (facultates) hängenden Bildungsprozess scheint die Redekunst ihre eigene Dignität und nicht zuletzt ihre soziopolitische Bedeutung zu erlangen. 346 Ein sich Vgl. Albrecht (1992), 324: »Noch bedeutender als die Ausstrahlung des Werkes [Catos; D. B.] ist diejenige der Persönlichkeit: Der blau- oder grünäugige Rotkopf aus Tusculum wird zum Inbegriff des Römers. Man tradiert seine angeblichen Aussprüche; Anekdoten ranken sich um ihn; Cato der Jüngere stellt den Moralismus des Urgroßvaters auf eine stoische Grundlage, ohne dessen Realismus zur Kenntnis zu nehmen. Cicero macht den greisen Cato zum Idealbild römischhellenistischer Weisheit; Plutarch überzeichnet vielleicht etwas die Griechenfeindschaft, gibt aber von dem Geschäftssinn und der Rechthaberei des Mannes ein Bild, das frei von Übermalungen ist«. 346 Diese Bedeutung lässt sich vor der Folie der griechischen Tradition in einem fundamentalanthropologischen Sinne lesen; als der kleinste gemeinsame Nenner ist hierbei die staatspolitische Initiation bestimmbar; vgl. Robling (2009a), 194: »Isokrates und Cicero meinen hier [im Zusammenhang der Enkulturation durch Staatenbildung; D. B.] die komplexe Interaktion von Arbeit und Sprache bei der Entstehung der Kultur, in der die natürlichen Lebensgrundlagen verändert werden. Sie argumentieren hier anders als Aristoteles, der vor allem die menschliche Naturanlage als treibendes Moment der Staatenbildung sieht, dabei aber die kulturelle Tat als Akt der Verwirklichung voraussetzt. Gemeinsam ist aber Aristoteles wie Isokrates und Cicero die Auffassung vom kultivierten Menschen als ›staatlichem Wesen‹ und darüber hinaus die Auffassung, daß zu seinem Tun die Sprache gehört, genauer: der λόγος, lógos als ›vernünftige Rede‹«. 345

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politisch betätigender Redner lässt andere an seiner Erfahrung und an seinem Wissen über die Welt teilhaben; er lässt zu einem gewissen Teil auch erkennen, woher dieses Wissen stammt, zumindest dass es aus den Wissens-, Werte- und Tugendsystemen der vorhergehenden Generationen Vorbilder zieht. Es verwundert daher nicht, dass spätestens mit dem Bildungsprogramm, das Cicero in De oratore um 55 v. Chr. vorschlägt, zu erkennen ist, dass mit der Weltaneignung auch die Nachahmung im Bereich der Rednerausbildung nochmals an Bedeutung gewinnt. Zu ihrer höchsten Form gelangt sie dabei, wenn sie sich auf das ingenium, das innere Vermögen selbst bezieht. 347 Die hohe Würde des ingenium zeigt sich auch daran, dass es bisweilen mit einer mens divina enggeführt wird. Um dies zu illustrieren, seien zunächst zwei Beispiele aus dem Bereich der Poesie synoptisch angeführt:

45

ingenium cui sit, cui mens divinior atque os magna sonaturum, des nominis huius honorem. idcirco quidam comoedia necne poema esset, quaesivere, quod acer spiritus ac vis nec verbis nec rebus inest [.] 348

Die Bezeichnung (nomen), von der hier die Rede ist, ist die Bezeichnung eines wahren Dichters. 349 Die Kraft, die seinen Werken zuzukommen habe, wird nicht als einfache vis, sondern als acer spiritus ac vis aufgefasst und somit um den Aspekt des Geistesaufschwungs ergänzt. 350 Das ingenium wiederum ist in seiner vorzüglichen Güte erkennbar, erstrebens- und nachahmenswert, liegt jedoch keineswegs in autarker Vollkommenheit vor, sondern bedarf gewissen Bestimmungsrichtungen, die ihm noch von Seiten anderer Seelenvermögen oder – sofern diese Seelenvermögen selbst noch nicht ausgeprägt wurden – eben seitens eines magister zukommen müssen. Die Vorstellung einer Seelenlenkung ist in der römischen Literatur geradezu ubiquitär verbreitet und prägt Hieraus resultiert also ein enges Zusammenspiel von ingenium (natura) und ars (doctrina); vgl. hierzu auch Robling (2007), 87: »Natura beziehungsweise ingenium, wie der genaue rhetorische Terminus für die natürliche Anlage beziehungsweise Begabung lautet, und ars sowie doctrina müssen also zusammenwirken, um den guten Redner hervorzubringen.« Robling bezieht sich in seinen Ausführungen sachlich sowohl auf das Œuvre Ciceros als auch auf die Rhetorica ad Herennium. 348 Hor., serm., 1, 4, 43–47: »Wer Begabung hat und einen göttlicheren Geist [sc. als andere Menschen] und einen Mund, / der Großes verkünden wird, dem möge man die Ehre dieser Bezeichnung verleihen. / Deswegen haben manche gefragt, ob die Komödie Dichtkunst / sei, weil sich weder in ihren Worten noch in ihren Gegenständen heftiger Geistesaufschwung und Kraft befinden«. 349 Vgl. ebd., 1, 4, 42: »hunc esse poetam«, worauf sich »nominis« (ebd., 1, 4, 44) rückbezieht. 350 Vgl. Georges (81998) s. v. »spiritus«, 2764: »Geistesaufschwung«. Büchner (22006), 39 übersetzt acer spiritus mit »heftiger Schwung«. 347

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auch im Bereich der Epik etliche Motive aus. Ein eingängiges Beispiel hierfür findet sich in Ovids Metamorphosen. Dort spricht beim Streit um Achilleus' Waffen Odysseus zu seinem Rivalen Aiax unter anderem Folgendes:

365

[. . . ] tibi dextera bello utilis; ingenium est quod eget moderamine nostro. tu vires sine mente geris, mihi cura futuri; tu pugnare potes, pugnandi tempora mecum eligit Atrides; tu tantum corpore prodes, nos animo, quantoque ratem qui temperat anteit remigis officium, quanto dux milite maior, tantum ego te supero. nec non in corpore nostro pectora sunt potiora manu; vigor omnis in illis. 351

Es verdiente eine eigene Untersuchung, die rhetorischen Mittel, die hier auf engem Raum und zugleich auf unterschiedlichen und dennoch offen gestalteten Ebenen eingesetzt werden, im Kontext der gesamten Dialogsituation auszuführen. 352 Für unser Thema, das zuvorderst auf die Vermögenslehre abzielt, sind vor allem die Fähigkeiten von Bedeutung, die den Figuren hier eingegeben werden beziehungsweise die von ihnen indirekt erwartet werden. Sie werden nämlich anhand verschiedener Arten von Kräften vorgeführt – mit einem semantischen Repertoire, das durchaus beeindruckt: Es reicht von äußerlich sichtbaren Kräften (vires) über die Planungsumsicht (cura futuri, tempora eligere), mithin über Kräfte, die im Inneren, in den pectora schlummern, bis hin Ov., met., 13, 361–369: »Dir ist die rechte [sc. Hand] für den Krieg / nützlich. Deine Veranlagung ist es, die meiner Lenkung bedarf; / du trägst Kräfte ohne Verstand vor dir her; mir obliegt die Sorge um das Zukünftige; / du vermagst es zu kämpfen, den Zeitpunkt des Kämpfens sucht mit mir / der Atride [sc. Agamemnon] aus; du bist nur mit dem Körper nützlich, / ich mit dem Geist; so sehr wie derjenige, der das Schiff auf ruhiger Fahrt hält, den Dienst des Ruderers übertrifft und der Feldherr wichtiger ist als der Soldat, / so bin ich dir überlegen; und gewiss ist in unserem [sc. dem menschlichen] Körper / die Herzenskraft vermögender als die Hand: In ihr [sc. der Herzenskraft] liegt jegliche Stärke«. 352 Um die Virtuosität, die bei weitem nicht nur an dieser Stelle vorliegt, wenigstens zu umreißen, sei nur auf die Anapher tu, die Alliterationen pugnare potes pugnandi (zugleich ein Polyptoton zwischen pugnare und pugnandi), milite maior und nec non, den Parallelismus quantoque [. . . ] quanto (zugleich eine weitere Anapher), auf Klangfiguren wie das Wechselspiel zwischen spitzem i-Laut und dumpfem u-Laut (tu vires sine mente geris, mihi cura futuri.), den o-Vokalismus (tantum ego te supero; nec non in corpore nostro (zugleich ein Binnenreim zwischen der – zudem als Interpunktionszäsur fungierenden – Penthemimeres [supero] und dem Versende), die autoritäres Gewicht suggerierende Wahl des Patronymikons Atrides, die schroffen Antithesen tu – ego, corpus – animus / pectus, die Paronomasie pectora sunt potiora sowie die Parallelisierungen und Gegenüberstellungen, die zwischen den semantischen Feldern des Krieges (bellum, pugnare, dux, miles), der Seefahrt (ratis, remex) und den seelischen Vermögen (ingenium, mens, animus) stattfinden, hingewiesen. 351

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zu einer Art von Tatkraft (vigor), die sich nicht aus der motorischen Konstitution allein speist, sondern intellektuelle Umsicht benötigt. Ausgerichtet sind die angeführten Kräfte offenbar nach dem klassischen dualistischen Prinzip von Körper und Geist. Bei den Kräften Aiax' scheint es sich nun um solche zu handeln, die sich zwar durch körperliche Übung ausprägen lassen, aber ohne den verständigen Sinn – worin sich ja gerade Odysseus nach eigener und fremder Meinung gegenüber Aiax auszeichnet – nicht denselben Wert besitzen wie die geistigen; vielmehr weisen Aiax' Kräfte eine Art blindwütigen Charakter auf (sine mente). Sein ingenium muss daher noch in die richtigen Bahnen gelenkt werden, um die – vielleicht ja durchaus vorhandenen – Anlagen in sinnvoller Weise fruchtbar zu machen. Was zum Dualismus hinzutritt, ist somit die Vorstellung einer geistigen Steuerung, eines moderamen – hier ausgeführt auf der Bildebene des Steuermanns, der das Schiff auf ruhiger Fahrt hält (ratem qui temperat) und somit auf die Mäßigung (temperantia) als eine in der Seele verankerten Tugend im Zuge seiner Anführung mit verweist. Diese Denkfigur hat einige Vorbilder in der griechischen Philosophie. Dort finden wir sie vor allem in Form von Steuerungsvorgängen, die die Seele bereits von sich aus mitbringe; die Selbst- und Fremdsteuerung der Seele wird also tendenziell intrinsisch begründet 353 und fußt auf der (von Platon wie von Aristoteles gleichermaßen vertretenen) Haltung, die menschliche Seele sei ihrer Natur nach wohlgeordnet sowie mit formenden und formbaren Kräften ausgestattet. 354 Der Einfluss dieser Denkfigur auf die römische Rhetorik ist enorm; denn Nachahmung meint, und hiermit betreten wir wieder den Bereich der Rhetorik, für römische viri boni nie ein oberflächliches Kopistentum, sondern die Aneignung und simultane Ausbildung derartiger Seelenvermögen, die ihrerseits für den Status eines vir dicendi peritus vonnöten sind. Die Ausprägung der eigenen Seelenvermögen gelingt daher nicht allein aus naturwüchsiger Selbstbestimmung heraus, sondern unterliegt einem fortwährenden Lern- und Steuerungsprozess. Auch die virtus, als ein fortwährend ersichtliches Resultat politischen Eines der einflussreichsten Gleichnisse hierzu findet sich bei Plat., Phaidr., 246a–257d. Vgl. hierzu die den Phaidros leitende Vorstellung, dass leidenschaftliches Gemüt und edle Besonnenheit »durch eine natürlich vereinte Kraft« (ebd., 246a6 f.: »συµφύτῳ δυνάµει«) beherrscht werden müssten. Durch die Wortwurzel des nicht grundlos gewählten συµφύειν (»συµφύτῳ« bildet hierzu das verbaladjektivische Derivat) werden Natur und Kraft in einem engen Verbund gesehen. Das diese Einheit zur Darstellung bringende Pferde / Seelenwagen-Gleichnis findet sich indes nicht nur im Phaidros wieder, sondern zählt zu den verbreiteten Bildern, die in der griechischen und römischen Antike zur Bildungsfähigkeit und Kontrollierbarkeit der menschlichen Seele bemüht werden. Der Mensch sei demzufolge – einem ungezähmten Pferd gleichend – auf Zügelung in Form erzieherischer Kräfte angewiesen, um selbst nützliche Fähigkeiten für die Gemeinschaft zu erlangen; vgl. etwa Xen., mem., 4, 1, 3 und Rhet. ad Her., 4, 46 (59). 353

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und sozialen Lernens, stellt nach römischem Verständnis eine Größe dar, die erworben werden muss. 355 Die daraus im Idealfall hervorgehende Seelenformung, die beim Adepten stattfinden soll, ist in der antiken Schultradition nun nicht in Kompaktheit – auch nicht in Fuhrmanns »großem Ganzen« –, sondern stets in Form eines bereichsweise unterteilten Komplexes zu denken, in dem sich das ingenium nach weiteren Teilvermögen differenzieren lässt; zu deren wichtigsten sind die geistige Beweglichkeit (celeres motu¯ s animi), die Gedächtnisstärke (ad memoriam firmus) sowie der Scharfsinn im Dialektischen (acumen dialectorum) zu zählen. 356 Solche Paradigmen beschränken sich nicht auf die in der griechischen Tradition als höherwertig eingestuften, weil der Vernunft näherstehenden Seelenregionen, sondern weisen durchaus eine größere Bandbreite auf; sie verweisen mithin auf eine Überwindung des hergebrachten Hierarchiedenkens zwischen νόησις und αἴσθησις. Die bereits in der griechischen Tradition so häufig rekapitulierte Frage, ob die Sprachkünste vorwiegend epistemisch, dynamisch oder als Emergenz eines technischen Vermögens aufzufassen sind, wird von der römischen Rhetorik – so die sich hier aufdrängende Annahme – auf zahlreiche neue Funktionen hinsichtlich der Entfaltung einer Person im öffentlichen Leben hin diversifiziert. Es sind somit nicht nur die res und verba, die – immerhin als Hauptgrößen aus der rhetorischen Tradition (πράγµατα und λόγοι) bekannt – eine Konzentration auf die Aspekte des Weltwissens (res) und dessen Darstellung (verba) vorantreiben, sondern auch die Weiterentwicklung von Kraftkonzepten, also die Entfaltung von Beweggründen, die sich auf die δύναµις beziehungsweise die vis kaprizieren. Die umfängliche und zugleich in sich differenzierte Etablierung der vires in der Redner- und Stillehre ist in der römischen Antike zu einem gewissen Teil mit Neuerungen gegenüber den griechischen Traditionen verbunden. Dies zeigt sich erst recht, wenn man sie auf der Folie der Poetik betrachtet. Denn während – ins Allgemeine gewendet – die Rhetorik durch Cicero zu ihrer weitInsbesondere, da es sich hierbei – bereits etymologisch: Georges (81998), s. v. »virtus«, 3514 – um eine Vorstellung von Männlichkeit handelt, die nach römischer Tugendvorstellung nicht von Natur aus mitgegeben wird, sondern erst im politischen Leben mühsam erworben werden muss; vgl. hierzu in jüngerer Zeit die sich auf eine Relektüre der Werke Tacitus’ stützenden Ausführungen von Späth (2014), 26: »Vielmehr adaptiert sich die Männlichkeitsnorm an politische und gesellschaftliche Verhältnisse; Männlichkeit erweist sich damit als eine Kategorie, die nicht isoliert ist, sondern notwendig mit anderen Kategorien der Lebensgestaltung eines Aristokraten in wechselseitiger Beziehung steht. [. . . ] Während Männlichkeit erworben werden muss, ist Weiblichkeit angeboren – in Umkehrung der vielzitierten Feststellung von Simone de Beauvoir ließe sich für die antiken römischen Geschlechtsvorstellungen (um)formulieren: In Rom wird man nicht als Mann geboren, man macht sich zum Mann«. Die Anspielung auf Simone de Beauvoir bezieht sich auf das mittlerweile sprichwörtlich gewordene Zitat ›On ne naît pas femme: on le devient‹ aus Le deuxième sex (1949). 356 Vgl. hierzu Cic., de orat., 1 (113) sowie ebd., 1 (128). 355

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hin als genuin ›römisch‹ veranschlagten Neubestimmung findet, beruft sich dessen Dichtungstheorie erheblich auf Bestimmungsgrößen, die man bereits für die griechischen Aufklärungsdiskurse als konstitutiv erachten konnte. Dass in der Behandlung der vis ein weiteres Mal die Kontroversen aus der sophistischen Zeit modifiziert werden und dabei nur wenig von ihrem grundsätzlichen Geltungsanspruch einbüßen, lässt sich recht unmittelbar erkennen, wenn man die teils verbindlich, teils auch spielerisch anmutenden Bezugnahmen auf den ἐνθουσιασµός/(enthousiamós)-Begriff ins Auge fasst, wie wir ihn in der Tradition Demokrits und des platonischen Ion in Kapitel ii.4.a der Studie beobachten konnten. So wird in Ciceros Spätschrift De divinatione (um 44 v. Chr.) unter Verwendung zahlreicher für die dichterische Ekstase typischer Ausdrücke das Bild eines furor poeticus gezeichnet. Welche Rolle kann dieser furor nun über ein scheinbar kontingent waltendes, letztlich nicht rational erklärbares Aufflackern dichterischer Ekstase hinaus spielen? Hierzu lohnt ein genauerer Blick auf die Kraftvorstellungen, die im Zuge der Explikation dichterischen und rhetorischen Wirkvermögens von Cicero angeführt werden: Qui quidem ipsi se nobis non offerunt, vim autem suam longe lateque diffundunt, quam tum terrae cavernis includunt, tum hominum naturis implicant. Nam terrae vis Pythiam Delphis incitabat, naturae Sibyllam. [. . . ] Fit etiam saepe specie, saepe vocum gravitate et cantibus, ut pellantur animi vehementius, saepe etiam cura et timore, qualis est illa flexanima tamquam lymphata aut Bacchi sacris / commota in tumulis Teucrum commemorans suum. Atque etiam illa concitatio declarat vim in animis esse divinam. Negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato. Quem, si placet, appellet furorem, dum modo is furor ita laudetur ut in Phaedro laudatus est. Quid? Vestra oratio in causis, quid? ipsa actio potest esse vehemens et gravis et copiosa, nisi est animus ipse commotior? Equidem etiam in te saepe vidi et, ut ad leviora veniamus, in Aesopo, familiari tuo, tantum ardorem vultuum atque motuum, ut eum vis quaedam abstraxisse a sensu mentis videretur. 357 357 Cic., div., 1, 79 f.: »Diese [sc. Götter] zeigen sich uns zwar nicht persönlich; ihre Kraft jedoch verbreiten sie weit und breit; sie schließen diese teils in den Höhlen der Erde ein, teils verweben sie sie mit den Naturen der Menschen. Denn die Kraft der Erde stachelte die Pythia in Delphi an, die der Natur die Sibylle. [. . . ] Oft kommt es auch vor, dass durch eine gewisse Erscheinung, oft auch durch die Schwere der Worte und durch die Gesänge, die Gemüter noch heftiger angestoßen werden, oft auch durch Sorge und Furcht, wie diejenige, die ›bewegt im Herzen, gleichsam rasend, oder wie von Bacchus’ Mysterien / ergriffen, an dem Grabe ihren Teucer ruft.‹ Und auch jene Erregung zeigt an, dass sich in den Seelen eine göttliche Kraft befindet. Demokrit nämlich leugnet, dass es

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Die hier vorgestellte Kraft der Dichter wird zweifellos als eine göttlich entstandene und göttlich wirkende aufgefasst – zunächst als chthonische Kraft (terrae vis), die im Sinne der Inspirationslehre die apollinische Priesterin Pythia befalle, dann als die Kraft der Natur, die auf die Sibylle übergehe; die Kraft wird demnach urwüchsig freigesetzt, um auf die Priesterin überzugehen; gleiches gelte schließlich für die Dichter selbst. 358 Wir finden hier eine ähnliche Kettenreaktion vor, wie sie in Kapitel ii.4.a anhand des Ion feststellbar war. Die Reaktionsweise von Kräften, die ausdrücklich mit Affekten beziehungsweise affektiven Zuständen (cura, timor, vehemens, commotus etc.) enggeführt wird, lässt über die Rezeption Demokrits 359 sowie die anhand des strukturellen Ion-Bezugs 360 und des ausdrücklich benannten Phaidros verfolgte PlatonRezeption hinaus auch die stoische φαντασία/phantasía- und συµπάθεια/sympátheia-Lehre anklingen. 361 In dieser semantisch verdichteten Passage werden somit Rekurrenzen sichtbar, die vollends dem pluralistischen und eklektischen Denken entsprechen, das Cicero nicht nur in seinen dichtungstheoretischen Einlassungen, sondern in seinem gesamten philosophischen Denken verfolgt. 362 Uns interessiert an dieser Stelle mit der göttlichen Kraft vor allem ein Paradigma, das sich grundsätzlich in stoischer, als λόγος, wie auch in platonischer Prägung, namentlich (im Sinne des Ion und Phaidros) als θεία δύναµις, ohne Raserei irgendeinen großen Dichter geben könne, und dasselbe sagt Platon. Mag er dies, wenn es ihm beliebt, Raserei nennen, solange diese Raserei nur so gelobt wird, wie sie in Platons Phaidros gelobt wurde. Und weiter, wie verhält es sich mit eurer Rede vor Gericht? Wie kann ein theatralischer Vortrag wirksam, gewaltig und voll Fülle sein, wenn nicht die Seele selbst recht stark bewegt ist? Ich wenigstens habe oft bei dir und – um auf Geringeres zu kommen – bei deinem Freund Äsop ein solches Feuer der Mienen und Bewegungen gesehen, dass ihm eine gewisse Kraft dem verständigen Sinn entrissen zu haben schien.« (Kursivierung in der Übersetzung: D. B.) Die beiden von Cicero zitierten jambischen Senare entsprechen Pacuv., fr. 251; vgl. hierzu luzide Schierl (2006), 509–511. 358 Vgl. als eine der jüngeren Interpretationen zum existentiellen Status, der Göttern in De Divinatione zugeschrieben wird, Ciafardone (2017). Zum weiten Feld hexenartiger Frauengestalten in der antiken Literatur vgl. Reif (2016). 359 Vgl. Demokr., DK B 68, 16a–21 und die weitere Rezeption bei Cic., de orat., 2 (194) und Hor., ars, 295–298. 360 Insofern die hier erwähnte vis divina geradezu als wörtliche Entsprechung der θεία δύναµις, der furor (sc. poeticus) indessen als Pendant zum ἐνθουσιασµός gelten kann. Auch die Begriffsführung verhält sich analog zu den Erörterungen im Ion, nämlich von der natura (φύσις) über die vis divina (θεία δύναµις) auf den furor (ἐνθουσιασµός) hin ausgerichtet. 361 Vgl. die zutreffenden Beobachtungen bei Chalkomatas (2007), 260–264, die sich besonders auf den Einfluss der mittleren Stoa, wie sie von Poseidonios verkörpert wird, beziehen. 362 Dass dieser Eklektizismus bei Cicero keine willkürliche Zugriffsart oder gar Trivialisierung bedeutet, sondern vielmehr als eigenständige philosophische Leistung zu betrachten ist, bedarf nach den Darstellungen von Görler (1974), Grimal (1988), Woolf (2015) und Stroh (32016) glücklicherweise keiner ausführlichen Erläuterung mehr.

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lesen lässt. Bei Cicero bildet diese Kraft zunächst aber eins: ein Kriterium zur Bestimmung des großen Dichters (poeta magnus). Die Dichter sind von einer solchen Kraft – wenn auch in durchaus unterschiedlichem Grade – unwillkürlich ergriffen und eingenommen. 363 Auffällig – und im Vergleich zur Vorlage des Ion durchaus neu – ist hieran, dass Cicero eine simultane Gültigkeit dieser göttlichen Kraft in der Poetik und der Rhetorik vorschwebt: Bereits die Formulierung, es gehe bei der Schwere der Worte und Gesänge darum, dass die »Gemüter noch heftiger angestoßen werden« (animi pellantur vehementius), befindet sich in auffälliger Nähe zum rhetorischen Wirkziel des animum/-os movere; 364 die komparativisch gefasste Heftigkeit der Gemütsbewegung (vehementius) lässt wiederum Paradigmen anklingen, die wir in Kapitel ii.5.a in der Affektenlehre der aristotelischen Poetik ausmachen konnten (ἐκπληκτικώτερον). Neben der Benennung derartiger Wirkziele wird zudem hier ausdrücklich die Rede vor Gericht (oratio in causis) angeführt, in der sich eine solche Einflussnahme vollführen lasse; hierdurch scheint eine bestimmte Auffassung über die genera in Hinsicht auf deren energetische Wirksamkeit durch. Es scheint nämlich vor allem das genus iudicale zu sein, das für die Entfaltung rednerischer Kräfte die beste Exerzitationsfläche bietet. Der Zusammenhang von Poetik und Rhetorik könnte, im hier veranschlagten Sinne, in der mit Vernunftgründen nicht allein erfassbaren Kraft des Urhebers liegen; dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es hier um den mit dem terminus technicus der actio ausdrücklich benannten letzten Teil in der Produktionskette einer Rede geht. In diesem Teil erst bricht sich demzufolge ein innerer Zustand nach außen hin Bahn und reißt die Zuhörer mit. Daher ist es kein umfassender, sondern noch ein eher vager Sinn, anhand dessen hier eine Die Affinität der Dichter zum Göttlichen lässt sich, wie Cicero bereits in seiner Rede Pro Archia poeta (62 v. Chr.) fast schon katalogartig anführt, weiterhin an den Aspekten ihres Wesens (natura), ihrer eigenen Kräfte (vires) sowie ihrer göttlich-geistigen Beseeltheit (spiritus [inflatus]) ablesen; vgl. Cic., Arch., 8 (18) sowie zu dieser dreifachen Gliederung die sprachlich wie sachlich präzise Interpretation bei Chalkomatas (2007), 255 f.: »In Ciceros Konzeption der dichterischen Gottähnlichkeit sind drei Aspekte eingeflossen: die ›natura ipsa‹ des Dichters, die ›vires mentis‹ und die göttliche Inspiration. Auch in den weiteren Textstellen, die die Enthusiasmoslehre betreffen, geht Geistesexaltation mit göttlicher Erleuchtung einher. All das konstituiert die Besonderheit der Poeten. [. . . ] ›mentis viribus excitari‹ muss man trotz des Infinitivs nicht als auf die Inspiration bezogen ansehen, denn diese beinhaltet der darauffolgende Satzteil (›et quasi divino quodam spiritu inflari‹)«. Anzumerken bleibt noch, dass die Göttlichkeit der dichterischen Kraft durch die seit Hesiod und Homer fortwährend problematisierte Beziehung zwischen Dichtkunst und göttlicher Sphäre so fest bezeugt erscheint, dass sie auch in römischer Zeit über fast schon obligatorisch zu nennende Zuschreibungen wie Homerus divinus, Hesiodus divus, Pindarus divinus etc. zum Ausdruck gebracht werden kann. 364 Die Engführung des animum/-os pellere und animum/-os movere tritt in der römischen Rhetorik in einer solchen Häufigkeit auf, dass sie als topisch zu betrachten ist. 363

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mögliche Übertragung der vis divina auf die Rhetorik durchgespielt wird. 365 Die Dichter benötigen sie in griechischer Tradition; die Gerichtsredner könnten sie brauchen, und zwar in römischer Tradition; denn die griechische Antwort hierauf hieße ja (in sophistischer, platonischer und aristotelischer Diktion) nun einmal ›τέχνη‹ – und nicht ›θεία δύναµις‹. Die Übertragung des furor poeticus auf die actio bildet in De divinatione mithin eine Art Gedankenspiel, eine intellektuelle Auseinandersetzung mit spezifischen Versatzstücken aus der rhetorischen Tradition. Halten wir für den weiteren Untersuchungsgang fest, dass es wohl nicht zufällig die forensische Redegattung ist, die hier überhaupt als empfänglich für eine im Menschen waltende, unergründliche und dadurch besonders wirkmächtige Kraft in Erwägung gezogen wird. Wie wir in der weiteren Betrachtung anderer Traktate Ciceros sehen werden, bleibt es grosso modo bei diesem Gedankenspiel. In der Regel wird für die rhetorische Wirkkraft keine göttliche Inspiration im Sinne des Enthusiasmos veranschlagt. Sie ist vielmehr Sache des Überzeugens und Überredens (persuadere). Dass Cicero jedoch ausgerechnet eine vis divina aus der poetologischen Tradition bemüht, um dann auf die Gerichtsrede zu sprechen zu kommen, soll als Ausgangspunkt dienen, um das Grundproblem zu skizzieren, um das es geht: Blickt man auf so zentrale Werke wie den Orator, De inventione oder De oratore, so kann für die Rhetorik nicht die gleiche Tradition eines ἐνθυσιασµός veranschlagt werden wie für die Dichtkunst; zumindest lässt sich eine göttliche Inspirationstheorie – die im Übrigen auch den Griechen im Bereich der Redekunst weitestgehend fremd geblieben ist – nicht in dem Maße ausmachen, dass hieraus rednerische Befähigung, Aneignung, Lehre und Praxis abgeleitet werden könnten. Wenn die rednerischen Kräfte also nicht göttlich herleitbar sind, was macht dann ihr Wesen aus? Was bestimmt in der Rhetorik die autochthone Kraft, den göttlichen Urgrund der Priester und Dichter? Betrachten wir dazu zunächst diejenigen Konzepte, die sich auf Paradigmen stützen, die wir bereits von den Dichtern kennen, und betrachten, wie diese neu besetzt werden: Diese Größen sind zunächst das ingenium und die natura des Redners selbst. Denn Cicero setzt neben der auf der peritia beruhenden Vertrautheit mit den Künsten die Kraft des Naturvermögens als Richtschnur für den Erfolg der Ausbildung an. Hieran nämlich lasse sich die Qualität desjenigen bemessen, der in einem Professionsbereich – in der Rhetorik wie in der Poesie, im Übrigen auch in der Philosophie – nach einem hohen Rang strebe. Hierbei kommt nun ein Kraftbegriff ins Spiel, der in eine deutlich lebenspraktischere Richtung zielt als 365 Cicero spricht nicht grundlos, bezogen auf das Momentum dieser Übertragung, von einer vis quaedam.

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die vis divina der Dichter. Es geht hierbei um keinen rednerischen Olymp, auch keinen Helikon oder um ein pythisches Orakel, sondern um ein ganz weltliches Phänomen, nämlich die Richtung, welche die Ausbildung einschlagen soll: Sed par est omnis omnia experiri, qui res magnas et magno opere expetendas concupiverunt. Quod si quem aut natura sua [aut] illa praestantis ingen¯ vis forte deficiet aut minus instructus erit magnarum artium disciplinis, teneat tamen eum cursum quem poterit[.] 366

Der Hinweis auf einen cursus deutet zugleich auf den engen Zusammenhang, der zwischen rhetorischer Ausbildung und politischem Leben (cursus honorum) besteht. Die instruktive Diktion erinnert an die Vorstellung einer professionell erwerbbaren τέχνη, wie sie aus sophistischer Zeit bekannt ist. Was nun jedoch hinzu kommt, ist eine Betonung der Fähigkeiten: Der Aspirant soll eine Laufbahn entsprechend seinem Vermögen (cursum quem poterit) verfolgen und sich, wie Cicero im Folgenden anführt, auch nicht davon abschrecken lassen, dass Vorgänger bereits die ersten Ränge einnehmen und praktisch nicht mehr einholbar sind. 367 Der Grad des Erfolgs ergibt sich daher sowohl aus dessen Leistungsumfang (ingen¯ vis – in einer bemerkenswerter Verschiebung der griechischen δύναµις τέχνης von einer Fertigkeit auf ein inneres Vermögen hin) wie auch aus der Aneignung (instructus – als Resultat des instruere beziehungsweise einer dem Schüler persönlich zukommenden instructio) der entsprechenden großen Künste (magnae artes). Wie wir schon bei Aristoteles sahen, ist ein Vermögen kein Vermögen zu Beliebigem, auch wenn alle natürlich grundsätzlich zu allem (omnes omnia) streben wollen; vielmehr ist die Ausprägung des Vermögens von Entscheidungen abhängig, die sich im Einklang mit der Begabung und den Erfordernissen der Außenwelt befinden. Das Mögliche bestimmt das Allgemeine und nicht umgekehrt. Bei der Explanation rhetorischer Wirkziele geht es daher nicht nur darum, was ein Redner erreichen will, sondern noch mehr darum, was er zu erreichen vermag. 368 366 Cic., orat., 1 (4): »Es ist aber angemessen, dass alle, die nach großen und sehr erstrebenswerten Dingen trachten, alles dazu versuchen. Sollte aber nun jemanden aufgrund seiner Anlage jene Kraft einer hervorragenden Begabung einmal verlassen oder sollte er mit den Fächern der hohen Künste weniger vertraut sein, so möge er dennoch die Laufbahn einschlagen, so viel er kann«. 367 Diese Vorläufer sind für Cicero sowohl griechischer als auch altrömischer Provenienz. Er gesteht hier auch Raum für Zweit- und Drittrangiges zu – vgl. ebd., 1 (4–5) –, um dann jedoch pointiert auf die besondere Stellung Demosthenes’ im Bereich der Redekunst hinzuweisen, an der man doch wohl kaum Zweifel hegen könne; vgl. ebd., 1 (6). 368 Auch in der jüngeren Forschung wird sich noch immer allzu sehr auf den Aspekt der Intention allein kapriziert; vgl. exemplarisch Böhn (2009a), 1378: »In Bezug auf das Verhältnis von Rede beziehungsweise Text und Rezipient ist ›Wirkung‹ Sammelbegriff für Veränderungen auf der Rezipientenseite, die mit der Rede und dem Rezeptionsakt in Zusammenhang stehen. Als

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Gegenüber jener Vorstellung einer autark waltenden Göttlichkeit aus De divinatione, die stark an griechische Traditionslinien anschließt und in vielen Bereichen – sei es als Adaptation, sei es als Modifikation, sei es als Kontrafaktur – die poetologischen Diskurse weiterhin mitbestimmen wird, 369 aber auch gegenüber dem ingenium-Konzept im Orator ist für die Rhetorik eine Begründungsebene anzusetzen, die beide Aspekte umfasst und dabei dann doch einen durch und durch energetischen Weg einschlägt: die menschliche Performanz. Sie nämlich repräsentiert die Redekunst in actu. Sie kann, mehr noch, in dieser Bestimmung geradezu als Ausgangspunkt der Redetheorie gelten. Denn ein rhetorisches artificium mag seine taxonomischen und didaktischen Vorzüge haben, es kann jedoch genuin erst aus der eloquentia selbst entstehen und nicht vice versa. 370 Ein Redner kann sich nur schwerlich auf eine göttliche Inspiration berufen, um sein Publikum zu überzeugen – seien dies im genus iudicale das Gericht, im genus deliberativum die (Volks- oder Rats-)Versammlung oder im genus demonstrativum eine vermischte, am Thema in unterschiedlicher Hinsicht interessierte Menschenmenge. Ein guter Redner überzeugt demnach nicht durch seinen Bezug auf Wahrheiten und Ideen, sondern durch seine Überzeugungskraft. Dabei handelt es sich, aristotelisch gesprochen, um den energetischen Vollzug einer Fertigkeit. Überzeugen stellt nun jedoch eine – im Gegensatz zur göttlichen Kraft der Dichter – reduzible Größe dar, insofern sie auf Wissen, Argumente, Logik, Schlussvermögen, Erfahrung etc. beruht. Ein derartiger Vorrang, der dem Redeakt als solchem hier zukommt, weiß sich in seiner Grundtendenz indes nicht nur von metaphysisch vorgelagerten Welten abzugrenzen, sondern auch von Vorstellungen stoischer Provenienz, wie wir sie in Ciceros Dichtungstheorie vorfinden konnten. Denn dort stellt die Redekunst nach einhelliger Meinung ebendieser Schule vor allem eine Wissenschaft vom trefflichen Reden (ἐπιστήµη τοῦ εὖ λέγειν) dar. 371 Dass jedoch die Effektivität der Wirkabsichten in einer reinen wissenschaftlichen oder auch nur taxonomischen Betrachtung aufgehen könnte, scheint vielmehr eine gewisse Gefahr für den Begründungskern der Rhetorik – hier sei an die gorgianische δύναµις kommunikative Handlung ist jede Rede durch Intentionalität gekennzeichnet und hat daher eine Wirkung zum Ziel. Die intendierte Wirkung wird in der rhetorischen Tradition generell als Persuasion bestimmt und differenziert nach Anlaß und Publikum der Rede«. 369 Vgl. die Studie von Bösel (2008), in der die Rolle des Enthusiasmus in ihren Facetten gegenüber der Philosophie nachgezeichnet wird. Die Frühe Neuzeit arbeitet in vielen Punkten einer Affirmierung des enthousiasmós-Begriffs zu; vgl. die aus zahlreichen eigenen Vorstudien kompilierte Monographie von Krummacher (2013), die für die poetologischen Betrachtungen in Teil V der Studie noch eine zentrale Rolle spielen wird. 370 Vgl. am ausdrücklichsten hierzu Cic., de or., 1 (146). 371 Vgl. hierzu die Einlassungen bei Cicero selbst (ebd., 1 [83]) sowie bei Quint., inst., 2, 15, 34 und Diog. Laert., 7, 42.

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τῆς τέχνης τοῦ ἀνδρός und deren römische Umformatierung zu einer ingen¯ vis erinnert – darzustellen. Cicero tritt – so ein weiter zu entwickelnder Hauptgedanke des folgenden Teils – genau dieser Gefahr entgegen, indem er, ausgehend vom Spannungsverhältnis zwischen den weltlichen Künsten (artes) und der individuellen Naturanlage (ingenium), Kräfte (vires) in die Stil- und Redelehre auf vielschichtige Weise mit eingliedert. Insofern auf der Grundlage eines homo doctus-Ideals immer auch Fragen des Weltwissens und der Bildung diskutiert werden, soll im Folgenden eine der wichtigsten Verbindungen für den orator perfectus erörtert werden: diejenige zwischen Kraft und Kompetenz. Wenn nun für die Dichter eine mit der göttlichen Sphäre verhaftete vis veranschlagt wird, diese aber für die Bestimmung des rhetorischen ingenium in vielerlei Hinsicht nicht übertragbar erscheint, wie muss dann die vis bei den Rednern ausfallen? Und nach welchen Kriterien könnte eine konsistente Beschreibung des ingenium zur vis gelingen, wenn die Inspiration als ein solches ausfällt? Es gilt zu berücksichtigen, dass die Ausprägung der Redekraft bereits in den Ausbildungsstufen des Redners, zumal in der Ausprägung seines eigenen Vermögens (ingenium), eine zentrale Rolle spielt. Dieser Zusammenhang ist gleichwohl aus der Perspektive der artes zu betrachten; denn sie treten – und dies in Analogie zur griechischen Tradition – für einen allgemeinen epistemischen Anspruch ein und machen die Ressourcen eines umfassenden Gelehrtenideals derart fassbar, dass sie auch als Grundlage des rednerischen Vermögens selbst dienen können. Die elocutio setzt daher bei Cicero eine solche umfängliche Kompetenz voraus: Der vir peritus dicendi hat selbstverständlich über eine hohe Redebegabung und -erfahrung zu verfügen; stets verkörpert er dabei auch Kompetenzen in den verschiedenen Wissensbereichen. Sein ingenium mag auch noch so stark sein, ohne die entsprechende doctrina wird es nicht zu der Entfaltung kommen, die ihm möglich und gemäß ist. 372 Hier greift ein weiteres Mal die platonisch-aristotelische Psychologie, nach der die Vermögen des Menschen ausbaufähig und formbar sind – nicht so sehr jedoch der Stoizismus, da dieser einen Ausbau der Seelenvermögen mit der Zielrichtung einer vollkommenen Beherrschung der Affekte verfolgt. Dass nämlich ein solches Leitziel bestimmten rhetorischen Zielen wie dem movere und dem animum/-os pellere widerspricht, ist geradezu offensichtlich. Was Cicero vorschwebt, ist Vgl. exemplarisch Cic., de orat., 2 (5): »[I]llud autem est huius institutae scriptionis ac temporis, neminem eloquentia non modo sine dicendi doctrina, sed ne sine omni quidem sapientia florere umquam et praestare potuisse.« (»[J]enes aber ist wichtig für diese Schrift und die jetzige Zeit: Dass niemand jemals hinsichtlich seiner Redegewandtheit nicht nur ohne Unterweisung im Reden, sondern nicht einmal ohne jegliches Wissen darin aufblühen oder hervorragen konnte. «) Die Engführung von scriptio und tempus ist auch hier signifikant: Die Rednertheorie fordert den Anspruch an Bildung ein, denn die Lage der späten res publica wird von Cicero negativ bewertet. 372

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dementsprechend etwas anderes: Die Redekraft gründet sich auf die Kraft und die Kompetenz des Redners und vermag es gerade in diesem Verbund, die Seele des Rezipienten zu bewegen. Aus genau diesem Grund können die Bewegungen des Geistes (motu¯ s animi) in Bezug auf die Tugend (virtus) des vollkommenen Redners eine Verschränkung mit Wissensbegriffen und deren praktischer Anwendung (prudentia, calliditas, sapientia, scientia) eingehen. Denn beides, Wissen und Handeln, stellen gewissermaßen zwei Seiten derselben Medaille in Bezug auf die Kraft jener Tugend (vis virtutis) dar, wie Cicero in seinem spät verfassten Lehrbuch Partitiones oratoriae (wohl um 44 v. Chr.) 373 prägnant darlegt: Est igitur vis virtutis duplex: aut enim scientia cernitur virtus aut actione. Nam quae prudentia, quae calliditas quaeque gravissimo nomine sapientia appellatur, haec scientia pollet una. Quae vero moderandis cupiditatibus regendisque animi motibus laudatur, eius est munus in agendo[.] 374

Zwei Aspekte werden an dieser Stelle herausgestellt: Die Tugend, die hier im Sinne der Begriffe prudentia, calliditas und sapientia nachgezeichnet wird, erhält ihre Stärke (pollet) durch Wissen (scientia). Außerdem übt sie – und dies wird hier als ein ganz praktischer Aspekt (in agendo) vorgeführt – eine souveräne Kontrolle über die ihr untergeordneten motu¯ s animi aus. Der Redner profitiert hierdurch gleich in zweifacher Weise: Er reguliert die inferioren Seelenregungen, allen voran natürlich die Begierden (cupiditates), und manifestiert 375 in dieser souveränen Steuerung auch nach außen hin sein eigenes, gemäßigtes Wesen – eine Tugend, die im weitläufigen Sinn als Selbstbeherrschung (temperantia) firmiert. 376 Und eben hierdurch ergibt sich die Möglichkeit der imitatio überhaupt erst im Sinne einer Aneignung vorzüglicher Seelenkräfte: Zur Verortung dieser Schrift in ihren zeitgeschichtlichen, theoretischen, kompositionsästhetischen und rezeptionsgeschichtlichen Dimensionen vgl. umfassend und luzide Arweiler (2003), zu ihrer Anlage als kunstvolles Lehrbuch insbesondere ebd., 17–84. 374 Cic., part., 22 (76): »Die Kraft der Tugend ist also eine zweifache: Die Tugend wird nämlich entweder hinsichtlich des Wissens oder des Handelns beurteilt. Denn diejenige [sc. Kraft der Tugend], die Klugheit, die Schlauheit und die – mit ihrer gewichtigsten Bezeichnung – die Weisheit genannt wird, erhält ihre Stärke einzig durch das Wissen. Diejenige [sc. Kraft der Tugend] indes, die wegen ihrer Steuerung der Leidenschaften und ihrer Lenkung der Gemütsbewegungen gelobt wird, hat ihre Aufgabe im Handeln«. 375 Insofern diese Form der Tugend auch von anderen gelobt (laudatur) und dadurch allgemein anerkannt wird. 376 Das moderamen beziehungsweise die moderatio sind, wie wir bereits in Ovids Metamorphosen sehen konnten, auf das Engste hierauf zu beziehen; vgl. außerdem Cic., fin., 2, 60: »Transfer idem ad modestiam vel temperantiam, quae est moderatio cupiditatum rationi oboediens.« (»Übertrag das selbige [sc. Prinzip der Sittsamkeit] auf die Mäßigung oder Selbstbeherrschung, die eine der Vernunft gehorchende Lenkung der Begierden ist.«). 373

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Die an die virtus gekoppelte Verbindung zweier Vermögensweisen – namentlich des Bereichs von Wissen und Weisheit auf der einen und demjenigen der Seelenlenkung auf der anderen Seite – sorgt dafür, dass die ars nicht nur mit dem ingenium, sondern auch mit der vis in enge Begründungszusammenhänge treten kann. Die Kontrolle über die Seelenvermögen ist daher Bestandteil der virtus und des ingenium des Redners sowie Voraussetzung, um Seelenrührungen (auch beim Rezipienten) hervorzurufen. Blicken wir nun etwas genauer auf das Verhältnis zwischen der Kompetenz und der Kraft in Hinblick auf die Erfordernisse, die an einen Redner in actu zu stellen sind. Dabei geht es insbesondere um die Beziehungen zwischen Kompetenz, Handeln und die energetische Verwirklichung rednerischer Vermögen.

5.b.α. Kompetenz in der Kraft

Bisher waren es zwei Aspekte der vis virtutis, die wir in Bezug auf die Rede kennengelernt haben und die man jeweils als den ›epistemischen‹ und den ›psychologischen‹ Teil der Tugend bezeichnen kann. Naheliegend wäre nun, dass beide Bereiche zwar voneinander profitierten – indem etwa die Kenntnis über den Seelenaufbau die Lenkung der Rezipienten begünstigte und umgekehrt der eigene, wohlgeordnete Seelenaufbau die Aneignung von Wissen erleichterte –, dabei aber in getrennten Sphären beheimatet wären und dadurch erst recht an Schärfe gewännen. Dem widerspricht allerdings, dass es keine blinde, theoretisch unzugängliche Kraftübertragung ist, die hier vorherrscht, sondern dass es vielmehr um einen Habitus geht, der sich im rhetorischen Vorbild in nach außen hin tätiger Form wiederfindet. Die Übertragung der inneren Kraft nach außen entzieht sich gerade nicht einer theoretisch-praktischen Beschreibung, sondern der ambitionierte Schüler kann sich bereits bei der Wahl seines Lehrers an genau diesem Kriterium orientieren, wie Cicero im Orator ausführt: [A] quo censet eum, cum alia praeclara quaedam et magnifica didicisse tum uberem et fecundum fuisse gnarumque, quod est eloquentiae maximum, quibus orationis modis quaeque animorum partes pellerentur. 377

Der rhetorische Impetus wird hier nicht nur als vehemente, sondern auch als bereichsweise Wirkmöglichkeit gefasst (animorum partes pellere); sie wird zudem als das oberste Ziel der Redekunst (eloquentiae maximum) vorgeführt und Cic., orat., 4 (15): »Er [sc. Perikles] meint, er habe von ihm [sc. Anaxagoras], außer dass er manche andere großartige und herrliche Dinge [sc. von ihm] gelernt habe, vor allem Reichtum und Fülle erlangt und – was für die Beredsamkeit das Wichtigste ist – Wissen darüber gewonnen, durch welche Redeweisen die einzelnen Teile der Seele jeweils angestoßen werden können«. 377

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tritt als eine methodisch versierte (quibus [. . . ] modis) Fertigkeit hervor. Zudem wird die Wirkkunst auf einer trophologischen Bildebene als Reichhaltigkeit (ubertas) und Fruchbarkeit (fecundia) vorgeführt. Mehr als auf die taxonomisch eingehegten Produktionsstufen, die einer starren rhetorischen Anleitung (praecepta) entspringen würden, kommt es vielmehr auf die Fähigkeit an, die Seele eines Gegenübers in Bewegung zu versetzen. Sie wird hier außerdem, was überraschen mag, als eine Art von Wissen (gnarum) dargestellt. Hierdurch gewinnt das Auslösen seelischer Affekte eine epistemische Seite. Die Wirkkraft erhält im Zuge dessen nun zwei entscheidende Vorzüge: Zum einen zeigt sie sich curricular weniger widerspenstig; denn Cicero benötigt, wie gezeigt, im Rahmen seiner Redner-Theorie die Kompetenz als substantiellen Träger eines ingenium, um die Seelenwirkungen dauerhaft und zuverlässig begründen zu können. Zum anderen lassen sich durch eine derartige ›Epistemisierung‹ auch äußere Übertragungsmomente, die zwischen Redner und Schüler stattfinden, leichter objektiv begründen. In diesem Zugriff klingt hier auch Perikles' Lernprozess gegenüber seinem Mentor Anaxagoras an (didicisse). 378 Ein Schüler, der die Befähigung zur Seelenwirkung erwerben will, hängt somit natürlich nach wie vor von der souveränen Beherrschung von Lerngegenständen aus den artes liberales ab; hinzu kommt aber – mit Blick auf die Partitiones und den Orator – auch die Nachahmung der in zweifacher Hinsicht (in ihrer prudentia und ihrer Fähigkeit zum pellere) kenntnisreichen Vorbilder. Anders gewendet: Das Wissen über die Welt kann zuverlässig über die freien Künste erworben werden; das Wissen um die Seelenrührung vorwiegend über die Nachahmung des rhetorischen Vorbilds; zusammengenommen machen sie wesentliche Schritte auf dem Weg zum orator perfectus aus. Eine derartige Verschränkung epistemischer, dynamischer und mimetischer Größen, die sich an den beiden grundsätzlichen Dimensionen ›Kompetenz‹ (prudentia, scientia, peritia) und ›(Wirk-)Kraft‹ (potentia, vis, facultas) bemessen lässt, weist nun nicht nur in praktischer Sicht, sondern auch in Bezug auf die theoretischen Gebäude der Rhetorik einige Vorzüge auf: Nicht nur, dass über die Verknüpfung der Affektenlehre mit dem Wissensbereich psychagogische Fähigkeiten grundsätzlich auf Dauer gestellt und noch über die ihnen ohnehin zugeschriebenen Realisationsmomente in actu hinaus fassbar gemacht werden können; vielmehr lässt sich auch die vis selbst taxonomisch, namentlich in der Ausformung der Dreistillehre, theoretisch mitbegründen. 378 Das von Cicero hierzu angeführte Zeugnis ist Plat., Phaidr., 269e1–270a8. Auffällig ist hierbei die Umgestaltung, die Cicero vornimmt: Während es im Phaidros darum geht, dass Perikles sich über seine eigene gute Anlage (εὐφυής) hinaus durch Anaxagoras noch eine genauere Kunde von der Natur des Verstandes und der Erkenntnis (φύσις νοῦ τε καὶ διανοίας) erworben habe, bezieht Cicero dessen Lernerfolg auf den wirkintensiven Aspekt: animorum partes pellere.

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Es werden – und dies in enger Anlehnung an die griechische Tradition – in der römischen Rhetorik bekanntlich drei genera voneinander unterschieden, die zudem unterschiedliche Stilhöhen und Naturanlagen bezeichnen: das genus humile (subtile) das genus medium (modicum) und das genus grande (sublime). Dadurch, dass Cicero bestimmte Vorstellungen von Kunstfertigkeit und Wissen vertritt, die durchaus auf die politischen Erfordernisse der spätrömischen Republik ausgerichtete aufzufassen sind, muss hierfür die aus der griechischen Tradition hergebrachte Polarität von τέχνη und ἐπιστήµη nicht noch einmal in Gänze aufgerollt werden. 379 Soll die vis nun über ihre Eingliederung in den Bereich der Rednerkompetenz (ingen¯ vis) hinaus jedoch auch Eingang in die rhetorischen Taxonomien finden, so ist sie zunächst an die Redegattungen zu koppeln, das heißt in ihrer jeweiligen (in singulis) Wirkweise bezogen auf die einzelnen genera zu beschreiben. Cicero drückt genau diesen Anspruch im Orator prägnant aus: »Diejenigen, die sich jeweils die Kraft der einzelnen [Rede-]Arten angeeignet haben, hatten zu Recht einen großen Namen unter den Rednern.« 380 In verbreiteten Übersetzungen wie derjenigen von Merklin (2004) wird diese enge Verbindung von Kraft und Redestil übergangen, indem die vis mit dem »Wesen« 381 der Redegattung als solcher gleichgesetzt wird. Gemeint ist von Cicero aber – wie noch weiter zu zeigen sein wird –, dass in den Redegattungen eine spezifische Stärke liegt und die Aneignung dieser Stärke auch mit der Ausprägung der persönlichen Redekraft zu tun hat. Somit gibt es Redner, die sich in einem oder in mehreren, selten gar in allen Redestilen hervorgetan haben. Letztere sind dann endlich als die wahren oratores magni beziehungsweise perfecti zu bezeichnen. Sie nämlich verfügen aufgrund ihrer 379 Das Verhältnis zwischen griechischer τέχνη/ἐπιστήµη und römischer ars/scientia wird auch von sprachgeschichtlichen Faktoren bestimmt, für deren ausführliche Erörterung hier nicht der Ort ist; vgl. präzise zum Bedeutungswandel Wiegmann (1977). 380 Cic., orat., 6 (22): »Horum singulorum generum quicumque vim in singulis consecuti sunt, magnum in oratoribus nomen habuerunt«. 381 Merklin (2004), 31. Dieser Bedeutungsaspekt ist bei Cicero kaum ausgeschlossen, drückt sich aber vorzugsweise in Junkturen wie ›natura et vis‹ aus; vgl. etwa Cic., div., 1, 6 (12): »Est enim vis et natura quaedam, quae tum observatis longo tempore significationibus, tum aliquo instinctu inflatuque divino futura praenuntiat« oder Cic., div., 2, 45 (94): »Quod non contingeret, si haec non vis et natura gignentium efficeret, sed temperatio lunae caelique moderatio« oder Cic., fat., 11: »Quae tolluntur omnia, si vis et natura fati ex divinationis ratione firmabitur«. Kraft und Natur finden sich hier als komplementäre Eigenschaften des menschlichen Wesens wieder. Auch Cic., Lael., 15 – von Georges (81998), s. v. »vis«, 3516 als ein Beleg für die Bedeutung »Wesen« angeführt – muss nicht zwingend auf die Wesenheit der amicitia abzielen. Die Macht der Freundschaft liegt hier nämlich in der consensio im Sinne ihrer wechselseitigen Bedeutsamkeit begründet. Anders gesprochen, es geht an dieser Stelle noch nicht so sehr um eine philosophische Wesensbestimmung, sondern um dasjenige, was Cicero mit Scipio faktisch auf einzigartige Weise verbinde; denn »es werden aus allen Jahrhunderten kaum drei oder vier vergleichbare Freundschaften aufgezählt.« (Cic., Lael., 15: »ex omnibus saeculis vix tria aut quattuor nominantur paria amicorum.«).

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sämtliche genera umfassenden Ausbildung in den verschiedenen Wirkbereichen auch über unterschiedliche und in ihnen zur Einheit kommende Kräfte. Die Fähigkeiten des Redners sind daher in einem Feld zwischen den virtutes und den genera dicendi bestimmbar. Zur Ausführung des ciceronischen Standpunktes, der sich an dem Spannungsverhältnis zwischen Allgemeingültigkeit (Stilhöhe) und Individualität (Naturanlage) orientiert, sei die konzise Darstellung Möllers herangezogen, nach der [i]m Hinblick auf die stilistische Durchformung und ihre Bewertung [. . . ] Cicero indes eine Unterscheidung vor[nimmt]: Während die virtutes dicendi (latinitas, perspicuitas, aptum, ornatus und brevitas) als überindividuelle, allgemeinverbindlich-objektive Stilqualitäten aufgefaßt werden und im Prinzip allen gleichermaßen zur Verfügung stehen, sollen die genera dicendi (neben genus grande, genus medium und genus subtile jede stilistische ›Unterart‹) den natürlichen Anlagen der einzelnen Rednerindividuen entsprechen. 382

Die Hierarchie zwischen den Redestilen wird von Möller zu Recht in Entsprechung zu den natürlichen Anlagen gesehen. 383 Die natürliche Anlage wiederum muss, wie gesehen, bei Cicero indes auch die rednerischen Kräfte umfassen. Somit drückt sich die von Möller benannte Rednerindividualität nicht zuletzt auch in den Kräften aus, die dem einzelnen Redner zukommen. Für das Lehrer / Schüler-Verhältnis, mithin für die imitatio, heißt dies zunächst nichts anderes, als dass ein Lehrer über Kräfte verfügen muss, die für seinen Schüler erstrebenswert sind. Die Antipode zu den vires wird von Cicero auch ausdrücklich als Schwäche (imbecillitas) bezeichnet – und nicht etwa mit einer Form des Nicht-Naturgemäßen gleichgesetzt, wie es bei einer Auffassung der vis als eines Wesens der Fall wäre. Vielmehr heißt es, die Adepten sollten »lernen, was ›attisch‹ bedeutet, und die Beredsamkeit an dessen [sc. Demosthenes'] Kräften statt an ihrer eigenen Schwäche ermessen«. 384 An dieser Stelle, an der es nun explizit um die Aneignung von Redekräften in Verknüpfung mit dem Verständnis einer bestimmten Stilart (quid Atticum sit) geht, muss nach Ciceros Vorstellung ein Vorbild (exemplar) für die genannte Redekraft ins Spiel kommen: Die Aneignung des rechten attischen Stils orientiert sich im besten Falle auch an der Stärke des größten Redners – dies meint bei Cicero in der Regel Demosthenes –, 385 verglichen mit dem die Redekraft der Adepten natürlich Möller (2004), 140 f. Vgl. zu dieser Hierarchie darüber hinaus den konzisen Beitrag von Adamik (1995). 384 Cic., orat., 7 (23): »[Q]uid enim sit Atticum discant eloquentiamque ipsius viribus, non imbecillitate sua metiantur«. 385 Zu diesem wichtigen Rezeptionsverhältnis, das Plutarch noch zum Anlass nehmen wird, eine seiner Parallelviten diesen beiden Rednern zu widmen, vgl. ausführlich Hajdú (1995). 382 383

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zunächst als schwach zu bewerten ist. Sie kann aber durch Lernen (discant) durchaus an Stärke hinzugewinnen. Was zeichnet nun die Wirkkraft eines solchen Vorbildes nun im Besonderen aus? Ein Kriterium dafür, für wen man sie überhaupt veranschlagen kann, hängt entscheidend vom Redevortrag (eloqui) ab. Ein homo loquens zeigt sich selbst grundsätzlich jederzeit in der Lage, seine Kraft in den Momenten im höchsten Grade hervortreten zu lassen, in denen er selbst vorträgt; so beansprucht »von den übrigen Dingen, die einem Redner innewohnen, nicht ein jeder irgendeinen Teil für sich; die größte Kraft des Redens indes, das heißt diejenige des Vortragens, wird einzig diesem [sc. dem vollkommenen Redner] zugestanden.« 386 Die Dinge (re¯s), von denen hier die Rede ist, sind als philosophische und praktische Wissensbereiche auffassbar; im Redner sind sie als Kompetenzen vorhanden, sie finden sich dort als ein Ergebnis seiner doctrina intrinsisch wieder (sunt in oratore). Das heißt zunächst, dass jeder Redner mit einiger Selbstverständlichkeit die Gegenstände genau kennen muss, von denen er künden will. Es handelt sich hierbei um ein Argument, das taxonomisch in den officia oratoris mit der inventio erfasst wird und das – wenn wir auf die Diskussionen im Ion und deren Aufgreifen durch Cicero in De divinatione zurückblicken – für den Bereich der Dichtkunst in dieser Form nur schwerlich zu veranschlagen erscheint. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Rhetorik im Umkehrschluss allein in Wissensformationen aufgehen würde. Vielmehr konzediert sie ja, dass es für jeden einzelnen dieser Bereiche in der Welt noch größere Experten und noch weisere Denker geben mag; jedoch obliegt es – und hiervon lässt die Rhetorik weder in ihrem griechischen noch in ihrem römischen Verständnis irgendwann ab – ganz genuin dem Redner, durch sein Sprechen (dicere) über jene Gegenstände einen wirkungsvollen Redevortrag (eloqui) zu vollführen. Die Gegenstände werden vom Redner beherrscht, woraus die Rede und ihre Wirkung entsteht. Nicht erschöpft sich jedoch die Rede in ihren Gegenständen. 387 Es geht also nicht nur um hochtrabende Gedanken und Gegenstände, sondern um die Tugend, die in der Wirkkraft liegt. Dieser Punkt wird von Cicero im weiteren Verlauf des Orator anhand griechischer Beispiele sowie unter Heranziehung einer prominenten virtus dicendi, derjenigen des Redeschmucks (ornatus), noch weiter erläutert: Quamquam enim et philosophi quidam ornate locuti sunt – si quidem et Theophrastus divinitate loquendi nomen invenit et Aristoteles Isocraten ipsum 386 Cic., orat., 19 (61): »ceterarum enim rerum quae sunt in oratore partem aliquam sibi quisque vindicat, dicendi autem, id est eloquendi, maxima vis soli huic conceditur«. 387 Hier mag noch ein weiteres Mal der Allgemeinheitsanspruch aus der peripatetischen Tradition anklingen: Ein Redner behält es sich grundsätzlich vor, über alle Gegenstände sprechen zu können. Zu einem guten Redner wird er indes erst, wenn er wirkintensiv zu sprechen in der Lage ist.

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lacessivit et Xenophontis voce Musas quasi locutas ferunt et longe omnium quicumque scripserunt aut locuti sunt exstitit et gravitate 〈et suavitate〉 princeps Plato –, tamen horum oratio neque nervos neque aculeos oratorios ac forensis habet. 388

Mit Theophrast, Aristoteles, Isokrates, Xenophon und Platon sind es Namen ersten Ranges, die hier aufgerufen werden – von den als Vergleichsgröße herangezogenen Musen ganz zu schweigen. Umso eindrücklicher kommt dann der Gedanke zur Geltung, dass ihre Redekünste, ihren großen Namen zum Trotz (tamen), hinter der im forensischen Betrieb erworbenen Versiertheit noch zurückstehen müssten – eben weil sie als Philosophen vor allem im Bereich einer vergeistigten Sphäre tätig waren und mutmaßlich keine mitreißende Wirkkraft entwickeln konnten – eine Wirkkraft, die sich vor allem an der Hingerissenheit des Publikums bemessen ließe. 389 Eine Ausnahme bildet unter den angeführten Namen in dieser Hinsicht nur der attische Redner Isokrates; dazu passt allerdings wiederum, dass seine Rolle ja gerade als diejenige inszeniert wird, Aristoteles dazu zu bewegen, es mit ihm hinsichtlich seiner Redekunst aufzunehmen (ipsum lacessivit). Es handelt sich somit um ein Spiel mit wohlbekannten Autoritäten, dem wiederum die Frage unterlegt wird, ob gedankliche Brillanz als Kriterium zur Beurteilung von sprachlichen Werken erschöpfend zu nennen wäre – wenn eben daraus keine Wirkkraft zu schöpfen ist. Und diese Wirkkraft besteht nun einmal nicht in einer rationalen oder logischen Überzeugungsarbeit, vielmehr wird sie hier – anhand der Erwähnung der Spannkräfte (nervi) und Stacheln (aculei) – in Form von Spann- und Eindruckskräften vorgestellt. 390 Und damit ist auch die Klasse an Kräften benannt, die sich primär außerhalb des Bereichs philosophischen Traktierens ausprägen lässt. 391 Der Gestus, mit dem diese Grundidee im obigen Passus vorgetragen wird, mag teils hyperbolisch anmuten – wenn etwa vom attischen Melos eines Xenophon vorgeblich die Musen selbst noch profitieren könnten, und nicht

388 Ebd., 19 (62): »Obschon nämlich auch manche Philosophen schmuckvoll geredet haben – wenn etwa Theophrast durch die Göttlichkeit seines Redens seinen Ruf im Reden [loquendi in apò koinoû-Stellung zu divinitate und nomen] erlangt hat und Aristoteles es mit Isokrates selbst aufgenommen hat und wenn – wie man sagt – die Musen gewissermaßen mit der Stimme Xenophons sprachen und unter allen, die geschrieben oder gesprochen haben, aufgrund seiner Würde und Annehmlichkeit Platon als der Erste hervorstach –, so besitzt ihre Rede dennoch weder die Spannkräfte noch die Eindrücklichkeit der forensischen Beredsamkeit«. 389 Einen kurzen Gang durch Quintilians »Seitenblicke« in der Institutio oratoria auf Philosophen – wozu auch die hier diskutierte Stelle zählt –, bietet Schirren (2018), 244–246. 390 Vgl. zu diesem prägnanten Wortgebrauch Georges (81998), s. v. »aculeus«, 95: »der tiefe Eindruck, den der Redner od[er] die Rede beim Zuhörer zurückläßt«. 391 Diese Sichtweise wird in Kapitel II .5.c bei Quintilian noch genauer behandelt werden.

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vice versa, wie es die poetische Tradition suggerieren sollte –, aber selbst diese Hyperbolik arbeitet einem bedeutsamen Darstellungszweck zu. Er besagt, dass keine philosophische Leistung – weder die eines Platon oder die eines Xenophon, 392 noch die eines Aristoteles oder die eines Theophrast – diese auch zu wirkmächtigen Rednern machen würde. Die Philosophie muss sich hier also ein weiteres Mal der Rhetorik unterordnen, diesmal jedoch nicht aufgrund des Anspruchs eines Redners, grundsätzlich über alles sprechen zu können, sondern aufgrund der unterschiedlichen Wirkintensitäten, die den einzelnen Professionsbereichen in verschiedenem Grade zukommen. Somit mögen sich die Philosophen zwar hinsichtlich des Kriteriums, mit angemessenem Schmuck zu reden (ornate dicere) bewährt haben; 393 sie überlassen es, wie Cicero auch an anderer Stelle im Orator bekräftigt, jedoch »ungeschliffeneren Musen«, 394 eine echte rhetorische Wirkkraft im Sinne der im genus iudicale zu erzielenden aculei oratorii ac forenses hervorzubringen. Es genügt also nicht, allein die virtutes dicendi zu befolgen. Genauso sind die Rollen der verschiedenen genera in Betracht zu ziehen. Denn sie erst ver392 Die Einordnung Xenophons mag hier auf den ersten Blick verwundern, erscheint aber über dessen Rolle als Schüler des Sokrates sowie als Verfasser sokratischer Schriften (Memorabilia, Symposion, Apologie etc.) für Cicero hinreichend gerechtfertigt – erst recht im Rahmen einer Stillehre, in welcher der xenophontische Attizismus gerade aufgrund seiner Schlichtheit hinsichtlich einer rhetorischen Vorbildfunktion diskutiert wird. Die Bezeichnung Platons als princeps hingegen ist gerade für das Spätwerk Ciceros typisch; vgl. hierzu Altman (2016). 393 Dass der ornatus auch für einen (Natur-)Philosophen einen Ausweis von dessen Redetalent, nicht jedoch von dessen sachlichem Standpunkt gibt, führt Cicero darüber hinaus in De Oratore an; vgl. Cic., de orat., 1 (49): »Quam ob rem, si ornate locutus est, sicut et fertur et mihi videtur, physicus ille Democritus, materies illa fuit physici, de qua dixit, ornatus vero ipse verborum oratoris putandus est; et, si Plato de rebus ab civilibus controversiis remotissimis divinitus est locutus, quod ego concedo; si item Aristoteles, si Theophrastus, si Carneades in rebus eis, de quibus disputaverunt, eloquentes et in dicendo suaves atque ornati fuerunt, sint eae res, de quibus disputant, in aliis quibusdam studiis, oratio quidem ipsa propria est huius unius rationis, de qua loquimur et quaerimus.« (»Daher muss, wenn jener Naturphilosoph Demokrit, wie es überliefert ist und wie auch ich es glaube, schmuckvoll sprach, jener Stoff, über den er sprach, als derjenige eines Naturphilosophen, der Schmuck der Worte indes als derjenige eines Redner betrachtet werden; und wenn Platon Streitpunkte, die weit abseits politischer Angelegenheiten lagen, auf göttliche Weise behandelte – worin ich zustimme –, und wenn ebenso Aristoteles, Theophrast und Karneades in denjenigen Dingen, über die sie Erörterungen machten, redegewandt sowie lieblich und schmuckvoll im Sprechen waren, so mögen die Gegenstände, über die sie diskutieren, in gewissen anderen Studiengebieten liegen, ihre Rede selbst ist freilich typisch für diesen einen Zweck, über den wir sprechen und nach dem wir fragen.«). 394 Cic., orat., 3 (12): »agrestioribus Musis«. Auch an dieser Stelle spielt der ornatus, namentlich die »mit Worten und Gedanken geschmückte Beredsamkeit« (ebd., 3 [13]: »eloquentia [. . . ] ornata verbis atque sententiis«), die Hauptrolle bei der Frage, welche Art von dezidiert rhetorischer Prägung den Reden der Philosophen angesichts ihrer Abneigung gegenüber einer sophistischen Überredungskunst überhaupt noch zugestanden werden könne. Zur musa agrestis vgl. auch Lucr., 5, 1398.

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binden – einer ›klassisch‹ zu nennenden Taxonomie nach – die rhetorischen Wirkziele mit der entsprechenden stilistischen Redehöhe. So wird in diesem Sinn die höchste Stilart, das genus grande, auch als vehemens bezeichnet und kurzerhand mit der vis oratoris enggeführt: »Indes gibt es so viele Redearten, wie es Aufgaben eines Redners gibt: die schlichte beim Überzeugen, die gemäßigte beim Erfreuen, die heftige beim Umstimmen; einzig in dieser liegt die ganze Kraft des Redners.« 395 Erschien die Übersetzung der vis mit »Wesen« bereits zuvor als fragwürdig, stößt sie hier nun endgültig an ihre Grenzen. 396 Die Hierarchieabstufungen zwischen den drei genera, die nach Möllers zutreffenden Ausführungen nur als die wichtigsten Oberkategorien für individuellere Verfeinerungen zu sehen sind – wird hier in enger Analogie zu den Wirkzielen des Redens abgebildet. Hieraus folgt dann, dass bestimmte Wirkziele einen bestimmten Vorrang gegenüber anderen einnehmen können. Besonders augenfällig an diesem Kunstgriff ist etwa die Vorrangstellung des flectere gegenüber dem auf die aristotelische Tradition des πιθανόν rekurrierenden probare sowie dem an die Traditionen der poetologischen und rhetorischen Hedonik 397 anschließenden delectare. Es lässt sich also zum einen ablesen, dass der große Redner (orator magnus) selbst heftig in der Beugung der Gemüter (vehemens in flectendo) sein müsse. 398 Zum anderen ergibt sich eine wesentliche Neubesetzung der hergebrachten psychologischen Hierarchien: Während in der Tradition der akademischen Philosophie die seelischen Vermögensbereiche von der intellektuellen ErkenntCic., orat., 21 (69): »Sed quot officia oratoris, tot sunt genera dicendi: subtile in probando, modicum in delectando, vehemens in flectendo; in quo uno vis omnis oratoris est.« Der Satzanschluss in quo uno ist nicht summativ auf alles Vorhergehende, sondern nur auf in flectendo zu beziehen – dies zeigt bereits der vorhergehende Kontext des flectere victoriae [est]: »Nam id unum ex omnibus ad obtinendas causas potest plurimum.« (»Denn das [sc. das Beugen der Gemüter] allein vermag am ehesten von alledem die Prozesse zu gewinnen.«); vgl. darüber hinaus ebd., 28 (97): »Tertius est ille amplus copiosus, gravis ornatus, in quo profecto vis maxima est.« (»Der dritte [sc. Stil] ist jener großartige, wortreiche, mächtige, schmuckreiche, in welchem sich tatsächlich die größte Kraft befindet.«). 396 So sieht sich Merklin (2004), 65 nunmehr dazu angehalten, von einer »Wirkungsmöglichkeit« zu sprechen, und lagert damit ein weiteres Mal die vis aus dem Bereich des energetischen Vollzugs rednerischer Kräfte aus. Weder ›Wesen‹ noch ›Wirkungsmöglichkeit‹ harmonieren mit der rhetorischen Funktion der vehementia, die ja gerade als wirkungsvolle beziehungsweise wirksame Kraft festzuhalten ist. 397 Bereits in Aristoteles’ Poetik hat das Empfinden von Freude (τὸ χαίρειν) an der Mimesis eine konstitutive Funktion bei der anthropologischen Grundlegung der Dichtkunst; vgl. Aristot., poet., 4, 1448b8; in diese Tradition schreibt sich bekanntermaßen auch Hor., ars, 333 f. ein: »aut prodesse aut delectare volunt poetae / aut simul« (»Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter, / oder beides zugleich.«). 398 Bei Cicero regelmäßig in brachylogischer Form für das Wirkziel animum(-os) flectere angeführt. 395

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nis (νοητόν) hinab zu den äußeren Sinnen (αἰσθητόν) Dignität einbüßen, so wird hier die probatio – eine der genuinsten Tätigkeiten des Verstandes – mit dem niedrigen Stil gleichgesetzt. Dies vermag jedoch mit Blick auf die Stilideale der spätrepublikanischen Rhetorik nur vordergründig zu überraschen. Denn eines der eigentümlichsten Merkmale des genus subtile ist dasjenige der Schlichtheit (simplicitas). Ihr liegt die stilistisch-psychologische Überzeugung zugrunde, dass eine einfache Ausdrucksweise – ganz im Sinne der Klarheit (claritas) – 399 in besonderem Maße der Verstandestätigkeit zuarbeiten könne. Deren Antipode, der Redeornat, scheint demgegenüber vorzugsweise zur Gemütsbewegung (animos flectere) geeignet. Die Redetugenden (virtutes dicendi) sind daher zunächst – in Bezug auf das in den Partitiones vertretene actio/scientia-Begriffspaar – als zweiseitig gerichtete Kräfte bestimmbar und auch als solche in einem einzelnen Redner in unterschiedlichem Maße ausgeprägt. Die Kraft scheint also im von Cicero vertretenen Sinn eine über die Stillehre zu erlangende Fähigkeit zu sein, die sich in der Folge auf die Zuhörer überträgt. Betrachten wir im Folgenden noch etwas genauer die Einschätzung der Stilarten in Hinsicht auf die Kompetenz des Redners, indem wir das Verhältnis von Kompetenz und Kraft umkehren. Hier geht es nun darum, inwiefern die Kraft des Redners in dessen eigener Kompetenz liegt.

5.b.β. Kraft in der Kompetenz

Wie bereits anhand des ciceronischen Standpunkts gesehen, kann das individuelle ingenium eines Redners, in dem sich alle Kompetenzen und Tugenden bündeln, zum Ausgangspunkt fremder Seelenrührungen werden. Um solche Wirkung zu vollführen, ist dieses ingenium allerdings in bestimmte Richtungen zu entwickeln. Die gemäß dem Analogieverhältnis, das zwischen oratio und vita zu herrschen habe, neben der konkreten Lebensführung zu beachtende Größe ist die Rede selbst. Hieraus folgt, dass von der Redekraft, über die oben angeführte Stillehre hinaus, auch die Redeinhalte selbst betroffen sind. Über die kanonisierten Arbeitsschritte der Redekunst werden sie ins-

Diese ist als eine die perspicuitas und die brevitas umgreifende Kategorie zu fassen. Die brevitas ist in ihrer Wirkweise wie auch die perspicuitas graduell, in unterschiedlichen Intensitäten, zu denken. Hierin gründet sich wiederum eine Gefahr und zugleich Herausforderung für den Redner. Übertreibt man es nämlich mit der Kürze, so kann dies der Klarheit durchaus schaden. Eine stilkritisch einprägsame Reflexion hierzu findet sich bei Horaz: »Ich bemühe mich, kurz zu sein, und werde dunkel.« (Hor., ars, 25 f.: »Brevis esse laboro, / obscurus fio«); zum Verhältnis von Ausdruckskürze und Luzidität vgl. zudem Cic., part., 6 (19). 399

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besondere anhand der inventio, der dispositio und der elocutio bestimmt. 400 Sie sind, bezogen auf die inventio und die dispositio, in den Dingen (re¯s), sowie, bezogen auf die elocutio, in den Worten (verba) fest verankert. Die vis tritt nun in diesen Zusammenhängen weniger als ein Mittel zur Durchsetzung von Wirkzielen, dafür umso mehr als ein formgebendes Prinzip auf. Denn neben ihrer bereits vielfach beobachtbaren psychagogischen Funktion verleiht sie auch der Rede selbst Sinn und Bedeutung. Ihre Bestimmung erfolgt dann gewissermaßen in Form einer Trockenübung, ohne Zuhörer. In eben dieser Übung treten Wort und Welt umso wichtiger auf den Plan. Vorgeführt wird ein solcher Gedanke etwa in den Eingangspassagen der Partitiones oratoriae. Wir hatten die Partitiones bereits bei der Bestimmung der Kraft der Tugend (vis virtutis) besprochen; nun geht es um die konkrete Kraft des Redners (vis oratoris) im Sinne ihrer Einhegung in ein taxonomisches System, das zum Hervorbringen einer Rede befähigt. In den Eingangspassagen finden sich, ohne dass dabei die Rolle der Rezipienten diskutiert würde, Zuschreibungen, die zwischen der doctrina dicendi, den re¯s, den verba und der vis oratoris getätigt werden: C[icero]. Quot in partis tribuenda est omnis doctrina dicendi? / P[ater]. Tris. / C. Cedo quas? / P. Primum in ipsam vim oratoris, deinde in orationem, tum in quaestionem. / C. In quo est ipsa vis? / P. In rebus et in verbis. 401

Die Redekraft – die bisweilen leicht verengend als schiere »Fähigkeit« 402 aufgefasst wird – fügt sich hier in die taxonomischen Gerüste der Topik und der Redeform ein. In den Dingen ist sie zu verorten wie in den Worten. Daher steht dasjenige im Vordergrund, was der Redner sich an Wissen über diese Dinge bereits erworben hat. 403 Dieser aus heutiger Sicht ›klassisch‹ zu nennende Verbund, der zwischen den Dingen und den Worten zu herrschen hat, mündet argumentativ schließlich in den Einteilungen des Stoffes (partitiones) Diese stellen gemeinsam mit der memoria und der actio die wichtigsten Produktionsstufen der rhetorischen Tätigkeit dar. Sie sind jedoch von der Vortragstätigkeit als solcher stärker entkoppelt. Dies führt, wie unter anderem Barthes betont, bisweilen dazu, dass memoria und actio gar »fallengelassen [wurden], als sich die Rhetorik nicht mehr bloß auf die gesprochenen (deklamierten) Diskurse von Advokaten oder Politikern oder von Vortragenden (epideiktische Gattung) bezog, sondern auch und später nahezu ausschließlich auf (schriftliche) Werke.« (Barthes [1988], 53). 401 Cic., part., 1 (3): »C[icero]. In wie viele Teile muss die Redeausbildung eingeteilt werden? / V[ater]. In drei. / C. Weiter, in welche? / V. Zunächst in die Kraft des Redners selbst, dann in die Rede, dann in den rednerischen Stoff. / C. In welchem befindet sich die Kraft? / V. In den Dingen und in den Worten«. Zur prägnanten Bedeutung der quaestio als rednerischer Materie vgl. unter anderem Cic., de inv., 1, 8. 402 Bayer / Bayer (1994), 7. 403 Daher deutlich besser die Übersetzung bei Rackham (31960), 313: »the speaker’s personal resources«. 400

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selbst – beginnend mit dem Auffinden der Topoi ([locos] invenire) und dem Anordnen derselben (conlocare). 404 Die Produktionsschritte der inventio und der dispositio spielen also bereits im Stadium der Entfaltung der Rednerkraft in der Rede und den Stoffen selbst eine gewichtige Rolle, ihre Zielpunkte sind und bleiben die res und die verba; die Kraft des Redners bezieht sich mithin auf den Umgang mit ebendiesen Größen. Die Rolle der vis besteht also darin, den Stoff zu beherrschen und in eine angemessene Menge und Ordnung zu bringen. Die Redekraft ist somit eine wichtige Ausgangsgröße mit differenzierter und differenzierender Ausprägung, mithin Grundlage des Rede-Arrangements, der accomodatio: Quoniam fides est firma opinio, motus autem animi incitatio aut ad voluptatem aut ad molestiam aut ad cupiditatem aut ad metum – tot sunt enim motus genera, partes plures generum singulorum – omnem conlocationem ad finem accomodo quaestionis. 405

Die Anordnung des Stoffes (accomodare) erfolgt zum Zwecke der Untersuchung (quaestio). Die diskutierten Zwecke wiederum stammen aus der Emotions- (fides, metus) und Affektenlehre (incitatio, voluptas, molestiam, cupiditas). Die kausale Verbindung (quoniam) zwischen den bewegenden Kräften und dem Stoff bereitet der Rückbeziehung der Gemütsbewegungen auf die Anordnung des Stoffes den Boden. Wenn man so möchte, steht die vis am Anfangspunkt der Rede, im Stadium des invenire, wie sie auch (im gelungen Fall) deren Endpunkt, das incitare, bildet. Für Cicero bedarf es keiner ausführlichen Begründung, dass der orator perfectus sich zwischen den einzelnen genera souverän zu bewegen hat und daher seine Vehemenz idealerweise in gleichem Maße ausbildet wie seine Fähigkeit der Beweisführung. Denn das impliziert das Attribut perfectus. Es kann im Umkehrschluss geradezu als ein Mangel gelten, wenn der Redner Vgl. Cic., part., 1 (3–5): »Sed et res et verba invenienda sunt et collocanda.« (»Aber sowohl die Dinge wie auch die Worte müssen gefunden und angeordnet werden.«). 405 Ebd., 3 (9): »Da ja eine ›starke Meinung‹ in der Vertrauenswürdigkeit besteht, die Anstachelung des Geistes indes in der Bewegung zum Vergnügen, zur Beschwerlichkeit, zum Begehren oder zur Furcht – denn so viele Arten der Bewegung gibt es [und] noch mehr Teile einzelner Arten – nehme ich die Anordnung [sc. der Stoffe] gänzlich zum Zwecke der Untersuchung vor«. Das Genitivattribut motus zu genera wird in einer Handschrift (in einem der beiden grundlegenden Pariser Codices aus dem 10. Jahrhundert) ausgelassen. Die Argumente für und gegen seine Aufnahme halten sich die Waage; die Frage ist aber nicht sinntragend, da aus dem Kontext heraus klar ist, dass es nicht um die genera dicendi im Sinne des genus demonstrativum, des genus iudicale oder des genus deliberativum gehen kann, auch nicht um diejenigen der Stillehre im Sinne des genus grande, des genus medium und des genus subtile, sondern dezidiert um die verschiedenen Arten der durch das Reden ausgelösten Seelenbewegungen. 404

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die Stilarten nicht zu verbinden weiß. 406 Hierbei ist zu betonen, dass die mitreißende Kraft entlang des erhabenen, seine rationale Überzeugungskraft entlang des schlichten genus entwickelt wird. Die Gestaltformen der Rede erscheinen dann – aufgrund ihrer prinzipiellen Aneignungsfähigkeit – überindividuell, in ihrem Aneignungsvollzug indes auf das Rednerindividuum selbst bezogen. Der letztgenannte Aspekt ist insofern nicht trivial, als er gleichermaßen den Charakter und die Persönlichkeit des Redners betrifft – wodurch das Konzeptpaar von Moralischem und Affektivem in den Blickpunkt gerät, wenn auch nunmehr gerichtet auf das Verhältnis zur vehementia und eben nicht mehr nur zum ingenium. Die prägnantesten Ausführungen hierzu finden sich ein weiteres Mal im Orator. Cicero bezieht hier ausdrücklich mimetische und dynamische Aspekte aufeinander. Nach einer Abhandlung des Redeschmucks (ornatus) – der entgegen der attizistischen Leitvorstellung der Einfachheit durchaus zu den Vorzügen eines guten Redners zu zählen sei – seien noch zwei weitere Dinge zu beachten, die man am Redner bewundern könne: Quorum alterum est, quod Graeci ἠθικὸν vocant, ad naturas et ad mores et ad omnem vitae consuetudinem accommodatum; alterum, quod idem παθητικὸν nominant, quo perturbantur animi et concitantur, id quo uno regnat oratio. Illud superius come iucundum, ad benevolentiam conciliandam paratum, hoc vehemens incensum incitatum, quo causae eripiuntur; quod cum rapide fertur, sustineri nullo pacto potest. 407

Wie man es auch aus philosophischen Traktaten Ciceros wie De finibus bonorum et malorum oder den Tusculanae Disputationes (beide 45 v. Chr.) kennt, wird hier der Anschluss an die Tradition griechischer Terminologie deutlich formuliert (quod Graeci [. . . ] vocant). Sachlich werden zwei scheinbar recht 406 Vgl. am ausdrücklichsten hierzu Cic., orat., 28 (99): »At vero hic noster quem principem ponimus, gravis acer ardens, si ad hoc unum est natus aut in hoc solo se exercuit aut huic generi studet uni nec suam copiam cum illis duobus generibus temperavit, maxime est contemnendus.« (»Jedoch dieser unser Redner, den wir an die Spitze stellen – ein mächtiger, scharfzüngiger und leidenschaftlich brennender – ist am meisten dann zu verachten, wenn er für diesen [sc. Stil] allein geboren ist oder sich einzig in diesem geübt hat, oder wenn er sich einzig um diesen Stil bemüht und seine Redefülle nicht mit jenen beiden Stilen in ein angemessenes Maß gesetzt hat.«). 407 Cic., orat., 37 (128): »Das eine von diesen [sc. Mitteln], welches die Griechen e ¯ thikón [zum Charakter gehörend] nennen, steht mit den Wesenszügen, dem Charakter und der ganzen Lebensgewohnheit in Einklang; das andere, das sie als pathe¯ tikón [sc. zum Affekt gehörend] bezeichnen, ist dasjenige, wodurch die Gemüter aufgeregt und in Bewegung versetzt werden und alleinig das, wodurch die Rede obsiegt. Jenes Erstere ist zuvorkommend, angenehm und dazu angetan, Wohlwollen zu gewinnen; das Letztere ist heftig, entbrannt und angetrieben, wodurch die Streitfälle geradezu fortgerissen werden; wenn dieses sich unvermittelt Bahn bricht, kann es auf keine Weise mehr aufgehalten werden«.

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strikt voneinander getrennte (alterum . . . alterum) Felder geöffnet: der Bereich des Affektiven (παθητικόν/pathe¯tikón) und derjenige der Lebensführung (ἠθικόν/¯ethikón). Dies geschieht in einer Bildsprache, die selbst dazu angelegt erscheint, geradewegs mitzureißen (vehemens incensum incitatum, eripiuntur, rapide etc.). 408 Die Lebensführung eines Redners ist demnach eine ebenso konstant gegebene Begründungsinstanz für dessen Stil, wie es dessen psychagogische Fähigkeiten sind. 409 Der Begriff ingenium wird an dieser Stelle zur Beschreibung dieser Lebensführung offenbar bewusst vermieden, da der Blick gerade weg von den interioren Anlagen und dafür hin zum Habitus gelenkt werden soll – zu dessen Beschreibung dominieren die entsprechenden Ausdrücke der Wesenszüge (naturae), 410 des Charakters (mores) sowie der Lebensführung selbst (consuetudo vitae). 411 Dass diese Beschreibungsgrößen hier herangezogen werden, impliziert selbstverständlich – wenn auch nicht erschöpfend – auch die Befähigung zum politischen Leben, den Nachweis, eine tragende Rolle in der res publica spielen zu können. Im Vergleich zur Lebensweise wird die (nicht nur) politische Redeweise indes in actu sichtbar in den παθητικά/pathe¯tiká. 412 Auch in ihrer römischen Entsprechung der passiva – sind sie keinesfalls als ›passiv‹ im geläufigen Wortsinn aufzufassen; denn sie lassen sich nicht auf ein verharrendes oder erleidendes Vermögen reduzieren, sondern umfassen all dasjenige, was mit dem Evozieren und Verarbeiten von Affekten und Empfindungen zu tun hat. Angesprochen wird zuvorderst der Bereich der Fähigkeiten hierzu. 413 Die scheinbare Antithetik zwischen Moral- und Affektenlehre ist in Wahrheit ein komplementäres Verhältnis. Cicero scheint es dem Redner vordergründig zu erlauben, aus der gewohnten oratio/vita-Analogie auszuscheren, um sich ganz in den passiva zu ergehen. Wie aber in Kapitel ii.5.b.α gesehen, bedeutet dies nicht unbedingt eine Verabschiedung von der virtus, sondern deutet auf eine Kompetenz hin, die für die Erlangung der Redeziele von hohem Nutzen ist. So kann sie etwa dem BekämpDas mitreißende Moment schlägt sich sowohl in der Wortwahl als auch in der teils asyndetischen Reihung dieser Ausdrücke nieder. 409 Der erste Aspekt wird von Möller (2004) ausführlich in den Blick genommen. 410 Der Pluralgebrauch scheint hier auf die Vielzahl individueller Wesenszüge und nicht unbedingt auf einen in Einheit zu denkenden, ›anthropologischen‹ Kern abzuzielen. 411 Sie lassen sich vor allem in stoischer Tradition lesen. Dort schlägt sich die innere Einrichtung der Seele, die oikeío¯ sis, auch im Habitus, im äußerlich erkennbaren politischen Handeln nieder – eine Denkfigur, die im Begriff des Kosmopolitismus zur besonderen Geltung gelangt ist. 412 Vgl. zu den griechischen Vorlagen (insbesondere zu der aristotelischen) und ihrer Aneignung in der ciceronischen Rhetorik Wisse (1989). 413 Vgl. hierzu den lexikalischen Eintrag bei Georges (81998), s. v. »passivus«, 1502: »der Empfindung und der Affekte fähig«; zum παθητικόν vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »παθητικός«, 1285: »capable of emotion«. 408

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fen von Feinden dienen, mithin dem eigenen Standpunkt indirekt zuarbeiten. Cicero schließt daher unmittelbar an: Quo genere nos mediocres aut multo etiam minus, sed magno semper usi impetu saepe adversarios de statu omni deiecimus. Nobis pro familiari reo summus orator non respondit Hortensius; a nobis homo audacissimus Catilina in senatu accusatus obmutuit; nobis privata in causa magna et gravi cum coepisset Curio pater respondere, subito assedit, cum sibi venenis ereptam memoriam diceret. 414

Cicero führt berühmte Beispiele aus seinem Leben in vorgeschützter Zurückhaltung der eigenen Fähigkeiten an (nos mediocres), um dann doch zu betonen, von welch großem Antrieb (magno impetu) er Gebrauch zu machen wusste, wenn es vor Gericht darauf ankam. Und natürlich sind Ausdrücke wie homo audacissimus keine zufälligen Zuschreibungen, sondern – gerade im hier angeführten Fall Catilinas, aber auch bei ähnlich gelagerten Fällen wie demjenigen Marcus Antonius' – 415 eng mit dem Aspekt der Lebensführung verknüpft. Die Gegner Ciceros vor Gericht waren nicht einfach statische Gegner, sondern sie wurden von ihm leidenschaftlich – und das insbesondere in Ansehung seiner eigenen Lebensführung und Vorstellungen einer gerechten res publica – energisch bekämpft. Was heißt das für den orator perfectus? Ihm kommen vor allem zwei Dinge zu: einerseits die Versicherung, in den Dingen beflissen zu sein, über die er spricht; andererseits die höchste Kraft, die menschlichen Gemüter zu bewegen (movere), gar zu beugen (flectere). Das substantielle Kriterium einer innewohnenden Kraft wird dadurch mit einem äußerlich wirksamen Kriterium verbunden. Die stoffliche Bestimmungsseite meint wiederum ein Verhältnis, welches mit der dispositio seinen Platz in den officia dicendi gefunden hat. Diese Bedingtheit der klassischen oratorischen Wirkziele durch die innere Beschaffenheit des Redners lässt sich noch weiterdenken: Denn auch die Wortfügungen (compositio verborum) – eigentlich ein Aspekt, dem man intuitiv keinen Anspruch auf Innigkeit beimessen würde – stellt dann im Grunde eine Teilaufgabe Cic., orat., 37 (129): »In dieser Art [sc. der emotionalen Redeweise] war ich mittelmäßig oder noch viel weniger [sc. begabt], aber stets nutzte ich meinen starken Antrieb und streckte meine Feinde häufig auf ganzer Linie nieder. Hortensius, ein höchst erfolgreicher Redner, hat mir keine Gegenrede geliefert, als ich einen seiner Verwandten als Angeklagten vor Gericht brachte; das viel zu tollkühne Subjekt Catilina wurde von mir im Senat angeklagt und verstummte augenblicklich; als der Senator Curio in einem privaten und bedeutsamen Fall begonnen hatte, eine Gegenrede zu halten, setzte er sich urplötzlich nieder, wobei er behauptete, dass ihm durch Gift das Gedächtnis geraubt worden sei«. 415 Zum Kontrast zwischen dem historischen und dem von Cicero inszenierten Bild von Marcus Antonius vgl. Hedemann (2017). 414

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der vis dicendi dar, selbst wenn dies auch von manchen Ungeschulten bestritten werde – laut Cicero allerdings eben aufgrund ihrer Ungeschultheit: Itaque qualis eorum motus quos ἀπαλαίστρους Graeci vocant, talis horum mihi videtur oratio qui non claudunt numeris sententias, tantumque abest ut – quod ei qui hoc aut magistrorum inopia aut ingeni tarditate aut laboris fuga non sunt adsecuti solent dicere – enervetur oratio compositione verborum, ut aliter in ea nec impetus ullus nec vis esse possit. 416

Daraus, dass die Rede ohne Spannkraft (enervetur) ist, folgt, dass sie auch keinen Schwung (impetus) und keine weitere Kraft (vis) entwickeln kann. Das hieraus hervorgehende Gegensatzpaar von Trägheit (tarditas) und Schwung (impetus) stellt eine recht unmittelbare Verbindung zwischen dem Redner und seiner Rede her. Denn der mangelnde Schwung der Rede – dasjenige, wovon Cicero so gern Gebrauch machte, um seine Gegner vor Gericht zu besiegen – wird hier aus der defizitären Anlage (ingenium) seines Urhebers erklärt. Der Zusammenhang zwischen persönlicher Anlage und Kraftentwicklung soll im Folgenden als Folie dienen, um die Rolle des Erhabenen in diesem Kontext genauer zu verstehen. Dabei wird auch der Gegensatz zwischen philosophischer Rede und rhetorischer Überwältigung eine Rolle spielen, wie wir ihn bereits bei Cicero beobachten konnten.

5.c. »vim dico δύναµιν« – Kräfte in Quintilians Institutio oratoria

Wie in Kapitel ii.4.b gesehen, werden Kraftkonzepte in der Schrift Περὶ ὕψους ganz wesentlich über zwei Begründungsverhältnisse organisiert: einerseits über dasjenige zwischen Denkinhalten und Pathos, andererseits über dasjenige zwischen Dichter und Dichtung. Insgesamt findet sich dort ein nur wenig bildungsbezogener Impetus. Demgegenüber schlägt sich in Quintilians Institutio oratoria der »Funktionswandel von der forensischen Technik zur höheren literarischen Bildung« 417 nieder, und dies in Auseinandersetzung mit den BeCic., orat., 68 (229): »Daher erscheint mir die Rede derjenigen, die ihre Sätze nicht metrisch abschließen, so wie die Bewegungsversuche derer, welche die Griechen Ungeschulte [ἀπάλαιστροι] nennen; und es fehlt soviel daran, dass – dies pflegen diejenigen zu behaupten, die dies entweder aus Mangel an Lehrmeistern oder wegen der Behäbigkeit ihrer Natur oder aus Scheu vor der Mühe nicht erreicht haben – die Rede nicht durch die Wortfügung entkräftet würde, so dass in ihr auf andere Weise weder irgendein Schwung noch eine Kraft sein könnte«. 417 Fuhrmann (52003), 71. Fuhrmann setzt diesen Prozess in der frühen Kaiserzeit an. Es spräche allerdings, je nach ideengeschichtlicher Auslegung, auch wenig dagegen, den Beginn dieser Entwicklung bereits um 55 v. Chr. in Ciceros De oratore zu verorten. Zum Bildungsbegriff in der flavischen Zeit vgl. Too (2016), zu dessen Abgrenzung vom Erziehungsaspekt vgl. Bloomer (2015). 416

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stimmungsweisen, die bereits von der ciceronischen Rhetorik ausgegangen waren. 418 Dieser Umstand liegt zu einem gewissen Teil in der Ausrichtung des Werks selbst begründet: Es sind Bildungsideale, oder praktisch gewendet: Bildungsziele, die als richtungsgebende Größen des menschlichen ingenium und damit auch der Ausprägung seiner Kräfte dienen. Quintilian beschreitet in der Darstellung der Redekunst mitnichten besonders abstrahierende oder sich von der Wirklichkeit entfernende Wege, wie gelegentlich behauptet wird. 419 Im Gegenteil, wird doch auch hier bei aller durch Konzepte wie den vir bonus verfolgten Idealität nicht außer Acht gelassen, die Rhetorik über die Eingliederung der Redekräfte (vires dicendi) auch auf eine Wirkästhetik hin zu entwickeln und dabei die Urgründe des rednerischen Vermögens zu bekräftigen. Durch die gorgianische δύναµις τῆς τέχνης und Ciceros vis ingen¯ lässt sich hierzu bereits an eine gewisse Traditionslinie anschließen. Dennoch schiene allzu eng gefasst, Quintilian in den dynamischen Aspekten seiner Behandlung der Rhetorik als bloßen Ciceronianer oder gar als ungebrochenen Fortführer einer sophistischen Weisheitslehre einzustufen. Vielmehr grenzt er sich – wie die definitorischen Vergleiche bei Quint., inst., 2, 15, 1–22 zeigen – gerade in den Fragen nach Kraft und Vermögen der Redekunst von den römischen und griechischen Vorläufern merklich ab, da sie ihm das Thema nicht in allen Facetten zu behandeln scheinen; 420 er wählt vielmehr in der Formel »vim dico δύναµιν« 421 mit vis denjenigen Begriff, dem das weitestmögliche semantische Spektrum im Bereich der Kraft- und Vermögenslehre zukommt und der dem Autor daher viele Freiheiten gewährt. 422 Vgl. zum Fortwirken der ciceronischen Ideale im ersten nachchristlichen Jahrhundert die konzisen Ausführungen bei Conley (1990), 38–43. 419 Daher auch in Absetzung von der Fokussierung, wie Robling sie vornimmt: »Quintilians Werk drückt aus, daß sich analog zu den politischen Verhältnissen in der Kaiserzeit die Unterweisung in der Rhetorik und die hier vermittelten Inhalte der Rhetorik selbst wandeln. Standen ursprünglich die Rede vor Gericht und die politische Debatte im Mittelpunkt, wird Rhetorik nun zu einem allgemeinen Merkmal höherer literarischer Bildung, wie sich später in den septem artes liberales zeigt. Wirklichkeitsferne Übungsreden in Form von Deklamationen (controversiae et suasoriae) oder Quintilians Stilkritik legen den Wandel der Rhetorik zu einer ›allgemeinen Theorie und Kritik der Kunstprosa‹ nahe.« (Robling [2009b], 3). 420 Demzufolge haben manche die Rhetorik »allein als eine Kraft, andere als eine Wissenschaft, nicht jedoch als Tugend, manche als Erfahrung, wieder andere zwar als Kunst, aber als eine [sc. Kunst], die von Wissenschaft und Tugend geschieden sei, und manche sogar als eine gewisse Verunstaltung der Kunst, das heißt als kakotechnía bezeichnet.« (Quint., inst., 2, 15, 2: »vim tantum, quidam scientiam, sed non virtutem, quidam usum, quidam artem quidem, sed a scientia et virtute diiunctam, quidam etiam pravitatem quandam artis id est κακοτεχνίαν nominaverunt.«). 421 Ebd., 2, 15, 3: »Ich nenne die δύναµις eine vis«. 422 Auf diese grundsätzliche Vagheit des Begriffs, wie er hier verwendet wird, weist auch Cousin hin – wenngleich er dabei weniger auf die systematischen Vorzüge einer solchen Wahl als vielmehr auf die philosophische Eklektik eingeht, die methodisch zugrunde liegt: »Vis correspond ici au grec 418

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Diese Freiheiten weiß Quintilian dann zu nutzen: Er legt gegenüber der spät-republikanischen Beredsamkeit neue Dimensionen des vis-Begriffs offen, indem er häufig auf die Redekraft (vis dicendi) selbst und daneben – als Ausdruck des wohl wichtigsten oratorischen Wirkzieles – 423 auf die Überzeugungskraft (vis persuadendi) rekurriert. Beide Größen spielen dabei zwei argumentativen Zwecken zu: Einerseits stellen sie Konzepte dar, an denen sich die Ansprüche aus der Moraldidaxe reflektieren und überprüfen lassen (in der Frage, wozu man seine Redekraft einzusetzen habe); andererseits sind sie sinnstiftende Begründungsinstanzen für die Redekunst selbst. Dass dabei manche hergebrachten Topoi durchaus um neue Aspekte erweitert werden, zeigt der Beginn des zwölften Buchs der Institutio. Dort wird das dem älteren Cato zugeschriebene Postulat eines vir bonus dicendi peritus zunächst im Sinne eines Autoritätsarguments eingeführt 424 und im Zuge dessen das oratio/vita-Korrelat in der von Cicero her bekannten Gültigkeit aufgerufen – denn nichts anderes meint auch in der Institutio die topische Verbindung eines vir bonus mit dessen Güte im Reden. 425 Im weiteren Kontext dieser Verbindung muss die Rolle der vis dicendi ins Auge fallen: Sie nämlich könnte sich den quintilianischen Bildungszielen leicht widersetzen oder ihnen gar entgegenwirken, indem sie die Menschen zur Schlechtigkeit (malitia) hinreißt. 426 Daher wird sie im Vergleich zu Cicero und (Ps.-)Longin in neuen argumentativen Funktionsweisen eingeδύναµις mais le terme est à mon sens trop vague, car les platoniciens et les péripatéticiens, qui n’ont pas les mêmes idées sur la rhétorique, se servent du même mot; Athénée, qui est un éclectique stoïcisant, définit lui aussi la rhétorique par l’expression λόγων δύναµις« (Cousin [21967], 136 f.: »Vis entspricht hier der griechischen dýnamis, jedoch ist der Begriff meines Erachtens allzu vage, denn die Platoniker und die Peripatetiker, die bezüglich der Rhetorik nicht dieselben Vorstellungen hatten, bedienten sich desselben Wortes; Athenaios, der ein eklektischer Stoizist ist, definiert die Rhetorik ebenfalls mit dem Ausdruck l’ogo¯ n dýnamis [Kraft der Worte].«) Die Ambiguität des Begriffs ist, wie weiterhin gezeigt werden soll, aber nicht zu verwechseln mit dessen Vielseitigkeit, dich sich insbesondere in Bezug auf die Erfordernisse der forensischen Aufgaben abzeichnet – und, wie wir in Kapitel II.5.b sehen konnten, auch bereits bei Cicero abgezeichnet hatte. 423 Insofern die drei Tätigkeiten des movere (animum flectere), delectare und docere der persuasio zuarbeiten sollen. 424 Das hierzu verwendete finitur (Quint., inst., 12, 1, 1) lässt sich in verschiedene Richtungen auffassen – zum einen dahin, dass Cato einen solchen Anspruch an den Redner selbst vorgebracht und dadurch in bestimmtem Sinne ›definiert‹ hat; zum anderen, dass er ihn selbst auch am stärksten verkörperte und ihn dadurch gewissermaßen ›vollendet‹ hat. Dass seine auctoritas, gravitas und potestas gerade an dieser Übereinstimmung von Anspruchsdenken und persönlichem Inbild festzumachen sind, befindet sich im Einklang mit der politischen communis opinio über Cato, ganz besonders aber mit den Charakteristika, die ihm von Ciceros Seite aus an verschiedenen Stellen zugeschrieben werden; vgl. exemplarisch Cic., Mur., 58–67, insbesondere solch emphatische Junkturen wie totius vitae splendor et gravitas (58), bona quae videmus divina et egregia (61) oder vi naturae atque ingen¯ı elatum (65). 425 Vgl. die prägnante Zuspitzung bei Quint., inst., 12, 1, 3. 426 Vgl. ebd., 12, 1, 1.

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bracht, wie sich im Kontext ihrer häufigen Begleiter eloquentia und der facultas erkennen lässt. Diese Paradigmen kulminieren etwa im weiteren Verlauf des zwölften Buches an mehreren Stellen zum Hendiadyoin vis ac facultas dicendi. So wird in inst., 12, 1, 33 – unter Heranziehung eines Interlocutors – die Hypothese eingebracht, dass Redekräfte gerade insofern verderblich seien, als sie doch bisweilen gegen die Wahrheit ankämpfen und diese gleichsam besiegen könnten: Videor mihi audire quosdam (neque enim deerunt umquam, qui diserti esse quam boni malint) illa dicentis: ›quid ergo tantum est artis in eloquentia? Cur tu de coloribus et difficilium causarum defensione, nonnihil etiam de confessione locutus es, nisi aliquando vis ac facultas dicendi expugnat ipsam veritatem? bonus enim vir non agit nisi bonas causas, eas porro etiam sine doctrina satis per se tuetur veritas ipsa.‹ 427

Angeführt wird eine Wirkweise der Rede, die scheinbar nur wenig mit einem vir bonus zu tun hat und die aus dem Platonismus bekannte Unterscheidung zwischen der wahrheitssuchenden Philosophie und der wahrheitsverdrehenden Rhetorik zu bekräftigen sucht. Eine solche Gefahr spielt jedoch in Quintilians Erwägungen zum Verhältnis von Rhetorik und Moral eine allenfalls untergeordnete Rolle. Denn auch die Verteidigung des Schlechten und Falschen, ja selbst die bewusste Trugrede, könne durchaus von hohem Nutzen sein – bisweilen gar nach (vorgeblicher) Meinung der Akademiker sowie unter den in dieser Hinsicht zweifelsfrei unverdächtigen Augen des älteren Cato: neque enim Academici, cum in utramque disserunt partem, non secundum alteram vivent, nec Carneades ille, qui Romae audiente censorio Catone non minoribus viribus contra iustitiam dicitur disseruisse quam pridie pro iustitia dixerat, iniustus ipse vir fuit. verum et virtus quid sit adversa ei malitia detegit, et aequitas fit ex iniqui contemplatione manifestior, et plurima contrariis probantur: debent ergo oratori sic esse adversariorum nota consilia ut hostium imperatori. 428 Quint., inst., 12, 1, 33: »Mir scheint, als hörte ich, wie manche (denn es wird nie an Leuten fehlen, die lieber redegewandte als gute [sc. Menschen] sein wollen) jenes sagen: ›Was also soll die ganze Kunst in der Beredsamkeit? Warum hast du über die Schönfärbereien und die Verteidigung schwieriger Fälle sowie einiges über das Schuldbekenntnis gesprochen, wenn nicht bisweilen die Kraft und Fähigkeit des Redens die Wahrheit selbst besiegt? Denn ein Ehrenmann vertritt ausschließlich ehrbare Fälle, und diese [sc. Fälle] nimmt ja wohl die Wahrheit selbst, auch ohne [sc. rednerische] Lehre, durch sich in Schutz.‹«. 428 Ebd., 12, 1, 35: »Denn sowohl die Akademiker werden, wenn sie beide Seiten [sc. eines Problems] erörtern, gemäß der einen der beiden [sc. Seiten] leben, und auch Karneades, von dem man sagt, dass er in Rom mit dem Zensor Cato in der Zuhörerschaft mit nicht geringeren Kräften 427

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Und Quintilian geht noch weiter, wenn im Folgenden zur weiteren Legitimierung, Unwahres sprechen zu dürfen, gar die Stoa bemüht wird: ac primum concedant mihi omnes oportet, quod Stoicorum quoque asperrimi confitentur, facturum aliquando bonum virum ut mendacium dicat, et quidem nonnumquam levioribus causis, ut in pueris aegrotantibus utilitatis eorum gratia multa fingimus, multa non facturi promittimus[.] 429

Wenn also selbst der gestrenge Cato, die Akademiker und die Stoiker eingestehen müssen, dass das Umgehen der Wahrheit und das Beteuern der Unwahrheit den Redner vielseitiger machen, so spricht viel dafür, dies durchaus zu den positiven Vermögen zu zählen. Will der Redner sein Vermögen zur Geltung bringen, darf er folglich mit verschiedenen Redetechniken experimentieren, eignet sich dadurch wiederum neue Fertigkeiten an und verbessert sich selbst im Zuge eben jener Ausübung der bisher erworbenen Fähigkeiten. 430 Es ist also gerade die Sukzession in der Ausbildung des rednerischen Vermögens mit dem Ziel höchstmöglicher Versiertheit, wodurch die Rhetorik von Wahrheitsansprüchen entkoppelt wird. Die Kräfte und Fähigkeiten des Redners, die ihn nicht nur zum Reden, sondern zum Überzeugen ermächtigen, werden einerseits mit Elan gegenüber den Einwänden verteidigt, die von Seiten derjenigen eingebracht werden, die auf wahrheitsgebundene Argumente pochen (probantes); andererseits findet geradezu eine Sublimierung dieser Größen – namentlich aus der Tradition der Dreistillehre heraus – in Abgrenzung zur Schlusslehre der Logik statt. Beispielhaft dafür ist zunächst die dezidierte Ablehnung eines Zuviels an Konklusionen und Widerlegungen (colligere ac resolvere, quae velis). 431 Denn ähnlich zu Cigegen die Gerechtigkeit gesprochen habe als er am Vortag für die Gerechtigkeit gesprochen hatte, war selbst kein ungerechter Mann. Was das Wahre und die Tugend ist, enthüllt ja die Schlechtigkeit, die diesem entgegengestellt ist; auch die Billigkeit wird aus der Betrachtung des Unbilligen klarer, und die meisten Dinge werden durch Gegenbeweise einleuchtender. Also müssen dem Redner die Absichten der Gegenseite genauso bekannt sein wie einem Feldherrn diejenigen des Feindes«. Bei Karneades handelt es sich um einen akademischen Vertreter der Philosophengesandtschaft, die im Jahr 155 v. Chr. Rom besuchte. 429 Ebd., 12, 1, 38: »Und zunächst müssen wir alle zugestehen, was auch die strengsten Stoiker bekennen, dass nämlich ein ehrenhafter Mann auch einmal in die Lage geraten wird, eine Lüge auszusprechen, und zwar bisweilen gar in harmloseren Fällen – wie wir etwa bei Kindern, die erkrankt sind, vielerlei erfinden, weil es ihnen gut tut, und vielerlei versprechen, ohne dass wir es einhalten werden«. 430 Der naheliegende Einwand, dass die sittliche Ausrichtung der vita ein solches Handeln doch eigentlich nicht zulassen könne, wird von Quintilian antizipiert und ebd., 12, 1, 37–40 zurückgewiesen. Dass diese Zurückweisung selbst sophistisch anmutet, bekräftigt nochmals das elastische Verhältnis zwischen Wahrheit und Unwahrheit, das Quintilian bei der Aneignung der Redekraft so hochhalten will. 431 Vgl. zu diesem Begriffsbestand ebd., 12, 2, 10.

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cero ist es auch hier eine allzu große Verstandestätigkeit, welche die Kraft der Rede verringern und damit auch das persuadere erschweren kann. 432 Zu diesem Zweck wird eine genaue Unterscheidung zwischen forensischen und philosophischen Wirkweisen in ihren jeweils typischen Vollzugsformen, der actio und der disputatio, vorgenommen und auf den Aspekt der Publikumswirkung bezogen: quamquam ea non tam est minute atque concise in actionibus utendum quam in disputationibus, quia non docere modo sed movere etiam ac delectare audientis debet orator, ad quod impetu quoque ac viribus et decore est opus, ut vis amnium maior est altis ripis multoque gurgitis tractu fluentium quam tenuis aquae et obiectu lapillorum resultantis. 433

Man könnte in diesem Passus vordergründig ein illustres Beispiel für die der Institutio oratoria eingegebene Tendenz sehen, ausgiebigen Gebrauch von Naturmetaphern zu machen. 434 Wichtig ist daran aber, dass die herangezogene Bildsprache einer weiteren Unterordnung der an der Wahrheit orientierten probatio gegenüber den an die persuasio gekoppelten vires ac facultates zuarbeitet. Somit wird die Wahrheit nicht – was im Sinne der vielbeschworenen Bildungsziele ja durchaus naheläge – gegenüber der Redekraft, sondern die Redekraft gegenüber den philosophischen Beweisführungen erhöht. 435 Über Zur traditionellen Engführung der Redekraft mit dem Überzeugungsakt vgl. hingegen Sext. Emp., Adv. Rhet., 61: »οἱ περὶ τὸν Πλάτωνα εἰς τοῦτο ἀποδόντες δύναµιν εἰρηκάσιν αὐτὴν τοῦ διὰ λόγων πείθειν.« (»Die Anhänger Platons haben darüber Zeugnis abgelegt und haben sie [sc. die Rhetorik] die Kraft des Überzeugens durch Worte genannt.«). 433 Quint., inst., 12, 2, 11: »Allerdings darf man hiervon nicht so kleinlich und zerstückelt bei Gerichtsreden Gebrauch machen wie bei philosophischen Erörterungen, weil der Redner nicht nur die Zuhörer belehren, sondern auch bewegen und erfreuen muss, wozu man auch Schwung, Kräfte und Schmuck benötigt, wie auch die Kraft der Flüsse größer ist, die zwischen hohen Ufern und in strömender Flut fließen, als diejenige flachen Wassers, das sich zudem am Widerstand kleiner Steinchen bricht«. 434 Vgl. als einen hervorragenden Beitrag zur Illustrationskraft der Bildsprache Quintilians im Spannungsfeld von Klarheit (claritas) und Dunkelheit (obscuritas) Dozier (2013). 435 Bisweilen werden die probationes von Quintilian mithilfe rhetorischer Kunstgriffe – etwa über die Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen der vis persuadendi und der adfirmatio – geradezu getilgt, weil unnötig gemacht; vgl. etwa Quint., inst., 11, 3, 154: »Tria autem praestare debet pronuntiatio: conciliet persuadeat moveat, quibus natura cohaeret ut etiam delectet. conciliatio fere aut commendatione morum, qui nescio quomodo ex voce etiam atque actione perlucent, aut orationis suavitate constat, persuadendi vis adfirmatione, quae interim plus ipsis probationibus valet.« (»Drei Dinge indes muss der Vortrag zur Verfügung stellen, dass er nämlich geneigt macht, überzeugt und bewegt. Diese Dinge haben von Natur aus ihren Zusammenhang darin, dass er [sc. der Vortrag] auch erfreut. Die Geneigtmachung besteht entweder aus der Empfehlung des Charakters, welcher auf irgendeine Weise aus der Stimme und auch aus dem Vortrag hervorscheint, oder aus der Lieblichkeit der Rede, die Überzeugungskraft indes aus der Bekräftigung, die bisweilen 432

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die zentral gesetzten Begriffe impetus, vires und decus werden gerade diejenigen Kategorien abgebildet, die sich von den res weg- und zu den verba, und zwar diejenigen in actu, hinbewegen. Dies kann als Beispiel dafür gelten, dass sich die Redekunst bei Quintilian gerade nicht auf ihre didaktisch-moralischen Eingebungen, schon gar nicht auf eine Art von Bildungsauftrag reduzieren lässt, sondern an den publikumsbezogenen Wirkaspekten sowie an der Optimierung des eigenen rednerischen Vermögens orientiert. Kraft (vis) und Gewandtheit (facultas) der Rede können die Wahrheit gleichsam zu Fall bringen. Votiert Quintilian also für eine Entbindung der Rhetorik von Vernunft und Wahrheit und plädiert er, wenn man diesen Gedanken weiterführt, für Trug und Täuschung und spricht er den Redner damit von der Verpflichtung auf die Moral frei? In jedem Fall hält es Quintilian nicht für unnütz, wenn ein Redner weiß, wie man der Unwahrheit das Wort redet. Eine Ironie, der wir uns im Folgenden näher zuwenden, besteht nun darin, dass Quintilian auch im Bereich der Kräfte selbst zwischen verschiedenen Wertigkeiten unterscheidet, unter Zuhilfenahme genau derjenigen Größe, die durch die rednerischen Kräfte ja besonders effektiv bekämpft werden könne – der Wahrheit.

5.c.α. Kräfte und wahre Kräfte

Im Zuge der theoretischen Bestimmung der vires ac facultates werden in der Institutio oratoria auch Möglichkeiten der rednerischen Nachahmung diskutiert. Hierin unterscheidet sich Quintilian nicht grundlegend von Cicero, Horaz und (Ps.-)Longin. Allerdings entwickelt er hierzu ein durchaus eigenständig zu nennendes Modell, das über die bisherigen Konzepte hinausgeht: Zunächst wird neben der einfachen Kraft (vis) auch eine wahre Kraft (vera vis) eingeführt, die im Redner besonders tief eingepflanzt sei. Am augenfälligsten trete sie nun gerade dann in Erscheinung, wenn sie fehle: non subest vera vis nec penitus immissis radicibus nititur, ut quae summo solo sparsa sunt semina celerius se effundunt et imitatae spicas herbulae inanibus aristis ante messem flavescunt. 436 mehr wert ist als die Beweisgänge selbst.«) Die adfirmatio meint hier – über ihre logische Tradition hinausgehend – gerade keine syllogistische Überzeugungsarbeit, sondern die intensive Bekräftigung einer durch die Rede vorgetragenen Behauptung. 436 Quint., inst., 1, 3, 5: »Nicht steckt wahre Kraft dahinter; auch stützt sie sich nicht auf tiefgründige Wurzeln – ganz so, wie Samen, die auf der Oberfläche des Bodens verstreut sind, zu schnell aufgehen und die Pflänzchen dann zwar die Büschel nachahmen, vor der Ernte aber mit leeren Grannen gelb werden«.

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Der besondere Wert der wahren Kraft rührt demnach von ihrer wahren Urwüchsigkeit her. In diesem Sinn wird unter ihrer Ägide noch ein Katalog an intrinsischen Eigenschaften eröffnet, die sich sowohl partiell als auch in toto der Nachahmung sowie überhaupt der künstlichen Vermittlung (denn dies meint an der folgend zitierten Stelle die ars) widersetzen: namque iis quae in exemplum adsumimus subest natura et vera vis, contra omnis imitatio facta est et ad alienum propositum commodatur. quo fit ut minus sanguinis ac virium declamationes habeant quam orationes, quod in illis vera, in his adsimulata materia est. adde, quod ea, quae in oratore maxima sunt, imitabilia non sunt, ingenium, inventio, vis, facilitas et quidquid arte non traditur. 437

Über das Hendiadyoin natura et vera vis wird – ähnlich dem vis-Gebrauch in den entsprechenden Junkturen Ciceros – der endogene Urgrund der Rednerfähigkeit ausgedrückt, dessen Einfluss selbst bis in den stofflichen Bereich (materia) der Rede hineinzureichen vermag. Während Cicero dabei jedoch tendenziell auf eine allgemeine Essenz, auf das Musterbild des vir bonus abzielt, um das Vermögen des Redners zu bestimmen, geht es hier noch dezidierter um die pulsierende Kraft (sanguinis ac virium), durch welche die vera vis erst andere Seelenvermögen in Gang zu setzen vermag. Stets behält sie dabei eine höhere Dignität gegenüber jeglicher fremden Vorgabe (alienum propositum) und erst recht gegenüber ihrer Vermittlung (arte traditur) bei. Sie ist daher – nicht ausschließlich, aber auch durch ihre Engführung mit der natura – merklich intrinsischer angelegt als die bloße vis – die eben auch auf Effekthascherei, das Verdrehen der Wahrheit und schieres Manipulieren aus sein kann. Hierin lässt sich auch eine Neujustierung der Diskurse um die rednerischen Anfangsgründe erkennen: Kam in der ciceronischen Theorie, wie wir sie etwa im Orator ausgedrückt fanden, noch der maxima vis die höchste Wertigkeit zu und stellte sich diese dort erst als Ziel des vollkommenen Redners dar, so enthält eine vergleichbare Würde hier nur die vera vis. Diese gilt nunmehr allerdings als Urgrund der rednerischen Fähigkeiten. Bezogen auf die officia oratoris ergibt sich ein Kontrast, der sich insbesondere in der Ausarbeitung der partes orationis widerspiegelt: Während die inventio als Initialstadium der

Ebd., 10, 2, 11 f.: »Denn in denjenigen, die wir zum Vorbild nehmen, liegt Natur und wahre Kraft; dagegen ist jegliche Nachahmung hergestellt und passt sich einer fremden Vorgabe an. Dadurch geschieht es, dass Deklamationen weniger Blut und Kräfte haben als Reden, weil in ihnen der Stoff wahrhaftig, in den anderen jedoch angeglichen ist. Hinzu kommt, dass diejenigen Dinge, die beim Redner am bedeutendsten sind, nicht nachahmbar sind: Anlage, Erfindungsgabe, Kraft, Gewandtheit und alles, was sich nicht durch eine Kunstlehre vermitteln lässt«. 437

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curricularen Redetätigkeiten 438 bei Cicero bereits mit dem ingenium als Anlage und Anfang der Rednertätigkeit enggeführt wird, 439 so ist die inventio bei Quintilian integraler Bestandteil der vera vis; sie entzieht sich mithin der Nachahmbarkeit. Das ingenium, die natura und die (vera) vis scheinen also auf den ersten Blick Ähnliches zu bezeichnen, nehmen jedoch unterschiedliche Funktionen in Bezug auf die Verbindung eines natürlichen Vermögens mit den Aufgaben und Tätigkeiten des Redners ein. Die ciceronische Auffassung bildet für diese Aspekte zwar durchaus einen kanonischen Ausgangspunkt, ist jedoch gerade für die Programmatik der Institutio Quintilians nicht erschöpfend. Hinsichtlich der Nachahmbarkeit von Kräften erscheint sie sogar gegenläufig. Zudem zeigt diese Stelle einen weiteren Grundzug der quintilianischen Rhetorik an: Auch die Verortung der vis dicendi hängt von der Dreiteilung der ars dicendi unverbrüchlich ab. 440 Denn es sei eine irrige Meinung, dass alles, was die Redekunst ausmache, entweder vollständig in der Kunstlehre (ars) oder 438 Zu den partes orationis vgl. in konziser Zusammenfassung Cic., inv., 1, 9: »Quare materia quidem nobis rhetoricae videtur artis ea, quam Aristoteli visam esse diximus; partes autem eae, quas plerique dixerunt, inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio. Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant; dispositio est rerum inventarum in ordinem distributio; elocutio est idoneorum verborum [et sententiarum] ad inventionem accommodatio; memoria est firma animi rerum ac verborum ad inventionem perceptio; pronuntiatio est ex rerum et verborum dignitate vocis et corporis moderatio.« (»Daher scheint mir freilich der Stoff der Redekunst in dem zu bestehen, für den ihn Aristoteles – wie ich sagte – hielt; die Teile sind indes diejenigen, welche die meisten benannt haben, nämlich die Auffindung, die Anordnung, die sprachliche Gestaltung, das Gedächtnis und der Vortrag. Die Auffindung besteht im Ersinnen wahrer oder möglicher Dinge, die einen Fall glaubwürdig machen sollen; die Anordnung besteht in der Verteilung der aufgefundenen Dinge, gerichtet auf eine Ordnung; die sprachliche Gestaltung besteht in der Anpassung geeigneter Wörter und Sätze [sc. an den Stoff]; das Gedächtnis ist das starke geistige Erfassen der Dinge und Wörter gemäß der Auffindung; der Vortrag besteht in der Lenkung der Stimme und des Körpers entsprechend der Würde der Dinge und Wörter.«). 439 Im Sinne dieser doppelten Zuschreibung wird beispielsweise Cic., de orat., 3 (123–125) von der Forschung gelegentlich mit der programmatischen Intention in Verbindung gebracht, einen engen Konnex zwischen ingenium und inventio herzustellen, überzeugend etwa von Chalkomatas (2007), 253. 440 Vgl. etwa Quint., inst., 3, 3, 11 f.: »Fuerunt etiam in hac opinione non pauci, ut has non rhetorices partis esse existimarent, sed opera oratoris; eius enim esse invenire, disponere, eloqui et cetera. quod si accipimus, nihil arti relinquimus. nam bene dicere est oratoris, rhetorice tamen erit bene dicendi scientia: vel – ut alii putant – artificis est persuadere, vis autem persuadendi artis.« (»Nicht wenige waren sogar der Auffassung, diese Teile nicht der Rhetorik zuzuordnen, sondern als Aufgaben des Redners zu erachten; es sei nämlich dessen Aufgabe, zu erfinden, anzuordnen, darzustellen etc. Wenn wir dies annehmen, so werden wir der Kunstlehre nichts übriglassen. Denn gut zu reden ist Aufgabe des Redners, die Wissenschaft des guten Redens indes wird die ›rhetorische‹ sein: Zum Beispiel – wie andere glauben –, dass es Aufgabe des Künstlers ist zu überreden, die Kraft der Überredung aber Aufgabe der Kunst.«).

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im Künstler (artifex) liege. 441 Dass genau dies nicht zutreffen kann, zeigt sich am deutlichsten anhand der vis persuadendi. Denn diese läge dann in der ars oder im artifex selbst vor und wäre damit ein nur wenig autarkes Wirkziel zu nennen. Sie nimmt vielmehr eine diese Instanzen umfassende Stellung ein und kann nicht auf eine einzige Seite – sei es auf ihre Freisetzung durch den Redner oder auf ihre Erlernbarkeit auf Grundlage einer Kunstlehre – reduziert werden. Die von Quintilian angedachte Überzeugungskraft lässt sich – anders als bei Horaz und Cicero – nicht ohne Schwierigkeiten nachahmen: Manche Aspekte der Rhetorik müssen, gemäß den taxonomischen Annahmen zur ars, scientia und zum artifex, ganz für den Redner veranschlagt werden, andere ganz für die Kunstlehre. So liegt die Überzeugungskraft natürlich auch im Handeln (faciendo) – etwa in der Gestik des Redners oder indem er Dinge ostentativ vor Augen führt. Daher ist die Überzeugungskraft auch als Wirkmacht des Handelns zu explizieren. Dies betrifft besonders den prozdeduralen Schritt der actio, wo es es um die Vorführung des Gegenwärtigen (res praesens) anhand der Verbindung von Kraft (vis) und Bewegung (motus) geht. 442 Ein im sechsten Buch angeführtes Beispiel zieht als eine Teilfunktion des movere die Fähigkeit, Tränen hervorzurufen (lacrimas movere), heran: Quarum rerum ingens plerumque vis est velut in rem praesentem animos hominum ducentium, ut populum Romanum egit in furorem praetexta C. Caesaris praelata in funere cruenta. Sciebatur interfectum eum, corpus denique ipsum impositum lecto erat, [at] vestis tamen illa sanguine madens ita repraesentavit imaginem sceleris ut non occisus esse Caesar sed tum maxime occidi videretur. 443 Zur begrifflichen Gliederung der Rhetorik in ars, scientia und artifex vgl. die programmatischen Einlassungen ebd., 2, 14, 5. 442 Vgl. hierzu die in movendo vis-Formel in Abgrenzung zu den übrigen Wirkzielen bei Quint., inst., 12, 10, 59: »Quorum tamen ea fere ratio est, ut primum docendi, secundum movendi, tertium illud, utrocumque est nomine, delectandi sive, ut alii dicunt, conciliandi praestare videatur officium, in docendo autem acumen, in conciliando lenitas, in movendo vis exigi videatur. Itaque illo subtili praecipue ratio narrandi probandique consistet, estque id etiam detractis ceteris virtutibus suo genere plenum.« (»Deren [sc. der Stilarten] Grundsatz ist ungefähr der, dass die erste [sc. Stilart] die Verrichtung des Belehrens, die zweite die des Bewegens und die dritte – hier gibt es zwei Bezeichnungen – des Erfreuens oder, wie andere sagen, des Geneigtmachens zu bieten scheint; im Belehren scheint indes Scharfsinn, im Geneigtmachen Sanftheit, im Bewegen Kraft verrichtet zu werden. Daher wird die Richtschnur des Erzählens und Beweisens vor allem aus jenem schlichten Stil bestehen, und dieser ist, auch wenn die übrigen Kräfte abgezogen wurden, voll von seiner eigenen Art.«). 443 Ebd., 6, 1, 31: »Die Kraft dieser Dinge ist meistens gewaltig, da sie ja gewissermaßen die Gemüter der Menschen auf die gegenwärtige Sache lenken, wie etwa die Purpurtoga C. Caesars, die blutig auf einem Leichenbegängnis vorangetragen wurde, das römische Volk zum Rasen gebracht hat. Man wusste, dass Caesar gewaltsam getötet worden war – schließlich lag sein Leichnam selbst 441

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Die Bewegtheit des Publikums durch Vergegenwärtigung eines bereits Vergangenen zieht ihre Kraft nicht aus einer Kunstlehre, nicht aus einem Redner, sondern aus der Kraft der Dinge (vis rerum) selbst. Im Gegensatz zu (Ps.-)Longin stellt hier der Sachverhalt in der äußeren Welt den Grund des spontanen Gefühls dar. Es liegt, so Quintilian, eine (Ausdrucks-)Kraft in bestimmten Dingen. Die Kraft der bluttriefenden Purpurtoga Caesars liegt im gesteigerten Affektmodus, an Vergangenes zu erinnern, es gleichsam gegenwärtig zu machen. Somit kommt man mit der vis persuadendi auf der Ebene der rhetorischen Verfahren angekommen, wodurch sich das spezifische Wirkprofil der Rhetorik bestimmen. Kraft wird somit zu einer wesentlichen Dispositionsgröße des Redens, indem sie aus den Quellen der Kunstlehre (ars dicendi), der Dinge (vis rerum) und des Redners selbst (vera vis) gespeist wird. Die Disposition der Rede ist somit auch eine Disposition dieser Kräfte zueinander. Aus der Lehre des Überzeugens wird im weiteren Verlauf des sechsten Buchs eine taxonomische Bestimmung der passiven und aktiven Gefühlsregungen entwickelt, die – gemäß der Dreistillehre – werden bevorzugt auf die forensische Tätigkeit (in causa) bezogen werden. Angenommen wird ein Primat der forensischen vor der philosophischen Rede auf Grundlage der durch sie ausgelösten Affekte. Eine solcher Vorrang wird in inst., 6, 2, 2–6 dann selbst mit einigem rhetorischen Aufwand ausgeführt: Nam et per totam, ut diximus, causam locus est adfectibus, et eorum non simplex natura nec in transitu tractanda, quoniam nihil adferre maius vis orandi potest: nam cetera forsitan tenuis quoque et angusta ingeni vena, si modo vel doctrina vel usu sit adiuta, generare atque ad frugem aliquam perducere queat: certe sunt semperque fuerunt non parum qui satis perite quae essent probationibus utilia reperirent. quos equidem non contemno, sed hactenus utiles credo, ne quid per eos iudici sit ignotum, atque (ut dicam quod sentio) dignos a quibus causam diserti docerentur: qui vero iudicem rapere et in quem vellet habitum animi posset perducere, quo dicente flendum [gaudendum] irascendum esset, rarus fuit. atqui hoc est quod dominetur in iudiciis: hic eloquentia regnat. namque argumenta plerumque nascuntur ex causa, et pro meliore parte plura sunt semper, ut qui per haec vicit tantum non defuisse sibi advocatum sciat: ubi vero animis iudicum vis adferenda est et ab ipsa veri contemplatione abducenda mens, ibi proprium oratoris opus est. Hoc non docet litigator, hoc causarum libellis non continetur. probationes enim efficiant sane ut causam nostram meliorem esse iudices putent, adfectus praestant ut etiam velint; sed id quod volunt auf der Bahre –, doch machte jenes vor Blut triefende Gewand den Anblick des Verbrechens so gegenwärtig, dass es den Anschein hatte, Caesar sei nicht getötet worden, sondern werde geradezu in dem Moment getötet«.

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credunt quoque. nam cum irasci favere odisse misereri coeperunt, agi iam rem suam existimant, et, sicut amantes de forma iudicare non possunt quia sensum oculorum praecipit animus, ita omnem veritatis inquirendae rationem iudex omittit occupatus adfectibus: aestu fertur et velut rapido flumini obsequitur. 444

Die vis ruft demnach Affekte hervor, die ihren Urgrund als vera vis im Redner verankert haben und nicht durch Lehre (doctrina) oder Übung (usus) erst erworben werden. Die verstandesgemäße Sprechweise (probationibus utilia) ist demgegenüber zwar erlernbar, entfernt sich durch ihre Verortung in der numinosen Geistessphäre aber allzu sehr von den Gefühlsregungen. Ein weiteres Mal scheint die Distanzierung von der Betrachtung des Wahren, der veri contemplatio, auf. Das probare, ein typischer Geistesakt der oberen Seelenregionen, kann überhaupt nur in ironischer Brechung (sane) als ein vorzüglicher Akt der Gerichtsrede gepriesen werden. In der polemischen Gegenüberstellung 444 Quint., inst., 6, 2, 2–6: »Denn es gibt ja durch den gesamten Prozess hindurch, wie ich gesagt habe, Raum für Gefühlsregungen, und deren Wesen ist nicht einfach und nicht im Vorbeigehen zu behandeln, da ja die Redekraft nichts Größeres bewirken kann. Denn die übrigen Dinge könnte vielleicht auch ein schwächlicher [sc. Mensch] von geringer geistiger Anlage hervorbringen und zu einem gewissen Erfolg bringen – wenn ihm bloß Lehre oder Übung zustatten gekommen sind. Gewiss gibt es und gab es zu allen Zeiten nicht gerade wenige, die sich darauf verstanden herauszufinden, welche Dinge für Beweisgänge nützlich sind. Diese will ich auch gar nicht geringschätzen, sondern halte sie insofern für nützlich, als durch sie dem Richter nichts unbekannt bleibt, und – um zu sagen, was ich darüber denke – für wert, dass die Beredten von ihnen in einem Prozess unterrichtet werden. Derjenige jedoch, der einen Richter an sich reißen und in jeden beliebigen Gemütszustand versetzen kann, so dass dieser durch sein Reden weinen, frohlocken oder erzürnen muss, ist eine Seltenheit gewesen. Und doch ist es gerade dies, was in den Gerichten vorherrschen muss. Diese Dinge beherrscht die Beredsamkeit. Denn die Beweisgründe erwachsen häufig aus dem Fall, und für die rechthabende Partei sind sie immer in größerer Zahl vorhanden, so dass derjenige, der durch sie zum Sieg gelangt ist, lediglich weiß, dass ihm kein Anwalt gefehlt hat. Wo es aber gilt, auf die Gemüter der Richter Kraft anzuwenden und deren Geist von der Betrachtung des Wahren abzubringen, da liegt die eigentümliche Aufgabe des Redners. Dies lehrt keine Prozesspartei, dies ist nicht in den Prozessakten enthalten. Denn freilich bewirken die Beweisgänge, dass die Richter glauben, unsere Sache sei die bessere, die Gefühlsregungen leisten, dass sie das auch wollen; dasjenige indes, was sie wollen, glauben sie auch. Wenn sie nämlich begonnen haben zu zürnen, zu begünstigen, zu hassen oder Mitleid zu empfinden, meinen sie bereits, es ginge um ihre eigene Sache, und so wie Verliebte über Schönheit nicht urteilen können, da das Gefühl die Wahrnehmung der Augen vorwegnimmt, verliert der Richter jeglichen Sinn für die Wahrheitsfindung, da er von Gefühlsregungen eingenommen ist: Von Hitze wird er ergriffen und er folgt ihr wie einem reißenden Strom«. Konjiziert wird mit Radermacher gaudendum zum syllabisch aufsteigenden Trikolon flendum gaudendum irascendum. Sie bilden die drei Hauptaffekte der antiken Psychologie ab; vgl. hierzu auch das von Radermacher angeführte Laus Pisonis (entstanden im 1. Jahrhundert), wo es heißt: »flet si flere iubes, gaudet gaudere coactus et te dante capit iudex, quam non habet, iram.« (Laus Pis., 47 f.). Die Konjektur gaudendum ist zugegebenermaßen zu den gewagteren Zusätzen in der Textbehandlung Radermachers zu zählen. So verzichtet beispielsweise Rahn (1972), 698 – der sich ansonsten eng an der Edition Radermachers orientiert – auf sie, erwähnt aber ebenfalls die Referenzstelle in der Laus Pisonis.

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der veritatis inquirendae ratio mit der Zuschreibung occupatus adfectionibus werden zugleich die Seelenregionen (ratio und adfectu¯ s) aufgerufen, die im Widerstreit stehen; mit dem Suchen (inquirere) und dem Vereinnahmen (occupare) sind außerdem die ihnen zukommenden typischen Tätigkeiten benannt. Die daran anschließenden Ausführungen zu den Gefühlsregungen werden von den Kategorien des πάθος (adfectus) und des ἦθος (mos) bestimmt, die in ein wechselseitiges Wirkverhältnis gesetzt werden. 445 Die Rolle der Redekraft liegt nun darin, den bestehenden Gemütszustand durch Antreibung zu Affekten noch zu übersteigern – selbst für den Fall, dass diese noch einen negativ besetzten Urgrund (also einen Grund, der an sich Missfallen erregt) in den res aufweisen: namque in hoc eloquentiae vis est, ut iudicem non in id tantum compellat in quod ipsa rei natura ducetur, sed aut qui non est aut maiorem quam est faciat adfectum. haec est illa quae δείνωσις vocatur, rebus indignis asperis invidiosis addens vim oratio, qua virtute praeter alias plurimum Demosthenes valuit. 446

Vorausgesetzt, dass die Bildungsideale immer auch einer Form von Sachlichkeit und Angemessenheit im Sinne eines rebus decorum entsprechen sollen, stellt sich spätestens an dieser Stelle eine Überraschung ein: Die Trope der ›Übertreibung‹ kann eigentlich als ein Stilmittel der Verunsachlichung gelten, 447 das sich in etymologischer Hinsicht geradezu als eine ›Verschreck-lichung‹ (δείνωσις) 448 auffassen lässt: Dinge werden nicht nur größer, sondern auch schlimmer gemacht, als sie eigentlich sind, und bringen dem Rezipienten gerade dadurch Furcht bei. Die Intensivierung des Gemütszustands des Gegenübers weist sich hier also als eine ganz entscheidende Tugend des Redners aus; sie stellt, mehr noch, geradezu einen Vorzug im Bereich der bewussten Manipulation dar. Im Folgenden wird nun begründet, warum eine solche bewegende Kraft zunächst im Redner selbst liegen müsse, bevor er andere bewegt. Hierzu ist es nicht nur erlaubt, sondern gar geboten, sich zunächst auch selbst in Aufruhr zu versetzen: Vgl. Quint., inst., 6, 2, 12. Ebd., 6, 2, 24: »Denn hierin besteht die Kraft der Beredsamkeit, den Richter nicht nur dahin zu treiben, wohin er von der Natur der Sache ohnehin geführt wird, sondern eine Gefühlsregung zu bewirken, die entweder noch nicht da ist oder größer als die bestehende ist. Dies ist jene Redeform, die deíno¯ sis genannt wird, die den unwürdigen, misslichen, Unmut erregenden Dingen Kraft verleiht. In dieser Tugend war Demosthenes neben seinen sonstigen [sc. Tugenden] besonders stark«. 447 Vgl. zur rhetorikgeschichtlichen Entwicklung der Hyperbel von Aristoteles bis zu Quintilian Delarue (2014). 448 Als Nominalderivat zu δεινόω; vgl. Liddell / Scott (91982), s. v. »δεινόω«, 375: »make terrible: exaggerate« sowie ebd., s. v. »δείνωσις«, 375: »exaggeration or exacerbation«. 445

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summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi. nam et luctus et irae et indignationis aliquando etiam ridicula fuerit imitatio, si verba vultumque tantum, non etiam animum accommodarimus. quid enim aliud est causae ut lugentes utique in recenti dolore disertissime quaedam exclamare videantur, et ira nonnumquam indoctis quoque eloquentiam faciat, quam quod illis inest vis mentis et veritas ipsa morum? 449

Der Beginn der Affekte liegt hier ein weiteres Mal im Redner selbst, der sich medial zu seinen eigenen Emotionen verhält (moveamur ipsi) – ein Anspruch, der gegenüber der epistemischen Einbettung der vires bei Cicero noch deutlich stärker auf die Affekte als solche abzielt. Das aus Horaz' Ars poetica bekannte Diktum, dass die Selbstbewegung des Gemüts der Fremdbewegung vorauszugehen habe, 450 scheint hier in neuer rhetorischer Gültigkeit auf. Von einem vir bonus, der sich der temperantia verschreibt, bleibt somit nicht mehr viel übrig. Darüber hinaus kommt in dieser Passage eine weitere Position zum Ausdruck, die Cicero so gewiss nicht mitgegangen wäre: Die vis mentis kann prinzipiell jedem zukommen, auch dem Ungebildeten. Kräfte werden dadurch gleichmäßiger und fast willkürlich einer weitaus größeren Menge an Menschen zugestanden. Wenn aus dem Redner der ehrliche Zorn spreche, so sei dies gar als charakterliche Aufrichtigkeit (veritas morum) zu werten. Zudem erhält auch die Wirklichkeit, die Situation, in der eine Rede stattfindet, 451 in solcherlei Hinsicht eine neue Bewertung. Denn selbst in den Umständen und Gelegenheiten einer Redesituation liege eine Art von Kraft, derer sich die mit den artes unvertrauten Gemüter bedienen könnten. Dabei handle es sich um »eine so gewaltige Kraft, dass mit ihrer Hilfe [sc. der Gelegenheit] oft nicht nur ungebildete, sondern sogar ungehobelte [sc. Menschen] witzig sprechen«. 452 Im Umkehrschluss könnte sich also prinzipiell selbst der ungebildetste Mensch mit Demosthenes messen, indem er von Begleitumständen profitiert. Die Kraft Quint., inst., 6, 2, 26: »Die Hauptsache nämlich – soweit ich zumindest meine – im Bereich der Gefühlsregungen liegt darin, dass wir uns selbst aufrühren. Denn eine Nachahmung von Trauer, Wut und Missbilligung könnte zuweilen lächerlich sein, wenn wir bloß Worte und Mimik, nicht aber auch das Gemüt darauf einstellten. Denn was für einen anderen Grund gibt es dafür, dass Trauernde besonders im frischen Schmerz gewisse Dinge am beredtesten auszurufen scheinen und dass der Zorn manchmal auch den Ungebildeten eine Beredsamkeit verschafft, als, dass ihnen eine Geisteskraft und die Aufrichtigkeit ihres Charakters selbst innewohnt?«. 450 Wir hatten dieses in Kapitel II .1 in Form des si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi (Hor., ars, 102 f.) als affektpoetologische Begründungsfigur eingeführt. 451 Zur Bedeutung der äußeren Umstände für die Rede im historischen Kontext der römischen Republik vgl. Steel (2017). 452 Quint., inst., 6, 3, 13: »tanta vis, ut saepe adiuti ea non indocti modo, sed etiam rustici salse dicant«. 449

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muss hier nicht mehr, wie noch bei Cicero, im engsten Verbund mit der durch Bildung und Lebensführung erprobten Tugend stehen, sondern verhilft autark zu rednerischen Fähigkeiten, die sonst vorwiegend den (alt-)römischer Tugenden zugeschlagen wurden. Quintilian betreibt demnach ein sehr viel flexibleres Spiel mit den Größen vita, vis, virtus und ars, als man es bei einem Theoretiker vermuten könnte, der so häufig auf seinen Ciceronianismus reduziert wird.

5.c.β. Autorenkritik

Ganz ähnlich zu Cicero und (Ps.-)Longin ist auch in der Institutio oratoria ein Einschluss der Autorenkritik in die Stillehre zu beobachten. Dabei werden philosophische und psychologische Aspekte zur Begründung von Werturteilen über die jeweiligen Dichter und Redner mit vorgebracht. In dem Zusammenhang erhält auch die vis – in Bezug auf die Redeweise vorzugsweise kombiniert mit sermonis, elocutionis, orandi und dicendi – 453 ihre eigenen herausragenden Vertreter (principes) in der Poesie und Redekunst zugewiesen. Jeder dieser Vertreter verfügt demnach über eine eigene, ihm zukommende Sprachgewalt. Um diese Kräfte zu demonstrieren, werden unter anderem Autorenbeispiele in Form von Dichterkatalogen angeführt. 454 Anschaulich vorgeführt wird die vis elocutionis etwa im zehnten Buch, 455 wo es zunächst – unter Heranziehung einer körperlichen Bildsprache, die von der Kraft der Muskeln und des Blutes geprägt ist – um Archilochos und Pindar geht: summa in hoc vis elocutionis, cum validae tum breves vibrantesque sententiae, plurimum sanguinis atque nervorum, adeo ut videatur quibusdam quod quoquam minor est materiae esse, non ingeni vitium. novem vero lyricorum longe Pindarus princeps spiritus magnificentia, sententiis, figuris, beatissima rerum verborumque copia et velut quodam eloquentiae flumine: propter quae Horatius eum merito nemini credidit imitabilem. 456 453 Die vis persuadendi mag sich hier auch noch einreihen – allerdings mit dem nicht lapidaren Unterschied, dass sie sich nicht auf die Redeweise eines Dichters beziehungsweise Redners reduzieren lässt, sondern auch in der Rede und im Rezipienten ihre Fortsetzung findet. 454 Zum generellen kanonisierenden Anspruch Quintilians vgl. in jüngerer Zeit Stachon (2016). 455 Zu den Dichterkatalogen im zehnten Buch der Institutio vgl. Mérot (2016); eine kommentierte Bibliographie zu diesem für die Geschichte der Rhetorik besonders zentralen Buch bieten Franchet d’Espèrey / Guérin (2016) 456 Quint., inst., 10, 1, 60 f.: »Am größten ist die Kraft der Rede in diesem [sc. Archilochos], seine Sentenzen sind sowohl kräftig, aber auch kurz und schwungvoll, mit einem Übermaß an Blut und Muskelsträngen – so sehr, dass es manchen scheinen könnte, es sei der Fehler des Stoffes und nicht seiner Anlage, dass er überhaupt hinter jemandem zurücksteht. Unter den neun Lyrikern steht indes bei weitem Pindar an erster Stelle durch die Großartigkeit seines Schwungs, durch die Sentenzen,

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Es handelt sich um Vorstellungen von Prägnanz und Bewegung, die in Form des cum validae, tum breves vibrantesque Archilochos' Sentenzen zugeschrieben werden und somit als repräsentative Größen für dessen Kraft in der Redeweise (vis elocutionis) eintreten. Für Pindar kennzeichnend sei indes die Großartigkeit seines Geistes (spiritus magnificentia). Eine solche magnificentia wiederum ist konnotiert mit Pathos und Erhabenheit und lässt die griechische µεγαλοπρέπεια in der Tradition (Ps.-)Longins anklingen. 457 Fülle (copia) und Fluss (flumen) sind indes als Begründungsinstanzen in einem analogen Verhältnis zur eingangs erwähnten Redekraft Archilochos' und deren Explikationen aufzufassen: Die Fülle entspricht dabei der Prägnanz des Redestoffes 458 und der Fluss der Bewegung. Poetik und Rhetorik werden, wie wir es bereits bei (Ps.-)Longin beobachtet haben, durch eine solche Bildanalogie noch weiter einander angenähert. In jedem Fall ist es bemerkenswert, dass mit Pindar ein ausgewiesener Lyriker in den res und verba sowie in der eloquentia, mithin in der Fügung seiner Wortfiguren (figurae) hervorrage, wodurch er unter den neun kanonischen Lyrikern des griechischen Altertums als princeps zu gelten habe – einem princeps entsprechend, der nicht auf eine einzelne Sprachkunst zu beschränken ist, sondern sich Rhetorik und Poesie gleichermaßen angeeignet hat. Die sich an Pindar manifestierende Kraft ist daher ein beide Disziplinen durchdringendes Element. 459 Dass mit Horaz eine der größten lyrischen Autoritäten nun Pindar für nemini imitabilem hielt – eine Anspielung auf das schon in der Antike weithin prominente horazische carmen 4, 2 –, lässt zwei Interpretationsmöglichkeiten zu: Entweder handelt es sich bei Pindars Eigenschaften um Vorzüge, die gerade aufgrund ihrer Individualität unveräußerlich und von Grund auf unnachahmlich erscheinen müssen; oder es geht um die Kennzeichnung dichterischer Kraft als eine prinzipiell schwerlich erreichbare Disposition. 460 Was in jedem Fall bemerkenswert ist: Es sind Paradigmen aus der klassischen Rhetorik, die in allen behandelten Stellen Quintilians über die die Wortfiguren, die überreiche Menge an Gegenständen und Worten und gleichsam durch einen gewissen Fluss an Beredsamkeit. Aus diesen Gründen hielt ihn Horaz zu Recht für unnachahmbar«. Die Junktur sanguinis atque nervorum lässt Ciceros nervi et aculei anklingen, die wir in Kapitel II.5.b kennengelernt hatten. 457 Diese hat, wenn man etwa Burke, Schiller und Kant in den Blick nimmt, im 18. Jahrhundert einen erheblichen Einfluss auf die Diskussionen über Anmut, Würde und das Kunstschöne im Allgemeinen genommen; vgl. Lyotard (1994), Till (2006a) sowie, als einen der besten jüngeren Beiträge, Doran (2015). 458 Vgl. zu diesem quintilianischen Topos Hinojo Andrés (2015). 459 Das galt im Übrigen, wie in Kapitel II .4.b zu sehen war, auch schon für (Ps.)-Longin. 460 Für einen Vergleich zwischen Horaz’ carmen 4, 2 und Pindars vierter und fünfter Pythischer Ode hinsichtlich des Nachahmungsaspekts vgl. Athanassaki (2016). Bezüglich der Rolle, die Pindar als laudator equorum – sowohl in Hor., carm., 4, 2, 17–20 als auch in Hor., ars, 83–85 – zukommt, vgl. zuletzt Kovacs (2017).

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auf Kraft und Bewegung fußende Bildsprache mit der Poesie, namentlich mit den novem lyricorum, auf eine Ebene gebracht werden. Bei allen Analogien, die zwischen Pindar und Archilochos herrschen, liegt ja dennoch eine Steigerung vor, die keinen Zweifel am ersten Range lässt, der Pindar zukommen müsse. Eine mangelnde vis elocutionis ist demgegenüber nicht nur, aber stets auch ein Zeichen für ein ebenso defizitäres ingenium. Ein weiterer Aspekt ist derjenige des Schwungs (assurgere), der von einem Autor in unterschiedlichem Maße mitgebracht werden könne: raro adsurgit Hesiodus magnaque pars eius in nominibus est occupata, tamen utiles circa praecepta sententiae, levitasque verborum et compositionis probabilis, daturque ei palma in illo medio genere dicendi. contra in Antimacho vis et gravitas et minime vulgare eloquendi genus habet laudem. Sed quamvis ei secundas fere grammaticorum consensus deferat, et adfectibus et iucunditate et dispositione et omnino arte deficitur, ut plane manifesto appareat quanto sit aliud proximum esse, aliud secundum. Panyasin, ex utroque mixtum, putant in eloquendo neutrius aequare virtutes, alterum tamen ab eo materia, alterum disponendi ratione superari. 461

Antimachos' vis und gravitas reichen demzufolge nur für den zweiten Platz; er muss hinter Urgrößen wie Homer, die von wahrer Kraft zeugen, zurücktreten. 462 Dichter können somit von einem Übermaß und einem Mangel an Kraft genauso betroffen sein wie Redner. Die Vergleichsebene findet mit Demosthenes, dem aus Quintilians wie aus Ciceros Sicht unzweifelhaften princeps der Rhetorik ihren Abschluss: quorum longe princeps Demosthenes ac paene lex orandi fuit: tanta vis in eo, tam densa omnia, ita quibusdam nervis intenta sunt, tam nihil otiosum, is dicendi modus, ut nec quod desit in eo nec quod redundet invenias. 463 Quint., inst., 10, 1, 52–54: »Selten schwingt sich Hesiod auf, und ein großer Teil von ihm ist von Namen beschlagnahmt; dennoch sind seine Sentenzen um die Vorschriften herum [sc. gruppiert] nützlich, wie auch die Glätte der Worte und der Zusammenstellung Beifall verdient; ihm wird die Siegespalme in jenem mittleren Redestil verliehen. Demgegenüber werden bei Antimachos Kraft und Gewicht und seine nicht alltägliche Sprache gelobt. Doch obwohl ihm die Grammatiker fast einstimmig an die zweite Stelle setzen, fehlt es ihm an Affekten, Annehmlichkeit, Anordnung und überhaupt an Kunstfertigkeit, so dass es ganz deutlich wird, um wieviel es etwas anderes bedeutet, der nächste oder der zweite zu sein. Über Panyassis, der aus beiden zusammengemischt ist, herrscht die Meinung, dass er im sprachlichen Ausdruck den Kräften keines von beiden gleichkomme, dafür aber den einen in der Stoffwahl und den anderen im Plan der Anordnung [sc. der Stoffe] übertreffe«. 462 Zur Rolle Homers bei Quintilian sowie generell in der römischen Rhetorik vgl. in jüngerer Zeit Mal-Maeder (2015). 463 Quint., inst., 10, 1, 76: »Unter diesen [sc. Rednern] stand bei weitem Demosthenes an erster Stelle und war so ziemlich die Richtschnur des Redens. So groß ist die Kraft in ihm, so dichtgedrängt 461

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Über Ausdrücke wie longe princeps und im parallelen Vergleich angebrachte Zuschreibungen wie vis in hoc (Archilochos) – vis in eo (Demosthenes) sowie nicht zuletzt durch die Beibehaltung der Körpermetaphorik (nervis) werden die rhetorischen Aussagen mit den Aussagen aus der Dichterschau weiterhin auf einer Ebene gehalten. Hier ist es indes die eigene Angespanntheit (intenta), die zur vorzüglichsten Eigenheit Demosthenes' zu zählen sei. Die angeführte Trägheit, die im Kontext der nervis intenta mit Schlaffheit gleichgesetzt werden kann, gilt es hingegen – wie man eben von Demosthenes lernen könne – zu meiden. Es sind daher intensive Kräfte – Kräfte, die von Angespanntheit zeugen und in einem Redner und Dichter vorhanden sind –, die zur Geltung gebracht werden. Schließlich wird im Folgenden als ein weiteres Beispiel für eine nie erlahmende Anspannung Caesar angeführt; und das in geradezu martialisch anmutender Diktion, denn er sei derjenige gewesen, der nachgerade mit derselben Redekraft gegen Cicero angetreten sei, mit der er Krieg führte: C. vero Caesar si foro tantum vacasset, non alius ex nostris contra Ciceronem nominaretur. tanta in eo vis est, id acumen, ea concitatio, ut illum eodem animo dixisse quo bellavit appareat. 464

Hier werden mit vis, acumen, concitatio und animo zwei semantische Ebenen, der Kriegsführung (bellavit) und der Rhetorik (dixisse), übereinander gelegt. Es geht um Caesars Kraft, Schärfe und Leidenschaft, die sein kämpferisches Gemüt ausmachten und sich auch in seinen Reden niederschlugen. 465 Sie werden zudem autodidaktisch begründet: Caesar hat seine rhetorischen Kräfte auf Feldzügen und Schlachtfeldern erlernt, 466 um sie dann auch auf dem Forum zur Anwendung zu bringen. Er brauchte für seine eigene Kraft keine fremde alle Dinge, so angespannt vor Muskelsträngen, so frei von Muße, sein Redemaß ist von der Art, dass man darin nichts finden könnte, was fehlen, noch etwas, was überflüssig sein könnte«. 464 Ebd., 10, 1, 114: »Hätte sich aber Gaius Caesar nur für das Forum freigehalten, so würde kein anderer aus unseren Reihen gegen Cicero namhaft gemacht. So groß ist die Kraft in ihm; seine Schärfe, seine Leidenschaftlichkeit ist von der Art, dass er offenkundig mit derselben Energie gesprochen hat, mit der er Krieg führte«. Rahns Übersetzungsvorschlag »die Kraft, die er besitzt« (Rahn [1975c], 479) scheint sich stark an einer besitzanzeigenden Sinnrichtung zu orientieren. Im präpositionalen Ausdruck in eo liegt jedoch – mehr noch als ein possessives – ein endogenes Moment begründet, also eine Eigenschaft, die nicht auf oberflächliche Effekte abzielt, sondern in Caesar selbst zur vollen Ausprägung gelangt ist. 465 Die concitatio meint dabei nicht nur das Anstacheln der Soldaten (oder allgemeiner der Zuhörer), sondern auch die intrinsische Fähigkeit, sich selbst in Bewegung zu versetzen; vgl. Georges (81998), s. v. »concitatio«, 349: »das Sich-in-Bewegung-Setzen«. 466 So machen nicht ohne Grund Passagen direkter Rede – bevorzugt an die eigenen Soldaten oder an die feindlichen Fürsten gerichtet – beträchtliche Teile sowohl des Bellum Gallicum wie auch des Bellum civile aus. Der Aufenthalt auf dem Forum, mithin die Abwendung vom Kriegsgeschehen, wird demgegenüber mit freier Zeit (vacare) gleichgesetzt.

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Lehre. Es wird nahegelegt, dass allein durch den Aufenthalt auf dem Forum der Erwerb solcher Kompetenzen nicht möglich gewesen wäre; vielmehr ist es die militärische Laufbahn, die Caesars Leben auszeichnet; die Ergebenheit seiner Soldaten seit dem Gallien-Feldzug ist bereits in der Antike fast sprichwörtlich zu nennen. Krieg bedeutet aber unvermeidbar Kampf, Kampf wiederum Wetteifer. Gerade dieser Umstand lässt Caesar nun als einen den wirkungsvollen Redner erscheinen, der er sei, und weist ihn darüber hinaus dem für Quintilian wichtigsten rhetorischen Wirkbereich, dem forensisch-agonalen, zu. 467 Die tatkräftige Erprobung Caesars in der Kriegsführung lässt, daran besteht nach Quintilians Einlassungen kein Zweifel, auch dessen vorzüglichste Eigenschaften aufscheinen, seinen explizit genannten animus, aber dann auch seine virtus und sein ingenium. Und damit befinden wir uns wieder in den durch Cicero abgesteckten Feldern der rhetorischen Vermögens- und Nachahmungslehre. Wo aber bei Cicero die Tugend und die Bildungsfähigkeit des Menschen absolute Größen darstellten, sind sie bei Quintilian mit in das Spiel der rednerischen Kräfte einbezogen.

5.d. Résumé zum rhetorischen Kraftbegriff

Bei Cicero wird das Ideal des orator perfectus philosophisch begründet und praxeologisch greifbar gemacht. In seiner Theorie ist ein rhetorisches Kraftkonzept integriert, das begrifflich anders gewichtet wird als bei Quintilian – auch wenn Cicero natürlich ein zentraler Referenzautor für letzteren bleibt. Cicero macht seinen Kraftbegriff vor allem im Spannungsfeld von klassischer Dreistillehre, dem oratio/vita-Korrelat und den Redeaufgaben (officia) geltend. Einen geeigneten Punkt, um die Gemeinsamkeiten zwischen Cicero und Quintilian zusammenzufassen, stellt der Nexus zwischen der Lebensweise einer in den Sprachkünsten versierten Person und den in ihr liegenden Kräften dar. Dass das Vermögen eines Redners grundsätzlich in Einheit zu sehen ist, ist Resultat der oratio/vita-Analogie. Dass es aber zudem als in sich unterschiedene Einheit zu sehen ist, ist ein zweifaches Resultat der antiken Tugendlehre und der Wirkziele, die ein Redner zu erreichen sucht. Wir trafen auf der einen Seite eine Vielzahl ethologischer Einstellungen an, die als die vorzüglichsten Eine weitere Reflexionsfigur für die scheinbar so militärische Sprechweise Caesars findet sich bei Plut., Caes., 3, wo Plutarch auf Caesars Entschuldigung in den Anticatones verweist, nach der er um Nachsicht für seine wohl allzu zackige Rhetorik bittet. Sie lasse sich nämlich eben aus seinem militärischem Engagement erklären. Er selbst sieht sich dort eher als Soldat denn als klassisch geschulten Redner. Klar wird dadurch auch: Nicht jeder Lebensbereich ist für jeden Aspekt der Redekunst selbst zuträglich, das Forum nicht dasselbe wie das Schlachtfeld. 467

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Eigenschaften eines vir bonus zu verstehen sind – die Selbstbeherrschung (temperantia), die Klugheit (prudentia), die Weisheit (sapientia), schließlich die Tugend (virtus) als das wohl richtungsweisendste Paradigma. Sie alle sind Voraussetzungen einer politischen Laufbahn sowie einer fruchtbringenden Rolle in der Gesellschaft. Bei Cato fanden wir dies als die konservative Sittenstrenge, bei Cicero als die Hingabe an das Gemeinwesen und bei Caesar als die militärische Aktivität bis hin zur Verklärung ausgeführt. In solchen Charakterisierungen erschöpft sich jedoch nicht die Fähigkeit des orator perfectus. Vielmehr schlägt sich die Differenzierung nach inneren Vermögen auch in der Wirksamkeit bei der Ausübung rhetorischer Kräfte nieder. Die (ps.-)longinische Zuschreibung des »ἄλλοτ᾽ ἀλλοίως ἐν αὐτῷ« an Cicero war hierfür nur das auffälligste Beispiel. Der Möglichkeit, einzelne Teile der Seele zu beeinflussen (animorum partes pellere), entspricht die Versiertheit in den unterschiedlichen genera; vis dicendi und genus dicendi stehen daher in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Die vis ist die Bedingung der rednerischen Möglichkeit; das genus ist das Exerzierfeld rednerischer Kräfte, zugleich aber auch Mittel zur Ausprägung der Redekraft. Denn es formuliert die Zielrichtung, auf welche die Redekraft zuzusteuern hat, und macht sie dadurch nicht blind. Die maxima vis ist in diesem Spiel zuvorderst an das genus iudicale gebunden. Die Entfaltung einer rednerischen Kraft wird bestimmt durch die Erfordernisse der genera sowie durch deren energetische Funktionen. Die Intensivierung von Affekten bei den Zuhörern hängt jedoch entscheidend davon ab, dass der Redner sich aller prinzipiell erschließbaren Wirkbereiche bemächtigt und dadurch seinen eigenen Seelenapparat der Unterschiedlichkeit der Wirkziele entsprechend einrichtet. Bei Quintilian findet neben dem Ideal des vir bonus besonders der Redner in actu Berücksichtigung, der zudem höchst variabel vorgeführt wird: Er macht von Antrieb (impetus) und Übertreibung (δείνωσις) Gebrauch, er bemächtigt sich seiner Zuhörer (occupare), er zieht sie an sich (attrahere), er stößt sie an (pellere), er beugt ihre Gemüter (flectere), er zieht gar Nutzen aus den Begleitumständen seiner Rede, also aus Akzidenzien. Zentral für Quintilians Bestimmung des Wesens sowie des Ziels der Rhetorik ist die vis persuadendi, die Kraft zu überreden, wobei eine auf die Affekte des Publikums ausgerichtete Redeweise die größte Kraft besitzt. Der moralisch spannungsreiche Kontrast zwischen affektiver Wirkintensität und Wahrheitsvermittlung wird zugunsten der Einübung einer Redepraxis überwunden, insofern die affekterregende, kraftvolle Rede den Wahrheitssinn des Publikums auszusetzen vermag; vice versa vermag eine allzu sehr auf Wahrheit und logische Schlüsse abzielende die Gemüter abzukühlen, da dadurch die oberen, mit dem abstrakten Denkvermögen konnotierten Seelenregionen adressiert werden.

Komplexe Vermögensbegriffe

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Die Reibungsfläche gegenüber dem homo doctus scheint auf den ersten Blick enorm. Denn er strukturiert sein Wissen über die Welt, indem die Wissenssysteme der Freien Künste in ihm und durch ihn zu einer einheitlichen und doch unverwechselbar individuellen Gestalt gebracht werden. Die widerstreitenden Seelenkräfte werden im Zuge dessen unter Kontrolle gebracht und gehen – so zumindest das proklamierte Ideal – in einer vorbildlichen, nachahmenswerten Art der Lebensführung auf. Der sachliche Hintergrund hierfür ist einerseits in einem umfassenden Bildungsprogramm, zum anderen aber auch in der Naturanlage des Menschen selber zu sehen. Festzumachen ist das nicht allein an Beobachtungen wie derjenigen, dass Horaz die Nachahmung der virtus des Cato nur in der richtig verstandenen Nachahmung von dessen ingenium bestehen könne; 468 hinzu kommt, dass Cato mehr als andere seiner Zeitgenossen von diesem ingenium Gebrauch gemacht hat, es nach außen hin sichtbar gemacht hat. Demgegenüber steht nun die Engführung der maxima vis mit dem genus iudicale. Sie scheint auf den ersten Blick eine völlige Fokussierung auf die Affektenlehre zu bedeuten. Denn alles, was mit dynamischen Größen wie Spannkraft, Bewegung, Überwältigung etc. zu tun hat, wird bevorzugt mit diesem genus in Verbindung gesetzt. Aber genau dies, die einseitige Hinwendung zu den Affekten, wird dann doch von Cicero und Quintilian auf elegante Weise vermieden, und zwar durch die Verschaltung der rednerischen Kraft mit epistemologischen Größen – in den vorangehenden Kapiteln wurde sie als das vis/scientia-Korrelat bezeichnet. Fest verbunden mit der Lebensweise nämlich ist das Wissen um die entsprechenden Redeinhalte. Und an dem Punkt macht auch die Strukturierung der Rede selbst einen wesentlichen Teil der Redekraft aus. Es zeichnet das Vermögen des orator perfectus aus, dass er prinzipiell alle diese Register beherrscht. Es zeichnet ihn ferner aus, dass er sie aus seinen Wissensbeständen mit Leben füllt. Er ist dann mit vollem Recht kundig darin zu nennen, mit seinen Reden Kraft auszuüben. Gerade in Ciceros Theorie oszilliert der Kraftbegriff zwischen Dreistillehre, dem oratio/vita-Korrelat und den officia oratoris. Der Begriff des homo doctus beinhaltet für sich genommen zunächst keine Bindung an bestimmte Stil- und Redegattungen; erst als vir peritus dicendi wird es zum Ziel gesetzt, sich mit den jeweiligen Gattungen vertraut zu maAn Stellen wie dieser scheint die Engführung der vis mit der virtus – die sich spätestens im Mittellatein zunehmend synonym auffassen lassen – grundsätzlich angelegt zu sein; vgl. exemplarisch für historische Wörterbücher Diefenbach (1857), s. v. virtus, 622: »krafft, [. . . ] muglichkait der sele, stereke des gemutß« sowie für gegenwärtige Wörterbücher Habel / Gröbel (22008), s. v. »virtus«, 427: »Tugend; Kraft«, wohingegen Georges (81998), s. v. »virtus«, 3514 für das klassische Latein die Bedeutung ›Kraft‹ vor allem in Form eines metaphorischen Gebrauchs, »übertr[agen] v[on] Tieren, ebenso v[on] Sachen«, anführt. 468

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chen. Hierin findet sich die entscheidende Analogie: Setzt man sich den orator perfectus zum Ziel, so entwickelt man sein eigenes ingenium in individueller wie auch überindividueller Weise weiter. Denn die ›Nachahmung‹ der Kräfte des Redevorbilds bedeutet keine Übertragung der selbigen, sondern den Ansporn, dasselbe Wirkvermögen zu erreichen. Das allgemeine Bildungsideal mag mit Mustergültigkeit, mit Vorstellungen von Vor- und Abbild, von Ideal und Wirklichkeit, viel zu tun haben, der rhetorische Lernprozess indes entzieht sich solchen Dualismen und setzt auf die Ausprägung eigener rednerischer Kräfte aufgrund eines rhetorischen Lernprozesses, der zwar individuell ausgeprägt wird, dabei aber nicht allein individuell begründbar erscheint. An dem Punkt nun entfernt sich die imitatio von der Vorstellung einer bloßen Musterhaftigkeit: Selbst unerreichbare, ›unnachahmliche‹ Vorbilder (allen voran Demosthenes) eignen sich zur Nachahmung – so diese denn der Ausprägung der eigenen Kräfte dient. Davon ausgenommen ist jedoch, bei Quintilian, die ›wahre Kraft‹ (vera vis) als endogener, unveräußerbarer Urgrund der rednerischen Anlage. Wie steht es um die Nachahmbarkeit von Affekten? Sie mag zwar auf die Verstärkung von Wirkkräften gerichtet sein, meint jedoch allererst ein inneres Aufwühlen: In Aristoteles' Poetik hatten wir das ›Voraugenstellen‹ der Affekte als ein probates Mittel kennengelernt, um die Poiesis mit Wirkkraft auszufüllen. Bei Quintilian fanden wir eine Aufforderung zur künstlichen Selbstaufruhr, um das Publikum noch besser überzeugen zu können. Die Kraft der Rede ist in der Lage, mit Affekten wie mit der Wahrheit spielerisch umzugehen. Wahrheit existiert demzufolge nicht mehr diskursiv, sondern in der Anlage des Redners. Der Redner gibt dadurch jedoch nicht zwingend einen zweifelhaften Charakter zu erkennen; vielmehr weist seine Versiertheit auch auf seine davorliegende, umfassende Weltaneignung hin. Die Funktionen, die von der Redekraft ausgefüllt werden, sind somit vielseitig, zugleich aber auch auf eine gewisse Vereinheitlichung bedacht. Sie bewegen sich stets im Spannungsfeld von Mensch, Kunst und Natur. Auf einen groben Abriss gebracht, liegen die rednerischen Kräfte (1) im ingenium selbst und der damit in enger Verbindung stehenden virtus (2) in der Fähigkeit (facultas), sich Wissensgegenstände aus den artes liberales anzueignen (3) in der Fähigkeit, die eigene Rede nach Gegenständen (re¯s) und Worten (verba) zu strukturieren (4) in den in der Rede verhandelten Gegenständen selbst (5) in der Kontrolle (moderamen) der eigenen seelischen Begierden (cupiditates animi) (6) in der fremden Seelenrührung (animum/-os pellere, flectere, movere) (7) in den Begleitumständen der Rede

Das Erbe des antiken Essentialismus

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Es treten daher naturalistische, epistemologische, psychologische und akzidentelle Größen Seite an Seite – woraus allerdings nicht folgt, dass sie gleichberechtigt wären (bei Quintilian kann die Kraft der Begleitumstände beispielsweise Defizite hinsichtlich des Bildungsstandes des Redners in den Hintergrund treten lassen). Was bedeutet das für Auffassungen über die römische Rhetorik, nach denen sie eine Wissenschaft darstelle, die letztlich nach Idealen strebe – dass es sich also bei Konzepten wie dem vir bonus, dem vir dicendi peritus und vor allem dem orator perfectus um Idealvorstellungen handle, die nicht unbedingt der Realität entnommen sein müssen? Angesprochen sind hiermit Einschätzungen wie die Peter L. Oesterreichs in der Fundamentalrhetorik: Sowohl die Omnipotenz-Idee (peithous demiourgos) des klassischen Rhetorikidealismus als auch der Autarkiegedanke (vir bonus dicendi peritus) der idealistischen Rhetoriktheorie tendieren geradezu zu einer kunsttheoretischen Aufhebung von Lebensweltsituiertheit durch die Macht totalokkupatorischer Persuasion oder die Isolation durch rhetorische Autonomie. 469

Der von Oesterreich aufgeworfene Totalitätsgedanke erscheint vor dem Hintergrund des Wechselverhältnisses zwischen Kraft und Episteme hinterfragbar, da die Autonomie, die im Reden herrscht, ja gerade darin besteht, Weltwissen im Redner zu bündeln und in individuierter Form wieder zu entäußern. Eine derartige Individuation betrifft die Rednerpersönlichkeit ebenso wie die Wahl des genus dicendi und damit auch die von ihm zu erzielenden Affekte. Die Affekte werden gerade nicht in toto erzeugt, sondern dezidiert zugewiesen, anhand von genera, anhand von konkreten Redesituationen und anhand von Seelenbereichen, auf die mit der Rede kraft ihres affektiven Wirkpotentials abgezielt wird.

6. Das Erbe des antiken Essentialismus

Zieht man in Betracht, wie die antike Philosophie in verbreiteten zeitgenössischen Standardwerken behandelt wird, so scheint die grundsätzliche Überzeugung, Vorstellungen von Essentialität seien mit den Begriffspaaren von Idee und Abbild, von Form und Stoff, von Geist und Materie erschöpfend begründbar, durchaus attraktiv und naheliegend. 470 Immerhin führten schon Hesiods Musen vor allem einen einzigen Umstand rigoros vor Augen: Es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen der Welt der Götter und derjenigen der 469 470

Oesterreich (1990), 92. Vgl. exemplarisch Seidl (32013) und Kunzmann – Burkard – Wiedmann (102002), 28–63.

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Menschen – und damit auch zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit, zwischen Notwendigkeit und Kontingenz, zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Dass die antike Philosophiegeschichte und ihre Rezeption von diesen Konzeptpaaren ganz erheblich geprägt sind, ist unzweifelhaft. Und doch lassen sich, mit Blick auf die im ersten Teil der Studie behandelten Kräfte, bestimmte Positionen unterscheiden, wie mit Essenzen zu verfahren sei. Wir wollen sie, um eine bestimmte Anschaulichkeit zu erzielen, an dieser Stelle zu zwei Positionen vereinfachen: (1) Essenzen werden über Kräfte transportiert. (2) Essenzen sind Kräfte. Den ersten Fall hatten wir bei Hesiod als ein zwischen Literatur und Philosophie oszillierendes Phänomen kennengelernt und in der Vorsokratik weiter prominent vertreten gesehen: Hesiods Musen können uns Wahres berichten, wenn sie wollen; es liegt einzig in ihrer Macht. Die Wahrheit, von der sie dann künden, existiert für sich unabhängig von der kontingenten Wirklichkeit. Gleiches gilt für Parmenides und die bei ihm auftretende Pistis. Sie tritt in unterschiedlichen Stärken vor unser Bewusstsein und zieht dadurch gleichsam die Grenzlinie zwischen wahrem Sein und bloßer Meinung. Ihre vorzüglichste Ausformung ist ihre Erscheinung als ›wahre Pistis‹. Diejenigen Größen, die sich intensivieren lassen (›Überzeugung‹, ›Redekraft‹), beruhen bei Quintilian nicht umsonst auf ›wahren Kräften‹. Ausgerechnet Platon erscheint aber nun in dieser Frage ein wenig zwiegespalten: Eigentlich ist seine Philosophie im höchsten Maße dazu geeignet, Essenzen und Kräfte voneinander zu trennen; denn die platonischen Ideen sind ja unveränderlich, unvergänglich und unbeweglich – allesamt Eigenschaften, die man für Kräfte intuitiv nicht unbedingt veranschlagen möchte. Und doch ist der Fall nicht so eindeutig, wie wir in Kapitel ii.3.b in der Behandlung der Idee des Guten sehen konnten: Sie fiel mit der Kraft der Sonne in eins und wurde dadurch zu ihrem eigenen Ursprung und Vermittler. Anders gewendet, handelt es sich bei der Weitergabe der Essenz in diesem Fall zugleich um die Essenz selbst. Eindeutiger ist der Fall im Ion: Er fällt in die zweite der oben genannten Traditionslinien – in diejenige, in der die Übereinstimmung von Essenz mit Kraft vertreten wird. Ihr prominentester begrifflicher Vertreter ist in der griechischen Philosophie der Enthusiasmos; er entfaltet seinen Reiz gerade dann, wenn er – wie eben in Platons Ion – dialektisch diskutiert wird, wenn seine urwüchsige, auf Natur und Götter zurückgehende Kraft auf epistemische Größen wie die der Erkenntnis und des Weltwissens stößt. Aristoteles wiederum lehnt eine solche Form der dichterischen Kraft ab und greift vielmehr auf die durch die Sophistik zu der Zeit weit verbreitete Vermögenslehre zurück – auf eine τέχνη, die sich

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nach bestimmten Zielen ausrichtet und diese in unterschiedlichem Grade erreichen kann. Wirkintensive Größen wie das παθητικόν, πιθανόν, θαυµαστόν, ἐκπληκτικόν sind mithin als Vermögensweisen der dichterischen Fähigkeiten, zudem der dichterischen Gattungen, einstufbar. Es läge nun sehr nahe, hieraus zu schließen: Die Geschichte der τέχνη scheint in vielerlei Hinsicht eine Geschichte der Vermögenslehre zu sein. Allerdings ist dieses Phänomen nicht eindimensional: Wir sahen bei Aristoteles den Einschluss der Natur in die der τέχνη und damit das Prinzip der Bewegung in voller Gültigkeit einer ἀρχή; ein Einschluss der Natur in den Bereich der Kunst gilt ebenfalls für (Ps.-)Longin, dessen Traktat De sublimitate insgesamt eine weitreichende Übereinstimmung zwischen Essenz und Kraft herstellt. Seine taxonomische Scheidung nach noetischen und pathetischen Gesichtspunkten ergibt sich ja gerade erst nach der Beurteilung des Erhabenen anhand der Kraft, die diesem zukommt. Wir sehen: Es sind nicht nur menschliche Essenzen (etwa die Seele mit ihren Bereichen und Affekten), sondern auch kunsttheoretische Größen sowie solche göttlicher Provenienz, die in einer Kraft aufgehen. Sie beanspruchen für sich, mit ihrer eigenen Essenz zugleich auch Vermittler der selbigen zu sein. Das Entsprechungsverhältnis zwischen Person und Redeweise drückt sich im individuellen Vermögen einer Person aus, dessen energetische Umsetzung in der Redekraft besteht. In diesem Sinn ist es auch keine Nachbildung (assimilatio), sondern eine Aneignung von Kräften zwischen Lehrer und Schüler. Es darf daher zu den größten Einflüssen der Sophistik gezählt werden, die dynamischen Kraftbegriffe zugunsten einer Vermögenslehre zu desavouieren, in der das Gelingen und Misslingen unverbrüchlich im Vordergrund steht. Diese Verlagerung hat den Effekt, den Menschen in gewisser Weise zu einem Herausforderer der Natur zu stilisieren. Die Rhetorik erweist sich hingegen als erfolgreich darin, die Wissensseiten mit einzugliedern, ohne ihre dynamischen Urgründe dafür aufgeben zu müssen. Die Fähigkeiten werden virulent und wertvoll, indem sie sich an Idealen orientieren. Mögen die Ideale selbst auch nie erreicht werden, so sind sie doch bedeutend für die energetische Ausformung auf bestimmte rhetorische Ziele hin. Somit ist auch der orator perfectus keine rein abstrakte Größe, sondern findet sich in bestimmten Rednerindividuen und deren Performanzen immer wieder aufs Neue verwirklicht. Hieraus resultiert ein umfassender Fähigkeitsbegriff, dessen häufigste Chiffre die facultas ist. Sie ist als eine Fähigkeit aufzufassen, die auf einem Vermögen beruht, und kann dementsprechend auch selbst als ›Vermögen‹ bezeichnet werden. An dieser Stelle treten die dynamischen Urgründe hervor, die sich nur scheinbar jeglicher Vernunft und Essenz entziehen. Wichtig erscheint, durchaus in Analogie zu Cicero und in einhelligem Einklang mit Horaz, dass sich die imitatio auctorum auch hier gerade nicht in der Ansetzung abstrakter Muster

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erschöpft. Sie ist vielmehr geprägt von inneren und äußeren Dispositionen. Die forensischen genera erweisen sich dabei als vorzüglich zur Ausprägung der rednerischen vis geeignet. Es ließe sich umgekehrt sagen: Die Forensik ist die vis-Gattung par excellence. Man ahmt die Kraft forensisch nach und entwickelt sie dabei selber. Das bedeutet, dass sich epistemische Größen, wie wir sie im ἀληθές (verum), der σοφία (sapientia) oder der ἐπιστήµη (scientia) repräsentiert fanden, der τέχνη (ars) der µίµησις (imitatio) dem πρέπον (aptum) etc. nicht mehr unbedingt in ein kontradiktorisches Verhältnis zu naturphilosophischen Paradigmen wie δύναµις, ἐνέργεια, κίνησις (vis, facultas, potentia, potestas, ingenium) etc. fassen lassen. Die Konstruktion der Gegensätze findet nicht über eine unterstellte Diskrepanz von Diskurs und Wirklichkeit statt, sondern über die verschiedenen οὐσία-Konzepte selbst. Somit können die intrinsischen Vermögen nach intensiven und extensiven Kräften unterschieden werden. Während der Enthusiasmos als furor poeticus regelrecht im Dichter selbst wütet, so ist das ingenium zwar auch im Dichter selbst vorhanden; es steht aber zudem auch für ein veräußerbares, an der Lebensweise ablesbares Seelenvermögen. Dass die Affektenlehre eine zentrale Rolle für die Bestimmung des Erhabenen spielt, darf zu den wichtigsten ideengeschichtlichen Gemeinplätzen gezählt werden, die aus der Antike überhaupt hervorgegangen sind. 471 Mit der Entkoppelung der Poetik vom Kriterium der Wahrheit durch Aristoteles sowie der Entkoppelung der Redetechnik von der Verpflichtung auf strikt wahrheitsgemäße Propositionen sind es zwei weitreichende Entscheidungen, die eine solche Entwicklung über die Antike hinaus ermöglichen. Betrachten wir die Dicht- und Redekunst nach ihren von den antiken Autoren angenommenen essentiellen Eigenschaften, so entspricht dieser Blick nicht nur dem Blick auf die vom Künstler geschaffenen Werke, sondern auffälligerweise immer wieder dem Blick auf den Aufbau der menschlichen Seele. Und hier finden wir von Beginn an hierarchisierte Ordnungen vor: Bereits die Lehrgedichtstradition setzt die Erkenntnis als streng von den Sinnen geschiedene an. Wir treffen aber beim Blick in die Psyche auch besondere Kräfte, Vermögen und Bewegungen an, niedere und obere Seelenteile, die sich gegenseitig steuern – denken wir an die Auseinandersetzung zwischen Aiax und Odysseus in den Metamorphosen zurück oder an den Seelenwagen im platonischen Phaidros. So wird auch Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Aesthetica (1750/1758) auf Steuerungsmomente in seiner Bestimmung der Erkenntnisvermögen nicht verzichten können:

Die von Schneider (52010), 12–20 aufgeworfenen Gegensatzpaare ›endogen versus extern‹ sowie ›nachahmend versus expressiv‹ erweisen sich spätestens hier als nicht mehr tragfähig. 471

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a) Man benötigt gegenüber den unteren Vermögen eine Herrschaft, keine Gewaltherrschaft. b) Hierhin wird die Ästhetik, sofern dies auf natürliche Weise erzielt werden kann, [sc. uns] gleichsam mit der Hand führen. c) Die Ästhetiker dürfen die unteren Erkenntnisvermögen nicht anregen und stärken, solange sie verdorben sind, sondern müssen sie in eine Richtung bringen, damit sie nicht durch ungeschickte Übung noch mehr verdorben werden und damit nicht unter dem wohlfeilen Vorwand, man müsse sich des Missbrauchs wehren, auch der legitime Gebrauch einer von Gott verliehenen Gabe entwertet wird. 472

Demzufolge wird es noch eine eigene Disziplin, die ars aesthetica sein, der die Leitung der Seele übertragen wird (manu quasi ducet aesthetica). Auch sie bringt eine als Ideal gedachte Chiffre hervor; diese wird nicht im orator perfectus, nicht im vir bonus oder im poeta doctus bestehen; es wird der ästhetische Mensch (homo aestheticus) sein, der aus seiner vermögenden Naturanlage schöpft, um eigene und fremde Wirkungen zu erzielen. Diese werden freilich in einem Maße auf der sinnlichen Bezugsebene festzusetzen sein, wie es in der Antike nur schwer vorstellbar erschien. Vielmehr gilt, dass der Mensch sich als denkendes und sinnliches Wesen begreift, seine Selbsterkenntnis aber in ein enges Verhältnis zu seiner Selbsterfassung setzt. Die Nähe zur körperlichen Welt, zur kontingent wirkenden, sinnlichen Wirklichkeit, muss nicht mehr als Kontrafaktur zur ideellen Seinsschau aufgefasst werden. Quintilian deutete diesen Weg bereits an, indem er die »wahre Kraft« der Wahrheit selbst überordnete. Die weitere Aufwertung der Kraft gelingt mit Blick auf die Frühe Neuzeit auf einem langen Weg, der durch zwei Entwicklungslinien geprägt ist – diejenige der Naturphilosophie und diejenige der Ästhetik. Beide öffnen sich in der Frühen Neuzeit in besonderem Maße der Sinnlichkeit. Eine prinzipielle Absage an Transzendenz und Essenz muss das allerdings nicht bedeuten. Die beiden zentralen Philosophien, denen eine essentialistische Ausrichtung zu attestieren ist, der Platonismus und der Aristotelismus, werden anhand ihrer Rezeptions- und Transformationsgeschichte als zwei wesentliche Faktoren zu berücksichtigen sein, wenn es um die Beschreibung der Entwicklung der Naturphilosophie in der Frühen Neuzeit geht. Intensitätsbegriffe werden, wie etwa anhand der »wahren Überzeugung« bei Parmenides oder der »wahren Kraft« bei Quintilian gesehen, bereits in der Antike durch die Attribuierung von Wahrheit erhöht. Um zu zeigen, dass das Spannungsfeld zwischen Affekt 472 Baumgarten, Aesthetica, prol., § 12: »a) Imperium in facultates inferiores poscitur, non tyrannis. b) Ad hoc, quatenus naturaliter impetrari potest, manu quasi ducet aesthetica. c) Facultates inferiores non, quatenus corruptae sunt, excitandae confirmandaeque sunt aestheticis, sed iisdem dirigendae, ne sinistris exercitiis magis corrumpantur, aut pigro vitandi abusus praetextu tollatur usus concessi divinitus talenti«.

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und Wahrheit auch in der Aufklärungszeit in den von uns betrachteten Perspektiven eine gewichtige Rolle spielt, lohnt es sich, hier etwas vorauszugreifen und Äußerungen von Herder zur Antike in Betracht zu ziehen: Ja, die damalige Art der Weltweisheit, die halb dichterisch und halb vernünftelnd war, die Wahrheiten in Erdichtungen kleidete, und bilderreiche Hypothesen schuf, hatte am wenigsten den Gesichtspunkt, dies zu untersuchen. In diesem Betracht kann ich mir des Platons Gespräch, Jo, das mit so dichterischem Enthusiasmus von dem Enthusiasmus der Dichter spricht, erklären, ohne nach dem alten Sprüchwort der Wahrheit, oder dem Plato unrecht zu thun, weil er nicht minder wollte, als den Ursprung und das Genie des Dichters erklären. Aristoteles war der erste, der in seiner Poetik ganz und gar die dichterischen Gottheiten entfernte, was das Wesen und den Ursprung jeder Dichtart anbetrifft: und in den spätern Zeiten hat man diese Sprache entweder blos den Dichtern überlassen, oder die poetische Begeisterung mit uneigentlichen Ausdrücken bezeichnen wollen: ich nehme bei der Wiedererweckung der Wissenschaften einige Anbeter des Homers, oder noch heute etwa solche aus, die in mehr als dichterischer Verzückung sich von einem Gott ergriffen glauben, weil oft Dichter und Rasende mit brüderlich verschlungenen Händen gehen. 473

An dieser Stelle ist noch nicht zu beantworten, ob Herder eine schiere Aufrechterhaltung des aristotelischen Dichtungsverständnisses vorschwebt, im Sinne eines Konservierens einer in der Antike einst originell zu nennenden Geisteshaltung. Was sich aber bereits erhellt, ist das Bestreben, das Wesen der Dichtkunst ohne Gottheiten zu denken. Ebenso zeigt sich das Bewusstsein, dass es neue Antworten auf die alten Fragen der Antike geben muss. Eine solche Antwort hat die Frühe Neuzeit gegeben; sie tat dies in Form der Naturphilosophie und Ästhetik, eingebettet in das große Bezugssystem der Mechanik.

473

Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 101.

III. Antikenrezeption in der Naturphilosophie um 1700

1. Die Entwicklung der neuen Naturen: Descartes, Newton und Leibniz 1.a. Der frühneuzeitliche Naturbegriff

Bei aller Zurückhaltung, die bei der Klassifizierung von Epochen angebracht ist, erscheint es nicht zu hoch gegriffen, bezüglich des 17. Jahrhunderts von einem Zeitalter naturphilosophischer Revolutionen zu sprechen. Eine solche Einordnung hängt zunächst mit den weithin bekannten technischen Innovationen und Progressionen zusammen, die in dieses Jahrhundert fallen. Sie sind bereits ihrer schieren Häufigkeit nach signifikant und lassen sich durchgängig in so unterschiedlichen Fachwissenschaften wie der Astronomie, der Medizin und der Physik ausmachen: Vehement debattiert wird in dieser Zeit über Probleme wie das des absoluten Raums oder das der Thermodynamik; Mikro- und Teleskop werden erfunden, effiziente Möglichkeiten zur Erzeugung von Vakuen ebenso entwickelt wie die dampfbetriebene Hydraulik; der Magnetismus erhält mit William Gilberts De Magnete Magnetisque corporibus et de Magno Magnete Tellure (1600) sein erstes Standardwerk; die elliptischen Bahnen der Planetenbewegungen werden bis zum Saturn hin berechnet und der Blutkreislauf medizinisch nachgewiesen. Die Vorstellungen, die man sich bis dahin vom Mikro- und Makrokosmos zu machen bereit war, werden auf ein grundlegend neues und möglichst vereinheitlichtes Naturverständnis hin entwickelt. 1 Es zeigt sich gleichermaßen geprägt von der technischen Freisetzung neuer Erkenntnismöglichkeiten und den daraus hervorgehenden Theoriegebäuden. In diesem Zusammenhang stellt – neben der genannten Erfindung, Weiterentwicklung und Bereitstellung neuer Gerätschaften – vor allem die transdisziplinäre Aufwertung der bis dahin wenig privilegierten Mechanik einen bemerkenswerten Schritt dar. Gerade in den Gelehrtendiskursen werden ihr ein erhöhtes Erklärungspotential und eine neue Dignität zugeKonzise hierzu Gaukroger (2016), 71: »It had been the defining assumption of mechanism that, to account for the behaviour of macroscopic bodies, all one ultimately needed to understand was the behaviour of the microscopic corpuscles of which they were composed. Everything that occurred at the macroscopic level was simply an effect of activity at the microscopic level, and this microscopic activity was characterizable wholly in terms of mechanical interactions between corpuscles of matter differentiated only by their position, shape, size, speed, and direction of motion«. 1

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sprochen – wohl auch nicht zuletzt, weil eben diese sozialen Milieus von den technischen Errungenschaften in erster Linie profitieren konnten. 2 Es lässt sich sagen, dass die Mechanik nunmehr vollends als Wissenschaft sui generis wahrgenommen wird und dementsprechend Versuche unternommen werden, sie in ihrem Stellenwert mit der über den Platonismus und den Aristotelismus traditionell hochangesehenen Metaphysik auf Augenhöhe zu bringen. Eine derartige Sublimierung ist nun nicht ohne eine gleichzeitige Revitalisierung des Naturbegriffs zu denken. Das gilt umso mehr, da es zu den Hauptaufgaben der mechanischen Gerätschaften zählt, einen besseren Einblick in die Natur zu ermöglichen (re¯s inspicere), bisweilen gar die Kontrolle über die Natur zu erlangen (naturam regere). Tatsächlich entwickeln sich natura und φύσις (physis) in den frühneuzeitlichen Wissenschaftsdiskursen zu den dominanten Chiffren, anhand derer über die Existenz verschiedener Arten von Kräften sowie über deren Begründungsverhältnisse zueinander diskutiert wird – selbst wenn ihnen, wie im Falle der maschinellen Kräfte (vires machinarum), nicht einmal so etwas wie ›Natürlichkeit‹ auf begrifflicher Ebene unterstellt wird. Hieraus ergibt sich als eines der bedeutendsten Charakteristiken frühneuzeitlichen Denkens, dass Naturwissenschaft 3 und Philosophie in bis dahin nicht gekannter Weise miteinander verknüpft werden. Zu den einflussreichsten Weltanschauungen können dabei der ontologische Dualismus eines Descartes, der Holismus eines Leibniz sowie das von Newton entwickelte – und bis heute ›klassisch‹ genannte – System der Mechanik gezählt werden. In diesem historischen Rahmen lassen sich Erscheinungen wie der Okkasionalismus eines Malebranche, der Atomismus eines Gassendi sowie nicht zuletzt Die Erfindung des Teleskops stellt einen technikgeschichtlichen Entwicklungsschritt dar, der in den akademischen und aristokratischen Milieus rasche Anerkennung und Verbreitung findet; vgl. Helden (1974), Weigl (1990), 25–52 und Vermij (2010). Ebenso löst das Mikroskop, bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts von Hooke und van Leuwenhoek in den Niederlanden erfunden und im 17. Jahrhundert dann immer weiter verbreitet, eine nachhaltige Euphoriewelle aus; vgl. für einen geschichtlichen Abriss der optischen Medien Hick (1999); zur sozialen und öffentlichen Rolle der Mechanik, die insbesondere durch ihre Verschränkung von Technologie und Naturphilosophie spätestens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine große Faszination ausübt und etwa in England zum Phänomen der public science führt, vgl. ausführlich Stewart (1992). 3 Mit ›Naturwissenschaft‹ sind hier nicht die modernen Auffassungen gemeint, sondern eine Betrachtung der Natur im Sinne einer Beschäftigung mit den Phänomenen einer als kontingent, wechselhaft und unvollkommen aufgefassten Wirklichkeit, die sich zunächst in einer gewissen Unverträglichkeit zu den auf unabänderliche Wahrheiten abzielenden Philosophenschulen wähnen muss – und die dennoch ihren Stellenwert als eine philosophia naturalis bis in das 19. Jahrhundert hinein mehr als nur behaupten kann. Zur Genese der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften vgl. die umfassenden und unterschiedlich akzentuierten Darstellungen von Hall (1954) und Boas Hall (1962). 2

Die Entwicklung der neuen Naturen: Descartes, Newton und Leibniz

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der monistische Materialismus, der im Sinne einer prototypischen Ausprägung recht häufig mit Hobbes assoziiert wird – wenn auch Hobbes und seine Rezipienten selbst freilich einen solchen Begriff gemieden hätten –, 4 teils als explizite, teils als indirekte Erwiderungen auf das in der Antike entwickelte und durch Descartes umformatierte Geist / Materie-Problem erklärbar machen. Wie in der Aufklärungsforschung der letzten Jahrzehnte zunehmend offengelegt wurde, stellt eines der wichtigsten Exerzierfelder in dieser philosophiegeschichtlichen Gemengelage die Neubewertung dar, die der Sinnlichkeit zukommt. Nimmt man die jeweiligen philosophischen Schulen hinsichtlich ihres erkenntnistheoretischen Geltungsanspruchs in den Blick, so kündigt sich – nach einem der von Kondylis als grundlegend eingebrachten Befunde – gerade in den so polemischen wie produktiven Auseinandersetzungen mit den Cartesianern eine Rehabilitierung der Sensualität an, die sich an der Vorlage des res extensa/res cogitans-Dualismus geradezu abarbeitet und bis in die Zeit der Debatten zwischen Newton und Leibniz um 1700 als eine Triebfeder für Denkrichtungen mit hochgradig konkurrierenden Axiomatiken erweist. Entgegen dem häufig aufgeworfenen Gemeinplatz, demzufolge die Aufklärung ein Zeitalter darstelle, in dem die Vernunft zu ihrer höchsten und scheinbar alleingültigen Stellung gelange, bildet die Vernunft vielmehr, wie prominent Kondylis und Gaukroger aufgezeigt haben, einen Rahmen, 5 innerhalb dessen sich Sinnlichkeit vollzieht. Um die neuen Bewertungen, die Geist und Materie sowie der Vernunft und den Sinnen zugedacht werden, zu vereinfachen – und damit auch didaktisch leichter applizierbar zu machen –, wird nicht selten eine ideengeschichtliche Trias zwischen einem britischen Empirismus (Locke, Hume), einem französischen Rationalismus (Descartes) und einem deutschen Intellektualismus (Leibniz, Wolff) angesetzt. Diese teils in den Status von ›Nationalphilosophien‹ erhobenen Pauschalzuschreibungen werden dann bisweilen gar bis in das 18. oder 19. Jahrhundert hinein ausgeweitet. 6 Dass derartige Schemata bestenfalls Bis in zeitgenössische Darstellungen hinein wird Hobbes vor allem – und das nicht völlig zu Unrecht – mit einem durch und durch »mechanistische[n] Weltbild« (Maissen [2013], 81) beziehungsweise einem »mechanistische[n] Materialismus« (Schneider [2018], 131) in Verbindung gebracht. 5 Für einen ideengeschichtlichen Überblick, der in einer prägnanten Darstellung von den Cambridge-Platonikern bis zur anatomischen Physiologie eines Denis Diderot reicht, vgl. Kondylis (22002), 191–286. Für eine Skizzierung der Situation im 18. Jahrhundert, die sich vor allem aus der Rezeption der Weltbilder Newtons und Lockes durch die Pariser Gelehrtenzirkel – vor allem in Person von Maupertuis, Montesquieu, Voltaire und Condillac – ergibt, vgl. Gaukroger (2010), 257– 289. Unabhängig von Kondylis’ Präzedenzleistung wird auch bei Gaukroger ein realm of reason angesetzt, um die Voraussetzungen jenes Aufstiegs der Sinnlichkeit hin zu einem der wichtigsten Aufklärungsparadigmen erklärbar zu machen. 6 In unterschiedlichem Ausmaß auch bis in gegenwärtig kursierende Schulbücher hinein; vgl. Heller (1998), Draken / Flohr (2005) oder Wittschier (2008). 4

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Grundtendenzen repräsentieren können und zudem nur begrenzt in der Lage sind, transnationale Dependenzen als historische und damit eben auch bis zu einem gewissen Grade als nicht konzise trennbare zu erfassen, vermittelt bereits ein Blick auf die radikalsten Vertreter des Sensualismus: Sie lassen sich nämlich mit Paul-Henri Thiry d'Holbach, Ètienne Bonnot de Condillac, Julien Offray de la Mettrie und Claude Adrien Helvétius ausgerechnet im scheinbar so rationalistisch geprägten Frankreich ausmachen. 7 Es ist festzuhalten, dass zumindest die Neigung zur Aufwertung der Sensualität als eines zuverlässigen Kognitionsorgans sich allen Divergenzen zum Trotz, die man auch innerhalb der philosophischen Schulen Frankreichs, Deutschland und Englands beobachten kann, mit Hartnäckigkeit verstetigt: Die sinnliche Erfassung der Welt wird im 18. Jahrhundert zu einem mehr als ernstzunehmenden Gegner für diejenigen Erkenntnismethoden, die bis dahin in unverbrüchlicher Weise den vernunftgeleiteten Seelenbereichen (intellectus, ratio, cogitatio) zugeschrieben wurden. Der Optimismus, der in die sinnlichen Erkenntnismöglichkeiten gesetzt wird, geht auffälligerweise mit der Hinwendung zu und Fortentwicklung der physikalischen Welterschließung einher. Eine zwingende wechselseitige Beziehung ist damit freilich noch nicht ausgesagt, geschweige nachgewiesen. Was sich allerdings bereits weit vor dem 18. Jahrhundert ersehen lässt, ist eine Erneuerung des Wissenschaftsverständnisses, prominent verkörpert etwa durch Kopernikus, Galilei und Kepler als Physiker, Kosmologen, Mathematiker und Philosophen in Personalunion. Dieses Verständnis beruht auf der Vernetzung neuer Wissensfelder zwischen den ehemals strenger geschiedenen Gebieten von Philosophie und der Betrachtung inferiorer Naturerscheinungen. 8 Wenn sich die Physik – als dasjenige Beschäftigungsfeld, das sich mit der kontingenten Wirklichkeit auseinandersetzt – nicht mehr auf den Bereich der Kontingenz beschränken muss, sondern sich im Gegenteil mit ubiquitär und ewig gültigen Gesetzen befasst, ja diese aus ihren immer umfassender werdenden Theoriegebäuden geradezu hervorbringt, so leiden die Sinne in ihrer erkenntnistheoretischen Zuordnung hieran zumindest keinen Schaden. Denn sie sind es – und für diese Überzeugung muss man nun nicht unbedingt ein Sensualist sein –, die ja unseren ersten Kontakt zur physikalischen Welt herstellen und diese somit auf eine Weise erfahrbar machen, der unsere vorzügliche AufAls dezidiert auf sensualistische Erkenntnistheorien ausgerichtete Werke seien Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) und D’Holbachs Système de la nature (1770) angeführt. 8 Die Inferiorität ist hierbei auf das Verhältnis zu den unverbrüchlichen Wahrheiten zu beziehen, die sich im Gegensatz zur wahrnehmbaren Wirklichkeit und deren wechselhaften Naturphänomenen befinden. 7

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merksamkeit zukommen sollte. Nicht zuletzt durch ebendiese Tendenz, eine Aufwertung des Erkenntnisbereichs der sinnlich erfassbaren Natur, konnte sich die Ästhetik, die ja ihrem antiken begrifflichen Bestimmungsfeld nach bereits in ihrer Grundbedeutung des ›Wahrnehmens‹ (αἰσθάνεσθαι) dezidiert mit den nicht-intellektualen Bereichen der Seele verhaftet ist, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Disziplin, namentlich zu einer ars aesthetica, hin entwickeln. Im Folgenden soll es indes weniger um einen ideengeschichtlichen Abriss dieser Gretchenfrage in der Erkenntnistheorie gehen; 9 vielmehr soll hier zunächst der Frage nachgegangen werden, was die philosophische Aszendenz der Mechanik zum Naturbegriff produktiv beizutragen hatte; ferner, wie ihr Verhältnis zu den aus der Antike, Scholastik und Renaissance tradierten Disziplinen wie der Geometrie, der Mathematik, der Kosmologie und der Metaphysik einzustufen ist. Dies dient dem Zweck, ein prospektives Verständnis dafür zu schaffen, wie sich ihre essentiellen Paradigmen, allen voran Kraft und Bewegung, zu ernst genommenen Größen der Ästhetik, der literarischen Gattungspoetiken und schließlich auch des Antikenbildes im 18. Jahrhundert entwickeln konnten. Um den weitreichenden Einfluss des sich im 17. Jahrhundert Bahn brechenden mechanistischen Weltbildes anzudeuten, erscheint es sinnvoll, den Blick zunächst nicht so sehr auf die Unterschiede der einzelnen Philosophenschulen als auf deren Gemeinsamkeiten zu richten. Was sich in den Naturdebatten des 17. Jahrhunderts für sämtliche auftretenden Parteien, für Monisten wie für Dualisten, für Materialisten wie für Neoplatoniker, für Sensualisten wie für Rationalisten, in bemerkenswerter Einigkeit konstatieren lässt, besteht – es ließe sich sagen, in Form eines gelegentlich explizierten, gelegentlich auch stillschweigend vorausgesetzten Konsenses – darin, dass man sich von jeglicher Art von Naturfeindlichkeit, die in christlichen Strömungen seit dem Mittelalter in unterschiedlichem Grade noch konserviert wurde, entschieden und nachhaltig verabschiedet. 10 Die Hinwendung Sie wird in Teil IV noch genauer behandelt werden, wenn es um die Etablierung der Ästhetik im Kanon der freien Künste geht. 10 Vgl. Kondylis (22002), 59–80. Kondylis argumentiert überzeugend, dass die im Thomismus konstatierbare Aufwertung der Natur zunächst dem Denkparadigma unterliege, eine Vertiefung in die Natur könne durchaus mit dem Erkennen des göttlichen Wesens einhergehen. In einer derartigen Aufwertung der Naturbetrachtung sei indes noch eine übergeordnete Strategie erkennbar, die darauf abziele, Philosophie und Theologie in ihrem Erkenntnisanspruch möglichst zu assimilieren – ›möglichst‹ meint hier die Einschränkung, dass sich die Glaubensfrage bei Thomas se ipso noch einem rein philosophischen Zugriff entziehen müsse. Die vermeintliche Sublimierung der Natur arbeite bei Thomas also im Grunde noch einer Validierung theologischer Elementarien zu. Gleichwohl zeigt sich anhand dieses in Kondylis’ Darstellung initial gesetzten Paradigmas, dass am Kognitionsvermögen als einem Spezifikum der geistigen Anschauung gegenüber einer als ›natürlich‹ vorgestellten Welt festgehalten wird. Der erkenntnistheoretische Dualismus aus den 9

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zur Natur unter Zuhilfenahme menschlich gefertigter Erkenntnisinstrumente – und gerade nicht durch das kontemplative Betreiben einer Ideenschau – stellt keine Abwendung mehr von einem Gott dar, dessen Wege dem Menschen unergründlich scheinen und im Interesse des Gros christlicher Strömungen durchaus auch weiterhin so scheinen dürften. Vielmehr trifft man nun sehr reduzierte Vorannahmen zu ontologischen Fragen, bedient sich vermehrt induktiver Verfahren, insbesondere der physikalischen Erprobung und des Experiments, und entscheidet erst dann, welche Auffassungen vom Kosmos und der Natur selbst als möglichst angemessene anzunehmen sind. Diese naturphilosophische Methodik stellt bei weitem kein Spezifikum der britischen Philosophie dar, wird aber dort auf besonders einflussreiche Weise entwickelt. Hier ist es vor allem das von Francis Bacon (1561–1626) im Novum Organum (1620) vertretene Wissenschaftsverständnis, das einen europaweiten Erfolg zeitigt. 11 Bacon zufolge stellt die Naturbetrachtung, die sich mithilfe künstlicher Hilfsmittel (instrumentis et auxiliis) vollzieht, in ihrer dezidierten Verbindung mit dem Verstandesapparat, dem verstandesgemäßen (ad intellectum) Auslegen, nicht weniger dar als die sicherste und den neuzeitlichen Erkenntnismöglichkeiten angemessenste Methodik zur Welterschließung: antiken Schulen bleibt bei Thomas also grosso modo bestehen, sei es – je nach argumentativem Kontext – in Form eines platonischen Aristotelismus oder eines aristotelischen Platonismus. Demgegenüber entwerfe Cusanus (1401–1464) ein Bild der Natur, das unter Annahme einer monistisch geprägten Grundstruktur noch versuche, eine gewisse Transzendenz wenigstens rudimentär aufrechtzuerhalten. (vgl. Kondylis’ zuspitzende Paraphrase ebd., 70: »[D]ie Dinge sind ohne Gott nichts, Gott ist aber auch ohne die Dinge.«) Die Synthese hieraus gelinge dann wiederum am wirkungsvollsten in der Renaissance-Philosophie, namentlich bei Marsilio Ficino (1433–1499): Er generiere durch die Schaffung panpsychistischer Strukturen, die sich durchaus auf Cusanus’ monistische Natur berufen konnten, eine Form des Spiritualismus, die sich geradewegs zu einer emphatischen Naturfreundlichkeit aufschwinge. Sie enthalte den Neoplatonismus als ein wesentliches Substrat und präformiere zugleich bereits einen Anti-Aristotelismus, der schließlich bei Bernardino Telesio (1509–1588) und Francesco Patrizi (1529–1597) in recht radikalen Lesarten zum peripatetischen Substanzbegriff aufgehe und dadurch einen neuen Begriff der Naturbetrachtung erfordere. Dieser nun besagt – durchaus in Rekurrenz auf naturphilosophische Theoreme, wie wir sie bereits bei Empedokles vorgefunden haben –, dass der Kosmos von gegensätzlichen Prinzipien (etwa: Wärme und Kälte) konstituiert werde, die von einem dezidiert sinnlichen Standpunkt aus zu erfassen seien. Diese aus der italienischen Naturphilosophie heraus entwickelte Blickrichtung kann nun methodisch wie theoretisch als vorausweisend auf die neuen Formen der Naturbetrachtung im 17. Jahrhundert gelten. 11 Über die Jahrhunderte besehen nahm Bacons Reputation als Philosoph und Wissenschaftler zwar einen durchaus uneinheitlichen Lauf; seine wegweisende Rolle für das 17. Jahrhundert blieb indes praktisch unangetastet und kann kaum hoch genug eingeschätzt werden; vgl. hierzu Urbach / Gibson (21995), XIII–XIV: »After his near deification in the seventeenth century as creator of the new experimental approach to science, he was largely eclipsed in the eighteenth century, scarcely mentioned by the great philosophers of that era; and then the nineteenth century saw an enthusiastic revival of scholarly interest in Bacon«.

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Weder ist eine nackte Hand noch ein sich selbst überlassener Verstand viel wert; durch Werkzeuge und Hilfsmittel wird eine Sache vollendet; ihnen obliegt eine nicht weniger auf den Verstand als auf die Hand gerichtete Aufgabe. Und wie die Werkzeuge der Hand deren Bewegung entweder veranlassen oder lenken, so legen die Werkzeuge des Geistes entweder dem Verstand etwas nahe oder raten davon ab. 12

Die von Bacon angeführte Hand (manus) tritt einerseits synekdochisch für die neuen naturwissenschaftlichen Gerätschaften, für das ›Handwerkszeug‹ ein; zum anderen wird sie auch zur Metapher der Erkenntnisarbeit des Geistes erhoben. Die instrumenta mentis verhalten sich analog zu den instrumenta manus; 13 der Geist bewegt die Hand, wie die Hand das Werkzeug bewegt. Körperliche und geistige Welt arbeiten demnach in einem wechselseitigen Verbund miteinander, um dem Menschen zur Welterschließung zu verhelfen. Die hergebrachte Antithetik von körperlichen und geistigen Fähigkeiten, von Hand (manus) und Verstand (intellectus), wird dementsprechend zugunsten eines höheren Erkenntnisziels überwunden. Intendiert ist ein Zusammenspiel der Kräfte des Geistes mit den Befunden, die aus den mechanisch angebrachten Experimenten selbst resultieren. Dieser als neuer Schulterschluss zwischen den menschlichen Fähigkeiten (foedus facultatum) eingeführte Methodengang wird gegenüber einem bloßen Empirismus, aber auch gegenüber einem dogmatischen Rationalismus abgegrenzt: Diejenigen, welche die Wissenschaften betrieben, waren entweder Empiriker oder Dogmatiker. Die Empiriker tragen, nach Art einer Ameise, nur zusammen und ziehen Nutzen; die Vernünftler schaffen, nach Art der Spinnen, die Netze aus sich selbst; das Verfahren der Biene aber, die den Stoff aus den Blüten des Gartens und Feldes auswählt, ist ein mittleres, aber dennoch behandelt sie ihn mit der ihr zukommenden Fähigkeit heraus und verdaut ihn. Und dem nicht unähnlich ist das wahre Verfahren der Philosophie; es beruht nicht ausschließlich oder überwiegend auf den Kräften des Geistes, auch nimmt es den von der Naturgeschichte und den mechanischen Experimenten dargebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtnis auf, sondern als einen solchen, der im Verstand verändert und verarbeitet worden ist. Daher muss man aus einem engeren

12 Bacon, Novum Organum, lib. I , Aphor. II , 157: »Nec manus nuda nec intellectus sibi permissus multum valet; instrumentis et auxiliis res perficitur; quibus opus est non minus ad intellectum quam ad manum. Atque ut instrumenta manus motum aut cient aut regunt, ita et instrumenta mentis intellectui aut suggerunt aut cavent.« (Hervorhebung in der Übersetzung: D. B.). 13 Vgl. die apò koinoû-Stellung des Genitivattributs manus zu instrumenta und motum.

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und festeren Bündnis (das bisher nicht geschaffen wurde) dieser (das heißt der experimentellen und der rationalen) Fähigkeiten heraus guter Hoffnung sein. 14

Die Beobachtungs- und Geisteskräfte kooperieren hier eng miteinander, um die Wirklichkeit wissenschaftlich zu erschließen; es geht Bacon also nicht um eine plane Bekräftigung der Erfahrungswissenschaften, sondern um eine Erfassung der Natur, die sich auf dasjenige stützt, was zunächst mit den empirischen Möglichkeiten erfasst, dann jedoch im Verstand geändert und verarbeitet wurde (in intellectu mutatam et subactam). Wichtig ist zudem, dass es sich auch bei dieser Geistestätigkeit nicht um ein in sich gekehrtes Räsonieren (contemplatio), sondern um ein aktives, tätiges Verfahren (opificium) handelt. Denn dies weist den Menschen als selbständigen, sich eigens geschaffener Hilfsmittel bedienenden Beobachter und Deuter der ihn umgebenden Welt aus. Eine solche Methodik entfernt sich nun in keiner Weise von der Natur im Sinne einer theoretischen Größe, sondern arbeitet ihr im Gegenteil besonders zu, da sie diese verfahrenstechnisch genauer und in deren Diversität zu erfassen vermag, als es ein Spekulieren über die Wesenheit stiftenden Funktionen könnte. Zwar mag es nicht verwunderlich erscheinen, dass die Rolle, die hier den über mechanische Experimente (experimenta mechanica) validierten Erfahrungen zukommt, Strömungen wie dem Empirismus den Weg bahnen konnte; dennoch geht es Bacon nicht schlicht darum, eine von der Erfahrung ausgehende, aus ihr heraus dann fortschreitende und schließlich im Verstand ankommende Erkenntnismethodik zu entwerfen – wie es sich etwa bei Locke anhand des auf der Sinnes- und Geistesarbeit von sensation und reflection basierenden, stufenweisen Übergangs von den simple ideas zu den complex ideas ausmachen lässt. 15 Vielmehr geht es im Novum Organum darum, ein allgemeines Verständnis zu gewinnen, das eben nicht linear von den Sinnen zum Geist verläuft, sondern eine Rückprojektion der Theorie auf die Tatsachen der wahrnehmbaren Welt ermöglicht. 16 Das Wechselspiel aus Einzelbeobachtungen, den daraus abgeleiEbd., Aphor. XCV, 201: »Qui tractaverunt scientias aut Empirici aut Dogmatici fuerunt. Empirici, formicæ more, congerunt tantum et utuntur; Rationales, aranearum more, telas ex se conficiunt; apis vero ratio media est, quæ materiam ex floribus horti et agri elicit, sed tamen eam propria facultate vertit et digerit. Neque absimile philosophiæ verum opificium est; quod nec mentis viribus tantum aut præcipue nititur, neque ex historia naturali et mechanicis experimentis præbitam materiam, in memoria integram, sed in intellectu mutatam et subactam, reponit. Itaque ex harum facultatum (experimentalis scilicet et rationalis) arctiore et sanctiore fœdere (quod adhuc factum non est) bene sperandum est«. 15 Vgl. Locke, An Essay concerning human understanding, 2, 23, 148–168. 16 Zu dieser wichtigen Differenz zwischen der Philosophie Bacons und derjenigen Lockes vgl. Krohn (1990), XXVI, der zuvorderst darauf hinweist, dass es in Lockes Essay concerning human understanding um eine empiristische Philosophie geht, »nach der die Erkenntnis mit einfachen oder unbezweifelbaren Sinneseindrücken beginnen und von hier aus schrittweise sich zu Begriffen 14

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teten Gesetzen und deren erneuter Anwendung auf die daran anknüpfenden Beobachtungen öffnet den Blick auf die Welt im methodisch umfassendsten, nämlich sich auf Empirie und Verstandestätigkeit kaprizierenden Sinne; mithin folgt daraus eine Generalisierung unseres Wissens über die Natur, das in einer sich fortlaufend differenzierenden und sich zugleich erweiternden Erschließung der Wirklichkeit besteht. 17 Das von Bacon vertretene Wissenschaftsverständnis, von ihm selbst ohne allzu große Bescheidenheit auch als Große Erneuerung (Instauratio magna) bezeichnet, darf in zentralen Punkten tatsächlich als wegweisend für den Fortgang der Naturphilosophie und den mit ihr vernetzten Disziplinen in der Frühen Neuzeit bezeichnet werden. 18 Die Erwartungen an die experimentelle Wissenschaft als Verfahrensweise richten sich auf die Verknüpfung induktiv gewonnener Tatsachen mit dem Abstrahieren, dem Theoretisieren und dem Rückprojizieren dieser Tatsachen. Mit anderen Worten: Es lässt sich vergleichsweise kaum ein Jahrhundert ausmachen, in dem der Untersuchungsgegenstand (natura) so sehr in Übereinstimmung mit, wenn nicht gar in Abhängigkeit größerer Allgemeinheit hocharbeiten müsse«. Auf die Wichtigkeit, die demgegenüber dem Wechselverhältnis von theoretischen Grundsätzen und empirischen Daten im Wissenschaftsverständnis Bacons zukommt, weisen Urbach / Gibson (21995), XXVIII hin: »He [Francis Bacon; D. B.] was right to stress the importance of deep explanations that dealt with underlying physical causes over what he called the ›simple enumeration‹ of surface properties. Bacon was the first to try to explore systematically the different kinds of experimental evidence and to lay down principles to guide the collection of ›histories‹, or observational and experimental data«. 17 Vgl. zu dieser Auffassung vom induktiven Verfahren luzide Krohn (1990), XXIV–XXV : »Während das zentrale Problem der logischen Induktion die Rechtfertigung allgemeiner Sätze aus einzelnen Beobachtungen oder Behauptungen ist, ist das zentrale Problem der induktiven Methode die Entdeckung neuer Tatsachen aus der Aufstellung von theoretischen Sätzen und deren weitere Generalisierung aufgrund neuer Tatsachen, so daß diese Generalisierung wiederum zu neuen Tatsachen führt«. Zu den problemgeschichtlichen Implikationen der Methodik Bacons vgl. Gniffke (1968), Schüling (1969) und Kotarbiñski (1935). 18 Dass sich dieser methodologische Ansatz bis weit in das 18. Jahrhundert, etwa zu Diderots Pensées sur l’interpretation de la nature (1754) durchschlägt, betont Winter (1987), 157: »Ein Schwerpunkt der von Diderot in den Pensées sur l’interpretation de la nature entworfenen Methodologie besteht darin, auf der Basis der Beobachtung der empirischen Realität jeweils provisorische Hypothesen aufzustellen, die Ausgangspunkt neuer wissenschaftlicher Fragestellungen und Forschungsprojekte sein sollen, jedoch immer explizit als approximative, als durch die Forschung wieder zu überschreitende gesetzt werden«. Der Einfluss der Philosophie Bacons auf den französischen Materialismus drückt sich zudem darin aus, dass sich Diderot gemeinsam mit D’Alembert in der Encyclopédie (1751–1780) noch dazu angehalten sieht, dem ›Baconisme‹ ein eigenes, umfangreiches Lemma zuzuweisen. Die Encyclopédie selbst stellt wiederum eines der luzidesten Beispiele für den nachhaltigen Einfluss der im 17. Jahrhundert betriebenen epistemischen Vernetzungen zwischen den metaphysischen und den erfahrungsbasierten Wissenschaften dar. Sie wird, neben Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1694–1697), bis heute mit großem Konsens als das lexikographische Standardwerk der Aufklärungszeit eingestuft.

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von der gewählten Methodik (ratio, via, occasio, methodus) entworfen wird, wie das siebzehnte. 19 Aus dieser Verschwisterung heraus wird auch ein zeitgeschichtliches Phänomen besser verstehbar, das sich mit Blick auf die naturaund φύσις (phýsis)-Konzepte, die wir in Teil ii der Studie kennengelernt hatten, nicht unbedingt von selbst ergibt: Aus den neuen Modi der Naturbetrachtung entsteht auch eine neue Auffassung von der Natur selbst. Der Mensch erkennt die Natur nunmehr anhand mathematisch fundierter Experimente, anhand ihrer distinkten Merkmale, die sich ihm durch einen mikroskopisch verfeinerten, einen teleskopisch erweiterten oder einen experimentell in Szene gesetzten Blick offenbaren; zudem fasst er die Welt als eine nach bestimmten Gesetzen gestaltete Körperwelt auf, die er mithilfe geometrischer Beschreibungsmodelle zu einer abstrakten und mathematisch fundierten Darstellung bringen kann. Aus diesem der Optik, Mathematik, Geometrie und Astronomie profund verhafteten Wissenschaftsverständnis entwickeln sich polyseme Erweiterungen des Naturbegriffs, die derart rasche Verbreitung finden, dass sie im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts zusehends auch in enzyklopädischen Zusammenhängen Explikationen erfahren. Dies lässt sich besonders im Verbund mit ihrer traditionellen begrifflichen Schwester, der ars, bemerken. Beide, ars und natura, werden gerade hinsichtlich ihrer ausladenden Polysemie in einem Zuge erwähnt, wenn man die durchaus exemplarisch zu nennende Einschätzung des Astronomen und Mathematikers Johann Christoph Sturm (1635–1703) besieht, der im Rahmen seiner taxonomischen Grundbetrachtungen zum Verhältnis von Kunst und Natur in De artis et natura sororia cognatione (1686) eine nach wie vor weitverbreitete »Mehrdeutigkeit der Bezeichnungen ›ars‹ und ›natura‹« 20 für die zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurse feststellt. Zu nennen sind hier insbesondere die rein auf physischen Merkmalen beruhende Natur (natura physica), die mathematische Natur (natura mathematica), die schöpferische Natur (natura naturans) oder die Natur in Form der empirisch erfassbaren Welt, wie sie sich als in sich selbst unterschiedene Einheit vor den Menschen tagtäglich ausbreitet (natura naturata). 21 Demnach folgt aus den Diese Gleichrangigkeit betont an prominenter Stelle Johannes Kepler (1571–1630), wenn er direkt zu Beginn seines epochemachenden Werks Astronomia nova (1609), nämlich in der Inhaltsangabe zum 45. Kapitel, davon spricht, was für ihn das Faszinosum an der Astronomie ausmache: »Ja, überhaupt scheinen mir die Wege, auf denen die Menschen zur Erkenntnis der himmlischen Dinge gelangen, kaum weniger bewunderungswürdig als die Natur der himmlischen Dinge selbst.« (Kepler, Astronomia nova, arg. cap. XLV: »Quippe mihi non multo minus admirandæ videntur occasiones, quibus homines in cognationem rerum cœlestium deveniunt; quam ipsa Natura rerum cœlestium«). 20 Sturm, De artis et naturae sororia cognatione, Exercitatio VIII , 373: »vocabulorum artis & naturæ ambiguitas«. 21 Eben diese natura naturata, als Vorstellung einer Allheit der Naturdinge, und die natura naturans, als das Tätigsein durch Gott oder als Gott höchstselbst, prägen ein komplementäres 19

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neuen Betrachtungen der Natur deren vielgliedrige Modifizierung, jedoch – wenigstens in keinem prominenten Fall – deren Desavouierung. Bevor wir zu den Implikationen der neuen Naturen, wie sie hier und im Folgenden genannt werden sollen, 22 kommen werden, ist auf einen Punkt hinzuweisen, der sie überhaupt in der beschriebenen Weise ins Rollen bringen konnte. Als wesentliche Schaltstelle zwischen altem und neuem Naturverständnis ist die Substanzlehre der Cartesianer anzusetzen; denn angeleitet durch die Problemstellungen, die das durch Descartes neu organisierte Verhältnis von Geist und Körper aufgeworfen hat, werden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kontroversen geführt, die in erheblichem Maße von einer Fortschreibung physikalischer Wissenschaft, mechanistischer Kräftelehre sowie einer nach wie vor als ›allgemein‹ (universalis, universa, generalis) aufgefassten Form der Naturphilosophie (philosophia naturalis) geprägt sind. Die Philosophie Descartes' wird um die Mitte des 17. Jahrhunderts gerade dadurch prominent, dass sie die Tradition des dualistischen Denkens mithilfe einer neuen dichotomen Auffassung fortschreibt und zugleich überwindet. In ihrer Hinwendung zur reinen Substanzlehre ruft sie einen merklichen Bruch mit dem seit der Antike kanonisierten und in der Renaissance- und Barockphilosophie höchst virulenten platonischen Dualismus hervor, der sich zwischen der Ideenwelt und der materiellen Welt bewegte. Anhand ihrer prominentesten Paradigmen tritt denn auch die zentrale Bruchstelle des oben benannten Chiasmus mitunter am klarsten vor Augen: Die res extensa kann – bei all ihrer Hinwendung zur Körperwelt – in keinem Fall als Hypostasierung der res cogitans gelten, wie es im Platonismus noch über das Verhältnis zwischen Ideen und Wahrnehmungsgegenständen bisweilen in so topischer wie bildreicher Weise ausgesagt und zudem über die méthe¯xis- und die anámne¯sis-Lehren legitimiert worden Gefüge aus, das in der Lage ist, sich von der antik scholastischen Naturauffassung als Wesentlichkeit (essentia) oder Washeit (quidditas) abzuheben. Denn die Vorstellung von einer naturierenden Natur hängt in entscheidendem Maße von der Grundannahme einer Tätigkeit ab und verlässt dadurch den Bereich statischer metaphysischer Essenzen – die man etwa im platonischen Ideenhimmel in unveränderlicher und unbeweglicher Entrückung verorten würde – in Richtung der physikalischen Wirklichkeit – einer Wirklichkeit wiederum, die man, insofern sie eben Resultat dieser Tätigkeit ist, dann als natura naturata bezeichnen würde; vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen naturans und naturata in der Frühen Neuzeit Leinkauf (2010). 22 Die Rede von ›neuen Naturen‹ unterliegt an dieser Stelle zwangsläufig noch einem heuristischen Gebrauch. Es soll vor allem zunächst die Darstellungsweise erleichtern, indem dasjenige, was in der Frühen Neuzeit unter natura beziehungsweise physis firmiert, auch in seinen strukturellen Diversitäten unter Berücksichtigung seiner historischen Bedingtheit fassbar gemacht wird. Es geht mithin um einen Begriffsbestand, der eine große antike Tradition aufweist und aus dieser Tradition heraus neue philosophische Richtungen entwickelt. Anhand der in den folgenden Teilen der Arbeit zu entwickelnden Fragestellungen wird er je nach philosophiegeschichtlichem Kontext nochmals weiter spezifiziert.

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war. 23 Genau hiervon setzt sich Descartes augenfällig ab: Die Trennung der Substanzen lässt ebenso wenig das Konzept einer Teilhabe zu, wie der Skeptizismus eine Art von transzendentalem und sicherem Wissen über die Welt voraussetzen würde. 24 Auffassungen, welche die Ontologie Descartes' auch nur annähernd als platonisch oder idealistisch betrachten, müssen daher erratisch erscheinen. 25 Descartes selbst schwebt an keiner Stelle eine Ideenwelt oder auch nur ein priorisch vorgestelltes wahres Sein vor. Der Geist wird von Descartes vielmehr gänzlich anders verstanden, als dies im Platonismus und Neoplatonismus der Fall ist. Sein Hauptanliegen besteht nicht mehr darin, eine vertikale Hierarchie zwischen den oberen und niederen Seelenbereichen zu entfalten, sondern Geist und Körper auf horizontaler Ebene, nämlich anhand zweier nebeneinander existierender Substanzen, disjunktiv zu scheiden. Letztere Substanz wird nun auch als res corporea und damit spezifischer bezeichnet, als es die res extensa ausdrücken könnte. In der Körperlichkeit drückt sich eine Substanz aus, die zur materiellen Bewegung befähigt und befähigt ist. 26 In den Diskussionen, die zwischen den englischen, deutschen, französischen und italienischen Protagonisten geführt werden, erweisen sich nun zuUm nur einige der traditionsreichsten loci classici zu dieser Anteils- und Erinnerungslehre anzuführen, soll der Hinweis auf die drei ontologischen Gleichnisse der Politeia (vgl. Plat., Pol., 6, 508a4–511a2; 7, 514a1–517a7), die Bekräftigung der vorgeburtlichen Existenz der Seele im Phaidon (Plat., Phaid., 91c–92e), Plotins Diskussion des noetischen und des sinnlichen Kosmos in den Enneaden (vgl. Plot., enn., 4, 1) sowie Ficinos ›Gefieder der Seele‹ als willentliche Aszendenz der menschlichen Seele zur göttlichen Ideenwelt hinauf (vgl. Ficino, In Phaedrum, 1363) genügen. 24 Diese Haltung wird etwa im Briefverkehr (1648–1649) zwischen Descartes und Henry More deutlich. More selbst wendet sich in der Folge mehr und mehr von Descartes ab und schließt sich bezeichnenderweise den Cambridge-Platonikern an. 25 Vgl. etwa merkwürdige Äußerungen wie diejenige Cassirers in den Leibniz-Übersetzungen von Buchenau (31966), 82 über einen »cartesischen Idealismus«. Auch Weiß (1992), 1309 spricht davon, man könne »dem ›Idealisten‹ Descartes [. . . ] den ›Materialisten‹ Hobbes [. . . ] entgegenstellen«. 26 Nicht nur an dieser Stelle ist der Einfluss von Robert Boyles (1627–1691) Korpuskulartheorie wahrnehmbar, und zwar nicht so sehr in ihren iatrophysikalischen Spielarten, mit denen sich noch ein Franz Anton Mesmer im 18. Jahrhundert auseinandersetzen wird. Mag Descartes’ rigoroses Festhalten an der Ausdehnung als Kriterium der Körperlichkeit auch dem Anschein nach in eine andere Richtung als eine Theorie von Korpuskeln weisen, so ist dennoch etwa Barkhoff darin zuzustimmen, dass der Cartesianismus auch »auf der Grundlage der auf Boyle zurückgehenden atomistischen Korpuskular-Philosophie [beruht], die die Mechanik der Maschine des Universums auf die ›two grand and most catholick principles of bodies, matter and motion‹ zurückführt und alle Naturphänomene durch die positionelle Verhältnisbestimmung der Korpuskeln zwischen Bewegung und Ruhe erklärt. Entsprechend ist das Weltall für Descartes ein vollständig mit mechanischen Teilen gefüllter Raum, welche sich nach den Gesetzen von Druck und Stoß wechselseitig verdrängen.« (Barkhoff [1995], 32) Anzumerken bleibt noch, dass es sich bei Descartes’ Mechanik nicht um einen epikureistischen, von Kontingenz geprägten Atomismus handelt, sondern – um in Descartes’ Terminologie zu bleiben – um ein nach rationalen Kriterien erfassbares Uhrwerk, das in der ›Naturmaschine des Weltalls‹ (machine d’universe) vorherrsche. 23

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nehmend diejenigen Modelle als erfolgreich, die in der Lage sind, Beschreibungsfiguren aus unterschiedlichen Disziplinen einzugliedern und theoretisch zu vereinheitlichen – bei gleichzeitiger Bewahrung ihres differenzierten Modellcharakters. So stellt es alles andere als eine Kuriosität dar, wenn sich in philosophischen Abhandlungen geometrische Illustrationsarten neben mathematischen Berechnungen sowie kosmologische Modelle neben einer systematischen Paragraphik wiederfinden. Und doch lässt sich zugleich eine gewisse Gegenläufigkeit im Hinblick auf deren Naturverständnisse ausmachen: Denn konträr zu jener geradezu überbordenden Neigung, Naturerkenntnisse in möglichst umfangreichen und zugleich immer weiter ausdifferenzierten Modellen zu erfassen, zeichnet sich – und dies auf axiomatischer Ebene – eine Art reduktionistisches Begehren unter dem Einfluss der immer weiter florierenden Mechanik ab. Dieses Desiderat lässt sich, kurzgefasst, in der Rückführung der Naturphilosophie auf die Grundbegriffe von Kraft und Bewegung ablesen. Sie bilden die wesentlichen mechanischen Tätigkeitsprinzipien. Wo die antike Philosophie von der ontologischen Hauptgröße der Existenz (ὄν, οὐσία) schlechthin ausgeht, die in ihrer physikalischen Präsenz (Aristoteles) beziehungsweise Repräsentation (Platon) dem Prinzip der Veränderung (µεταβολή) unterliegt, und diese Veränderung an die metaphysischen Instanzen der Notwendigkeit (ἀνάγκη) oder der Kontingenz (συµβεβηκός, τύχη, αὐτόµατον) koppelt, verschiebt man im 17. Jahrhundert den Fokus darauf, dass es bereits die mechanischen Tätigkeiten der Dinge an sich sind, die uns auch Auskunft über die Verfasstheit der selbigen geben können – wobei es dann möglichst wenige Grundgrößen sind, die eben dazu genügen sollen, Zustände, Prozesse und deren Ursachen universell beschreibbar zu machen. Daraus ergibt sich – worauf noch an verschiedenen Stellen einzugehen sein wird – nicht immer eine explizit-programmatische, aber doch signifikante Modifizierung vom antiken Essentialismus. Wo Platon die wahre Existenz der Dinge einzig in den Ideen verortet sah und Aristoteles die Seinsweise der Dinge als mehrstufig und von Gott als letztgültigem Anstoßgeber in Bewegung gesetzt auffasste, sucht die Frühe Neuzeit nach Bewegungs- und Existenzursachen in den Dingen der körperlichen Welt und leitet die mechanischen Gesetze aus ihnen ab. Es lässt sich infolgedessen von einer neuen Problematisierung des antiken Weltbildes, insbesondere der platonischen und peripatetischen Schulen sprechen. Auffällig ist hierbei, dass deren Geltungsansprüche nun nicht mehr im Rahmen ihrer geschlossenen – und historisch immer weiter gewachsenen – Systematiken virulent werden, sondern neue naturwissenschaftliche Konturierungen sowie einen Anschluss an die dynamische, das heißt vorwiegend mit Kräften argumentierende Naturphilosophie erfahren. In der Form am prominentesten und kunstvollsten zeigt sich dies wohl in Giordano Brunos (1548–

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1600) prosimetrischem Lehrgedicht De immenso et innumerabilibus (1591). 27 Dort werden Natur und Gott sowie Ursache und Kraft miteinander enggeführt:

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Ergo age, comprende ubi sit Natura Deusque; Namque ibi sunt rerum causae, vis principiorum, Sors elementorum, edendarum semina rerum, Formae exemplares, activa potentia promens Omnia, substantis celebrataque nomine primi: Est quoque materies, passiva potentia substans, Consistens, adstans, veniens quasi semper in unum; Non minime tamquam adveniens formator ab alto Adstat, ab externis qui digerat atque figuret. 28

Das Lehrgedicht schließt in seinen hexametrischen Passagen stilistisch ganz an die Tradition an, die wir in Kapitel ii.3.a kennengelernt hatten. Inhaltlich verteidigt es die Möglichkeit einer gänzlich diesseitigen Ausformung der materiellen Welt gemäß der Kraft, die in den Prinzipien und Elementen liegt. Mag Bruno auch gemeinhin als Platoniker angesehen werden, 29 so ist hier doch die Ablehnung eines δηµιουργός, wie er von Platon wirkmächtig etwa im Timaios vertreten wurde, augenfällig. 30 Dies gelingt bei gleichzeitigem Aufrufen eines peripatetischen Potenzbegriffs (activa potentia; passiva potentia) sowie eines inneren Prinzips, das der körperlichen Welt selbst zuzukommen habe. 31 Dass die Phänomene der Wirklichkeit aufgrund der schieren Eigentätigkeit der Materie erfolgen, wird im Folgenden noch weiter ausgeführt: Prosa-Passagen wechseln sich in diesem Werk mit Passagen aus stichischen daktylischen Hexametern ab. 28 Bruno, De immenso et innumerabilibus, lib. VIII , cap. 10, 1–9: »Wohlan, vernimm also, wo sich Natur und Gott befinden. Denn dort sind die Ursachen der Dinge, die Kraft der Prinzipien, das Los der Elemente, die Samen der Dinge, die hervorzubringen sind, die beispielhaften Formen, das aktive Vermögen, das alles hervorbringt, das zu Recht unter dem Namen der ersten Substanz gerühmt wird: Auch gibt es Materie, ein passives, substistierendes Vermögen, beständig, dastehend, gleichsam stets auf Eines hinkommend; keineswegs tritt gleichsam ein Gestalter aus der Höhe hinzu und stellt sich dazu, der von außen lenken und gestalten könnte«. 29 Siehe beispielsweise passim bei Kirchhoff (41993). 30 Vgl. treffend hierzu Mahlmann-Bauer (2005), 142: »Brunos Kritik an der aristotelischen Bewegungslehre und Metaphysik erfolgt nicht im Namen Platons. Sein Spott richtet sich gegen jede dualistische Metaphysik. Auch für platonische Ideen als unveränderliche Urformen der sichtbaren veränderlichen Erscheinungen gibt es in Brunos materiegefülltem Kosmos keinen Platz; sie werden zur Erklärung von Bewegung und Veränderung nicht gebraucht«. 31 Auffällig ist hierbei das Spiel mit lukrezischem Vokabular (rerum causae; semina rerum). Das Ergo age wiederum greift Formeln wie Nunc age (Lucr., 1, 921; 2, 333; 2, 730 etc.) auf, die auf griechische Vorlagen wie »ἀλλ᾽ ἄγ[ε]« (Emp., DK 31 B 8, 8) rückzuführen sind. 27

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Atqui materies proprio e gremio omnia fundit: Interior siquidem natura ipse est fabrefactor, Ars vivens, virtus mira quae praedita mente est, Materiaeque suae dans actum non alienae, Non haerens, non discurrens, mediatur, at ex se Cuncta facit facile, velut ignis splendet et urit, Ut lux per totum diffunditur absque labore, Nec distracta meat, sed constans, una, quieta, Temperat, apponit, componit, distribuitque. 32

Die Fähigkeit zur Bewegung wird in letzter Instanz nicht einer bloßen Form, sondern der selbsttätigen Materie überantwortet. Ihr wird eine Wirkung (actus) aus sich selbst, ihrem eigenen Schoß (proprio e gremio) heraus attestiert. Diese Fähigkeit wird allerdings keineswegs, wie man vielleicht mit Blick auf die lukrezischen Anleihen vermuten könnte, 33 mit der Oberflächenstruktur von Korpuskeln, kleinster körperlicher Teilchen, begründet, sondern mit einer Innerlichkeit, die in der Natur selbst liege ([i]nterior [. . . ] natura). An der Naturphilosophie, die Bruno in De immenso et innumerabilibus vertritt, lässt sich exemplarisch ein aus der mittelalterlichen Scholastik noch weithin ungekanntes Dilemma ablesen: Die Antike sollte als philosophische und literarische Einflussgröße nach wie vor eine überragende Rolle spielen, die man in Ansehung ihrer monumentalen Leistungen nur schwerlich übergehen kann; jedoch sind diese Leistungen nicht mehr für sich allein genommen bewundernswert, sondern anhand der mechanistischen Theoreme neu zu hinterfragen und gegebenenfalls fortzuentwickeln. Diejenige Instanz, die sich gleichsam gegen all diese Schwierigkeiten stemmt und immer wieder Antworten hierauf findet, ist der Naturbegriff selbst: Denn die Antike hat – wie in den Kapiteln ii.1– 6 dargestellt – selbst in der Verschränkung philosophischer, poetologischer und rhetorischer Fragen valide und umfassende Naturbegriffe entwickelt, die

32 Bruno, De immenso et innumerabilibus, lib. VIII , cap. 10, 10–18: »Vielmehr gießt die Materie alles aus ihrem eigenen Schoß aus: Sofern ja die innere Natur ein selbständiger Werkmeister ist, als lebendige Kunst, als wunderbare Kraft, die mit Verstand ausgestattet ist und die ihrer eigenen, also keiner fremden Materie eine Wirkung verleiht, vermittelt sie nicht zögernd, nicht auseinanderlaufend, sondern bewirkt aus sich selbst mit Leichtigkeit alles; gleich dem Feuer leuchtet sie und brennt; wie das Licht verbreitet sie sich ohne äußere Mühe durch das All und fließt nicht in Teilen, sondern als beständige, einheitliche und ruhige mäßigt sie, fügt hinzu, fügt zusammen und hat [sc. alles] verteilt«. 33 Auch hier fällt wieder die Neigung zu lukrezischen Sprachspielen (facit facile) ins Auge. Die voranschreitenden, bisweilen die Spondeen rahmenden Daktylen (temperat, apponit, componit, distribuitque) zeigen zudem die Spannung zwischen Ruhe und schneller Bewegung an, die der Natur in ihren Operationen bei der Verteilung der Materie eingegeben ist.

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in der Lage sind, die einzelnen artes transdisziplinär zu durchdringen. Den Ausgangspunkt der nun folgenden Überlegungen bildet die Annahme, dass die Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts spätestens ab der cartesischen Wende mitunter dadurch erst besonders produktiv werden können, dass sie sich zu den hergebrachten antiken Schulen im Sinne ihrer ›Neuzeitlichkeit‹ positionieren und durch ihre naturphilosophischen Weltbilder auch die artes ein weiteres Mal neu justieren. Es handelt sich um eine Entwicklung, die letztlich auch den Weg für die Etablierung neuer artes, wie etwa der ars aesthetica, zu ebnen vermag. In der zeitgenössischen Gewichtung kosmologischer, astronomischer und physikalischer Theoreme finden sich daher zugleich Aussagen über die zugrundeliegenden philosophischen Archive sowie deren Vernetzungskontexte angelegt. Derartige Positionierungen lassen dabei stets auch die zeitgenössischen naturphilosophischen Schulen in neuem Licht erscheinen und bringen sie bisweilen mit neuen Geltungsansprüchen über das Wesen des Kosmos und des Menschen in die jeweiligen Debatten ein. Aus einer solchen Grundeinstellung heraus ergeben sich dann wiederum diejenigen Konfigurationen, die als konstitutiv für die Geschichte der Naturphilosophie im Sinne ihrer Selbstreflexion anzusehen sind; sie lassen sich augenfällig in einem Bereich heute weitestgehend kanonisierter Autoren ausmachen, die zugleich als Antikenrezipienten wie als Wegbereiter, teils geradezu als Mitbegründer der frühneuzeitlichen Mechanik in Erscheinung treten. Auf dieses Spannungsverhältnis ist dementsprechend der Fokus zu legen, wenn man die Fortentwicklung der neuen Naturen im Auge behalten möchte – und zwar anhand derjenigen Protagonisten, die sich im 17. und 18. Jahrhundert in den Diskursfeldern zwischen antiker und frühneuzeitlicher Naturphilosophie bewegen Einen wichtigen Bezugspunkt für die genannten Entwicklungen stellt der französische Philosoph und Naturwissenschaftler Pierre Gassendi (1592–1655) dar. 34 Bei ihm lässt sich ein grundsätzlich materialistischer Ansatz zur Erklärung der Weltphänomene ausmachen, der sich im Rekurs auf die Antike vor allem auf Epikur beruft. Zudem begibt sich Gassendi in eine gewisse Abgrenzung zu Aristoteles. So widmen sich die Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos (1649) insbesondere der Widerlegung zentraler Theoreme aus der aristotelischen Physik. 35 Das dritte Buch der Exercitationes wird dementsprechend im Vorwort als Ablehnung der aristotelischen Physik und im selben Atemzug wie ein Bekenntnis zum Atomismus epikureischer Provenienz angekündigt: »Buch iii ist der Vorlesung über Physik gewidmet. [. . . ] Hier wird das Vakuum in die 34 35

Zu Gassendis Philosophie vgl. umfassend Bloch (1971). Dies vor allem im fünften Buch, und dort in der Exercitatio V, 109–126.

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Natur der Dinge eingeführt – oder vielmehr zurückgeführt.« 36 Es geht im von Gassendi avisierten Buch um die Verteidigung der Existenz eines Leeren in der Natur, ein Theorem, das bekanntermaßen zu den wichtigsten Anliegen der Atomisten zählt, da durch den Gegensatz Atome / Leeres die räumliche Bewegung erklärt werden kann. Die Anspielung auf Lukrez, und damit auf den antiken Epikureismus, wird hier durch die angedachte Rückführung »in rerum Naturam« zum Ausdruck gebracht, das neben seiner wörtlichen Bedeutung zugleich den Werktitel De rerum natura bezeichnet. Gleichwohl wird das Leere hier nicht mehr – wie noch bei Lukrez – als inane, sondern – ganz in frühneuzeitlicher Prägung – als vacuum angeführt. 37 Der alte Gegensatz zwischen Aristotelismus und Epikureismus wird nun aber nicht so radikal vorgeführt, wie man vielleicht vermuten könnte. Denn mag Gassendi auch die peripatetische Philosophie programmatisch ablehnen, so begreift er sich doch als jemanden, der durch seine Exercitationes die eigentliche doctrina des Aristoteles unverfälscht wiedergibt und dadurch gewissermaßen wieder zurechtrückt. Denn nach seiner Meinung hätte sich der von seinen philosophischen Zeitgenossen vertretene Aristotelismus allzu weit von der ursprünglichen Lehre entfernt: Ich habe sie auch deswegen Exercitationes Paradoxicae betitelt, weil sie Paradoxa enthalten, beziehungsweise Meinungen gegen den Menschenverstand. Obschon ich die Menge hier nicht als eine von niederen Menschen verstehe (Denn was will der Esel mit der Lyra?), sondern als eine Philosophengemeinschaft, deren Verstandesanlage so grobschlächtig ist, dass sie, dem Volke gleich, die Barbarei bejubeln und, haben sie einmal ihre Meinungen im Vorhinein gefasst, etwas bekämpfen. Da ich indes sah, dass die Aristoteliker – sowohl hinsichtlich ihrer Anzahl als auch hinsichtlich ihrer Hartnäckigkeit – alle übrigen [sc. Philosophenschulen] bei weitem noch übertrafen, liegt der Grund tatsächlich nahe, warum ich mir einen Auftrag gegen die Aristoteliker gegeben habe. Sollte mich zufällig jemand fragen, warum ich es [sc. das Werk] gegen die Aristoteliker, nicht gegen Aristoteles betitelt habe, dessen Lehre ich unleugbar bekämpfe, so soll er wissen, dass ich am meisten durch drei Gründe dazu gebracht worden bin. 38 Gassendi, Exercitationes paradoxicae, praef., 16: »Liber III destinatur in Acroasin Physicam. [. . . ] Hîc Vacuum inducitur, reducitur-ve in rerum Naturam.« Kursivierung der Werktitel in der Übersetzung hier und im Folgenden: D. B. 37 Für einen allgemeinen Abriss der Rezeption Lukrez’ in der Frühen Neuzeit vgl. Erler (2009) und Albrecht (2013c), 31–55. 38 Gassendi, Exercitationes paradoxicae, praef., 13: »Hinc & Exercitationes inscripsi P ARADOXICAS, quòd Paradoxa contineant, seu opiniones præter vulgi captum. Quamquàm vulgus hîc intelligo non plebeiorum hominum (quid enim Asino cum lyra?) sed Philosophorum communium, quibus ingenium est ita vulgare, ut vulgi instar Barbariem inclament quicquid præconceptis 36

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Die im Folgenden von Gassendi genannten Gründe (argumenta) bestehen zum einen darin, dass er nicht glauben könne, dass »jene Werke [. . . ] von Aristoteles stammen, sondern aus der Meinung der Aristoteliker«, 39 insofern nämlich »Aristoteles ein zu großer Mann war, als dass man ihm derart unwürdige Werke zuschreiben müsste«; 40 zum anderen darin, dass »diese [sc. die Aristoteliker] nicht so sehr die Meinung Aristoteles' als ihre eigene und dem ausdrücklichen Geist des Aristoteles widersprechende Meinung oftmals verteidigen«, 41 und schließlich darin, dass »sie Kleinigkeiten und Nichtigkeiten tagelang aufhäufen, die Aristoteles nicht in den Sinn kommen konnten.« 42 Diesen Überlegungen zufolge stellen die Exercitationes paradoxerweise zugleich eine Invektive gegen die Peripatetiker wie auch ein Kompendium zu Aristoteles dar – der, wie Gassendi bemerkenswerterweise selbst anführt, nach wie vor als ein großer Mann (vir magnus) zu gelten habe; denn er gebe sich nicht mit Kleinigkeiten (quisquiliae) ab. 43 Gassendi streut demnach immer wieder Äußerungen ein, in denen die philosophische Valenz Aristoteles' eher bekräftigt denn widerlegt wird. Die Verfahrensweise Gassendis ist so polemisch wie doppelbödig. Sie vollzieht sich auf mehreren Ebenen, wenn etwa gesagt wird, die aristotelische Metaphysik besitze überhaupt nur wenige Teile, die von der Metaphysik handelten: So pflegen sie [sc. die Aristoteliker] wegen jenes [sc. Ausspruchs] gleich am Anfang der Metaphysik: Alle Menschen streben von Natur aus danach, [sc. etwas] zu wissen, über die Begierde im Allgemeinen, dann wiederum über die Wissenschaften im Allgemeinen, ebenso über die Sinne und über möglichst viele andere [sc. Gegenstände] zu diskutieren. Unnötig ist zu erwähnen, wie groß die Verwirrung schließlich ist, da weder irgendeine Ordnung von Aristoteles eingehalten wird noch in der gesamten Metaphysik Aristoteles' irgendetwas Metasemel opinionibus adversatur. Cùm autem viderem Aristoteleos & numero, & pertinaciâ cæteros omnes longè superare: ratio profecto in promptu est, cur negotium mihi sumpserim ADVERSUS ARISTOTELEOS. Quòdsi quispiam fortè ex me quærat, quamobrem inscripserim adversus Aristoteleos, non adversus Aristotelem, cujus tamen doctrinam videor ex-professo impugnare: noverit me potissimum tribus adductum argumentis«. 39 Ebd.: »opera illa [. . . ] esse Aristotelis, quàm ex opinione Aristoteleorum«. 40 Ebd.: »Maior quippe [. . . ] Aristoteles vir fuit, quàm ut ipsi adscribi debeant tam indigna opera«. 41 Ebd., 14: »isti non tam Aristotelis, quàm suam, & expressæ menti Aristotelis repugnantem sæpe defendant sententiam«. 42 Ebd.: »quisquilias, gerrásque quæstionum conglobent in dies, quæ Aristoteli in mentem non potuerunt occurrere«. 43 Die gleichzeitige Schelte an einem gewissen scholastischen Denken mit seiner in der Neuzeit als unzeitgemäß empfundenen Fokussierung auf quis / quid- und qualia-Fragen ist hierbei unüberhörbar.

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physisches behandelt wird – ausgenommen einige wenige Kapitel des zwölften Buches. 44

Der metaphysische Anspruch Aristoteles' wird zu einer Psychologie umgedeutet, unter bemerkenswerter Betonung der Sinnes- (de sensibus) und Strebevermögen (de appetitu). Hierüber sei nicht in Form von Gemeinplätzen (in genere), sondern anhand der Wirklichkeit selbst zu diskutieren. Die Stellung, die diesem philosophischen Amalgam aus Epikureismus und manchen aus der aristotelischen Seelenlehre bekannten Axiomen im Rahmen des gassendischen Programms zukommt, heben auch Carrier und Mittelstraß hervor. Sie betonen dabei den Konnex zwischen aristotelischer Psychologie und einer monistischmechanistischen Naturauffassung, der sich bei Gassendi in Form der oben beschriebenen Polemik ausmachen lässt: Epicurean explanations were to replace Aristotelian explanations not only in physics and physiology but also in psychology. However, this remains rather program than result in Gassendi. Seemingly animistic descriptions and a retention of Aristotelianism (especially in the conception of the soul) are linked abruptly to mechanistic theorems. What is clear is only to attempt pre-Cartesian notions of automatons with an atomistic (materialist) approach which tendentially favored monistic explanations in the treatment of the mind-bodyproblem. 45

Verbindet Gassendi in seiner Behandlung des Aristotelismus und des Epikureismus zwei in der Antike noch konträr gefasste Denkrichtungen, so opponiert er zugleich mit seinem atomistischen Materialismus, der sich recht unvermittelt im Epikureismus gründet, ja beide Richtungen – wie es in der Barockphilosophie ein durchaus verbreitetes Phänomen war – geradezu synonym fasst, 46 wiederum in ausdrücklicher Polemik gegen die hermetische Theosophie eines

44 Ebd., exerc. I , 19: »Sic initio statim Metaphysices, propter illud, omnes homines naturâ scire desiderant, disputare plærúmque [sic] solent de appetitu in genere, de scientiis rursus in genere, itémque de sensibus, aliisque quam plurimis. Nihil necesse est commemorare quanta sit deinceps confusio: cùm neque ullus ab Aristotele servetur ordo: neque in tota Aristotelis Metaphysica quidpoiam Metaphysicum tractetur, nisi paucis duodecimi [sic] libri exceptis capitibus«. Das von Gassendi herangezogene Zitat aus der Metaphysik entspricht der latinisierten Form von Aristot., metaph., 1, 1, 980a1: »Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει«. 45 Carrier / Mittelstrass (1995), 28 f. 46 Zur historischen Genese dieser sich arg auf den Bereich der Naturphilosophie konzentrierenden Epikur-Rezeption, die mit nur wenigen Einschränkungen auf die basale Formel gebracht werden kann, Epikureismus sei nichts anderes als der Inbegriff einer Philosophie, die sich auf eine kontingent waltende, atomistisch erklärbare Materie zurückzieht, vgl. ausführlich Jones (1992).

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Robert Fludd (1574–1637) 47 sowie schließlich gegen Descartes persönlich. 48 Dessen Leistung, Geist und Materie substantiell zu trennen, muss aus einem streng monistischen Weltbild heraus gedacht höchst fragwürdig erscheinen. An Gassendi spiegeln sich daher paradigmatisch sowohl die antiken Reibungsmomente zwischen atomistischer und peripatetischer Philosophie als auch das frühneuzeitliche Substanzenproblem, wobei er selbst keinen Zweifel daran lässt, dass ein Ausweg einzig in einem rein mechanischen Weltbild zu suchen – und zu finden – sei. Demzufolge sei evident, dass keine Wirkung ohne Ursache existiert, dass keine Ursache ohne Bewegung wirkt und dass nichts auf einen entfernten Gegenstand wirkt, für den es nicht gegenwärtig ist, sei es durch sich selbst oder durch ein – entweder verbundenes oder übertragenes – Mittel. 49

So revolutionär die Reduktion der Welt auf mechanische Prinzipien auch anmutet, so wenig kommt sie ohne die philosophischen Systeme der Antike aus. Dass die bereits von den antiqui hochdifferenzierten Lehrmeinungen über dualistische, monistische und materialistische Weltbilder im 17. Jahrhundert nach wie vor eine mehr als partikulare Rolle spielen, gerade indem sie mit den Systemen eines Descartes, Leibniz und Newton kontrastiert werden, die in vielen Momenten bereits aus ihrem eigenen Anspruchsdenken heraus mit ihnen paradigmatisch operieren, kann auch ein über den Epikureismus hinausgehender, synoptisch geraffter Blick vermitteln. Blicken wir daher zunächst auf einige Beispiele für die Neujustierung der klassischen naturphilosophischen Grundhaltungen. So teilt Gassendi etwa seine monistische Grundauffassung mit Thomas Hobbes (1588–1679): Nach Hobbes ist in der Naturbetrachtung stets vom einfachsten auszugehen, was möglich erscheint; er findet dabei sein methodisches Vorbild in der Antike, namentlich in der euklidischen Geometrie als Verkörpe-

47 Vgl. die Epistolica exercitatio (1630) und darin insbesondere die einleitende Epistola Marin Mersennes – dem darüber hinaus das Werk als Ganzes gewidmet ist – an Nikolaus de Baugy, wo in der konzisen Rekonstruktion der theologischen Auseinandersetzungen zwischen Gassendi und Fludd die Hinweise auf die Unfrömmigkeiten (impietates) Robert Fludds geradezu immer weiter Überhand gewinnen (Gassendi, Epistolica exercitatio, 3–26). Auch in der folgenden, als zur Epistolica exercitatio zugehöriger Teil veröffentlichten Replik des Franciscus Lanoui (ebd., 27–33) fällt das Urteil über Fludd nicht eben günstiger aus. 48 Vgl. die programmatisch betitelten Disquisitiones Anticartesianae (1643) sowie die Disquisitio metaphysica (1644), die sich ebenfalls einer Widerlegung des cartesischen Weltbildes verschreibt. 49 Gassendi, Syntagma Philosophicum, vol. I , 450: »nullus effectus sine causa sit; ut nulla causa sine motu agat; ut nihil agat in rem distantem, seu cui non sit praesens vel per se vel per organum, aut coniunctum aut transmissum«.

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rung des reinen mos geometricus. 50 Hobbes' Zeitgenosse Joseph Glanvill (1636– 1680) versteht sich demgegenüber zunächst als ein Anhänger Descartes', entwickelt dann jedoch im Laufe seiner philosophischen Biographie zunehmend eine Affinität zu den Cambridge-Platonikern. 51 Der strenge Cartesianer Antoine Arnauld (1612–1694) tritt in dieser Konstellation wiederum als Figur in Erscheinung, die sich zunächst vom Okkasionalismus eines Nicolas Malebranche (1638–1715) abgrenzt und schließlich Leibniz' Discours de métaphysique (1686) in einem parallel zu dessen Produktionszeit stattfindenden Briefverkehr auf argumentative Schwachstellen überprüft. 52 Zur gleichen Zeit tritt Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) als einer der letzten Cartesianer mit einiger Vehemenz gegen das zu dieser Zeit reüssierende newtonsche Weltbild auf; Jean-Pierre de Crousaz (1663–1750), der noch das antike Kunstideal von der Einheit in der Mannigfaltigkeit vertritt, nähert sich demgegenüber Newtons mechanischem Kraftbegriff an, indem er die Sprunghaftigkeit – durchaus im Sinne eines kontingenten Ereignismoments – an die Seite eines ästhetischen Einheitspostulats stellt. 53 Der materialistische Monismus eines Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), der sich selbst – darin Gassendi ähnlich – an den naturphilosophischen Kontext des barocken Epikureismus rückkoppelt, stuft die Seele wiederum ausschließlich als körperlich und durch die Sinne erfahrbar ein; er kann daher ebenso exemplarisch für den Aufstieg des Sensualismus stehen wie das mechanistische Menschenbild eines Claude Adrien Helvétius (1715–1771). Letzterer zeigt sich gleichwohl noch merklicher von der Vgl. zu diesem Paradigma, das Hobbes im Übrigen erheblich mit Descartes eint, Weiss (1992). Der menschliche Verstand soll diesem mos gemäß mit derselben methodischen Exaktheit vorgehen, wie sie die euklidische Geometrie einfordert. Dem hobbesschen Vorgehen nach kann erst das naturphilosophische Weltbild die anthropologischen Theoreme grundieren, wie wir sie umfassend in De homine (1658), aber auch bereits in den ersten Kapiteln des Leviathan (1651) formuliert finden. 51 Etwa in seiner Hinwendung zum Latitudinarismus, wie sie sich in der Philosophia pia, or a discourse (1671) ausgedrückt findet. Die Erforschung der Natur (insbesondere in ihren experimentellen Spielarten) und die Gottesfrömmigkeit werden dabei als Synthese gedacht – denn ebendies meint hier eine philosophia pia –, wobei Moral und Vernunft an mathematische Modelle gekoppelt werden und aufgrund der Dignität, die der Mathematik als einer Leitwissenschaft zu dieser Zeit allenthalben zugeschrieben wird, noch weiter affirmiert werden. Diese Disposition weist Glanvill gleichermaßen als Cambridge-Platoniker aus wie sie ihn in die theologische Nähe der Latitudinaristen rückt. Zu den wichtigsten Traditionslinien der philosophia pia (et perennis) von Ficino bis Johann Arndt vgl. die hervorragende Darstellung bei Neumann (2004), 16–73. 52 Dies wohl mit einigem Erfolg, denn es führte – nach Leibniz’ eigener und in diesem Fall durchaus nicht polemisch gemeinter Aussage – unter anderem zu einer präziseren Strukturierung seiner Theologie; vgl. Leibniz, Correspondance avec Arnauld, besonders die Lettres 5–12. 53 Vgl. dessen ästhetisches Hauptwerk Traité du beau (1712), insbesondere die in chap. 3 behandelte Kontroverse zur Subjektivität ästhetischer Eindrücke sowie dann vor allem die in chap. 9 diskutierten Stoßgesetze, in denen Schönheit (beauté) und Kraft (vertu) eng geführt werden – dies insbesondere anhand des Paradigmas des »aufmerksamen Geistes« (esprit attentif). 50

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englischen Philosophie, namentlich von der sinnlichen Imprägnationstheorie eines John Locke (1632–1704) beeinflusst. 54 Auch Paul Henri Thiry D'Holbach (1723–1789), der wie La Mettrie ebenfalls einen strikten Materialismus vertritt, diesen allerdings nicht mit kontingenten Kräften begründet, sondern ihm ein deterministisch anmutendes Bewegungsparadigma unterlegt, verfolgt ein monistisches, auf wenige Grundgrößen reduziertes Weltbild. Und schließlich lässt sich auch Franz Anton Mesmer (1734–1815), der im 18. Jahrhundert dazu antreten wird, den cartesischen Mechanizismus auf eine einzige Substanz zu reduzieren und dabei den daraus – durchaus ungewollt – resultierenden Anticartesianismus in Teilen aus den Desideraten der newtonschen Physik, insbesondere aus dessen hermetischer Theorie heraus bezieht, 55 noch in dieser dem Geist / Materie-Problem zugewandten philosophischen Tradition verorten. In solchen Konstellationen, die sich in gleichzeitiger Anlehnung an und Auseinandersetzung mit den Denksystemen eines Descartes, Leibniz und Newton formieren, werden jedoch nicht nur Geist und Materie, sondern auch immer wieder neue Spielarten von Kraft und Bewegung verhandelt. Sie werden dabei in häufiger Rekurrenz auf eine bald aktivisch, bald passivisch gedachte Materie diskutiert. 56 Findet man also in der Antike, und im Anschluss daran auch in der Scholastik, eine gewisse Menge an οὐσία/essentia-Zuschreibungen 57 vor, die den Naturbegriff in ein immer wieder neues Gleichgewicht zwischen menschlicher und göttlicher, zwischen technischer und natürlicher Sphäre brachten – und dadurch nicht zuletzt die Grundfragen für das philosophische Denken des Mittelalters stifteten –, so lässt sich demgegenüber spätestens mit Thomas Hobbes und Pierre Gassendi eine merkliche AufwerVgl. hierzu Voegelin (1999), 46–51. Zu den natur- und medizingeschichtlichen Einflüssen, die auf Mesmer wirkten und die von ihm ausgingen, vgl. ausführlich Kupsch (1985). Es erscheint in Ansehung dieser ziemlich komplexen Gemengelage ungerechtfertigt, dass Mesmer in der Rezeption des späteren 20. und frühen 21. Jahrhunderts häufig als Archeget eines bloßen Parapsychologismus und im schlimmsten Falle gar als ›Schein-Wissenschaftler‹ aufgefasst und bewertet wird. 56 Sich mechanisch zu verhalten, ist hier – im Anschluss an das oben genannte Begehren nach systematischer Reduziertheit – zunächst ganz schlicht auf den mathematisch-pragmatischen Umgang mit physikalischen Konzepten wie ›Trägheit‹, ›Bewegung‹, ›Schwere‹, ›Gewicht‹ etc. zu beziehen. Die bevorzugte ontische Größe, aus der sie hergeleitet werden, stellt – ausgehend von Gassendi und in Abgrenzung zum Aristotelismus und Platonismus – vermehrt die Materie selbst dar. Dass es dabei spätestens mit Descartes nicht bleiben muss, sondern die physikalische Mechanik vielmehr Umformungen durch und Ergänzungen um intellektualistische Elemente erfährt, wird an den entsprechenden Argumentationsstellen dieser Studie noch eine gesonderte Rolle spielen. 57 Hierunter sind – nicht unbedingt in Form eines Synkretismus, wie man ihn vielleicht noch bei den Thomisten ablesen konnte – sowohl Platons Ideenlehre als auch die sich am Bewegungsprinzip orientierende, dreistufige οὐσία-Hierarchie der peripatetischen Schultradition fassbar. 54 55

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tung des Materialismus sowie des Monismus in den unterschiedlichsten ontologischen Teilfragen erkennen – ohne dass diese Aufwertungen in eine plane Revitalisierung des Epikureismus oder des Stoizismus rückgeführt würden. 58 Monismus und Materialismus sind vielmehr als Denkschulen auffassbar, die sich in gleichem Maße den neuen naturwissenschaftlichen Prämissen zuwenden, wie sie auch ihre traditionsreiche Abkunft aus dem antiken Denken reflektieren (reducitur in Rerum naturam). Aus dieser Gemengelage, die zwischen den Spannungsfeldern von Geist und Materie, Kraft und Bewegung sowie von Antike und Früher Neuzeit besteht, lassen sich wesentliche Präliminarien zur Entwicklung der neuen poetologischen Leitdisziplin des 18. Jahrhunderts, der psychologischen Ästhetik gewinnen. Denn die Annahme von Seelenkräften und -vermögen stellt – wie wir in Teil ii der Studie sehen konnten – nicht nur eines der ersten Anliegen der antiken Psychologie dar, sondern legt ein profundes Verständnis von der Art und Weise offen, wie sich der Mensch zum Kosmos, zu sich selbst und schließlich auch zur Kunst positioniert; die Vermögenslehre bleibt somit ein zentraler und ideengeschichtlich nur schwer hintergehbarer Gegenstand der Ästhetik – erst recht, wenn diese, wie es Baumgarten noch vorschweben wird, in Entsprechung zum Erkenntnisvermögen in Form eines analogon rationis ausgearbeitet werden soll. Daher wird im Folgenden – nebst den bereits genannten Gesichtspunkten – prospektiv auch die Frage in den Blick genommen werden, unter welchen Voraussetzungen sich eine auf Wesenhaftigkeit und Idealität gründende Kunstauffassung, wie es im gängigen Antikenbild der Renaissance zu weiten Teilen verfochten wurde, zu einer vermögenspsychologisch argumentierenden und dabei die unteren Seelenteile, zuvorderst die Sinne und die Einbildungskraft, affirmierenden entwickeln konnte. Es ergeben sich im Zuge dessen zwei Hauptfragen bezüglich der Einforderungen des antiken Essentialismus – zum einen die Frage, wie eine vollständige Abkehr von den antiken Vorläufern, die nicht erst seit der Scholastik und zumal der Renaissance in vielerlei Hinsicht als mustergültig zu gelten haben, vermieden werden kann; denn die physis / natura-Auffassungen der Antike erscheinen nicht erst in historischer, sondern bereits in systematischer Sicht deutlich entfernt von den oben genannten, sich der mathematischen Methodik und der geometrischen Exaktheit verschreibenden Denksystemen Mag auch Gassendi philosophiegeschichtlich immer wieder als Epikureer durch und durch bezeichnet werden, so ist diese Zuschreibung zumindest arg verkürzt: In der Natur herrscht nach Gassendi keine Kontingenz, sondern eine von Gott gestiftete Harmonie vor – ein Gedanke, der dem Epikureismus so fremd ist wie nur irgend möglich. Die Gassendi vorschwebende Harmonie, die in der Welt herrsche, drückt sich indes in einem mechanistischen Weltbild aus – ein Grundgedanke, der selbst für neoplatonisch geprägte Weltbilder wie dasjenige Keplers eine wichtige Rolle spielen wird – worauf insbesondere in Kapitel III.1.c.β noch genauer einzugehen sein wird. 58

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eines Descartes, Newton und Leibniz. 59 Zum zweiten stellt sich die Frage, wie das Konzept einer metaphysischen Natur noch derartig mitgetragen werden kann, um in der Mitte des 18. Jahrhunderts tatsächlich noch von ›edler Einfalt und stiller Größe‹, von einem ›Wesen der Antike‹, einer ›reinen Natur der Alten‹ etc. sprechen zu können, den Naturbegriff also auf sämtliche antike Gattungen sehr eng zu beziehen, ohne dabei die Risiken einzugehen, entweder in eine von der Naturphilosophie im engeren Sinne entrückte Sphäre spekulativer Inhalte zu geraten oder – was für aufklärerische Ansprüche beinahe noch fataler wäre – in einen geistesgeschichtlichen Regress zu münden. Man hält daher, bei aller Künstlichkeit, die den mechanischen Kräften zugeschrieben wird und die durch den technikgeschichtlichen Fortschritt mit immer neuen Innovationen evident bestätigt wird, bei Kepler wie bei Descartes, bei Leibniz wie bei Newton, erstaunlich strikt an den zentrierenden Paradigmen der natura und der philosophia naturalis fest. Ein solches Vorgehen mag in seiner Insistenz auf den ersten Blick essentialistisch anmuten und dabei vielleicht sogar konservativ oder gar rückschrittlich erscheinen. Tatsächlich werden jedoch genau diese Tendenzen vermieden, denn die Annahme, derartige Konzepte stellten eine bloße Differenzierung nach der essentia dar, dass also jede Fortschreibung eines Naturbegriffs nur aus der Fortschreibung eines vorgängigen Essenzbegriffs gelänge, 60 hält keiner Überprüfung mit der Komplexität der neuen philosophischen Kontroversen und den daraus hervorgehenden Paradigmen stand. Ein Gegenmodell zu jenen klassischen Gleichungen ›Natur=Wesen‹ oder ›Natur=das Unveränderliche‹ oder eben ›Natur=Essenz‹ könnte daher etwa lauten: Die neuen Naturen sind keineswegs in planer Rückbesinnung auf, sondern in Progression aus der chiastischen Verschränkung der essentialistisch-antiken und der cartesianisch-neuzeitlichen Diskurse heraus zu denken. Wir finden auf Die mathematische Methode kann spätestens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, namentlich im Zuge der großen Erfolge der Astronomie, zusehends als eine der Triebfedern für die Progression der Naturwissenschaften bezeichnet werden – eine disziplinäre Aufwertung, die sich vornehmlich in ihrem internen Spannungsfeld zwischen Geometrie und Arithmetik ausnimmt; vgl. Kondylis (22002), 59–118, Gaukroger (2010), 55–96 sowie die konzisen Studien von Whiteside (1960), Baker (1975) und Mancosu (1996). Da die Frage nach der Beschaffenheit der Natur stets in hohem Maße mit der zugrunde gelegten Erkenntnismethode enggeführt wird, wird auf die Situierung der Mathematik in der weiteren ideengeschichtlichen Betrachtung der Mechanik an verschiedenen Stellen Rücksicht genommen werden. 60 Vor allem im Sinne der quid est?-Frage beziehungsweise der quidditas. Die Einstufung einer Existenz im naturgemäßen Sinne (κατὰ φύσιν / katà phýsin) meint auch hier im Gegensatz zu ihrer akzidentellen Bestimmung (κατὰ συµβεβηκός / katà symbebe¯ kós) dasjenige, was einer Entität unveräußerlich, weil prinzipienhaft zukommt. Für den Begriffsstatus der quidditas selbst zeichnen sich in der Frühen Neuzeit tatsächlich vorwiegend die scholastischen Traditionen und dabei insbesondere spätscholastische Strömungen wie die Schule von Salamanca verantwortlich; vgl. etwa Leinkauf (2000). 59

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der einen Seite die Antike mit ihrem elaborierten Essenzbegriff vor, auf der anderen Seite die Frühe Neuzeit mit ihrem mechanistischen Weltbild. Wenn also die Antike in der Neuzeit Berücksichtigung finden soll und wenn die Frühe Neuzeit sich auf Augenhöhe zur Antike begeben soll, so muss sich die Substanz- an der Essenzlehre messen lassen sowie die Mechanik an der Naturlehre; umgekehrt muss sich aber auch der Essentialismus mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft auseinandersetzen beziehungsweise neue Antworten auf die mechanische Rolle finden, wie sie etwa der Materie zuteil wird. Aus dieser doppelten Verschränkung folgt daher auch ein doppeltes Maß an Neubewertungen. An diesem Punkt nun zeichnen sich im 17. Jahrhundert bedeutsame Linien der Kosmomechanik in Abgrenzung zu den hergebrachten neoplatonischen Dualismen ab, und das mit einer bestimmten Blickrichtung auf auch psychologische Dispositionen. Sie bestehen darin, dass die seelischen und kosmischen Vorgänge gerade in ihrer Reduktion auf die Prinzipien von Kraft und Bewegung umso vielseitigere Deutungsangebote für die menschliche Natur zeitigen; dass sie mehr noch dazu in der Lage sind, die historischen Sedimente aus Renaissance- und Barockphilosophie dahingehend zu transformieren, dass sich die Technik (τέχνη, ars), als Repräsentantin künstlicher Kräfte, und die Natur (φύσις, natura), als Repräsentantin natürlicher Kräfte, befördert durch den neuen Umfänglichkeitsanspruch des mechanistischen Denkens einander nicht mehr wechselseitig ausschließen. Sie berufen sich zunächst auf keinen eigenen ars-Status, der sie zu vollständigen Erklärern des Weltbildes machen würde, 61 sondern sorgen dafür, dass sie unter Billigung und Förderung einer fortschreitenden natura-Mehrdeutigkeit in neuen Verhältnissen zueinander justiert werden; ferner, dass sie Paradigmen und Modelle hervorbringen, die mit dem steten Fortschritt der Technikgeschichte mithalten können. Diese Leistungen erscheinen aus historischer Sicht umso erstaunlicher, wenn man Die artes mechanicae stellen zwar – vor allem von klösterlicher Seite – einen veritablen Versuch dar, die auf Technik beruhenden Künste in den Kanon der traditionellen artes zu etablieren; sie blieben aber in der Regel mit der Vorstellung einer schieren Handwerklichkeit verhaftet und wurden auf Berufsstände wie die Schmiede- (ars metallaria), die Jagd- (ars venatoria) oder die Kochkunst (ars coquinaria) beschränkt. Sie konnten, bei allen Bemühungen von Seiten der Klosterschulen, nicht in derselben Weise institutionalisiert werden wie die sieben artes liberales (ars grammatica, ars dicendi / rhetorica, ars dialectica [Trivium]; ars arithmetica, ars geometrica, ars astronomica, ars musica, [Quadrivium]); vgl. zu diesem Spannungsverhältnis Bacher (2000) sowie zu den mittelalterlichen Entwicklungsmustern vor allem Allard / Lusignan (1982) und Sternagel (1966). Noch bei Descartes wird von den arts mécaniques gelegentlich in diesem handwerklichen und durchaus pejorativ aufzufassenden Sinne gesprochen. Für die Unterschiedlichkeit ihrer Stellenwerte ist zudem bezeichnend, dass es mit der Geometrie, der Astronomie und der Mathematik gerade Disziplinen aus den artes liberales waren, die zur Sublimierung der Mechanik bis zu ihrem Status einer vollwertigen Naturphilosophie bereits ab dem 15. Jahrhundert herangezogen wurden. 61

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bedenkt, dass die Mechanik in den Dimensionen der hergebrachten Naturkonzepte, das heißt: im platonischen oder peripatetischen Sinne, zunächst sehr wenige Begünstigungen zu erwarten hatte.

1.b. Zur Ausgangslage der Mechanik 1.b.α. Mechanische Probleme zwischen (Ps.-)Aristoteles und Archimedes

Noch 1577 konnte Guidobaldo del Monte (1545–1607) im Vorwort seines vielbeachteten Mechanicorum Liber folgende kategorische Aussage tätigen: Sie [sc. die Mechanik] bringt freilich nicht nur die Geometrie zur Vollendung und Vervollkommnung (wie Pappos bezeugt), sondern sie hat auch die Herrschaft über die physischen Dinge inne, da sie ja allem, was von Zimmerleuten, Baumeistern, Lastenträgern, Bauern, Schiffsleuten und zahlreichen anderen (auch gegen die Gesetze der Natur) geleistet wird, ihren Beistand verleiht. 62

Del Monte bemüht hier eine Auffassung, nach der die Mechanik einerseits als die höchste Stufe der Geometrie anzusetzen sei, sich andererseits aber durch Naturwidrigkeit (repugnantibus naturæ legibus) auszeichne; zudem wird sie von eher niedrigen Berufsständen aus den Bereichen des Handwerks, der Agrarwirtschaft und der Nautik vertreten. Es handelt sich um eine auf mehreren Ebenen differenzierte Aussage, aus der sich für die Mechanik ein Moment der wissenschaftlichen Nobilitierung (ausgehend von ihrem Verhältnis zur Geometrie), eine soziale Inferiorisierung (anhand der Aufzählung ihrer prototypischen Berufsvertreter) sowie ein indifferentes, bisweilen gar negativ auszulegendes Moment (in ihrem Verhältnis zur Natur) ergeben. An diesen –

Del Monte, Mechanicorum Liber, praef., 1 f.: »[Q]uae quidem non solum geometriam (ut Pappus testatur) absolvit, & perficit; verum etiam & phisicarum rerum imperium habet: quandoquidem quodcunque Fabris, Architectis, Baiulis, Agricolis, Nautis, & quam plurimis alijs (repugnantibus naturæ legibus) opitulatur«. Die Erwähnung des spätantiken Mathematikers Pappos von Alexandria spielt auf dessen Hauptwerk Mathematicae collectiones (erste Hälfte des vierten Jahrhunderts) an. Dessen erste lateinische Übersetzung wurde in den 1570er Jahren bereits von Federico Commandino angefertigt und von Del Monte dann 1588 herausgegeben. Del Monte selbst war, als Schüler Commandinos, in den Entstehungsprozess dieser Übersetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit eingebunden. Da Pappos wiederum – seinem eigenen Selbstverständnis nach – der archimedischen Mathematik-Tradition angehörte, eignet sich dieser Verweis außerordentlich gut, um sich selbst im 16. Jahrhundert noch – wie es Del Monte im Mechanicorum Liber auch insgesamt vorschwebt – in die von Archimedes energisch eingeforderten Prinzipien mathematischer Strenge einzuschreiben. 62

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durchaus in apodiktischem Ton vorgetragenen – Punkten interessiert uns zunächst der letztgenannte: Die Prämisse, die zu Del Montes Auffassung führt, besteht offenkundig darin, dass die Mechanik nach Gesetzmäßigkeiten funktioniere, die nicht notwendig naturgemäß sein müssen. Dass beide Größen, die Mechanik und die Natur, doch einmal in eins fallen, liegt demnach zwar durchaus im Bereich des Möglichen, ist aber keinesfalls als zwingend einzustufen; mehr noch: Die Mechanik sei für ihre Leistungen gerade deswegen zu loben, weil sie die souveräne Fähigkeit besitze, sich entweder »gegen die Natur [zu richten] oder deren Gesetze nach[zu]ahme[n].« 63 Es liegt somit noch ein distinkter Naturbegriff zugrunde, demzufolge natürlich in Gang gesetzte Prozesse (das Wachstum einer Pflanze, der Strom eines Flusses, der Ausbruch eines Vulkans etc.) von künstlichen Bewegungen (das Umlegen eines Hebels, das Einsetzen einer Waage etc.) zu scheiden sind – und zwar so, wie es ein Naturphilosoph schon »früher von Aristoteles lernen konnte.« 64 Diese Anspielung richtet sich prägnant auf Aussagen aus den Problemata mechanica, die im 16. Jahrhundert noch dem Corpus Aristotelicum angehörten, mithin noch nicht als pseudo-aristotelische Schrift galten. Vielmehr erlangten sie in dieser Zeit einen zuvor ungekannten Stellenwert. 65 Es geht im von Del Monte aufgeworfenen Sinn vor allem um Aussagen der Art, dass Del Monte, Mechanicorum Liber, praef., 2.: »adversus naturam vel eiusdem êmulata leges«. Ebd.: »prius ab Aristotele didicerit«. 65 Zwar kursierten bereits im Mittelalter in überschaubarer Zahl griechisch- und lateinischsprachige Ausgaben der Problemata mechanica; allerdings wurden – wie unter anderem Capecchi (2012), 91 f. ausführt – diese in nur geringem Maß zur intellektuellen Kenntnis genommen. Den Durchbruch dieser Schrift für die Renaissance stellt zweifelsohne die lateinischsprachige Übersetzung 1525 von Niccolò Tomeo (1456–1531) dar, insbesondere deren zweite Auflage von 1530. Sie kursierte vor allem in den Gelehrtenkreisen, die Zugang zu den größeren europäischen Bibliotheken besaßen. Obschon im 16. Jahrhundert über die Bibliotheksbestände weithin verbreitet, erfolgte die Publikation der Problemata mechanica im Sinne einer allgemein zugänglichen Ausgabe erst im Jahr 1613 auf Grundlage der Arbeiten von Maurolico (1494–1575). Dieser hatte gemeinsam mit seinem Schüler Guiseppe Moletti (1531–1588) – dessen unvollendetes Hauptwerk Dialogo intorno alla meccanica sich selbst von den pseudo-aristotelischen Theoremen stark inspiriert zeigt – in genau der Zeit eng zusammengearbeitet, in der Del Montes Mechanicorum Liber publiziert wurde. Alle drei waren wiederum über den Mathematikerkreis um Federico Commandino und Guidobaldo del Monte eng miteinander bekannt; vgl. hierzu Rose (1975) und Jaumann (2004), s. v. »Federico Commandino«, 192 f. Inwiefern hieraus nun eine wechselseitige Einflussnahme resultierte, kann nicht en détail nachgezeichnet werden und muss zu einem gewissen Teil im Modus der Mutmaßung bleiben; eine produktive Einflussnahme erscheint aber alles andere als unwahrscheinlich. In jedem Fall bemerkenswert ist die enorme Wertschätzung, die der pseudo-aristotelischen Mechanik bei Commandino, Del Monte, Tomeo, Maurolico und Moretti zwischen (mindestens) 1577 und 1613 zukommt. Das betrifft ganz besonders ihre lateinischen Übersetzungen, insofern selbst in Gelehrtenkreisen profunde Kenntnisse im Altgriechischen und somit ein Verständnis des ›Originals‹ nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnten. Eine Auflistung der lateinischsprachigen Editionen und Kommentierungen der Problemata mechanica im 16. und frühen 17. Jahrhundert bietet Capecchi 63

64

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wenn es denn nötig ist, etwas gegen die Natur zu vollführen, es wegen seiner Feindseligkeit [sc. gegenüber der Natur] eine Schwierigkeit bereithält und einer Kunstfertigkeit bedarf; daher nennen wir auch den Teil der Kunstfertigkeit, der bei derartigen Schwierigkeiten zur Hilfe kommt, die Mechanik. 66

Der Mensch sieht sich demnach bei der Bewältigung seines Lebens bisweilen Aufgaben gegenübergestellt, bei denen er sich nicht gänzlich auf die Natur verlassen kann. Was er dann vollführt, geschieht mithin nicht im Sinne der Natur, sondern explizit gegen diese gerichtet (παρὰ φύσιν). Und damit ist auch diejenige Auffassung von Mechanik benannt, die bei Del Monte zugrunde liegt. Ihr Status erweist sich bei (Ps-)Aristoteles wie bei Del Monte als ein nichtnaturgemäßer. Vielmehr tritt ihr Wert umso deutlicher hervor, je mehr ihre Eigenständigkeit anhand von Tätigkeiten außerhalb des Bereichs des naturgemäß Notwendigen hinaus bezeugt wird. Es geht mehr um den Nutzen (τὸ συµφέρον), den sie für den Menschen bedeutet, 67 und dieser unterliegt eben der Akzidenz, insofern er sich – je nach situativem Erfordernis – ja fortwährend ändern kann. Die Mechanik vollzieht somit die Naturgesetze nach, bedient sich gleichsam ihrer, um für den Menschen nützliche Dinge zu vollführen, und ist in ihrem ganzen Zuschnitt dennoch ganz und gar nicht ›natürlich‹ zu nennen. 68 Die nach Aristoteles zweite antike Bezugsgröße, die im Mechanicorum Liber eingeführt wird und sich zudem im gesamten Werk topisch wiederfindet, stellt nun Archimedes dar: Indes ist noch vollmundiger vor allen [sc. anderen] Mathematikern einzig Archimedes zu loben, von dem Gott wollte, dass er in der Mechanik gleichsam

(2012), 94, wobei dort nicht zwischen den bloßen Bibliotheksbeständen und den frei verfügbaren Textausgaben unterschieden wird. 66 Aristot., mech., 847a10 f.: »ὅταν οὖν δέῃ τι παρὰ φύσιν πρᾶξαι, διὰ τὸ χαλεπὸν ἀπορίαν παρέχει καὶ δεῖται τέχνης. διὸ καὶ καλοῦµεν τέχνης τὸ πρὸς τὰς τοιαύτας ἀπορίας βοηθοῦν µέρος µηχανήν«. 67 So zählen zu den Dingen, die man neben den natürlich hervorgebrachten bewundern dürfe, ausdrücklich diejenigen, »die durch eine Kunstfertigkeit zum Nutzen für die Menschen hervorgebracht werden.« (ebd., 847a5 f.: »ὃσα γίνεται διὰ τέχνην πρός τὸ συµφέρον τοῖς ἀνθρώποις.«). 68 Vgl. die Anspielung auf eine Sentenz des Dichters Antiphon ebd., 847a12: »καθάπερ γὰρ ἐποίησεν Α ᾿ ντιφῶν ὁ ποιητής, οὕτω καὶ ἔχει· τέχνῃ κρατοῦµεν, ὧν φύσει νικώµεθα.« (»Wie es der Dichter Antiphon formuliert hat, so verhält es sich auch: ›Mit der Kunstfertigkeit bewältigen wir dasjenige, worin wir kraft unserer Natur unterlegen sind.‹«) In Del Montes Wendung imperium habere spiegelt sich das τέχνῃ κρατοῦµεν aus dem Zitat Antiphons wider, allerdings durchaus in ausgeweiteter Form: Es geht nicht mehr ›nur‹ darum, in einem bestimmten Moment eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen; vielmehr hat die Mechanik geradezu eine dauerhafte Herrschaft über die Dinge der physischen Welt inne.

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ein einzigartiges Ideal darstelle, dem nachzueifern sich alle vornahmen, die sich dieser [sc. mechanischen Wissenschaft] befleißigten. 69

Somit wird bereits im Vorwort bei Del Monte eine Gliederung der leges naturae und der leges mechanicae vorgenommen, die sich ontologisch bestenfalls potentiell zu überschneiden wissen; und diese Gliederung wird im Bereich der maschinellen Kräfte nochmals auf Grundlage einer Trennung von Statik und Dynamik vollzogen, die dann auch im gesamten Werk strikt aufrechterhalten wird; die Trennung spiegelt sich zudem wider in der gesonderten Referenz auf die antiken Referenzgrößen Archimedes (Statik) und Aristoteles (Dynamik). Archimedes – der bereits im Vorwort noch vollmundiger (pleniore ore) als alle seine Konkurrenten zu loben sei – wird im Laufe des Werkes gleichsam die Überhand gegenüber dem (Ps.-)Aristotelismus gewinnen, und dies im weitreichenden Sinne einer »full application of Archimedean statics«. 70 Hieraus lässt sich ableiten: Indem ein antiker Mathematiker emphatisch als einzigartiges Ideal (idea singularis) für ein Buch über statische Gesetze angeführt wird, kann auch die Mathematik ohne große Umwege zu einem Ideal der Mechanik verklärt werden – eine Rollenzuweisung, die man mit einigem Recht als typisch für die Renaissance-Philosophie bezeichnet hat. 71 Diese Bezugsebene bleibt für den weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte maßgeblich: In den folgenden Jahrzehnten wird sich – vor allem mit mathematischen, nicht so sehr rein mechanistischen Argumenten – Joseph Justus Scaliger (1540–1609) gegen Anhänger des Archimedes wie Del Monte wenden, 72 was dann wiederum Adriaan van Roomen (1561–1615) zu einer Apologia pro Archimede (1597) veranlassen wird. Diese Apologia zeigt sich schließlich »nicht nur der Ehrenrettung Archimedes', sondern auch der notwendigen Verbindung von Geometrie und Arithmetik« 73 verpflichtet. Del Montes Mechanicorum Liber bildet somit, wenn auch ungewollt, den Ausgangspunkt für Kontroversen, die sich um 1600 Del Monte, Mechanicorum Liber, praef., 5: »sed prae omnibus mathematicis unus Archimedes ore laudandus est pleniore, quem voluit Deus in mechanicis velut ideam singularem esse, quam omnes earum studiosi ad imitandum sibi proponerent«. 70 Laird (2000), 39. 71 Vgl. etwa Koetsier (2010), besonders prägnant 86–88 und 110. In Bezug auf die im 16. Jahrhundert forcierte Archimedes-Rezeption hat sich im anglo-amerikanischen Raum gar der Terminus der Archimedean Renaissance etabliert; Koetsier weist in diesem Zusammenhang eine ideengeschichtliche Mittelstellung Del Montes zwischen den Archimedes-Anhängern Federico Commandino (1509–1575) und Simon Stevin (1548–1620) nach. 72 Vgl. vor allem dessen Cyclometria Elementa Dua (1594), worin er sich zwar als grundsätzlicher Bewunderer des archimedischen ingenium ausgibt, diesen jedoch zugleich aufgrund dessen vorgeblich allzu arithmetisch anmutenden Mathematikverständnisses kritisiert, wie Achermann (2015), 40 f. anführt. 73 Ebd., 41. 69

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über eine methodische Justierung entfalten, welche sich zuvorderst auf Figuren und Zahlen zu gründen habe. Geometrie und Zahlenlehre stellen in diesem Sinn die wichtigsten Applikationsfelder der Diskussionen um die Naturgemäßheit oder eben -feindlichkeit der Mechanik dar. In dieser Verschwisterung zweier mathematischer Teildisziplinen handelt es sich um eine Entscheidung, die – wie an späterer Stelle noch genauer auszuführen sein wird – auf das methodologische Grundverständnis eines Descartes vorausweist. Dort wird sie jedoch zu einem ganz anderen Schluss, nämlich zu einer Mechanisierung des Naturbegriffs führen. Dass das zwischen der natura und der (ars) mechanica aufgebaute Spannungsfeld zunächst noch für weitere Jahrzehnte einen erfolgreichen Schematismus bilden konnte, zeigt sich nicht nur an den oben diskutierten Beispielen, sondern auch und besonders eindrücklich an der Behandlung, die Aristoteles bei Bernardino Baldi (1533–1617) zukommt. Demselben Mathematikerkreis um Guidobaldo del Monte und Federico Commandino angehörend, befasste sich Baldi mit sehr unterschiedlichen Wissensbereichen, besonders intensiv jedoch mit der Mathematik und Mechanik. 74 Mit Blick auf seine In Mechanica Aristotelis problemata Exercitationes, die postum 1621 veröffentlicht wurden, lässt sich eine Konstante ersehen, die für das frühe 17. Jahrhundert maßgeblichen Bestand hat. Denn auch den Exercitationes Baldis zufolge sei es zum Wesen der Mechanik zu zählen, dass sie »entweder der Natur selbst folgt oder sie übertrifft.« 75 Dabei vollführe sie, mehr noch, geradezu »wunderbare Dinge«. 76 Es handelt sich um eine Bestimmung, die wir in ihrem grundlegenden Zuschnitt bereits bei Del Monte ersehen konnten, dort mit Aristoteles und Archimedes als den Struktur verleihenden Referenzfiguren bei gleichzeitiger Lobpreisung Pappos'. In diesem Feld bewegt sich nun auch die programmatische Ausrichtung der Exercitationes Baldis, insofern [w]ir anhand dieser Definition beziehungsweise Beschreibung recht genau all dasjenige aufgenommen haben, was am umfassendsten von Guidobaldo [sc. del 74 Zur Rolle Baldis in der komplexen Gemengelage des Wissenschaftsbetriebs in der Spätrenaissance vgl. ausführlich Ferraro (2008). 75 Baldi, In mechanicam Aristotelis problemata Exercitationes, 1: »Naturam ipsam vel secundans, vel superans«. Dass diese Bestimmung gleich zu Beginn des Hauptteils in einer Sektion untergebracht wird, die mit »Beschreibung, Wesen und Zweck der Mechanik« (ebd.: »Mechanices descriptio, natura, finis«) betitelt ist, birgt eine gewisse Ironie: Es handelt sich um ein luzides Beispiel für die Ambiguität, die dem Naturbegriff im 17. Jahrhundert in immer höherem Maße zukommt – namentlich im Spannungsfeld der Natur als Essenz (essentia) und als Daseinsbereich der diesseitigen Welt (natura naturata). Eine schulmeisterliche Strenge vorausgesetzt, ließe sich hier unterstellen, der Verfasser vertrete die scheinbar widersprüchliche Auffassung, dass es zur natura der Mechanik zu zählen sei, sich bisweilen gegen die natura zu richten. 76 Ebd: »mirabilia«.

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Monte], Pappos und Aristoteles sowie anderen hinsichtlich dieses Gegenstandes [sc. der Mechanik] überliefert worden ist. 77

Hier wird, knapp 50 Jahre nach Veröffentlichung des Mechanicorum Liber, Del Monte auf eine Ebene mit den antiken Autoritäten Aristoteles und Pappos gebracht, so dass sich in deren Behandlung von Mathematik und Mechanik Antike und Frühe Neuzeit in trauter Einigkeit versammelt sehen – ein Umstand, der umso mehr gilt, wenn es um Fragen nach der Natürlichkeit und Unnatürlichkeit beider Disziplinen, derjenigen der Naturphilosophie und derjenigen der Mechanik, geht. Dieses Phänomen soll sich noch als typisch für die gesamten 1620er Jahre erweisen: So finden wir denselben Grundgedanken zur vermeintlichen Natur-Unverträglichkeit der Mechanik auch bei Giovanni de Guevara (1561–1641), der sich wiederum in einem engen fachwissenschaftlichen Kontakt mit Bernardino Baldi befand, in seiner kommentierenden Übersetzung In Aristotelis Mechanicas Commentarij (1627). 78 Gleichwohl verleiht De Guevara der Mechanik bereits eine über Del Monte und Baldi hinausgehende Nuance: Er setzt sie zwar auch in einen strikten Gegensatz zur natura, erkennt dabei jedoch ihren unzweifelhaften Status einer ars an und – was alles andere als selbstverständlich erscheint – gesteht ihr gar Wesensmerkmale einer scientia zu. Zur Begründung dieser Haltung werden Pappos und Aristoteles Seite an Seite gestellt. So heißt es in der Additio tertia, die De Guevara den Problemata mechanica beifügt: Daher wird erstens zu sagen sein, dass die mechanische Fähigkeit wahrhaftig und angemessenerweise eine Kunst ist, so wie es in diesem Buch und im [sc. hier] ausgebreiteten Text von Aristoteles angenommen wird. [. . . ] Zweitens ist zu sagen, dass ebendiese mechanische Fähigkeit wahrhaftig und auf angemessene Weise eine Wissenschaft ist und [sc. eine solche] genannt werden kann. Das, was Aristoteles an der angeführten Stelle der Metaphysik implizit lehrt, während er auf diese Weise unter der Bezeichnung einer Kunstfertigkeit über diese Fähigkeit und die Medizin spricht und sagt, dass dieser Grund der Wissenschaft mit ihr wetteifere und dass insbesondere die Architekten (die selbstverständlich Mechaniker sind) ehrenhafter und gelehrter sind als diejenigen, die mit ihren Händen einzig aus Gewohnheit und Erfahrung arbeiten; da sie ja (so sagt er) die Ursachen derjenigen Dinge, die geschehen, kennen und es Ebd: »Hac diffinitione [sic] descriptioneve breviter ea fere omnia complexi sumus, quæ fusissime ab Aristotele, Pappo, Guido Ubaldo, & alijs hac de re tradita fuêre«. 78 Die vielleicht etwas ungewöhnlich anmutende Schreibweise Commentarij statt Commentarii findet sich nicht nur bei De Guevara, sondern auch bei anderen Schriftstellern dieser Zeit, darunter auch den bereits behandelten Del Monte und Baldi. Sie setzt sich in den Werken selbst (wenn etwa alij statt alii steht) fort. 77

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ein Kennzeichen eines Wissenden ist, sie unterrichten zu können. Daher nennt Pappos die Mechanik zugleich eine Wissenschaft und eine Kunstfertigkeit. 79

Die Anführung einer facultas mechanica, die – je nach Perspektive – als ars oder als scientia auszulegen sei, fügt sich in den Beschreibungshorizont einer wissenschaftlichen Tätigkeit ein. Auch die im Titel enthaltene Zuordnung In Mechanicas (anstelle von in Mechanica) legt nahe, artes (anstelle von problemata) zu ergänzen. Die anzitierte Pappos-Aussage wiederum rekurriert auf dessen mathematisches Hauptwerk, die Collectiones mathematicorum. 80 Das enge Band zwischen Mechanik und Mathematik bleibt also unzweifelhaft bestehen, bei gleichzeitiger Betonung der neuen Tauglichkeit der Mechanik als einer sich mit menschlichen Fertigkeiten beschäftigenden Wissenschaft. Die Begründung, auf die sich De Guevara in seiner Rangerhöhung der Mechanik zuvorderst bezieht, ist eine dezidiert metaphysische; sie lässt sich bestimmten Äußerungen zum Verhältnis von Kunstfertigkeit und Wissenschaft in der aristotelischen Metaphysik zuordnen. De Guevara bezieht sich hierbei grob auf das erste Kapitel des ersten Buchs 81 und hat dabei offenbar Passagen wie die folgende im Blick: Denn nicht einen Menschen [sc. überhaupt] heilt der Heilende, sondern Kallias oder Sokrates oder jemanden von den anderen, die derart bestimmt werden, dass es ihnen zukomme, ein Mensch zu sein. [. . . ] Überhaupt besteht ein [sc. Unterscheidungs-]Merkmal des Wissenden und des Nicht-Wissenden in der Fähigkeit des Unterrichtens, und darum glauben wir, dass die Kunstfertigkeit eher eine Wissenschaft ist als die Erfahrung. Sie [sc. die Kunstfertigen] nämlich können unterrichten, die anderen [sc. die Erfahrenen] aber können es nicht. Ferner glauben wir, dass von den Sinnen keine Weisheit herrühre; dennoch sind De Guevara, In Aristotelis Mechanicas Commentarij, Additio tertia, 13: »Ex quibus primò dicendum erit, mechanicam facultatem verè & propriè esse artem, prout in hoc libello, & in explicato textu assumitur ab Aristotele. [. . . ] Secundò dicendum est, eandem facultatem mechanicam verè etiam ac propriè esse ac vocari posse scientiam. Id quod implicitè docet Aristoteles loco citato metaphisices, dum eodem pacto sub nomine artis, de hac facultate ac de medicina loquitur, eisq[ue] competere ait rationem scientiæ; & in specie Architectos (qui sanè mechanici sunt) honorabiliores, & doctiores esse ait ijs qui manibus propter solam consuetudinem & experientiam operantur: quoniam (inquit) causas eorum quæ fiunt, sciunt; & signum scientis est posse docere. Unde Pappus Mechanicam scientiam simul & artem appellat.« (Kursivierung in der Übersetzung: D. B.). 80 Vgl. Papp., Coll. math., 8. 81 Vgl. De Guevara, In Aristotelis Mechanicas Commentarij, Additio tertia, 12: »Nihilominus I . Metaphisices cap. I idem Philosophus artem videtur confundere cum scientia saltem practica.« (»Nichtsdestoweniger scheint im ersten Kapitel des ersten Buchs der Metaphysik der Philosoph ebenso eine Kunst zusammen mit einer zumindest praktischen Wissenschaft zu vermischen«; Kursivierung in der Übersetzung: D. B.) Mit philosophus ist natürlich, ganz in mittelalterlicher Tradition, ausschließlich Aristoteles gemeint. 79

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diese die vorzüglichsten Erkenntnisquellen derjenigen Dinge, die im Einzelnen zu betrachten sind. Aber sie [sc. die Sinne] sagen nichts über das Warum, zum Beispiel warum das Feuer warm ist, sondern nur, dass das Feuer warm ist. Wahrlich ist es angemessen, dass derjenige, der neben den allgemeinen Sinneswahrnehmungen zuerst eine Kunstfertigkeit erfand, nicht nur deswegen von den Menschen bewundert wird, weil etwas von dem Erfundenen nützlich ist, sondern weil er weise war und sich vor den anderen auszeichnete. 82

Der Aufstieg der Mechanik wird also über die antike Mathematik, namentlich Archimedes und Pappos, sowie über die antike Philosophie, namentlich Aristoteles, vollzogen. Dass sich ein derartiger Schulterschluss nicht von selbst versteht, sondern etwas Überzeugungsarbeit benötigt, zwingt De Guevara dazu, es aus demjenigen zu ziehen, was Aristoteles unterschwellig sage (quod implicitè docet). De Guevara stellt damit nicht nur seine eigene interpretatorische Leistung aus, sondern zeigt auch an, dass sich die Mechanik zu ihrer Legitimierung auf die artes-Lehre – und dabei vor allem auf die antike Metaphysik – verlassen könne – selbst wenn dies nicht für jedermann mühelos einzusehen sei. Die Instanz, die über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ars entscheidet, ist somit, auch bezogen auf die Mechanik, die Metaphysik. Anders gewendet, sind die Problemata mechanica verantwortlich für eine Beschreibung der Künste, die aus der Handwerkskunst hervorgehen; die legitimierende Instanz für eine Ursachenlehre derartiger Künste bleibt aber die Metaphysik. Ebenso sind die Physik und die Problemata mechanica – beides Schriften, die sich mit der physikalischen Wirklichkeit befassen – vollwertige Mitglieder im Bereich der freien Künste; und sie sind, wenigstens für das 16. und das frühe 17. Jahrhundert, ganz und gar aristotelisch. Soweit der erste Befund zum Stellenwert der Mechanik. Dafür, dass jene von Del Monte so facettenreich eingeführte, von Baldi weiterhin prominent vertretene und von De Guevara noch weiter verfeinerte Trennung zwischen unnatürlichen und natürlichen Kräften nun nicht unbedingt so bestehen bleiben muss, dass sich vielmehr die Sphären der natura und der ars mechanica einander zusehends annähern, sorgt eine bestimmte Entwicklung, die bereits Aristot., metaph., 1, 1, 981a18–981b17: »οὐ γὰρ ἄνθρωπον ὑγιάζει ὁ ἰατρεύων, ἀλλ᾽ ἢ κατὰ συµβεβηκός, ἀλλὰ Καλλίαν ἢ Σωκράτην, ἢ τῶν ἄλλων τινὰ τῶν οὕτω λεγοµνέων ᾧ συµβέβηκεν ἀνθρώπῳ εἶναι· [. . . ] ὅλως τε σηµεῖον τοῦ εἰδότος καὶ µὴ εἰδότος τὸ δύνασθαι διδάσκειν ἐστίν, καὶ διὰ τοῦτο τὴν τέχνην τῆς ἐµπειρίας ἡγούµεθα µᾶλλον ἐπιστήµην εἶναι. δύνανται γὰρ, οἱ δὲ οὐ δύνανται διδασκειν. ἔτι δὲ τῶν αἰσθήσεων οὐδεµίαν ἡγούµεθα εἶναι σοφίαν. καίτοι κυριώταταί γ᾽ εἰσὶν αὖται τῶν καθ᾽ ἕκαστα γνώσεις· ἀλλ᾽ οὐ λέγουσι τὸ διὰ τί περὶ οὐδενός, οἷον διὰ τί θερµὸν τὸ πῦρ, ἀλλὰ µόνον ὅτι θερµόν. τὸ µὲν οὖν πρῶτον εἰκὸς τὸν ὁποιανοῦν εὑρόντα τέχνην παρὰ τὰς κοινὰς αἰσθήσεις θαυµάζεσθαι ὑπὸ τῶν ἀνθρώπων µὴ µόνον διὰ τὸ χρήσιµον εἶναί τι τῶν εὑρεθέντων ἀλλ᾽ ὡς σοφὸν καὶ διαφέροντα τῶν ἄλλων«. 82

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einige Jahrzehnte vor Del Montes Mechanicorum Liber eingesetzt hat. Hierzu ist der Blick auf die sich verändernden Auffassungen über die mit der Natur befassten Disziplinen selbst zu richten: Anhand der historisch zunehmenden Engführung, die sich zwischen der Betrachtung und dem Begriff von Natur etabliert, wird die philosophia naturalis – spätestens seit der so vielbeschworenen Kopernikanischen Wende 83 – zwar noch nicht in rein mechanistischer Form gedacht, jedoch bereits in der Weise weiter entwickelt, wie es die mathematische und physikalische Methodik einfordern. Das gelingt wiederum am nachhaltigsten – und am richtungsweisendsten – in den Disziplinen der Geometrie, Kosmologie und Astronomie. Deren gegenseitige Konnektivität ergibt sich dabei in gewisser Weise bereits aus der Kongruenz ihrer Untersuchungsgegenstände: Sie erscheinen schon dadurch einander verwandt, dass sie diejenigen Wissenschaften repräsentieren, die sich mit Gegenständen im Raum auseinandersetzen und sich diesen mit jeweils eigenen Beschreibungsinstrumentarien nähern. Sie tun dies insbesondere in der Weise, dass sie dem Faktor ›Zeit‹ in der Beschreibung des Raums unterschiedliche Bedeutungen zukommen lassen: Während die Geometrie sie prinzipiell ausblendet und die Kosmologie ihre eigenen Modelle als überzeitlich gültige verstanden wissen will, nimmt die Astronomie die Zeit zu dem Zwecke hinzu, körperliche Be83 Auf diesen Begriff, so inflationär er in der Wissenschaftsgeschichte bisweilen auch verwendet wird, soll hier nicht verzichtet werden, insofern sich zumindest sein allgemeiner Wert in ideengeschichtlichen Fragen durchaus erwiesen hat; vgl. am prominentesten Blumenberg (1965 und 1975) und Kuhn (1980). In mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht mag dieser Wert indes in Zweifel gezogen werden, wenn etwa hierdurch nahegelegt werden soll, die Menschen hätten vor Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium (1543) gewissermaßen in toto ›anders über die Welt gedacht‹. Gleichwohl muss hinsichtlich dieses Werks vor allem der neu begründete Stellenwert einer mathematisch exakt aufgebauten Kosmologie Berücksichtigung finden. Ohne diese Form der mathematischen Kosmologie ließe sich ein interdisziplinäres Ineinandergreifen von Geometrie und Theologie, wie es sich etwa im Holismus des ausgehenden 17. Jahrhunderts ausmachen lässt, zumindest in der Intensität, wie sie sich bei Leibniz vorfindet, nur schwerlich denken. Dass Kopernikus dessen ungeachtet von der nachfolgenden astronomischen Generation in Detailfragen nicht immer mit der gleichen Wertschätzung bedacht wurde, zeigt sich etwa im Briefverkehr Keplers mit dem Theologen und Amateur-Astronomen David Fabricius. Demzufolge habe in der Frage nach dem Peri- und Apogäum (den Punkten, in denen die Erde ihrer Laufbahn am nächsten kommt oder zu ihr am entferntesten steht) »Kopernikus anders und fehlerhaft, das heißt weniger gelehrt als Ptolemäus« (Kepler, An David Fabricius in Esens, 20: »[a]liter Copernicus et vitiosè, hoc est minus doctè quam Ptolemaeus.«) geurteilt. Die generelle Vorsicht, die man hinsichtlich einer monolithischen Stellung Kopernikus’ walten lassen sollte, wurde in jüngerer Zeit von Danneberg betont, dem zufolge es »nicht nur höchst umstritten [ist], was die Zeitgenossen in diesem Werk [De revolutionibus orbium coelestium; D. B.] gesehen haben, sondern auch, was wir darin sehen« (Danneberg [2003], 1). Im Folgenden setzt Danneberg Kopernikus’ Werk auf überzeugende Weise in eine zeitgeschichtlich relative Position zwischen Andreas Vesals De humani corporis fabrica und Petrus Ramus’ Institutiones dialecticae – beides Werke, die ebenfalls 1543 erschienen sind, jedoch nicht in vergleichbarer Weise kanonisiert wurden.

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wegungen als Kräfte beschreibbar zu machen: Der sich in der Zeit entfaltende Raum kann hierbei – worauf in späteren Kapiteln noch einzugehen sein wird – geradezu als die Grundvorstellung des Kraftvollzugs, mithin der Bewegungen von Planetenkörpern, aber auch von Körpern schlechthin in actu gelten. Die Frühe Neuzeit wird, mehr noch, mit der Dynamik eine Disziplin entwickeln, die sich dann dezidiert der Frage nach Kräften zuwendet. In all diesen Entwicklungssträngen geht es also nicht darum, eine bloße Vermessungskunst (agrimensura) zu betreiben, indem man etwa in der oberflächlichen Beschreibung physikalischer Realia verharrte (›Dieses Rübenfeld ist doppelt so groß wie jenes‹), sondern sich stets auch der Erkenntnis universeller Naturgesetze zu verschreiben. 84 Die Methodiken der Geometer, Kosmologen und Astronomen entsprechen daher, gliederte man sie je für ihren eigenen Bereich, den Grundsätzen mathematischer Präzision sowie einer ontologischen und theologischen Beweiskraft, im äußersten Falle gerichtet auf eine idealistisch anmutende Seinsschau (θεωρεῖν [theo¯ reîn], speculari). Derartige Erkenntnisziele sind jedoch selbst im letztgenannten Punkt nicht mit der traditionellen Metaphysik oder gar mit der Theologie thomistischer Provenienz gleichsetzbar, insofern die am Raum orientierten Wissenschaften ihre Anschauungsweisen explizit aus einer nicht-spekulativen Haltung heraus entwickeln wollen. 85 Was gegenüber dem klassischen speculari für das 17. Jahrhundert deutlich reizvoller erscheint, sind zum einen die Aufwertungsmomente der experimentellen Erprobung in Hinsicht auf die praktische Methodenbildung, zum anderen die reziproken Zuschreibungen der in den verschiedenen Wissenschaften hervorgebrachten Epistemen in Hinsicht auf deren disziplinäre und transdisziplinäre Theoriebildung. Eine geometrische Erkenntnis kann beispielsweise leicht zu einer astronomischen werden, wenn es darum geht, kosmische Ereignisse – wie etwa Kollisionen von Himmelskörpern – zu prognostizieren und zu deuten. So benutzt Pierre Bayle derartige Argumentationsfiguren gar in aufklärerischer Das mag mit ein Grund dafür gewesen sein, die historische Legitimierung der Mechanik in der Frühen Neuzeit vor allem griechischen Mathematikern zu überantworten (Archimedes, Diophantos, Pappos), während die römische Antike hierzu nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die Kunst des agrimetrischen Verfahrens ist zwar seit den mittelalterlichen artes mechanicae von anerkanntem Wert, sie bleibt jedoch praktische Funktion der Mechanik und nicht deren wissenschaftliche Begründung; vgl. hierzu die zwar zugespitzte, im Kern aber zutreffende Formulierung bei Herrmann (2014), 395: »Aus römischer Zeit ist kein schöpferisch tätiger Mathematiker bekannt geworden. Die Mathematik war bei den Römern nur eine Hilfswissenschaft für Feldmesser (Agrimensoren), Ingenieure und Architekten«. 85 Gerade dies zeichnet mehr noch ihre Naturwissenschaftlichkeit aus. Spekulative Gegenmodelle, wie sie etwa die Astrologie vertritt, müssen sich im Vergleich zum Mittelalter zusehends gegenüber den exakten Wissenschaften legitimieren, wollen sie nicht in der Tradition (und dem Vorwurf) mystischer Welterschließung verharren. 84

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Manier zur Bekämpfung des Aberglaubens. Seine Lettre sur la comète (1680) und besonders seine darauf aufbauenden, stilistisch am platonischen Dialog orientierten Pensées diverses sur la comète (1683) sind von der Diktion getragen, dass der 1680 weithin am mitteleuropäischen Himmel sichtbare Komet keine schicksalhaften Ereignisse auf der Erde zeitigen könne, da er einzig von physikalischen Determinanten bestimmt sei. Bayle bezieht sich hierbei dezidiert auf die sich mechanistischen und rationalen Grundsätzen verschreibende Physik der Cartesianer. 86 Es ergeben sich aus derlei Wissenschaftsformationen, die als an der Schnittstelle zur Aufklärung befindliche Disziplinen auffassbar sind, insofern sie die traditionellen artes untereinander kombinieren und zur Vermeidung von Fehlurteilen verwenden, neue Verhältnisse und Zuschreibungen, die zwischen den Disziplinen herrschen: Geometrische Astronomie lässt sich nunmehr suo iure ebenso legitimieren wie astronomische Kosmologie, mathematische Geometrie ebenso betreiben wie mathematische Kosmologie; letztere steht – was im 16. Jahrhundert noch eines ihrer Kernprobleme bedeutete – nicht einmal mehr in einem prekär determinierten Verhältnis zur Theologie. 87 Und schließlich lässt sich auch die Mechanik im Sinne einer physikalisch-geometrischen Disziplin beschreiben. Hierbei nämlich handelt es sich um einen ihrer nächstliegenden Anknüpfungspunkte im Zuge ihrer methodisch-theoretischen Eingliederung in den Wissenschaftsbereich: Sie kann bezüglich ihrer Illustrationsmöglichkeiten auf Entitäten wie Punkt, Linie, Kreis, Ellipse etc. zurückgreifen. So lassen sich die Ausrichtungen und Intensitäten von Kräften über Vektoren unterschiedlicher Direktionen und Längen zur Darstellung bringen; 88 zirkuläre Bewegungen der Körper entsprechen der Figur des Kreises; Kraftzentren lassen

Vgl. hierzu zuletzt Bizeul (2015), besonders 182–186. Hier ist an die Problemlage zu denken, mit der sich noch Giordano Bruno auseinandersetzen musste, namentlich die Fragen um Raum und Zeit in einem verabsolutiert gedachten Universum – Fragen, die im 17. Jahrhundert deutlich weniger Sprengkraft besitzen werden als zuvor. Dieser Raum erscheint, einem Koordinatensystem gleichend, von der körperlichen Welt geradezu entrückt, ohne dass er dabei aus einem Gottesbegriff abgeleitet werden müsste; vgl. insbesondere die beiden 1584 publizierten Abhandlungen Brunos De l’infinito, universo e mondi und De la causa, principio e uno. Vgl. zu den theologischen Schwierigkeiten eines absolut gedachten Raums bei Giordano Bruno Singer (1950), 46–92. 88 In der klassischen Physik werden Größen wie Kraft und Beschleunigung als Vektoren anhand der Größen ›Betrag‹ und ›Richtung‹ zur Darstellung gebracht – hierdurch stehen sie im Gegensatz zu Größen wie ›Masse‹ oder ›Temperatur‹, die zwar skalierbar sind, jedoch keine Direktion aufweisen. Die physikalischen Vektoren können dabei als Applikationsformen der geometrischen Vektoren gelten. Dass Newton selbst diese nie als Vektoren bezeichnet hat, ändert nichts an der konzeptuellen Übereinstimmung mit den heutigen Vektoren. 86 87

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sich als Punkte bezeichnen, 89 die physikalischen Körper als geometrische Körper, der Raum als Koordinatensystem fassen etc. Die Mechanik selbst richtet sich dabei aber gerade nicht auf abstrakte Formen und Figuren, wie es der Geometrie obliegen würde, sondern sie bewegt sich in ihrem Erkenntnisinteresse hin zu den Körpern der physikalischen Wirklichkeit im Sinne der durch Kraft hervorgerufenen und in Kraft ausgedrückten Beeinflussungen. Umso erstaunlicher muss es dann erscheinen, dass sie für die Gewinnung von philosophischen Erkenntnissen überhaupt in Frage kommt. Denn legte man die Folien der aristotelischen Naturphilosophie oder der platonischen Erkenntnislehre an, so käme der Mechanik gleich zu Beginn ihrer disziplinären Karriere eigentlich eine undankbare Position zu – und dies nicht nur aufgrund der bei Del Monte verfolgten Idealisierung der archimedischen Statik, 90 sondern sowohl in Bezug auf ihre Kräftetheorie als auch auf ihre Methodik.

1.b.β. Kräftetheorie und mechanische Methodik

Zunächst zur Kräftetheorie: Im Zuge des Aufkommens präziser Beobachtungstechniken mithilfe maschineller Gerätschaften sieht sich prinzipiell jede naturphilosophische Schule zusehends mit neuen Kraft- und Bewegungskonzepten konfrontiert, die sich eines intellektualistischen ›Überbaus‹ oder auch nur einer metaphysischen Primärgröße geradezu entsagen. Betrachtet man nämlich die am häufigsten als für die Mechanik typisch angenommenen Axiome unter dem Gesichtspunkt einer Schulen übergreifenden Konsistenz, so ergibt sich ein scheinbar eindeutiges, ja fast einseitiges Bild: Die Mechanik befasst sich mit Kraftvorstellungen, die auf den ersten Blick wie eine schiere Kontrafaktur der aristotelischen Naturphilosophie anmuten. Denn ihre Kräfte (vires) widersetzen sich der Polarität von δύναµις (dýnamis)/potentia auf der einen und ἐνέργεια (enérgeia)/actus auf der anderen Seite auf fast schon trotzige Weise: 89 Del Monte lässt etwa den Hauptteil des Mechanicorum Liber gleich mit einer geometrisch instruierten Feststellung beginnen, nach der das »Zentrum der Schwerkraft eines jeden Körpers ein Punkt ist.« (Del Monte, Mechanicorum Liber, 1, 1: »centrum gravitatis uniuscumque corporis est punctum.«) Dieselbe Phrase wird im Übrigen auch von Bernardino Baldi in seinen In mechanica Aristotelis problemata Exercitationes, 2 aufgegriffen. 90 Dass die Archimedes-Rezeption – sei sie nun, wie bei Del Monte, aus einer affirmativen oder, wie bei Scaliger, aus einer kritischen Haltung heraus vorgeführt – die Mechanik in den Status einer philosophischen Erkenntnisdisziplin erheben könnte, wird bereits dadurch erschwert, dass Archimedes – im Gegensatz zu Platon und Aristoteles – epochenübergreifend vor allem als Mathematiker und nicht als Philosoph eingestuft wird. Anders gewendet: Die Mathematik muss zunächst als Disziplin der Philosophie angenähert werden, um ihre herausragenden Vertreter auf Augenhöhe (und dann auch in Einklang) mit den klassischen Philosophien zu bringen.

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Sie sind nicht final-, sondern kausalursächlich (nihil fit sine causa); sie wissen in der Regel nicht sonderlich scharf zwischen vordergründigem Vollzug und subkutanem Potential zu unterscheiden, sondern sind taxonomisch stets so einheitlich wie möglich gehalten (vis); 91 an ihrem Anfang stehen keine natürlichen, sondern künstliche Interessen; sie sind, je nach Perspektive, passiv (vis insita) und aktiv (impulsus) zugleich zu denken; sie weisen der Masse (massa, moles) und der Trägheit (inertia) eine eigene Substantialität zu; 92 und schließlich braucht, was in metaphysischer und zumal theologischer Hinsicht mitunter als die größte Zumutung erscheint, ihr erstes Bewegungsprinzip nicht zwingend Gott, nicht einmal im Sinne des so traditionsreichen und im Laufe der Epochen schon so häufig diskutierten ersten Seins-Urgrundes (οὐσία πρώτη/ousía pro´¯ te¯) darzustellen. Man könnte angesichts dieses Gesamtbilds leicht schließen, dass die Mechanik, indem sie sich scheinbar ausschließlich ›niederen‹ Kräften zuwendet, sich damit zugleich auch jeglichen sublimeren Erklärungsansprüchen enthalte. Sie ist daher im Zuge ihrer langwierigen wissenschaftlichen Etablierung wenigstens dem Verdacht eines pikaresk anmutenden Weltblicks, 93 häufig der Unterstellung einer subversiven Grundhaltung 94 und schlimmstenfalls gar Augenfällig ist hier die Tendenz, möglichst viele Kraftphänomene unter der vis als einer Kategorialgröße zu subsumieren und dabei weniger auf Vorstellungen einer potestas, einer potentia, eines robur, einer firmitas etc. zu rekurrieren. So bevorzugt man, obschon mit der potestas und dem robur adäquate Ausdrücke zur Verfügung stünden, mit der vis insita (in theologischer Sicht auch: vis indita) attributive Charakterisierungen, die – am prominentesten vielleicht in den Definitiones der Principia Newtons – gelegentlich auch in ein Wechselspiel miteinander treten können – ein für die Terminologie der klassischen Mechanik wichtiger Aspekt, der in Kapitel III.3 der Studie noch genauer behandelt werden wird. 92 Dies sind bei Weitem keine unschuldigen wissenschaftlichen Taten, die sich zur religiösen Tugendlehre völlig neutral verhielten: Bereits der Trägheit eine eigene Substantialität zuzurechnen, muss für einen bibeltreuen und mit etwas Abstraktionsvermögen ausgestatteten Christenmenschen schlechterdings bedeuten, eine der sieben Todsünden zu affirmieren. Auch der Zusammenhang von Masse und Völlerei ist in der christlichen Ikonographie ein traditioneller zu nennen und durch die Bildsprache eines Hieronymus Bosch (∼ 1450–1516) im 16. und 17. Jahrhundert als sehr präsent einzustufen. Den Aufwertungsstrategien von Masse und Trägheit wird sich daher in einem eigenen Kapitel ( III.1.c.β) noch genauer zugewandt werden. 93 Insofern ihre Ausgangsperspektive darin besteht, die Welt aus ihren internen Operationen heraus begreifen zu wollen. Ebenso gilt der teleskopische Blick ins Universum stets als ein Blick von unten nach oben, der sich in keiner göttlichen Position wähnen kann – und auch an keiner ernstzunehmenden Stelle dergestalt behauptet würde. 94 Vgl. als ein prominentes Beispiel den Prioritätsstreit zwischen Maupertuis und Voltaire am Hofe Friedrichs des Großen. Dabei ging es um das Prinzip der kleinsten Aktion, das in der Natur vorzufinden sei, insbesondere darum, aus welchen mechanischen Minimaleinheiten (Masse, Bewegung, Geschwindigkeit etc.) sich diese speise; vgl. hierzu Szabó (31987), 86–94. Allgemein äußert sich hierzu Wagner (1969), 24: »Die tiefe und echte religiöse Erschütterung durch die technischen Erfindungen, beispielweise Mikroskop und Teleskop, das Eindringen des bewaffneten menschlichen Auges in die Geheimnisse und Schönheiten der Natur führte zu einer Rationalisierung 91

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dem Vorwurf des Atheismus 95 ausgesetzt. Wie auch immer derartige Gefahren theologisch und philosophisch auszulegen sind, ergeben sich doch in jedem Fall beträchtliche Herausforderungen für die genannten Disziplinen der Geometrie, Kosmologie und Astronomie: Die Mechanik wäre in dem Moment, in dem sie als Beschreibungsinstrument für die Wirklichkeit ernst genommen wird, in der Lage, deren zentrale Kategorien umzuwerten, zu entwerten oder gleich ganz zu ersetzen. Wenn also in der Geometrie der Kreis noch eine vollkommene Figur symbolisiert, so wird er für einen Astronomen wie Kepler an Wertigkeit einbüßen, da er aufgrund der Bewegungsvoraussetzungen, die wiederum auf der Anziehungskraft der Körpermassen beruhen, nicht mehr als die urtümlichste Bewegungsart der Körper gelten kann; wenn ein sich der mittelalterlichen Scholastik verpflichtet fühlender Kosmologe in den höheren Himmelsregionen heilige Sphären vermutet, so herrschen für einen Mechanizisten dort dieselben Naturgesetze wie in den irdischen Gefilden vor; und wo ein humanistisch geprägter Astronom die Himmelskörper nach Gesetzen beschreibt, die sich von seiner Auffassung der physischen Verfasstheit des Menschen systematisch unterscheiden, wird ihn die Mechanik zuallererst darüber belehren, dass es sich bei den Himmelsbewegungen um ähnliche, wenn nicht gar um prinzipiell dieselben Vorgänge handelt, die im menschlichen Blutkreislauf walten. Homogenität und Isotopie sind somit die leitenden Vorstellungen, gegenüber denen die Auffassung von einem substantiell streng hierarchisierten Kosmos zurücktreten muss. Manche Grundüberzeugungen, derer sich die Wissenschaften seit der Scholastik verschrieben haben, werden somit eskamotiert oder zumindest auf eine dem einfachen Verstandesgebrauch zugänglichen Lehre hin reduziert. 96 Und der Glaubenswahrheiten; nur eine kurze Zeitspanne lang, der Newton zugehört, meinte man damit im tiefsten Sinne des Christentums zu handeln«. Zur allgemeinen Bedeutung Maupertuis’ für die Zeit der Aufklärung vgl. Terrall (2002). 95 Eines der polemischsten Beispiele hierfür ist Leibniz’ Brief an die Prinzessin von Wales (1715), in dem er Newton – und im Zuge dessen gleich auch den zu diesem Zeitpunkt längst verstorbenen John Locke – der Verbreitung gottloser Philosophien bezichtigt. 96 Eines der anschaulichsten Beispiele hierfür findet sich in Hobbes’ Elementa philosophiae (1642–1658), namentlich in der inhaltlich ersten Sektion, die jedoch publikationsgeschichtlich zwischen De cive (1642) und De homine (1658) den zweiten Teil einnimmt, De corpore (1655). Dort werden die basalen Operationen der Arithmetik – Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren – von vier auf zwei Rechenoperationen reduziert: »Unter Schlussfolgern aber verstehe ich Rechnen. Rechnen ist nämlich das Bilden der Summe aus mehreren addierten Dingen beziehungsweise die Kenntnis über den Rest, nachdem ein Ding von einem anderen abgezogen wurde. Schlussfolgern also ist dasselbe wie Addieren und Subtrahieren. Falls jemand Multiplizieren und Dividieren zu diesen hinzufügen möchte, so will ich das nicht ablehnen, ist doch die Multiplikation eine Addition des Gleichen, die Division hingegen, wie oft die Subtraktion des Gleichen durchgeführt werden kann. Daher lässt sich das Schlussfolgern gänzlich auf zwei Operationen des Geistes zurückführen,

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als wäre dies nicht genug, schickt sich die Mechanik noch dazu an, eigene stoffliche und formende Prinzipien wie etwa Masse (massa, moles), Schwerkraft (gravitatio), Eindruck (impressio) oder Anstoß (impetus) zu entwickeln, nach denen allein sich die Welt naturgemäß verhalte. Sie benötigt, um die sich dem Essentialismus verpflichtenden Denkungsarten so fundamental wie möglich auf deren eigene Stabilität hin zu prüfen, indes einen Sekundanten, der sich in noch dezidierterer Weise mit dem Sein als einem Begriff aus der antikscholastischen Tradition (ens, essentia; ὄν, οὐσία) auseinandersetzt. Erst hierdurch scheint eine gewisse philosophische Autoritätslinie gewahrt, wodurch wiederum die Umwertung der physikalischen Paradigmen umso wirksamer in Erscheinung treten kann. Diesen Gehilfen hat sie in offensichtlichster und zugleich radikalster Form im Monismus gefunden. 97 Er kann im 17. wie im 18. Jahrhundert als eines der aufsehenerregendsten Gegenmodelle zu der Form von Metaphysik gelten, die bislang auf die Stufenfolge der Substanzen nicht zu verzichten bereit war. 98 Gegenüber den hochgradig diversifizierten und dabei harmonisch aufgebauten Welttheatern des barocken Platonismus kann es nämlich auf Addition und Subtraktion.« (Hobbes, De corpore, pars 1, cap. 1, 2: »Per ratiocinationem autem intelligo computationem. Computare verum est plurium rerum simul additarum summam colligere, vel una re ab alia detractata, cognoscere residuum. Ratiocinari igitur idem est, quod addere et subtrahere, vel si quis adjungat his multiplicare et dividere, non abnuam, cum multiplicatio idem sit quod æqualium additio, divisio, quod æqualium quoties fieri potest subtractio. Recidit itaque ratiocinatio omnis ad duas operationes animi, additionem et subtractionem.«). 97 Der Begriff ›Monismus‹ wird hier im Rekurs auf seine naturphilosophische, nicht auf seine erkenntnistheoretische Prägung als ein methodologischer Schlüsselbegriff verwendet. Er dient in erster Linie der Beschreibung eines welterklärenden Prinzips der Produktivität, nach dem sich ein Substrat fortgesetzt realisiert – etwa dass aus Materie nur Materie hervorgehe, aus Bewegung nur Bewegung, aus Kraft nur Kraft etc. Zwar mögen sich die Folgephänomene in ihren Ausprägungen voneinander unterscheiden (X1 g X2 g X3 g Xn); sie unterliegen dabei jedoch noch immer demselben essentiellen Grundparadigma. Blickt man als Naturphilosoph nun vom anderen Ende (Xn) her auf die ontischen Größen, so ließen sich diese als ›immanent‹ in Bezug auf ihr priorisches Substrat bezeichnen. Wenn im Folgenden von Immanenz gesprochen wird, so wird methodologisch diese Perspektive eingenommen. 98 Dieser Punkt mag auf den ersten Blick gar nicht einmal hervorhebenswert zu sein, ist allerdings in seiner historischen Nachverfolgung nicht so trivial, wie es den Anschein hat. Denn der Monismus prägt sich sowohl als Fortschreibung der materialistischen Naturphilosophien wie auch als Subversion seiner eigenen Spielarten aus, indem er sich – etwa als Pantheismus – auch als dezidiert anti-materialistisch ausweisen kann, was ihn gelegentlich schwer erkennbar macht (vgl. generell hierzu immer noch Dilthey [1893]). Hinzu kommt, dass sich Monisten aus den genannten Gründen ohnehin höchst selten und ungern selbst als ›Monisten‹ bezeichnet hätten. Die Forschungslage zum Monismus erweist sich bis heute als ein einigermaßen merkwürdiges Konstrukt. Eine brauchbare Übersicht über die die differenten frühneuzeitlichen Strömungen bietet bis heute immerhin Drews (1908). Die umfassenden Darstellungen von Brücker (2011) und Lerch (2008) beziehen sich vor allem auf den Werdegang des Monismus ab dem 19. Jahrhundert und fassen dabei insbesondere theologische Problemstellungen ins Auge.

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hier als ein ausgemachtes philosophisches Ziel gelten, auf so wenige Grundannahmen zur Natur wie möglich zu rekurrieren. In dieser metaphysischen Askese fallen Mechanik und Monismus geradezu in eins. 99 Zwar muss der naturwissenschaftliche Reduktionismus nicht unbedingt in einem Monismus enden – insofern er natürlich eine Vielzahl an Gesetzen hervorbringen kann, die sich prinzipiell auch auf verschiedene Substanzen, auf den Körper, die Materie, den Geist, die Ausdehnung und vieles andere beziehen können – allerdings erscheint es dessen ungeachtet sehr attraktiv, bevor man sich auf die Beschreibung von Naturgesetzen einlässt, eine reduzierte ontologische Gestalt der Welt zugrunde zu legen und somit ontologische Beschaffenheit und Naturgesetzlichkeit aus Sicht desselben Grundgedankens zu behandeln. 100 Es sind die Vorstellungen von Einfachheit und Klarheit, die hierzu den Leitfaden bilden. Die operationalen Abläufe des Universums sind dementsprechend in absoluter wie auch in ubiquitärer Gültigkeit zu denken: Stößt ein Stein an einen anderen und versetzt ihn dadurch in Bewegung, so kann dies an jedem beliebigen Ort des Universums – in der sub- wie der translunaren Sphäre – nach denselben Regeln passieren. Denn hier gibt es keinen Ideenhimmel und keine dritte οὐσία, erst recht keine translunaren Sphärenklänge, die sich sonderlich von den irdischen Gesetzmäßigkeiten zur Akustik unterscheiden würden; es genügt vielmehr ein physikalisches ›Gesetzbuch‹ in simplice, um sämtliche Naturphänomene rational und universell zu erfassen. Dem Anschein nach ist es also zunächst eine axiomatisch eher genügsame Allianz, die sich im 17. Jahrhundert formiert und dabei doch eine beträchtliche diskursive Unruhe erzeugt. Diese Diskrepanz zwischen Diskurs und Axiomatik lässt sich indes nur aus der Geschichtlichkeit der genannten Umwertungsprozesse heraus erklären. Denn eben jenes Subversionspotential, das der Mechanik in ihrer Herausforderung des alten Naturbegriffs durchaus zukommt, löst der Mechanizismus – Ein solcher Reduktionismus wird auf ein Anspruchsdenken hin entwickelt, das die Mechanik epochenübergreifend an sich selbst stellt. Es reicht bis in das bürgerliche Zeitalter hinein, wenn man sieht, mit welch definitorischen Satz Gustav Robert Kirchhoff (1824–1887) seine Vorlesungen über Mechanik beginnen lässt: »Die Mechanik ist die Wissenschaft von der Bewegung; als ihre Aufgabe bezeichnen wir: die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.« (Kirchhoff, Vorlesungen über Mechanik, Erste Vorlesung, § 1). 100 Vgl. exemplarisch Bacon, Novum Organum, lib. 1, Aphor. LXXXV , 191: »Res enim (exempli gratia) subtilis est certe et accurata confectio horologiorum, talis scillicet quæ cœlestia in rotis, pulsum animalium in motu successivo et ordinato, videtur imitari; quæ tamen res ex uno aut altero naturæ axiomate pendet«. (»So ist [beispielsweise] die Anfertigung von Uhrwerken gewiss eine feine und sorgfältige Sache; eine solche freilich, welche die Gestirne in ihren Drehungen, den Pulsschlag der Lebewesen in seiner fortschreitenden, wohlgeordneten Bewegung nachzuahmen scheint; dennoch hängt sie nur von einem oder zwei Grundsätzen der Natur ab.«). 99

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so man ihn nicht als rein systematisches Phänomen in den Blick nimmt – auch in Verschwisterung mit dem Monismus je nach zeitgeschichtlichem Zusammenhang auf sehr unterschiedliche Weise ein. Die oben angeführten und zu einer Art Grundinventar der mechanischen vires zusammenfassbaren Philosopheme kommen vor allem bei einer synchronen Betrachtungsweise auch zu ihrer so einschlägigen Geltung. Die historische Entwicklung des Mechanizismus fällt hingegen deutlich komplexer aus, als es ein bloßes Opponieren gegen die antiken Kraft- und Naturbegriffe oder deren völlige Desavouierung ausdrücken könnte – seien diese nun platonisch, aristotelisch, stoizistisch oder epikureistisch vorgestellt. 101 Der Mechanizismus trägt vielmehr indirekt zu einer Stärkung derjenigen Philosophenschulen bei, die in der abstrakten Erkenntnis nach wie vor den ersten Urgrund des Seins ausmachen wollen. So ruft gerade der grundsätzliche Mangel an intellektualistischen Bezugsgrößen in der mechanistischen Kräftelehre wiederum den Intellektualismus 102 selbst als eine virulente Reaktion auf den Plan. Zu dessen wichtigsten Sekundanten, der den Aufbau der Welt in den Kategorien der Harmonik und Perspektivität in den Blick nimmt, entwickelt sich dabei zusehends – und bei Leibniz in voller Ausprägung – der neuzeitliche Holismus. Hieraus, namentlich aus den Affirmationen des kontingenten Ereignismoments, wie wir es noch prominent bei Newton vorfinden werden, und des rationalen Weltblicks, wie er bei Leibniz auszumachen ist, gehen nun zwei mutmaßlich konfligierende Philosophien hervor, die sich wenigstens dem Anschein nach in ihren Grundannahmen nur schwerlich miteinander vereinbaren lassen: der monistische Mechanizismus und der holistische Intellektualismus. Der eine sieht in den Prozessen der Wirklichkeit einfache Bewegungsübertragungen, die sich auf einer ebenso einfachen Substanz gründen; der andere setzt für jegliche Welterkenntnis einen Gesamtzusammenhang voraus, der in und zwischen den Dingen vorherrscht und dessen Eingang in den menschlichen Geist zugleich den Existenzbeweis desselbigen darstellt. Es läge durchaus nahe zu vermuten, dass der Intellektualismus, gerade in seinen Vorzügen als ein den Verstand affirmierendes Erklärungsmodell, dem Mechanizismus gewisse Berechtigungen im Hinblick auf dessen physikalische Als eine der Schlüsselfiguren hierfür wurde bereits Pierre Gassendi vorgestellt, der in seinen Exercitationes paradoxicae eine kritische Auseinandersetzung mit den Peripatetikern bei gleichzeitiger Darlegung ihrer Lehre verfolgt und sich in seiner Beweisführung insgesamt stark dem Epikureismus verpflichtet. 102 Die hier und im Folgenden in den Blick genommene Auffassung von Intellektualismus meint, systematisch reduziert, die Intention, das Erkennen mit dem Erkenntnisgegenstand möglichst in eins zu nehmen. In geschichtlicher Sicht ist die Bedeutungsweite der res cogitans – als einer Substanz, in der eben dies zur Geltung kommt – angesprochen, wie sie sich dann auch erkenntnistheoretisch einschlägig und prominent etwa im cartesischen cogito ergo sum ausdrückt. 101

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Präzision zugesteht, ihn jedoch aus der Philosophie gleichzeitig herauszuhalten versucht. Was im Zuge der Descartes-Rezeption geschieht, ist jedoch etwas ganz anderes: Nicht der bloße Widerstreit von sensus und intellectus, sondern die Frage nach der Reduzibilität von Naturprinzipien selbst wird zur gemeinsamen Herausforderung für Mechanizismus und Intellektualismus entwickelt. Und dies kann nicht zuletzt deshalb so eindrucksvoll funktionieren, weil der Sensualismus derartig erfolgreich ist, dass die Frage nach dem primären Erkenntnisorgan, wenigstens nicht im Sinne einer singulären philosophischen Leitfrage, gar nicht mehr immer wieder neu mit derselben Intensität aufgerollt werden muss. Dadurch können in den naturphilosophischen Diskursen nunmehr neue Konkurrenzverhältnisse in den Vordergrund rücken, die sich mit den physikalischen Phänomenen selbst befassen, statt sich vollkommen auf erkenntnistheoretische Positionierungen kaprizieren zu müssen. Sie erscheinen gewissermaßen deutlich zeitgemäßer und aufschlussreicher als die ›altbekannte‹ quaestio nach dem Primat von Sinn oder Vernunft. Bereits in den Fragestellungen, die sie an die Welt richten, sind sie erkennbar vom Einfluss der mechanistischen Weltbilder getragen: Ist es die Masse oder die Monade, die als Schlüsselprinzip zu gelten hat und von der die kosmischen Kräfte und Bewegungen aus zu denken sind? Ist es die Trägheit oder die Spontaneität, die als kinetischer Urgrund in den Körpern liegt? Ist die Materie dementsprechend als selbsttätig oder als bloßer passiver Stoff zu betrachten? Ist es der Sprung oder die Elastizität, die das taktile (oder eben nicht-taktile) Verhältnis der Körper zueinander bestimmt? Diese und damit verwandte Fragen sind es, die spätestens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts zusehends die novatorischen Diskurse um Kraft und Bewegung und damit auch das mechanistische Weltbild mit konstituieren werden. Als zeitgenössisches Charakteristikum kann dabei die Annahme vorwiegend stofflicher Größen, die sich nach den Eigenschaften innerer Kräfte disponieren, für den philosophischen Argumentationsgebrauch gelten. Auf einen schlichten Nenner gebracht meint dies, dass es in den Gelehrtendiskursen zusehends weniger um den metaphysischen als vielmehr um den substantiellen Gehalt der in der Natur vorkommenden Dinge (re¯s naturae, re¯s naturatae) geht. Die Transzendentalphilosophie wird – stärker als es noch im Renaissance-Humanismus der Fall war – durch die immer weiter fortentwickelten Funktionsweisen, die den in der Natur waltenden Immanenzen zugeschrieben werden – gleichsam dazu herausgefordert, ihre Haltung zu gewissen Ontologemen zu überprüfen. Bei den Herausforderern handelt es sich um intensive Größen, die selbst disponiert sind nach den Eigenschaften ihrer Kräfte – seien diese gravitätisch, spontan oder träge zu nennen. Und eben dieser Intensität entspricht dann auch der methodische Blickwinkel einer vorwiegend inspektiv gedachten Na-

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turschau. Eine solche Schau in das Innere der Dinge verliert sich indes nicht in dieser Immanenz, sondern bringt über das Tableau der Mechanik mithilfe der Mathematik (vor allem der Algebra, der Arithmetik und eben der Geometrie) ausgebreitete Ergebnisse hervor. 103 Da es in diesen disziplinären Zusammenschlüssen also nicht nur um abstrakte Erkenntnisfragen, sondern stets auch um Körper (corpora) geht und Körper wiederum nicht schlichtweg mit der Materie in eins fallen, sondern – wie in der Geometrie – auch ohne konkrete Materie denkbar sind, kann ein metaphysisches, sich gegenüber der Materie weiterhin autonom verhaltendes Anspruchsdenken nicht nur aufrecht erhalten werden, sondern strebt danach, in Richtung abstrahierender Größen weiterentwickelt zu werden. Was dennoch im Zuge der Suche nach den Naturimmanenzen in jedem Fall Gefahr läuft, hinfällig zu werden, ist jeglicher metaphysische Primat einer Ideenwelt. Denn Descartes' res cogitans zeichnet sich ja gerade nicht dadurch aus, dass sie der res extensa in irgendeiner Hinsicht – ideell oder materiell – vorgelagert wäre; es handelt sich vielmehr um zwei autonome Naturbereiche von jeweils eigenem substantiellem Zuschnitt. Die Frage nach der Substanz ersetzt daher – bei Cartesianern wie auch bei den Anti-Cartesianern – die Frage nach der Wesenheit, um dann paradoxerweise wiederum genau deren Funktion auszufüllen. Denn ebendies fordern die aus der Antike tradierten Naturbegriffe – auch nach ihrer scholastischen und humanistischen Transformierung – nach wie vor in unverbrüchlicher Weise ein: eines oder mehrere die Dinge vertretende Prinzipien, die sich selbst der Dinghaftigkeit entziehen. Es werden also im 17. Jahrhundert sukzessive Naturkonzeptionen entworfen, in denen sich die antiken Theoreme zur Essenz nach wie vor wenigstens strukturell verankert zeigen, dabei jedoch in Formen der Naturerkenntnis überführt werden, die den substantiellen Größen in sinnlicher, materieller und intellektualer Dimension zuarbeiten – ohne dabei bloß sensualistisch, bloß materialistisch oder bloß intellektualistisch zu sein. Worauf man in einer derartigen, in manchen Teilen beinahe ›ideologisch‹ zu nennenden Ideen-Zirkulation mit signifikanter Zuverlässigkeit zurückkommt, ist die Annahme von Kräften, die den Dingen bereits aufgrund ihrer Trägergrößen, namentlich den Körpern, inhärieren. Sie werden – wie noch zu zeigen sein wird – dabei zusehends nicht mehr als profan eingestuft, sondern als Ausgangspunkt göttlicher Proportionen und Bewegungen gesehen – und als solche zur Darstellung gebracht. Wollte man auf dem Hintergrund einer solchen frühneuzeitlichen NaEinen wichtigen Rezeptionspunkt dieses innermathematischen Beziehungsgefüges bildet im frühen 18. Jahrhundert Nicolas Guisnées Application de l’algebre a la geometrie (1705), eine insbesondere auf Protagonisten der Aufklärung wie D’Alembert einflussreiche Schrift; vgl. hierzu die Darstellung bei Peiffer (2005), 128–132. 103

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turphilosophie ein in Ansätzen konsistentes Grundmodell für die Naturen im 17. Jahrhundert benennen, wird dieses also nicht in einem persistenten Nebeneinander von einer präzise und diesseitig argumentierenden Naturwissenschaft auf der einen Seite und einer spekulativen, jenseitig orientierten Philosophie auf der anderen Seite, sondern vielmehr in der Form eines nur vermeintlichen Paradox, einer Art des intellektualistischen Mechanizismus bestehen. Diese Auffassung wird – wie sich anhand der Philosophien Descartes' und Leibniz' zeigen wird – die Erkenntnis der Dinge mit ihrer mechanischen Bedingtheit engführen, insbesondere mit den Größen von Bewegung und Kraft. Nun zur Methode: Da die Mechanik sich bis heute vor allem geometrischer Illustrationsmöglichkeiten bedient, liegt es nahe, eine solche Verfahrensweise ideengeschichtlich etwas genauer in den Blick zu nehmen. Die geometrische Betrachtung, wie sie von Platon in der Politeia einflussreich diskutiert wird, zielt bekanntlich auf eine Form der Erkenntnis zwischen Meinung (δόξα/dóxa) und vernünftigem Verstand (νοῦς/noûs) ab; sie geht als solche in einer mittleren Einstellung des Denkvermögens (διάνοια/diánoia) auf, wie es Glaukon an einer sinnfälligen Stelle zusammenfasst: Du [sc. Sokrates] scheinst mir die methodische Haltung der Geometer und ähnlicher [sc. Wissenschaftler] ein Denkvermögen, nicht jedoch ein vernunftgemäßes Erkenntnisvermögen zu nennen – ein Denkvermögen, das sich gewissermaßen zwischen der Meinung und dem Verstand befinde. 104

Hierauf folgt in der Politeia die Darlegung der Erkenntnishierarchie – geordnet, wie bei Platon üblich, nach ihrer Teilhabe an der Wahrheit (ἀληθείας µέθεξις) – von der reinen Schau des Intelligiblen (νόησις) über das produktive Denkvermögen (διάνοια) und die Überzeugung (πίστις) bis hinab zur schieren Mutmaßung (εἰκασία). 105 Wollte man die Mechanik als philosophische Erkenntnisdisziplin nun innerhalb eines solchen festgefügten Rahmens installieren, so fiele sie – insofern sie das geometrische Verfahren auf die Betrachtung der kontingenten Wirklichkeit und deren Körper appliziert – noch unterhalb des Verstandes und befände sich nur knapp oberhalb der Methodik einer schieren Meinungsfindung. Und selbst von einem historischen Blickpunkt, von der hier benannten platonischen Sichtweise, befreit, ließe sich kaum behaupten, dass die Geometrizität der Mechanik sonderlich philosophisch anmuten 104 Plat., Pol., 6, 511d2–5: »διάνοιαν δὲ καλεῖν µοι δοκεῖς τὴν τῶν γεωµετρικῶν τε καὶ τὴν τῶν τοιούτων ἕξιν ἀλλ᾽ οὐ νοῦν, ὡς µεταξύ τι δόξης τε καὶ νοῦ τὴν διάνοιαν οὖσαν«. 105 Vgl. ebd., 511d6–e2. Dass hier mit der Begriffswahl der διάνοια deren psychologische Mittelstellung auch paronomastisch (διᾶ µέσου) zum Ausdruck gebracht wird, merkt Vretska (42003),

574 an.

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würde; vielmehr geht es hierbei ja um kaum mehr als die graphische Repräsentation von Körpern, Bewegungen und Kräften – eine Einstellung, die erst mit der Vektorengeometrie Newtons und deren Fundament an Bewegungsgesetzen – den in den Axiomata vorgeführten leges motus – und Kraftbegriffen – den in den Definitiones iii–viii vorgeführten vires – von rein dynamischen Grundparadigmen abgelöst werden wird. Weiterhin ließe sich kaum behaupten, dass der Primärgegenstand der Mechanik, die sich den Sinnen darbietende Wirklichkeit, von Zufälligkeiten überhaupt befreit wäre. Vielmehr ist die physikalische Welt, wie sie sich dem Menschen tagtäglich darbietet, charakteristischerweise durchwirkt von Kontingenzen. 106 Eine mentale Hinwendung zu dieser Wirklichkeit entspräche daher strenggenommen einer geradlinigen Abkehr von einer höheren Wahrheitsschau, wie sie die philosophische Tätigkeit in antiker Tradition unverbrüchlich für sich reklamiert. Ein zu solcher Erkenntnis fähiges Seelenvermögen kann, wie bei Platon prominent gesehen, nur in der δίάνοια (diánoia) bezogen auf einen νοῦς (noûs) oder in diesem noûs selbst liegen; eine mittlere ἕξις (héxis) – wie sie dem Erkenntnisinteresse der Geometer nach Platon ganz zu entsprechen vermag – wäre demgegenüber als sicheres Erkenntnisorgan gar nicht erst diskutabel. Es wäre für die Philosophie ein Leichtes, die Mechanik hierin gleichsam in die Schranken zu weisen, sie aus dem Bereich der sicheren Erkenntnismöglichkeiten herauszuhalten. Genau dieses Ausschluss-Szenario findet im 17. Jahrhundert jedoch nicht statt. Die Mechanik wird sich ganz im Gegenteil dazu aufmachen, ebendiese Hierarchien in Frage zu stellen und damit auch so etwas wie neue Vermögensgrade der einzelnen Seelenteile mit zu begründen. Nicht sorgt die von jeher unterstellte Wertigkeit der oberen Erkenntnisvermögen für eine Inferiorität der Mechanik, sondern die Erkenntnisvermögen müssen sich umgekehrt den neuen, durch die Mechanik freigesetzten Kraftbegriffen öffnen. Dass dies so gut gelingen kann, liegt zu einem großen Teil darin begründet, dass die Begriffstableaus der Mechanik bereits aufgrund ihrer astronomisch-kosmologischen Genese eine bemerkenswerte Vielschichtigkeit aufweisen, in der sich nicht nur die oben genannten reziproken Begründungsverhältnisse der Mathematik und Naturwissenschaft widerspiegeln, sondern Ansprüche zutage treten, die sich mit sublimeren Erkenntnissen als der bloßen Beschreibung von Phänomenen auf korporalen Oberflächen respektive in deren Voluminalgebilden befassen. Die dafür zuständigen Paradigmen, die in fast schon traditionell zu nennender Diese Zuschreibung gilt, auch wenn es häufig so angenommen wird, keinesfalls nur für den Epikureismus oder manche Vertreter der vorsokratischen Atomisten, wenn man etwa die in Kapitel II.1–6 beschriebenen Kontingenzgrößen hinsichtlich der Wirklichkeit bei Hesiod (νύ ποθ[ε]), bei Platon (τρίτον ἀπὸ τῆς ἀληθείας) und bei Aristoteles (κατὰ συµβεβηκός) in Betracht zieht. 106

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Selbstverständlichkeit eng an die Theologie gekoppelt werden, 107 liefert nunmehr sola ipsa die Kosmologie. 108 Sie bewerkstelligt dasjenige, was die Mathematik alleine nicht vermag: Sie verklärt die Geometrie. Dass dies natürlich nicht ganz ohne theologischen Beistand geschehen kann, zeigt sich etwa in Keplers Dissertatio cum nuncio sidereo (1610), einer Abhandlung, deren Publikation von Galilei maßgeblich mit vorangetrieben wurde: Die Geometrie ist einzig und ewig, da sie einen Widerschein im Geiste Gottes gibt. Dass den Menschen die Teilhabe an ihr gestattet wurde, zählt zu den Gründen dafür, warum der Mensch ein Ebenbild Gottes ist. 109

Wenn Kepler überhaupt als Neoplatoniker aufgefasst wird, so heißt Neoplatonismus hier nichts anderes, als die Teilhabe- und Abbildfunktion der platonischen Ideen hin zur Geometrie zu verschieben. 110 Denn in der auf geometrischen Prinzipien fußenden Kosmologie gründen sich die umfassendsten Hoffnungen, metaphysische Prinzipien mit physischen Anfangsgründen zu vereinbaren, ohne den methodischen Weg der Mathematik zu verlassen oder gar auf barocke Gottesvorstellungen zurückzufallen. Die in der Geometrie repräsentierten Figuren sind nicht mehr Abbilder der Wirklichkeit, sondern Abbilder der Wahrheit, mithin ein Abglanz Gottes. Sie besetzen die Systemstelle der platonischen Ideen neu. 111 In diesem Sinn wird auch die Astronomie – die sich ja methodisch ganz der Geometrie verschreibt – vorzugsweise in ihren Explanationsangeboten bewertet, die sich auf nichts Geringeres als das Weltganze beziehen: Sie soll die Gesetze des Kosmos mit einem möglichst überschauund fassbaren Begriffsbestand zum Ausdruck bringen; sie soll aber auch den bereits in der Antike – und dort besonders im Platonismus – vorgebrachten Beschreibungsansprüchen an die mundiale Statik, Harmonik und Prognostik in möglichst umfassendem Sinne genügen. Daher ist sie in der Regel nicht ohne die entsprechenden Präliminarien aus den antiken Archivkontexten zu denken, seien sie nun aristotelisch, pseudo-aristotelisch, platonisch oder neoplatonisch (vor allem im Rekurs auf Plotin und Proklos) geprägt. Selbst der nicht von primär theologischen Erkenntnisinteressen geleitete Aristoteles identifiziert die letztgültige metaphysische Instanz, den unbewegten Beweger, mit Gott selbst (vgl. Aristot., metaph., 12, 6–10). 108 Spätestens mit Giordano Bruno emanzipiert sich die Kosmologie zusehends und weitreichend von der Theologie im Sinne eines ihr eigens zukommenden Objektivierungsanspruchs. 109 Kepler, Dissertatio cum nuncio sidereo, 48: »Geometria una & æterna est, in mente Dei refulgens: cuius consortium hominibus tributum inter causas est, cur homo sit imago Dei«. 110 Im klassischen Platonismus war es hingegen noch die Materie, die ein Abbild der Ideen lieferte. 111 Vgl. zu diesem Verklärungstopos auch Evangelista Torricellis Opera Geometrica (1644). 107

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Ungeachtet aller Verdienste des Neoplatonismus bildet der Aristotelismus – trotz und aufgrund seiner scholastischen Vorgeschichte – die ideengeschichtlich weitreichendste Folie für die ontologische Einbettung der Kosmologie in der Frühen Neuzeit. 112 Was gegenüber den Renaissance- und frühbarocken Aristotelikern gleichwohl im 17. Jahrhundert noch weiter in den Mittelpunkt des Interesses rückt, sind die gemäßigteren Spielarten seiner ontologischen Theoreme. Sie versuchen sich nun nicht mehr an einer materialistischen oder atomistischen Radikalisierung der Substanzlehre, wie es unter dem Eindruck der fortschreitenden Technisierung des Erkenntnisbegriffs bisweilen vor allem noch in der italienischen Philosophie vollzogen wurde, 113 sondern bringen sich als ein produktives Vergleichsmoment zur Prüfung der wissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen in die Natur-Diskurse ein. Bis zur Zeit der Newton / Leibniz-Debatten vollzieht sich dies bevorzugt in der Erprobung des kognitiven und didaktischen Werts der cartesianischen Methodik. Sie nämlich erweist sich gerade in ihrer Koppelung an die Präzisionsansprüche der rationalen Erkenntnistheorie 114 als ein epochemachender Reizpunkt – ganz besonders, da sie – seit dem Discours de la méthode (1637) auch programmatisch – als eine vorwiegend mathematische einzustufen ist. Betrachten wir zunächst die Entwicklung dieser Methode etwas genauer: Descartes spricht im Discours de la méthode in autobiographischer Reflexion von der Mathematik als einer Wissenschaft, die mir aufgrund ihrer Zuverlässigkeit und Evidenz ganz besonders zusagte; dennoch bemerkte ich noch gar nicht ihren wahren Nutzen und ich war regelrecht verdutzt – da ich dachte, sie diente nur den mechanischen Handwerkskünsten –, dass man, wenn doch ihre Fundamente so unerschütterlich und fest sind, noch nichts Höheres auf ihr errichtet hatte. 115 112

Vgl. als facettenreiche Überblicke hierzu Leijenhorst – Thijssen – Lüthy (2002) und Mercer

(1993). Etwa nach Art der in Telesios De rerum natura (1565) durchweg feststellbaren Neigung, den aus seiner Sicht allzu intellektualistisch argumentierenden Aristoteles auf ein erfahrungsbasiertes Erkenntnisfundament zu stellen. Diese Linie lässt sich bis in die mittelalterliche Philosophie zurückverfolgen und besonders an den averroistischen Tendenzen eines Siger von Brabant und eines Boethius von Dacien festmachen; vgl. den Abriss bei Flasch (22011), 408–417. 114 Hierunter sind vor allem die Neigungen zu distinkten Begriffen (notiones distinctae), zur Klarheit (claritas) als einziger Erkenntniseigenschaft sowie zur vorzüglichen Rolle des Geistes (mens) bei der Erfüllung von Erkenntnisaufgaben zu fassen. Für all dies verbürgt sich der Rationalismus. Dass demgegenüber die Verworrenheit (confusio), die Dunkelheit (obscuritas) und die Sinnlichkeit (sensualitas) vor allem im Feld der Ästhetik ausgeprägt werden, wird in Kapitel IV.2 Hauptgegenstand der Studie sein. 115 Descartes, Discours de la méthode, 1ère part., 34: »[Je] me plaisais surtout aux mathématiques], à cause de la certitude et de l’évidence de leurs raisons; mais je ne remarquais point encore 113

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Die hier angeführten Handwerkskünste (arts mécaniques) scheinen zunächst auf die Vermessungskunst abzuzielen, die sich mit der Welt lediglich im Sinne ihrer Quantifizierbarkeit beschäftigt. 116 Es handelt sich in dieser Hinwendung zur schieren Metrizität um eine Form des Vernunftgebrauchs, die noch nicht auf eine genuin philosophische Erschließung der substantiellen Welt abzielen muss. Wie passt das nun zu der von Descartes an vielen Stellen so vehement verfochtenen Auffassung, wonach es doch vor allem Mechanizismen seien, nach denen sich unsere Welt ausrichtet – so die Mechanik hier doch eine bloße Handwerkskunst repräsentiert? Offenbar ist es gerade die Loslösung und gleichzeitige Überwindung von der planen Betrachtung der Welt hin zur Erklärung der Welt, die zu einem solchen Denken befähigt. Denn die Gedankenführung fällt hier sehr rasch von der mathematischen éducation des Sprechers auf dessen Anwendung der mathematischen Methode in praxi. Diese Verfahrensweise wird hier in ihrem universellen Anspruch ausgestellt. Sie gewinnt ihre Zuverlässigkeit aus einer Komplementarität heraus. Denn es ist gerade das Zusammenspiel der mathematischen Teildisziplinen, namentlich von Analysis und Algebra, das – nach einer bei Descartes weithin als notwendig vorgestellten Anfangsskepsis – zur Stabilität der mathematischen Methode selbst beiträgt. Diese Zuverlässigkeit hat Descartes nach eigener Aussage darin bestärkt, diesen Weg auch weiterhin zu beschreiten: Dann habe ich bemerkt, dass ich sie [sc. die Gegenstände der mathematischen Einzelwissenschaften], um sie zu verstehen, manchmal jeden im Einzelnen betrachten, manchmal nur im Gedächtnis behalten oder mehrere zusammenfassen müsste, weswegen ich dachte, dass ich sie, um sie besser im Einzelnen zu betrachten, als Linien annehmen müsste, da ich nichts Einfacheres fand und nichts, das ich mir deutlicher in meiner Einbildungskraft und meinen Sinnen vorstellen konnte; und dass es, um sie eher im Gedächtnis zu behalten oder zu mehreren zusammenzufassen, notwendig war, sie durch möglichst kurze Zeichen auszudrücken. Und so glaubte ich, dass ich durch dieses Mittel das Beste der geometrischen Analysis und der Algebra entlehnen und all die Fehler der einen durch die andere korrigieren würde. 117 leur vrai usage, et, pensant qu’elles ne servaient, qu’aux arts mécaniques, je m’etonnais de ce que, leurs fondements étants si fermes et si solides, on n’avait rien bâti dessus de plus relevé«. 116 Dieser ›profane‹ Anwendungsbereich der Mathematik bildete wohl einen maßgeblichen Teil der Ausbildung Descartes’ am Collège Henri- IV in La Flèche (1604–1612) – vgl. Ostwald (22012), 155 –, wodurch sich nicht zuletzt eine unterschwellige pädagogische Kritik artikulieren mag, die hier gleichwohl nicht weiterverfolgt werden soll. 117 Descartes, Discours de la méthode, 2ème part., 47: »Puis, ayant pris garde que, pour les connaître, j’aurais quelquefois besoin de les considérer chacune en particulier, et quelquefois seulement de les retenir, ou de les comprendre plusiers ensemble, je pensai que, pour les considérer

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Was neben den autobiographischen Momenten eine Erläuterung erfährt, ist die Eklektik aus verschiedenen Disziplinen und die gleichzeitige Rückführung der Erkenntnismethode auf möglichst reduzierte Zeichen (chiffres, les plus courts qu'il serait possible), wie sich überhaupt der ganze Passus dem methodischen Prinzip der Einfachheit (simplicité) verschreibt. Diese Bekenntnisse, die Descartes hier über seine philosophische Arbeitsweise ablegt, drücken in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Dimension nicht weniger aus als den Aufstieg der mathematischen Methode zur meist-approbierten des 17. Jahrhunderts. Ihre spezifischen Auswirkungen auf die Mechanik werden umso eindrucksvoller, als die methodische Karriere der Mathematik mit der disziplinären Karriere der Mechanik verknüpft wird – ein Phänomen, das sich bereits im fünften Teil des Discours ablesen lässt. Descartes führt hier zunächst die Geometrie zum höchsten Erkenntnisinteresse, demjenigen an Gott, indem er programmatisch festhält, dass [i]ch immer fest bei der Überzeugung geblieben bin, kein anderes Prinzip anzunehmen als das, dessen ich mich gerade bedient habe [sc. der geometrischen Betrachtung], um die Existenz Gottes und der Seele zu beweisen, und keine Sache als wahr anzunehmen, die mir nicht klarer und sicherer erschiene als zuvor die Beweise der Geometer. Indes wage ich zu behaupten, dass ich nicht nur das Mittel gefunden habe, mich kurzerhand bezüglich aller Hauptprobleme, die man in der Philosophie üblicherweise behandelt, zufrieden zu stellen, sondern dass ich auch gewisse Gesetze bemerkte, die Gott solchermaßen in die Natur eingesetzt hat, dass wir, nachdem wir genügend darüber reflektiert haben, nicht mehr daran zweifeln können, dass die Gesetze in allem, was auf der Welt ist oder geschieht, genau befolgt werden. 118 mieux en particulier, je les devais supposer en des lignes, à cause que je ne trouvais rien de plus simple, ni que je pusse plus distinctement représenter à mon imagination et à mes sens; mais que, pour les retenir, ou les comprendre plusiers ensemble, il fallait que je les expliquasse par quelqueschiffres, les plus courts qu’il serait possible ; et que, par ce moyen, j’emprunterais tout le meilleur de l’analyse géométrique et de l’algèbre, et corrigerais tous les défauts de l’une par l’autre«. 118 Ebd., 5ème part., 71 f.: »Je suis toujours demeuré ferme en la résolution que j’avais prise, de ne supposer aucun autre principe, que celui dont je viens de me servir pour démontrer l’existence de Dieu et de l’ âme, et de ne recevoir aucune chose pour vraie, qui ne me semblât plus claire et plus certaine que n’avaient fait auparavant les démonstrations des géomètres. Et néanmoins, j’ose dire que, non seulement j’ai trouvé moyen de me satisfaire en peu de temps, touchant toutes les principales difficultés dont on a coutume de traiter en la philosophie, mais aussi, que j’ai remarqué certaines lois, que Dieu a tellement établies en la nature, et dont il a imprimé de telles notions en nos âmes, qu’ après y avoir fait assez de réflexion, nous ne saurions douter qu’elles ne soient exactement observées, en tout ce qui est ou qui se fait dans le monde«. Descartes etabliert hier geradezu einen Leitgedanken seiner Philosophie. Die geometrischen Beweise verbürgen sich für die hier angedachte Erkenntnismethodik im umfassendsten Sinne. So wird Descartes auch vier Jahre später in den Meditationes de prima philosophia (1641) die Existenz Gottes ausgerechnet

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Im Weiteren wird von Descartes auf die eigenen physikalischen Vorarbeiten rekurriert, namentlich auf den Traité du monde et de la lumière (postum 1664 publiziert) und den dritten Teil der Principia Philosophiae (entstanden in den Jahren vor dem Discours, publiziert aber erst 1644), 119 um die Einrichtung und die Wirksamkeit der Naturgesetze (les lois) als die zentralen Momente der Wirklichkeitsprozesse anzusetzen; im Discours findet dies bisweilen auch in Form einer vorgestellten Kosmogenese statt – diese zeichnet sich nach der dort vertretenen Ansicht dann dadurch aus, dass er [sc. Gott] hiernach [sc. nach der Schaffung der Materie] nichts anders tat, als der Natur seinen gewohnten Beistand zu verleihen und sie gemäß den Gesetzen, die er eingerichtet hat, wirken zu lassen. 120

Die Schaffung der Materie und ihre Einrichtung nach Naturgesetzen sind die beiden wesentlichen Schritte der Kosmogenese. Gott schafft die Welt zunächst materialiter, um sie dann wie einen mechanischen Apparat wirken zu lassen. Der ontologische Primat des Stoffs vor den Prinzipien der Form und Bewegung ergibt sich hier scheinbar wie von selbst und wird, wenn man so möchte, in ergreifender Schlichtheit vorgeführt. Die Welt wird durch Descartes' Annahme einfacher Naturgesetze nicht nur besser zu betrachten, sondern vor allem zu erklären sein. Anders gewendet: Auf die deskriptive Beobachtung, dass Materie existiert, folgt der kognitive Schritt, dass diese Materie sich nach bestimmten Gesetzen ausformt und bewegt. Und damit entspricht die menschliche Erkenntnismethode prozedural im Grunde auch dem göttlichen Vorgehen in der creatio. Indem der Mensch sich mit der Geometrie daran diskutieren, dass er sie auf dieselbe Ebene der Existenz geometrischer Figuren bringt: »Da ich nämlich gewohnt bin, in allen anderen Dingen die Existenz vom Wesen zu unterscheiden, redete ich mir leichtfertig ein, dass jene [sc. Existenz] auch vom Wesen Gottes abgesondert werden und auf diese Weise Gott gleichsam als nicht existent gedacht werden könne. Aber dennoch wird jemandem, der sorgfältiger sein Augenmerk darauf richtet, offenkundig, dass die Existenz vom Wesen Gottes getrennt werden kann, wie es vom Wesen eines Dreiecks getrennt werden kann, dass die Größe dessen dreier Winkel zwei rechten [sc. Winkeln] entspricht, oder von der Idee eines Berges diejenige des Tales ist.« (Descartes, Meditationes, Med. V, 64: »Cum enim assuetus sim in omnibus aliis rebus existentiam ab essentia distinguere, facile mihi persuadeo illam etiam ab essentia Dei sejungi posse, atque ita Deum ut non existentem cogitari. Sed tamen diligentius attendenti fit manifestum, non magis posse existentiam ab essentia Dei separari, quam ab essentia trianguli magnitudinem trium ejus angulorum aequalium duobus rectis, sive ab idea montis ideam vallis.«). 119 Vgl. die Anspielungen auf »einen Traktat, an dessen Veröffentlichung mich gewisse Erwägungen hindern« (Descartes, Discours de la méthode, 5ème part., 72: »un traité, que quelques considérations m’empêchent de publier«) sowie auf dasjenige, »was ich vom Licht verstand« (ebd.: »que je concevais de la lumière«) und die Ausführungen »über die Himmelsmaterie« (ebd.: »des cieux.«). 120 Ebd., 73: »il ne fît autre chose que prêter son concours ordinaire à la nature, et la laisser agir suivant les lois qu’il a établies«.

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einer Wissenschaft befleißigt, die uns über das Göttliche Auskunft gibt, der – mehr noch – sogar ein gewisser Anteil am Göttlichen zugesprochen wird, kann er die Natur durchdringen und verstehen. ›Neuzeitlich‹ erscheint hieran, dass in demselben Maße, wie die Naturgesetze unverbrüchlich einen numinosen Ursprung wie auch eine mechanische Wirkung aufweisen, die letzten scholastischen Reliquien okkulter Kräfte en passant ausgeschlossen werden. Ebenso spielen scholastische Erwägungen zum Weltenpluralismus oder einer translunaren Dignität in der Ausgestaltung dieser Kosmogenese keinerlei Rolle mehr. 121 Nach dieser Darstellung der Weltentstehung verfällt der Traktat nun auf diejenige des Mikrokosmos. Er kommt dabei ausführlich auf den Blutkreislauf zu sprechen. 122 Eingeleitet wird dies – was an dieser Stelle nicht mehr zu überraschen vermag – von einer weiteren Affirmierung der Mathematik, die hier nun in engem Verbund mit der physikalischen Sinnlichkeit steht – unter Gebrauch einer rhetorisch versierten Doppeldeutigkeit von force, die hier bald die mathematische Überzeugungskraft, bald die physikalischen Kräfte meint: Damit übrigens diejenigen, welche die Kraft mathematischer Beweise nicht kennen und nicht gewohnt sind, wahre Gründe von wahrscheinlichen zu unterscheiden, nicht riskieren, diesem hier ohne Prüfung zu widersprechen, möchte ich sie darüber unterrichten, dass die von mir gerade erläuterte Bewegung [sc. des Blutes] mit der gleichen Notwendigkeit allein aus der Verfasstheit der Organe, die man mit dem Auge am Herzen sehen kann, und aus der Wärme, die man mit seinen Fingern fühlen kann, und aus der Natur des Bluts, die man aus der Erfahrung kennenlernen kann, folgt, wie die Bewegung eines Uhrwerks aus der Kraft, der Lage und der Gestalt seiner Gewichte und seiner Räder. 123 Vgl. die Ausformung der Himmelsmaterie, in der sich nach Descartes nichts bemerkbar mache, »was nicht auch in der von mir beschriebenen ganz ähnlich erscheinen müsste oder wenigstens könnte« (ebd., 74: »qui ne dût, ou du moins qui ne pût, paraître tout semblable en ceux du monde que je décrivais«), das heißt: sich nicht nach rationalen Gesetzen der Mechanik vollzöge. 122 Die exzeptionelle Bedeutung der ›Entdeckung‹ des Blutkreislaufs für die Entwicklung des mechanistischen Denkens im 17. Jahrhunderts bedarf nach den Erörterungen von Wink (2013) und Aschoff (2009) hier keiner ausführlichen Erläuterung mehr. Gewissermaßen ihren Ausgangspunkt nimmt sie mit der Vorlesung William Harveys über die Blutzirkulation vor dem Londoner Royal College of Physicians von 1615; endgültig einem breiteren und vor allem kontinentaleuropäischen Publikum zugänglich gemacht wurden Harveys anatomische Forschungen dann mit der Publikation der Vorlesung im Jahr 1628 unter dem Titel Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus. 123 Descartes, Discours de la méthode, 5ème part., 79 f.: »Au reste, afin que ceux qui ne connaissent pas la force des démonstrations mathématiques, et ne sont pas accoutumés à distinguer les vraies raisons des vraisemblables, ne se hasardent pas de nier ceci sans l’examiner, je les veux avertir 121

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Es ist selten der Fall, dass bei Descartes etwas nicht einer grundlegenden Skepsis unterzogen würde. Hier wird jedoch tatsächlich einmal außer Zweifel gelassen, dass es denjenigen, die mit der einen Kraft (force des démonstrations mathématiques) nicht versehen sind, dennoch möglich ist, in die Kraft des in der Natur waltenden Uhrwerks (horologe) wenigstens über ihre eigene sinnliche Anschauung Einblicke zu gewinnen. Und ebendiese neue Form des Einblicks gewährt der Traktat nun im Folgenden selbst anhand der Darstellung der mechanischen Präzision, die in den Naturgesetzen herrschte und die stets von körperlichen Qualitäten auszugehen hätte: Der Blutkreislauf sei dadurch gekennzeichnet, dass der Blutstrom vom Gewebe abhängig sei, das sich gelegentlich »weniger leicht zusammendrücken« 124 lasse, dass dieses also über verschiedene Grade an »Festigkeit« 125 verfüge, dass das Blut gegen die Arterien »mit größerer Kraft schlag[e]« 126 als gegen die Venen und dass die Körpersäfte – immerhin noch bedeutende Reliquien der scholastischen Medizin – schlicht dadurch zu erklären seien, dass »die Kraft, durch die das Blut – indem es sich verdünnt – vom Herzen aus die Enden der Arterien durchquert, bewirkt, dass einige seiner Bestandteile in den Gliedern, in denen es sich befindet, zurückbleiben und diese dort den Platz von anderen einnehmen, die sie verdrängen« 127 etc. Das entworfene Bild ist so geschlossen wie eindeutig: Es sind die Regeln der Mechanik (règles des mécaniques), die ubiquitär im menschlichen Körper wirken – und dies nicht nur im Blut, sondern auch in den Säften, im Gewebe und in den Gliedern. Hierin wiederum erweise sich, dass nach den Regeln der Mechanik, welche dieselben sind wie diejenigen der Natur, wenn mehrere Dinge versuchen, sich zusammen in die gleiche Richtung zu bewegen, wo es aber nicht genug Platz für alle gibt – wie dies bei den Bestandteilen des Bluts geschieht, die aus der linken Herzkammer austreten und in Richtung des Gehirns streben –, die schwächsten und weniger stark bewegten durch die que ce mouvement, que je viens d’expliquer, suit aussi nécessairement de la seule disposition des organes qu’on peut voir à l’ œil dans le cœur, et de la chaleur qu’on peut connaítre par expérience, que fait celui d’un horologe, de la force, de la situation et de la figure de ses contrepoids et de ses roues«. Die Desavouierung der Wahrscheinlichkeit als ontologischen Prinzips kann hier als ein weiterer indirekter Affront gegen die scholastischen Kraftbegriffe gelten, die sich eng an diese Grundgröße koppelten. So firmiert etwa der Intellekt für das Gros der Scholastiker unter einer vis possibilis. 124 Ebd., 81: »moins aisées à presser«. 125 Ebd.: »dureté«. 126 Ebd.:, 82 »avec plus de force«. 127 Ebd., 83: »la force, dont le sang en se raréfiant passe du cœur vers les extrémités des artères, fait que quelquesunes de ses parties s’arrêtent entre celles des membres où elles se trouvent, et y prennent la place de quelques autres qu’elles en chassent«. Der letzte Aspekt lässt sich geradezu als stark geraffte Paraphrase von Lucr., 1, 322–365 lesen.

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stärker bewegten weggedrängt werden; dadurch allein kommen letztere dorthin. 128

Es ist also nicht mehr von mühseligen Handwerkskünsten die Rede, sondern von hydraulischen Kräften, die – ganz im Gegensatz zu der Auffassung, wie wir sie noch in der Renaissance-Philosophie prominent bei Del Monte und den von ihm angestoßenen Debatten vorfinden konnten – keinen Widerpart zur Natur einnehmen (repugnantibus legibus naturae), sondern ihnen völlig entsprechen (les mêmes que celles de la nature). Für die Methodik bedeutet das nun: Der mathematische Vernunftgebrauch erschließt, offenbar in Verbindung mit einer strikten Vorstellung von Kausalität, 129 auch die mechanischen Vorgänge im Mikro- und Makrokosmos, und zwar nicht in Trennung, sondern in Abhängigkeit zueinander. Eine solche Form der Welterschließung – die als ›cartesische Methodik‹ großen Erfolg zeitigte – 130 führt darüber hinaus zu einer Mechanik-Auffassung unter Ausschluss des scholastischen Kriteriums der Wahrscheinlichkeit: Da die Natur nur und ausschließlich intelligibel ist, können ihre Prozesse auch nur wahr oder falsch sein. Die Erkenntnis der Natur fällt mit der Erkenntnis ihrer Gesetze überein. Sie weist daher bei all ihrer Mechanizität auch eine intellektualistisch zu nennende Komponente auf. 128 Ebd., 84: »selon les règles des mécaniques, qui sontles mêmes que celles de la nature, lorsque plusieurs choses tendent ensemble à se mouvoir vers un même côte, où il n’y a pas assez de place pour toutes, ainsi que les parties du sang qui sortent de la concavité gauche du cœur tendent vers le cerveau, les plus faibles et moins agitées en doivent être dé tournées par les plus fortes, qui par ce moyens s”, ’y vont rendre seules«. 129 Vgl. Gaukroger (2016), 71: »The microscopic level was one of common causation: every physical state and process could be traced back to causes at this level, so that the traditional classifications were rendered redundant«. Mit den »tradional classifications« sind die vorcartesischen, insbesondere scholastischen Annahmen zur Ursächlichkeit materieller Bewegungen angesprochen. 130 Man betrachte hierzu nur exemplarisch die Reflexionen Christian Huygens in seinem Briefverkehr mit Pierre Bayle, in dem er unter anderem davon spricht, dass »Herr Descartes die Manier gefunden [hatte], dass seine Vermutungen und Fiktionen für Wahrheiten gehalten wurden. Und es geschah denjenigen, die seine Prinzipien der Philosophie lasen, etwas ähnliches wie denen, die Romane lesen, die gefallen und den gleichen Eindruck machen wie wahrhafte Geschichten. [. . . ] Mir schien, als ich dieses Buch über die Prinzipien zum ersten Mal las, dass alles bestmöglich lief, und ich glaubte, wenn ich eine Schwierigkeit darin fand, dass es mein Fehler sei, seinen Gedanken nicht richtig zu verstehen. Ich war nicht älter als 15 oder 16 Jahre.« (Huygens, Lettres à Bayle, 403: »Mr des Cartes avoit trouvé la maniere de faire prendre ses conjectures et fictions pour des veritez. Et il arrivoit a ceux qui loisiont ses Principes de Philosophie quelque chose de semblable qu’a ceux qui lisent des Romans qui plaisent et font la mesme impression que des histoires veritables. [. . . ] Il me sembloit lorsque je lus ce livre des Principes pour la premiere fois que tout alloit le mieux du monde, et e croiois, quand j’y trouvois quelque difficultè, que c’étoit ma faute de bien comprendre sa pensée. Je n’avois que 15 à 16 ans.«) Mag sich Huygens also, wie hier ersichtlich, vom Cartesianismus selbst abgegrenzt haben, so wird dessen Einfluss auf seine philosophische Biographie von ihm nie angezweifelt.

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Ebendiese methodische Grundeinstellung gegenüber den Naturprozessen wird sich fortan, vornehmlich im Zuge ideengeschichtlicher Reflexionen der an Einfachheit oder an Komplexität orientierten Erkenntnisparadigmen, besonders gut für einen Vergleichspunkt mit den Peripatetikern eignen – insbesondere da nach einer verbreiteten Lehrmeinung Aristoteles und dessen Anhänger ja gerade nicht von ihr Gebrauch gemacht hätten. Für Aristoteles muss die Erkenntnis der ›Naturgesetze‹ (die er im Übrigen auch nicht als ›Gesetze‹ auffassen würde) nicht mit dem ›Sein‹ derselben in eins fallen; 131 ferner ist die hervorgehobene Stellung der Mathematik – durchaus in Absetzung von Platon – bei Aristoteles nicht mit einer ontologischen oder methodischen Bevorzugung verbunden, wie es für Platon (ontologisch) und Descartes (methodisch) gelten kann. Am prägnantesten zu diesem diachronen Verhältnis hat sich René Le Bossu (1631–1680) in seinem vielbeachteten Traktat Parallèle des principes de la physique d'Aristote & celle de René Des Cartes (1674) geäußert. Er stellt das genaue Gegenteil zu demjenigen dar, was wir bei Pierre Gassendi und dessen gleichzeitiger Ablehnung der aristotelischen wie der cartesischen Naturphilosophie gesehen hatten. Hier geht es nun vielmehr um die Gemeinsamkeiten der antiken und der frühneuzeitlichen Erkenntnismethodiken: Ich kann also nicht die Parallele dieser beiden Methoden unberücksichtigt lassen: Ich möchte über diejenige [sc. Methode] des Aristoteles sprechen, der zunächst die zusammengesetzten und fühlbaren Dinge vorbringt, zusammen mit derjenigen [sc. Methode] der Geometer, von der man behauptet, Herr Descartes habe sie gewählt, indem er mit dem begann, was am einfachsten ist. Ich gestehe die Schärfe und Exaktheit der Mathematiker in ihrer Methode zu und in derjenigen Reihenfolge, von der sie üblicherweise Gebrauch machen, um sie zu lehren, und ich zweifle nicht daran, dass Aristoteles Recht gehabt hätte, diese Reihenfolge zu bevorzugen, die sie befolgen, gegenüber der entgegengesetzten Reihenfolge, die weniger regelhaft und weniger lehrreich wäre: ich gestehe jedoch nicht zu, dass diese Schärfe und diese Exaktheit allgemein und unmittelbar von der Einfachheit im Gegensatz zur Zusammengesetztheit herrühren. 132 Hier sei an die in Kapitel II.1 dargelegte Position aus der Physik erinnert, die besagt, dass die Wirklichkeit zwar von kontingenten Ereignissen durchwirkt werde, das Erklären und Verstehen der Naturprozesse jedoch nach wesensgemäßen Ursachen (,Anfangsgründen’) zu fragen habe – und gerade nicht nach dem Akzidentellen. Die Trennlinie zwischen der Erkenntnis des Seins und dem Sein als solchem verläuft bei Aristoteles analog zur Trennlinie zwischen Akzidentellem und naturgemäß Notwendigem. 132 Le Bossu, Parallèle des principes, 36 f.: »Je ne puis donc omettre le Parallèle des ces deux méthodes: je veux dire de celle d’Aristote, qui propose d’abord les choses composées & sensibles avec celle des Géométres, que l’on prétend M. des Cartes a retenuë, en commençant par ce qu’il y a de plus simple. Je conviens de la justesse & de l’exactitude des Mathématiciens dans leur méthode, 131

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Le Bossu führt hier die Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung dadurch ein, dass er sie an Aristoteles und Descartes spiegelt: Unter Abgrenzung der beiden Grundsätze der Einfachheit (simplicité) und der Zusammensetzung (composition) wird die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelegentlich aufkommende Lehrmeinung geprüft, Descartes und die Geometer seien in ihrer Weltbetrachtung deswegen einander ähnlich, weil sich beide – im Einklang mit dem keplerschen Diktum einer Geometrie, die una & aeterna sei – mutmaßlich der simplicité verschrieben hätten. 133 Sie werden zudem von Aristoteles abgesondert, da dieser stets vom Zusammengesetzten ausgehe und daher dem Prinzip der composition zuzuordnen wäre. 134 Le Bossu teilt diese aus seiner Sicht oberflächliche Meinung mancher Zeitgenossen offenkundig nicht, insofern die mathematische Exaktheit überhaupt nicht zwingend von der simplicité herrühren müsse. Daher stelle auch der von Descartes im Discours de la méthode verfolgte Primat der Mathematik alles andere als eine Abgrenzung von Aristoteles dar. Vielmehr müsste es dann als eine Frage der philosophischen Lehre gelten – erst recht, wenn sie nicht in einem esoterischen, selbstbezüglichen Status verharren wolle –, in welcher Reihenfolge die einzelnen Erkenntnisschritte vollzogen und vermittelt werden. In der zumindest partikularen Hinwendung zur kompositionellen und stufenweisen Erkenntnis ist daher die im Titel veranschlagte Parallele der Methoden auszumachen. Descartes' eklektisches Entlehnen, sein & dans l’ordre dont ils usent pour enseigner, & je ne doute pas qu’Aristote n’ait eu raison de préférer cét ordre, qu’ils observent, à l’ordre contraire, qui seroit moins régulier & moins instructif: mais je ne conviens pas que cette justesse & cette exactitude vienne en général & immédiatement de la simplicité opposée a la composition«. 133 ›Einfach‹ ist etwa die Methode der Geometer zu nennen, insofern sie von nicht zusammengesetzten Dingen, sondern vom Punkt als erster Größe ausgehen, und daran anschließend, durch Hinzunahme von Dimensionen, zur Beschreibung von Linien, Figuren und Körpern gelangen. Vgl. zu diesem Aspekt der einfachen Anfangsgründe auch Descartes, Discours de la méthode, 2ème part., 46 f.: »Et je ne fus pas beaucoup en peine de chercher par lesquelles il était besoin de commencer; car je savais déjà que c’était par les plus simples et les plus aisées à connaître; et considérant qu’entre tous ceux qui ont ci-devant recherché la vérité dans les sciences, il n’y a eu que les seuls mathématiciens qui ont pu trouver quelques démonstrations, c’est-à-dire quelques raisons certaines et évidentes, je ne doutais point que ce ne fût par les mêmes qu’ils ont examinées.« (»Und ich befand mich nicht gerade in großer Verlegenheit, um herauszufinden, womit [sc. hinsichtlich der Erkenntnismethode] anzufangen sei, denn ich wusste bereits: mit den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Dingen; und da ich bedachte, dass unter all denen, die zuvor nach der Wahrheit in den Wissenschaften gesucht haben, es allein die Mathematiker waren, die einige Beweise gefunden hatten, das heißt einige sichere und evidente Gründe, so zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass es an ihnen [sc. den einfachen und am leichteste zu erkennenden Dingen] selbst lag, die sie untersucht haben.«). 134 In Anspielung auf die ersten Anfangsgründe, die nach Aristoteles immer mehrere sein müssen und dabei nicht auseinander herleitbar sein dürfen; vgl. prominent Aristot., phys., 1, 2, 185a1–12, wo bezeichnenderweise auch der regelrechte Erklärungsnotstand der Geometer hinsichtlich dieser Frage explizit zur Sprache gebracht wird.

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emprunter le meilleur aus Analysis und Algebra, führt nicht zur Konfusion, sondern ganz im Gegenteil zu größerer Klarheit der Erkenntnis. Ebendies ist aber in keinem Widerspruch zu Aristoteles' Wissenschaftsbegriff zu sehen, der – wie an nahezu jedem Proömium einer beliebigen aristotelischen Schrift ablesbar – ebenso von einfachsten Grundaxiomen und terminologischen Beziehungen ausgeht. Sehr häufig bestehen diese Grundaxiome aus teleologischen respektive Natur-Argumenten. 135 Für uns hieran noch wichtiger als diese gewiefte, ja teils sophistisch anmutende Parallelisierung, die Le Bossu vornimmt, ist allerdings dasjenige, was an keiner Stelle angezweifelt wird, vielmehr schlechthin festzustehen scheint: dass die mathematische Methode weiterhin als exakte, wahrscheinlich gar als die exakteste wissenschaftliche Betätigung überhaupt zu gelten hat. Die Betrachtung der Natur sollte sich demzufolge gar nicht erst lange mit der Frage nach der Rolle der simplicité oder der composition im Bereich der Mathematik aufhalten, sondern durch ihre Hinwendung zur und Instrumentalisierung der Mathematik den Bereich des Spekulativen vermeiden und genaue Ergebnisse produzieren, die sich im Übrigen bereits an den sinnlichen Wahrnehmungen erproben lassen. Denn dass die Sinne der mathematischen Exaktheit nicht entsprechen können, sondern in verschiedenen Qualitätsgraden Eindrücke liefern, ändert nichts an der Tatsache, dass sie uns eine Vorstellung von Präzision überhaupt vermitteln können – gerade weil unsere Wahrnehmungen graduell unterschiedlich scharf – klar (clarus), unterschieden (distinctus), verworren (confusus), vermischt (mixtus), scharf (acer) oder stumpf (hebes) – sein können und somit überhaupt erst auf dieses Kriterium der Weltwahrnehmung nachdrücklich aufmerksam machen. Sie sind dementsprechend sowohl auf Wahrnehmungen als auch auf mathematische Begriffe selbst applizierbar. 136 Zudem ist es Aufgabe des skeptizistisch verfahrenden Philosophen, wie Descartes in den Meditationes de prima philosophia (1641) vorführt, nach 135 Vgl. als exemplarische, proömiale Stellen Aristot., eth. Nic., 1, 1094a1–4, Aristot., pol., 1, 1252a1–6, Aristot., an., 402a1–6 oder die in den Kapiteln II.2 und II.5.a der Studie bereits ausführlicher behandelte Stelle bei Aristot., poet., 1, 1447a8–13. 136 Sinneseindrücke, die wir von der Natur empfangen, sind nach weitgehender Überzeugung der Frühen Neuzeit nicht von Mathematizität befreit, denn die Natur verhält sich nach Gesetzen, die der Mathematik nicht nur entsprechen, sondern diese gleichsam als Medium gebrauchen. Vielfach bemüht und bis in die Gegenwart weithin bekannt ist etwa die dem Pythagoreismus und dem Platonismus entstammende Gnome, Mathematik stelle so etwas wie die ›Sprache der Natur‹ (vgl. etwa Behrends [2010]) dar. Die gelegentliche, auch von Behrends vertretene Rückführung dieser Denkfigur auf Galileis Il saggiatore (1623) ist indes leicht irreführend, da Galilei, wenn er dort – prominent etwa im sechsten Buch – Mathematik als Sprache einstuft, diese vor allem als eine Sprache der Philosophie betrachtet.

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seiner Verzweiflung an der Unzuverlässigkeit der Sinne zu einer Affirmierung des eigenen Denkvermögens zu gelangen. Aber selbst dies ändert nichts daran, dass die Sinne in jenem ersten Stadium des Philosophierens radikal auf die Probe gestellt werden und das Kriterium der Zuverlässigkeit (certitudo, certitude) der Erkenntnis dadurch noch umso deutlicher als Kriterium vor Augen tritt. Um nun die Naturbegriffe um 1700 in Hinblick auf eben diese Postulate methodischer Präzision und Zuverlässigkeit weiter zu skizzieren, ist daher auch bei den Beziehungen anzusetzen, welche die naturwissenschaftliche Praxis nicht nur zur Mathematik selbst, sondern zur mathematischen Naturbeschäftigung einnimmt. Die Mathematik wird dabei zusehends zu einer für die philosophia naturalis hochgradig applikationsfähigen Verfahrensweise fortentwickelt; sie entzieht sich dem Vorwurf einer planen Theorielastigkeit, indem sie »gleichzeitig die platonische Idealität des Mathematischen als auch die unplatonische Aufwertung körperlicher Sinneserfahrung« 137 bedient; sie entspricht daher in vorzüglicher Weise demjenigen, was nach antikem Denken mit dem νοῦς (noûs) in Verbindung gebracht wurde – der es nämlich sowohl vermag, uns abstrakte Gesetzmäßigkeiten vorzuführen, als auch das sinnliche Geschehen verstandesgemäß zu erfassen – und geht dabei doch noch über ihn hinaus, insofern die µάθησις (máthe¯sis) nicht, wie im Platonismus üblich, in den ihr einmal zugewiesenen Abstraktheitsgraden verharrt, sondern sich über ihre methodischen Wert in praxi die sinnliche Welt ebenso aneignet wie das Reich der Abstraktion. Ein derart umfassender Anspruch an eine Disziplin, die nunmehr als mathesis universalis oder mathesis universa firmiert und eben nicht auf jene Geistessphäre höherer Numinosität zu beschränken ist, vielmehr ganz besonders auf methodische Regeln und Gesetze und deren dynamische Applikationsweisen abzielt, kann nicht nur im 17. Jahrhundert für Philosophen wie Descartes und Astronomen wie Galilei und Kepler, sondern bis in das 18. Jahrhundert als ein sicheres Erkenntnisinstrument sowie als ein dezidiert moderner Weltzugriff gelten. 138 Eine frühzeitige und zugleich eine der eingängigsten Definitionen hierzu findet sich ein weiteres Mal bei Descartes, nämlich in dessen 1619–1628 entstandenen Regulae ad directionem ingenii. Diese Regulae wurden postum, als Teil der Opuscula postuma Physica et Mathematica (1701) veröffentlicht und enthalten einige der einflussreichsten Grundsätze, die zwar zu Descartes' Lebzeiten Fragment geblieben sind, aber für das cartesische und cartesianische Denken des 17. Jahrhunderts eine erheb137 Achermann (2015), 39. Achermann entwickelt diesen Gedanken vor allem in Bezug auf die Mathematik als ars inveniendi, die sich ihrem eigenen Anspruch nach selbst zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen, auf das Diesseits gerichteten Forschens erklärt. 138 Dies wird in Kapitel III .3 Hauptthema sein, in dem der Blick auf Newton, Leibniz und Wolff gerichtet wird.

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liche Mustergültigkeit entfalten konnten. Der Zusammenhang innerhalb der cartesischen Philosophie, etwa mit dem Discours de la méthode, erschöpft sich nicht im Produktionszeitraum, 139 sondern schlägt sich auch auf inhaltlicher Ebene nieder. So heißt es zur Rolle und Funktion der universellen Mathematik (mathesis universalis): Demjenigen [sc. René Descartes selbst], der hierauf näher sein Augenmerk richtete, wurde schließlich klar, dass sich nur all jene Dinge, in denen Ordnung oder Maß festgestellt werden, auf die Mathematik beziehen und dass es keine Rolle spielt, ob ein solches Maß in Zahlen oder in Figuren oder in den Gestirnen oder in den Tönen oder in irgendeinem anderen Objekt gesucht werden muss; und dass daher eine Wissenschaft eine gewisse allgemeine sein muss, die nämlich all dasjenige erklärt, was hinsichtlich der Ordnung und dem Maß untersucht zu werden keiner Spezialwissenschaft zugeschrieben kann, und dass ebendiese [sc. Wissenschaft] nicht mit einem unbekannten, sondern mit einem bereits eingebürgerten und durch Gebrauch bestätigten Ausdruck ›universelle Mathematik‹ genannt wird, da ja in dieser all jenes enthalten ist, weswegen andere Wissenschaften auch als ›mathematische Teile‹ bezeichnet werden. 140

Die mathesis universalis ist aus Sicht des hier in der dritten Person auftretenden Descartes im wahrsten Sinne eine allumfassende: Die Ebenen der Zahlenlehre (numeri), der Geometrie (figurae), der astronomischen Optik (astra) und der Akustik (soni) werden regelrecht gleichgeschaltet. Bemerkenswert ist zudem die Rückführung auf Pappos – eine Autorität, die wir bei Del Monte bereits als Zeugen für die Vervollkommnung der Geometrie besehen konnten. Descartes benutzt Pappos hier nun – an der Seite von Diophantos – als Gewährsmann für die neue Art der Mathematik; denn die Spuren dieser wahren Mathematik [sc. der mathesis universalis] scheinen mir bei Pappos und Diophantos offensichtlich zu sein, die freilich nicht im ersten Zeitalter, aber doch viele Jahrhunderte vor diesen [sc. unseren] Zeiten lebten. 141 Die Arbeit an den Regulae wurde von Descartes 1619 begonnen, wobei von ursprünglich 35 angedachten Prinzipien 21 umgesetzt worden sind. 140 Descartes, Regulae ad directionem ingenii, 13: »Quod attentius consideranti tandem inottuit, illa omnia tantum, in quibus ordo vel mensura examinantur, ad Mathesin referri, nec interesse utrum in numeris, vel figuris, vel astris, vel sonis, aliove quovis talis mensura querenda sit; ac proinde generalem quamdam esse scientiam, quae id omne explicet, quod circa ordinem et mensuram nulli speciali materiae addicta quaeri potest, eamdemque, non ascito vocabulo, sed iam inveterato atque usu recepto, Mathesin universalem nominari, quoniam in hac continetur illud omne, propter quod aliae scientiae et Mathematicae partes appellantur«. 141 Ebd., 12: »huius verae Mathesis vestigia quidem adhuc apparere mihi videntur in Pappo et Diophanto, qui, licet non prima aetate, multis tamen saeculis ante haec tempora viscerunt«. 139

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Somit sind Pappos und Diophantos zwar nicht die ältesten Mathematiker (zu dieser Riege zählen eher Pythagoras und Thales von Milet), aber doch diejenigen, auf deren Universalitätsanspruch sich auch die gegenwärtige Mathematik stützen kann. Erschien Pappos bei Del Monte noch als mathematische Koryphäe der alten Mechanik (die sich noch als widerspenstig zur Natur begriff), so besetzt er bei Descartes eine Vorreiterrolle hinsichtlich der neuen Mechanik (die sich mit der Natur – wie im Discours gesehen – in völliger Übereinstimmung befindet). In beiden Fällen findet die Mathematik jedenfalls in der Geometrie ihre Vollendung, insofern es ihr funktional erlaubt ist, prinzipiell alle Naturbereiche zur Darstellung zu bringen. Im 17. Jahrhundert wird also die Naturphilosophie durch die Fortschritte der Mathematik selbst in entscheidender Weise immer weiter zu einer Form praktischer Mathematik stilisiert. Diese Stilisierung funktioniert aber auch aus umgekehrter Perspektive: So wird der Entwurf eines physikalischen Systems für Newton in den Philosophiae naturalis Principia mathematica (1687) zum Anlass, die Mathematik weiter zu nobilitieren, gar als Grundlegung der philosophischen Erkenntnis auszustellen. 142 Hierin erweist sich nun die ideengeschichtlich vielleicht wichtigste Konstante: Mag es auch ein Anliegen Newtons sein, sich von den Cartesianern in möglichst vielerlei Hinsicht abzugrenzen, so halten beide Parteien doch in trauter Einigkeit am Vorrang mathematischer Erkenntnismöglichkeiten sowie am mechanistischen Denken fest. Beide müssen sich dabei gar nicht einmal in besonderem Maße gegen peripatetische Auffassungen richten, denn der Aristotelismus kann in seiner Hinwendung zu operationalisierbaren Anfangsgründen, zum Bewegungsprinzip als erstem Urgrund und zu einem produktiven, mit dem 17. Jahrhundert gesprochen: naturierenden Wesensbegriff (natura naturans) nach wie vor eine beträchtliche metaphysische Rolle spielen – und ebendies zeigt sich auch bei Le Bossu, der historisch, so die sich hier anbietende Lesart, gleichsam eine Brücke zwischen Descartes und Newton bildet: Die Mechanik mag sich zwar dem Prinzip der simplicité verschreiben, insofern ihre Anfangsgründe nicht zusammengesetzt sind und sie ihre methodische Präzision, einschließlich ihrer einfachen Semiotik, von der Geometrie herleitet; damit allein ist jedoch noch kein anti-aristotelisches Verhältnis hinsichtlich ihrer Verfahrensweise ausgesagt. Ebenso wenig hat hieraus ein Abgesang auf jegliche transzendentalen Ansprüche zu folgen. Vielmehr liegt der mechanistischen Theoriebildung, etwas gewagter ausgedrückt, eine in sich komplementäre physische und metaphysische Einstellung zugrunde. Nicht nur in der Titelgebung selbst – die eine augenfällige Kontrafaktur zu Descartes’ Principia Philosophiae (1644) bildet –, sondern auch in der graphischen Gestaltung des Frontispizes schlägt sich dies publikumswirksam nieder, wie Gaukroger (2010), 55–57 aufzeigt. 142

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Es lässt sich demnach für das 17. Jahrhundert eine Lage zusammenfassen, die in ihrer Verschränkung von Theorie und Methodik der Mechanik ein ziemlich unerwartet gutes Fundament bereitet. Dass sie auf dieser Basis bei all ihrer Tendenz zu einem minimalistisch anmutenden Naturbegriff eine eigene Systematizität (die bis heute von Seiten der Geistes- und Naturwissenschaften ›klassisch‹ genannt wird) errichten kann, ist, wie noch genauer gezeigt werden soll, nicht ohne die umfassenden Vorarbeiten zu denken, die in der Naturphilosophie des 15. und 16. Jahrhunderts begründet liegen. Es soll also im weiteren Verlauf der Studie um die oben genannte Komplementarität von Physik und Metaphysik gehen. Um den Blick hierbei nun auf diejenigen Größen zu richten, die sich in diesen Ausprägungen novatorisch zur eigenen Tradition verhalten, liegt es am nächsten, beim Massebegriff anzusetzen. Denn zum einen stellt dieser selbst eine zentrale Grundgröße dar, die bereits im Mittelalter als hochgradig vieldeutig aufgefasst und problematisiert wurde, 143 nur um dann in der Frühen Neuzeit in fast schon furioser Weise weiterentwickelt zu werden; zum anderen ließen sich in der Tradition von Galilei und Kepler gerade entlang der Masse Begriffe wie Trägheit (inertia) und Schwere (pondus, moles, gravitas) derartig fortschreiben, dass sie überhaupt erst zu unverbrüchlichen Bestandteilen des Mechanizismus werden konnten. Sie sind, da sie nicht genuin der Geometrie entstammen, wissenschaftsgeschichtlich zu denjenigen Paradigmen zu zählen, die sich anschicken werden, die Mechanik über den Status der bloßen Applikation mathematischer Teildisziplinen zu erheben und im Zuge der Sublimierung dieser Lehre an die Seite einer physikalischen dann auch eine philosophische Dignität treten zu lassen. Wenn sich über derartige Paradigmen der Anspruch der Mechanik ausdrückt, sich in metaphysische Gefilde zu begeben und dabei auch über vormals festgefügte Grenzen verschiedener Disziplinen zu treten, so liegt dies insbesondere daran, dass ihre Funktionalität – und dies dann wiederum in peripatetischer Tradition – darauf beruht, dass die Wirksamkeit ihrer Elemente in actu – das sind: die Naturphänomene – auf deren eigene Prinzipienhaftigkeit rückverweist. Diese Prinzipienhaftigkeit wird nunmehr – und dies ist dann nicht mehr ungebrochen ›peripatetisch‹ zu nennen – auf die materielle und körperliche Trägersubstanz bezogen. Denn es So stellt die Beschäftigung mit der Frage, ob Masse überhaupt existiere, prinzipiell eine der Hauptaufgaben für mittelalterliche Scholastiker dar. Auch über ihr Wesen wird im Rahmen der Alchemie und Substanzenlehre – wenn auch nicht exklusiv dort – vielfältig spekuliert. Die Restauration solcher Formen der Naturdeutung lässt sich besonders gut anhand von Mystikern wie Francis Glisson (vgl. umfassend und luzide Hartbecke [2006] sowie in Bezug auf die GalenRezeption Hartbecke [2005]) nachvollziehen. Es geht hierbei, kurzgefasst, um die Annahme eines Grundwiderstandes (resistentia), den die Materie in sich berge, um sich überhaupt zu einer substanzhaften Masse (moles substantialis) zunächst partikular und dann auch in korpuskularer Form vereinen zu können. 143

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geht in derartigen Begründungsmomenten um die jeweilige Primärgröße, die der diesseitigen Welt zugeschrieben wird – und nicht mehr, wie im Aristotelismus und Platonismus üblich, der metaphysischen Welt mit ihrem unbewegten Beweger oder ihren Ideen vom Guten, Wahren und Schönen. Somit spiegelt sich die Fokus-Verschiebung des sich im 17. Jahrhundert ausformenden neuen Erkenntnisinteresses vor allem entlang des Paradigmenwechsels von der οὐσίαbeziehungsweise εἶδος-Lehre zur neuzeitlichen Substanzenlehre wider – und dies unter einen bemerkenswerter Aufrechterhaltung der beiden wichtigsten antiken Philosophenschulen. 144 Während sich aber eine so traditionsreiche Strömung wie der Platonismus von der vorrangigen Stellung begrifflich erfassbarer Ideen überzeugt zeigt, kommt der Mechanizismus nicht ohne die Lehre von den Naturgesetzen und deren physischen Verwirklichungen aus, setzt diese – wie in Descartes' Discours de la méthode gesehen – gar recht früh überhaupt an den Beginn philosophischer Betrachtungen. Vorrangiges Ziel im Fortgang unserer Untersuchung stellt nun die Erörterung der Fragen dar, ob der Masse und der Materie so etwas wie autarke Kräfte zukommen können und wie diese Kräfte, so sie denn in simplice existieren, den aus dem Aristotelismus tradierten Unterschied zwischen Potentialität und Aktualität zu nivellieren oder gar ganz aufzulösen wissen. Zur allgemeinen Frage gewendet heißt dies: Wie können ehemals geschiedene Paradigmen wie ›Vermögen‹ und ›Vollzug‹ zu mechanischen Größen vereinheitlicht werden und infolgedessen auf der Ebene eines solchen Begriffstableaus neue Differenzen ausprägen, wie wir sie am prominentesten zwischen der energetischen Physik eines Leibniz und der krafttheoretischen Physik eines Newton vorfinden? Der weitere Blick der Studie ist somit prospektiv auch auf eine Betrachtung von Potentialen, Kräften und Energien um Vgl. treffend hierzu Kondylis (22002), 82 f.: »Platonismus und Aristotelismus bilden den mangels einer dritten Sprache unentbehrlichen Diskursrahmen der langen Übergangszeit [der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert; D. B.], und in der jeweils verschiedenartig nuancierten Begrifflichkeit der beiden fanden sowohl Konservierungs- als auch Erneuerungsversuche ihren Ausdruck« sowie dezidiert auf die Descartes-Rezeption bezogen Hurson (2009), 19: »Was die Beziehungen zwischen Leib und Seele betrifft, die Descartes und Spinoza so mächtig beschäftigen werden, lehrte Aristoteles eine dissoziative Unaustauschbarkeit zwischen den Grundgattungen Geist und Naturgeschehen (›Dem Geschlechte / der Gattung nach andere heißen die Dinge, deren erstes Zugrundeliegendes ein anderes ist und welche nicht ineinander oder beide in dasselbe aufgelöst werden‹, Met. ∆ 28, 1024 c1 Anmerkung); dies wird die Mehrzahl der Spezialwissenschaften rechtfertigen mit, hinwiederum, der Beibehaltung der Beziehung Akt-Potenz als eines Universalprinzips. Plato trennte metaphysisch stromaufwärts, um dann stromabwärts didaktisch ein einheitliches Wissen herbeizuwünschen; Aristoteles begrüßte das Gedeihen der Teilwissenschaften, weil, für ihn, am Anfang keine Spaltung des Seins und kein Hinweis auf Hinterwelten bestehen konnten. Innerhalb dieser gedanklichen Spannweite stehen oder fallen die Bemühungen der deutschen Gelehrten, Descartes als ihren Zeitgenossen zu entziffern und sich anzueignen«. 144

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1700 gerichtet. Leitend kann bei der Erörterung dieser Größen zunächst nicht die klassische Wesensfrage der Scholastik (quid est?) sein, sondern – um der naturphilosophischen Bandbreite, die hier im Spiel ist, überhaupt gerecht zu werden – die Frage nach der Wirksamkeit mechanischer Prozesse in ihrer aktiven und passiven Präsenz. Denn Prozeduren, Dinge in Anstoß zu bringen oder selbst angestoßen zu werden, also eine entsprechende Anstoßkraft und Anstoßfähigkeit zu besitzen, verweisen als ausübende und empfangende Prinzipien nicht schlichtweg auf ante/post-Verhältnisse, namentlich auf die Konzepte von repraesentatio und idea oder von actus und potentia, sondern – um einen impliziten Punkt des mechanistischen Monismus nochmals aufzugreifen – auf das Desiderat, die Welt in einfachen und irreduziblen Größen zu betrachten. Die (neo-)platonischen Ideenwelten müssen hierbei zu einem gewissen Grade einem universell-mathematisch aufgefassten Wissenschaftsbegriffs fügen, eben jenem Wissenschaftsbegriff, den Descartes in den Regulae andachte und im Discours publikumswirksam verkündete. Ein solcher Prozess wiederum erscheint als Richtschnur der Studie bestens geeignet, da die für die Naturvorstellungen des 17. Jahrhunderts wegweisenden Traktate Galileis und Keplers noch recht konstant an Vorstellungen einer kosmologischen Harmonik gekoppelt sind; und diese befinden sich, wie wir an vielen Stellen noch genauer sehen werden, nun einmal in ausdrücklicher Tradition des Platonismus und Aristotelismus. Für uns wird hieran an verschiedenen Stellen wichtig sein, dass es im methodisch-theoretischen Verbund, der zu jenem neuen Naturverständnis führt, wenigstens in Teilen bereits um psychologische Zusammenhänge geht. Sie treten jedoch in einem neuen Zuschnitt auf: Die auf Mathematik und Geometrie beruhende Psychologie erklärt – darin den (Neo-)Platonikern noch ähnlich – die seelischen Tätigkeiten aus Prinzipien heraus, die es bereits in einem kosmischen Rahmen zu berücksichtigen und zu beschreiben gelte – mit dem Unterschied, dass ein Platoniker kaum jemals auf den Gedanken verfiele, dass es nun ausgerechnet mechanische Bewegungen seien, welche die Analogien zwischen Kosmos und Mensch konstituierten. Genau dies ist es aber, was sich in der Frühen Neuzeit, insbesondere im 17. Jahrhundert, radikal und nachhaltig ändern soll. Aus den Grundzügen, die bisher zur Entwicklung des mechanistischen Denkens skizziert wurden, ergeben sich daher bestimmte Lektüreeinstellungen, mit denen wir hier den Philosophen der Frühen Neuzeit begegnen wollen. Hierzu sind vorwiegend drei historische Linien synoptisch hervorzuheben, deren Darstellung ertragreicher erscheint, als es ein bloßer begriffsgeschichtlicher Abriss sein könnte: Zunächst möchte der folgende Gang durch den Aufstieg der Masse Ideengeschichte in dem Sinn betreiben, dass die Diskurse über Aktivität und Passivität in der Naturphilosophie im Übergang vom 16. zum 17. Jahr-

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hundert anhand wichtiger Stationen nachverfolgt werden können. Spezifisch sind hierzu die Fragen zu zählen, ob und inwiefern Bewegung aus Trägheit heraus resultieren könne, ob sich Materie stets passiv zum Geist verhalten müsse und ob Massen im Universum in holistischer Manier, nach Art eines Gesamt-Zusammenhangs, oder in krafttheoretischer Manier, konzentriert auf ihre unmittelbaren taktilen Momente, aufeinander Einfluss nehmen können. Im Zuge dessen sollen zweitens diese Fragen vorwiegend als Kontroversen um den Kraft- und Bewegungsbegriff aus den Umformatierungen physikalischer Theoreme der Renaissance-Philosophie heraus fassbar gemacht werden; 145 hierzu sind der Platonismus und der Aristotelismus in entscheidendem Maße mit einzubeziehen – nicht als bloße Sedimente, die auf eine diffuse Weise eine wie auch immer geartete stete Wirksamkeit auf sämtliche Philosophen zeitigen würden, sondern anhand auffälliger Beobachtungen, denen zufolge sich konkrete Theoreme aus diesen Schulen rezipiert, modifiziert und transformiert zeigen. Zum Dritten verfolgt sie das Ziel, die Entwicklung der dynamischen Naturphilosophie 146 in ihrer auffälligen Tendenz, operationale Tätigkeiten zu interiorisieren, die dann den Naturdingen selbst zuzuschreiben seien, mit dem ideengeschichtlichen Aufstieg mechanistischer und antik-philosophischer Größen zu verknüpfen. Der Vorzug des gewählten Vorgehens macht sich dabei an einem auffallend häufig auftretenden Kuriosum fest: Die Aspekte des Handelns (agere) und des Leidens (pati) der Wirklichkeitsgrößen (entia realia) werden gerade dann bevorzugt aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive fokussiert, wenn sie entweder nicht mehr im Widerspruch zueinander gesehen oder gar in einer bestimmten Simultaneität vorgestellt werden. Damit einher gehen dann auch gewisse Neubewertungen dieser Entitäten. Hierzu kann etwa gezählt werden, dass es in der frühneuzeitlichen Physik, wie sie sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts formiert, weder als ausgemacht gilt, dass die Materie untätig sei (materia iners), noch dass sie stets zur Ruhe strebe (motus ad quietem), noch dass Bewegung nur aus willentlichen Kräften (vires voluntariae) resultieren könne; noch dass eine anstoßende Kraft (impetus) bloß anstoßend sei, sondern vielmehr – je nach Perspektive – auch als erlittene Kraft (vis impressa) aufgefasst werden könne. In diesen Denkfiguren wird eine der wesentlichen Schnittstellen von naturphilosophischer Theorie und Methodik deutlich; sie lässt sich – unter Inkaufnahme einer gewissen Formelhaftigkeit – wie folgt umreißen: Bereits in passiv erscheinenden Körpern sind Bewegungs145 Nicht ins Zentrum gerückt werden daher diejenigen Traditionslinien, die Aktivität und Passivität in formallogischer oder auch sprachlicher Hinsicht (beispielsweise als grammatischer Diathese) zukommen. 146 Hierunter werden solche verstanden, die entweder vorwiegend von Kräften ausgehen oder die Erklärung solcher zum vornehmlichen Ziel erklären.

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potentiale vorhanden, und ebendiese Potentiale müssen als Kräfte sui generis angenommen werden; ferner gilt dann, dass eine ursprünglich als innerlich angenommene Kraft zu einer äußeren werden kann, wenn sie in ein Verhältnis mit anderen Kräften tritt. Diese Frage ist keineswegs eine bloß theoretische, sondern hat durchaus einen methodischen Einschlag. Denn setzt man immanente Mechanismen als die eigentlichen Aktivierungspotentiale von Körpern an – im Gegensatz zu äußeren Bewegern und Impulsen – so wird es erst recht zu einer Frage methodischer Entscheidungen, diese dann auf allgemeine Weise evident zu machen, das heißt die ihnen inhärierenden Substrate über den Weg der Fähigkeiten (facultates) und Tätigkeiten (operationes) als aktive Prinzipien offenzulegen. Diese sollten dann auch ihre aus der terminologischen Tradition des Aristotelismus bekannten Potentiale (potestates, potentiae) mit einschließen.

1.c. Masse, Materie und das Innerste der Dinge

Das umfassendste Prinzip für Fähigkeiten, Tätigkeiten und Potentiale lautet im 17. Jahrhundert, wenn man etwa lexikalische Einträge wie im barocken Standardwerk Lexicon philosophicum terminorum philosophis usitatorum (1653) des Philosophen und Schriftstellers Johannes Micraelius (1597–1658) besieht, unverändert ›Natur‹. Dort heißt es zunächst, »›Natur‹, ›physis‹ wird im Allgemeinen das innere Prinzip der Tätigkeiten genannt.« 147 Hierauf erst folgt eine Differenzierung des philosophischen Wortgebrauchs, demzufolge [d]as Wort ›Natur‹ von einem sehr hohen Bedeutungsausmaß ist, da es bald für das Wesen gebraucht wird, bald für die spezifischen Eigenschaften, bald für dasjenige, was dem ersten Anfangsgrunde innewohnt, bald für eine natürliche Ursache – sei sie nun Form oder Materie, bald für Gott selbst, wobei sie dann natura naturans genannt wird, bald für die Gesamtheit der Geschöpfe, wobei sie dann natura naturata genannt wird, bald für die Veranlagung und eine gewisse, spezielle Naturneigung. 148

Micraelius, Lexicon philosophicum, s. v. »natura«, 878: »natura, φύσις comunius [sic] vocatur internum operationum principiu¯ «. 148 Ebd., s. v. »naturæ vocabulum«, 878: »naturæ vocabulum est amplissimæ significationis, qvum jam sumatur pro essentia; jam pro proprietatibus; jam pro illo, qvod primo ortui inest, jam pro causa naturali sive forma sive materia; jam pro ipso Deo, & dicitur natura naturans; jam pro universitate creaturarum, & dicitur natura naturata jam pro indole & quadam naturæ inclinatione speciali«. 147

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Die hohe Ambiguität des Naturbegriffs erscheint für das 17. Jahrhundert zunächst nicht überraschend; wir konnten eine solche auch bereits bei Johann Christoph Sturm feststellen. 149 Was bei Micraelius indes über die bloße Feststellung einer weiten Bedeutungsspanne noch hinausgeht, besteht darin, dass die Identifizierung der Natur mit einer essentia nur noch eine Option unter vielen darstellt, während dem internum operationum principium ein gewisser Vorrang beigemessen wird. Erst im Anschluss an seine Nennung werden die aus dem Aristotelismus und Platonismus bekannten Ausdifferenzierungen angeführt – die schließlich gar in einem schon den Bereich des Psychologischen berührenden Paradigma, demjenigen der Naturneigung (naturae inclinatio), münden. Während diese Bedeutungsaspekte als naturae vocabula, als diverse Wortverwendungsweisen firmieren, wird das internum operationum principium unter dem Lemma natura selbst gefasst. Es ergibt sich somit ein Primat der Natur in Form eines Tätigkeitsprinzips, wobei die Auffassungen der Antike hierzu weiterhin eine zumindest kontextuelle Gültigkeit behaupten können. Für einen philosophisch instruierten Naturforscher muss es dementsprechend darum gehen, jenes principium internum auf eine plausible Weise beschreibbar zu machen, das heißt in die wissenschaftliche Evidenz zu überführen. Ein Mystiker unterschiede sich dann vor allem durch seine ihm eigene Art der Offenlegung von einem mathematisch orientierten Astronomen, ein Holist von einem Atomisten und ein Peripatetiker von einem Neoplatoniker. Natürlich wirken derartige Gefälle, die zwischen den einzelnen Zugriffsarten herrschen, nicht zwingend neuartig – erst recht auf dem Hintergrund einer Gemengelage, die sich bereits im Spätmittelalter anhand vehement geführter Kontroversen zwischen den einzelnen Naturphilosophien verstetigt hatte. 150 Die Demarkationen werden jedoch mittlerweile anders vorgenommen, als es noch im Mittelalter der Fall war: Konnte eine naturphilosophische Position dort bereits als fortschrittlich gelten, indem sie als hermeneutische Neuauslegung der seit der Antike kanonisierten Klassiker 151 auftrat – wobei Aristoteles in der Regel zum philosophus schlechthin erklärt wurde –, so ließ sich darin auch die peripatetische Unterscheidung zwischen den aktiven und passiven Dimensionen der Vgl. Kapitel III.1.a der Studie. Etwa im Spannungsfeld des Elementar-Atomismus eines Wilhelm von Conches (∼ 1090– nach 1150) – vgl. Flasch (22011), 266 –, der platonisch eingefärbten Natur-Allegoresen in Bernardus Silvestris’ (1085 – nach 1159) prosimetrischem Lehrgedicht Cosmographia (1147) – vgl. ebd., 270 – sowie der von Johannes von Salisbury (∼ 1115–1180) etablierten Verschränkung eines platonischen Idealismus und eines aristotelisch-ciceronianischen Universalismus (vgl. ebd., 275–277). 151 Derartige Klassiker sind, wollte man sie zeitlich eingrenzen, in der Zeitspanne von der Antike ab dem Platonismus bis zu den spätantiken / frühmittelalterlichen Kirchenvätern Augustinus und Isidor von Sevilla zu verorten und umfassen neben den beiden letztgenannten vor allem Platon, Aristoteles, Proklos und Plotin. 149 150

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Natur, nämlich als eine das Prinzip der Energetizität befördernde und zum Ausdruck bringende, aufrecht erhalten – sei dieses Prinzip nun in den Gegensätzen von motor und mobile, von agens und agendum oder von actus und potentia vorgestellt. Hiervon kann in der Frühen Neuzeit scheinbar nur noch bedingt die Rede sein: Die den physischen Einzeldingen zugeschriebenen Urgründe – die als erste Gründe (causae primae) zugleich die Existenzgründe (causae existentiae) bilden – brauchen sich nicht mehr so sehr dem Telos energetischer Überführungen zu verschreiben; vielmehr erscheinen sie, insofern sie nunmehr vorwiegend entlang eines auf dynamischen Prinzipien beruhenden Naturbegriffs vorgestellt werden, vor allem über ihre natürliche Operationalisierbarkeit erklärbar. Die in der Welt wahrnehmbaren Tätigkeiten und Prozeduren stellen keine Tätigkeiten eines gemäß seiner Wesenheit vorgestellten Gegenstandes (eine solche ginge vollständig in der klassischen aristotelischen phýsis auf) oder einen akzidentellen Eingriff von Seiten des Menschen (diese ginge vollständig in der klassischen aristotelischen me¯chan´¯e auf) dar. Sie sind also nicht primär damit beschäftigt, Potenzen in Energie zu überführen, sondern stehen in einem gewissen Verhältnis zueinander und hängen voneinander ab; mithin handelt es sich hierbei um Tätigkeiten, die nicht mehr als phänomenal auftretende Verwirklichungen einer finalursächlich aufgefassten Natürlichkeit zu verstehen sind, sondern sich – auf der ontologischen Grundlage eines über das natura naturata-Konzept legitimierten Einzeldings – 152 nunmehr imstande zeigen, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu formulieren. Sie entsprechen dem neuen Verständnis von Natur und Naturbeobachtung, wie wir es prominent in Francis Bacons Novum Organum vorfinden konnten. Ihre universelle Gültigkeit wird nicht so sehr über den Aristotelismus als solchen befördert, sondern dadurch, dass sie sich in den weithin reüssierenden neuen Leitdisziplinen der Kosmologie und Astronomie bereits umfassend und prägnant beschrieben finden. Die Grundvorstellung eines mechanischen Wirkens in der Welt ist nicht mehr als naturwidrig einzustufen, sondern evoziert im Gegenteil mathematisch-mechanische, kosmologisch-mechanische, materiell-mechanische oder metaphysischmechanische Naturbegriffe, die dem jeweils gestellten philosophischen und auch theologischen Problem 153 zu genügen wissen. 152 Aufgrund von dessen Unterschiedenheit von anderen Dingen (distinctio) und dessen Platzeinnahme (positio) in der Welt. 153 Zu diesem Problemkomplex der Naturphilosophie im 16. und Jahrhundert zu zählen sind etwa die Gretchenfrage nach dem helio- oder geozentrischen Weltbild oder die Frage, ob man die dem Menschen zukommende Sonderrolle im Universum angesichts der biblischen Schöpfungsgeschichte überhaupt aufgeben könne und nicht vielmehr angesichts der Einbettung des biologischen Menschenbildes (Gewebe, Blutdruck, Organe etc.) in mechanistische Zusammenhänge wenigstens den reinen menschlichen Geist als gottgleichen hochhalten müsse.

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Es lassen sich im Zuge der genannten Problemstellungen auch epistemische Bewegungen ausmachen, die sich von einer mathematischen auf eine materialistische und von einer kosmologischen auf eine metaphysische Naturdisposition richten. Anders gewendet: Mit der von Kondylis konstatierten »Aufwertung der Natur« 154 geht zugleich auch eine Aufwertung der naturbezogenen Wissenssysteme einher. Hinsichtlich der neuen Auffassungen, die der erleidenden Natur (natura patiens/passiva) hierbei zukommen, interessiert im Folgenden vor allem die historische Entwicklung des Verhältnisses zwischen einem metaphysischen und einem materiellen Naturbegriff. Das Wissen über die Natur wird hierbei gleichsam auf den Kopf gestellt. Eines der wichtigsten Unterschiedsmomente zwischen Antike und Früher Neuzeit besteht darin, dass es im Platonismus und Aristotelismus noch als ausgemacht gelten konnte, dass die Metaphysik die Materie beherrscht, in der Frühen Neuzeit indes die Materie selbst zum neuen Ausgangspunkt von Tätigkeiten, zum principium operationum erhoben wird. Die Substanz gewinnt somit die Deutungshoheit gegenüber der Transzendenz, und die Materie wird zu ihrem erfolgreichsten Gewährsmann. Die Materie benötigt wiederum ihrerseits Größen, die ihren neuen Status im Sinne eines auf Tätigkeit beruhenden Prinzips legitimieren. Bewegte im klassischen Platonismus und Aristotelismus der Geist den Stoff, so muss der Stoff nun diese Funktion selbst übernehmen. Mit Größen, die genau dies gewährleisten, werden wir uns im Folgenden näher beschäftigen. Die Paradigmen, die hierfür in das naturphilosophische Untersuchungszentrum gerückt werden, stellen im 17. Jahrhundert die Masse (massa, moles) und die Materie (materia) selbst dar. Sie werden nicht mehr als eine bloße stoffliche Grundlage aufgefasst, der dann eine bestimmte Form beizumessen sei, sondern zu explanativen Größen eines Naturverständnisses in den Feldern zwischen Astronomie und Kosmologie beständig weiterentwickelt – eine Entwicklung, die sich von dem antiken Desiderat, körperlichen Größen ein geistiges Prinzip zuzuschreiben, nicht entbunden zeigt. Nur ist dieses Prinzip nicht mehr vorwiegend jenseitig aufzufassen – etwa als Idee, als translunarer Beweger oder gar als stoische εἱµαρµένη (heimarméne¯) –, sondern liegt in der einzelnen Tätigkeit des einzelnen Dinges selbst begründet. Ein im 16. und 17. Jahrhundert immer weiter zu Tage tretendes Indiz für die Materialisierung der metaphysischen Natur bildet der Aufstieg der Masse (moles, massa) zu einer unverbrüchlichen Eigenschaft der Materie. Ihre Validität als eine Größe, in der sich materieller Widerstand und materielle Bewegung widerspiegeln, wird in philosophischer wie physikalischer Hinsicht zusehends

154

Vgl. Kondylis (22002), 59–119.

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durch prominente Naturforscher bekräftigt und fortentwickelt, ganz besonders in der italienischen und deutschen Astronomie von Seiten Galileo Galileis (1564–1642), Johannes Keplers (1571–1630) oder auch Battista Balianis (1582– 1666). Diese Entwicklung steht in Einklang mit dem in Kapitel iii.1.a beschriebenen Interesse an den inneren Zusammenhängen der Natur. Es betrifft, mehr noch, in elementarer Weise die Deutungshoheit über vormals rein passivisch gedachte Größen wie der materia iners. Um diesen ambivalenten Aspekt nachzuvollziehen, wie nämlich ausgerechnet dasjenige, was in der Materie scheinbar träge und ohne jede Kunstfertigkeit daliegt, dasjenige verursachen soll, was sich an ihren äußeren Grenzen, nämlich den Körpern, vollzieht, ist der methodische Blickwinkel mit einzubeziehen, den die Frühe Neuzeit weithin einnimmt: Weniger, als man vielleicht vermuten möchte, richtet sich in der Frage nach der natura patiens der Blick auf die durch Anstöße verursachte Irritation ausgedehnter Körper in ihren Oberflächenstrukturen; vielmehr geht es hierbei vornehmlich um die Beschaffenheit und Beeinflussbarkeit, die den Körpern persistent zukomme, mithin um eine Art innere Resistenz und Renitenz. Die Janusköpfigkeit der Theorie (›Masse ist eine Widerstandskraft und zugleich eine Bewegungskraft‹) entspricht damit der Janusköpfigkeit der Methode (›Wir blicken in das Innere der Dinge und gelangen dadurch zu Erkenntnissen über Oberflächenphänomene‹). Dessen ungeachtet steht der naturwissenschaftlich zu begründende Primat der Substanz vor der Transzendenz weiterhin auf dem Prüfstand; denn es mutet intuitiv nicht einleuchtend an, dass der Blick in das Innere der Natur (inspicere) gleichbedeutend wäre mit dem Blick zu einem Ideenhimmel hinauf (speculari). Dies bedeutet aber im 16. und 17. Jahrhundert nicht mehr im selben Zuge, dass jener inspektive Blick auch weniger zur philosophischen Erkenntnis tauge. Ebenso wenig bedeutet es, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, eine plane Abkehr von der antiken Philosophie.

1.c.α. Die Neubewertung der Innerlichkeit

Gehen wir zunächst auf den Aspekt der Innerlichkeit ein: Im Sinne der mechanistischen Weltbetrachtung ließe sich leicht auf den Gedanken verfallen, eine Fokussierung auf die Eigengesetzlichkeit physikalischer Gegenstände würde eine Bevorzugung mikrokosmischer Details und im Zuge dessen gar eine Abwendung von der Philosophie bedeuten. Denn die Philosophie weist, wenn sie sich nicht aufgrund ihrer traditionellerweise unkörperlichen Argumentationsmuster ohnehin von der Betrachtung kleinster Dinge abwendet, überhaupt eine Affinität zur möglichst umfassenden Kosmologie und damit zum

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Makrokosmos auf. 155 Eine Ablehnung gegenüber der detaillierten Naturbetrachtung seitens der Philosophie tritt aber – wie wir in Kapitel iii.1.a–b sehen konnten, in der Frühen Neuzeit überhaupt nicht ein. Die Naturbeobachtung wird, im Gegenteil, nicht nur zur Hauptbeschäftigung der Philosophie, sondern auch und insbesondere zu einer sich selbst intensivierenden Wissenschaft. Sie zeigt ihre Bestimmung gerade in der Hinwendung zur Operationalität und Perzeptivität der von Gott – ob nun in demiurgischer oder nicht-demiurgischer Manier – geschaffenen Natur-Dinge (re¯s naturae, re¯s naturatae). Der Einblick in das Wesen der Dinge – oder nun besser: Substanzen – wird, wie nicht nur Descartes' Discours de la méthode gezeigt hat, zum Einblick in den göttlichen Schöpfungsplan. Das inspicere erweist sich demnach als eine vorzügliche Form praktischer Naturphilosophie und legt ein profundes Verständnis des Willens Gottes dar. Als Chiffre für jene tief sitzende Interiorität der Naturprinzipien in den Dingen wird in der Forschung bisweilen der Ausdruck eines Innersten der Dinge, einer intima rerum herangezogen. 156 Die intima Diese Affinität hatten wir in Kapitel II.3.a der Studie als eine vom parmenideischen Lehrgedicht ausgehende Disposition vorgefunden, die auf die Philosophien Platons und Aristoteles’ große Wirkungen ausübte. Es geht hierbei wohlgemerkt nicht um die Themen der Philosophie – denn natürlich können kleinste Teilchen umstandslos zu ihrem Erklärungsgegenstand werden – als vielmehr um die Erweiterung, mithin um die Augmentierung der geistigen Tätigkeit. Sie denkt sich selbst in immer größeren Zusammenhängen, bei Platon wendet sie sich von der Betrachtung der konkreten Wirklichkeit ab, um auf die ewig gültige Ideenwelt zu blicken, und bei Aristoteles strebt sie nicht zum Speziellen, sondern zum Allgemeinen hin. 156 Vgl. den konzisen ideengeschichtlichen Beitrag von Leinkauf (2000), der ausgehend vom Renaissance-Humanismus Ficinos (insbesondere von dessen Paradigma einer ars intrinsecus materiam temperans) die Tendenz zu inspektiven Verfahren im Zusammenhang der Naturbegriffe des 17. Jahrhunderts behandelt. Hieran lässt sich, wie Leinkauf elementar herausstellt, eine Auffassung über die natura/physis ablesen, die sich noch als signifikant für die dynamische Natur erweisen soll: Leinkauf setzt die intima rerum funktional als eine modellbildende Chiffre für die Naturdiskussionen barocker Philosophien an. Sie scheint zunächst ganz den Ansprüchen eines principium zu genügen, insofern sie als Naturgrund, der tief im Innersten der Dinge schlummert und nach außen hin bestenfalls eine obskure Präsenz erkennen lässt, ein hohes Maß an Irreduzibilität aufweist. Sie entzieht sich gerade dadurch der menschlichen Erkenntnis, dass ihr physikalisches Substrat »auch aber nicht nur der Horizont des Körperlichen und daher Ausgedehnten ist, der Gott oder dem Geistigen als dessen Anderes und somit als passiver oder dispositionaler Bereich einer handwerklichen Behandlung entgegensteht, dessen Sein den Gesetzen distinkter rationaler und geometrischer Urteile entspricht. Natur ist vielmehr insbesondere ein aktiver, selbständiger, aus der ursprünglichen schöpferischen Tätigkeit des ersten Prinzips (Gottes) entlassener Seinsbereich, dessen innere Organisation durch tätige Prinzipien bestimmt ist, die selbst nicht unmittelbar in Erscheinung treten.« (Leinkauf [2000], 408) Zu dieser treffenden Einschätzung lässt sich noch ergänzen, dass wohl zwei Hauptgründe für den Befund geltend gemacht werden können, dass sich die hier beschriebene Organisationsart dem menschlichen Erkenntnisblick entzieht: Entweder hat die intima rerum bereits aufgrund ihres allzu profunden Sitzes im Inneren keine Repräsentationskraft nach außen hin – oder aber sie entzieht sich der menschlichen Wahrnehmung, weil der Mensch selbst schlichtweg kein entsprechendes Organ mit ausreichendem Perzeptionsvermögen besitzt. Der eine Fall würde das Problem vom Menschen 155

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rerum weist nicht so sehr auf den Begriff einer sich selbst entfaltenden Natur hin, sondern bewegt sich in Richtung einer intrinsischen Verdichtung. Beschäftigt sich ein Philosoph mit der Natur, so werden deren Eigenschaften von Beginn des Erforschungsprozesses an nicht in einem Ideenhimmel verortet, sondern als aktive Prinzipien verstanden; sie liegen nicht nur einfach vor, sondern sie finden statt. Es handelt sich also nicht schlichtweg um ein verdichtetes, gedrungenes Prinzip, sondern um den Sitz der Ding-Tätigkeit, eben jenes principium operationum, um das es Micraelius in seinem Lexicon philosophicum so vorrangig ging. Es liegt nahe, dass ein solches Programm nur unter Verabschiedung mancher aristotelischer Grundannahmen funktionieren kann, etwa indem man die Akzidenz nicht mehr allzu streng von der Essenz scheidet, sondern beide schon fast wie einen natürlichen Fortsatz innerer Prinzipien behandelt. 157 Eine vollständige Gleichstellung dinglicher Tätigkeiten mit einer schöpferischen natura naturans erscheint hier zumal theologisch ausgeschlossen, da dann alle Dinge zu ihrem eigenen Schöpfer und Beweger würden und Gott als erstes Prinzip dadurch redundant, ja hinfällig würde. Warum entspricht dieses Prinzip nun aber auch keiner bloßen natura naturata im Sinne einer von Gott geschaffenen und quantitativ-distinkt ausgebreiteten Weweg-, der andere es weiter zu ihm hinrücken. Diese Denkfigur wirft zudem die Frage auf, ob eine solche Koinzidenz von Aktivität und Passivität der Naturprozesse anhand eines substantiellen Substrats dem Aristotelismus wenigstens in dessen Grundstrukturen zu genügen weiß, indem sie Form und Formbarkeit als elementare Prinzipien bereits nach Art der natura naturans und der natura naturata in sich enthält. 157 Zur Illustration dieses Unterschieds: Dass ein Baum wächst, kann nach Überzeugung der aristotelischen Physik als seine natürliche Bewegung angesehen werden. Sie geht gänzlich von ihm selbst aus und verhilft ihm zu seiner eigenen, ihm aus natürlicher Notwendigkeit zukommenden Form. Dass er durch sein Wachstum nun irgendwann an die Äste anderer, ihn umgebender Bäume stößt, kann – auch das gänzlich im aristotelischen Sinne – als ein akzidentelles Ereignis beschrieben werden. Aus der Annahme eines principium operationum würde indes folgen, dass dieses akzidentelle Ereignis (›Ast A stößt an Ast B‹) seinen Urgrund ebenfalls in der intima rerum habe; der Baum träte dann mit seiner Einflussnahme auf andere Bäume gewissermaßen über sich selbst hinaus, ohne dass er seine eigene Tätigkeit – das Wachsen – dabei verändert hätte. Vielmehr befindet er sich – als Körper – in einem stetigen Verhältnis zu den anderen Körpern und verwirklicht sich in seiner Tätigkeit. Eine Unterscheidung zwischen der Bewegung in Bezug auf andere Körper – das An-die-Äste-Stoßen – und eine solche seiner selbst gemäß – sein Wachsen und Gedeihen – ist dann entweder nicht mehr nötig oder kann als Übereinstimmung von Essenz und Akzidenz verstanden werden. Wurde das Bewegungsprinzip bei Aristoteles noch nach den Kriterien des Zufalls und der Notwendigkeit sowie nach dem aktiven Beweger (motor) und dem passiv Beweglichem (mobile) geordnet, so ist es hier vielmehr die Bewegung selbst, über deren priorische Setzung sich Zufall und Notwendigkeit sowie Aktivität und Passivität überhaupt erst als sinnvolle ontologische Größen differenzieren ließen. Der Baum bleibt in seiner notwendigen wie in seiner akzidentellen Bewegung in Tätigkeit befindlich. Somit stellt die Bewegung das neue Konstituens des esse per se dar, ohne dabei das esse per aliud suspendieren zu müssen. Ihr natürlicher, wenn man so möchte: wesensmäßiger Ausdruck bleibt dabei das sich in individueller Tätigkeit befindliche ›Ding an sich‹.

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senheit der Dinge? Die Antwort hierauf, legt man sie im Sinne einer sich an der operatio orientierenden Naturphilosophie aus, muss lauten: Die naturgemäßen Prozesse der Dinge sind dadurch erklärbar, dass sie Veränderung und Bewegung, aber auch den Widerstand gegenüber äußeren Einflüssen als Potenzen bereits intrinsisch – und dies im Sinne ihrer Selbstperzeption – enthalten. Diese Selbstperzeption wirkt sich dann auch auf ihre eigene Präsenz aus: Sie zeigt sich bestimmt durch die Absonderung von einem urtümlichen Schöpfungsakt sowie durch eine sich selbst zukommende und dadurch ausschließlich dinglich mittelbare Erscheinungsweise. Somit liegt sie nicht mehr in der Differenzbeziehung zwischen Prinzip und Prinzipiiertem begründet, woraus ja gerade die natura naturata ihren Status eines eigenständigen Naturbegriffs bezieht, ebenso wenig in der Differenzbeziehung zwischen einer potentia passiva und einer potentia activa, wie sie der klassische Aristotelismus noch unter Bezugnahme auf Aristoteles selbst für sich reklamieren konnte. 158 Die Dinge sind naturiert, nicht weil sie das Resultat eines Schöpfungsaktes sind, sondern weil sie zu anderen Dingen distinkt und relativ sind; die Dinge sind naturierend, nicht weil sie organisch schöpferisch sind, sondern weil sie sich in Tätigkeit befinden. Dennoch wird in einer solchen philosophischen Denkrichtung, die sich zuvorderst der Prämisse verschreibt, Tätigkeiten eng an die Naturgegenstände selbst zu koppeln, der Aristotelismus hinsichtlich seines Naturbegriffs keines158 Denn auch dieses Begriffspaar geht direkt zurück auf Aristoteles, insbesondere auf Aristot., metaph., 5, 12, 2, 1019a32–1019b4 und die darin behandelte Unterscheidung zwischen den Prinzipien der Bewegung und Veränderung: »λεγοµένης δὲ τῆς δυνάµεως τοσαυταχῶς, καὶ τὸ δυνατὸν ἕνα µὲν τρόπον λεχθήσεται τὸ ἔχον κινήσεως ἀρχὴν ἢ µεταβολῆς (καὶ γὰρ τὸ στατικὸν δυνατόν τι) ἐν ἑτέρῳ ἢ ᾗ ἕτερον, ἕνα δ᾽ ἐὰν ἔχῃ τι αὐτοῦ ἄλλο δύναµιν τοιαύτην, ἕνα δ᾽ ἐὰν ἔχῃ µεταβάλλειν ἐφ᾽ ὁτιοῦν δύναµιν, εἴτ᾽ ἐπὶ τὸ χεῖρον εἴτ᾽ ἐπὶ τὸ βέλτιον – καὶ γὰρ τὸ φθειρόµενον δοκεῖ δυνατὸν εἶναι φθείρεσθαι, ἢ οὐκ ἂν φθαρῆναι εἰ ἦν ἀδύνατον.« (»Da das Vermögen nun auf all diese Weise [sc. als Prinzip der Bewegung, der Veränderung, des Erleidens, des Vollendens und des Widerstandes] ausgesagt wird, so wird auch ›vermögend‹ in der einen Bedeutung als dasjenige benannt werden, was der Urgrund der Bewegung oder der Veränderung (denn auch das Stillstand Bewirkende ist ein gewisses Vermögendes) in einem anderen ist oder insofern es ein anderes ist; in einer anderen Weise wird man etwas ›vermögend‹ nennen, wenn etwas anderes über es selbst ein solches Vermögen besitzt; in einer [sc. wiederum] anderen Weise, wenn es das Vermögen hat, in irgendeinen anderen Zustand überzugehen, sei es in einen besseren, sei es in einen schlechteren – denn auch das Vergehende scheint vermögend zu sein zu vergehen, oder es wäre nicht vergangen, wenn es dazu nicht vermögend wäre.«) Somit umfassen die Begriffe des Vermögens respektive Unvermögens ausdrücklich aktivische und passivische, werdende und vergehende Zielrichtungen, und die einzelnen Vermögensweisen enthalten entweder den Grund der Bewegung oder Veränderung (ἔχον κινήσεως ἀρχὴν ἢ µεταβολῆς) in sich selbst oder werden von außen gesteuert (ἐν ἑτέρῳ ἢ ᾗ ἕτερον). Zur Ausprägung dieses Komplexes im mittelalterlichen Aristotelismus und Thomismus vgl. Friedrich (1969), Giacon (1949), Fuetscher (1933) und Appel (1930).

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falls gänzlich aufgegeben: Wichtige funktionale Aspekte weisen nach wie vor einen Allgemeinheitsanspruch auf, der sich über die Entlassung der Natur aus der transzendentalen Obhut Gottes in den ihr eigenen, inneren Bereich nicht abschwächt, sondern eher noch verstärkt. Da jedes Ding ein Ding an sich bleibt, bleibt auch sein Vermögen ein individuelles, mithin ein verkappt aristotelisches, das sich auf seine δύναµις καθ᾽ αὑτήν (dýnamis kath' haut´¯en) verlassen kann – mit dem feinen Unterschied, dass die δύναµις (dýnamis), als Urgrund der Bewegung (ἀρχή τῆς κινήσεως/arche´¯ te¯s kine´¯seo¯ s), nicht mehr mit dem sich an einem τέλος (télos) bemessenden Potential, sondern mit der vom Inneren ausgehenden Tätigkeit in eins fällt. In einer quantitativ ausgebreiteten Wirklichkeit, einer natura naturata, liegt das Ziel eines Körpers nicht mehr zuvorderst in der Verwirklichung eines qualitativen Potentials; vielmehr scheint es in einer ebenfalls quantitativ gefassten Wirklichkeit auf; und dies meint – wenn wir etwa an den Endpunkt einer Fallbewegung, das Ziel eines Wurfgeschosses o. ä. denken – eine auf geometrischen Bahnen zu verortende Größe. Der Verwirklichung des Vermögens eines Körpers entspricht dann der mechanischen Umsetzung seiner physikalischen Grundeigenschaften. Die Eigentätigkeit mag also von immanenten Eigenschaften ausgehen, die sich dem Erkenntnisblick entziehen; ihre Manifestation wird dessen ungeachtet über die mechanischen Gesetze beschreibbar gemacht. Fielen die physikalischen Bewegungen im klassischen Aristotelismus noch zu einem großen Teil in den Bereich des Akzidentellen, so sind sie nun auf neue Weise, nämlich mechanisch wesensgemäß. Die potentia activa lässt sich im Zuge der Etablierung des frühneuzeitlichen Naturbegriffs dadurch zu einer mechanischen Größe hin fortentwickeln, dass sie in ihrer Janusköpfigkeit 159 verschiedene Bewegungsprinzipien verkörpern kann – ein Aspekt, auf den in Kapitel iii.2 im Zuge der Erläuterung aristotelischer und nicht-aristotelischer Bewegungskonzepte noch genauer einzugehen sein wird. Bleiben wir jedoch, bevor wir uns auf diese neuen Spielarten des Aristotelismus einlassen, noch zunächst beim generellen Verständnis, das man sich von der Natur gemäß dem Entwicklungsgang der Philosophie im 17. Jahrhundert machen kann: Ruft man sich in Erinnerung, wie Bacon im Novum Organum aus den Einzelbeobachtungen allgemeine Schlüsse ableiten wollte und wie diese Schlüsse wiederum auf die weiteren Beobachtungen in der Dingwelt anzuwenden waren, so ist ein solches Wechselverhältnis von Allgemeinem und Speziellem durchaus als charakteristisch für die Frühe Neuzeit zu bezeichnen. Das Individuelle, das Ding an sich, entfalte sich demgemäß aufgrund seiner Tätigkeit im Allgemeinen, nämlich in der Totalität der Wirklichkeit. Im 159

Diese besteht in einem Potential (potentia) und einem aktiven Strebeprozess (activa).

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Umkehrschluss gilt aber ebenso, dass auch die Wirklichkeit dem mechanisch vernetzten Zusammenhang gegenseitig aufeinander einwirkender Einzeldinge entsprechen muss. Leinkauf fasst dieses philosophische Paradigma für das 16. und 17. Jahrhundert zusammen und richtet es dabei gar bis auf Fragen der Gegenwart hin aus: Theorien, die ein Inneres der Dinge ansetzen, stehen, obgleich sie vieles der mechanistisch-quantifizierenden Position entnehmen, der individualistischen, kontext-orientierten Naturtheorie des Aristoteles näher, und sie verweisen [. . . ], indem sie das Muster kombinatorischer vollständiger Wechselbestimmungen irreduzibler, elementarer Einheiten nicht nur zum Muster der Mikrostruktur der einzelnen Dinge, sondern der Totalität des Seienden machen, zusammen mit dieser und eher als die extrem reduktionistischen Theorien voraus auf Probleme, mit denen sich auch noch die heutige Naturwissenschaft herumschlägt. 160

Wollte man das angesprochene Phänomen auf eine Grundtendenz der Naturphilosophie bringen, so ist die Prinzipienhaftigkeit, die den Tätigkeitsgründen zukommt, nur in der Fortentwicklung einer Naturauffassung zu denken, die es vermeidet, sich zur scholastischen oder zur aristotelischen Philosophie schlicht identifikatorisch zu verhalten. Zugleich hält sie jedoch ihren Generalisierungsanspruch im Bezug auf die Substantialität des Dings aufrecht. Nimmt man im Sinne der intima rerum an, dass Körper über eine Art von Innenleben verfügen, dass dieses Innenleben unabhängig von einem göttlichen Schöpfungsakt Tätigkeiten vollführt und dass sich die innere dingliche Struktur mit der Struktur des Weltganzen in einem gewissen Band befindet: Was ließe sich dann für die Vorstellung von Masse als größtmöglicher Konsens ausmachen? Zunächst kann – selbst von Seiten eines vollkommen auf uniforme Elementarteilchen reduzierten Atomismus – kaum an den grundsätzlichen Beobachtungen gerüttelt werden, dass die körperliche Welt aus Materie von unterschiedlicher Menge (quantitas), Dichte (densitas) und Ausdehnung (extensio) besteht; ferner, dass sich – je nach verwendetem Beobachtungsinstrument – graduell immer feiner messbare Unterschiede hinsichtlich dieser Dimensionen bezogen auf die zu unterscheidenden Körper wahrnehmen lassen; und schließlich lässt sich – wenigstens einer gewissen Intuition folgend – mutmaßen, dass ebendiese Unterschiedsmomente einen signifikanten Einfluss auf die Konstitution körperlicher Größen überhaupt zeitigen. Anders gesprochen: Der Körper eines konkreten Baumes ist als Körper dieses Baumes identifizier160 Leinkauf (2000), 410. Dieser Befund stützt sich unter anderem auf die ideengeschichtlichen Vorarbeiten von Krafft (1982).

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bar 161 aufgrund der primären materiellen Qualitäten, die ihm zukommen. 162 Diese Qualitäten bilden dann zugleich Merkmale des entsprechenden Körpers. Sammelte man diese nun im Sinne von körperlichen Merkmalen dazu, einen Gegenstand als solchen zu erkennen, so müssten diese Qualitäten nicht nur deutlich, sondern in hinreichender Anzahl gegeben sein. Ließe sich diese Perspektive als eine auf die Arithmetik der Wirklichkeit ausgerichtete auffassen, so wäre diesem Verfahren ein abstrakteres, der konkreten Zahlenwelt entbundenes Beschreibungstableau entgegenzuhalten: In letzterem Fall nämlich stellt ein Körper einen Körper dadurch dar, dass er Qualitäten enthält, die geometrisch zu erfassen sind; diese Erfassung findet nicht in einem konkreten, sondern in einem abstrakten Raum statt – dessen Körper sich auf die Wirklichkeit dann applizieren ließen. Was beiden Zugangsweisen, der arithmetischen wie der geometrischen, jedoch gemeinsam ist, besteht darin, dass die Disziplinen der Mathematik und der Mechanik unverbrüchlich zusammenwirken, mögen sie nun im ersten Fall auf eine physikalische Präsenz – denn die Natur drückt sich demnach in Zahlen aus – oder im zweiten Fall auf eine theoretische Wiedergabe – denn das Räsonieren über die Natur drückt sich dort in abstrakten Figuren aus – ausgerichtet sein. Die Kognition fiele in diesem Fall nicht mehr auf die Arithmetik (was ein Anliegen von Monisten wie Hobbes wäre), sondern (was ein Anliegen von Dualisten wie Descartes wäre) auf die Algebra zurück. Sie teilt mit der Arithmetik den Gegenstand, die Zahlen, und mit der Geometrie die Abstraktionskunst der Methode. Allerdings handelt es sich – und dies unabhängig von der gewählten Methode – bei alledem stets um einen Akt der Hinwendung zur diesseitigen Wirklichkeit. Denn die Größen der Menge, Dichte und Ausdehnung scheinen vor allem in phänomenologischer und empirischer Dimension auf validen Füßen zu stehen und sind – wenigstens im Falle der Menge und der Ausdehnung – dementsprechend in ihrer diesseitigen Das Gegenteil hierzu hieße, den Körper eines Baumes als Körper zu identifizieren. Hierfür würden wir – nach transzendentalphilosophischer Auffassung – nicht die materielle Repräsentation des Baumes, sondern die Idee von Körperlichkeit benötigen. 162 Die Unterscheidung dieser Primärqualitäten von denjenigen Qualitäten, die der bloßen subjektiven Anschauung unterliegen, stellt einen der wichtigsten Denkschulen übergreifenden Grundsätze dar, die sich im 17. Jahrhundert im Spannungsfeld von Philosophie und Physik ausprägen. Die maßgeblichen Dimensionen der primären Qualitäten werden dabei vor allem von der Mechanik und der Geometrie bereitgestellt. Dass dies in vielen Fällen dazu führen sollte, auch die sekundären Qualitäten auf ihre mechanischen und geometrischen Dimensionen rückzuführen, wird von Dijksterhuis (1956), 482–485 betont. Dennoch wäre es vorschnell – und wird von Dijksterhuis auch vermieden –, aus der Mechanisierung subjektiver Anschauungen auf die Mechanisierung des Menschen schlechthin zu schließen, sie sozusagen als eine Art Vorgeschmack auf dasjenige aufzufassen, was im 18. Jahrhundert mit La Mettries L’homme machine (1747) in Form einer philosophischen Extremhaltung die europäischen Gelehrtenkreise in Aufruhr versetzt. 161

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Existenz nur sehr schwer bestreitbar. Mit einem kleinen Unterschied: Menge und Ausdehnung lassen sich an der Materie recht unmittelbar über die bloße Optik ablesen, bei der Einschätzung von Dichte und Gewicht hingegen versagt unser Gesichtssinn; 163 ferner benötigen wir in der Regel ein Vergleichsobjekt, um überhaupt Grade von ›schwer‹ und ›leicht‹, ›groß‹ und ›klein‹ aussagen zu können: Ein Mensch mag uns im Verhältnis zu einer Feder groß und schwer, im Verhältnis zu einem Elefanten indes leicht und klein vorkommen. Hierin liegt unter anderem die Vorzüglichkeit des Massebegriffs hinsichtlich seiner engen Verhaftung mit den Naturdingen im Sinne eines esse per se begründet: Wo nämlich das Gewicht (pondus) in seiner relationalen Prägung als ein esse per aliud bestimmbar erscheint, zeigt sich der Massebegriff seiner konzeptuellen Entstehungsgeschichte nach durchweg auf die Eigenkörperlichkeit des Gegenstandes selbst hin ausgerichtet, nämlich auf die Quantität der Materie in einem bestimmten Raum. Insofern er sich also mit einem einzelnen ›Ding an sich‹ begnügen kann, lässt sich an ihm auch besonders eingängig die neue methodische Blickrichtung in die intima rerum ablesen – und diese Blickrichtung schließt letztlich auch die Frage nach einem principium operationum mit ein. Ein solcher methodischer Einschluss von inneren Körperlichkeits- und Tätigkeitsprinzipien zeitigt zugleich einen wesentlichen Schritt aus der bloßen Mengenbetrachtung der re¯s naturatae heraus – eine Entwicklung, die in Ansehung der philosophiegeschichtlichen Rolle der Materie und der ihr traditionell zugeschriebenen Attribute 164 alles andere als selbstverständlich erscheinen muss.

1.c.β. Der historische Aufstieg der Masse – moles, massa und inertia

Ausgehend von den philosophischen Präliminarien aus Mittelalter und Renaissance lässt sich zunächst festhalten, dass bis zum 17. Jahrhundert das Konzept der Masse noch im Großen und Ganzen der Vorstellung einer Quantität Die Mechanik geht also – und dies im Schulterschluss mit der mathesis universa – über die reine Anschaulichkeit hinaus; wo die Mathematik algebraische Elemente in die Geometrie mit einbringt, bringt die Mechanik Größen ins Spiel, die sich den unmittelbaren sinnlichen Eindrücken entziehen; vgl. hierzu den prägnanten Befund für das 17. Jahrhundert bei Achermann (2015), 45: »Die neue Mechanik setzt also nicht nur Instrumente und Versuchsordnungen, sondern auch eine neue Mathematik voraus, welche die Dimensionen ihrer Anschauung beraubt und durch algebraische Formalisierung die Kluft zwischen Geometrie und Arithmetik zu überwinden vermag«. 164 Hierzu zu zählen sind, mit Blick auf den Platonismus und Aristotelismus, etwa ihre Trägheit (materia iners), ihre Formlosigkeit (materia informis), ihre Passivität (materia passiva), die sich darin ausdrückt, lediglich ein Bewegliches (mobile) und kein Beweger (motor) zu sein, sowie ihre Tendenz zur Ruhe (motus ad quietem). 163

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der Materie (quantitas materiae) verhaftet bleibt. Betrachten wir diesen Umstand rein systematisch, so wird die Materie primär in und aus ihrer schieren Menge heraus vorgestellt; alle weiteren Eigenschaften, die man für sie veranschlagen möchte, sind dementsprechend aus der Quantität allein erst zu deduzieren; dies kann mithin nur zu einem sehr rudimentären Massebegriff führen, der in der einfachen, intuitiven Einsicht besteht, dass an einem Körper, in dem mengenmäßig weniger Materie vorhanden ist als in einem anderen, auch die Masse geringer einzuschätzen ist. 165 Verfolgen wir aber diesen Umstand historisch etwas genauer, so lässt sich erkennen, dass einer solchen Auffassung – nicht zuletzt aufgrund ihrer beträchtlichen physikalischen Insuffizienz – im 17. Jahrhundert nicht mehr ein besonders weitreichender Erfolg beschieden war. So resümiert Jammer mit Blick auf philosophiegeschichtlich so zentrale Werke und Kommentierungen wie Richard Swinesheads Liber calculationum (1350), den Treatise in six books on metaphysics and natural philosophy (zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts) eines anonymen Verfassers, Jean Buridans Quaestiones super octo libros Physicorum (um 1360) und Nicole Oresmes Livre du ciel et du monde (1377), daß schon vor der klassischen Mechanik im 16. und 17. Jahrhundert der Begriff der Quantität der Materie für die Formulierung physikalischer Gesetze erforderlich war. Obwohl das allgemein stark empfunden wurde, handelte es sich hier um eine sehr vage und verschwommene Erkenntnis. Selbst in der Naturphilosophie der italienischen Renaissance, die, aufs Ganze gesehen, einen wichtigen Beitrag zur Begriffsbildung der modernen Wissenschaft leistete, trug man wenig zur Aufklärung der Sachlage bei. 166

In der Geschichte der europäischen Naturphilosophie lässt sich also für eine beträchtliche Zeit kein Masse-Begriff ausmachen, der einem strengen physikalischen Gesetzbuch genügen konnte, obschon dies im Zuge des sich ausbreitenden Interesses an den Bewegungen der Planetenkörper, an der Stellung der Erde im Verhältnis zur Sonne und an den Flugbahnen der Kometen ein Als einflussreichste antike Vorlage hierzu kann ein weiteres Mal Lukrez’ De rerum natura gelten, insbesondere dessen erstes Buch, in dem es an zahlreichen Stellen um den Beweis der Existenz des Leeren (inane) geht – denn diese Vorannahme muss nach atomistischer Überzeugung getätigt werden, um die Diversität der Mengenverhältnisse und den atomaren Positionsaustausch in der physikalischen Wirklichkeit erklärbar zu machen; so werde »indes nicht überall alles Körperliche durch die Natur [gleichermaßen] dicht zusammengedrängt gehalten; denn es gibt in den Dingen ein Leeres« (Lucr., 1, 329 f.: »Nec tamen undique corporea stipata tenentur / omnia natura; namque est in rebus inane.«) Das Leere liefert in diesem ersten Buch sowohl das Kriterium für die Dichte und das Gewicht der Körper als auch für deren Möglichkeit zur Bewegung (vgl. ebd., 1, 342–345). 166 Jammer (1964), 53. 165

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zunehmendes Desiderat darstellte. 167 Die Quantität der Materie konnte demzufolge, je nach dem, welches philosophische Programm man verfolgte, bald – im Sinne ihrer Ausdehnung – als eine geometrische, bald – im eben genannten Sinne der Masse – als eine stoffliche Eigenschaft aufgefasst werden. Damit war allerdings noch nicht festgelegt, ob es bei dieser Zuschreibung um eine primäre Eigenschaft im Sinne des (nach wie vor streng aristotelisch gedachten) Notwendigkeitsprinzips oder um eine sekundäre Qualität im Sinne einer durch Kontingenz verursachten (und demokritisch-epikureistisch gedachten) Eigenschaft ging. 168 Dieses in der scholastischen Philosophie noch nicht in den Vordergrund gerückte, geschweige befriedigend geklärte Grundproblem bildet nun eine wesentliche ideengeschichtliche Folie für die Naturphilosophie Galileo Galileis (1564–1642). Denn die oben angeführte Unklarheit des Quantitätsbegriffs findet sich tatsächlich nicht nur im Gros der mittelalterlichen Scholastiker, 169 sondern ist auch in weiten Teilen bei Galilei selbst noch auszumachen. Er vertritt im Gesamtkontext seines Œuvres zumindest keine konsistent zu nennenden Auffassungen zur Materie, die sich als rein physikalische auswiesen; er kehrt vielmehr in seinen Beschreibungsmustern immer wieder zu den Teildisziplinen der Mathematik, das heißt vor allem zur Arithmetik, Algebra und Geometrie 167 Vielmehr waren die naturphilosophischen Diskurse vor dem Erfolg der astronomischen Mechanik von den Kontro- versen zwischen Buridanern und Averrianern bestimmt. Zur allgemeinen historischen Situation der Philosophie im 15. Jahrhundert vgl. Flasch (22011), 561–574. 168 Erschwert wurde der Aufstieg der Masse als valider naturwissenschaftlicher Größe im Mittelalter auch durch die doch sehr zentrale Rolle der Bewegung (motus, motio), die als solche das Hauptinteresse darstellte und einen beherrschenden Schwerpunkt der Erkenntnisbemühungen in der scholastischen Naturphilosophie bildet; vgl. hierzu das treffende Diktum Grants, nach dem »[i]n the most general sense, Scholastic natural philosophers identified ›mobile being’‹ (ens mobile) as the basic subject matter of natural philosophy.« (Grant [2010], 283 f.) Weitere substantielle Prinzipien (materia, quantitas, gravitas etc.) werden demzufolge nicht als die eigentümliche Ursache der Körperbewegung angenommen – gerade weil diese ja selbst bereits eine substantielle Position einnimmt, indem sie ein eigenes ens bildet – und sind dementsprechend hiervon klar geschieden, wenn nicht gar sekundär zu behandeln. 169 Dijksterhuis macht dies unter anderem an der generellen Neigung der scholastisch-peripatetischen Philosophie fest, sich in ihrer Naturbetrachtung vorwiegend auf nicht-quantifizierbare Qualitäten zu kaprizieren, wobei er mit Thomas Bradwardine (1290–1349), Nikolaus von Oresme (1320–1382) und allgemein der im 14. Jahrhundert progressiv auftretenden Oxford-Philosophie ebenfalls prominente Gegenbeispiele anführt, in denen sich eine Hinwendung zur Quantifizierung physikalischer Prozesse (etwa durch die Zugrundelegung der latitudo und longitudo als Aktivitätsprinzipien in kinematischen Fragen) durchaus ausmachen lasse – bei Nikolaus von Oresme gar bis hin zu einer dezidierten Diskussion der quantitas qualitatis; vgl. Dijksterhuis (1956), 212–225. Demnach entzieht sich sich das wechselseitige Verhältnis zwischen der qualitas und der quantitas in der Scholastik zwar einer gewissen Eindeutigkeit; als Tendenz ist dennoch festzuhalten, »daß in der Scholastik eine Bestrebung im Gange war, Qualitäten unter voller Wahrung ihrer selbständigen Bedeutung quantitativ zu behandeln« (ebd., 212).

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zurück. Insbesondere die Geometrie ist hierbei nochmals gesondert hervorzuheben, wie Galileis grundlegendes und rasch populär gewordenes Werk Il saggiatore (1623) in einem frühen Kapitel zum Ausdruck bringt: Es [sc. das vorliegende Werk] ist in der mathematischen Sprache geschrieben, und deren Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum. 170

Wir sehen die Geometrie ex negativo mit der Erkenntnis schlechthin gleichgesetzt – deren Gegenteil besteht ja, wie wir seit Parmenides wissen, in der Dunkelheit und hier gar in einem dunklen Labyrinth. Die zweite mathematische Teildisziplin, die sich für Galilei als die maßgebliche erweist, ist die Arithmetik. Aus der Bevorzugung von Geometrie und Arithmetik, die sich ganz im harmonistischen Zeitgeist der italienischen und französischen Kunstepochen befand, 171 ergibt sich aber auch, dass kein Materiebegriff vorliegt, der konsistent aus rein stofflichen Paradigmen gezogen werden könnte. Ähnliches lässt sich diesbezüglich für den Massebegriff konstatieren. 172 Somit besteht in der galileischen Physik eine Leerstelle hinsichtlich der Beschreibung materieller Größen als materieller Größen. Die mathematische Beweiskraft reicht gewissermaßen nicht bis in den Bereich der physikalischen Kräfte hinein. Dieses Problem Galilei, Il saggiatore, cap. VI: »Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche, senza i quali mezi è impossibile a intenderne umanamente parola; senza questi è un aggirarsi vanamente per un oscuro laberinto«. 171 Dies vor allem bezogen auf die Entwicklung der Malerei und Musik zwischen ca. 1500 und 1650, die mit den Prinzipien der Zentralperspektive und des Goldenen Schnitts auf geometrische und arithmetische Bezugssysteme rekurriert. Dass es gerade diese beiden mathematischen Teildisziplinen sind, auf die vornehmlich zugegriffen wird (beziehungsweise – wie bei Descartes – auf die Algebra als abstrakte Form der Arithmetik), erklärt sich allerdings nicht nur aus einem übergeordneten Harmonieverständnis heraus, nach dem Philosophen und Kunstschaffende in scheinbarer Eintracht streben würden, sondern auch aus einer Komplementarität in den Verfahrensweisen: Was in Arithmetik und Algebra zu einer irrationalen Zahl führt (etwa die Zahl Pi um einen Kreisumfang zu berechnen, oder die Diagonale eines Quadrats), führt in der Geometrie selbst zu einer klar anschaulichen Figur (Kreis) beziehungsweise zu einer Linie, die sich in eine solche Figur (Quadrat) einzeichnen lässt. Umgekehrt gilt: Wenn in der Geometrie zwei Linien lediglich als ›länger‹ oder ›kürzer‹ zueinander angesetzt werden, so erfordert die Idee ihrer ›zusammengenommenen Länge‹ arithmetische Operationen, namentlich die Vermessung ihrer Längen (wofür es der Zahlen respektive der Variablen für die entsprechenden Zahlen bedarf) und deren Addition (wofür es wiederum der Grundrechenarten bedarf). Im Zusammenschluss beider Disziplinen profitieren also beide Seiten bald hinsichtlich ihrer Quantifizierbarkeit, bald hinsichtlich ihrer Repräsentationalität. 172 Vgl. etwa prägnant hierzu Heller (1970), 62: »[F]ür ihn [Galilei; D. B.] erschien Materie im Rahmen rein geometrischer, arithmetischer, oder kinematischer ›primärer Qualitäten‹: Gestalt, Größe, Lage, Berührung, Anzahl, Bewegung. Eigenartigerweise fehlt dabei ein ausgesprochener Massenbegriff; zu ihm stieß Galilei nicht vor, da sein Interesse vor allem den Messungen von Längen und Zeiten, nicht aber dem ›Maß der Materie‹ galt«. 170

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wird Galilei in seiner wissenschaftlichen Biographie lange Zeit beschäftigen. Es betrifft, wie Jammer herausstellt, Galileis Kraft-, Geschwindigkeits- und Trägheitsbegriff in elementarer Weise: Galileo, however, does not yet arrive at a mathematical definition of dynamic force, the reason being, as stated, that he still does not possess a clear definition of mass. Yet he already reduces the action of force to a gradual increase of velocity, to the accumulation of increments of speed, an idea that was possible only after he had assumed, at least implicitly, the principle of inertia. 173

An die funktionale Stelle einer moles tritt daher zunächst ein klassischer Trägheitsbegriff (inertia) – ein Bewegungsprinzip, das danach strebt, die Materie zur Ruhe zu bringen. Ungeachtet der Tatsache, dass wir keine befriedigende Erklärung für eine stoffliche Wirkursache der unterschiedlichen Bewegungsarten in der Welt erhalten, lassen einige Argumentationsstellen jedoch zumindest eine gewisse Tendenz zur Vorstellung einer trägen Masse im Sinne eines physicum reale – und darin dann durchaus in Absetzung von den mathematischen Eigenschaften (quantitas, extensio) einer bestenfalls als träge vorgestellten Materie – erkennen. 174 Eine derartige Bestimmungsgröße wiederum entfernt sich von den radikalsten neoplatonischen Überzeugungen, wonach die Materie selbst nichts als einen bloßen Mangel an reinem Sein darstelle. Sie schlägt sich allerdings auch nicht auf die andere Seite, die darin bestehen könnte, in atomistischen Theoremen aufzugehen. Die Annahme unteilbarer Teilchen als physikalischer Elementarien wäre nämlich keinesfalls tauglich, um dem ›dunklen Labyrinth‹ zu entgehen, das Galilei in seiner Wissenschaftstheorie meiden will. Die Vorstellung, immer weiter zu teilen, ist vielmehr dazu geeignet, im menschlichen Geist das Gegenteil einer luziden Vorstellung von der Natur hervorzurufen. Für Galilei viel tauglicher, weil vor allem durch die teleskopische Anschauung der Natur erprob- und validierbar, ist die Annahme einer ungleich verteilten Materie im Universum. Und hier kommt erstmals der Jammer (1957), 101. Vgl. die gute Zusammenfassung bei Jammer (1964), 53 f. unter Bezug auf Kommentierungen de Santillanas zu Galileis späteren Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1632) sowie Ruoff (2002), 48–50. Ruoff macht insbesondere die Inkompatibilität der mathematischen Methodik mit der Physizität des Untersuchungsgegenstandes (Körper, Gestirne etc.) als ein Problem für die Entwicklung eines konsistenten Materiebegriffs aus – gerade wenn es sich um eine Ablösung des aristotelischen Substanzbegriffs, der die Quantität eines Körpers noch als kontingente Eigenschaft fasste, handeln soll. Wovon sich Galilei indes nicht löst, ist die genuin aristotelische Annahme ›primärer‹ Qualitäten, die der Materie gegenüber ihren kontingenten, ›sekundären‹ Eigenschaften zufielen. Diese Qualitäten wiederum erscheinen, eben bis zur Einführung und Explikation der Masse, bei Galilei in Schriften wie dem genannten Dialogo tatsächlich stark geometrisch geprägt und daher erst in zweiter Linie philosophisch. 173 174

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Masse-Begriff ins Spiel: ›Masse‹ (massa) bezeichnet hier nicht mehr die schiere Ausdehnung (quantitas, extensio), auch nicht das Gewicht (pondus), das materielle Häufungen in ihren kontingenten Weltvorkommnissen aufweisen, sondern die Materie im Modus ihrer eigenen Beweglichkeit. Es geht um dasjenige, was sich unserem Blicke unmittelbar wie mittelbar offenbart: Planeten sind erkennbar als Anhäufungen von Masse, die sich im Raum bewegen – und dies ohne fremdes, künstliches Zutun. 175 Nicht selten wird die Masse gerade in diesem kinematischen Zuschnitt auch als moles klassifiziert. 176 Wichtig erscheint an diesem Konzept, dass die Körper – entgegen Galileis eigener Festlegung auf die rein mathematische Methodik – bereits aufgrund ihres eigenen Gewichts zur Bewegung neigen. Mehr noch: Der durch das Gewicht verursachte Impuls trägt zur Aufrechterhaltung und Steigerung der Körperbewegung bei. Es ist also noch überhaupt kein genuiner Kraftbegriff, der die Bewegung induzieren würde, sondern das gemeinsame Wirken zweier Größen, namentlich des Gewichts und der Geschwindigkeit. Gemäß ihrer Erkenntnis – die auf Messungen beruht – sind denn auch die Bewegungen der Körper miteinander vergleichbar. Die Objektwelt mag auf ihrer phänomenalen Ebene aus einheitlichen, geradlinigen Bewegungen bestehen; der Blick in das Innere der Dinge offenbart indes andere, zusammengesetzte Prinzipien: Es ist offensichtlich, dass die Kraft des bewegenden oder der Widerstand des bewegten [sc. Objekts] nicht einheitlich und einfach ist, sondern sich aus zwei Aspekten zusammensetzt, nach denen die Energie bemessen werden kann. Deren einer ist das Gewicht, so wie es vom bewegenden und widerstehenden [sc. Objekt] her kommt, deren anderer die Geschwindigkeit, entsprechend wie sie sich im bewegten [sc. Objekt] bewegt. 177

In dieser zentralen Passage aus dem Le mecaniche (1599) angeschlossenem Traktat Della forza della percossa wird ein komplexer Kraftbegriff (forza) entworfen, der rein auf physikalischen Elementarien beruht, insofern er aus dem Gewicht (peso) und der Geschwindigkeit (velocità) herzuleiten ist. Im Gewicht Die Masse lässt sich daher durchaus im Sinne der Materie selbst auffassen; vgl. hierzu auch Jammer (2000), 8: »True, he [Galilei; D. B.] uses the word ›massa‹, but only in a nontechnical sense of ›stuff‹ or ›matter‹«. 176 Dies bereits in seinem Frühwerk Theoremata circa centrum gravitatis solidorum (1585/86). Begriffsgeschichtlich stellt sich dies indes nicht unbedingt als ein Novum dar, insofern die moles bereits aus der antiken Lexik heraus umstandslos eine ›Masse‹ prädizieren kann; vgl. Georges (81998), s. v. »moles«, 975. 177 Galilei, Della forza della percossa, 329: »È manifesto, la facultà della forza del movente e della resistenza del mosso non essere una e semplice, ma composta di due azioni, dalle quali la loro energia de essere misurata; l’una delle quali è il peso, si del movente come del resistente, el’altra è la velocità, secondo la quale quello dee muoversi e questo esser mosso«. 175

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selbst, das in der massierten Materie vorzustellen ist, liegt also Bewegungspotential und gewissermaßen die eine Hälfte eines Kraftbegriffs vor. Die daran anschließende Bezeichnung einer solchen Kraft als ›Energie‹ (energia) zeigt zudem an, dass die Bewegung eines Körpers von sich aus nicht dazu neigt, abzunehmen, sondern vielmehr dazu, sich selbst zu erhalten. Es handelt sich demnach noch um ein altes, aus der peripatetischen Tradition wohlbekanntes Konzept, das sich in Anlehnung an die aristotelische Physik mit ›ἐνέργεια‹ erfassen ließe. Galilei überführt es indes in eine frühneuzeitliche Form, indem er nicht das metaphysische Potential, sondern physikalische Größen zu seinem Ausgangspunkt erklärt. Zudem erscheint hieran wichtig, dass die Kraft – oder eben Energie – als eine Folge physikalischer Grundeigenschaften der Körperwelt vorgestellt wird und noch nicht – wie sich dann später in der dynamischen Naturphilosophie beobachten lässt – als deren Substrat. 178 Im Sinne Galileis ist die Bewegung von Masse durch das Universum hindurch also nicht auf deren Gewicht allein zurückzuführen – denn Bewegung bleibt neben dem Gewicht als eine autarke Grundgröße bestehen – und auch nicht auf die bloße Geometrie – die dann wohl doch eine allzu mathematisch anmutende Bewegungsvorstellung evozieren würde. Durch die Ansetzung einer geometrisch nur indirekt repräsentierbaren Größe wie diejenige des Gewichts 179 wird eine solche allzu starke Fokussierung auf die Geometrie vermieden. Dessen ungeachtet sollen jene Grundeigenschaften, auf die es Galilei ankommt, zu einer ganz bestimmten Vorstellung beziehungsweise Form von Bewegung führen. Und an dieser Stelle kommt die Geometrie nun umso nachdrücklicher ins Spiel: Die aus dem Gewicht hervorgehende Bewegung erscheint in ihren natürlichen Ausprägungen bei Galilei auf genau eine Form beschränkt. Es ist der Grundgedanke einer kreisförmigen Bewegung (venendo dal centro alla circonferenza), der von Galilei bereits in Il saggiatore (1623) formuliert 180 wird und neun Jahre später im zweiten Kapitel des Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1632) eine entsprechende Darstellung erfährt. Das Modellhafte dieser Darstellung lässt sich leicht aus der Abstraktion lösen, wenn man zugrunde legt, dass die Linie AB eine Erhöhung auf der Erdoberfläche bildet, während M den Erdmittelpunkt bezeichnet. Wird ein Objekt von jenem Turm fallengelassen, so bewegt es sich entlang eines Kreises mit dem Durchmesser MB entsprechend der Anziehungskraft des Massenpunktes M, Dies wird das Hauptthema in Kapitel III.3 dieser Studie bilden. Im Gegensatz zu den Umrissen eines Körpers inhäriert das Gewicht diesem selbst, und die Darstellung des Gewichts ließe sich zwar mithilfe von Linien unterschiedliche Länge repräsentieren, jedoch bestünde hierzu kein Analogieverhältnis – im Gegensatz etwa zur Darstellung der Erde als Kugel oder der Erdbahn als Kreis. 180 Vgl. Galilei, Il saggiatore, cap. VI : »venendo dal centro alla circonferenza«. 178 179

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Abb. 1: Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, cap. II, 191

bis es schließlich auf der Erdoberfläche – die selbst wiederum als Kreisbahn (hier mit dem Radius MA) vorzustellen ist – auftrifft. Auch die Wurfbewegung, so geradlinig sie auch anmuten mag, folgt im Modell Galileis einer Kreisbahn (mit dem Radius Ma1 beziehungsweise Mb1 und Mc1) entsprechend der Erdrotation. 181 Mag also auch die Grundbewegung eines fallengelassenen oder fortgeschleuderten Körpers uns auf den ersten Blick geradlinig erscheinen, so bewegt er sich dennoch prinzipiell nur entsprechend einer einzigen geometrischen Figur, nämlich zirkulär. Der Körper strebt hierbei naturgemäß auf einer bestimmten Bahn zu einem Ort, der bereits zum Zeitpunkt seines Bewegungsanstoßes (impetus, impeto) feststeht. 182 Gleichzeitig bemüht sich der Körper – und dies nun aufgrund seiner ihm innewohnenden Resistenzkraft (resistentia, resistenza) – in ebendiesem Bewegungsmodus zu verharren, diesen – mehr noch – gar zu intensivieren. Denn wie sich seine Masse im Fallen als Beschleunigungsimpuls erweist, so erweist sie sich im Ruhezustand als Gewicht – ein Phänomen, das klassischerweise mit dem Prinzip der Schwerkraft (gravitas, gravità) enggeführt wird. Anders gewendet: Die Schwerkraft eines Körpers im Ruhen entspricht derjenigen Kraft, mit der er sich beim Fallen beschleunigt: 181 Vgl. hierzu Dijksterhuis (1956), 390, wobei Dijksterhuis sich ausschließlich auf die Fallbewegung konzentriert. 182 Dass sich eine derartige Auffassung von Bewegung im Einklang mit der aristotelischen Physik befindet, die ja auch das naturgemäße Streben eines Körpers in bestimmte Richtungen beschreibt, legt Hecht (2009), 34–37 dar.

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Es ist klar, dass die antreibende Kraft, die auf einen Körper im Fallen wirkt, so groß ist wie die Widerstandskraft oder zumindest die Kraft, die notwendig ist, ihn ruhen zu lassen. Wollte man diese Kraft und diesen Widerstand bemessen, nehme ich die Schwerkraft eines anderen beweglichen Gegenstandes an. 183

Eine solche Auffassung von Resistenzkraft, die gerade nicht im Streben der Materie zur Ruhe oder in der Widerstandsfähigkeit gegenüber anderen korporalen Einflüssen aufgeht, sondern auf die Aufrechterhaltung, ja gar Steigerung ihrer Bewegung abzielt, ist ein typisches Merkmal der auf mechanischen Gesetzen beruhenden Naturphilosophie in der Frühen Neuzeit. 184 Peripatetisch gesprochen, strebt ein Körper im Fallen gewiss zur Ruhe, denn er beendet seine Fallbewegung erst dann, wenn er seinen Ruhezustand erreicht hat. Dieser ›letzte Zustand‹ kann mithin als das Telos der Fallbewegung gelten. Gleichwohl argumentiert Galilei nicht mit der Lehre von Finalursächlichkeit, sondern mit den physikalischen Größen einer antreibenden Kraft (impeto) und des Gewichts (peso). Demnach wird hier einerseits der Bewegungsimpuls vom System einer äußeren Kinetik in die Eigenschaften des Gegenstandes selbst verlagert, in dessen Gewicht und der damit einhergehenden Schwerkraft; 185 zugleich drückt sich der vom Körper ausgehende Eigenimpuls in einem einzigen Bewegungsmodus aus; insofern sich dieses Modell – wie im Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo gesehen – mit dem Kreis und der Kugel auf den geometrisch vollkommensten Figuren gründet, ist es – und dies mit antiker Legitimation – ebenso ›einfach‹ wie ›göttlich‹ zu nennen. Ziehen wir hierzu eine der bekanntesten Passagen aus Platons Timaios heran:

Galilei, Dialogi delle scienze nuovo, dial. 3, 140: »Qui è manifesto tanto esser l’impeto del discendere di un grave, quanta è la resistenza, o forza minima, che basta pre proibirlo, e fermalo: per tal forza, e resistenza, e sua misura, mi voglio fervire della gravità di un altro mobile«. 184 Dieser Trägheitsbegriff wird auch bei Descartes, wenn auch nun nicht gerade in Form von Kreisbewegungen, in den Principia philosophiae aufgegriffen werden. Er wird noch an späterer Stelle unserer Studie, in Kapitel III.2.a, noch genauer erörtert werden. 185 In einer solchen kinetischen Verlagerung direkt eine plane Abwendung vom Aristotelismus und Zuwendung zum Platonismus zu sehen, erschiene dennoch etwas vorschnell. Die Interiorisierung von Bewegungsimpulsen mutet vielmehr als eine ernsthafte Alternative zu diesen Traditionen an. Auch der umgekehrte Weg, die Exteriorisierung von Bewegungsprinzipien, hatte sich in der mittelalterlichen Philosophie in Form der impetus-Theorie als attraktiv erwiesen. Hierbei lassen sich zwei Konzepte unterscheiden: Während in der Schule des Nikolaus von Oresme impetus als die Ursache einer Beschleunigung gesehen wurde, so fand sich der impetus in der Schule Johannes Buridans als Ursache einer Bewegung mit prinzipiell konstanter Geschwindigkeit vertreten. Von diesen beiden ist es vor allem die Buridan-Auffassung, die einen großen Einfluss auf die neuzeitliche Mechanik gezeitigt hat; vgl. als eine der bis heute luzidesten Studien hierzu Maier (1940), insbesondere 153–176. 183

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Über die Reigen dieser [sc. Götter] selbst zu sprechen, über ihr Vorüberwandeln aneinander sowie über das Zurückkehren dieser Kreisbahnen im Verhältnis zu sich selbst und ihr Voranschreiten, welche dieser Götter bei ihrem Zusammentreffen in Vereinigung treten und welche in Gegenschein, in welcher Reihenfolge und zu welchen Zeiten sie sich unseren Blicken entziehen und dann wieder zum Vorschein kommen, böse Ahnungen hervorrufen, und denjenigen, die keine Berechnungen anstellen können, als Vorzeichen der Dinge, die noch kommen sollen, erscheinen, dürfte ohne ein genaues Betrachten der bekannten Modelle von eben diesen wohl eine vergebliche Mühe sein. 186

Soweit das klassische Bild, das man sich von den Kreisbahnen machte. Es sind Reigen (χορείαι) und Wandelwege (παραβολαί) der Götter, die sich für den fortwährenden Bestand der harmonischsten aller Bewegungsfiguren verantwortlich zeigen. Nun ist es bei Galilei aber ausgerechnet die Trägheit, die sich für ein Verharren in der Bewegung, mithin für ein Verharren in der Zirkularität, verbürgt. 187 Sie wird dadurch zu einem dynamische Grundprinzip erhoben und erfährt eine bis dahin beispiellose Nobilitierung. 188 Die Intensität, das heißt die Geschwindigkeit, mit dem sich diese Bewegung vollzieht, erscheint gegenüber dem reinen Formkriterium des Kreises respektive der Kugel bei Platon wie auch bei Galilei zunächst zweitrangig. Es ist nicht wichtig, welcher Gott der ›schnellste‹ ist (auch wenn Hermes hierfür zugegeben ein ernster Kandidat wäre), ebenso wenig wie die physikalische Geschwindigkeit bei Galilei Einfluss auf die Aufrechterhaltung der Kreisbahnen nehmen könnte. 189 Das der antiken Tradition entspringende Primat der Formgebung, die noch vor jeglichem physischen Vollzug anzusetzen ist, wird hier also durchaus aufrecht erhalten; seine Plat., Tim., 40c3–d3: »χορείας δὲ τούτων αὐτῶν καὶ παραβολὰς ἀλλήλων, καὶ πρὸς τὰς τῶν κύκλων πρὸς ἑαυτοὺς ἐπανακυκλήσεις καὶ προχωρήσεις, ἔν τε ταῖς συνάψεσιν ὁποῖοι τῶν θεῶν κατ᾽ ἀλλήλους γιγνόµενοι καὶ ὅσοι καταντικρύ, µεθ᾽ οὕστινάς τε ἐπί προ186

σθεν ἀλλήλοις ἡµῖν τε κατὰ χρόνους οὕστινας ἕκαστοι καταλύπτονται καὶ πάλιν ἀναφαινόµενοι φόβους καὶ σηµεῖα τῶν µετὰ ταῦτα γενησοµένων τοῖς οὐ δυναµένοις λογίζεσθαι πέµπουσιν, τὸ λέγειν ἄνευ δι᾽ ὄψεως τούτων αὖ τῶν µιµηµάτων µάταιος ἂν εἴη πόνος«. Hier wird – zugunsten der das kosmologische Modell selbst abbildenden Verschachtelung qua »πρὸς ἑαυτοὺς« – mit Diels »πρὸς« in 40c4 konjiziert. Vgl. hierzu auch Drake (1964), 607: »This restricted principle of inertia enabled Galileo and his followers to found the science of dynamics, by which physics was immeasurably advanced, though he neglected to state explicitly the general inertial principle as formulated two years after his death by Pierre Gassendi and René Descartes«. 188 Vgl. zu dieser Rolle der inertia in prägnanter Zusammenfassung der galileischen Position Westfall (1978), 19: »Inertial motion was conceived as uniform circular motion, the natural motion of a body in its natural place in a well-ordered universe«. 189 In seinen späteren Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze (1638) wird Galilei die Größen der Geschwindigkeit und Beschleunigung noch aufwerten, da er sie darin zur Erklärung parabelartiger Flugbahnen benötigt. 187

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Repräsentationsform ist jedoch nicht – wie noch bei Platon – metaphysischen, sondern – wie in Il saggiatore gesehen – geometrischen Zuschnitts. Darüber hinaus darf Galileis Ansatz, wenigstens in einem grundsätzlichen Sinne, bereits als holistisch gelten, insofern von der von Galilei unverbrüchlich angenommenen Kugelgestalt des Kosmos wiederum auf dessen interne Phänomene – wie eben die Bewegungen der in ihm enthaltenen Körper – zuverlässig und vice versa geschlossen werden kann. Dieses Wechselverhältnis existiert so bei Platon nicht, da die Götter nicht auf irdische Bewegungen angewiesen sind, um selbst in Bewegung zu sein. 190 Bei Galilei hingegen spiegelt sich die kosmische Gesamtgestalt in den physikalischen Eigenschaften seiner Einzelelemente wider. Erkennen wir den Verbund von Gewicht und Schwerkraft als dynamische Eigenschaften des galileischen Proto-Begriffs von Masse an, so wird diese Masse gar nicht mehr als schieres Quantitätsprinzip vorgestellt, sondern ruft eine selbsttätig wirkende und in ihrer formalen Ausprägung sogar als göttlich auffassbare Bewegung hervor. Diese Bewegung neigt dazu, sich selbst aufrecht zu erhalten – und dies ausgerechnet aufgrund der ihr zukommenden Trägheit, einer Größe, die von einem strengen platonischen Blickwinkel aus eigentlich den geeignetsten Kandidaten darstellen müsste, sie zur physischen Ruhe zu bringen. Kurz, die Masse ist aufgrund der Tatsache, dass die von ihr hervorgerufene Bewegung ihrem geometrischen Zuschnitt nach der curvitas folgt, in einem Zusammenhang mit dem Weltganzen zu sehen, und die Trägheit arbeitet, insofern sie Körper in der oben beschriebenen Weise in Bewegung hält, wiederum der Kugelgestalt des Kosmos zu, die sich ja in der fortlaufenden Kreisbewegung der Gestirne ausdrückt. Dieser zentrale Zusammenhang, der zwischen der antiken Kosmologie und den mechanischen Prinzipien herrscht, wird von Dijksterhuis präzise von einer traditionellen Schule, derjenigen des Atomismus, abgegrenzt: Eine ewig dauernde, geradlinige Bewegung, wie sie die Atomisten immer so gerne angenommen hatten, gehört für Galilei also ganz und gar nicht zu den natürlichen Möglichkeiten. Die ewige Kreisbewegung der Himmelskörper beherrscht sein Weltbild noch genau so stark, wie sie das der Griechen beherrscht hatte; Kreisbewegung ist die natürliche Bewegung par excellence, und wenn irgendwo von einer Tendenz zum Beharren die Rede ist, so kommt dafür in erster Linie eine kreisförmige Bewegung in Betracht. 191

Für die Verbindung zwischen diesen Prinzipien aus Galileis Physik und der in Kapitel iii.1.c.α beschriebenen Vorstellung einer intima rerum ist nun entscheiDieses Prinzip wurde in Kapitel II.3.a als ein wesentliches Sujet der von Hesiod ausgehenden antiken Lehrdichtung erschlossen. 191 Dijksterhuis (1956), 388. 190

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dend, dass Masse und Trägheit den Körpern in Form irreduzibler Prinzipien innewohnen; mehr noch, beide interagieren in einer Art interner Abhängigkeit miteinander: Die einem Körper zukommende Masse hält ihn in Bewegung, und er verhält sich in diesem Bewegungsdrang aufgrund seiner eigener Trägheit erst einmal renitent gegenüber äußeren Einflüssen. Anders gewendet: Ein Körper verlässt seine Bahn erst dann, wenn ein äußerer Anstoß, ein fremder impetus, dazu erfolgt. Die Trägheit hält also vor allem die von der Masse ausgehende Bewegung aufrecht gegenüber den Einflüssen, denen der Körper fortwährend ausgesetzt ist. Sie macht ihn mitnichten in erster Linie unbeweglicher, ›träger‹ als er sein könnte, sondern verleiht ihm im Gegenteil eine gewisse Autarkie. Sie ist gleichsam eine Trutzburg gegen die Akzidenz. Auf den ersten Blick mag also die Aufwertung der Materie, wie wir sie in der Astronomie vorfinden, zwar im Widerspruch zu den ideellen Weltgebäuden stehen, insofern hier die Materie zu anderen Selbsttätigkeiten neigt als lediglich zu ihrem eigenen Ruhebedürfnis; sie wird auch nicht mehr als das letzte Hypostat vorgeordneter geistiger Sphären begriffen, sondern ganz im Gegenteil zu einem Ausgangspunkt erklärt – wenn auch nicht der geistigen Prozesse (die ein radikaler Materialist freilich umstandslos darunter subsumieren würde), so aber immerhin der physischen Bewegungen. Sie ordnet sich aber bei alledem zuverlässig in die platonische Kosmologie ein. Die Körper befinden sich in dieser Übereinstimmung von Kosmos und Individualtätigkeit geradezu in ihrem vollkommenen Naturzustand. Das Allgemeine und das Spezielle werden somit über die Mechanik miteinander versöhnt, und selbst den einflussreichsten antiken Vorbildern wird im selbigen Zuge Genüge getan: Galilei, wie revolutionär gesinnt er auch zahlreichen überlieferten Vorstellungen gegenüber gewesen sein mag, hat stets an dem antiken Kosmosbegriff festgehalten, der die Endlichkeit der Welt einschließt. Mit Kopernikus und Kepler sieht er das Weltall immer noch so, wie Platon, Aristoteles und die Gelehrten des Mittelalters es gesehen hatten: als eine Kugel mit endlichem Radius. 192

Die für den Platonismus, den Neoplatonismus, den Aristotelismus, den Stoizismus und die Scholastik so wichtige Harmonie, die im Weltgebäude vorzuherrschen habe, wird grundsätzlich gewährleistet, wenn auch nunmehr – was von Dijksterhuis nicht so sehr herausgehoben wird – mit den denkbar unplatonischsten Mitteln, der Masse und der Trägheit. Im Zuge dieser Neubesetzung wird die physikalische Natur endgültig zum neuen Gewährsmann für eine antik instruierte Kosmologie. Die Körper sind von komplexen inneren Prinzipien bestimmt, die sie individuell tätig erscheinen lassen und sie zugleich 192

Ebd.

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in einen Einklang mit dem Weltganzen bringen. Auch die im Platonismus und Neoplatonismus noch so abstrakt gefasste Rolle der Mathematik ist in diesem Zusammenhang neu zu überdenken: Sie dient hier, ganz besonders in Gestalt der Geometrie, der Beschreibung physikalischer Prozesse, ohne dass dies auf der anderen Seite einen Verlust an Idealität bedeuten würde. Vielmehr wird ein neuer Leitaspekt zu allen geometrischen hinzugewonnen, nämlich die physikalische Realität, in denen sich die mathematischen Gesetze ausdrücken. Der Kreis, als Figur, deren Mangel eines Anfangs und eines Endes auf das Prinzip der Ewigkeit verweist, versinnbildlicht geradezu die Beharrlichkeit, mit der ein Körper danach strebt, seine eigene Bewegung aufrecht zu erhalten. Hierin liegt, nach der Loslösung der moles aus den quantitas materiae-Vorstellungen, der zweite wichtige Schritt begründet, den Galilei der Mechanik in ihrem ideengeschichtlichen Werdegang bereitet. Es lässt sich fürs Erste resümieren, dass die Körper in gleich zweifacher Weise von den Funktionalitäten der Masse und Trägheit profitieren: Sie sind selbstbestimmt und eingebettet in das vertraute kosmologische Grundmodell der Antike – in ein Modell, das seine Naturgemäßheit gerade nicht aus atomistischen Kontingenztheorien bezieht, sondern anhand klarer Formgedanken in den Vordergrund rückt. Die galileische Mechanik verlagert die Frage nach der Form vollständig in den Bereich der Geometrie. Sie betont zugleich die Rolle der sich im Vollzug befindlichen körperlichen Bewegung, welche die physikalische Einhaltung des kosmologischen Modells garantiert. Somit ist es nicht nur die erste Bewegungsursache – wofür klassischerweise etwa ein Schöpfergott, ein de¯miourgós oder ein unbewegter Beweger einstehen könnten –, sondern die körperliche Bewegung in actu, eine aus dem Aristotelismus wohlbekannte Verwirklichungsform der Energie, die mit einer neuen, vielseitigen Wertigkeit versehen wird. Wo das antike Bild von der physischen Wirklichkeit als solches die Wirklichkeit stets damit beschäftigt sah, Potentiale in energetische Zustände zu verwandeln, ist der Ausgangspunkt der Mechanik nun der energetische Zustand selber, der Körper in Bewegung. Dies hat bestimmte Auswirkungen auf die Ursachenlehre: Wenn der unbewegte Beweger noch vor den diesseitigen ursächlichen Verkettungen liegt (insofern er selbst keine Kausalursache benötigt), so sind Masse und Trägheit in eben diese Ursachenkette mit eingebettet, insofern sie die natürliche Energie eines Körpers aufrechterhalten. Wenn also aus den Körpern selbst heraus Zirkularität entsteht und wenn es gerade die inneren Prinzipien der Körper sind, die eine solche Kreisbewegung bewerkstelligen, so sind diese Prinzipien zugleich körperlich, substantiell und kosmologisch wirksam. Ihre Einrichtung kann – analog zu Descartes' Uhrwerk (horologe) – als göttlich verfasste vorgestellt werden – selbst wenn bei Galilei im Gegensatz zu Descartes nicht von einem weiteren Beistand (con-

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cours) die Rede ist, die der Schöpfergott nach seinem Schöpfungsakt der Welt und ihren Körpern leiste. Denn dies, so könnte man zuspitzen, erledigen ja Masse und Trägheit für ihn. Eben hierdurch kommt diesen Größen – mit einigem philosophiegeschichtlichen Nachklang – so etwas wie Numinosität zu. Ein wissenschaftsgeschichtlich an Galilei anschließendes, dann aber doch in vielerlei Hinsicht neu austariertes Verhältnis zwischen Masse, Trägheit und Bewegung findet sich bei Johannes Kepler (1571–1630). Er schließt in vielerlei Hinsicht an seinen Lehrer Tycho Brahe (1546–1601) an und verfolgt dabei eine moderne Sicht auf die Himmelsmechanik; zugleich lässt er die Verankerung seines Denkens im antiken Weltbild erkennen. Dies zeigt sich besonders eindrücklich in den Illustrationen seiner Sternenkarten:

Abb. 2: Kepler, De stella nova, 80

Die astronomische Sensation der Entdeckung einer Supernova im Jahr 1604 wird von Kepler in De stella nova (1606) mathematisch beschrieben und geometrisch festgehalten. Das ›N‹ markiert hier die Position des neu entstandenen Sterns am Rande des Sternbilds des Schlangenträgers. Die kunstvolle Darstellung sowohl des Schlangenträgers – die an mythische Figuren wie Laokoon erinnert –, des als geflügelter Kentaur inszenierten Mischwesens, des mit

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klassischen Attributen (Löwenfell, Keule) ausgestatteten Herakles sowie des geradezu vom Himmel stürzenden Adlers des Zeus verorten das Himmelsereignis auf einer antikisierten Folie. Mag mit der Entdeckung der Supernova die alte aristotelische Gewissheit, dass der Fixsternhimmel unveränderlich sei, gleichsam erschüttert worden sein, so wird dies hier kontrastiert mit der Einbettung des Ereignisses in eine nach wie vor antik vorgestellte Kosmologie. Galilei und Kepler sind beide Vertreter des antiken Weltbilds – eines Weltbilds, das von einer grundsätzlich in Vollkommenheit strukturierten Ordnung geprägt ist. Keplers Ellipsen scheinen einer solchen Idealität insofern entgegenzustehen, als die Planetenkörper bei ihm nicht nur zu einem zirkulären, sondern auch zu einem linearen Bewegung im Raum streben. 193 Die Bewegungen der Körper entziehen sich dadurch nicht nur der Idealität der geometrisch vollkommensten Figur, sondern auch dem Grundsatz der stetigen Gleichförmigkeit. Ellipsen eignen sich, bei aller Zuverlässigkeit, mit der sich die Bewegung der Himmelskörper auf ihrer Grundlage berechnen lassen, nicht unbedingt als ein herausragendes Beispiel für eine Weltordnung, die auf innerer Ausgewogenheit basiert. Wo bei Galilei Masse und Trägheit die Kreisbewegung gewährleisten, sind bei Kepler andere Prinzipien vonnöten. Deren Hauptgröße bildet nun die Kraft (virtus, vis), und zwar in ihren graduellen Zuständen (imbecillis, fortis, langidior, major, minor etc.), die sich für die Bewegung der Planeten verantwortlich zeichnen. Kräfte sind demnach nicht nur körperlich-intensiv, sondern stets auch örtlich-extensiv aufzufassen. Nicht zuletzt im Briefverkehr wird dieser Umstand von Kepler immer wieder betont, wenn er etwa 1606 an Samuel Hafenreffer schreibt:

Von der Grundfigur des Kreises her betrachtet kann die Ellipse nur als eine durch linearen Eingriff modifizierte Figur erscheinen. Wo ein Kreis, aufgrund seines konstanten Abstands zum Mittelpunkt, Gleichheit verkörpert, ›verzerrt‹ ihn die Ellipse in vertikale und horizontale Richtungen. Sie benötigt dementsprechend nicht einen, sondern zwei Radii (einen für jede Halbachse) und kann daher nur als eine uneinheitliche, geradezu zweideutige geometrische Figur gelten. Eine bis ins Unendliche verzerrte Ellipse wäre demnach gar nicht mehr von einer Geraden zu unterscheiden. Descartes wird genau diese Figur in den Principia diskutieren und als mögliche urtümliche Bewegungsform ablehnen; dabei wird er, in Form eines vermeintlichen Oxymorons, von »krummen Linien« sprechen (Descartes, Principia Philosophiae, pars 2nda, cap. XXXIX, 63: »lineas obliquas«). Seine für die Beschreibung natürlicher Bewegungen bevorzugte Figur, der sich dann auch Hobbes anschließen wird, ist demgegenüber die gerade Linie (linea recta). In diesem Sinn sind auch Kreisbewegungen nur als scheinbare Form der Bewegung einzustufen, denn »was sich kreisförmig bewegt, neigt stets dazu, sich vom Mittelpunkt des Kreises zu entfernen, den es beschreibt« (ebd.: »quae circulariter moventur, tendere semper ut recedant a centro circuli, quem describunt«), und ist damit wieder auf einer höheren Ebene ›linear‹ zu nennen – ein Kontrast zu Galilei, aber auch zu Kepler, der augenfälliger kaum sein könnte. 193

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Weder sind die Planeten durch Kreise [sc. geometrisch] eingeschlossen, nach denen sie sich umherbewegen, noch bewirkt die Bewegungskraft einen Kreis (außer wenn sie eine ist, die der Überführung der Apsis und der Knoten vorausgeht). Und diese [sc. Bewegungskraft] zielt selbst nicht auf die völlig gleiche Umlaufbahn der Kreise ab, sondern auf diejenige des Sternenkörpers [= Galaxie], in dem sie sich befindet. Denn dass diese Bewegung zu sich selbst zurückkehrt, bewirkt ebenso die Elliptik – eine Bezeichnung, unter der in gewisser Weise natürlich eine aufgrund der Fortdauer der Umläufe unendliche [sc. Bewegung] fällt. Jeder beliebige Umlauf ist jedoch nach Anfang, Mitte und Ende verschieden, daher unterliegt er dem Wachstum und Schwinden, also der Lebenskraft. Deswegen erschlafft eine bewegende Kraft an irgendeiner Seite [sc. ihres Sternenkörpers] selbst (sie ist nämlich örtlich ausgedehnt), und sobald sie dies einmal ist, bleibt sie dort auf Dauer. Ein Stern aber bewegt sich durch den Zusammenschluss verschiedener Kräfte von Seite einer schlafferen und schwachen Kraft her zu einer stärkeren, von der Kraftlosigkeit zur größeren Kraft – und umgekehrt; ganz so, wie wenn sich das, was sich an einem Punkt als schwach erweist, am entgegengesetzten Ende erholen würde. Und so bewirkt diese Unterschiedlichkeit der Entfernung zwischen Bewegendem und Beweglichem auf wahrhaftigste Weise eine [sc. in sich] ungleiche Bewegung. 194

Die Bewegungen der Gestirne werden als Umsetzung von Kraftpotentialen in Relation zu Entfernungen vorgeführt. Es wird also ein dynamisches Prinzip an die Seite eines geometrischen gestellt. In der dezidierten Verschränkung beider Betrachtungsebenen ist Kepler der erste bedeutende Astronom gewesen. 195 Die

Kepler, An Samuel Hafenreffer in Tübingen, 361: »Neque circulis revincti sunt planetae, quibus circumagantur, neque vis motrix affectat circulum (žnisi una quae praeest apsidum et nodorum translationiž). Atque haec ipsa non cogitat de circulorum, sed de corporis stellaris, in quo inest, conversione aequabilissimâ. Nam quod motus hic in seipsum redit, id facit et Ellipticus, quo nomine infinitus quidem est quodam modo, continuatione scilicet periodorum. At principio medio et fine distincta est quaelibet periodus, itaque incremento decremento et vigori obnoxius est. Quamobrem virtus movens aliqua sui parte (žextensa enim est localiterž) languet, et ubi hoc semel est, ibi est perpetuò. Sed Stella conspiratione diversarum virtutum promovetur à parte virtutis languidiore et imbecilli in fortiorem, ex ἀδυναµίᾳ in δύναµιν majorem, et contra; sicut quod in uno puncto deficit, id in opposito reficiatur: atque sic verissimè inaequalem motum causatur haec distantiae diversitas inter movens et mobile«. 195 Dijksterhuis zeichnet den Entstehungsprozess dieser für den weiteren Fortgang der frühneuzeitlichen Astronomie so zentralen Denkfigur nach: »Kepler stellt nun [im Anschluss an seine teleskopischen Beobachtungen zur Umlaufbahn des Mars; D. B.] zuerst auf Grund langer Berechnungen fest, in welchem Sinne die Bahn [der Planeten; D. B.] von einem Kreis abweicht. Es zeigt sich, daß Unterschiede zwischen Entfernungen, die aus Beobachtungen errechnet sind, und solchen, die aus der bisher angenommenen Hypothese folgen, desto größer sind, je weiter der Planet von den Absiden entfernt ist, und zwar so, daß die Bahn seitlich abgeflacht ist und also die Form eines Ovals 194

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dafür typische Form stellt die Ellipse dar – gerade