Kontingenz und Zufall, Eine Ideen- und Begriffsgeschichte 9783050052106, 9783050057323

Mit einem Vorwort von Hans Joas. In den letzten Jahrzehnten sind die Begriffe und Themen von Kontingenz und Zufall ge

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Kontingenz und Zufall, Eine Ideen- und Begriffsgeschichte
 9783050052106, 9783050057323

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Kommentiertes Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Begriffsgeschichtliche Präazisierungen
I. Kontingenz - Die Geschichte eines Begriffs von der Latinisierung der aristotelischen Möglichkeitsbegriffe bis zur Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall in der zeitgenössischen Philosophie
(1) Die Vielfalt der aristotelischen Möglichkeitsbegriffe
(2) Kontingenz als Form des Möglichen: die spätantike Kommentierung und die frühscholastische Interpretation der aristotelischen Möglichkeitsbegriffe
(3) Kontingenz als Kategorie des Wirklichen: das spätscholastische Verständnis des Kontingenzbegriffs
(4) Leibniz' Verwendung des Kontingenzbegriffs im Kontext seiner Theodizee
(5) Die Vermengung der Begriffe von Kontingenz und Zufall: Von Kants Modalitätenschema bis zur Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall in der zeitgenössischen Philosophie
(6) Plädoyer für eine semantische Differenzierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall
II. Tyche – Die griechischen Wurzeln des Zufallsbegriffs
(1) Der philosophiegeschichtliche Kontext der aristotelischen Zufallstheorie
(2) Der kulturgeschichtliche Kontext der aristotelischen Zufallstheorie
(a) Göttin Tyche?
(b) Tyche als Objekt religiöser und kultischer Verehrung
(c) Tyche als Gegenstand von Literatur und Geschichtsschreibung
(3) Die aristotelische Theorie des Zufalls
(a) Die Zufallsdiskussion der Metaphysik
(b) Die Zufallsdiskussion der Physik
(4) Prudentielle Tychebewältigungspraxis: Die praktische Dimension der aristotelischen Zufallstheorie
(5) Gegen Bubner: Die aristotelische Relation von Praxis und Zufall
(6) Gegen Windelband: Plädoyer für die aristotelische Zufallstheorie
(7) Tyche im Zeitalter des Hellenismus
III. Welt, Natur, Geschichte: Drei Sphären von Kontingenz und Zufall
(1) Contingentia mundi: Die Welt als Sphäre von Kontingenz in der Schöpfungstheologie
(2) Natur als Sphäre von Kontingenz und Zufall
(a) Die Perspektive der Naturwissenschaften (Darwin, Heisenberg, Monod, Gould)
(b) Die Perspektive der Philosophie (Boutroux, Peirce)
(c) Die Perspektive der Theologie (Pannenberg, James)
(3) Geschichte als Sphäre von Kontingenz und Zufall
(a) Die Perspektive der Geschichtswissenschaft (Meinecke, Schieder, Meyer, Wittram, Aron)
(b) Der Protest gegen die Idee historischer Notwendigkeit (Popper, Berlin)
(c) Die Unverfügbarkeit der Geschichte (Lübbe, Schapp, Musil)
IV. Kontingenz und Zufall in der Geschichte. Eine Auseinandersetzung mit Arnd Hoffmanns Studie Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie
Zweiter Teil: Ideengeschichtliche Skizzen
V. Historismus und Romantik: Das Unverfügbare und das Verfügbare in der Geschichte
(1) Kontingenz und Zufall in der Geschichte: Eine Auseinandersetzung mit Reinhart Koselleck
(2) Der Historismus und das Unverfügbare in der Geschichte
(3) Die Romantik und das Verfügbare in der Geschichte
VI. Diskontinuität, Wandel und Kontingenz in der Geschichte: J. G. A. Pocock und die Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit
(1) Pocock und die Suche nach Zeitanschauungen
(2) Pococks Typologie von Zeitanschauungen
(3) Kontingenz in der Frühen Neuzeit: historische versus fortunadominierte Zeitanschauung
(4) Die Geburt der historischen Zeitanschauung aus dem Geiste der europäischen Rechtsgeschichte
(5) Historismus avant la lettre: Wann, wo und wie entstand der Historismus?
(6) Historismus avant la lettre: Wer waren die Vorläufer Vicos?
VII. Virtu vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos
(1) Fortuna in der römischen Antike
(2) Fortuna in der Spätantike
(3) Fortuna in der italienischen Renaissance
(4) Fortuna bei Machiavelli und Guicciardini
(5) Fortuna in der Frühen Neuzeit: Der historische Kontext
(6) Fortuna im Neostoizismus (Lipsius, Du Vair)
(7) Fortuna im elisabethanischen Drama (Marlowe, Shakespeare)
(8) Fortuna in der spanischen Literatur des siglo de oro (Graciän, Quevedo)
(9) Fortuna in der Literatur des Barock (Lohenstein, Gryphius)
Dritter Teil: Philosophische Schlussfolgerungen
VIII. Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbewältigungspraxis und eine Erinnerung an William James
(1) Richard Rorty und die Ironie
(2) Odo Marquard und die Skepsis
(3) Hermann Lübbe und die Religion
(4) William James und die Selbsttranszendenz
Literaturverzeichnis
(a) Primärliteratur
(b) Sekundärliteratur
Abbildungen
Personenregister

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Peter Vogt Kontingenz und Zufall Eine Ideen- und Begriffsgeschichte

Peter Vogt

Kontingenz und Zufall Eine Ideen- und Begriffsgeschichte

Mit einem Vorwort von Hans Joas

Akademie Verlag

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Für Stefanie und Maurus und Alma

Inhaltsverzeichnis

Hans Joas: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Kommentiertes Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Erster Teil: Begriffsgeschichtliche Pr¨azisierungen I.

II.

Kontingenz – Die Geschichte eines Begriffs von der Latinisierung der aristotelischen M¨ oglichkeitsbegriffe bis zur Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall in der zeitgen¨ ossischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Vielfalt der aristotelischen M¨ oglichkeitsbegriffe . . . . . . . . . . . (2) Kontingenz als Form des M¨ oglichen: die sp¨atantike Kommentierung und die fr¨ uhscholastische Interpretation der aristotelischen M¨ oglichkeitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kontingenz als Kategorie des Wirklichen: das sp¨atscholastische Verst¨andnis des Kontingenzbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Leibniz' Verwendung des Kontingenzbegriffs im Kontext seiner Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Die Vermengung der Begriffe von Kontingenz und Zufall: Von Kants Modalit¨atenschema bis zur Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall in der zeitgen¨ ossischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Pl¨adoyer f¨ ur eine semantische Differenzierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tyche – Die griechischen Wurzeln des Zufallsbegriffs . . . . . . . . . . . . (1) Der philosophiegeschichtliche Kontext der aristotelischen Zufallstheorie (2) Der kulturgeschichtliche Kontext der aristotelischen Zufallstheorie . . . (a) G¨ ottin Tyche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Tyche als Objekt religi¨ oser und kultischer Verehrung . . . . . . . . (c) Tyche als Gegenstand von Literatur und Geschichtsschreibung . . . .

. 43 . 44 . 49 . 53 . 57 . 59 . 64 . . . . . .

67 73 89 90 93 96

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I (3) Die aristotelische Theorie des Zufalls . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Zufallsdiskussion der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Zufallsdiskussion der Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Prudentielle Tychebew¨altigungspraxis: Die praktische Dimension der aristotelischen Zufallstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Gegen Bubner: Die aristotelische Relation von Praxis und Zufall . . (6) Gegen Windelband: Pl¨adoyer f¨ ur die aristotelische Zufallstheorie . (7) Tyche im Zeitalter des Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 108 . . . 109 . . . 116 . . . .

III. Welt, Natur, Geschichte: Drei Sph¨aren von Kontingenz und Zufall . . . . (1) Contingentia mundi: Die Welt als Sph¨are von Kontingenz in der Sch¨ opfungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Natur als Sph¨are von Kontingenz und Zufall . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Perspektive der Naturwissenschaften (Darwin, Heisenberg, Monod, Gould) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Perspektive der Philosophie (Boutroux, Peirce) . . . . . . . . (c) Die Perspektive der Theologie (Pannenberg, James) . . . . . . . . (3) Geschichte als Sph¨are von Kontingenz und Zufall . . . . . . . . . . . (a) Die Perspektive der Geschichtswissenschaft (Meinecke, Schieder, Meyer, Wittram, Aron) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Der Protest gegen die Idee historischer Notwendigkeit (Popper, Berlin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Unverf¨ ugbarkeit der Geschichte (L¨ ubbe, Schapp, Musil) . . .

. . . .

. . . .

123 136 144 160

. . 184 . . 194 . . 214 . . . .

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. . 288 . . 293 . . 304

IV. Kontingenz und Zufall in der Geschichte. Eine Auseinandersetzung mit Arnd Hoffmanns Studie Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie . . . 325

Zweiter Teil: Ideengeschichtliche Skizzen V.

Historismus und Romantik: Das Unverf¨ ugbare und das Verf¨ ugbare in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kontingenz und Zufall in der Geschichte: Eine Auseinandersetzung mit Reinhart Koselleck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Historismus und das Unverf¨ ugbare in der Geschichte . . . . . . . . (3) Die Romantik und das Verf¨ ugbare in der Geschichte . . . . . . . . . . .

. 347 . 349 . 367 . 393

VI. Diskontinuit¨at, Wandel und Kontingenz in der Geschichte: J. G. A. Pocock und die Zeitanschauungen der Fr¨ uhen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Pocock und die Suche nach Zeitanschauungen . . . . . . . . . . . . . . . (2) Pococks Typologie von Zeitanschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kontingenz in der Fr¨ uhen Neuzeit: historische versus fortunadominierte Zeitanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Geburt der historischen Zeitanschauung aus dem Geiste der europ¨aischen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Historismus avant la lettre: Wann, wo und wie entstand der Historismus? (6) Historismus avant la lettre: Wer waren die Vorl¨aufer Vicos? . . . . . . .

448 455 459 473 479 495 499

I VII. Virt` u vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos . . . . . . . . . . . . (1) Fortuna in der r¨ omischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fortuna in der Sp¨atantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Fortuna in der italienischen Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fortuna bei Machiavelli und Guicciardini . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Fortuna in der Fr¨ uhen Neuzeit: Der historische Kontext . . . . . . . . . (6) Fortuna im Neostoizismus (Lipsius, Du Vair) . . . . . . . . . . . . . . (7) Fortuna im elisabethanischen Drama (Marlowe, Shakespeare) . . . . . . (8) Fortuna in der spanischen Literatur des siglo de oro (Graci´an, Quevedo) (9) Fortuna in der Literatur des Barock (Lohenstein, Gryphius) . . . . . . .

9 . . . . . . . . . .

503 509 541 568 578 594 607 621 631 642

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659 663 676 683 687

Dritter Teil: Philosophische Schlussfolgerungen VIII. Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbew¨altigungspraxis und eine Erinnerung an William James . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Richard Rorty und die Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Odo Marquard und die Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Hermann L¨ ubbe und die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) William James und die Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . . . . .

Literaturverzeichnis (a) Prim¨arliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 (b) Sekund¨arliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723

Hans Joas: Vorwort

In den letzten Jahren ist das Thema „Kontingenz“ geradezu zu einem Modethema geworden. In der Philosophie hat Richard Rortys buchlanger Essay „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ von 1989 dabei den wirksamsten Anstoss gegeben. In der Soziologie sind die Schriften von Niklas Luhmann einerseits, von Zygmunt Bauman andererseits sehr stark von der Kontingenzthematik bestimmt, allerdings in äußerst unterschiedlicher und wiederum auch von Rorty deutlich zu trennender Weise. In der Geschichtswissenschaft hatte insbesondere Reinhart Koselleck seit Langem auf der Relevanz von Zufall und Kontingenz insistiert. Diese Modeerscheinung korrespondiert gewiss mit der Atmosphäre einer „Postmoderne“ im Sinne des Verlusts eines Glaubens an geschichtsübergreifende Meta-Erzählungen, seien diese teleologischer oder evolutionistischer Art. Aber man muss die spezifischen Prämissen der „Postmodernen“ nicht teilen, um eine Sicht auf Geschichte, Gesellschaft und das Selbst plausibel zu finden, die dem Möglichen gegenüber dem Wirklichen und der Nicht-Selbstverständlichkeit und Nicht-Notwendigkeit des Wirklichen größte Aufmerksamkeit widmet. Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist ja auch nicht erst in der Postmoderne entstanden; sie reicht vielmehr historisch weit zurück. Schon 1910 legte Ernst Troeltsch einen bis zur Antike zurückreichenden genialen begriffsgeschichtlichen Aufsatz zum Thema vor. Insbesondere in der Theorie der Geschichte ist das Thema Kontingenz unvermeidlich. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn es ein verstreutes, in seiner Fülle aber wiederum kaum überschaubares Schrifttum zum Thema gibt. Dieses zusammenhängend in den Blick zu nehmen und in den oft verwirrenden begrifflichen Wildwuchs Übersicht und Ordnung zu bringen, haben schon verschiedene Autoren versucht. Noch niemand aber hat es mit solchem Ehrgeiz wie der Verfasser dieses umfangreichen Buches unternommen, „in einer so weit wie möglich vollständigen und um zeitliche und disziplinäre Grenzen so weit wie möglich unbekümmerten Weise darüber (zu) berichten, wie die Begriffe und Themen von Kontingenz und Zufall in der Begriffs- und Ideengeschichte verhandelt werden“ (S. 18). Er geht dabei zunächst begriffsgeschichtlich, dann ideengeschichtlich und schließlich systematisch vor.

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Die Arbeit beginnt mit einer Geschichte des Kontingenz-Begriffs. Es ist seit Langem bekannt, dass sich dieser einer Latinisierung der Möglichkeitsbegriffe des Aristoteles in der Spätantike verdankt. Bemerkenswert ist hier die Sensibilität des Verfassers für die Tatsache, dass Aristoteles nicht eine, sondern mindestens zwei Auffassungen des Möglichen vertrat. Während Aristoteles einerseits die berühmt gewordene und immer wieder benutzte Definition des Möglichen („endechomenon“) verwendet, es handle sich dabei um das, was weder notwendig noch unmöglich ist, vertritt er in anderem Kontext eine Vorstellung des Möglichen, das dieses nur vom Unmöglichen unterscheidet und damit sogar das Notwendige als Form des Möglichen behandelt. Im 4. Jahrhundert n. Chr. wurde Aristoteles’ „endechomenon“ wohl erstmals (von Marius Victorinus) als „contingens“ ins Lateinische übersetzt; vor allem durch die Aristoteles-Kommentare von Boethius wurde diese Übersetzung im Abendland wirkungsmächtig. Die Scholastik rezipierte diese Begrifflichkeit; es kommt aber in ihr etwas grundlegend Neues hinzu, insofern diese Begrifflichkeit durch die christlich-theologische Frage nach der Schöpfung der Welt eine ontologische Brisanz und Bedeutung gewann, die sie vorher so nicht hatte. Spätestens seit der Spätscholastik aber – hier folgt der Verfasser Heinrich Schepers – bildet sich eine semantische Verschiebung heraus, insofern nun „contingens“ und „possibile“ scharf getrennt werden und als kontingent nur noch das bezeichnet wird, was wirklich ist, aber nicht notwendig. Leibniz wird dies später auf die Formel bringen: „contingens est quod potest non esse“. Auch von diesem neuartigen Kontingenzbegriff wurde bis hin zu Leibniz schöpfungstheologisch Gebrauch gemacht. Eine unbeabsichtigte Folge der Verschiebung in der Kontingenzsemantik – von einer Form des Möglichen zu einer Art des Wirklichen – war nun die Annäherung des Kontingenzbegriffs an den des Zufalls. Gegen diese Verwischung plädiert der Verfasser am Ende dieses glänzenden Kapitels für eine klare Unterscheidung der beiden Begriffe „Kontingenz“ und „Zufall“. Wie auch immer man über seine genaue Fassung der beiden Begriffe denken mag, keine Frage ist es, dass dieses Kapitel für das Verständnis der Bedeutungsschichten des Kontingenzbegriffs äußerst hilfreich ist. Es ist nur konsequent, dass sich der Begriffsgeschichte von „Kontingenz“ eine von „Zufall“ anschließt. Leitfigur auch in diesem Kapitel ist Aristoteles, dem ein bis heute unüberbotenes Verständnis des Zufallsbegriffs attestiert wird. Aus der Warte des Aristoteles werden sowohl deterministische Leugnungen des Zufalls, etwa in der Naturphilosophie des Demokrit, wie die Vergöttlichung des Zufalls als „Tyche“ (etwa bei Pindar) kritisiert. Eine andere Denkmöglichkeit wird mit der historiographischen Dekonstruktion des Zufallsbegriffs bei Thukydides eröffnet. Der Verfasser spricht von einer pragmatischen Tychebewältigungspraxis, die Aristoteles aufnimmt und modifiziert. Das Kapitel enthält zudem breite Auseinandersetzungen mit den Interpretationen der aristotelischen Zufallstheorie bei Wilhelm Windelband und Rüdiger Bubner sowie eine Darstellung der postaristotelischen Verwendung des Tyche-Begriffs. Eingeschoben in diese auf außerordentlicher Belesenheit gründenden Darlegungen findet sich ein längerer Exkurs zu einem der unter dem Gesichtspunkt von Kontingenz und Zufall wichtigsten Werke der Philosophie des 20. Jahrhunderts, John Deweys Buch „The Quest for Certainty“ („Die Suche nach Gewißheit“). Der Verfasser zeigt sehr schön, wie deutlich der Pragmatist Dewey zumindest in diesem Buch zwischen der praktischen Suche nach Sicherheit und der theoretischen Suche nach Gewissheit unterscheidet

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und wie sehr er gegenüber dem Praktischen die philosophische und die religiöse Gewissheits-Suche abwertet. Das dritte Kapitel wechselt von der im engeren Sinn begriffsgeschichtlichen Ebene zu der Frage nach den „Sphären“ von Kontingenz und Zufall: Welt, Natur, Geschichte. Es geht hier also nicht mehr um die Begriffe als Signifikanten, sondern um die Signifikate von Kontingenz und Zufall. Schon im ersten Kapitel war davon die Rede gewesen, dass die christliche Schöpfungslehre die Vorstellung einer „Totalkontingenz der Welt“ (Günter Renz) beinhaltet, insofern Gott als derjenige gedacht wird, der die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, „obgleich er dies nicht hätte tun müssen“ (S. 185). Die Rede von der contingentia mundi, so der Verfasser, ist auf unhintergehbare Weise mit der Rede von einer göttlichen creatio ex nihilo verknüpft. Erst in der mittelalterlichen christlichen Philosophie werde daher aus dem Begriff der Kontingenz das Problem der Kontingenz. Gestützt auf Forschungsliteratur zeichnet der Verfasser hier die verschiedenen Lösungsversuche, etwa bei Thomas von Aquin, nach, die Idee von Gottes ungebundenem Willen mit der von Gottes Weisheit in ein Gleichgewicht zu bringen. Die Vorstellung von der Totalkontingenz der Welt lebt aber auch außerhalb des schöpfungstheologischen Entstehungskontexts weiter – sowohl in der Philosophie des deutschen Idealismus, in der ein absolutes Ich oder eine absolute Idee an die Stelle des Schöpfergotts treten, wie in der nachidealistischen Philosophie Schopenhauers und Nietzsches und ihrer Postulierung einer unüberwindlichen Grundlosigkeit der Welt. Als zweite „Sphäre“ von Kontingenz und Zufall wird die Natur behandelt, insbesondere im Sinne der modernen Naturwissenschaften. Zwei Entwicklungen der Naturwissenschaft stehen hier – wie in der gesamten übrigen Literatur zum Thema – im Vordergrund: die Evolutionstheorie Darwins und Heisenbergs Unschärferelation bzw. die Quantentheorie allgemein. Nicht die naturwissenschaftlichen Probleme im engeren Sinn waren hier zu erörtern, sondern die philosophischen Konsequenzen, die von Naturwissenschaftlern selbst oder von Philosophen aus den naturwissenschaftlichen Innovationen gezogen wurden. Es ist deshalb nur konsequent, dass etwa die auch in einer breiteren Öffentlichkeit stark wahrgenommenen Werke von Jacques Monod und Stephen Jay Gould erörtert werden sowie aus dem 19. Jahrhundert das Werk von Emile Boutroux mit seiner These von der Kontingenz der Naturgesetze. Wie in den beiden vorhergehenden Kapiteln Aristoteles, so ist hier spürbar der Pragmatismus von Peirce und James zentraler Orientierungspunkt des Autors. Er hat in einem früheren Buch über „Pragmatismus und Faschismus“, dessen Untertitel „Kreativität und Kontingenz in der Moderne“ im Kontext einer ganz anders gelagerten historischen Studie bereits von einem Interesse des Verfassers an der Thematik dieses Buches zeugte, selbst in höchst origineller Weise zur Erforschung dieser Denktradition beigetragen. Deutlich wird in diesem dritten Kapitel gezeigt, wie sehr etwa Peirce seine ganze Philosophie als Ontologisierung des Darwinismus verstanden hat, was bei ihm aber keine polemische Bekämpfung schöpfungstheologischer Vorstellungen beinhaltete, sondern ein Programm zur Versöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie in einer, wie der Verfasser formuliert, „zufallssensiblen Kosmologie der Evolution“. Die Möglichkeit einer Versöhnung sieht Peirce und mit ihm der Verfasser in einer Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen im Sinne einer „creatio continua“. Mutig wendet er sich gegen die These einer gänzlichen Inkompatibilität oder

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Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft, die nur zu einem unfruchtbaren diskursiven Waffenstillstand führe, und ergänzt die an Peirce anschließenden Überlegungen mit einer Anknüpfung an den Versuch des evangelischen Theologen Wolfhart Pannenberg, mit Hilfe einer Reflexion des Kontingenzbegriffs dasselbe Ziel von der Theologie aus zu erreichen. Was schließlich die Gewichtung des Verhältnisses von Zufall und Vorsehung betrifft, welche die Autarkie des Zufalls wahrt, ohne dabei die Idee der Vorsehung preiszugeben, schließt sich der Verfasser in emphatischer Weise William James’ Darlegungen zum Dilemma des Determinismus an. Im nächsten Schritt, am Ende dieses dritten Kapitels ebenso wie später im vierten Kapitel, welches eine ausführliche Auseinandersetzung mit einer geschichtstheoretischen Studie jüngeren Datums zu den hier verhandelten Fragen enthält, wendet sich der Verfasser schließlich der Sphäre der Geschichte zu und damit dem für diese Arbeit insgesamt wichtigsten Gebiet. In Fortsetzung der „anti-nezessarischen“ Argumentation von Peirce und in Auseinandersetzung mit den berühmten und einflussreichen Arbeiten Karl Poppers und Isaiah Berlins prüft er zunächst, was grundsätzlich alles gegen die Vorstellung historischer Notwendigkeit spricht. Dann unterscheidet er bei denjenigen Kritikern historischer Notwendigkeit, die sich auf Kontingenz und Zufall berufen und nicht wie Popper wissenschaftstheoretisch oder Berlin sprachanalytisch argumentieren, zwei zur Verfügung stehende Optionen: eine Betonung der prinzipiellen Verfügbarkeit und eine der prinzipiellen Unverfügbarkeit von Geschichte. Die genauere Beschäftigung mit diesen beiden Optionen bleibt dem zweiten Hauptteil der Arbeit vorbehalten. Hier werden zunächst nur die kontingenztheoretischen Überlegungen Robert Musils und Hermann Lübbes erörtert, wobei wegen Lübbes starker Betonung des Zusammenhangs von Narrativität und Kontingenz auch das Werk Wilhelm Schapps hinzugezogen wird. Besonders ertragreich im Zusammenhang dieser Arbeit scheinen mir die Ausführungen zu Lübbe zu sein, für den sich die Aufgabe historischen Erklärens und das Medium historischer Erzählung dort ergeben, wo Prozesse oder Strukturen oder Handlungen nicht ungestört ablaufen, sondern, wie es der Verfasser selbst formuliert, „etwas dazwischenkommt, sich etwas anderes ereignet, als wir uns dies zunächst gedacht haben, uns also etwas einen ‚Strich durch die Rechnung‘ (Charles Heidel) macht“ (S. 313 f.). Damit nähert sich der Verfasser einem vertieften Verständnis des Historismus und plädiert für diesen in einer ganz ähnlichen Weise wie Hermann Lübbe, der seine eigene Position einmal als eine „Apologie des Historismus in seiner unüberholten epistemologischen und kulturellen Substanz“ beschrieb. Der zweite, ideengeschichtliche Hauptteil setzt sich kein geringeres Ziel als die Untersuchung der Frage, wie im Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und der „Sattelzeit“ (Koselleck) Kontingenz und Zufall in ihrer Bedeutung für Geschichte und menschliches Leben überhaupt erörtert wurden. Um sich das riesige Thema handhabbar zu machen, wählt der Verfasser geschickt für jeden Teil einen bedeutenden Ideenhistoriker als Ausgangspunkt seiner eigenen Darstellungen: Reinhart Koselleck, J.G.A. Pocock und Quentin Skinner. Das fünfte Kapitel, welches Historismus und Romantik anhand der diesen beiden Denkrichtungen je eigenen Verständnisse von Kontingenz und Zufall kontrastiert, geht zunächst von einer Unklarheit oder Spannung in Kosellecks Schriften aus – zwischen seiner Insistenz auf der Unverfügbarkeit von Geschichte einerseits, die sich aus dem Historismus ableitet, und einer Kritik an der angeblichen Verdrängung

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des Zufalls im Historismus andererseits – und sucht den Weg aus dieser Situation heraus durch die klare begriffliche Unterscheidung (im Anschluss an Odo Marquard) von Schicksalskontingenz versus Beliebigkeitskontingenz sowie durch eine deutliche Trennung von Historismus und Romantik, wobei er sich für diese unter anderem Ernst Troeltsch anschließt. Troeltsch hatte behauptet, dass die Restaurationsepoche am Anfang des 19. Jahrhunderts in ein Verständnis von Geschichte mündete, welches sich jedweden Glaubens an deren grenzenlose Verfügbarkeit enthielt. Auf der Grundlage der Erörterung einer großen Zahl romantischer Dichter, ja sogar Maler, und zeitgenössischer Denker wie Fichte und Jacobi sowie der Spiegelung ihres Werks in Deutungen des 20. Jahrhunderts führt uns der Verfasser zu seiner zentralen These in diesem Kapitel: Historismus und Romantik sind beide auf das Thema Kontingenz und Zufall hin zentriert, aber in unterschiedlicher Weise. Der Historismus betont die Grenzen der Verfügbarkeit der Geschichte, ohne dabei aber einen Mythos der historischen Notwendigkeit zu verteidigen; die Romantik dagegen verschränke ihre Vorstellung von Kontingenz und Zufall mit einem bestimmten Ethos kreativen Handelns und widerspreche damit jeder These von Unverfügbarkeit. Auch dem Historismus ist allerdings eine Fundierung in Vorstellungen über die Kreativität des menschlichen Handelns wohl nicht abzusprechen. Die beiden folgenden Kapitel gehen von der Sattelzeit noch einmal geschichtlich zurück. Das sechste Kapitel fragt nach Vorläufern der historischen Sensibilität für das Unverfügbare oder des romantischen Interesses am Verfügbaren in der Ideengeschichte zwischen der Renaissance und dem 18. Jahrhundert. Es geht dem Verfasser dabei insbesondere um die Vor- und Frühgeschichte des Historismus. Die Untersuchung kommt, angeleitet von Pococks Werk, zu dem Ergebnis, dass zwar Kontingenz und historische Diskontinuität, nicht aber die Thematik von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit hier zentral waren. Breiten Raum nimmt in diesem Kapitel die Diskussion um die Entstehung einer vergleichend verfahrenden Rechtsgeschichte und damit eines Verständnisses für die Pluralität rechtlicher Traditionen ein, einer gesamteuropäischen Tendenz, wie der Verfasser mit Nipperdey betont. In diesem sechsten Kapitel wird eine „fortunadominierte“ Zeitauffassung als zentral für die Frühe Neuzeit bezeichnet; im siebten Kapitel geht es um die historische Genese jenes fortunadominierten Geschichtsbildes und insbesondere um die Ideengeschichte des Topos vom Sieg der Tugend über die Fortuna: virtù vince fortuna. Der Verfasser erinnert am Beginn dieses Kapitels daran, dass so renommierte Renaissancehistoriker wie Eugenio Garin oder Paul Oskar Kristeller gerade in diesem Topos ein zentrales geistiges Moment von Renaissance und Humanismus entdeckten. Quentin Skinner hat sich in seinem klassischen Werk „Foundations of Modern Political Thought“ diesbezüglich später Garin und Kristeller angeschlossen. Der Verfasser baut für seine Untersuchungen und Studien in diesem Kapitel, etwa zu Petrarca, Machiavelli oder Guicciardini, auf den Thesen dieser drei Autoren auf, glaubt aber im Unterschied zu ihnen die Geschichte des genannten Topos über die Zeit der Renaissance hinaus verfolgen zu können, weshalb ihm in diesem Kapitel unterschiedliche Phänomene vor allem der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts zum Gegenstand werden. Der dritte, systematische Hauptteil der Arbeit gilt dann der zeitgenössischen Philosophie und der Frage, welche theoretischen und praktischen Möglichkeiten sie für die

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Bewältigung von Kontingenz und Zufall bereithält. Die Soziologie mit ihren Fragen – wie der nach den oft paradoxen Effekten einer Steigerung individueller Handlungsoptionen, der nach einer nur lockeren Koppelung gesellschaftlicher Sphären oder der stärkeren Berücksichtigung der Kontingenz sozialen Wandels – bleibt dabei am Rande. Der Verfasser konzentriert sich vielmehr auf Richard Rortys Plädoyer für Ironie und Odo Marquards „Apologie des Zufälligen“ und Verteidigung der Skepsis, die er als gegenläufige Programme darstellt. Eine dritte Möglichkeit stellt der religiöse Glaube dar, der durch die Erörterung von Hermann Lübbe eingebracht wird. Der Verfasser verteidigt zwar Lübbe gegen eine verkürzende Deutung seiner Auffassungen von der Funktion der Religion als Kontingenzbewältigungspraxis. Er endet aber mit einer Kontrastierung des Religionsverständnisses bei William James und bei Lübbe und kommt zu dem Ergebnis, dass bei James nicht der Selbstbehauptungswille, sondern vielmehr dessen Überwindung im Sinne einer Bereitschaft zur Selbsttranszendenz im Zentrum steht. Die begriffs- und ideengeschichtlichen Forschungen führen damit zu einer normativen, man könnte auch sagen: existentiellen Schlußfolgerung. Dieses Buch stellt ein Kompendium zur Kontingenzthematik dar. Man scheut sich, auf Lücken angesichts des gewaltigen Umfangs der Arbeit hinzuweisen. Selbstverständlich beruht nicht alles auf Primärforschung; niemand könnte dies leisten. In einer heute immer seltener werdenden und imponierenden Weise hat sich der Verfasser falschen Spezialisierungszwängen des Wissenschaftsbetriebs entzogen und einen äußerst anspruchsvollen, langen Atem erfordernden Argumentationsgang vorgelegt. Es ist zu wünschen, dass dieser in den betroffenen Fächern Geschichte, Philosophie und Soziologie die verdiente Aufmerksamkeit findet.

Einleitung

Die in dieser Arbeit versammelten begriffsgeschichtlichen Präzisierungen (I. Teil), ideengeschichtlichen Skizzen (II. Teil) und philosophischen Schlussfolgerungen (III. Teil) kreisen zwar alle um ein und dasselbe Thema, aber sie lassen sich nicht zu einer einzigen These, zu einer Antwort auf eine Frage bündeln. Zu disparat und heterogen sind hierfür die Fragestellungen der einzelnen Kapitel, welche mithin viele Antworten auf viele Fragen enthalten. Das ist im Übrigen auch der Grund, weshalb ich von dem Versuch absehe, in einem separaten Schlusswort die einzelnen Argumente und Ausführungen aller acht Kapitel gleichsam in einer Summa zu resümieren. Anstatt dessen stelle ich dieser Arbeit ein kommentiertes Inhaltsverzeichnis voran, welches den Leser über die Argumentationslinien der einzelnen Kapitel überblicksartig und vor Beginn der eigentlichen Lektüre informieren soll. Immerhin lässt sich jeder der drei Teile dieser Arbeit als Versuch der Beantwortung von bestimmten und in diesem Sinne für jeden dieser drei Teile untersuchungsleitenden Fragen begreifen: Wie wurden, so fragen die begriffsgeschichtlichen Präzisierungen des ersten Teils dieser Arbeit, die Begriffe von Kontingenz und Zufall historisch nachweislich seit ihrem frühesten Auftreten verstanden? Welche Sphären wurden diesen Begriffen zugeteilt? Was kann es heißen, insbesondere in Bezug auf die Sphäre der menschlichen Geschichte von Kontingenz und Zufall zu sprechen? Wie und von welchem Autor und mit Hilfe welcher gedanklichen und terminologischen Konstruktionen wurden, so fragen die ideengeschichtlichen Skizzen des zweiten Teils dieser Arbeit vorrangig, die Themen und Ideen von Kontingenz und Zufall im Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und „Sattelzeit“ (Koselleck) konkretisiert, interpretiert und bewertet? Welche Relevanz wurde diesen Themen und Ideen für die menschliche Geschichte und das menschliche Leben seinerzeit zugemessen? Diesen ideengeschichtlichen Fragen gehe ich in drei Skizzen oder Fallstudien nach, von denen ich vermute, dass sie die ideengeschichtlich bedeutsamsten Formen und Weisen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in dem genannten Zeitraum abhandeln. Welche theoretischen und praktischen Möglichkeiten schließlich, so fragt der gleichsam systematisch angelegte und sich um philosophische Schlussfolgerungen bemühende

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dritte Teil dieser Arbeit, offeriert die zeitgenössische Philosophie für die Bewältigung der mit den Themen, Ideen und Begriffen von Kontingenz und Zufall verbundenen und offensichtlich für das menschliche Leben zeitlos konstitutiven, weil noch jede historische Epoche zu entsprechenden theoretischen Reflexionen und praktischen Bewältigungsversuchen reizenden Herausforderungen? Wenn ich im Rückblick die Ambition bezeichnen sollte, die ich mit dieser Arbeit verfolgte, als ich im Sommer 2005 mit der eigentlichen Niederschrift begann, dann würde ich so formulieren: Ich wollte in einer so weit wie möglich vollständigen und um zeitliche und disziplinäre Grenzen so weit wie möglich unbekümmerten Weise darüber berichten, wie die Begriffe, Ideen und Themen von Kontingenz und Zufall in der Begriffs- und Ideengeschichte verhandelt wurden. Wie in der Geschichte des menschlichen Denkens, also etwa in der Literatur, in der Theologie, in der Philosophie, in der Geschichtsschreibung, in der Beschäftigung mit der Natur, gleichsam von den Griechen bis in unsere Gegenwart hinein über die Begriffe, Ideen und Themen von Kontingenz und Zufall reflektiert wurde, dem wollte ich so gründlich wie möglich nachgehen. Das Setzen von Schwerpunkten erwies sich dabei naturgemäß als unvermeidlich. Die Tatsache, dass ein sowohl der genannten Ambition als auch bestimmten Schwerpunkten verpflichteter Versuch zwangsläufig auch Lücken aufweist, liegt in der Natur der Sache. Diesbezüglich hoffe ich auf wohlwollende Nachsicht des Lesers. Mancher dieser Lücken bin ich mir schmerzhaft bewusst. Vielleicht ist es mir vergönnt, an einer anderen Stelle zu einer anderen Zeit noch einmal darauf zurückzukommen. So sehr es mich auch gereizt hätte, es war im Zuge meiner Gedankenführung nicht zwingend erforderlich, auf die gleichsam alttestamentliche Thematisierung von Kontingenz und Zufall, wie sie der Prediger Kohelet formuliert („Denn Zeit und Zufall treffen sie alle“; Koh 9,11), eigens einzugehen. Auch erschien es mir angesichts der Fragestellungen und Erkenntnisinteressen der in dieser Arbeit versammelten Argumentationen nicht notwendig, das wohl sprachmächtigste Zeugnis der Thematisierung von Kontingenz und Zufall in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, den Beginn von Adalbert Stifters Erzählung Abdias, in angemessener Weise zu würdigen und in den Kontext von Stifters Gesamtwerk und geistigen Kosmos einzubetten, obwohl ich mir die literarische Brillanz der ersten zwei, drei Seiten dieser Erzählung gar nicht oft genug verdeutlichen kann („Es gibt Menschen, deren Leben eine solche Kette von Ungemach ist, das aus wolkenlosem Himmel auf sie fällt, dass sie endlich betäubt werden, und dastehen, und den Hagel auf sich ergehen lassen: so wie es auch wieder Andere gibt, die ein unverschuldetes Glück mit so ausgesuchtem Eigensinne begünstiget, dass es scheint, als kehrten sich in einem gegebenen Falle die Naturgesetze um, damit es nur zu ihren Heile ausschlage.“). Auch der zumindest auf einen ersten Blick wohl nicht anders denn als sonderbar zu bezeichnende Versuch des österreichischen Biologen Paul Kammerer, das Wesen des Zufalls in einem „Gesetz der Serie“ aufgehen zu lassen, hätte eine ausführliche und eigenständige Diskussion verdient. Dass die kundigen Leser weitere Lücken in meiner Arbeit ausfindig machen werden, will und kann ich gar nicht ausschließen. Doch hoffe ich, dass ich mir keine Nachlässigkeiten zu Schulden haben kommen lassen, welche eo ipso dazu zwingen würden, die vorliegenden Interpretationen revidieren zu müssen. Der akademisch-institutionelle Zusammenhang, dem diese Arbeit ihre Entstehung verdankt, war das von der Volkswagenstiftung 2003–2006 finanzierte Forschungsprojekt

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„Kontingenz und Moderne“. Einzelne Kapitel dieser Arbeit oder Vorstufen zu solchen Kapiteln habe ich den Teilnehmern dieses Forschungsprojekts auf Tagungen in Erfurt (Januar 2005), Florenz (September 2005) und Paris (März 2007) vorgestellt. Für die sich daran anschließenden, stets Gewinn bringenden Gespräche und Diskussionen bedanke ich mich bei Jens Badura, Michael Makropoulos, Christoph Menke, Peter Wagner und Michael Werner. Unter dem Titel „Kontingenz und Zufall. Begriffsgeschichtliche Präzisierungen, ideengeschichtliche Skizzen, philosophische Schlussfolgerungen“ wurde die Arbeit im Herbst 2008 als Habilitationsschrift am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt eingereicht. Das sich daran anschließende Habilitationsverfahren wurde im Februar 2010 erfolgreich abgeschlossen. An dieser Stelle will ich mich ausdrücklich bei allen Mitgliedern der Habilitationskommission ebenso wie bei den beiden Gutachtern Friedrich Jaeger (Essen) und Martin Mulsow (Gotha) bedanken. Heiko Hartmann und Mischka Dammaschke gebührt mein Dank dafür, die Arbeit in das Programm des Akademie Verlags aufgenommen zu haben. Tobias Winstel danke ich für die Vermittlung des entsprechenden Kontakts. Vor allem aber ist es mir an dieser Stelle ein tief empfundenes Bedürfnis, meinem langjährigen Lehrer Hans Joas einen Dank auszusprechen. Ohne unsere intensiven, fachlichen und persönlichen Gespräche während all der letzten Jahre wäre diese Arbeit zu keinem Abschluss gekommen. Darüber hinaus trug er maßgeblich dazu bei, dass diese Arbeit für die akademischen Zwecke eines Habilitationsverfahrens verwendet werden konnte. Schließlich erklärte er sich bereit, dieser Publikation ein Vorwort voran zu stellen, welches in überaus einfühlsamer Weise die wesentlichen Absichten und Argumente der Arbeit auf den Begriff bringt, ja dies in ebenjener prägnanten Weise tut, welche ich in all den Jahren unseres intellektuellen Austauschs immer nur bewundern konnte. Freilich durfte ich während der Entstehung dieser Arbeit immer wieder auch den Eindruck gewinnen, dass in der vorliegenden Arbeit Themen bearbeitet werden, die uns gleichermaßen am Herzen liegen. Der biographische Zusammenhang, dem diese Arbeit ihre Existenz verdankt, ist freilich ein ganz anderer, und diese Tatsache bedarf zuletzt ebenfalls einer ausdrücklichen Erwähnung: Die vorliegenden Seiten sind Konsequenz einer Geschichte, die meiner Frau und mir vor einigen Jahren widerfahren ist, und sie sind Ausdruck des Versuchs, eine zugleich hilfreiche und intellektuell redliche Antwort auf diese Geschichte zu finden. Meiner Frau Stefanie sowie meinen Kindern Maurus und Alma ist diese Arbeit daher aus guten Gründen gewidmet.

Kommentiertes Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Begriffsgeschichtliche Präzisierungen I. Kontingenz – Die Geschichte eines Begriffs von der Latinisierung der aristotelischen Möglichkeitsbegriffe bis zur Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall in der zeitgenössischen Philosophie In diesem ersten Kapitel zeige ich, dass der Begriff der Kontingenz sich ursprünglich einer Latinisierung der aristotelischen Auffassungen und Begriffe der Möglichkeit verdankt. Ich beschäftige mich daher zunächst mit den komplizierten und vielfältigen Varianten des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs (1). Im Zuge zunächst der spätantiken Übersetzung, später der Kommentierung vor allem der aristotelischen Hermeneutik, bürgerte sich der Terminus „contingens“ für eine bestimmte Variante des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs ein. Der spätantike Kontingenzbegriff meinte insofern stets ein – wie auch immer genau zu verstehendes – Mögliches, und in diesem Sinne wirkte er auch noch bis in die schöpfungstheologischen Diskussionen der Hochscholastik fort (2). Spätestens mit der Spätscholastik bildete sich aber auch eine Tradition, welche die Begriffe von contingens und possibile bewusst kontrastiert und als kontingent nicht ein Mögliches, sondern ein Wirkliches, wenn auch ein nicht notwendiges Wirkliches bezeichnet (3). Mit Beginn der Frühen Neuzeit ist der begriffsgeschichtliche Siegeszug dieses neuartigen Verständnisses von Kontingenz, welches den Kontingenzbegriff seiner möglichkeitstheoretischen Einbettung beraubt, abgeschlossen. In Leibniz’ Verwendung des dem Bloßmöglichen kontrastierten Kontingenzbegriffs für die Zwecke seiner Theodizee ist diese Vorrangstellung in besonders prominenter Weise bezeugt (4). Diese begriffsgeschichtlich zu registrierende Bedeutungsverschiebung vermag sodann auch die sukzessive Unaufmerksamkeit für die theoretischen und semantischen Grenzen zwischen den Begriffen von Kontingenz und Zufall in der Philosophie zu erklären. Hatte Leibniz zum Zwecke seiner Theodizee das nicht notwendige Seiende noch als kontingent bezeichnet, so reserviert Kant schließlich in der Modalitätentafel seiner Kritik der reinen Vernunft justament den Begriff des Zufalls für jenes nicht notwendige

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Seiende. Kontingenz für Leibniz und Zufälligkeit für Kant, sie sollen nun gleichermaßen das nicht notwendige Wirkliche oder Seiende bezeichnen, welches seinerseits von einem Begriff der Möglichkeit klar abgegrenzt wird. Die theoretischen Spätfolgen dieser theoretischen und semantischen Unaufmerksamkeit für die jeweilige differentia specifica der Begriffe von Kontingenz und Zufall zeigen sich schließlich noch in der in der zeitgenössischen Philosophie durchaus verbreiteten, nunmehr ganz expliziten begrifflichen Gleichsetzung der Begriffe von Kontingenz und Zufall (5). In bewusstem Gegensatz zu dieser façon de parler der zeitgenössischen Philosophie formuliere ich in diesem ersten Kapitel abschließend ein Plädoyer für eine semantische und intrinsische Differenzierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall (6). II. Tyche – Die griechischen Wurzeln des Zufallsbegriffs Nachdem die begriffsgeschichtliche Genese des Kontingenzbegriffs im vorangegangenen Kapitel geklärt wurde, spüre ich der begriffsgeschichtlichen Genese des Zufallsbegriffs nach, indem ich zunächst die Verwendung des griechischen Terminus tyche sowohl in der griechischen Philosophie als auch in der griechischen Kultur vor der Zeit des Aristoteles genauer in den Blick nehme. Was den philosophiegeschichtlichen Kontext betrifft, wendet sich Aristoteles explizit vor allem gegen eine deterministische Leugnung des Zufalls, wie sie ihm vor allem durch die naturphilosophischen Ansichten eines Demokrit vertraut gewesen sein dürfte. Auch Platons theologische Funktionalisierung und metaphysische Harmonisierung der tyche in den Nomoi dürfte Aristoteles zumindest implizit zu seiner nüchternen Ambition einer intellektuell seriösen Diskussion philosophischer Begrifflichkeiten veranlasst haben, wiewohl diese Vermutung durch Aristoteles’ Schriften selbst nicht belegt werden kann (1). Zu der Zeit, da Aristoteles den Zufall in seinen Schriften behandelt, reüssiert der Begriff tyche aber ohnehin weniger als terminus technicus einer philosophischen Fachdiskussion. Kulturelle und geistige Präsenz erlangt seinerzeit weniger ein philosophischer Begriff, sondern vor allem das göttliche Wesen Tyche. In paradigmatischer Weise formuliert dabei Pindars zwölfte olympische Ode sowohl die der Tyche seinerzeit zugeschriebenen Merkmale und charakterlichen Eigenschaften als auch die damalige Auffassung des Verhältnisses von göttlicher Tyche zu Kompetenzen und Fähigkeiten des handelnden und denkenden Menschen, eine Auffassung, die Aristoteles als Inbegriff jener kosmologischen Nobilitierung und irrationalen Mythisierung der Tyche gegolten haben dürfte, gegen die sich seine eigene Version der Zufallsthematisierung immer auch richtete. Während Pindar dabei sowohl eine theoretische Unzugänglichkeit wie eine praktische Unverfügbarkeit der Tyche suggeriert, geht Thukydides in einer für seine Zeit einzigartigen Weise und im Zuge einer historiographischen Dekonstruktion des Zufallsbegriffs davon aus, dass sich alle unerwarteten Widerfahrnisse stets auflösen lassen in eine pragmatische Bewältigung des historischen und historiographischen Residualphänomens tyche, in eine pragmatische Tychebewältigungspraxis, eine Überzeugung, die Aristoteles schließlich in der Begrifflichkeit seiner praktischen Philosophie reformulieren, aber eben auch modifizieren wird (2). So sind der engere philosophiehistorische und der weitere kultur- und geistesgeschichtliche Kontext skizziert, innerhalb dessen Aristoteles in unterschiedlichen Werken und mit Hilfe unterschiedlicher Termini jene Zufallstheorie formuliert, die ich sodann systematisch anhand von Aristoteles’

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Diskussion des Begriffs symbebekos in der Metaphysik und der Begriffe von tyche und automaton in der Physik rekonstruieren will. Die Pointe dieser äußerst komplexen Diskussion besteht – stark vereinfacht formuliert – darin, die unterschiedlichen Typen des Zufalls, ist die Minmalbedingung des nec necessarium erfüllt, als spezifische Relationen von Handlungen oder von Handlungen und handlungsunabhängigen Begebenheiten zu charakterisieren und dabei allen Zufall doch stets als Element der Wirklichkeit, nicht aber als eine Möglichkeit oder als ein lediglich begrifflich Akzidentielles zu betrachten und daher auch nicht als ein subjektives Phänomen einer verzerrten Wahrnehmung oder Erkenntnis zu disqualifizieren (3). Im Anschluss an diese Präzisierung von Aristoteles’ Zufallsdefinition verweise ich auf Aristoteles’ Plädoyer für eine gleichsam prudentielle Form von Tychebewältigungspraxis und widme mich in einem längeren Exkurs John Deweys pragmatistischem, in der Schrift Die Suche nach Gewißheit formulierten Plädoyer für praktische Intelligenz und Sicherheit im Umgang mit den Unsicherheiten, Ungewissheiten und Zufällen des Lebens (4). Ich präzisiere zudem den systematischen Gehalt der aristotelischen Zufallstheorie, indem ich gegen Rüdiger Bubners Interpretation der aristotelischen Zufallstheorie noch einmal Aristoteles’ Differenzierung von tyche und automaton stark mache und Bubners These von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ nur in einem eingeschränkten oder jedenfalls nur in einem präzisierten Sinne gelten lassen möchte, vielmehr die aristotelische Relation von Praxis und Zufall als weder unauflöslich noch als antipodisch beschreibe (5). Schließlich verteidige ich den systematischen Gehalt der aristotelischen Zufallstheorie, indem ich mich mit den von Wilhelm Windelband in Die Lehren vom Zufall geäußerten Zweifeln an der theoretischen Plausibilität eines als „Realprincip“ konzipierten Zufallsbegriffs auseinandersetze. Die Tatsache, dass Windelband gerade gegen die Art und Weise, wie Aristoteles den Begriff des Zufalls verstanden wissen wollte, keine überzeugenden Argumente vorbringen kann, deute ich zwar nicht im Umkehrschluss als einen gleichsam ontologischen und gottesbeweisanalogen Beweis für die Existenz des Zufalls, wohl aber als Indiz dafür, dass wir von einer Existenz des Zufalls justament in der von Aristoteles vorgeschlagenen Weise sprechen können (6). Im letzten Abschnitt des Kapitels gehe ich schließlich der post-aristotelischen Verwendung des Begriffs tyche wie der Göttin Tyche nach, wiederhole also das Verfahren der ersten beiden Abschnitte nun am Ende dieses Kapitels für Philosophie, Kultur und Denken im Zeitalter des Hellenismus, wobei ich vor allem auf die Tyche der Komödien Menanders genauer eingehe und Kontinuität wie Diskontinuität, welche der hellenistischen Tyche-Auffassung im Vergleich mit der Tyche der klassischen Zeit eignet, diskutiere. Insbesondere verweise ich auf die Spannung zwischen einer hellenistischen und wie auch immer modifizierten Reformulierung des aristotelisch oder thukydideisch beeinflussten Plädoyers für eine praktische Bewältigung der Göttin Tyche zu dem weiterhin formulierten Glauben an die theoretische Unzugänglichkeit und praktische Unverfügbarkeit der Göttin Tyche (7). III. Welt, Natur, Geschichte: Drei Sphären von Kontingenz und Zufall Nachdem in den ersten beiden Kapiteln nach der begriffsgeschichtlichen Genese der Begriffe von Kontingenz und Zufall im Sinne der Präzisierung dessen, was es einstmals heißen konnte und heute heißen kann, wenn etwas als kontingent und zufällig

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bezeichnet wird, gefragt wurde, interessiert mich in diesem Kapitel, was sich als Sphären von Kontingenz und Zufall bezeichnen ließe: Die Vorstellung einer contingentia mundi wird erstmals im Rahmen schöpfungstheologischer Diskussionen und auf der Grundlage eines ganz bestimmten Möglichkeitsbegriffs, nämlich auf der Grundlage des possibile logicum – des für Gott Denkmöglichen – im Unterschied sowohl zum possibile reale im Sinne einer aristotelischen Realpotenz als auch zum Begriff der logisch widerspruchsfreien Disiunktion erarbeitet und verleiht dem Kontingenzbegriff eine unerhörte, theoretisch unüberbietbare ontologische Relevanz. Die Vorstellung von einer „Totalkontingenz der Welt“ (Renz), welche sich auf die Faktizität der Welt schlechthin, nicht auf ein partikulares Faktisches bezieht, überdauert aber ihren schöpfungstheologischen Entstehungskontext und lebt sowohl im deutschen Idealismus und seinem Versuch, auf das „Rätsel des Daß“ eine „vernunftphilosophische“ (Wetz) Antwort zu formulieren, als auch post-idealistisch in der nihilistischen Diagnose einer absoluten Grundlosigkeit der Faktizität der Welt fort (1). Im zweiten Abschnitt des Kapitels beschäftige ich mich mit der Natur als Sphäre von Kontingenz und Natur (2). Dabei gehe ich zunächst auf die Vorstellung einer Kontingenz und eines Zufalls der Natur und in der Natur ein, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts von den Naturwissenschaften selbst formuliert wurde. Bezüglich der Physik gehe ich dabei auf Heisenbergs Unschärferelation und ihre philosophischen Konsequenzen, bezüglich der Biologie auf Darwins Evolutionstheorie und auf Jacques Monods und Stephen Jay Goulds an Darwins Evolutionstheorie anschließende Deutungen von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur ein (a). Bezüglich der Philosophie verweise ich zunächst knapp auf die Schriften von Émile Boutroux. Vor allem aber befasse ich mich hinsichtlich der philosophischen Thematisierung einer contingentia naturae mit Charles Sanders Peirces zufallssensibler Kosmologie der Evolution, wie ich sie bezeichnen möchte, die – zumindest implizit – Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie zu versöhnen trachtet und – zumindest implizit – eine Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Überzeugungen nahelegt (b). Ich schließe den zweiten Abschnitt dieses Kapitels ab mit grundsätzlichen Betrachtungen über das Verhältnis von evolutionstheoretischem und schöpfungstheologischem Kontingenz- und Zufallsbewusstsein und formuliere diesbezüglich eine Position, für die mir Peirces zufallssensible Kosmologie der Evolution ebenso als Ausgangspunkt dient wie Wolfhart Pannenbergs kontingenzsensible Theologie der Natur, welche nunmehr im Medium einer theologischen Reflexion des Kontingenzbegriffs auch in ganz expliziter Weise sowohl für eine theoretische Versöhnung von contingentia mundi und von contingentia naturae als auch für eine Dynamisierung und Naturalisierung schöpfungstheologischer Überzeugungen plädiert. Einer solchen Position wiederum ist die providenztheologische Konsequenz einer bestimmten Gewichtung des Kräfteverhältnisses von Zufall und Vorsehung unter strikter Wahrung der Autarkie des Zufalls eigen, welche mir die abschließenden Passagen von William James’ Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ in einer bis heute unübertroffenen Weise auf den Begriff zu bringen scheinen (c). Im dritten Abschnitt dieses Kapitels wende ich mich schließlich endgültig jener Sphäre von Kontingenz und Zufall zu, welche uns für den Rest dieses Kapitels und für den Rest dieser gesamten Arbeit vorrangig beschäftigen wird, der Geschichte, und also dem Zufall und der Kontingenz in der Geschichte (3). Nach einer ersten Annäherung an dieses Thema durch die Diskussion vereinzelter Stimmen der zünftigen

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Geschichtswissenschaft (a), verweise ich in einem systematischen Sinne zunächst auf das gleichsam zwingende anti-nezessaristische Fundament, die gegen jede Präsumtion historischer Notwendigkeit gerichteten theoretischen Grundlagen, auf welchen jeder Versuch einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall beruhen muss, gleichviel er sich sodann im weiteren Fortgang seiner Argumentation auf historische Kontingenz oder historischen Zufall oder beides beruft und wie auch immer er dann diese Begriffe implizit oder explizit genauer verstanden wissen möchte. Ich diskutiere diesbezüglich Isaiah Berlins und Karl Poppers Protest gegen die Idee historischer Notwendigkeit, insofern diese beiden prominenten Autoren ihren geschichtstheoretischen Anti-Nezessarismus doch in einer besonders raffinierten Weise zu begründen versuchen und in einer besonders wirkungsmächtigen Weise formulieren (b). Zwar stellt ein Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit das unhintergehbare theoretische Fundament für jede auf die Sphäre der Geschichte bezogene Rede von Kontingenz und Zufall dar. Freilich, wer gegen die Idee historischer Notwendigkeit protestiert, muss sich nicht zwingend auf historische Kontingenz und historischen Zufall berufen – gerade dies lässt sich der Diskussion von Poppers und Berlins Geschichtstheorie entnehmen –, kann dies aber sehr wohl tun. Wer dies wiederum nun tut, sich also für die Begründung einer gegen die Idee der historischen Notwendigkeit gerichteten Geschichtstheorie auf historischen Zufall und historische Kontingenz bezieht, für den gibt es zwei grundsätzliche theoretische Optionen: Einerseits kann sich der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall auf die unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte berufen. Die Geschichte wäre kontingent und zufällig, eben weil man diese Geschichte aufgrund ihrer prinzipiellen Verfügbarkeit stets anders machen kann, insofern auch stets hätte anders machen können oder anders machen können wird. Nicht Notwendigkeit bestimmte demnach die menschliche Geschichte, sondern Kontingenz und Zufall, insofern diese menschliche Geschichte prinzipiell unbeschränkt verfügbar ist. In diesem Fall artikuliert also die Semantik von historischer Kontingenz und historischem Zufall – unabhängig von den semantischen Binnendifferenzen zwischen einem verfügbaren Möglichen und einem verfügbaren Wirklichen – justament jene prinzipiell unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte. Andererseits kann sich der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall auf die, wenn auch nicht ausschließliche, so doch immer auch unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte berufen. Geschichte wäre demnach kontingent und zufällig, eben weil man sie aufgrund ihrer zwar nicht ausschließlichen, wohl aber unhintergehbaren Unverfügbarkeit gerade nicht stets so machen kann, wie dies beliebt. Geschichte wäre demnach kontingent und zufällig, insofern sie – wenn nicht restlos, so doch unhintergehbar immer auch – unverfügbar ist. Nicht Notwendigkeit bestimmte demnach die menschliche Geschichte, sondern Kontingenz und Zufall, insofern diese menschliche Geschichte unverfügbar ist. In diesem Fall artikuliert die Semantik von historischer Kontingenz und historischem Zufall – unabhängig von den semantischen Binnendifferenzen zwischen einem unverfügbaren Möglichen und einem unverfügbaren Wirklichen – justament jene unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte. Aus argumentationsdramaturgischen Gründen, die mit dem Gesamtaufbau dieser Arbeit zu tun haben, insbesondere mit der Tatsache, dass ich im ersten Kapitel des zweiten Teils

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dieser Arbeit auf die Romantik als paradigmatische Artikulation der Auffassung von einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit menschlicher Geschichte und auf den Historismus als paradigmatische Artikulation der Auffassung von einer zwar nicht ausschließlichen, wohl aber unhintergehbaren Unverfügbarkeit menschlicher Geschichte im Kontext einer ideengeschichtlichen Skizzierung der Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der historischen Periode der „Sattelzeit“ (Koselleck), also im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert, eingehe, werde ich am Schluss dieses dritten Abschnitts dieses Kapitels ausschließlich auf Autoren des 20. Jahrhunderts und zwar ausschließlich auf ein im 20. Jahrhundert formuliertes Plädoyer für die Akzeptanz der Unverfügbarkeit von Geschichte zu sprechen kommen. In diesem Zusammenhang diskutiere ich die diesbezüglich relevanten Äußerungen von zwei Philosophen, Hermann Lübbe und Wilhelm Schapp, aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und von einem Schriftsteller, Robert Musil, aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Musil wie Lübbe wie Schapp, so wird sich zeigen, sprechen, wenn auch in unterschiedlich expliziter Weise, von Zufall und von Kontingenz in der Geschichte und freilich auch in Geschichten. Unabhängig von ihrem Wortgebrauch eint diese drei Autoren, dass sie auf der Unverfügbarkeit sowohl von Geschichte als auch von Geschichten theoretisch beharren und diesen Befund wiederum sowohl als Indiz für die Grenzen historischer Notwendigkeit bewerten als auch als Argument für die Widerlegung der Idee einer vollständigen Verfügbarkeit von Geschichte und Geschichten nutzbar machen (c). IV. Kontingenz und Zufall in der Geschichte. Eine Auseinandersetzung mit Arnd Hoffmanns Studie Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie Wie lassen sich Kontingenz und Zufall bezogen auf die Sphäre der menschlichen Geschichte denken, was soll, was kann es heißen, von einer kontingenten und zufälligen Geschichte oder von historischer Kontingenz und historischem Zufall zu sprechen? Welcher Autor, welches Denken formulierte wann und in welcher Weise auch immer und mit Hilfe welcher Begrifflichkeit auch immer eine theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte? Sowohl jene begriffsgeschichtliche wie auch diese ideengeschichtliche Frage sind, und das ist bemerkenswert, von der Geschichtswissenschaft oder Geschichtsschreibung kaum behandelt worden. Seit Reinhart Koselleck vor vierzig Jahren seinen Aufsatz „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ verfasste, ist die Frage nach Zufall und Kontingenz auch und gerade in der Geschichte von der zünftigen Historie kaum noch oder allenfalls in anekdotischer Weise in einer nennenswerten Weise verhandelt worden. Es ist dieser Befund einer geschichtstheoretischen Vernachlässigung der Themen und Begriffe von Kontingenz und Zufall durch die Geschichtswissenschaft einerseits, das Bewusstsein für die Sonderstellung von Kosellecks genanntem Aufsatz andererseits, welche am Beginn von Arnd Hoffmanns auf einer Dissertation beruhenden Studie Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte stehen. Die im dritten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels im Zentrum der Betrachtung stehenden Vorstellungen von Kontingenz und Zufall bezüglich der Sphäre der Geschichte will ich in diesem Kapitel, welches den ersten Teil der Arbeit beschließt, schärfen, indem ich nun die jüngere der beiden soeben genannten

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Stimmen aus den Geschichtswissenschaften selbst zu Worte kommen und dabei auch noch einmal einige Aspekte und Facetten des bislang geleisteten begriffsgeschichtlichen Präzisierungsunternehmens Revue passieren lasse, während die Auseinandersetzung mit Kosellecks Thematisierung von Zufall und Verfügbarkeit in der Geschichte für das erste Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit von fundamentaler Bedeutung sein wird. Zweiter Teil: Ideengeschichtliche Skizzen Im ersten Teil dieser Arbeit war es mir vorrangig um begriffsgeschichtliche Präzisierungen zu tun: Zunächst darum, was es – begriffsgeschichtlich nachweisbar – hieß und was es daher plausibel heißen kann, wenn etwas als kontingent oder zufällig bezeichnet wurde (Kapitel 1 und 2). Sodann richtete sich mein Augenmerk auf die Frage, was es denn – begriffsgeschichtlich nachweisbar – sein konnte und was es daher plausibel sein kann, von dem gesagt wurde oder gesagt wird, dass es kontingent und zufällig ist, war also an den Sphären von Kontingenz und Zufall interessiert (Kapitel 3). In diesem dritten Kapitel stießen wir nun ausdrücklich auf die menschliche Geschichte als eine mögliche Sphäre von Kontingenz und Zufall, eine Vorstellung, die, so erläuterten wir im Rückgriff auf Odo Marquards Unterscheidung von „Schicksalskontingenz“ und „Beliebigkeitskontingenz“ oder „Schicksalszufälligem“ und „Beliebigkeitszufälligem“, sowohl das Verfügbare wie das Unverfügbare in der Geschichte meinen kann. Einer theoretischen Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in der Geschichte gingen wir am Ende des dritten Kapitels im Werk eines Romanciers und zweier Philosophen nach. Und die Frage nach der theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte in den Geschichtswissenschaften selbst verwies uns am Ende des ersten Teils dieser Arbeit schließlich noch auf die Studie eines Historikers (Kapitel 4). Indes, weder der theoretischen Substanz noch ideengeschichtlich nachweisbaren Formen eines Plädoyers für eine unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte widmeten wir uns in den bisherigen Ausführungen. Und auch das Plädoyer für eine unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte geriet im dritten Kapitel dieser Arbeit allein insofern in den eingeschränkten Blickwinkel einer ausschließlich systematischen Betrachtung, als wir anhand dreier Autoren des 20. Jahrhunderts die theoretische Substanz der These und der Rede von einer unverfügbaren Geschichte genauer zu klären suchten, nicht aber oder nur am Rande der ideengeschichtlichen Frage nachgingen, wer denn wann und in welcher Form und mit Hilfe welcher Begrifflichkeit jene These einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte vertreten hatte. Diese ideengeschichtliche Fragestellung nach Formen einer Thematisierung des Verfügbaren und des Unverfügbaren in der Geschichte steht nun aber im Zentrum des zweiten Teils dieser Arbeit: Wie und von wem und mit Hilfe welcher gedanklichen und terminologischen Konstruktionen wurden, so fragen die ideengeschichtlichen Skizzen dieses zweiten Teils vorrangig, die Themen und Ideen von Kontingenz und Zufall im Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und „Sattelzeit“ konkretisiert, interpretiert und bewertet? Welche Relevanz wurde diesen Themen und Ideen für die menschliche Geschichte und das menschliche Leben zugeteilt? Derartigen ideengeschichtlichen Fragen will ich in der Form dreier Skizzen nachgehen, in der Form gleichsam von Fallstudien, die vorrangig

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und wesentlich den Zeitraum zwischen Renaissance und Beginn der Frühen Neuzeit und der von Reinhart Koselleck als „Sattelzeit“ bezeichneten historischen Periode, die sich etwa zwischen 1750 und 1850 erstreckt, gewidmet sind und von denen ich vermute, dass sie die inhaltlich und ideengeschichtlich bedeutsamsten Formen und Weisen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte wie im menschlichen Leben schlechthin in der Zeit zwischen Renaissance und Sattelzeit behandeln. Für jede dieser drei Skizzen ist mir dabei die Arbeit eines Begriffs- oder Ideenhistorikers ursprünglicher Ausgangspunkt, Leitfaden und Orientierungshilfe: Ausgehend von Reinhart Kosellecks Aufsätzen „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ und „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ beschäftige mich zunächst mit Historismus und Romantik als zwei Formen eines Bewusstseins für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte, mit einem historistischem Bewusstsein für das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte und einem romantischem Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in der menschlichen Geschichte und den vielen Geschichten des Lebens (Kapitel 5). Wurden nun das historistische Bewusstsein für das unhintergehbar Unverfügbare und das romantische Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare erstmals in der Sattelzeit formuliert oder lassen sich entsprechende theoretische Artikulationen schon früher ausmachen? Ausgehend von J. G. A. Pococks frühen Schriften beschäftige ich mich im Zuge des Versuchs einer Historisierung der im vorangegangenen Kapitel gewonnenen Erkenntnisse zunächst mit der Früh- oder Vorgeschichte des Historismus und der historistischen Sensibilität für Kontingenz auch und vor allem in der menschlichen Geschichte, mithin mit der Genese des historistischen Denkens, mit jenem Historismus avant la lettre, wie ich ihn bezeichnen möchte, der bereits in der Frühen Neuzeit, also lange vor jener Epoche des 19. Jahrhunderts, die gemeinhin als Kulminationspunkt des Historismus bezeichnet wird, wesentliche Charakteristika einer historistischen Auffassung menschlicher Geschichte formulierte. Dabei wird sich indes zeigen, dass die Kategorien von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit für das frühhistoristische Geschichtsbewusstsein irrelevant sind, während sowohl die Frage gleichsam nach den Quellen historischer Entwicklung und historischer Kontingenz als auch die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität von Geschichte und historischer Kontingenz in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses des Historismus avant la lettre rücken. Historische Kontingenz betrachtete der frühneuzeitliche Historismus als konstitutives Charakteristikum eines historischen Prozesses oder einer historischen Entwicklung, welche ihrerseits eine grundsätzliche Diskontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbürgten. Und insofern wurde historische Kontingenz auch als genuin geschichtliches Phänomen, nicht als Folge des Wirkens einer außergeschichtlichen Instanz aufgefasst (Kapitel 6). Ursprünglich motiviert von einigen von Quentin Skinner in beiden Bänden seiner Foundations of Modern Political Thought kursorisch und en passant eingestreuten Bemerkungen und Andeutungen über die Thematisierung der Fortuna in Antike, Christentum, Renaissance und frühneuzeitlichem Neostoizismus und ausgehend von Bemerkungen bezüglich des Verhältnisses oder der Dichotomie von virtus und Fortuna im Denken der Renaissance, wie sie einem bei Eugenio Garin und Paul Oskar Kristeller begegnen, widme ich mich am Ende dieses zweiten Teils und im insgesamt umfangsreichsten Kapitel dieser Arbeit schließlich den unterschiedlichen

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Formen der Thematisierung der Fortuna unter besonderer Berücksichtigung des Kontextes, des Inhalts und des Fortlebens des erstmals in der Renaissance formulierten Topos virtù vince fortuna. Im Zuge einer Fortunathematisierung, welche sich freilich keinesfalls ausschließlich in der Renaissance auffinden lässt, die vielmehr ihren Ausgang in der Antike nimmt und sodann in der Spätantike und im Mittelalter in einem christlichen Kontext thematisiert wird, um schließlich dann in der Frühen Neuzeit bis in die Epoche des Barock hinein eine letzte begriffliche Karriere zu erfahren, im Zuge dieser Fortunathematisierung der Renaissance werden historische Kontingenz und historischer Zufall durch die Figur und Semantik einer Fortuna auf den Begriff gebracht, welche vom Standpunkt einer außergeschichtlichen Instanz alles diesseitige Geschehen regierend vermeintlich alle geschichtlichen Perioden und Zeiten, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen, dominiert, wobei insbesondere die seinerzeit intensiv und ausführlich geführten Diskussionen darüber, inwiefern sich eine derart geschichtsbestimmende Macht durch menschliches Handeln bestimmen, immerhin domestizieren oder gar nicht beeinflussen lässt, einen breiten Raum in diesem vorletzten Kapitel einnehmen werden (Kapitel 7). Im Ergebnis wird sich im Zuge dieser drei ideengeschichtlichen Skizzen des zweiten Teils dieser Arbeit Folgendes zeigen: Erstens: Das sattelzeitliche Bewusstsein für Kontingenz und Zufall in der Geschichte wie in Geschichten wird repräsentiert durch Romantik und Historismus und lässt sich anhand der Kategorien von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit in plausibler Weise strukturell differenzieren. Zweitens: Noch vor dem sattelzeitlichen Historismus prägt das Bewusstsein für Diskontinuität, Wandel und eine geschichtsimmanent verstandene Kontingenz geschichtlicher Entwicklung bereits einen frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre. Drittens: Noch vor der sattelzeitlichen Romantik lässt sich das Bewusstsein für ein unbeschränkt verfügbares Moment in der Geschichte wie in den Geschichten des menschlichen Lebens in dem Renaissance-Topos virtù vince fortuna ausmachen. So liegt die theoretische Folgerung nahe, dass sich die unterschiedlichen, auf dem Umweg über die drei ideengeschichtlichen Skizzen im zweiten Teil dieser Arbeit nachweisbaren Formen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall, welche sich für den Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und Sattelzeit insgesamt nachweisen lassen, in einem dreiachsigen Koordinatensystem darstellen ließen, dessen Achsen zum einen den Grad der Sensibilität für die Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit in Geschichten oder in Geschichte, zum anderen ein Bewusstsein entweder der Kontinuität oder der Diskontinuität von Geschichte repräsentieren und schließlich auch angeben, inwiefern die Quelle von Kontingenz und Zufall in Geschichten wie in Geschichte als der Geschichte immanent oder als eine außergeschichtliche aufgefasst wird. V. Historismus und Romantik – Das Unverfügbare und das Verfügbare in der menschlichen Geschichte Im ersten Abschnitt dieses fünften Kapitels beschäftige ich mich zunächst mit der in Reinhart Kosellecks Werk explizit oder implizit enthaltenen Antwort auf die Frage nach einem Bewusstsein für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte in der historischen Periode der Sattelzeit. Im Zuge des Bemühens, eine Ambivalenz zwischen Kosellecks Deutung von Aufklärung und Historismus in dem Aufsatz „Der Zufall

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als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ und Kosellecks eigener Argumentation gegen den Gedanken einer vollständigen Verfügbarkeit von Geschichte in dem Aufsatz „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ aufzulösen, verweise ich ausführlich, so wie ich dies auch schon im dritten Kapitel getan habe, auf Odo Marquards Begriffe des „Schicksalszufälligen“ oder der „Schicksalskontigenz“ und des „Beliebigkeitszufälligen“ oder der „Beliebigkeitskontingenz“. Wenn Koselleck einerseits in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ die Verdrängung des Zufalls in der Geschichte als Wesensmerkmal des Historismus ausgibt, er andererseits in „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte in einer Weise argumentiert, die ganz deutlich von ebenjenen Einsichten zehrt, die in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ als konstitutive Merkmale des angeblich doch den Zufall verdrängenden Historismus charakterisiert werden, dann reserviert er den Begriff des Zufalls in der Geschichte offensichtlich für das Beliebigkeitszufällige oder Verfügbare in der Geschichte und spricht dem Historismus Sensibilität für selbiges gerade ab, während er die Einsicht in das Schicksalszufällige oder Unverfügbare von Geschichte nicht als eine bestimmte Form von Kontingenz- und Zufallssensibilität ausgeben und bezeichnen will, wie Marquard dies tut, wenn er vom Schicksalszufälligen oder vom Schicksalskontingenten spricht (1). Die Frage, inwiefern sich nun der Einspruch gegen die grenzenlose Verfügbarkeit von Geschichte oder die theoretische Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte tatsächlich als konstitutiv für den Historismus nachweisen lassen können, beschäftigt mich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels. Ich verweise diesbezüglich zunächst auf die Deutungen des Historismus und des historistischen Entwicklungsbegriffs, wie sie Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch vorgelegt haben. Ebenfalls verweise ich auf Hermann Lübbes und Rüdiger Bubners Reflexionen über das Verhältnis von Handlungen und Geschichte und ihre Interpretationen der historistischen Sichtweise dieses Verhältnisses. So schält sich ein Verständnis des Historismus heraus, wonach dieser auf der theoretischen Grundlage eines bestimmten Begriffs historischer Entwicklung gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit ebenso wie gegen die Annahme einer prinzipiell verfügbaren Geschichte an die unhintergehbare Unverfügbarkeit in der menschlichen Geschichte erinnert. Ich illustriere die sich im Denken des Historismus artikulierende Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte anhand einiger Vertreter des Historismus und im Zuge von Bemerkungen, die den engen Rahmen eines lediglich als historische Methode verstandenen Historismus bewusst sprengen. In der Geschichtsphilosophie (Herder), in der historischen Rechtsschule (Savigny), in der Theologie (Schleiermacher), aber auch in der Malerei des „entzweiten Jahrhunderts“ (Hofmann) will die ideengeschichtliche Skizze des zweiten Abschnitts dieses Kapitels einen Sinn für das unhintergehbar Unverfügbare vor allem in der menschlichen Geschichte, aber auch im menschlichen Leben schlechthin nachweisen (2). Kann die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels entwickelte These als Versuch gelten, eine in Kosellecks Schriften latent enthaltene Antwort auf die Frage nach der historistischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall auch und vor allem in der menschlichen Geschichte aufzudecken und zu klären, so geht es im dritten Abschnitt des Kapitels nicht mehr lediglich um eine Inanspruchnahme von Kosellecks Deutung der Sattelzeit und der sattelzeitlichen Auffassungen von

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Geschichte für meine Fragestellung, sondern um eine Ergänzung dieser Deutung durch Aufmerksamkeit für eine geistige Strömung, die mit dem Historismus nicht vorschnell in eins gesetzt werden darf. Meine Deutung der romantischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall nimmt ihren Ausgang von den Interpretationen der Romantik, wie sie Carl Schmitt und Isaiah Berlin vornehmen. Im Anschluss an die Deutungen von Schmitt wie Berlin erweist sich das theoretische Plädoyer für das unbeschränkt Verfügbare in der Geschichte als ein konstitutives Merkmal der Romantik. So wie dabei im Historismus eine Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare des menschlichen Lebens schlechthin mitunter an die Stelle einer Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in dem Bereiche ausschließlich der menschlichen Geschichte treten kann, so changieren auch in der Romantik ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in der Geschichte und ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in den Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin auf mitunter schwer zu trennende Weise. So sind für die Romantik Geschichten wie Geschichte als kontingent und zufällig im Sinne eines Verfügbaren zu bezeichnen, gerade weil die Kreativität des Menschen prinzipiell und uneingeschränkt alles stets in anderer Weise gestalten und machen könnte. Illustrieren will ich diese im Anschluss an die Arbeiten von Berlin und Schmitt gewonnene These anhand bestimmter Texte des Sturm und Drang, anhand literarischer Protagonisten der Romantik, wie Tieck, Hoffmann, Schlegel und Novalis, sowie schließlich im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes. Abschließend werde ich am Ende dieses Kapitels noch auf zwei Vertreter der „Hochromantik“ (Hermann August Korff) eingehen, nämlich Heinrich von Kleist und Joseph von Eichendorff, und demonstrieren, wie sich bei ihnen und also in der späten Romantik das Pathos einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit in der menschlichen Geschichte oder in den vielen Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin zunehmend verbraucht (3). Historismus wie Romantik insistieren, so lässt sich am Ende dieses Kapitels resümieren, auf Kontingenz und Zufall auch und vor allem in der menschlichen Geschichte. Aber sie tun dies in unterschiedlicher Weise: der Historismus, indem er im Namen eines unhintergehbar Unverfügbaren auch und vor allem in der menschlichen Geschichte sowohl an die Grenzen der Verfügbarkeit erinnert als auch der Präsumtion historischer Notwendigkeit widerspricht; die Romantik, indem sie ihre Vorstellung von Kontingenz und Zufall mit einem bestimmten Ethos kreativen Handelns verschränkt und insofern im Namen eines unbeschränkt Verfügbaren in der Geschichte und in den vielen Geschichten eines menschlichen Lebens sowohl der Präsumtion historischer Notwendigkeit als auch der Präsumtion einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten widerspricht. VI. Diskontinuität, Wandel und Kontingenz in der Geschichte: J. G. A. Pocock und die Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit Die im vorangegangenen Kapitel entwickelte und formulierte These, dass sich im Historismus eine sattelzeitliche Sensibilität für das Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte und in der Romantik eine sattelzeitliche Sensibilität für das Verfügbare in der einen Geschichte und den vielen Geschichten nachweisen und belegen lässt, lädt zu einer Historisierung ein. Diese Historisierung kann naturgemäß in zwei

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Richtungen blicken. Sie kann gewissermaßen vor- wie zurückschreiten. Blickt sie nicht in die Zeit nach der Sattelzeit, kümmert sich also nicht um Fortsetzungen und Spätformen historistischer und romantischer Sensibilität für Kontingenz und Zufall, sondern blickt in die Zeit vor der Sattelzeit, und genau das wollen wir in den beiden folgenden Kapiteln dieser Arbeit auch tun, hat sie sich einem gemeinhin als Frühe Neuzeit bezeichneten historischen Zeitraum zu widmen und die Frage nach der theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall oder nach den unterschiedlichen Versionen einer solchen Sensibilität für die gleichsam vorsattelzeitliche Periode zu stellen. Gab es in der Frühen Neuzeit, so dürfte dann unter anderem zu fragen sein, Frühformen oder Vorgänger der historistischen Sensibilität für das Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte? Gab es Frühformen oder Vorgänger der romantischen Sensibilität für das Verfügbare in der menschlichen Geschichte wie im menschlichen Leben schlechthin? Gibt es schließlich noch andere heuristische Kriterien, kraft deren sich die frühneuzeitliche Thematisierung von Kontingenz und Zufall strukturell differenzieren lässt? Welche zusätzlichen besonderen Merkmale – jenseits der Kategorien von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit – zeichnen also die frühneuzeitliche Sensibilität für Kontingenz oder auch für Zufall aus? Allgemeiner und abstrakter formuliert, lautet die zentrale Frage dieses und des folgenden Kapitels also: In welcher Weise, mit welchen Begriffen und mit Hilfe welcher theoretischen Vorstellungen wurde in der Frühen Neuzeit Geschichte, genauer: der Verlauf der Geschichte gedacht, und inwiefern lässt sich dabei, wenn vielleicht auch kein ausformulierter und systematischer theoretischer Entwurf, so doch immerhin eine implizite Ahnung dessen registrieren, dass Geschichte immer auch, wenn nicht allein und ausschließlich, durch Momente von Kontingenz charakterisiert ist? Die Idee, Kosellecks Sattelzeitthese und die in ihr implizit oder explizit enthaltene Antwort auf die Frage nach dem Bewusstsein historischer Kontingenz und historischen Zufalls in dieser Sattelzeit retrospektiv zu historisieren, um so die genannte zentrale Frage anzugehen und zu beantworten, verdanke ich dem Werk von J. G. A. Pocock. In einem ersten Schritt versuche ich in diesem Kapitel daher zu zeigen, dass sich die idée directrice von Pococks gesamten Œuvre tatsächlich als eine, wie ich formulieren möchte, Suche nach den Zeitanschauungen des politischen, historischen und juristischen Denkens der Frühen Neuzeit verstehen lässt (1). Im zweiten Abschnitt des Kapitels folgt ein bewusst schematischer, um historische Konkretisierung und Illustration nur gering bemühter oder allenfalls illustrativen Zwecken dienender Überblick über jene einzelnen zeitanschaulichen Bestandteile oder Modelle, welche im Ganzen das Ensemble der in Pococks Zeitanschauungstypologie enthaltenen Typen bilden. Auf jene Typen und diese Typologie in ihrer Gänze zumindest einzugehen, ist deshalb unverzichtbar, weil erst so die spezifischen Konturen und charakteristischen Umrisse jenes frühneuzeitlichen Historismus oder jenes Historismus avant la lettre sichtbar werden, welche in der Frühen Neuzeit zum ersten Mal die Bühne des Geschichtsdenkens betreten und die Pocock durch ihr Bewusstsein historischer Diskontinuität, ihr Verständnis von immanenter historischer Entwicklung und ihr Bewusstsein der steten Wandelbarkeit dieser immanenten historischen Entwicklung und insofern durch ihre Einsicht in die geschichtsimmanente Kontingenz historischer Entwicklung deutlich von allen anderen in dieser Typologie enthaltenen Varianten, Geschichte und geschichtliche Zeit zu denken, abgrenzen zu können glaubt. So schließt denn auch der zweite Abschnitt dieses

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Kapitels mit einer ausschließlich systematischen und abstrakten Beschreibung der konstitutiven Merkmale und Charakteristika einer solchen, in der Frühen Neuzeit erstmals formulierten historischen Zeitanschauung (2). Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit zeichnet sich aber nicht nur durch die Sensibilität für die frühneuzeitliche Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung aus, die sich durch ihr Bewusstsein historischer Diskontinuität, ihre Sensibilität für immanente historische Entwicklung und den Wandel und die geschichtsimmanente Kontingenz dieser Entwicklung deutlich von allen gleichsam unhistorischen Typen von Pococks Zeitanschauungstypologie abgrenzen lässt, sondern auch durch das Bewusstsein für die zwar nicht frühneuzeitlich entstandene, wohl aber frühneuzeitlich deutlich zu registrierende Konjunktur einer Zeitanschauung, die ich – venia verbo sit – als fortunadominiert bezeichnen möchte. Fortunadominierte Zeitanschauung und historische Zeitanschauung präsentieren sich so im Ausgang einer Rekonstruktion von Pococks Œuvre am Ende dieses dritten Abschnitts des Kapitels als die beiden, freilich höchst unterschiedlichen zeitanschaulichen Optionen, die in der Frühen Neuzeit ergriffen werden können, wenn der Befund von Kontingenz oder Zufall in der Geschichte wie im Leben schlechthin nicht mehr zu bestreiten ist. Während eine historische Zeitanschauung Kontingenz in der Geschichte als ein der Geschichte immanentes Charakteristikum begreift, erblickt eine fortunadominierte Zeitanschauung in der Fortuna eine außergeschichtliche Quelle von Kontingenz und Zufall. Während zudem eine historische Zeitanschauung die Vorstellung historischer Kontingenz mit dem Bewusstsein historischer Diskontinuität liiert, bestimmt der fortunadominierten Zeitanschauung zufolge Fortuna die Geschichte immer und überall (3). Die verbleibenden Ausführungen dieses sechsten Kapitels befassen sich nun allein mit der in der Frühen Neuzeit zu beobachtenden historischen Zeitanschauung: Wer formulierte in der Wahrnehmung Pococks wann, wo und in welcher Weise eine solche historische Zeitanschauung, so wird zunächst im vierten Abschnitt des Kapitels zu fragen sein? Inwiefern kommen dabei Vorstellungen von historischer Kontingenz zur Sprache, und welche Begriffe werden dabei verwendet? Pococks Schriften verweisen im Kontext dieser Frage auf insgesamt drei ideengeschichtliche Phänomene, die freilich sowohl hinsichtlich ihrer historischen Datierung als auch hinsichtlich gleichsam ihrer geographischen Abkunft äußerst heterogen sind: auf die geschichtstheoretischen Elemente von James Harringtons Republikanismus; auf eine im Laufe des 17. Jahrhunderts in England von mehreren Autoren und Rechtsgelehrten formulierte, historiographische Beschäftigung mit den feudalrechtlichen Relikten und Elementen und insofern den kontinentaleuropäischen Ursprüngen des englischen „common law“; und schließlich auf einen am Ende des 16. Jahrhunderts vor allem in Frankreich formulierten „legal humanism“, dessen theoretische Substanz Pocock anhand einer Beschäftigung mit mehreren Autoren rekonstruiert. Pococks drei konkreten Hinweisen und Belegen für die frühneuzeitliche Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung lässt sich entnehmen, dass sich die Formulierung einer historischen Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit wesentlich dem Geist einer theoretischen Sensibilität für die Pluralität rechtlicher Traditionen und einer daraus resultierenden komparatistisch verfahrenden Rechtsgeschichte verdankt. So geben sich nun aber ein Bewusstsein historischer Diskontinuität, immanenter historischer Entwicklung und immanenten historischen Wandels und schließlich der geschichtsimmanenten Kontingenz in der Geschichte durchaus schon

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vor der Sattelzeit, nicht erst in dieser zu erkennen (4). Pococks These bezüglich der frühneuzeitlichen Genese und Herkunft einer historischen Zeitanschauung zwingt zudem zu einer veränderten Bestimmung des Geburtsortes, der Geburtszeit und der Geburtsumstände dessen, was als genuin historisches Bewusstsein bezeichnet werden kann, und fördert vielmehr, wie ich es formulieren möchte, einen frühneuzeitlichen gesamteuropäischen Historismus avant la lettre zutage, welcher sich wesentlich dem Geist einer komparatistisch verfahrenden Rechtsgeschichte verdankt (5). Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit dem Hinweis, dass Isaiah Berlin im Zusammenhang seiner Frage nach den theoretischen Vorläufern und geistigen Wurzeln von Vicos Geschichtsdenken ebenfalls auf jenes Phänomen einer genuin historisch verfahrenden Rechtsgeschichte im Kontext des französischen „legal humanism“ stößt, welches auch in Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit so breiten Raum einnimmt, und so eine interessante theoretische Schnittmenge zwischen diesem „legal humanism“ und Vicos Geschichtsdenken zu Tage fördert (6). VII. Virtù vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos Bei der fortunadominierten Zeitanschauung und der historischen Zeitanschauung, wie wir sie im vorangegangenen Kapitel systematisch erörtert haben, handelt es sich um die beiden zentralen, freilich höchst unterschiedlichen zeitanschaulichen Optionen, die in der Frühen Neuzeit ergriffen werden können, wenn der Befund von Kontingenz oder auch Zufall in der Geschichte wie im Leben schlechthin nicht mehr zu bestreiten ist. Im Zentrum dieses abschließenden Kapitels dieser Arbeit steht nun die fortunadominierte Auffassung von Geschichte und historischer Zeit. Ich verweise dabei zunächst darauf, dass sowohl Eugenio Garin wie Paul Oskar Kristeller die Dichotomie von virtù und Fortuna als grundlegend und konstitutiv für die Geschichtsanschauung des Humanismus und der Renaissance ausweisen, wobei es ein Spezifikum der auf dieser Dichotomie basierenden Sichtweise sein soll, dass der virtù, wie beide Autoren betonen, ein „Sieg“ über die Unbilden der Fortuna stets zugetraut wird. Und so erblickt Garin in dem sich im Topos virtù vince fortuna artikulierenden Gedanken, in dem Gedanken also, dass jene noch näher zu bestimmenden Merkmale oder Fertigkeiten des Menschen, die im Begriff der virtù gefasst werden, das Treiben der Fortuna besiegen oder, wofern nicht endgültig besiegen, so doch zumindest im eigenen Sinne direkt beeinflussen, das entscheidende theoretische Fundament für die in der Renaissance formulierte Auffassung der menschlichen Geschichte und des menschlichen Lebens schlechthin. Wie freilich genau seinerzeit dieser Topos verstanden wird, darüber lässt sich erst im Zuge jener ideengeschichtlichen Kontxtualisierung dieses Topos weiterer Aufschluss gewinnen, welche der zentrale Gegenstand dieses Kapitels ist: Infolgedessen wende ich mich in diesem Kapitel in einem ersten Abschnitt zunächst der römischen Auffassung der Fortuna zu, der Auffassung der Fortuna als einer Göttin, welche in einer ganz bestimmten Weise charakterisiert wird und deren Beeinflussung durch die menschliche virtus prinzipiell für möglich gehalten wird. Aber nicht nur die entscheidenden Merkmale und Wesenseigenschaften der römischen Fortuna möchte ich in diesem ersten Abschnitt des Kapitels präsentieren und beschreiben, sondern auch zwei Varianten einer, wie man in Abwandlung eines Terminus von Lübbe sagen

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könnte, römischen Fortunabewältigungspraxis, die ciceronische Strategie gleichsam einer direkten Fortunabeeinflussung qua fortitudo und die stoische Strategie der Fortunavermeidung qua prudentia (1). Sodann blicke ich im zweiten Abschnitt des Kapitels auf eine spätantike annihiliatio fortunae im Denken des Augustinus ebenso wie auf eine stoische und christliche Motive kombinierende und sich über Jahrhunderte hinweg bis in die Frühe Neuzeit hinein als äußerst wirkungsmächtig erweisende Versöhnung von Fortuna und göttlicher Vorsehung, von Fortuna und Providenz, im Denken des Boethius, deren immense kultur- und ideengeschichtliche Bedeutung auch jenseits der Spätantike durch die Tatsache des Fortwirkens boethianischer Motive in der scholastischen Theologie sowie bei Dante und Petrarca hinreichend deutlich wird (2). Vor diesem in den ersten beiden Abschnitten des Kapitels ausgemessenen ideen- und kulturgeschichtlichen Horizont erweist sich die Formulierung des Topos virtù vince fortuna sowie die omnipräsente Bezugnahme auf virtus oder virtù und Fortuna im Denken des quattrocento, also in der Zeit der kulturellen, geistigen und politischen Blüte der Renaissance, eben gerade nicht als eine unerwartete Absonderlichkeit oder verblüffende ideengeschichtliche Schöpfung aus dem Nichts. Vor allem Quentin Skinner hat in seinen Schriften immer wieder energisch unterstrichen, dass der Topos virtù vince fortuna, wie ihn der Humanismus und ganz allgemein das Denken in der Zeit der Renaissance formulieren, einerseits sowohl als Protest gegen eine augustinische annihiliatio fortunae wie auch als Abwehr jener christlichen Inanspruchnahme der Fortuna als ancilla dei, wie sie in der Spätantike exemplarisch von Boethius formuliert wurde, verstanden werden muss. Andererseits lässt sich Skinner zufolge die Auffassung des Verhältnisses von virtù und Fortuna im Denken der italienischen Renaissance auch als Versuch begreifen, an das klassisch-römische, insofern vorchristliche Verständnis dieses Verhältnisses wieder anzuschließen. Ciceronische und stoische Variante der Fortunabewältigungspraxis können somit durchaus als Vorläufer und geistige Wegbereiter des Renaissancetopos virtù vince fortuna angesehen werden. Den unterschiedlichen Varianten und Nunancierungen der Auffassung dieses Topos im quattrocento spüre ich gegen Ende des dritten Abschnitts schließlich in einer ganzen Reihe von Stellungnahmen nach (3). Die in diesem Kapitel beabsichtigte ideengeschichtliche Kontextualisierung des Topos virtù vince fortuna hat sodann dafür aufmerksam zu sein, dass sich im frühen 16. Jahrhundert bei Niccolò Machiavelli und Francesco Guicciardini eine deutlich vorsichtigere oder defensivere Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen menschlicher virtù und Fortuna bemerkbar macht, die der menschlichen virtù weder einen endgültigen Sieg über die Fortuna noch eine direkte Beeinflussung der Fortuna mehr zutraut. Während Machiavelli zumindest die Möglichkeit einer Zähmung und Domestizierung der Fortuna noch aufrecht erhält, gerät mit dem in Guicciardinis späten Werken formulierten Pessimismus bezüglich der menschlichen Möglichkeiten, überhaupt auf die Fortuna einzuwirken, mit der Behauptung einer Omnipotenz der Fortuna, welche doch dabei stets in säkularer Weise als autarke Instanz gedacht bleibt, die Geschichte des Topos virtù vince fortuna wohl nicht, wie sich im weiteren Verlauf des Kapitels bestätigen wird, an ihr Ende, wohl aber in eine nachhaltige Krise (4). Dieser Befund darf nun aber nicht zu dem gänzlichen Missverständnis verführen, dass die Fortuna zugleich und sofort mit dem Ende der Renaissance ihrer ideen- und begriffsgeschichtlichen Existenzgrundlage und Wirkungsmächtigkeit beraubt worden

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wäre. Vielmehr überlebt die Fortuna die Renaissance und prägt die Ideengeschichte der Frühen Neuzeit in erheblichem Maße. Grundsätzlich möchte ich die Fortunathematisierung der Post-Renaissance und der Frühen Neuzeit, wie sie in facettenreicher und nicht eben leicht zu systematisierender Weise zwischen dem Vertrauen in eine wie auch immer zu bewerkstelligende Beeinflussbarkeit der Fortuna durch menschliches Handeln einerseits, Zweifel und Skepsis gegenüber dieser Möglichkeit und Einbettung der Fortuna in eine göttliche Providenz in einem boethianischen Sinne andererseits changiert, im weiteren Verlauf dieses Kapitels anhand von vier ideengeschichtlichen Phänomenen verdeutlichen: Nachdem ich einige grundsätzliche Überlegungen zur politischen und religiösen Lage, vor allem aber auch zur kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Situation Europas im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert entwickelt habe (5), die für die Frage nach den geistigen und kulturellen Voraussetzungen für die Tatsache der späten und ambivalenten Konjunktur der Fortunathematisierung im „Herbst der Renaissance“ (Bouwsma) und in der Frühen Neuzeit unbedingt zu berücksichtigen sind, wende ich mich zunächst dem holländischen und französischen Neostoizismus in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu, indem ich auf die diesbezüglich relevanten Schriften von Justus Lipsius und Guillaume du Vair blicke. Beide Autoren, Du Vair wie Lipsius, betten zwar nicht im Sinne des Boethius die Fortuna in die providentia ein und begreifen folglich auch nicht Fortuna als ancilla Dei, betten aber sehr wohl und dies durchaus im Sinne des Boethius das fatum in die providentia ein und gelangen dadurch zu einer Leugnung der Existenz der Fortuna schlechthin. Das argumentative Modell der boethianischen Lösung des Fortunaproblems wird also mutatis mutandis zumindest formal beibehalten; innerhalb dieses Modells kommt es aber zu einer folgenreichen funktionalen Umbesetzung, welche die Fortuna arbeitslos werden lässt und als menschliche Chimäre zu entlarven trachtet. Die neostoizistische Form der Fortunathematisierung lässt sich daher als Fortunadiskurs à contrecœur bezeichnen (6). Im elisabethanischen Theater, vor allem bei Marlowe und Shakespeare, erscheint die Fortuna stets als autarke und unberechenbare Instanz. Was den menschlichen Umgang mit dieser autarken Fortuna angeht, changieren die seinerzeit in England formulierten Positionen von einer paganen Variante des neostoizistischen Plädoyers für constantia und dem verhaltenen Plädoyer für eine stets fragile und provisorische Form der Fortunabeeinflussung, beide Positionen lassen sich bestimmten Interpretationen zufolge bei Shakespeare nachweisen, bis zu der hypertrophen These einer schrankenlosen praktischen Verfügbarkeit der Fortuna, wie sie in Marlowes Tamburlaine in besonders drastischer Weise formuliert wird (7). Nicht nur ist die Fortunathematisierung der Frühen Neuzeit schlechthin von einer ausgesprochenen Ambivalenz gekennzeichnet, sondern diese Ambivalenz charakterisiert mitunter auch die Schriften einzelner, für diese frühneuzeitliche Fortunathematisierung maßgeblicher Autoren. So bleiben etwa, um nur diesen Vertreter der Literatur des siglo de oro zu nennen, so bleiben etwa Baltasar Graciáns Auffassung der Fortuna ebenso wie die von ihm anempfohlene Fortunabewältigungspraxis hinsichtlich ihrer Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen menschlichem Vermögen einerseits und Fortuna andererseits schwankend, auch wenn die Maximen seiner Aphorismensammlung zur arte de prudencia wohl doch wesentlich auf der der illusionslos-nüchternen und zugleich doch zuversichtlichen Kalkulation beruhen, derzufolge die menschliche Klugheit die Unbilden der Fortuna, wofern nicht

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endgültig bezwingen, so doch immerhin beeinflussen kann (8). In der Literatur des deutschen Barock schließlich wird die Fortuna entweder als autarke Instanz aufgefasst oder als in die die göttliche Vorsehung eingebettet gedacht. Mithin artikuliert sich in der barocken Thematisierung der Fortuna exakt jene Ambivalenz der Fortuna in der Frühen Neuzeit, auf die wir bereits in den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels stets gestoßen sind. Gegenüber einer als autark konzipierten Instanz kann nun wiederum einerseits im Sinne des stoischen Ideals der constantia eine Fortunavermeidung, ein Rückzug in die uneinnehmbare Festung der subjektiven Innerlichkeit, oder andererseits auch eine Beeinflussung der Fortuna durch nüchterne und antizipierende Kalkulation und Klugheit als angemessene Form des Umgangs mit der Fortuna anempfohlen werden. Eine im Auftrage Gottes handelnde Fortuna wiederum wird im Barock – und das ist ein auffallender Unterschied zu dem doch ebenfalls dem Gedanken einer umfassenden göttlichen Providenz verpflichteten Neostoizismus und seinem Ideal einer das elende Diesseits erduldenden constantia – als Stimulus für die Hinwendung zu einer das fortunadurchtränkte Diesseits transzendierenden Sphäre verstanden. Die für die barocke Fortunathematisierung konstitutive Dichotomie – sowohl hinsichtlich der theoretischen Auffassung der Fortuna als auch bezüglich der anempfohlenen Fortunabewältigungspraxis – lässt sich beispielhaft illustrieren anhand des Gegensatzes von Daniel Caspar von Lohensteins und Andreas Gryphius’ Zeit- und Geschichtsauffassung. Während Lohensteins Form der Fortunabewältigungspraxis die autarke Fortuna durch nüchtern antizpierende und rational abwägende Kalkulation meistern und beeinflussen will, ist Gryphius die Fortuna göttlich gelenktes Werkzeug, welches nun aber nicht in neostoizistischem Sinne zu dem Erwerb jener constantia aufruft, welche sich auf das Diesseits konzentriert und als Resultat eigenen Leistungsvermögens verstanden werden kann, sondern auffordert zu einer geistigen Hinwendung auf das transzendente Ewige und in diesem Sinne Fortuna durch Fortunatranszendierung bewältigt, ohne doch dabei einer augustinischen annihilatio fortunae anheim zu fallen oder in einen neostoizistischen Fortunadiskurs à contrecœur zu münden (9). Dritter Teil: Philosophische Schlussfolgerungen Wie wurden, so fragten die begriffsgeschichtlichen Präzisierungen des ersten Teils dieser Arbeit, die Begriffe von Kontingenz und Zufall historisch nachweislich seit ihrem frühesten Auftreten verstanden? Welche Sphären wurden diesen Begriffen zugeteilt? Was kann es heißen, insbesondere in Bezug auf die Sphäre der menschlichen Geschichte von Kontingenz und Zufall zu sprechen? Wie und von wem und mit Hilfe welcher gedanklichen und terminologischen Konstruktionen wurden, so fragten die ideengeschichtlichen Skizzen des zweiten Teils dieser Arbeit vorrangig, die Themen und Ideen von Kontingenz und Zufall im Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und „Sattelzeit“ konkretisiert, interpretiert und bewertet? Welche Relevanz wurde diesen Themen und Ideen für die menschliche Geschichte und das menschliche Leben seinerzeit zugeteilt? Welche theoretischen und praktischen Möglichkeiten schließlich, so fragt nun dieser dritte, gleichsam systematisch angelegte und sich um philosophische Schlussfolgerungen bemühende dritte Teil dieser Arbeit, welche theoretischen und praktischen Möglichkeiten offeriert die

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zeitgenössische Philosophie für die Bewältigung der mit den Themen, Ideen und Begriffen von Kontingenz und Zufall verbundenen und offensichtlich für das menschliche Leben zeitlos konstitutiven, weil noch jede historische Epoche zu theoretischen Reflexionen und praktischen Bewältigungsversuchen reizenden Herausforderungen? VIII. Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbewältigungspraxis und eine Erinnerung an William James Während sich die Geschichtswissenschaften bis heute nur am Rande für die Begriffe, Ideen und Themen von Kontingenz und Zufall auch und gerade in der menschlichen Geschichte interessieren, lässt sich in der zeitgenössischen Philosophie ein weit verbreitetes Interesse registrieren, sich der Themen, Ideen und Begriffe von Kontingenz und Zufall aus einer philosophischen Perspektive anzunehmen. Ich möchte am Ende dieser Arbeit, auch wenn deren inhaltlicher und quantitativer Schwerpunkt ganz eindeutig in den beiden Unternehmungen begriffsgeschichtlicher Präzisierung und ideengeschichtlicher Skizzen liegt, doch nicht auf den Versuch verzichten, aus den bisherigen begriffs- und ideengeschichtlichen Bemühungen philosophische Schlussfolgerungen zu ziehen. Zu diesem Zwecke entnehme ich dem Ensemble der in der zeitgenössischen Philosophie formulierten Plädoyers für eine bestimmte Form der Bewältigung von Kontingenz und Zufall die drei aus meiner Sicht entscheidenden theoretischen Ansätze und Autoren. In diesem Sinne porträtiere ich zunächst Richard Rortys Plädoyer für eine, wie man sagen könnte, ironische Kontingenzbewältigungspraxis, welche auf einer bestimmten sprachphilosophischen Überzeugung und einer Auffassung der Kontingenz und der Zufälligkeit unserer sprachlichen Werkzeuge und unserer Vokabulare beruht (1). Ich verweise sodann auf Odo Marquards „Apologie des Zufälligen“, der sich meines Erachtens sowohl überzeugende Argumente gegen Rortys Verständnis von Kontingenz und Zufall im Sinne stets zu ersetzender und neu zu erschaffender Vokabulare als auch gegen Rortys Vorschlag, Selbsterschaffung durch ironische Selbsterkenntnis und durch Erschaffung des eigenen idiosynkratischen Vokabulars als das sowohl funktional angemessene als auch normativ gebotene Mittel des menschlichen Umgangs mit Kontingenz und Zufall zu begreifen, entnehmen lassen. Marquards „Apologie des Zufälligen“ ihrerseits unterscheidet zwischen zwei Typen von Kontingenz oder Zufall, unterscheidet zwischen dem „Schicksalskontingenten“ und dem „Beliebigkeitskontingenten“ oder dem „Schicksalszufälligen“ und dem „Beliebigkeitszufälligen“ und offeriert wiederum für jeden dieser beiden Typen von Kontingenz und Zufall ein spezifisches Rezept des praktischen Umgangs. Das von Marquard als Bewältigung des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten vorgeschlagene Rezept der Skepsis – Skepsis verstanden als Einwilligung in dieses Schicksalszufällige oder Schicksalskontingente – lässt sich, wenn auch nicht explizit, so doch immerhin implizit als das genaue Gegenprogramm zu Rortys ironischer Kontingenzbewältigungspraxis verstehen – sowohl in funktionaler wie in normativer Hinsicht: Statt dem Programm einer Kontingenzbewältigung durch ein ironisches Selbstverhältnis und die Selbsterschaffung von Vokabularen, welches überaus deutlich einem ganz bestimmten Ideal menschlicher Autonomie verpflichtet ist, empfiehlt Marquard das Programm einer Kontingenzbewältigung durch Skepsis im Sinne einer Einwilligung in das Unverfügbare und im Namen menschlicher

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Endlichkeit, welches um die funktionalen und normativen Grenzen menschlicher Autonomiebemühungen weiß. Marquards Philosophie ist dabei aber offensichtlich nicht religiöser Natur, wobei Marquard die Religion durchaus als eine mögliche – anders etwa als Ernst Tugendhats Kontrastierung von Mystik und Religion und Diskreditierung der Religion als „intellektuell unredliche“ Form von Kontingenzbewältigungspraxis – Form der Bewältigung eines unverfügbaren Kontingenten und Zufälligen gelten lässt, wenngleich er sie eben auch nicht als die einzig mögliche Form der Bewältigung eines schlechthin Unverfügbaren verstanden wissen möchte (2). Dies unterscheidet Marquards Plädoyer für eine skeptische Bewältigung von Kontingenz und Zufall durch Einwilligung in das Unverfügbare wiederum von Hermann Lübbes Auffassung von Religion als einer bestimmten Form von Kontingenzbewältigungspraxis. Lübbe unterscheidet in seiner Religionstheorie zwei Formen von Kontingenzbewältigung, nämlich den pragmatischen Umgang mit verfügbarer Kontingenz und die nichtpragmatische Anerkennung unverfügbarer Kontingenz. Für Lübbe ist es aber nun – anders als für Marquard, der auf eine Vielfalt möglicher Formen der Bewältigung einer unverfügbaren Kontingenz verweist – allein die Religion, welche sich zu dieser nichtpragmatischen Anerkennung unverfügbarer Kontingenz befähigt zeigt (3). An Lübbes Religionstheorie und religiöse Philosophie der Kontingenz wiederum lassen sich meines Erachtens vor allem zwei kritische Rückfragen richten. Erstens: Ist es tatsächlich so, wie Lübbe meint, dass die Religion die einzig plausible und wirksame Weise einer nicht-pragmatisch verfahrenden Anerkennung unverfügbarer Kontingenz ist? Oder gibt es auch nicht-religiöse Formen nicht-pragmatisch verfahrender Anerkennung unverfügbarer Kontingenz? Wäre Lübbes Beschreibung von Religion als Bewältigung von Kontingenz durch Anerkennung unverfügbarer Kontingenz mithin zu unspezifisch für die Kennzeichnung von Religion? Zweitens: Beschreibt Lübbes Auffassung von Religion als nicht-pragmatische Anerkennung eines Unverfügbaren das Wesen religiöser Erfahrung wirklich zutreffend und umfassend? Oder wäre Lübbes Beschreibung von Religion als Bewältigung von Kontingenz durch Anerkennung unverfügbarer Kontingenz nicht nur zu unspezifisch, sondern auch zu einseitig? Ich werde die erste Frage im vierten Abschnitt dieses Kapitels nur am Rande thematisieren, mir dabei lediglich sowohl unter Berufung auf Marquard als auch im Rekurs auf die im dritten Kapitel dargestellte, von Lübbe formulierte Theorie von Geschichte und Geschichten gegen Lübbes Religionstheorie den Hinweis erlauben, dass nicht-religiöse Formen der nichtpragmatischen Anerkennung unverfügbarer Formen von Kontingenz durchaus denkbar und gar nicht auszuschließen sind, werde also sowohl Marquard gegen Lübbe als auch Lübbe gegen Lübbe theoretisch stark aussehen lassen. Für interessanter halte ich jedoch die zweite Frage: Was diese Frage angeht, so möchte ich die These begründen, dass selbst die Funktion einer religiösen Bewältigung von Kontingenz und Zufall pace Lübbe nicht oder jedenfalls niemals ausschließlich in der lediglich formalen und inhaltlich gar nicht weiter bestimmten Anerkennung eines schlechthin Unverfügbaren besteht. Sondern, so will ich ausführen, die Anerkennung eines Unverfügbaren erfolgt, wenn sie religiös erfolgt, immer schon in einer ganz bestimmten Weise, in einer Weise nämlich, welche ganz bestimmte, eben religiöse Verhaltensweisen oder Einstellungen enthält, wie etwa eine im Angesicht eines unverfügbar leidvollen Kontingenzgeschehens auf Gott blickende und sich in die Zukunft richtende Hoffnung oder ein auf die Gegenwart

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bezogenes Vertrauen – in diesem Fall wären die Zeitmodi der Gegenwart und Zukunft betroffen – oder auch eine im Angesicht eines unverfügbar glückhaften Kontingenzgeschehens an Gott sich richtende Dankbarkeit bezüglich etwas bereits Geschehenem – in diesem Fall wäre der Zeitmodus der Vergangenheit berührt. Die religiösen Einstellungen von Vertrauen, Hoffnung und Dankbarkeit kultivieren und erinnern in exemplarischer Weise zwar durchaus eine unverfügbare Abhängigkeit, aber sie versuchen doch auch diesem unverfügbaren Geschehen ein Sinnresiduum in wie fragiler Weise auch immer abzutrotzen. Ebendieses Ringen, man möchte sagen gar nicht freiwillige, sondern aufgegebene Ringen um einen dem unverfügbaren Geschehen abzutrotzenden Sinn, der freilich weder ein pragmatischer noch ein moralischer, wohl aber ein religiöser Sinn sein kann, ebendieses Ringen diskreditiert Lübbes Polemik gegen jede Sinnfrage schlechthin und seine Charakterisierung der Religion als jeglicher Frage nach dem Sinn eines kontingenten Geschehens abgeneigt. Wenn aber religiöse Bewältigung von Kontingenz sich auch durch ein dem kontingenten Geschehen abgetrotztes religiöses Sinnresiduum auszeichnet und jedenfalls, wenn dies der Fall ist, darin ihre differentia specifica gegenüber anderen Formen der Anerkennung unverfügbarer Kontingenz besteht, welche sich zudem exemplarisch dem Vorhandensein einer oder mehrerer der drei genannten Einstellungen oder praktischen Verhaltensweisen entnehmen lässt, dann wäre Lübbes Auffassung, wonach die Funktion von Religion lediglich in der Anerkennung der schlechthinnigen Abhängigkeit von einem Unverfügbaren besteht, gewiss zu einseitig. Der Versuch, Lübbes Religionstheorie in der angedeuteten Weise zu kritisieren, wird mir am Ende dieses vierten Abschnitts des Kapitels und insofern am Ende dieser Arbeit zudem zum Anlass, auf William James’ Religionstheorie hinzuweisen. Gegen eine unspezifische Formalisierung von Religion und gegen eine einseitige Reduzierung religiöser Kontingenzbewältigung auf die Gewinnung stoischer ataraxia oder einer tranquillitas animi oder auf ein resignierendes Zähne-Zusammenbeißen, wie sie durch Lübbes Religionstheorie immerhin nahegelegt zu sein scheinen, hat James meines Erachtens zurecht auf dem alle Sorge und „Egozentrizität“ (Tugendhat) transzendierenden Moment religiöser Erfahrung beharrt. Religiöse Bewältigung von Kontingenz besteht demnach niemals ausschließlich und allein in dem Versuch, die eigene Egozentrizität vor den unvermeidlichen Anfechtungen des Lebens durch die Installierung eines emotionalen und intellektuellen Schutzwalls zu behüten. Religiöse Bewältigung von Kontingenz stellt keine disziplinierte Gefühlsathletik im stoischen Sinne dar, kein Versteifen auf die Unverletzlichkeit der eigenen Subjektivität, so macht James’ Religionstheorie deutlich, sondern eine Einstellung der Selbsttranszendenz, in welcher „an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes.“ Religion anerkennt das Unverfügbare nicht, um unseren „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillen“ vor den Widerfahrnissen dieser Welt zu schützen. Vielmehr vollzieht sich im Medium religiöser Erfahrung eine Selbsttranszendenz gerade im Sinne einer Überwindung dieses „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens“ (4).

Erster Teil: Begriffsgeschichtliche Präzisierungen

I

Kontingenz – Die Geschichte eines Begriffs von der Latinisierung der aristotelischen Möglichkeitsbegriffe bis zur Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall in der zeitgenössischen Philosophie

„[…] die Wirklichkeit kennen wir ja nun, […] aber das Mögliche kennen wir kaum. Begreiflich. Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.“ Friedrich Dürrenmatt, Justiz Die begriffsgeschichtliche These, welche diesem gesamten Werk sowie insbesondere diesem Kapitel zugrunde liegt und diese strukturiert, sei sogleich vorweg benannt: Der Begriff der Kontingenz entspringt, so soll im Folgenden gezeigt werden, der Latinisierung jener Auffassung und Begrifflichkeit der Möglichkeit, wie sie Aristoteles an mehreren Stellen seines Werkes einführt und entwickelt. Für jeden auf einer derartigen These beruhenden Versuch, die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz historisch nachzuzeichnen, vor allem auch den Wandel der Bedeutung dieses Begriffs zu erkunden, ist es folglich erste Pflicht, sich zunächst einmal Klarheit über Aristoteles’ Verständnis und Begriffe des Möglichen zu verschaffen. Dieses Anliegen ist alles andere als trivial, im Gegenteil, es ist äußerst komplex, und das liegt daran, dass Aristoteles nicht einen, sondern mindestens zwei Auffassungen des Möglichen vertritt.1

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Vergleiche in diesem Sinne auch die Äußerung von Heinrich Barth: „Es ist eine bekannte und vielverhandelte Sache, dass uns bei Aristoteles nicht eine einfache und eindeutige Lehre von der Modalität begegnet.“ Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte. Band 1, Basel 1947, S. 328 f. Dass und inwiefern die Philosophie des Aristoteles, die sich für das Mögliche offen zeigt, eine Ausnahme darstellt im historischen Kontext eines griechischen Denkens, welches nicht nur eine ontologische Notwendigkeit des Kosmos schlechthin, sondern auch eine durchgängige Notwendigkeit in diesem Kosmos unterstellt, ist an dieser Stelle nicht weiter zu diskutieren. Vergleiche dazu die Bemerkungen auf S. 86–87 im zweiten Kapitel dieser Arbeit. Vergleiche hierzu auch Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, Pfullingen 1990, S. 23–43.

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(1) Unstrittig ist dabei zunächst, dass sich Aristoteles mit seinen Überlegungen zum Begriff des Möglichen von einer anderen Auffassung des Möglichen, wie er sie in seiner Zeit vorfand, absetzen wollte, nämlich von dem megarischen Möglichkeitsbegriff. In diesem Sinne lässt sich das dritte Kapitel im neunten Buch von Aristoteles’ Metaphysik verstehen als eine einzige Auseinandersetzung mit den Megarikern und dem von ihnen formulierten Möglichkeitsbegriff. Aristoteles macht dabei deutlich, dass es insbesondere die megarische Reduktion des Möglichen auf das Wirkliche ist, von der er sich distanziert wissen will: „[…] so sind offenbar Vermögen und wirkliche Tätigkeit verschieden; jene Lehren [die der Megariker; P. V.] aber machen Vermögen und wirkliche Tätigkeit zu einem und demselben und suchen also etwas gar nicht Kleines aufzuheben. Also kann etwas zwar vermögend sein zu sein und doch nicht sein oder vermögend nicht zu sein und doch sein“2 . Bevor sich also ein ausführlicheres Verständnis von Aristoteles’ Möglichkeitsbegriff und seiner Begründung für die eben zitierte Unterscheidung von Vermögen (dynamis) und wirklicher Tätigkeit (energeia) gewinnen sowie auch seine Kritik der megarischen Philosophie verstehen und beurteilen lässt, sind daher zunächst die theoretische Grundlage und Quintessenz des megarischen Möglichkeitsbegriffs nachzuvollziehen. Euklides, welcher der megarischen Schule zugerechnet wird, stellte in der Tat jene von Aristoteles kritisierte These auf: Nur das Wirkliche ist möglich. Wenn aber nur das Wirkliche möglich ist, dann gibt es auch keine Möglichkeit außerhalb des Wirklichen. Insofern ist dann auch das Unwirkliche gerade nicht möglich. Anders formuliert: Dass das Wirkliche nicht wirklich ist, ist nicht möglich, und insofern ist allein das Wirkliche möglich und zugleich notwendig. Diodoros Kronos, ebenfalls ein Vertreter der megarischen Schule, wiederholt des Euklides These, freilich etwas vorsichtiger, indem er einen temporalen Vorbehalt geltend macht: Möglich ist nur das Wirkliche oder immerhin das, was wirklich wird. Aber auch er gelangt im Zuge dieser Bestimmung konsequenterweise dazu, das Wirkliche und das Mögliche gleichermaßen als notwendig zu begreifen. Das Wirkliche kann nicht nicht eintreten, und insofern ist das Wirkliche oder das, was wirklich wird, notwendig. „Wenn zutrifft, dass nicht geschehen kann, was nicht geschehen wird, dann ereignet sich das, was als künftig bevorsteht, mit Notwendigkeit.“3 Auch Diodoros Kronos behauptet damit so wie Euklides ein zwingendes und unhintergehbares Bedingungsverhältnis von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit: Weil das Mögliche wirklich ist oder zumindest wirklich werden wird, weil es daher keine Möglichkeit außerhalb des Wirklichen gibt, weil das Unwirkliche daher gerade nicht möglich ist und das Mögliche auch niemals unwirklich ist, weil so schließlich das Wirkliche und das Mögliche notwendig sind, eben deshalb lassen sich dem megarischen Möglichkeitsbegriff keinerlei Anzeichen dafür entnehmen, dass es in der Welt Mögliches gibt, das nicht wirklich ist, und daher Wirkliches und Unwirkliches, die nicht notwendigerweise sind bzw. nicht sind. Eine untrennbare „Kette des Seins“ (Lovejoy) verknüpft für die Mega2

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Met. Θ 3: 1047 a 20–24. Ich zitiere im folgenden nach Aristoteles, Metaphysik, Bücher VII (Z)– XIV (N), herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg 1991, S. 109. Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, a.a.O., S. 30 f.

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riker Möglichsein, Wirklichsein und Notwendigsein. Alles, was möglich ist, ist wirklich und zwar notwendigerweise. Alles, was nicht wirklich ist, ist nicht möglich und zwar notwendigerweise.4 Ebendieser megarische Möglichkeitsbegriff ist es nun, von dem sich Aristoteles distanziert, wenn er in dem erwähnten Abschnitt seiner Metaphysik gerade leugnet, dass nur das möglich ist, was wirklich ist oder wird:

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Im 20. Jahrhundert hat Nicolai Hartmann den Versuch unternommen, den megarischen Möglichkeitsbegriff theoretisch zu rehabilitieren. Das Mögliche und das Wirkliche sind ihm weder identisch noch Gegensätze, sie kommen aber Hartmann zufolge nicht „ohne einander“ (S. 50) vor, und genau so sei auch die These des megarischen Möglichkeitsbegriffes zu verstehen. Insofern gilt für Hartmann und auch für die Megariker gemäß der Interpretation Hartmanns, „dass in der realen Welt das, was möglich ist, auch wirklich sein muss – genau so wie das, was wirklich ist, doch zum mindesten auch möglich sein muss.“ (S. 50) Möglich im Sinne einer „Realmöglichkeit“, also unabhängig von dem rein logischen Begriff des disjunktiven Möglichen, wonach gilt: etwas ist oder ist nicht, möglich im Sinne einer „Realmöglichkeit“ ist insofern für Hartmann so wie für die Megariker nur das, was wirklich ist oder wirklich werden wird. Deshalb fühlt sich Hartmann auch zu der These berechtigt, dass es das „bloß Mögliche“ in der realen Welt gar nicht gebe. „Dafür mag Spielraum sein in der Abstraktion, im Begriff, im logischen Verhältnis – und wenn schon im Seienden, so höchstens in einem idealen Reich zeitloser Wesensformen nach Art des Platonischen –, aber nicht in der Welt, in der wir leben.“ (S. 53) Möglich im Sinne der Realmöglichkeit meint demnach etwas anderes als das bloße Sein-Können oder Nicht-Sein-Können der logischen Disjunktion, nämlich gerade nicht „so oder auch anders sein können, sondern gerade: so und nicht anders sein können. […] Es mag etwas noch so sehr denkmöglich oder logisch möglich sein, was durchaus unwirklich ist; realmöglich ist es doch erst, wenn es wirklich ist oder im Begriffe wirklich zu werden. Ein ‚bloß Mögliches‘ gibt es in der Realwelt nicht. Das wird durch die ungenaue Redeweise des Alltags verdeckt, obgleich wir es im Grunde sehr wohl wissen. Wir sagen von einem Stein, der dicht am Abhange ruht, er ‚könne‘ hinunterrollen und dabei etwa die und die Zerstörungen anrichten; wir wissen aber dabei, dass er in Wahrheit keineswegs rollen ‚kann‘, bevor irgendein Anstoß ihn aus dem Gleichgewicht bringt. Es fehlt noch ein letztes Glied in der Reihe der Bedingungen; setzt diese ein und wird die Reihe vollständig, so ‚muss‘ er auch schon rollen. Er rollt also ‚wirklich‘, sobald sein Rollen realmöglich wird.“ (S. 55 bzw. 57) Insofern wiederholt Hartmann auch ausdrücklich jenen Anspruch der megarischen Möglichkeitstheorie, wonach eben der Begriff der Möglichkeit im Sinne des Realmöglichen strikte Notwendigkeit impliziert. Franz Josef Wetz reformuliert diesen Anspruch von Hartmanns Modalontologie so: „Der Gesamtprozeß des Weltgeschehens ist ein Prozeß lückenloser Determination, die Realsphäre eine Sphäre durchgängiger Abhängigkeit. Nur dasjenige, dessen Bedingungen allesamt beisammen sind, ist bzw. wird wirklich. Fehlt auch nur eine Bedingung, so kann es nicht wirklich werden und ist mithin unmöglich.“ Denn was für den zitierten Stein gilt, das gilt Hartmanns Modalontologie zufolge für alles in der Welt. „Wie mit dem Felsen am Abhang verhält es sich nach Hartmann mit allem in der Welt, die somit als geschlossener Bedingungszusammenhang vorgestellt wird.“ Vergleiche zu den Zitaten in dieser Anmerkung: Nicolai Hartmann, „Der Megarische und der Aristotelische Möglichkeitsbegriff. Ein Beitrag zur Geschichte des ontologischen Modalitätsproblems“, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1937, Berlin 1937, S. 44–58. Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, a.a.O., S. 159. Franz Josef Wetz, „Die Begriffe ‚Zufall‘ und ‚Kontingenz‘“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. 33.

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K – D G  B „Es gibt einige wie die Megariker, welche behaupten, ein Dinge habe nur dann ein Vermögen, wenn es wirklich tätig sei, wenn jenes aber nicht wirklich tätig sei, habe es auch das Vermögen nicht; z. B. derjenige, der eben nicht baut, vermöge auch nicht zu bauen, sondern nur der Bauende, während er baut, und in gleicher Weise in den anderen Fällen. In welche unstatthaften Folgen diese [die Megariker; P. V.] geraten, ist nicht schwer zu sehen. Denn offenbar könnte hiernach niemand Baumeister sein, wofern er nicht eben baut.“5

Ebenjenem Möglichkeitsbegriff, der als das Mögliche oder Vermögende nur das zur Wirklichkeit bestimmte Mögliche oder Vermögende begreift, stellt Aristoteles seinen eigenen Begriff des Möglichen als eine vom Wirklichen strikt zu unterscheidende begriffliche Kategorie – sei’s als Modalkategorie der Logik, sei’s als Realpotenz im Sinne von dynamis6 – gegenüber. Damit ist freilich noch nicht geklärt, wie denn nun Aristoteles zufolge das Mögliche in einem näheren und positiven Sinne verstanden werden soll, wenn es eben gerade nicht mit dem Wirklichen identifiziert werden darf. Die Schwierigkeit der Beantwortung dieser Frage besteht, so wurde bereits angedeutet, darin, dass Aristoteles nicht einen, sondern mindestens zwei Begriffe des Möglichen vertritt: In seiner Ersten Analytik bezeichnet er das Mögliche als das, welches weder notwendig noch unmöglich ist, wobei er an dieser Stelle für den Begriff des Möglichen allein den griechischen Terminus endechomenon verwendet: „Mit ‚kann sein, dass…‘ und ‚möglicherweise‘ meine ich: Was zwar nicht notwendig sein muß, woraus aber, wenn man es als vorliegend setzt, deswegen nichts Unmögliches folgen muß“.7 Im gleichen Kapitel in einer anderen Passage kontrastiert Aristoteles diesen Begriff des Sein-Könnens oder des Möglichen noch schärfer dem Notwendigen: „Es wird also, was sein kann, nicht notwendig sein, und was nicht notwendig ist, ist möglich.“8 Dieses Verständnis des Möglichen als das, welches weder notwendig noch unmöglich ist, steht freilich nun bei Aristoteles selbst in einem deutlichem Kontrast zu einer Auffassung des Möglichen als das, welches allein nicht unmöglich ist, wie sie Aristoteles im dreizehnten Kapitel seiner Hermeneutik formuliert. Möglich wäre demnach – wobei Aristoteles nun in genau identischem Sinne von „möglich sein, dass“ und „sein können, dass“ spricht und dafür die beiden griechischen Begriffe dynaton und endechomenon verwendet – nicht nur das Nicht-Notwendige, sondern eben auch das Notwendige. Wie gelangt Aristoteles zu dieser zunächst erstaunlich anmutenden These?9 – Das Notwendi5 6

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Met. Θ 3: 1046 b 32–34, S. 107. Das Changieren der aristotelischen Möglichkeitstheorie und ihrer unterschiedlichen Begriffe zwischen Logik und Ontologie wird uns noch am Beginn des dritten Kapitels dieser Arbeit ausführlich beschäftigen, wenn wir erläutern, inwiefern ein Begriff des possible logicum im Sinne des Denkmöglichen die Schöpfungstheologie der Scholastik fundiert, hat uns aber in diesem Kapitel für die angestrebte semantische Klärung dessen, was Aristoteles meint, wenn er etwas als möglich bezeichnet, nicht näher zu interessieren. Analyt. priora 13: 32 a 18–20. Ich zitiere im folgenden nach Aristoteles, Organon. Band 3/4. Erste Analytik; Zweite Analytik, herausgegeben von Hans Günter Zekl, Hamburg 1998, S. 53 f. Analyt. priora 13: 32 a 27–30, S. 55. Vergleiche hierzu insgesamt De int. 13: 22 a 14–23a 26 in: Aristoteles, Organon. Band 2. Kategorien u. a., herausgegeben von Hans Günter Zekl, Hamburg 1998, S. 135–143. Ich zitiere im folgenden nach dieser Ausgabe.

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ge könne nicht nicht sein, so argumentiert Aristoteles, insofern sei es dem Unmöglichen gegenüber zu stellen, was ja wiederum grundsätzlich auch für das Mögliche gilt. Dieses theoretische Argument, welches zu einem Möglichkeitsbegriff führt, der das Notwendige gerade inkludiert, hat Wolfhart Pannenberg präzise rekonstruiert: Im dreizehnten Kapitel seiner Hermeneutik stelle sich Aristoteles die Frage, so Pannenberg, „ob nicht doch das Notwendige auch seinerseits möglich sein müsse. Das Gegenteil des Möglichen nämlich sei das Unmögliche, und es sei doch ungereimt, das Notwendige dem Unmöglichen zuzuordnen. So gelangte Aristoteles dazu, das Mögliche nicht dem Notwendigen, sondern dem, was notwendig nicht ist, entgegenzusetzen; denn zu dem Möglichen in diesem Sinne gehöre auch das Notwendige.“10 Aristoteles’ Argumentation an dieser Stelle besagt also wohlgemerkt nicht, dass das Mögliche und das Notwendige identisch sind, wohl aber dass das Notwendige als eine Form des Möglichen zu verstehen ist. Laut Aristoteles’ Hermeneutik lassen sich das Mögliche und das Sein-Können in zweierlei Sinne verstehen, einmal „als in tatsächlicher Wirkung vorhanden“, insofern nun „in tatsächlicher Wirkung das ist, was da als ‚möglich‘ ausgesagt ist“11 ; in einem anderen Sinn ist möglich das, was noch nicht in tatsächlicher Wirkung vorhanden ist, wohl aber vorhanden sein könnte. Das Mögliche im zweitgenannten Sinne „ist von einem Notwendigen ohne Zusatz nicht wahrheitsgemäß auszusprechen, das andere aber wohl.“12 Das Notwendige kann somit, so folgert Aristoteles in seiner Hermeneutik, zumindest als eine Form des Möglichen gelten. Hingegen schloss der Möglichkeitsbegriff der Ersten Analytik, wie wir oben sahen, eine Auffassung des Notwendigen als eben eine solche Form des Möglichen zwingend aus. Noch komplexer wird die aristotelische Möglichkeitstheorie dadurch, dass Aristoteles im neunten Kapitel seiner Hermeneutik seinen Begriff des Möglichen, welchen genau auch immer er dabei im Sinn haben mag13 , noch um eine zeitliche Komponente erweitert, gleichsam temporalisiert, indem er die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten für auf einzelne Gegenstände bezogene Zukunftsaussagen bestreitet.14 Gälte nämlich die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten auch für auf einzelne Gegenstände bezogene Zukunftsaussagen, ließe sich also behaupten, dass, wenn etwas sein wird, es notwendigerweise nicht nicht sein wird, „nichts hinderte dann noch die Annahme“, so bemerkt Aristoteles spöttisch, „dass einer aufs zehntausendste Jahr das

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Wolfhart Pannenberg, „Die Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit“, in: Günter Eifler, Manfred Moser und Andreas Thimm (Hg.), Zufall. Mainzer Universitätsgespräche, Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/95, Mainz 1995, S. 175 f. Vergleiche hierzu De int. 13: 23 a 6–11, S. 141. Vergleiche hierzu De int. 13: 23a 15–16, S. 143. Wetz behauptet, dass Aristoteles in De int. 9 allein den Begriff des Möglichen als das weder Notwendige noch Unmögliche temporalisiert. Vergleiche hierzu Franz Josef Wetz, „Die Begriffe ‚Zufall‘ und ‚Kontingenz‘“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 28. Vergleiche dazu insgesamt Dorothea Frede, Aristoteles und die Seeschlacht. Das Problem der Contingentia Futura in De Interpretatione 9, Göttingen 1970.

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zukünftige Eintreten von etwas behauptete.“15 Was Aristoteles mit dieser temporalen Präzisierung seines Möglichkeitsbegriffs im Sinn hat, lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Etwas ist oder ist nicht. Das gilt zweifellos für Aussagen, die sich auf die Gegenwart oder die Vergangenheit beziehen: Heute regnet es. Es ist also falsch zu behaupten, dass es nicht regnet. Ein Drittes ist nicht möglich. Oder: Gestern regnete es. Es ist also falsch zu behaupten, dass es gestern nicht regnete. Für beide Aussagen gilt offensichtlich der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Aber hinsichtlich der Zukunft kann nun gerade gelten: Es ist möglich, dass es morgen regnet oder nicht regnet. Und erst wenn wir uns übermorgen rückblickend sicher sein können, ob es am Tag zuvor regnete oder nicht regnete, können wir mit Gewissheit sagen, welche Aussage zu treffen vorgestern richtig oder falsch war. Wetz reformuliert die aristotelische Temporalisierung des Möglichkeitsbegriffs, wie sie sich im neunten Kapitel der Hermeneutik findet, so: „Das hinsichtlich Sein und Nichtsein indifferente Mögliche ist das Zukünftige. […] Nur von zukünftigen Ereignissen kann gelten, dass sie sein und nicht sein können: A und non-A sind möglich. Allerdings kann nach dem Satz des zu vermeidenden Widerspruchs nur A oder non-A wirklich werden. Es ist sowohl möglich, dass es regnet, als auch auch möglich, dass es nicht regnet. Aber entweder regnet es oder es regnet nicht. Das gegenwärtig Wirkliche und das Vergangene stehen fest und können nicht mehr nicht sein. Ihnen eignet faktische Notwendigkeit, aber keine absolute Notwendigkeit. Etwas darf also nur dann kontingent genannt werden, wenn vor Eintritt seines Wirklichwerdens eine gewisse Unbestimmtheit hinsichtlich seines Wirklichwerdens bestand.“16 Es ist, wie Aristoteles nun wiederum selbst formuliert, „nicht dasselbe (zu sagen): Alles, was ist, ist notwendig zu der Zeit, da es eben ist, und einfach so vom ‚Sein aus Notwendigkeit‘ zu sprechen.“17 Die schiere Faktizität des Vorhandenen legitimiert keine Weltanschauung, die auch die Zukunft in das Gehäuse eines alle Ambivalenzen und Möglichkeiten ausschließenden Determinismus zwänge. Aristoteles selbst wählt für die Verdeutlichung seiner These im neunten Kapitel seiner Hermeneutik eine ungleich weniger triviale Illustration als den alltäglichen Regen, nämlich das berühmte Beispiel einer Seeschlacht: „Ich sage beispielsweise: ‚Notwendig gilt: Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden, oder es wird keine stattfinden.‘ Nicht allerdings gilt: ‚Notwendig findet morgen eine Seeschlacht statt‘, auch nicht: ‚Notwendig findet keine statt‘.“18 Und im Anschluss an dieses Beispiel der Seeschlacht fasst Aristoteles am Ende des neunten Kapitels der Hermeneutik seine These bezüglich der nicht zu attestierenden Geltung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten für zukünftige Sachverhalte so zusammen: „So ist denn klar: Nicht notwendig ist bei jeder Behauptung und Verneinung von je Entgegengesetzem die eine wahr, die andere falsch; denn nicht so wie

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De int. 9: 18 b 32–35, S. 115. Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, a.a.O., S. 33. De int. 9: 19 a 25–27, S. 117. De int. 9: 19 a 29–32, S. 117.

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bei ‚ist‘-Aussagen verhält es sich auch hier, bei Aussagen über Sachverhalte, die zwar nicht sind, aber doch (dermaleinst) sein oder nicht sein können“19 . So lässt sich mit Recht behaupten, dass Aristoteles in seiner Hermeneutik das Zukünftige gleichsam als den „Aufenthaltsort“20 des wie auch immer zu verstehenden Möglichen beschreibt: „Nur hinsichtlich des Zukünftigen kann gesagt werden, dass es sowohl sein als auch nicht sein kann. Vorgerückt in die Gegenwart, ist es entweder oder es ist nicht.“21 Bereits der Versuch, Aristoteles’ unterschiedliche Begriffe und Definitionen des Möglichen zu präzisieren, gibt somit zu erkennen, dass das Mögliche, wie auch immer dieses genau zu verstehen sein mag, in einem privilegierten Verhältnis zu der zukünftigen Geschichte als Raum zukünftiger Möglichkeiten steht. Wenn die am Beginn dieses Kapitels formulierte begriffsgeschichtliche These zutrifft, dass der Begriff der Kontingenz der Latinisierung der aristotelischen Auffassungen und Begriffe des Möglichen entspringt, dann steht mithin zu erwarten, dass auch der Begriff der Kontingenz und das mit diesem Begriff Bezeichnete sich in besonderer Weise auf die zukünftige Geschichte zu beziehen und also wohl als ein konstitutives Merkmal jeder historischen Situation zu gelten haben. Indes, ist die eingangs erwähnte und soeben noch einmal wiederholte These, dass sich nämlich der Begriff der Kontingenz im Zuge einer Latinisierung des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs entwickelt, überhaupt zutreffend? Und wäre nicht unbedingt genauer nachzufragen, von welchem der skizzierten aristotelischen Begriffe von Möglichkeit die Rede ist, wenn sie für zutreffend gehalten wird? (2) Naturgemäß konnte Aristoteles den Begriff der Kontingenz, einen Begriff lateinischen Ursprungs, nicht verwenden. Was nützt demnach überhaupt, so mag man die bisherigen Ausführungen zu kommentieren geneigt sein, die Berücksichtigung der Raffinessen des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs für das Verständnis und die Präzisierung eines Begriffs lateinischen Ursprungs? Diesem Einwand lässt sich zunächst die Tatsache entgegenhalten, dass das aristotelische Verständnis des Möglichen im Zuge der Kommentierung und Interpretation der Schriften des Aristoteles und vor allem der aristotelischen Hermeneutik ab dem 4. Jahrhundert nach Christus zu neuer Prominenz gelangte. Marius Victorinus verwendete dabei wohl als erster bei seiner Übersetzung der aristotelischen Hermeneutik für den Begriff des endechomenon das lateinische „contingens“.22 Insofern hat es mit der von Georg Picht getroffenen und von Pannenberg überlieferten Bemerkung, dass der von Marius Victorinus verwendete Begriff der Kontingenz „nichts weiter als eine Übersetzung des aristotelischen Begriffs der Möglichkeit

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De int. 9: 19 b 2–4, S. 117 f. Franz Josef Wetz, „Die Begriffe ‚Zufall‘ und ‚Kontingenz‘“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 28. Ebd., S. 28. Vergleiche dazu im Detail die akribische Studie von Albrecht Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ‚contingens‘. Die Bedeutung von ‚contingere‘ bei Boethius und ihr Verhältnis zu den Aristotelischen Möglichkeitsbegriffen, Heidelberg 1938.

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darstellt“23 , durchaus ihre Richtigkeit. Diese Übersetzungsleistung wiederum ist, darauf macht Albrecht Becker-Freyseng aufmerksam, zunächst einmal verwunderlich und auch in folgenschwerer Weise uneindeutig. Denn in „seiner geläufigen Bedeutung ist das impersonal gebrauchte ‚contingere‘ ja nur auf tatsächliche Ereignisse anwendbar“24 , meint das lateinische „contingit“ also gerade nicht ein Mögliches, sondern stets ein Tatsächliches, nämlich das, was sich eben so und nicht anders ereignet oder ereignete, was eben so und nicht anders zutrifft oder zutraf. Doch wie dem auch sei: der Gebrauch von „contingens“ für das wie genau auch immer zu verstehende Mögliche des Aristoteles war seit der Übersetzung der aristotelischen Hermeneutik durch Marius Victorinus fest in der lateinischen Sprache etabliert. So hat auch Boethius den durch Marius Victorinus’ Übersetzung etablierten Begriff des „contingens“ für das Mögliche in seine beiden Kommentare zur aristotelischen Hermeneutik aufgenommen und weiter präzisiert. Mit „contingens“ meint Boethius, darauf verweist Albrecht Becker-Freyseng ebenfalls, eben nicht nur das durch den üblichen lateinischen Sprachgebrauch angezeigte Ereignishafte des „contingit“ im Sinne des „evenit“ oder „accidit“, auch nicht nur im Anschluss an Marius Victorinus’ Übersetzung des aristotelischen endechomenon ein weiter nicht präzisiertes Mögliches, ein unbestimmtes Nicht-Unmögliches. Vor allem verweist Boethius mit „contingens“ in seiner Kommentierung von Aristoteles’ Hermeneutik auf jenes Mögliche, welches Aristoteles in seiner Ersten Analytik – wie wir oben sahen – dadurch spezifiziert hatte, dass er es als das weder Unmögliche noch Notwendige beschrieb, das Notwendige in dieser Definition dem Möglichen also gerade nicht subsumierte, sondern entzog. Somit finden sich in den spätantiken Hermeneutik-Kommentaren des Boethius insgesamt drei unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs „contingens“ formuliert. Es waren demnach zwei semantische Schleusen, durch welche der Begriff „contingens“ Eintritt in die nachantike und mittelalterliche Welt, vor allem in die theologischen Diskussionen dieser Zeit fand: zunächst die Übersetzungsleistung des Marius Victorinus und später Boethius’ Kommentierung der aristotelischen Hermeneutik. Im Hinblick auf die entscheidende Rolle, die Boethius mithin für die Latinisierung der aristotelischen Begriffe und Theoreme des Möglichen zukommt, formuliert daher Becker-Freyseng durchaus zurecht die These: „Somit gehört der Terminus ‚contingens‘ zu den zahlreichen Spuren des tiefen Einflusses, den ‚der letzte Römer‘ auf die Bildungswelt des Mittelalters ausgeübt hat.“25 Eine Zwischenbilanz unserer bisherigen historischen Exkursion zum Behufe der angestrebten begriffsgeschichtlichen Präzisierung des Kontingenzbegriffs ist erreicht, der nun aber in einem systematischen Sinne erhebliche Konsequenzen eignen, insofern damit ja gesagt ist, dass der Begriff der Kontingenz seit der Zeit der Spätantike und prägend wirksam vor allem für die frühen Diskussionen der scholastischen Theologie in jedem Falle 23

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Auf die Bemerkung von Georg Picht verweist Pannenberg. Vergleiche dazu Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, Gütersloh 1970, S. 74. Albrecht Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ‚contingens‘. Die Bedeutung von ‚contingere‘ bei Boethius und ihr Verhältnis zu den Aristotelischen Möglichkeitsbegriffen, a.a.O., S. 8. Ebd., S. 9.

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zunächst stets ein Mögliches bezeichnete und meinte, sei’s dass dabei das Notwendige als Bestandteil eines solchen Möglichen galt, Aristoteles’ Verständnis des Möglichen gemäß dem dreizehnten Kapitel der Hermeneutik entsprechend, sei’s dass dabei das Notwendige im Sinne von Aristoteles’ Verständnis des Möglichen gemäß den zitierten Passagen der Ersten Analytik als Bestandteil des Möglichen explizit ausgeschlossen wurde. Diese enge theoretische Liaison von Möglichkeits- und Kontingenzbegriff sollte sich, so wird im folgenden zu zeigen sein, sowohl für die weitere begriffsgeschichtliche Entwicklung des Kontingenzbegriffs als auch grundsätzlich für die schöpfungstheologischen Diskussionen der Scholastik zumindest anfänglich als außerordentlich wirkungsmächtig erweisen. Schon von Petrus Abaelard wird in der Frühscholastik, im frühen 12. Jahrhundert also, der Bezug des von ihm verwendeten Kontingenzbegriffs auf das Mögliche eindeutig ausgesprochen: „Contingens vero idem penitus est quod possibile.“26 In den Schriften des Albertus Magnus, im 13. Jahrhundert, findet sich der Begriff der Kontingenz ebenfalls und erlangt Prominenz vor allem in der Formel des „contingens ad utrumlibet“27 , bezeichnet also all dieses, welches möglich ist oder nicht möglich ist, all das, welches sein kann oder auch nicht sein kann, insofern es weder unmöglich ist noch notwendigerweise wirklich werden muss – ganz im Sinne ebenjener begrifflichen Definition und Auffassung des Möglichen, wie sie sich in der Ersten Analytik des Aristoteles findet. Und schließlich deutet auch Thomas von Aquin in seiner Summa Begriff und Idee der Kontingenz als das, welches sein kann oder auch nicht sein kann, als das weder Unmögliche noch Notwendige, wenn er in seiner Antwort auf quaestio LXXXVI, auf die Frage mithin, ob die menschliche Vernunft „cognoscitivus contingentium“ sei, seine für alle weiteren schöpfungstheologischen Diskussion der Zeit prägende Auffassung des Kontingenzbegriffs formuliert: „contingens est quod potest esse et non esse“28 . Während freilich Thomas’ Formulierung „quod potest esse“ deutlich die geistige Nähe von Kontingenz- und Möglichkeitsbegriff benennt, insofern sie offenkundig auf ein Mögliches, ein noch nicht Seiendes, zielt, dessen Wirklichkeit aber eben auch nicht ausgeschlossen ist, lässt die Formulierung „quod potest […] non esse“ allein und für sich genommen noch offen, ob dieses Nicht-Sein-Könnende, von dem hier die Rede ist, ein Mögliches und insofern noch gar nicht in die Wirklichkeit getretenes Seiendes meint, das nicht notwendig wirklich ist oder werden muß, wodurch der Begriff der Kontingenz in der Formulierung des Aquinaten genau jenem aristotelischen Möglichen der Ersten Analytik entspräche, welches als weder notwendig noch als unmöglich definiert wurde, oder ob vielmehr im Gegenteil dieses Nicht-Sein-Könnende ein nicht notwendiges, aber 26

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28

Petrus Abaelard, Philosophische Schriften. I. Die Logica ‚Ingredientibus‘. 3. Die Glossen zu ΠΕΡΙ ΕΡΜΗΝΕΙΑΣ, herausgegeben von Bernhard Geyer, Münster 1927, S. 494. Albertus Magnus, Liber II Perihermenias, Tract. II, in: Opera Omnia, herausgegeben von Auguste Borgnet, Paris 1890, S. 452 b. Vergleiche zur Kennzeichnung des „contingens“ als das „utrumlibet“ auch die Formulierung des Petrus Abaelard: „Quae inde contingentia, id est utrumlibet, dicuntur, quod aequaliter ad fieri et ad non fieri se habent“. Petrus Abaelard, Philosophische Schriften. I. Die Logica ‚Ingredientibus‘. 3. Die Glossen zu ΠΕΡΙ ΕΡΜΗΝΕΙΑΣ, a.a.O., S. 424. Thomas von Aquin, Opera Omnia, Band 5. Pars prima summae theologicae, Rom 1889, S. 351.

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eben doch ein bereits in die Wirklichkeit getretenes Seiendes bezeichnet und insofern gerade kein Mögliches meint. Unmissverständlicher ist in dieser Hinsicht Wilhelm von Ockhams Bestimmung des Kontingenzbegriffs: „[…] dicitur ‚contingens‘, quod potest esse vel non esse, et ita repugnat tam necessario quam impossibili“.29 Zwar legt auch diese Formulierung zunächst nicht eindeutig fest, ob sich das „potest […] non esse“, von dem bei Ockham ebenso wie bei Thomas die Rede ist, auf ein wie auch immer bestimmtes Mögliches oder auf ein wie auch immer bestimmtes Wirkliches bezieht. Aber Ockhams explizite Kontrastierung des Kontingenten mit dem Unmöglichen, wie sie die zitierte Formulierung schließlich enthält, ist sinnvoll offenkundig nur, wenn von einem Möglichen, in diesem Falle eben einem kontingenten Möglichen die Rede ist. Eine kontingente Wirklichkeit hingegen wäre doch wohl allein der Notwendigkeit sinnvoll zu kontrastieren. Ein nicht notwendiges Wirkliches lässt sich denken. Dass es hingegen keinen Sinn ergibt, etwas Wirkliches dem Unmöglichen zu kontrastieren und so mit dem Möglichen zu identifizieren, gerade dies hatte Aristoteles ja gegen den megarischen Möglichkeitsbegriff geltend gemacht. Eine kontingente Möglichkeit hingegen lässt sich durchaus plausibel sowohl der Notwendigkeit als auch der Unmöglichkeit kontrastieren, sodass also davon auszugehen ist, dass noch in Ockhams Formulierung, das Kontingente widerspreche ebenso sehr dem Notwendigen wie dem Unmöglichen, jener gedankliche Zusammenhang von Kontingenz- und Möglichkeitsbegriff, wie er sich seit dem spätantiken Anschluss an Aristoteles’ Möglichkeitstheorie eingebürgert hatte, gewahrt bleibt. Freilich lässt sich in der scholastischen Theologie mehr als lediglich eine Rezeption und Fortentwicklung der in der Spätantike inaugurierten Latinisierung des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs beobachten. Begriff und Thema des latinisierten Möglichen, Begriff und Thema der Kontingenz, gewinnen nämlich im Rahmen der theologischen Frage nach der Schöpfung der Welt eine ontologische Brisanz und Bedeutung, deren sie im Kontext der aristotelischen Diskussion des Möglichen oder auch im Zuge der spätantiken Kommentierung der aristotelischen Schriften gerade entbehrt hatten. Die logischen Raffinessen der aristotelischen Möglichkeitslehre emigrieren nun gleichsam aus dem Gebiete der Logik und wandern in schöpfungstheologische Fragestellungen ein. So gewinnt der Begriff der Kontingenz für die scholastische Theologie im Zusammenhang der Frage nach dem Grund der Existenz der Welt eine ganz neuartige Relevanz. Bevor wir jedoch die schöpfungstheologische Inanspruchnahme des Kontingenzbegriffs im dritten Kapitel dieser Arbeit noch genauer in den Blick nehmen werden30 , wollen wir in diesem Kapitel noch ein wenig bei dem Begriff der Kontingenz und den mehr begriffstechnischen Details seiner komplizierten geschichtlichen Entwicklung verweilen und diesbezüglich vor allem der Frage nachgehen, inwiefern jene enge theoretische Verknüpfung des Kontingenzbegriffs mit dem Begriff des Möglichen, welche der Sammlung der bisherigen Belegstellen als inhaltlicher Leitfaden diente, sich in diesem schöpfungs-

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Wilhelm von Ockham, Expositio In Librum Perihermenias Aristotelis, herausgegeben von Angelus Gambatese und Stephanus Brown, in: Opera Philosophica et Theologica. Volumen II, New York 1978, S. 491. Vergleiche hierzu den ersten Abschnitt des dritten Kapitels dieser Arbeit, S. 194–209.

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theologischen Kontext bewahren konnte oder vielmehr im Gegenteil an Bedeutung verlor. Lassen wir zu diesem Zweck zunächst noch einmal den bisherigen Gedankengang Revue passieren: Seit Marius Victorinus’ Übersetzung des aristotelischen endechomenon und Boethius’ Kommentierung der aristotelischen Hermeneutik bezeichnete der Begriff der Kontingenz stets ein Mögliches. Diese Auffassung von Kontingenz konnte, gänzlich unabhängig von der Frage nach dem Gegenstandsbereich oder der, wenn man so will, Sphäre dieser Kontingenz, stets zweierlei meinen und bildete insofern die skizzierte Ambiguität des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs getreulich ab. Entweder konnte Kontingenz – im Anschluss an Aristoteles’ Bestimmung des Möglichen im dreizehnten Kapitel der Hermeneutik – das meinen, was möglich ist, insofern es nicht unmöglich ist, gleichviel, ob dabei das Notwendige oder das Nicht-Notwendige als Form eines solchermaßen definierten Möglichen bezeichnet ist: contingens est, quod non est impossibile. Oder Kontingenz konnte – im Anschluss an Aristoteles’ Bestimmung des Möglichen in seiner Ersten Analytik – das meinen, was möglich ist, insofern es weder unmöglich noch notwendig ist: contingens est, quod est nec impossibile nec necessarium. Wie auch immer sowohl die Frage der Rangordnung zwischen diesen beiden Möglichkeitsbegriffen in der aristotelischen Philosophie selbst als auch die Frage nach den Folgen und dem Verhältnis ihrer jeweiligen Wirkungsgeschichte für die Bestimmung des Kontingenzbegriffs seit der spätantiken Kommentierung der aristotelischen Hermeneutik zu beantworten sein mögen, beiden Begriffen gemein ist, dass das Kontingente stets das Mögliche, also ein possibile bezeichnet. Es war folglich der Begriff der Kontingenz als ein Mögliches, entweder im Sinne eines nec impossibile oder im Sinne eines nec impossibile nec necessarium, welcher einem Urteil Heinrich Schepers zufolge „die Terminologie der Scholastik“31 und das „Gros der Schultradition“32 bis in das 13. Jahrhundert hinein bestimmte. Und eine solche im Kontext der scholastischen Schöpfungstheologie formulierte wie implizierte Auffassung von Kontingenz als ein wie auch immer zu verstehendes Mögliches hatten die soeben zitierten Verweise auf Abaelard, Albertus Magnus, Thomas und Wilhelm von Ockham ja auch allesamt nahegelegt. (3) Allerdings lässt sich nun, auch darauf macht Schepers aufmerksam, abseits dieser „Schultradition“ und zwar beginnend schon mit dem 12. Jahrhundert, eine für unser heutiges Verständnis von Kontingenz folgenschwere semantische Verschiebung des Begriffs diagnostizieren, welche sich dann vor allem in den nachfolgenden Jahrhunderten auswirken wird: Nunmehr nämlich wird erstmals eine Auffassung von Kontingenz formuliert, die mit dem Begriff der Kontingenz niemals das Mögliche und auch nicht eine bestimmte Form des Möglichen bezeichnet wissen will, sondern Möglichkeit und Kontingenz auch und gerade in terminologischer Hinsicht strikt unterscheidet, indem nun entweder von contingens oder von possibile die Rede ist, niemals aber diese Begriffe 31

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Heinrich Schepers, „Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten“, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Ernst-Wolfgang Bockenförde u. a., Basel/Stuttgart 1965, S. 331. Heinrich Schepers, „Möglichkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leibniz“, in: Filosofia 14 (1963), S. 902.

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als Synonyma verwendet werden. Sowohl zeitgleich zu der skizzierten und illustrierten scholastischen Entwicklung eines Verständnisses von Kontingenz als ein wie auch immer zu definierendes Mögliches als auch im Anschluss an die explizite Formulierung eines solchen Verständnisses machen sich also ein Verständnis und ein Begriff von Kontingenz bemerkbar, welche das Kontingente als ein auf eine spezifische Weise zu charakterisierendes Wirkliches, nämlich als das nicht notwendige Seiende oder Wirkliche definieren und mit dieser Bestimmung alles weitere Nachdenken über Begriff und Thema der Kontingenz nachhaltig beeinflussen; contingens est, quod potest non esse, so wird es noch bei Leibniz in einem Sinne heißen33 , welcher nur auf den ersten Blick noch den konstitutiven Möglichkeitsbezug etwa von Thomas’ zitierter Formel wahrt, vielmehr das contingens weder dem impossibile allein noch dem impossibile und zugleich dem necessarium kontrastiert, sondern allein dem necessarium als dem notwendigen Seienden oder Wirklichen. So wird das contingens nun geradezu als das Gegenteil des possibile betrachtet, nämlich als das, was durchaus ist, aber eben nicht notwendig ist, während für das Mögliche nun der Terminus des possibile reserviert ist. Bei Leibniz, auf den wir soeben verwiesen, handelt es sich indes um einen gleichsam post-scholastischen Protagonisten dieser neuen Auffassung von Kontingenz. Aber die begriffsgeschichtlichen Anfänge der erwähnten semantischen Innovation datiert Schepers, wie bereits angedeutet, eben auf das 12. und 13. Jahrhundert. So verweist er auf Johannes von Salisbury und dessen 1159 verfasste Schrift Metalogicon als die entscheidende Inaugurationsurkunde dieses neuartigen Kontingenzverständnisses. In dieser Schrift werde der Begriff „contingens“, so Schepers, erstmalig ausschließlich als das definiert, was nicht notwendigerweise wirklich ist, also als das nicht notwendige Wirkliche begriffen. Eine terminologische oder semantische Versöhnung oder gar Identifizierung ebendieses Kontingenzbegriffs mit den beiden skizzierten aristotelischen Vorstellungen des Möglichen wird hingegen von Johannes von Salisbury ausdrücklich abgelehnt. Schepers geht nun für ebenjenen Zeitraum, der sich von der Inauguration dieser Kontrastierung des Kontingenzbegriffs allein mit dem notwendigen Wirklichen durch Johannes von Salisbury im 12. Jahrhundert bis zu der post-scholastischen Reformulierung und Rezeption eben eines solchen Verständnisses von Kontingenz durch Leibniz erstreckt, der facettenreichen und widersprüchlichen Geschichte des Begriffs und der Auffassung von Kontingenz im Sinne des nicht notwendigen Wirklichen nach, und er weist diese Auffassung stützende Belege und Passagen auch für das 13. Jahrhundert, für Roger Bacon, Thomas von Aquin und Albertus Magnus nach, also sonderbarerweise auch für Autoren, bei denen sich in offenkundig widersprüchlicher Weise ebenfalls, ja sogar vorrangig ein Verständnis von Kontingenz als ein wie auch immer zu definierendes Mögliches formuliert findet.34 Ja, die eigentliche Pointe von Schepers begriffs- und ideengeschichtlichen Studien zu Genese und Entwicklung des Kontingenzbegriffs besteht geradezu darin, die historische Wirkungsmächtigkeit eines 33

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Vergleiche hierzu Heinrich Schepers, „Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten“, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Ernst-Wolfgang Bockenförde u. a., a.a.O., S. 331 bzw. 337. Siehe hierzu meine obigen Bemerkungen S. 51–52 in diesem Kapitel.

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neuartigen, den schöpfungstheologischen Diskussionen der Scholastik zwar entsprungenen, in seiner begrifflichen Explosivität und revolutionierenden Semantik seinerzeit aber noch gar voll zu Bewusstsein gekommenen Verständnisses von Kontingenz zu rekonstruieren und unter Beweis zu stellen, um so auf den begriffsgeschichtlichen Siegeszug und die schließlich mit Beginn der Frühen Neuzeit sich zunehmend deutlicher abzeichnende intellektuelle Dominanz eines Verständnisses von Kontingenz aufmerksam zu machen, welches eine auf Aristoteles’ Möglichkeitstheorie beruhende und in der Spätantike inaugurierte Auffassung von Kontingenz als wie auch immer zu verstehendes Mögliches verdrängt und vielmehr das nicht notwendige Wirkliche als kontingent bezeichnet und begreift. Diesem neuen Verständnis getreu mussten fortan auch terminologisch possibile und contingens strikt getrennt werden: Für die wie auch immer zu verstehenden Begriffe und Formen des Möglichen wurde nunmehr der Ausdruck possibile reserviert. Dieses possibile allein bezeichnete nun jenes Mögliche, welches noch nicht ist, aber wirklich werden kann, wenn auch nicht wirklich werden muss, während als contingens nun ausschließlich das etikettiert wurde, welches ist, aber eben nicht notwendigerweise ist. Diese kategorische Trennung von Möglichkeit und Kontingenz, von possibile und contingens, nicht nur in inhaltlicher, sondern eben auch in terminologischer Hinsicht, etablierte zwangsläufig neue Denk- und Sprachgewohnheiten. So galt es gemäß der neuen Auffassung und Verwendung des Begriffs der Kontingenz zwar als begrifflich zulässig zu behaupten: Es ist möglich, dass Schwäne schwarz sind. Es wäre dieser Auffassung gemäß aber sinnlos zu sagen: Es ist kontingent, dass die Schwäne schwarz sind, insofern und weil wir unterstellen dürfen, dass alle uns bekannten Schwäne tatsächlich und stets weiß sind. Da es ex hypothesi keine schwarzen Schwäne gibt, das Merkmal der Kontingenz aber nur für Wirkliches zutreffend sein kann, ist der Satz also sinnlos. Andererseits sind auch identische Formulierungen denkbar, in welchen sowohl das possibile als auch das contingens gleichermaßen Verwendung finden können, ohne doch sinnlos zu sein. Aber der semantische Gehalt des Ausdrucks variiert dann erheblich. Hat nämlich der Satz te esse episcopum est possibile die Bedeutung, dass der so Angeredete durchaus Bischof werden kann, insofern und weil er dieses gerade noch nicht ist, so drückt der Satz te esse episcopum est contingens gerade keine Möglichkeit aus. Vielmehr meint der zuletzt erwähnte Satz, dass der so Angeredete bereits Bischof ist, was ja – anders als die ex hypothesi ausgeschlossene Existenz von schwarzen Schwänen – durchaus zutreffend sein kann, er dies aber nicht notwendigerweise ist, es also einstmals durchaus möglich war, dass er nicht Bischof werden würde. Im Rahmen jenes begriffsgeschichtlichen Geflechts eines sukzessiven und dabei doch niemals einheitlich und widerspruchslos verlaufenden Prozesses der Transformation des Begriffs und der Auffassung der Kontingenz, den Schepers so meisterhaft beschrieben hat, hat Wolfhart Pannenberg in offenkundiger Übereinstimmung mit Schepers’ These einer historisch rekonstruierbaren, zunehmenden semantischen Divergenz von Möglichkeit und Kontingenz, von possibile und contingens, vor allem auf die entscheidende Rolle des Duns Scotus verwiesen. Bezüglich einer quellengestützten Bestätigung von Schepers’ Diagnose setzt Pannenberg damit hinsichtlich der Datierung leicht andere Schwerpunkte und hinsichtlich der wesentlichen Gewährsleute auf ganz andere Autoren. Aber der systematische Kern von Schepers’ inhaltlicher These wird von Pannenberg er-

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härtet. Mit der Theologie des Duns Scotus sei, so schreibt Pannenberg in dem bereits weiter oben zitierten Aufsatz, „der Begriff der Kontingenz nun klar vom Möglichkeitsbegriff unterschieden […] Darum heißt es bei Duns Scotus, nicht alles, was nicht notwendig und ewig ist, nenne er kontingent, sondern nur dasjenige, das ist, obwohl dessen Gegenteil der Fall sein könnte.“35 Pannenberg kommentiert die damit vollzogene, endgültige Emanzipation des Kontingenzbegriffs aus seiner möglichkeitstheoretischen Einbettung mit folgenden Worten: „Das Kontingente unterscheidet sich also vom bloß Möglichen durch seine Faktizität. Kontingent ist, was faktisch ist, obwohl es auch anders oder nicht sein könnte. Das aber gilt von allem kreatürlichen Dasein. Daher ist alle geschöpfliche Wirklichkeit kontingent und verdankt ihr Dasein letztlich dem schöpferischen Willen Gottes.“36 Duns Scotus’ Verständnis von Kontingenz als dasjenige, was ist, aber auch nicht sein könnte, fungiert insofern als begriffliche Grundlage einer Schöpfungstheologie, die in besonders radikaler Weise den Willen Gottes zu dieser Schöpfung betont. Die vor Kurzem mustergültig edierte und kommentierte Lectura I 39 ist innerhalb des Werkes des Scotisten wohl eine der eindrücklichsten Belegstellen für jene Kombination einer theologischen Affirmation der Kontingenz des Wirklichen mit einem radikalen schöpfungstheologischen Voluntarismus. So formuliert Duns Scotus dort: „Sic igitur apparet primum, quomodo est contingentia in rebus, quia a Deo, – et quid est in Deo quod est causa huius contingentiae, quia voluntas eius.“37 Unabhängig nun von all diesen begriffsgeschichtlichen Details, etwa der Frage nach der genauen Datierung des semantischen Wandels von einem dem Erbe des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs und seinen Varianten verpflichteten Kontingenzbegriff hin zu einem, wann und von wem auch immer inaugurierten und durchgesetzten Begriff von Kontingenz als Subkategorie des Wirklichen für die Zeit zwischen später Scholastik und Früher Neuzeit, ließ sich allen Ausführungen der letzten Seiten doch stets sehr deutlich entnehmen, dass auch, ja gerade von diesem neuartigen Kontingenzbegriff stets 35

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Wolfhart Pannenberg, „Die Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit“, in: Günter Eifler, Manfred Moser und Andreas Thimm (Hg.), Zufall. Mainzer Universitätsgespräche, Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/95, a.a.O., S. 166. Bei Duns Scotus heißt es genau in diesem Sinne: „[…] dico quod non voco hic contingens quodcumque non-necessarium vel non-semiternum, sed cuius oppositum posset fieri quando illud fit.“ Johannes Duns Scotus, Opera Omnia, Band II. Ordinatio. Liber primus. Distinctio prima et secunda, Rom 1950, S. 178. Vergleiche dazu auch die Ausführungen in: Wilhelm Alfred Müller, Die Wiederkehr des Zufalls, Gütersloh 1977, S. 50. Wolfhart Pannenberg, „Die Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit“, in: Günter Eifler, Manfred Moser und Andreas Thimm (Hg.), Zufall. Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/95, a.a.O., S. 166. Zitiert nach John Duns Scotus, Contingency and Freedom. Lectura I 39, herausgegeben und kommentiert von A. Vos Jaczn, u. a., Dordrecht u. a. 1994, S. 140.

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noch ein schöpfungstheologischer Gebrauch gemacht wurde. Selbstredend ließ diese gleichsam schöpfungstheologische Inanspruchnahme eines Begriffs von Kontingenz im Sinne des nicht notwendigen Wirklichen seinerzeit auch die mehr begriffstechnischen oder semantischen Aspekte dieser Diskussion, wie sie uns bislang vor allem interessierten, zunehmend in den Hintergrund treten. So war, wie wir bereits angedeutet hatten, eben spätestens für Leibniz die Frage, ob und inwiefern der Kontingenzbegriff sich seiner ursprünglichen und eben zumindest zeit- und teilweise auch von der scholastischen Tradition noch formulierten und fortgeführten möglichkeitstheoretischen Einbettung zu entledigen hat, entschieden. Für das vorrangige Erkenntnisinteresse dieses Kapitels, nämlich eine überblicksartige Darstellung der Genese und Entwicklung des Kontingenzbegriffs zu liefern, um so dem begriffsgeschichtlich nachweisbaren Gebrauch des Terminus jene systematische Nüchternheit und Präzsion angedeihen zu lassen, welche der in emphatischer Weise existentiellen Dimension38 der mit diesem Begriff verknüpften Fragestellungen nicht widerstreiten muss, vielmehr unhintergehbare Voraussetzung für eine rationale, aber eben nicht rationalistische Behandlung dieser Fragestellungen ist, bildet Leibniz daher so etwas wie einen ersten Schlusspunkt. Und dies nicht allein deshalb, weil sich in seinem Werk eine bestimmte Semantik gegen eine andere endgültig durchgesetzt hätte, sondern auch deshalb, weil er überhaupt zur Beantwortung jenes philosophischen Problems, für das er sich auf ebenjene Semantik und eben nicht auf diese beziehen zu müssen meinte, den Kontingenzbegriff wieder in das Zentrum des philosophischen Diskurses der Zeit rückte. (4) Leibniz verwendete die skizzierte, inhaltliche wie begriffliche Unterscheidung von possibile und contingens, klärte die semantische Bestimmung des contingens weiter im Kontext der Begründung seiner Theodizee auf und verhalf so dem Begriff der Kontingenz zu einer neuen ideen- und philosophiegeschichtlichen Prominenz. Das Bloßmögliche bezeichnet für Leibniz all das, was zwar möglich ist, aber nicht zur Existenz gelangt. Als kontingent hingegen lässt sich all das bezeichnen, was Gott tatsächlich geschaffen hat, obgleich er es natürlich nicht hätte schaffen müssen. „Die bloße Möglichkeit bildet gleichsam die Folie, von der die Kontingenz, als das zur Existenz gelangende Möglich-

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Heinrich Barth, der Bruder von Karl Barth, hat in seiner brillanten Studie über den Kontingenzbegriff in antiker und mittelalterlicher Philosophie zurecht auf die „kaum zu ermessende existenzielle Tragweite der Möglichkeitsproblematik“ verwiesen, indem er unter anderem ein längeres Zitat aus Alfarabis Philosophischen Abhandlungen anführt. Bei Alfarabi heißt es: „Gäbe es in der Welt keine zufälligen Dinge, d.h. solche, die keine erkennbaren Ursachen haben, so würde die Furcht und Hoffnung aufhören. Geschähe aber dies, so würde in den menschlichen Dingen durchaus keine Ordnung stattfinden, weder in der Religionslehre noch in der Verwaltung. Denn gäbe es weder Furcht noch Hoffnung, so würde keiner etwas für morgen erwerben; auch würde der Untergebene dem Befehlshaber nimmer gehorchen […] Man würde weder Gott gehorchen, noch das Gute vorziehen, da der, welcher weiß, dass das Morgende zweifelsohne sein und seinen Lauf nehmen werde, ein Tor und Narr wäre, da er ja sich abmühen würde, das zu tun, wovon er weiß, dass es keinen Nutzen bringt.“ Beide Passagen zitiert nach Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte, Band 1, a.a.O., S. 348.

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sein, abzuheben ist.“39 So muss alsdann für Leibniz zwangsläufig die Frage virulent werden, wie sich der Übergang vom Bloßmöglichen zum kontingenten Wirklichen erklären lässt. Die bekannte Antwort, welche die Leibnizsche Theodizee auf diese Frage liefert, reformuliert Schepers mit folgenden Worten: „Gott wählt seiner höchsten Weisheit und Güte gemäß das Beste. Einzig das allgemeine und erste Dekret des göttlichen Willens, das Beste zu wählen, ist als das Prinzip der Kontingenz und damit als der hinreichende außerlogische Grund für die Existenz alles Wirklichen anzusehen.“40 Die Nicht-Notwendigkeit des Kontingenten, wie sie Leibniz versteht, ist demnach vor einem nahe liegenden Missverständnis zu bewahren. Leibniz’ Satz vom zureichenden Grunde – nihil fit sine ratione – und seine Auffassung von Kontingenz widerstreiten sich nicht. Auch für das Kontingente lässt sich schließlich ein Grund angeben: Gott hat die Existenz ebenjenes Kontingenten als Bestandteil der bestmöglichen aller Welten vorgesehen, andernfalls es gar nicht existierte. Das Kontingente ist also keinesfalls indifferent, zufällig oder irrational, wiewohl auch nicht notwendig in dem Sinne, dass es unabhängig von Gottes Schöpfungswillen und Vorsehung existieren könnte. In diesem Sinne steht Kontingenz bei Leibniz „zwar der metaphysischen Notwendigkeit gegenüber, darf aber auf keinen Fall die Bedeutung von Ursachlosigkeit, Willkür oder Grundlosigkeit, selbst nicht die von Zufälligkeit erhalten, wenn in letzterem Begriff einer der drei vorigen mitgedacht wird.“41 Mit Hilfe der Arbeiten vor allem von Schepers lässt sich also zeigen, dass sich in der Begriffsgeschichte spätestens ab dem 13. Jahrhundert und dann durchgehend auch in nachfolgenden Jahrhunderten neben den beiden bislang unterschiedenen Auffassungen aristotelischer Provenienz, den Auffassungen von Kontingenz im Sinne je einer bestimmten Form des Möglichen und ihren jeweiligen intellektuellen Wurzeln in je ei39

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Heinrich Schepers, „Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten“, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Ernst-Wolfgang Bockenförde u. a., a.a.O., S. 336. Ingolf Dalferth hat Leibniz’ Kontingenzverständnis in folgender Weise reformuliert. Für Leibniz gelte: „Kontingentes […] ist im Unterschied zu Möglichem wirklich, im Unterschied zu Notwendigem dagegen so wirklich, dass an seiner Stelle unter identischen Bedingungen auch etwas anderes wirklich sein könnte.“ Im Anschluss an Leibniz’ kleine Schrift De contingentia verdeutlicht Dalferth, dass Leibniz davon ausging, mit den Modalitäten von Notwendigkeit, Möglichkeit und Kontingenz ein erschöpfendes Modalitätenschema formuliert zu haben. Vergleiche dazu Ingolf Dalferth, „Übel als Schatten der Kontigenz. Vom Umgang der Vernunft mit Widervernünftigem und Übervernünftigem“, in: Ingolf Dalferth und Philipp Stoellger (Hrsg.), Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems, Tübingen 2000, S. 127. Gottfried Wilhelm Leibniz, „De Contingentia“, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften. Band 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, herausgegeben von Hans Heinz Holz, Frankfurt a. M. 1996, 178–186. Heinrich Schepers, „Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten“, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Ernst-Wolfgang Bockenförde u. a., a.a.O., S. 337. Johannes Seifen, Der Zufall – eine Chimäre? Untersuchungen zum Zufallsbegriff in der philosophischen Tradition und bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Sankt Augustin 1992, S. 124.

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nem aristotelischen Begriff der Möglichkeit, noch eine weitere, gleichsam eine „dritte“ Auffassung von Kontingenz formuliert findet: an die Seite jener Auffassung, wonach kontingent ist, was möglich ist, insofern es weder notwendig noch unmöglich sei (contingens est, quod est nec impossibile nec necessarium), und an die Seite jener Auffassung, wonach kontingent ist, was möglich ist, insofern es nicht unmöglich ist (contingens est, quod non est impossibile), an die Seite jener beiden möglichkeitstheoretisch eingebetteten Auffassungen von Kontingenz, welche das Kontingente als das Mögliche begreifen, sei’s dass dabei das Notwendige als Form des Möglichen zugelassen wird, sei’s dass dabei das Notwendige ausgeschlossen wird, an die Seite jener beiden Auffassungen tritt seit Mitte des 12. Jahrhunderts beginnend mit der erwähnten Schrift des Johannes von Salisbury und sich sodann über Jahrhunderte hinweg perpetuierend eine Semantik, welche das Kontingente geradezu als Gegenbegriff zum Möglichen, also als Subkategorie des Wirklichen begreift: als das, was wirklich ist, aber eben nicht notwendigerweise wirklich ist, eine Semantik, der spätestens Leibniz zur begriffsgeschichtlichen Vorrangstellung verholfen hatte; „contingens est, quod potest non esse“, so glaubt Leibniz sein Kontingenzverständnis auf den Begriff bringen zu können oder – wie man auch und präziser formulieren könnte – contingens est, quod non est necessarium. Kontingent in diesem dritten Sinne ist demnach, was wirklich, aber nicht notwendig wirklich ist, während nun das, was möglich, weil nicht unmöglich ist, allein mit dem Terminus possibile belegt zu werden pflegt. Einem solchen nicht notwendigen, aber eben in die Wirklichkeit getretenem Seienden lässt sich einzig das necessarium noch sinnvoll kontrastieren, während es gänzlich unklar bliebe, was es heißen soll, ein derart definiertes contingens einem impossibile zu kontrastieren.42 Diese gleichsam „dritte“ Auffassung des contingens ist also strikt von allen Varianten, Rezeptionen und Fortentwicklungen des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs zu unterscheiden.43 Zumal für Leibniz gilt: „Kontingentes ist Verwirklichtes, schon Seiendes, das freilich auch anders hätte verwirklicht werden oder sein können. Das endechomenon ist jedoch ein verschiedener Möglichkeiten Fähiges, somit Noch-nicht-Verwirklichtes.“44 (5) Die begriffliche Kontrastierung von Möglichkeit und Kontingenz, von possibile und contingens, deren begriffsgeschichtliche Inauguration lange vor Leibniz und deren spätere schöpfungstheologische wie theodizeetheoretische Inanspruchnahme Schepers so meisterhaft und gründlich erforscht hat, sie hat, wie die bisherigen Ausführungen zu Leibniz bereits versteckt deutlich werden ließen, Auswirkungen auf das theoretische Verhältnis des Kontingenzbegriffs zu jenem zweiten für unsere Untersuchung insgesamt zentralen Begriff, dem Begriff des Zufalls. Und diese Auswirkungen an dieser Stelle zu 42

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Vergleiche hierzu meine weiter oben auf S. 52 in diesem Kapitel geäußerte Skepsis bezüglich der Eindeutigkeit von Thomas’ Formulierung „quod potest […] non esse“. Was im Umkehrschluss nahelegt, dass eine explizite Kontrastierung von Kontingenzbegriff und Kategorie der Unmöglichkeit heißt, dass der Autor den Kontingenzbegriff sehr wohl noch möglichkeitstheoretisch eingebettet wissen will. Vergleiche hierzu meine Interpretation von Ockhams im Vergleich zu Thomas eindeutigerem Verständnis von Kontingenz auf S. 51–52 in diesem Kapitel. Johannes Seifen, Der Zufall – eine Chimäre? Untersuchungen zum Zufallsbegriff in der philosophischen Tradition und bei Gottfried Wilhelm Leibniz, a.a.O., S. 133.

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konstatieren ist notwendig, wiewohl die Genese und Geschichte des Zufallsbegriffs sich keinesfalls der erwähnten Kontrastierung von Möglichkeit und Kontingenz allein verdankt, sondern weitaus früher einsetzt. Wir wollen auf die Ideen- und Begriffsgeschichte des Zufalls – und zwar von ihren frühesten Anfängen an – sogleich im nächsten Kapitel dieser Arbeit eingehen. Und wir werden dabei für die begriffs- und ideengeschichtliche Präzisierung des Zufalls in diesem nächsten Kapitel analog zu dem Verfahren dieses Kapitels uns ebenfalls stark an Aristoteles orientieren, insofern dieser nicht nur eine Theorie der Möglichkeit oder auch mehrere Möglichkeitstheorien mit Hilfe der Begriffe von dynaton und endechomenon präsentiert, sondern auch eine bis heute unübertroffene Klärung der Theorie und des Begriffs des Zufalls formuliert, wofür seiner Philosophie wiederum die Begriffe von tyche, automaton und symbebekos entscheidend werden. Immerhin aber ist die Geschichte des Zufallsbegriffs sinnvoll in eine Geschichte des Kontingenzbegriffs zu integrieren, ja sie muss – während dies umgekehrt gerade nicht der Fall ist – in eine solche integriert werden, weil nur so die jeweilige differentia specifica dieser beiden Begriffe verständlich wird. Warum ist dies so? Die beschriebene Kontrastierung von Kontingenz und Möglichkeit und die damit verbundene semantische und inhaltliche Annäherung des Kontingenzbegriffs an ein nicht notwendiges Wirkliches oder Seiendes, sie machen eine begriffliche und theoretische Annäherung des Kontingenzbegriffs an die Idee des Zufälligen oder des Zufalls doch insofern immer wahrscheinlicher, als diese letztere zwar mit ganz unterschiedlichen Termini etikettiert werden kann, aber dabei doch wohl immer ebendieses nicht notwendige Wirkliche charakterisieren soll. Zwar hatten wir soeben für Leibniz noch bemerkt, dass seine theodizeetheoretische Inanspruchnahme des Kontingenzbegriffs bei gleichzeitiger Beibehaltung des Satzes vom zureichenden Grunde ihn zu einer strikten Ablehnung jedes Gedankens an einen grund- und ursachelosen Zufall in dieser Welt zwingt. Aber auch Leibniz konnte nicht verhindern, dass die theoretische und semantische Grenze zwischen einer Auffassung von Kontingenz als nicht notwendig in die Wirklichkeit getretenes Seiendes und dem Begriff und der Idee des Zufalls, welche justament in dieser Weise verstanden wurden, insofern als zufällig eben für gewöhnlich genau dies bezeichnet wird, was geschieht oder geschehen ist, aber eben – wie auch immer dies zu definieren ist – zufällig geschieht oder geschehen ist, nicht aber das, was noch nicht geschehen ist, möglicherweise aber geschehen könnte, dass diese theoretische und semantische Grenze zwischen den Begriffen von Kontingenz und Zufall zunehmend in einer auch terminologisch folgenreichen Weise übersehen wurde, die zunächst darin gipfelte, dass Kant justament dies als Zufälligkeit bezeichnete, was bei Leibniz als das Kontingente benannt wurde, bis diese theoretische und semantische Grenze schließlich in der zeitgenössischen Philosophie gänzlich fallen gelassen oder sogar explizit abgelehnt werden sollte. Zu einem besonders auffälligen Fall der angedeuteten Unaufmerksamkeit für die wie auch immer zu bestimmende differentia specifica der Begriffe von Kontingenz und Zufall, deren terminologische Pointe schließlich darin besteht, an Stelle des Kontingenzbegriffs, wie ihn Leibniz gebraucht, eben den Begriff der Zufälligkeit zu setzen, kommt es also bei Kant. Und mit der Schilderung, wie sich diese Unaufmerksamkeit bei Kant ergibt und welche terminologischen Konsequenzen sie zeitigt, gelangt unser begriffsgeschichtliches Präzisierungsunternehmen, welches sich der Geschichte und der Genese

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des Kontingenzbegriffs zunächst unabhängig von der Geschichte und der Genese von Idee und Begriff des Zufalls widmete, an sein natürliches Ende und leitet schließlich zu der Beschäftigung mit dem Zufall im nächsten Kapitel über. Kant stellt in seiner Kritik der reinen Vernunft folgendes Modalitätenschema auf:45 Möglichkeit – Unmöglichkeit Dasein – Nichtsein Notwendigkeit – Zufälligkeit Um die theoretische Pointe von Kants Modalitätenschema zu verstehen, ist die von Walter Bröcker gelieferte Interpretation hilfreich.46 Der „Gegenstande überhaupt (problematisch genommen, und unausgemacht, ob er etwas oder nicht sei)“47 wird von Kant dem angedeuteten Schema gemäß zunächst in zweierlei Modalitäten aufgeteilt: das Mögliche und das Unmögliche. Das Mögliche wird sodann von Kant in das wirklich Dasein Erlangende und das nur potenziell Seiende, also das Nichtsein, eingeteilt. Allein für das wirklich Daseiende, nicht für das Potenzielle, also das Nichtseiende, unterscheidet Kant sodann zwischen notwendigem Dasein und nicht notwendigem Dasein. Und eben für dieses letztere, dieses nicht notwendige Dasein, verwendet Kant nun den Begriff des Zufälligen. Kant reserviert somit in der Modalitätentafel seiner Kritik der reinen Vernunft den Begriff des Zufälligen für jenes nec necessarium, für jenes nicht notwendige Seiende oder Wirkliche, welches noch Leibniz zum Zwecke seiner Theodizee allein mit dem Begriff der Kontingenz bezeichnete. In Kants Modalitätenschema wird mit dem Begriff des Zufälligen mithin justament jene theoretische Stelle benannt, die bei Leibniz für den Begriff der Kontingenz reserviert war. Einigkeit hingegen besteht zwischen Kants Modalitätentafel in der Kritik der reinen Vernunft und Leibniz’ theodizeetheoretischer Inanspruchnahme des Kontingenzbegriffs hinsichtlich der grundsätzlichen Auffassung von Kontingenz bzw. Zufall im Sinne einer Subkategorie des Seienden einerseits und der grundsätzlichen Abgrenzung eines so verstandenen Zufalls oder einer so verstandenen Kontingenz von dem Begriff der Möglichkeit im Sinne des nicht unmöglichen, aber noch nicht Seienden andererseits.48 Kontingenz für Leibniz und Zufälligkeit für Kant, sie bezeichnen nun gleichermaßen das nicht notwendige Wirkliche oder Seiende. Für die Möglichkeit oder das Mögliche hingegen im Sinne dessen, was noch nicht ist, aber gleichwohl nicht unmöglich ist, wird weder der Begriff der Kontingenz von Leibniz noch derjenige des Zufalls von Kant in Anspruch genommen. Im Zuge dieser begriffsgeschichtlichen Entwicklung einer zunehmenden theoretischen Unaufmerksamkeit für die inhaltlichen und semantischen Grenzen zwischen den Be45

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Kritik der reinen Vernunft, B 107, A 81. Hier zitiert nach Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1. Werkausgabe. Band III, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 119. Vergleiche dazu Walter Bröcker, „Das Modalitätenproblem“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (1946), S. 37. Kritik der reinen Vernunft, B 346, A 290. Hier zitiert nach Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1. Werkausgabe. Band III, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, a.a.O., S. 306. Vergleiche dazu ebenfalls Walter Bröcker, „Das Modalitätenproblem“, in: a.a.O., S. 41 f.

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griffen von Kontingenz und Zufall, die schließlich darin gipfelt, den Kontingenzbegriff im Sinne einer Subkategorie des Wirklichen, nämlich im Sinne jenes nec necessarium Wirklichen, durch den Begriff des Zufalls schlechterdings zu ersetzen, ist schließlich auch die Entwicklung zu einer ganz expliziten Gleichsetzung der Begriffe von Kontingenz und Zufall nicht mehr zu bannen, wie sie der zeitgenössischen Philosophie zu entnehmen ist. Ausführliche Belegstellen für eine nunmehr ganz explizite begriffliche Amalgamierung und Gleichsetzung von Kontingenz und Zufall sind an dieser Stelle nicht zu sammeln. Aber immerhin erwähnt werden soll, dass Odo Marquard, Hermann Lübbe, Rüdiger Bubner und Richard Rorty, mithin vier Autoren, die ganz sicherlich im Zentrum jeder zeitgenössischen philosophischen Reflexion über die Themen, Ideen und Begriffe von Kontingenz und Zufall stehen müssen49 , zwischen den Begriffen von Kontingenz und Zufall keinesfalls differenzieren, sie vielmehr – teilweise ganz bewusst und offensiv, teilweise wohl eher unabsichtlich – als bedeutungsgleiche verwenden. Entweder, so scheinen Lübbe, Marquard, Bubner und Rorty in den diesbezüglich relevanten Passagen zu suggerieren, ist die theoretische und semantische Differenz zwischen den Begriffen von Kontingenz und Zufall derart evident, dass sie nicht eigens thematisiert werden müsste, oder sie muss nicht thematisiert werden, weil sie ohnehin nicht sinnvoll ist. Beides aber ist, wie wir zu insistieren nicht müde werden und am Ende dieses Kapitels noch einmal abschließend begründen wollen, unzutreffend. Wohl am konsequentesten aus dem Quartett der genannten Autoren verfährt Hermann Lübbe, wenn er in Religion nach der Aufklärung schreibt: „Es soll äquivalent mit Kontingenz auch von Zufall die Rede sein dürfen.“50 Im Grunde nicht weniger eindeutig verfährt Odo Marquard. In dem „Vorwort“ zu dem von ihm mit herausgegebenen Tagungsband Kontingenz wiederholt Marquard 1998 seine 1984 erstmals vorgetragene Differenzierung von „Schicksalszufälligem“ und „Beliebigkeitszufälligem“ und spricht nun in genau bedeutungsidentischem Sinne von „Schicksalskontingenz“ und „Beliebigkeitskontingenz“.51 Dabei soll unsere Aufmerksamkeit an dieser Stelle weniger Marquards Differenzierung zwischen diesen beiden Typen von Kontingenz oder Zufall gelten, welche freilich im weiteren Verlauf dieses Buches noch von zentraler Bedeutung sein wird52 , als vielmehr der Tatsache, dass Marquard die Begriffe von Kontingenz und Zufall offensichtlich als identische gebrauchen zu können meint. Als Belegstelle schließlich für Richard Rortys mangelhafte Differenzierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall, ja in diesem Falle wohl eher unabsichtliche Gleichsetzung dieser beiden Begriffe, sei eine Passage aus Kontingenz, Ironie und Solidarität angeführt. Im Rahmen seiner Diskussion und Interpretation von Orwells 1984 schreibt Rorty zunächst: 49

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Vergleiche dazu das gesamte letzte Kapitel dieser Arbeit Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbewältigungspraxis und eine Erinnerung an William James. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, München 2004 (1986), S. 152. Vergleiche hierzu Odo Marquard, „Vorwort“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. xiv. Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 117–139. Vergleiche hierzu etwa den Beginn des fünften Kapitels dieser Arbeit und den dritten Abschnitt des dritten Kapitels, S. 279–324.

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„Orwell hilft uns zu sehen, dass die Herrschaft in Europa nur zufällig in die Hände derer kam, die Mitleid mit den Gedemütigten hatten und von der Gleichheit der Menschen träumten, dass aber wieder ein Zufall wollen kann, dass die Welt am Ende von Menschen regiert wird, die solche Gefühle und Ideen nicht haben.“53 Einige Sätze später führt Rorty diese These in unmittelbar aufeinander folgenden Sätzen und ganz offensichtlich ohne eine erkennbare inhaltliche oder semantische Differenzierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall in folgender Weise näher aus: „Dass man eines Tages glauben könne, es sei grundverkehrt, als unterhaltsames Schauspiel zu betrachten, wie Menschen von Tieren in Stücke gerissen werden, das war vor Zeiten eine unwahrscheinliche historische Kontingenz. Orwell öffnet uns die Augen dafür, dass es sich vielleicht nur zufällig ergeben hat, dass Europa anfing, das Gefühl des Wohlwollens und die Vorstellung einer allen gemeinsamen Menschlichkeit hochzuschätzen, und dass es sich möglicherweise ebenso ergeben kann, dass die Welt eines Tages von Menschen regiert wird, denen dieses Gefühl und diese Moralvorstellungen abgehen.“54 Rüdiger Bubners Terminologie in Geschichtsprozesse und Handlungsnormen schließlich ist weitaus komplexer und auch uneindeutiger als die der genannten drei Autoren, aber deshalb doch ebenfalls nicht von einem Gefühl für die jeweilige differentia specifica der Begriffe von Kontingenz und Zufall grundiert. Bubner unterscheidet zwischen dem Zufall und dem Bereich des Anders-Sein-Könnens, in dem sich dieser Zufall ereignet. Dieses Anders-Sein-Können eröffnet laut Bubner dem Handeln einen Spielraum von Möglichkeiten, und in diesem Spielraum kann sich etwas ereignen, was Bubner eben dann in identischem Sinne, wenn auch wahlweise und in unsystematischer Weise changierend, als Zufall oder Kontingenz bezeichnet: „Zufälle liegen im Bereich dessen, was auch anders sein kann (ενδέχεται άλλως έχειν). Was nicht anders sein kann, folgt nämlich einer Regel oder ist gar schlechthin notwendig. Beides ließe sich vorhersehen und somit machte der Zufall dem theoretischen Nachweis Platz. Die Rede vom Kontingenten verwechselt häufig die Bereichsangabe mit dem Zufall selbst. Kontingent ist streng genommen nicht das, was sich so oder anders verhalten kann, ohne schon eingetreten zu sein, sondern das grundlose Eintreten einer der beliebigen Alternativen. Die Differenz ist deshalb von Bedeutung, weil der Bereich des Anders-Sein-Könnens eben derselbe Bereich ist, in dem das Handeln sich bewegt. Handeln und Zufall sind aber nicht dasselbe, sondern haben nur den Bereich gemeinsam, in dem sie sich realisieren.“55 53 54 55

Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1992 (1989), S. 299. Ebd., S. 299 f. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, S. 38. Johannes Seifen hat in der bereits zitierten Untersuchung grundsätzliche Sympathie für Bubners Versuch einer Präzisierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall geäußert. Seifens eigene ter-

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(6) Dass sich die inhaltliche und semantische Differenz der Begriffe von Kontingenz und Zufall nicht von selbst versteht, zeigt die begriffliche und theoretische Gleichsetzung – ob bewusst oder unabsichtlich formuliert – der Begriffe von Kontingenz und Zufall, wie sie die façon de parler der zeitgenössischen Philosophie unzweifelhaft prägt. Gegen eine zunehmende theoretische wie terminologische Unaufmerksamkeit für die jeweilige differentia specifica der Begriffe von Kontingenz und Zufall, die schließlich in eine solche explizite Gleichsetzung der Begriffe von Kontingenz und Zufall mündet, ist im Sinne der erstrebten begriffsgeschichtlichen Präzisierungsabsicht dieses Kapitels jedoch abschließend Folgendes festzuhalten: Die Rekonstruktion der Geschichte des Kontingenzbegriffs von den komplizierten Varianten der aristotelischen Möglichkeitstheorie und deren spätantiken Kommentierung und Latinisierung über die schöpfungstheologische Rede von Kontingenz in der Scholastik bis hin zur theodizeetheoretischen Inanspruchnahme des Kontingenzbegriffs in der Frühen Neuzeit hatte im Verlaufe dieses Kapitels jene theoretische Weggabelung benannt, an der sich drei unterschiedliche Bedeutungen von Kontingenz präzise bestimmen ließen:56 So lässt sich der Begriff der Kontingenz – wie dies etwa Leibniz tat – dem Begriff des Möglichen kontrastieren und allein im Hinblick auf die Negation der Notwendigkeit bestimmen. Kontingenz wäre demnach allein das, was tatsächlich oder wirklich ist, aber nicht notwendigerweise tatsächlich oder wirklich zu sein bräuchte, also allein das auf ein Wirkliches oder ein die Wirklichkeit getretenes Seiendes bezogene nec necessarium. Diese Aufkündigung der traditionellen möglichkeitstheoretischen Einbettung des Kontingenzbegriffs führt aber nun zu zwei erheblichen theoretischen Folgelasten: Wird der Begriff der Kontingenz nämlich in dieser Weise verwendet, wird zum einen unklar, inwiefern sich dann für Begriff des Zufalls noch eine semantisch unhintergehbare differentia specifica angeben lässt, welche durch den Begriff der Kontingenz nicht abgedeckt wäre. Denn auch der Zufallsbegriff bezieht sich doch wohl stets auf ein wie auch immer zu verstehendes nec necessarium. Zum anderen hätte eine Emanzipation des Kontingenzbegriffs aus seiner anfänglichen möglichkeitstheoretischen Einbettung zu begründen, weshalb die ehedem durch den Begriff der Kontingenz benannte Dimension des Möglichen durch ebendiesen Begriff begriff-

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minologische Empfehlung wiederum variiert Bubners Terminologie dergestalt, dass er anders als Bubner den Terminus Zufall allein für das zufällige Ereignis reservieren will, die Rede von Kontingenz wiederum in „doppelter Bedeutung“ nicht nur – wie offensichtlich auch Bubner – auf die „Verfasstheit eines Sachverhaltes“ beziehen, sondern eben auch auf die „Bereichskategorie“, auf das, was bei Bubner als das Anders-sein-können bezeichnet wird, beziehen will. Auch in diesem Vorschlag kann ich jedoch keine grundsätzliche Lösung für die Präzisierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall im Sinne einer intrinsischen Differenzierung erkennen. Für Seifens Kritik an Bubners mangelhafter terminologischer Präzision und seinen eigenen begrifflichen Vorschlag vergleiche Johannes Seifen, Der Zufall – eine Chimäre? Untersuchungen zum Zufallsbegriff in der philosophischen Tradition und bei Gottfried Wilhelm Leibniz, a.a.O., S. 14 bzw. S. 9. Für meine Skepsis gegenüber Seifens wie Bubners Versuchen zur Präzisierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall im Sinne der Unterscheidung von Bereichsangabe und Ereignis vergleiche auch meine ausführliche Auseinandersetzung mit Arnd Hoffmanns ebenfalls im deutlichen Anschluss an Bubner formulierten Differenzierungsversuch der Begriffe von historischer Kontingenz und historischem Zufall im vierten Kapitel dieser Arbeit, S. 335–337. Vergleiche hierzu oben S. 58–59 in diesem Kapitel.

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lich nicht mehr angemessen gefasst werden können soll. Soll in Abwehr dieser beiden theoretischen Folgelasten einer theoretischen und semantischen Unaufmerksamkeit für die jeweilige differentia specifica der Begriffe von Kontingenz und Zufall jedoch erstens die begriffsgeschichtlich naheliegende, weil lange Zeit akzeptierte Intuition gewahrt bleiben, dass die Begriffe von Kontingenz und Zufall unterschiedliches bezeichnen und deswegen zumindest prinzipiell, wenn auch in einer noch genauer zu klärenden Weise, in unterschiedlicher Weise verwendet werden sollten, und kann zweitens die ebenfalls auf eine reiche begriffsgeschichtliche Tradition sich stützen könnende Intuition als plausibel gelten, dass dem Begriff der Kontingenz die Dimension eines noch nicht Wirklichen, aber eben doch Möglichen eignet, dann empfiehlt sich nun im Sinne einer systematischen Grenzziehung zwischen den Begriffen von Kontingenz und Zufall und im Sinne einer intrinsischen Differenzierung die Beschränkung des Zufallsbegriffs auf ebendieses nicht notwendige Wirkliche, auf das nec necessarium einerseits – und dass auch diese grundsätzliche Bestimmung noch gänzlich heterogene Begriffsverwendungen offen lässt und ihr insofern noch keinerlei wortgebrauchsprinzipiell klärende Kraft innewohnt, dies werden wir sogleich im nächsten Kapitel dieser Arbeit ausführlich belegen –, die Reservierung des Kontingenzbegriffs für ein spezifisches Mögliches, das eben nicht faktisch ist, andererseits. Diese Differenzierung erscheint mir die die gebotene semantische Konsequenz aus einem begriffsgeschichtlichen Befund zu sein, den Ingolf Dalferth und Philipp Stoellger in zustimmungsfähiger Weise so resümiert haben: „Die Rede von Kontigenz und die von Zufall gehören zu verschiedenen Sprachspielen, auch wenn diese in der Geschichte europäischen Denkens mannigfach verschränkt und kombiniert wurden.“57 Selbst unter Wahrung dieser grundsätzlichen Empfehlung kann indes der Begriff der Kontingenz, daran gemahnten die Ausführungen dieses Kapitels immer wieder, noch in zweierlei Weise verstanden werden: nämlich erstens so, dass das Kontingente als das Mögliche das Notwendige umgreift, oder zweitens so, dass das Kontingente das Notwendige ausschließt. Kontingenz wäre also erstens entweder als das Nicht-Unmögliche, das nec impossibile, oder zweitens als das nicht notwendige Nicht-Unmögliche, das nec impossibile nec necessarium, zu bestimmen. Mir erscheint es nun plausibel, die zuletzt genannte Variante eines möglichkeitstheoretisch fundierten Kontingenzbegriffs für die theoretisch überlegene zu halten. Denn es ist wohl nur schwer einsichtig zu machen, was mit einer notwendigen Möglichkeit gemeint sein kann.58 Wie aber steht es nun um die Präzisierung des Zufallsbegriffs, die Klärung seiner semantischen Vielfalt? Wie stellt sich dessen begriffs- und ideengeschichtliche Genese und Geschichte dar? Die theoretische Konsequenz aus dem soeben vorgetragenen Plädoyer für eine semantische Grenzziehung und intrinsische Differenzierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall, welche letzteren auf ein nicht notwendiges Seiendes oder Wirkliches beschränkt, beantwortet derartige Fragen noch keineswegs. Sind also diesbezüglich 57

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Ingolf Dalferth und Philipp Stoellger, „Einleitung: Religion als Kontingenzkultur und die Kontingenz Gottes“, in: Ingolf Dalferth und Philipp Stoellger (Hrsg.), Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems, a.a.O., S. 5. Vergleiche zu meinen diesbezüglichen Argumenten, die letztlich auf Aristoteles’ Einwände gegen die Megariker rekurrieren, in diesem Kapitel die Passagen auf S. 51 f., die Thomas’ und Ockhams Kontingenzbegriff erörtern.

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weitere begriffsgeschichtlich verfahrende Präzisierungen vorzunehmen? Derartigen Fragen soll im nächsten, im zweiten Kapitel dieser Arbeit nachgegangen werden, bevor dann im übernächsten Kapitel mögliche Sphären der nunmehr ausreichend begriffsgeschichtlich rekonstruierten Begriffe von Kontingenz und Zufall in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken.

II Tyche – Die griechischen Wurzeln des Zufallsbegriffs

„Zufällig kam jemand nach Ägina, wenn er nicht deshalb hinkam, weil er wollte, sondern vom Sturme verschlagen oder von Räubern verschleppt.“ Aristoteles, Metaphysik Kontingenz bei Leibniz und das Zufällige bei Kant, sie werden, so sahen wir im vorangegangenen Kapitel, als Antithesis des necessarium, als das nicht notwendige Seiende und Wirkliche begriffen. Das Mögliche als Bedeutungsdimension des Kontingenzbegriffs scheidet bei Leibniz, das Mögliche als Bedeutungsdimension des Zufallsbegriffs scheidet bei Kant aus. Aber welche Art von Notwendigkeit kann eigentlich sinnvoll präsupponiert werden, durch deren Ermangelung sich die Begriffe von Zufall und Kontingenz, wenn wir sie denn so verstehen dürfen, wie Kant und Leibniz dies vorschlagen, nämlich als das nicht notwendige Wirkliche, auszeichnen sollen? Welche Arten von Notwendigkeit wurden tatsächlich ideen- und begriffsgeschichtlich nachweislich präsupponiert, wenn die Begriffe des Zufalls oder der Kontingenz als Privation ebendieser Notwendigkeit, als nec necessarium bestimmt wurden? Eine systematisch ambitionierte, wenngleich begriffsgeschichtlich verfahrende Klärung der Frage, was denn genau mit dem Begriff des Zufalls angesichts seiner Opposition zum Begriff der Notwendigkeit und wiederum dessen Bedeutungsvielfalt gemeint sein kann, hätte an ebendieser Stelle einzusetzen. Welcher Mangel von Notwendigkeit ist es, den wir unterstellen, wenn wir von Zufall sprechen und zurecht sprechen zu können meinen? Wie ist das nec necessarium des Zufallsbegriffs genauer zu bestimmen? Oder ist dieser Sprachgebrauch ohnehin unzulässig, wie etwa Fritz Mauthner paradigmatisch formulierte, als er in seinem Wörterbuch der Philosophie den Gebrauch der Zufallsterminologie gar im Sinne eines Lackmustestes für philosophische Seriosität verwendet wissen wollte? Wer philosophisch denkt, der, so Mauthner, spricht nicht vom Zufall, und wer vom Zufall spricht, ist kein Philosoph: „Alle klaren Denker haben seit Jahrtausenden ausgesprochen, dass es einen Zufall in der Wirklichkeit nicht gebe, dass der Zufall ein relativer, ein menschlicher Begriff sei, gebildet, unsere Unwissenheit zu verschleiern.“1

1

Fritz Mauthner, „Artikel: Zufall“, in: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 2. Band, München/Leipzig 1910, S. 634.

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Mauthner bewegt sich damit am Beginn des 20. Jahrhunderts im juste milieu der philosophiehistorisch spätestens seit Hegels Diktum, die philosophische Vernunft habe „keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen“2 , sanktionierten Mehrheitsmeinung. Ganz ähnlich wie Mauthner und Hegel hatten es vor Mauthner und nach Hegel im 19. Jahrhundert, um nur diese zwei Namen der Philosophiegeschichte zu nennen, Schopenhauer und Windelband gesehen: Arthur Schopenhauer schreibt in seiner dem ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung beigegebenen „Kritik der Kantischen Philosophie“, „dass die Zufälligkeit eine bloß subjektive Erscheinung ist, entstehend aus der Begränzung des Horizonts unseres Verstandes, und so subjektiv, wie der optische Horizont, in welchem der Himmel die Erde berührt.“3 Wilhelm Windelband gelangt in seiner Dissertation Die Lehren vom Zufall zu der maliziösen Formulierung, alle philosophische Behandlung von Begriff und Idee des Zufalls sei als „testimonium paupertatis“4 zu disqualifizieren. Diese Disqualifikation des Zufalls als „testimonium paupertatis“ reüssierte freilich seinerzeit auch außerhalb der Philosophie, so etwa in der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung und Reputation gewinnenden mathematischen Disziplin der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Der Mathematiker Moritz Cantor, einer ihrer frühen Protagonisten, gelangt zu genau demselben Ergebnis wie seine philosophischen Kollegen und formuliert im äußert selbstbewussten Gestus der Berufung auf eine umstürzende theoretische Innovation: „Zufall wurde es Jahrhunderte lang genannt, wenn der Wind von Süd nach Südwest, von Nord nach Nordost umzuschlagen pflegte, und nicht etwa die entgegengesetzte Veränderung eintrat. Da veröffentlichte Dove das nach ihm benannte Winddrehungsgesetz und von Zufall redet niemand mehr, der von Witterungskunde auch nur den entferntesten Begriff hat.“5 Demnach wird bei Mauthner, Hegel, Schopenhauer, Windelband, Cantor e tutti quanti der Zufall weniger – wie dies traditionell üblich war – als Gotteslästerung diskreditiert6 , sondern vielmehr als Erkenntnisdefizit, als „defectus nostrae cognitionis“ beschrieben und so gleichsam die bereits in Spinozas Ethik formulierte epistemische Diskreditierung des Kontingenzbegriffs nun auch auf den Zufallsbegriff übertragen.7 2 3

4 5 6

7

G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955 (1822), S. 29. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Gesamtausgabe, München 1998 (1859), S. 596. Wilhelm Windelband, Die Lehren vom Zufall, Berlin 1870, S. 21. Moritz Cantor, Das Gesetz im Zufall, Berlin 1877, S. 5. Vergleiche diesbezüglich exemplarisch Augustinus’ Auseinandersetzung mit der Fortuna, wie ich sie im siebten Kapitel dieser Arbeit rekonstruiere, S. 542–546. Für die neuzeitliche Wirkungsmächtigkeit einer religiös motivierten Diskreditierung des Zufalls als Gotteslästerung vergleiche die folgende Passage in Lessings Emilia Galotti, in welcher die Gräfin Orsina mit folgenden Worten den Kammerherrn des Prinzen Hettore Gonzaga zurechtweist: „Ein Zufall? – Glauben Sie mir, Marinelli: das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall – am wenigsten das, wovon die Absicht so klar in die Augen leuchtet.“ Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, Stuttgart 2001 (1772), S. 62. Dass es in der Natur keine Kontingenz gibt, dessen ist sich Spinoza so sicher, dass er in seiner Ethik kategorisch formuliert: „In rerum natura nullum datur contingens, sed omnia ex necessitate

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Die intellektuellen Protagonisten dieser eben gerade nicht religiös motivierten, sondern epistemischen Geringschätzung des Zufalls, unter ihnen die soeben vorgestellten Autoren, sie argumentieren dabei stets und gänzlich unabhängig von ihren unterschiedlichen philosophischen Standpunkten von einer ganz bestimmten Prämisse ausgehend, von der theoretischen Voraussetzung nämlich, wie William James 1884 in seinem Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ schreibt, „die Vorstellung des Zufalls könne kein gesunder Verstand auch nur einen Augenblick lang in der Welt dulden. Was ist das denn anderes, so fragen sie, als die offene, tolle Unvernunft, die Verneinung der Verständlichkeit und der Gesetzmäßigkeit? Und wenn irgendwo das kleinste Teilchen davon existiert, was soll dann verhindern, dass der ganze Bau in sich zusammenstürzt, die Sterne aus der Bahn weichen und das Chaos seine Herrschaft des Drunter und Drüber wieder antritt? Man kann nichts finden, das so schnell jeder Diskussion ein Ende bereitet wie Bemerkungen dieser Art über den Zufall.“8 Nun, wir wollen in diesem zweiten Kapitel keinesfalls die „tolle Unvernunft“ obwalten lassen, vielmehr uns im weiteren Verlaufe dieses Kapitels auch den systematischen Fragen nach der philosophischen Legitimität des Zufallsbegriffs mit Hilfe eines „gesunden Verstandes“ zuwenden und dabei vor allem mit Aristoteles und gegen Mauthner, Hegel, Schopenhauer, Windelband, Cantor und all die anderen den Zufallsbegriff theoretisch rehabilitieren. Zunächst soll in diesem Kapitel jedoch noch einmal ebenjenes Verfahren begriffsgeschichtlicher Präzisierung Anwendung finden, welches sich bereits in dem vorangegangenen Kapitel über den Kontingenzbegriff bewährt hatte. Sich zunächst mit der Geschichte des Zufallsbegriffs zu befassen, um erst im Anschluss daran die systematische Frage zu verhandeln, inwiefern es philosophisch legitim ist, von Zufall zu sprechen, ein derart behutsames Vorgehen beruht auf der grundsätzlichen Überzeugung, dass auch die systematische Reflexion theoretischer oder philosophischer Fragestellungen von historischer Inkompetenz nicht begünstigt wird. Im Gegenteil, unabhängig von dem Nachweis der theoretischen Zulässigkeit und der praktischen Unvermeidbarkeit, das „Rätsel“ des Zufalls zu thematisieren, bedarf alle geistige Beschäftigung mit diesem Rätsel zunächst einer strengen theoretischen und begrifflichen Nüchternheit, die nur scheinbar dieses Rätsel seiner existentiellen Dimensionen beraubt, vielmehr die Grundlage für eine intellektuell redliche Behandlung dieser Dimensionen ist, andernfalls sich Kants spöttisches Verdikt über das „quid iuris“ der Begriffe von Glück

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divinae naturae determinata ad certo modo existendum et operandum.“ (S. 70) Folglich kann Spinoza in der Verwendung des Kontingenzbegriffs nichts anderes als ein Zeichen für menschliche Erkenntnisschwäche erblicken. Von Kontingenz nur zu sprechen, gilt ihm als ein Armutszeugnis des Intellekts: „Res aliqua nulla alia de causa contingens dicitur, nisi respectu defectus nostrae cognitionis.“ (S. 74) Die Diskreditierung des Zufalls im Sinne eines Wunders als „asylum ignorantiae“ entstammt ebenfalls Spinozas Ethik. Baruch de Spinoza, „Ethica ordine geometrico demonstrata“ (1677), in: Opera. Band 2, herausgegeben von Carl Gebhardt, Heidelberg 1925, S. 41–308. William James, „Das Dilemma des Determinismus“ (1884), in: Essays über Glaube und Ethik, Gütersloh 1948, S. 150. James verwendet hier im Original für den Zufall den Begriff „chance“.

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und Schicksal zurecht auch auf die Begriffe des Zufalls oder auch der Kontingenz beziehen ließe. Über „Glück“ und „Schicksal“ heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: „Es gibt indessen auch usurpierte Begriffe, wie etwa Glück, Schicksal, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage: quid juris? in Anspruch genommen werden, da man alsdenn wegen der Deduktion derselben in nicht geringe Verlegenheit gerät, indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch der Vernunft anführen kann, dadurch die Befugnis ihres Gebrauchs deutlich würde.“9 Freilich erhebt sich gegen ein Verfahren, welches ohne begriffsgeschichtliche Präzisierungsversuche keine systematisch bedeutsamen Erkenntnisse zu ermitteln prätendiert, sogleich die berechtigte Frage, an welchem Terminus denn eigentlich sich die geplante begriffsgeschichtliche Rekonstruktion des Zufallsbegriffs zu orientieren habe. Diese Frage stellte sich im vorangegangenen Kapitel naturgemäß nicht. Stets ging es um den lateinischen Terminus „contingens“, seine Geschichte und semantische Vielfalt. Aber wie steht es um den „Zufall“? – Wie auch immer es um die historische Genese des deutschen Terminus „Zufall“, der wohl zuerst bei den deutschen Mystikern ab dem 14. Jahrhundert in der Form des Lehnswortes „zuo-val“ auftauchte10 , bestellt sein mag, der deutsche „Zufall“ ist eben nur ein Terminus einer Sprache für die Bezeichnung eines freilich in vielen Sprachen mit einer vielfältigen Terminologie bezeichneten Sachverhalts. Die linguae francae der Alten Welt verweisen auf diese immense terminologische Vielfalt besonders deutlich. Die lateinischen Substantive „casus“, „sors“, „acidens“, „fors“ und „fortuna“11 , die in der einen oder anderen Weise auch für den Zufall standen, seien genannt. Auch im Griechischen finden sich, wie wir in diesem Kapitel noch ausführlich sehen werden, eine Fülle von Wendungen und Begriffen, die gebraucht wurden, sollte ein nicht notwendiges Geschehen oder ein nicht notwendiger Sachverhalt als zufällig bezeichnet werden. Noch ratloser lässt uns die Frage werden, an welche Termini sich eine Begriffsgeschichte des Zufalls zu wenden hätte, wenn wir die Mannigfaltigkeit allein der gängigen italienischen, englischen und französischen Begriffe berücksichtigen, die allesamt, wenn auch mit unterschiedlichen Konnotationen, den Zufall bezeichnen und dabei ja – man denke an die englischen und französischen Termini „accident“ und „chance“ – ihre lateinischen Ursprünge gar nicht verhehlen können, während wiederum für „hasard“ bzw. „hazard“ eine Herkunft aus dem Arabischen geltend gemacht wurde.12 Es ist also ganz offenkundig unmöglich, die Geschichte des Begriffs und der Idee des Zufalls anhand der Geschichte nur eines Terminus ebenso umfassend zu re9

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Kritik der reinen Vernunft, B 117 f., A 84. Hier zitiert nach Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1. Werkausgabe. Band III, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 125. Vergleiche hierzu Hans Bayer, „Mystische Ethik und empraktische Denkform. Zur Begriffswelt Meister Eckharts“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 377–405. Vergleiche zu dem letztgenannten Begriff ausführlich auch das siebte Kapitel dieser Arbeit Virtù vince fortuna. Zur Ideengeschichte eines Topos. Vergleiche dazu Fritz Mauthner, „Artikel: Zufall“, in: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Band 2, a.a.O., S. 631.

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konstruieren, wie die Idee und der Begriff der Kontingenz anhand der Entstehung und der Geschichte des lateinischen Terminus „contingens“ zu verfolgen waren. Pointiert formuliert: Es gibt eine Begriffsgeschichte von Kontingenz, aber es gibt nicht eine Begriffsgeschichte des Zufalls, sondern deren viele. Nichtsdestotrotz ist es legitim, sich aus begriffsgeschichtlicher Perspektive mit einem oder einigen dieser Termini zu befassen, jenen eben, welche hinsichtlich einer systematischen Aufklärung der bereits angedeuteten theoretischen Fragestellungen besonders vielversprechend erscheinen. Ein Anspruch auf begriffsgeschichtliche Vollständigkeit lässt sich bei einem solchen Verfahren natürlich niemals erheben. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird daher im Eintrag zum „Zufall“ zurecht bemerkt: „Je nachdem, in welchem Sinne von Zufall gesprochen wird, ob von Tyche oder Fortuna, von Kontingenz, Glück oder hasard, sind ganz unterschiedliche philosophische Probleme berührt. Kaum ein Begriffswort dürfte wegen der Parallelführungen seiner Bedeutungen und der Vermischungen distinkter Termini so wenig ‚Geschichte‘ – im Sinne einer nachvollziehbaren Abfolge von Begriffsprädikaten, -erweiterungen, -modifikationen und -umdeutungen – aufzuweisen haben wie ‚Zufall‘. Der Versuch, hier eine Begriffsgeschichte als Bedeutungsentwicklung der Termini durchführen zu wollen, muß genauso scheitern wie eine vom deutschen Wort ‚Zufall‘ ausgehende oder dort endende Geschichte der Wortverwendung. […] Eine begriffsgeschichtliche Darstellung jedoch kann die synchronen und diachronen Differenzierungen festhalten und systematische Verwendungen des Zufallsbegriffs an einzelnen historischen Stellen bis heute aufzeigen.“13 So ist am Beginn dieses Kapitels zuallererst die Auswahl und Bestimmung jener Terminologie geboten, von der die intendierte begriffsgeschichtliche Präzisierung des Zufallsbegriffs ihren Ausgang nehmen soll, ja ausgehen muss, um schließlich auch die angedeuteten systematischen Fragen einschließlich ihrer existentiell bedeutsamen Dimensionen einer Klärung zuführen zu können. Wie lässt sich nun die Entscheidung, in diesem zweiten Kapitel die griechische Terminologie und vor allem den griechischen Terminus tyche eingehender zu betrachten, begründen? Wer sich dem griechischen Begriff tyche, den unterschiedlichen Weisen seiner Verwendung und den sich darin artikulierenden Auffassungen sowie schließlich dem Wandel dieser Auffassungen zuwendet, der wird unweigerlich auf die Schriften des Aristoteles stoßen und insbesondere auf die Tatsache, dass Aristoteles eben nicht nur, wie wir im ersten Kapitel dieser Arbeit sahen, unterschiedliche Begriffe des Möglichen formuliert und insofern die Geschichte des Kontingenzbegriffs inauguriert, sondern der aristotelischen Philosophie darüber hinaus und jenseits ihrer Diskussion der Möglichkeitsbegriffe auch Idee und Begriff des Zufalls anhand wiederum einer Reihe von Termini, als deren wichtigster aber zweifellos tyche zu gelten hat, zum Gegenstand äußerst raffinierter theoretischer Diskussionen werden. Diese aristotelische Diskussion des Zufalls bleibt bis heute für jede systematische Diskussion des Zufalls, auch und 13

M. Kranz, „Artikel ‚Zufall‘“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12, herausgegeben von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 2004, Sp. 1409 f.

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besonders für die Frage, inwiefern von einem Zufall zu reden intellektuell überhaupt seriös ist, maßgeblich und unverzichtbar. Eine systematisch ambitionierte Aufklärung des Zufallsbegriffs und der Versuch einer begriffsgeschichtlichen Präzisierung des Zufallsbegriffs, sie müssen von Aristoteles’ begrifflichen und theoretischen Analysen und Distinktionen ebenso ihren Ausgang nehmen, wie dies für unsere Diskussion des Kontingenzbegriffs geboten war. Nun findet sich der Terminus tyche freilich bei Aristoteles ausschließlich im thematisch begrenzten und logisch strengen Rahmen einer philosophischen Diskussion. Eine alleinige Konzentration auf die Verwendung des Terminus tyche in der Philosophie des Aristoteles oder ergänzend auch in der vorsokratischen Naturphilosophie würde indes übersehen, dass die Griechen von der tyche nicht nur in der Philosophie handelten. Dem Terminus tyche als Bestandteil des philosophischen Diskurses mindestens ebenbürtig ist seinerzeit das in Religion und Kult verehrte Wesen Tyche, ein Wesen, wie wir zunächst ganz unspezifisch sagen, welches noch genauer zu bestimmen sein wird, das aber jedenfalls in der griechischen Literatur, aber auch in der griechischen Rhetorik und Geschichtsschreibung, vor, während und nach der Zeit des Aristoteles stets Erwähnung findet und auf eine bestimmte Weise begriffen wird. So erfordert die Notwendigkeit, die erstrebte begriffsgeschichtliche Präzisierung des Zufallsbegriffs aus besagten Gründen mit Aristoteles’ Diskussion des Zufalls und seiner Verwendung des Terminus tyche beginnen zu lassen, offenkundig die Verschränkung einer engen philosophiegeschichtlichen mit einer weiter gefassten geistes- und kulturgeschichtlichen Perspektive. Um dabei die Gefahr eines schlichten und säuberlich getrennten Nebeneinander, zugleich aber auch eines unfruchtbaren wechselseitigen Desinteresses von systematisch orientierter Fragestellung und begriffsgeschichtlicher Perspektive zu bannen, werde ich in diesem Kapitel folgendermaßen vorgehen: Bevor ich mich ausführlich mit der aristotelischen Theorie und Diskussion des Zufalls auseinandersetze, insofern als ich diese sowohl ausführlich und systematisch rekonstruiere (3) als auch ihre praktischen Konsequenzen und daraus resultierenden Empfehlungen für den menschlichen Umgang mit dem Zufall erörtere (4), um sodann jene Interpretation dieser aristotelischen Zufallstheorie als irreführend oder doch zumindest klärungsbedürftig zu charakterisieren, wie sie Rüdiger Bubner in seinem Buch Geschichtsprozesse und Handlungsnormen formuliert hat, insofern ich die aristotelische Relation von Praxis und Zufall als weder unauflöslich noch als antipodisch beschreiben möchte (5), und schließlich ein solchermaßen präzisiertes Verständnis von Aristoteles’ Begrifflichkeit und Verständnis des Zufalls gegen die bereits erwähnte und systematisch bis zum heutigen Tage avancierteste Kritik des Zufallsbegriffs als „testimonium paupertatis“ des philosophischen Denkens, wie sie Wilhelm Windelband in seiner Schrift Die Lehren vom Zufall formulierte, zu verteidigen (6), bevor ich all diesen vergleichsweise systematisch orientierten Fragestellungen nachgehe, möchte ich zunächst sowohl den im engeren Sinne philosophischen (1) als auch den im weiteren Sinne geistigen und kulturellen Kontext (2) der aristotelischen Zufallsdiskussion klären, mithin die Frage stellen, wie Denken und Kultur der Griechen vor und während der Zeit, da Aristoteles’ Schriften von der tyche handeln, den Terminus tyche verwendeten. Im Anschluss wiederum an die systematische Darstellung, Präzisierung und theoretische Rehabilitierung von Aristoteles’ Zufallstheorie (3-6) ebenso wie an deren umfassende Kontextualisierung (1-2) werde ich schließlich am Ende dieses

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Kapitels noch einige begriffsgeschichtlich relevante Episoden der gleichsam postaristotelischen und vor allem, heißt dies, der hellenistischen Verwendung des Begriffs tyche verfolgen und zwar ungefähr bis zu dem Zeitpunkt, da schließlich theoretische Diskussionen über den Zufall zunehmend in lateinischer Sprache verfasst werden und deshalb die römische Fortuna oder auch andere lateinische Begriffe für jede weitere systematisch orientierte wie begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Begriff und Thema des Zufalls von vorrangiger Bedeutung werden (7).14 (1) Die am Beginn des ersten Kapitels dieser Arbeit erläuterte Tatsache, dass sich für die vielfältigen, von Aristoteles in seinen Schriften verwendeten Theorien und Begriffe des Möglichen nachweisen lässt, dass und inwiefern sich diese zunächst gegen die megarische Eskamotierung des Möglichen durch eine Gleichsetzung des Möglichen mit dem Wirklichen wenden und nur unter Berücksichtigung dieses philosophiegeschichtlichen Kontexts angemessen verstanden werden können, legt die Frage nahe, ob sich für die aristotelische Diskussion des Zufalls ebenfalls ein für ein Verständnis ihrer theoretischen Substanz unverzichtbarer philosophiehistorischer Kontext benennen lässt. War vor der Zeit oder auch zu der Zeit, da Aristoteles lebte, dachte und schrieb, der Zufall bereits Gegenstand von Diskussionen in der griechischen Philosophie? Wenn dies der Fall war, wurde dabei der Terminus tyche verwendet? Wie wurde dieser Terminus, wenn dies der Fall war, verstanden? Um einer Beantwortung derartiger Fragen näher zu rücken, ist es empfehlenswert, sich zunächst einmal an die von Aristoteles in seiner Diskussion des Zufalls in der Physik getroffenen Bemerkungen zu orientieren. Denn in diesen Passagen formuliert Aristoteles selbst eine äußerst differenzierte und hinsichtlich der soeben formulierten Fragen für sein Werk einzigartige Kritik jener Arten und Weisen, in welcher seine philosophischen Vorgänger oder intellektuellen Zeitgenossen den Zufall bislang thematisiert hätten. Zu Beginn seiner Diskussion von tyche und automaton im zweiten Buch der Physik formuliert Aristoteles zunächst einmal und erstens den Vorwurf, dass „keiner der alten Weisen, wenn er über die Ursachen von Werden und Vergehen Aussagen machte, über tyche auch nur ein einziges klärendes Wort verloren hat, vielmehr, wie es scheint, waren auch jene der Meinung, dass nichts aufgrund von tyche geschehe.“15 Beispielsweise gebe es Philosophen, so führt Aristoteles ebendiesen an die Adresse der „alten Weisen“ gerichteten Vorwurf weiter aus, „die sagen, es geschehe ja gar nichts infolge von tyche, sondern von allem gebe es eine genau bestimmte Ursache, wovon

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Vergleiche zu der römischen Fortuna das siebte Kapitel dieser Arbeit Virtù vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos. Phys. B 4: 196 a 8–11. Ich zitiere im folgenden nach Aristoteles, Physik. Vorlesungen über Natur, Bücher I (A) bis IV (Δ), herausgegeben von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987. S. 71. Ich werde in allen die aristotelische Physik betreffenden Passagen die Übersetzung der genannten Fassung verändern, insofern ich die Begriffe tyche und automaton durchgängig im Original belasse. Die diesbezügliche Begrifflichkeit der deutschen Übersetzung erscheint mir oft wenig hilfreich.

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man nur so sagt, es geschehe durch automaton oder durch tyche.“16 Eine zweite und in eine durchaus andere Richtung zielende Kritik richtet Aristoteles an derselben Stelle seiner Physik an die Adresse von Empedokles, den er in diesem Zusammenhang namentlich und ausdrücklich erwähnt, was insofern gesonderte Beachtung verdient, als sich Aristoteles ansonsten in seiner Diskussion von tyche und automaton in der Physik und zur begrifflichen und theoretischen Konturierung seiner eigenen Position auf keinen zweiten Autor – ob affirmativ oder kritisch – explizit bezieht. Aristoteles kritisiert nun Empedokles für seine mangelnde theoretische Durchdringung des Begriffs der tyche, obgleich dieser in dessen Schriften doch Verwendung finde.17 Andere mögliche Adressaten seines Vorwurfs einer mangelnden intellektuellen Durchdringung des Begriffs tyche lässt Aristoteles hingegen ebenso unbenannt wie die Adressaten seines erstgenannten Vorwurfs, die Existenz der tyche schlechthin im Zuge eines umfassenden kausalen Determinismus anzuzweifeln oder gänzlich zu ignorieren. Drittens wendet sich Aristoteles sodann im vierten Kapitel des zweiten Buches seiner Physik gegen eine Position, welche – geradezu konträr zu dem erstgenannten Determinismus – den Zufall gleichsam als ein kosmologisches Prinzip einführt und nobilitiert, gleichviel welchen Terminus sie für diesen kosmologischen Zufall verwendet. Und daher wendet sich Aristoteles in der Physik schließlich auch, wie er schreibt, gegen „Leute, die für diesen (unseren) Himmel und für alle Welten als Ursache automaton ansetzen. Infolge von automaton sei nämlich der (Ur-)Wirbel entstanden und die Bewegung, die (die Stoffe) entmischt und das Weltganze in diese Anordnung gebracht hat.“18 Eine derartige Auffassung, so konzediert Aristoteles, rehabilitiere zwar den Zufall, aber sie rehabilitiere den Zufall als ein kosmologisches Prinzip, ja sie erhebe ihn in dieser kosmologischen Perspektive sogar zu einem dominanten oder gar alles erklärenden Faktor, während ihr die Relevanz des Zufalls für das alltägliche Leben und Handeln durchaus nicht zu Bewusstsein komme und also nicht in gleichem Maße zum Gegenstand theoretischer Reflexion werde. Auch gegen diese Position einer kosmologischen Nobilitierung des Zufalls bei gleichzeitiger praktischer Geringschätzung des Zufalls wendet sich Aristoteles entschieden, auch wenn er den Leser bezüglich der Vertreter dieser Position erneut im Unklaren lässt. Gerade das Gegenteil sei doch zutreffend, so behauptet Aristoteles in diesem Zusammenhang und 16

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Phys. B 4: 196 a 1–3, S. 71. Anneliese Maier äußerst die Vermutung, Aristoteles’ unter Berufung auf tyche und automaton formulierte Kritik eines umfassenden Determinismus in der Physik habe sich an dieser Stelle gegen das Denken Leukipps gewendet. Anneliese Maier, „Notwendigkeit, Kontingenz und Zufall“, in: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Rom 1949, S. 235. Vergleiche zu Aristoteles’ Kritik des Empedokles: Phys. B 4: 196 a 20–24, S. 71. Wolfgang Wieland bringt Aristoteles’ Kritik an Empedokles’ Verwendung des Begriffs tyche hilfreich auf den Punkt. Es handle sich, so Wieland, insofern um eine immanente, keine prinzipielle Kritik, als Aristoteles gegen die „alten Physiker“ einwirft, „dass sie nichts mit ihren Prinzipien anfangen, weil sie nicht darüber nachdenken, wie nun aus ihren jeweiligen Prinzipien alles andere entstehen soll.“ Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, S. 65. Phys. B 4: 196 a 24–28, S. 73.

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in einer für sein Denken insgesamt charakteristischen Weise19 , insofern doch „am Himmel nichts infolge Zufall geschieht“20 , im sublunaren Bereich hingegen der Zufall seine Hände immer wieder im Spiel habe. Schließlich und viertens erwähnt Aristoteles am Ende des vierten Kapitels des zweiten Buches der Physik theoretische Positionen, welche die Existenz der tyche zwar konzedieren, diese tyche aber für undurchschaubar und der menschlichen Vernunft für unzugänglich halten. „Es gibt zwar Leute, die der Meinung sind, tyche sei eine Ursache, nur eine der menschlichen Vernunft undurchschaubare, da sie etwas Göttliches sei und ins Übernatürliche weise.“21 Und im fünften Kapitel des zweiten Buches der Physik kommt Aristoteles erneut auf eben eine solche Mythisierung des Zufalls zu sprechen, eine Auffassung, welche die tyche eben für unbestimmbar oder gänzlich irrational halte. Erneut bleibt jedoch ungeklärt, welche „Leute“ diese Auffassung vertreten und ob es sich dabei gar um Philosophen handelt. Deutlich wird hingegen, dass Aristoteles die Postulierung eines der menschlichen Vernunft undurchdringlichen Zufalls nicht zu akzeptieren bereit ist. Unabhängig von der Frage nun, an welche philosophischen Autoren, an welche geistigen Strömungen oder kulturellen Befunde im Einzelnen sich jeder dieser vier Vorwürfe richtet, mit deren Erwähnung Aristoteles seine Diskussion von tyche und automaton in der Physik eröffnet, wie also die Adressaten von Aristoteles’ einzelnen Kritikpunkten konkret vorzustellen sind, unabhängig auch von der theoretischen Plausibilität oder Konsistenz sowohl der aristotelischen Kritik als auch der von Aristoteles kritisierten Positionen, lassen sich der bisherigen Diskussion bereits bestimmendes Motiv und zentrale Ambition von Aristoteles’ philosophischer Thematisierung von tyche und automaton wie schließlich auch die zentrale theoretische Alternative, vor die sich diese Thematisierung gestellt sieht, entnehmen: Motiviert wird die aristotelische Zufallsdiskussion von dem Bewusstsein einer unmittelbar praktischen, gleichsam lebensweltlichen Relevanz des Zufalls. Die grundlegende theoretische Ambition der aristotelischen Zufallsdiskussion besteht in dem Versuch, das Phänomen dieses in praktischer und lebensweltlicher Hinsicht so sehr relevanten Zufalls in philosophisch und intellektueller seriöser Weise zu durchdringen. Diese Ambition verweigert sich daher sowohl einer wie auch immer begründeten Ignoranz oder Eskamotierung des Zufalls, welche den Zufall gar nicht thematisiert und gedanklich bearbeitet oder seine Existenz bewusst bestreitet, als auch einer Position, welche aus einem unterstellten göttlichen oder übernatürlichen Wesen der tyche auf die Undurchdringbarkeit und Unzugänglichkeit des Zufalls für die menschliche Vernunft schließt. Nicht die Göttin Tyche, wie sie Aristoteles angesichts der spätestens ab dem 4. Jahrhundert vor Christus 19

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Vergleiche zum Stellenwert von Aristoteles’ Zufallsthematisierung für sein Denken schlechthin meine Ausführungen auf S. 87–89 in diesem Kapitel. Phys. B 4: 196 b 2–3, S. 73. Phys. B 4: 196 b 5–7, S. 73. Beispielsweise überliefert Simplicius in seiner Kommentierung der aristotelischen Physik die kulturhistorische Tatsache und die Formel, wonach zu Beginn der Befragung des Orakels in Delphi Tyche und Loxias, „Τύχη καί Λοξία“, persönlich angesprochen wurden. Vergleiche hierzu Hermann Diels (Hg.), Simplicii In Aristoteliis Physicorum Libros Quattuor Priores Commentaria, Berlin 1882, S. 333.

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nachweisbaren kultischen Verehrung der Tyche immer wieder begegnen musste22 , auch nicht eine mit Hilfe welcher gedanklicher Konstruktion auch immer zu einem Dienstboten Gottes degradierte tyche23 , sondern ein philosophischer terminus technicus und ein vergleichsweise nüchternes Thema von freilich erheblichen Auswirkungen für die menschliche Praxis, sie stehen im Zentrum von Aristoteles’ Diskussion des Zufalls. Schließlich lässt sich auch die grundlegende theoretische Alternative, mit der sich der aristotelische, von der Einsicht in die alltägliche, praktische und lebensweltliche Relevanz des Zufalls getragene Versuch einer philosophisch seriösen Durchdringung des Zufalls konfrontiert sieht und die er zugleich als ungenügend zurückweist, ebenfalls präzise beschreiben: Aristoteles’ philosophisch ambitionierte Diskussion des Zufalls will sich sowohl der Skylla einer kosmologischen Nobilitierung des Zufalls unter gleichzeitiger Depravierung seiner alltäglichen und lebensweltlichen Relevanz als auch der Charybdis eines lückenlosen Determinismus, welcher den Zufall in jeder nur denkbaren Hinsicht und zur Gänze entmachtet oder dessen Existenz ohnehin bestreitet, entziehen. Inwiefern liefert nun freilich diese Skizzierung des ursächlichen Motivs und der zentralen Ambition der aristotelischen Zufallstheorie ebenso wie der entscheidenden theoretischen Alternative, vor die sich diese Ambition gestellt sieht, tatsächlich brauchbare Indizien für die adäquate Beschreibung jenes philosophischen sowie geistigen und kulturellen Kontextes, in welchem Aristoteles seine philosophische Analyse des Zufalls entwickelt. Inwiefern sind Aristoteles’ eigene Bemerkungen ein verlässlicher Ratgeber durch das philosophie- sowie geistes- und kulturgeschichtliche Dickicht der Geschichte des Begriffe tyche? Welches sind die historisch konkretisierbaren Platzhalter, die zu treffen jene Kritik beabsichtigt? An welche bestehenden Diskussionen seiner Zeit knüpft Aristoteles’ philosophisch ambitionierte Thematisierung des Zufalls an? Oder stellt diese Thematisierung im Kontext des Denkens seiner Zeit ohnehin einen einzigartigen Sonderfall oder doch zumindest eine Ausnahmeerscheinung dar? Welcher Stellenwert schließlich kommt Aristoteles’ Thematisierung des Zufalls im Kontext von dessen gesamten Denken und Werk zu? Um all diese Fragen zu beantworten, müssen wir die erwähnte, vierfache Kritik an jenen Erwähnungen und Diskussionen des Zufalls, wie Aristoteles sie zu seiner Zeit vorfinden zu können meinte, unabhängig von Aristoteles’ eigenen Worten einer Betrachtung unterziehen. Wir blicken bezüglich dieser Fragen in diesem ersten Abschnitt des Kapitels zunächst auf die Philosophie: Dabei lässt sich Aristoteles’ erwähnten Bemerkungen zu Beginn seiner Ausführungen über tyche und automaton in der Physik immerhin dies entnehmen, dass nämlich die Begriffe tyche und automaton durchaus schon vor seiner Zeit Thema der griechischen Philosophie und allgemein des griechischen Denkens waren. Allerdings kennzeichnet Aristoteles in Physik B 4–6, wie wir sahen, einzig namentlich Empedokles als Repräsentanten einer bestimmten, nämlich sich der Voraussetzungen ihres eigenen Denkens nicht innewerdenden Form philosophischer Zufallsthematisierung. Und in der 22 23

Vergleiche dazu die Ausführungen auf S. 90–96 in diesem Kapitel. Insofern attestiere ich Platons Thematisierung der tyche Relevanz für die Frage nach dem konkret benennbaren philosophiehistorischen Kontext von Aristoteles’ Diskussion in Physik B 4–6 allein im Sinne eines zu Widerspruch reizenden Antipoden. Vergleiche dazu ausführlich meine Bemerkungen auf den Seiten 83–85 in diesem Kapitel.

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Tat ist von späteren Interpreten bezüglich der naturphilosophischen Anschauungen des Empedokles die Aussage getroffen worden, diese leiteten „manche Erscheinungen aus weiter nicht erklärbaren und zufälligen Bewegungen der Elemente her“24 . Doch welche Denker, welche philosophische Schule oder Strömung hätte Aristoteles bei der Formulierung seiner erwähnten Kritik nicht nur eines verfehlten Selbstverständnisses, sondern der bislang dem Zufall darüber hinaus zuteil gewordenen theoretischen Durchdringung, nämlich der deterministischen Leugnung des Zufalls, der kosmologischen Nobilitierung und der irrationalen Mythisierung des Zufalls sonst noch im Sinn haben können? Wo findet vor und zu der Zeit des Aristoteles der wie auch immer zu verstehende Terminus tyche in der griechischen Philosophie ausdrücklich noch Erwähnung, um ein Geschehen oder ein Wirkliches zu kennzeichnen, die sich als zufällig begreifen lassen sollen? Und inwiefern trifft die aristotelische Kritik die Art und Weise dieser Erwähnung? Wir wollen uns zunächst dem dritten der vier von Aristoteles genannten Kritikpunkte zuwenden: Die Tatsache, dass sich Aristoteles gegen eine kosmologische Nobilitierung des Zufalls ausspricht, gegen „Leute, die für diesen (unseren) Himmel und für alle Welten als Ursache automaton ansetzen“, weckt bei uns Heutigen wohl vor allem Assoziationen an Epikurs atomistische Naturphilosophie. Freilich kann Epikurs Philosophie allein aus chronologischen Gründen den skizzierten Ausführungen des Aristoteles in Physik B 4–6 ja nicht als Kontrastmittel zur Schärfung der eigenen Position zugrunde gelegen haben. Für die Vertreter der atomistischen Naturphilosophie vor der Zeit Epikurs wiederum, von denen Aristoteles prinzipiell Kenntnis haben konnte, scheint zunächst ganz unbestreitbar zu sein, dass diese, ganz anders als Epikur, dem Zufall keinerlei theoretische, zumindest keinerlei kosmologische Relevanz zuerkannten, sie dem Aristoteles also gerade nicht als Vertreter einer kosmologischen Nobilitierung des Zufalls gelten konnten, wiewohl sie es vermutlich waren, die dem Aristoteles ganz im Sinne des ersten seiner vier erwähnten Kritikpunkte als jene erwähnten „alten Weisen“, als jene „alten Physiker“ (Wieland) gelten mussten, die eine unhintergehbare Notwendigkeit allen natürlichen Geschehens postulierten, folglich zu der Schlussfolgerung gelangten, wie Aristoteles formuliert, „dass nichts aufgrund von tyche geschehe“, und die deshalb auch in dem Begriff tyche oder dem, wofür er stehen sollte, nur ein Erkenntnisdefizit oder eine Redensart ohne reale Entsprechung in der Natur erblicken konnten.25 24

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Curt Leo von Peter, Das Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie. Eine historischkritische Untersuchung, Berlin 1909, S. 41. Ferner behauptet von Peter, dass der Terminus tyche nicht erst bei Empedokles, sondern bereits in den Schriften Anaximanders und Heraklits verwendet wird. Vergleiche ebd., S. 15–17. Platon hingegen hat in seinen Nomoi 889 b–c ausdrücklich auf die Zufallssensibilität der atomistischen Naturphilosophie verwiesen, und dies mag einer der philosophischen Kontexte gewesen sein, den Aristoteles bei seiner Kritik einer kosmologischen Nobilitierung des Zufalls im Blick hatte: „Feuer, Wasser, Erde, und Luft, sagen sie [gemeint sind diejenigen, welche, wie es einige Sätze zuvor heißt, behaupten, „dass alle Dinge welche es gibt und gegeben hat und geben wird teils von Natur, teils durch Zufall und teils durch Kunst entstehen“; P.V.], seien insgesamt Werke der Natur und des Zufalls und nicht der Kunst, und aus diesen seien dann wieder ohne alle beseelende Kraft zunächst die (großen Welt-) Körper, Erde, Sonne, Mond und Sterne, entstanden. Die sämtlichen Bestandteile aller Dinge seien nämlich umhergetrieben, wohin einen jeden nach dem Maße seiner Kraft der Zufall führte, wodurch denn in geeigneter Weise zusammengetroffen sei

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In der Tat: Eine strenge kausale Gesetzlichkeit allen natürlichen Geschehens bestimmte offensichtlich das Weltbild und die Kosmologie der atomistischen Naturphilosophie vor Epikur. Leukipp, der von Anneliese Maier als der bedeutsamste deterministische Antipode der aristotelischen Physik präsentiert wird, formuliert in dieser Hinsicht in Fragment B 2 kategorisch und für die Naturphilosophie der Atomisten repräsentativ: „Kein Ding entsteht planlos, sondern alles aus Sinn [λόγου im Original; P. V.] und Notwendigkeit [ανάγκης im Original; P. V.].“26 Ein solchermaßen deterministisches Denken aber konnte dem Zufall als Terminus für die Beschreibung eines natürlichen Geschehens keinerlei Legitimität zubilligen. Das zeigt sich besonders deutlich im Falle von Demokrit. „Den Zufall leugnet ja Democrit auf das bestimmteste“27 , so charakterisiert etwa Alphons Lhotzky dessen Naturphilosophie. Auch Lowell Edmunds verweist auf den Determinismus der atomistischen Naturphilosophie und interpretiert diesen als den entscheidenden philosophiegeschichtlichen Kontrapunkt für die aristotelische Thematisierung des Zufalls: „The difference between Aristotle and the atomists can be stated as follows: for Aristotle there is no deterministic necessity; there are ends; and chance, since there is chance, can be understood only with reference to some end; for Democritus there is necessity; there are no ends and therefore no chance.“28 Bezeichnend für die radikale theoretische Kluft, welche die aristotelische Physik von dem vorepikuräischen und deterministischen Atomismus trennt, ist schließlich auch die Tatsache, dass Demokrit den Begriff automaton, mit dessen Hilfe Aristoteles in seiner Physik ja gerade, wie wir ausführlich noch belegen werden, den Zufall, genauer: einen ganz bestimmten Typus des Zufalls, kennzeichnet, gerade nicht für ein zufälliges Geschehen, sondern zur Kennzeichnung eines notwendigen Geschehens, nämlich des gleichsam automatisch in der Natur Ablaufenden gebraucht. Diese wenigen und knappen Verweise hinsichtlich der deterministischen Grundzüge der Naturphilosophie

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was zu einander passte, Warmes mit Kaltem, Trockenes mit Feuchtem, Weiches mit Hartem und überhaupt Alles was, eben weil es einander entgegengesetzt ist, mit Notwendigkeit zu einer Mischung sich verbindet, sobald es der Zufall zusammenführt, und so hätten sie auf diese Weise die ganze Welt und Alles was in ihr ist hervorgebracht und ebenso auch die Tiere und Pflanzen, sowie auch die Jahreszeiten eine Folge dieser Mischung gewesen seien, und dies Alles, sagen sie, nicht mit Vernunft, noch geleitet durch irgend eine Gottheit oder auf dem Wege der Kunst, sondern wie gesagt, es sei lediglich ein Werk der Natur und des (blinden) Zufalls [im Original ist hier lediglich von τύχη ohne gesondertes Attribut die Rede; P.V.].“ Ich zitiere nach der Ausgabe: Platon, Nomoi. Griechisch und Deutsch. Sämtliche Werke, Band IX, Frankfurt am Main 1991, S. 785. Platons Lesart der atomistischen Naturphilosophie ähnlich verfährt auch Max Pohlenz’ Interpretation, wonach in Demokrits Atomistik die Welt zu einem „Zufallsgebilde“ werde. Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1947, S. 20. Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Zweiter Band, Griechisch und deutsch von Hermann Diels, Zürich 1952, S. 81. Alphons Lhotzky, „Die Lehre vom Zufall. Eine philosophisch-theologische Studie nach Thomas von Aquin“, in: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg 3 (1910), S. 11. Lowell Edmunds, „Necessity, Chance, and Freedom in the Early Atomists“, in: Phoenix 26 (1972), S. 351.

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des Leukipp und des Demokrit mögen genügen, um den von Friedrich Albert Lange geäußerten Gedanken, Demokrits Philosophie habe jedwede Zufälligkeit geleugnet, um jedwede Möglichkeit einer teleologischen Interpretation des Weltgeschehens zu vermeiden29 , durchaus Plausibilität zu attestieren und um somit die Vermutung und die Einschätzung zu begründen, Aristoteles’ Thematisierung des Zufalls habe sich in der Tat, zumindest was den ersten der vier oben genannten Kritikpunkte betrifft, primär und wesentlich gegen die atomistische Naturphilosophie gewendet. Freilich muss, die soeben getroffene Einschätzung bezüglich der atomistischen Naturphilosophie vor Epikur und deren Leugnung eines dem natürlichen Geschehen innewohnenden Zufalls relativierend, das Paradox konzediert werden, dass zumindest Demokrit jenseits naturphilosophischer Fragestellungen die Relevanz und Funktion der tyche für das alltägliche menschliche Handeln durchaus registriert. Auch Edmunds bemerkt diese offenkundige Ambivalenz und charakterisiert sie zutreffend: „But the word chance does occur several times in the ethical fragments and, although Democritus disparages chance, yet his use of the word seems a kind of admission of chance, contrary to the physical system, which denies chance altogether.“30 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf zwei Fragmente, in denen Demokrit dem Zufall in praktischer Hinsicht das eine Mal eine bescheidene, das andere Mal eine durchaus erhebliche Rolle zugesteht, in beiden Fällen jedenfalls durchaus ungleich mehr Relevanz bescheinigt, als dies sein umfassender naturphilosophischer Determinismus erwarten ließe und eigentlich theoretisch zulässt. In Fragment B 119 heißt es: „Die Menschen haben sich vom Zufall ein Bild geformt zur Beschönigung ihrer eigenen Unberatenheit. Denn nur in seltenen Fällen kämpft gegen die Klugheit der Zufall an: das meiste richtet im Leben ein wohlverständiger Scharfblick ins Grade.“31 Das Meiste, man höre, aber eben nicht alles. Zwar beachte man Demokrits Gewichtung des Verhältnisses von „Klugheit“ [φρονήσει im Original; P. V.] und „Zufall“ im Sinne von tyche – Hans Herter spricht diesbezüglich von einer „Minimalisierung der Tyche“32 –, aber immerhin attestiert Demokrit der tyche eine alltagspraktische Relevanz, die angesichts seiner naturphilosophischen Überzeugungen doch erstaunen muss. Freilich, die menschliche Planungs- und Erkenntnisfähigkeit im Sinne praktischer Klugheit behält in der Auseinandersetzung mit einer tyche, deren Existenz Demokrit in dem zitierten Fragment nicht weiter in Frage stellt, stets die Suprematie.33 In einem anderen überlieferten Fragment, B 269, überbietet Demokrit indes diese vorsichtige, aber zweifellos sich regende Sensibilität für 29

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32 33

Vergleiche hierzu Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Band 1, Leipzig 1905, S. 39–41. Lowell Edmunds, „Necessity, Chance, and Freedom in the Early Atomists“, in: a.a.O., S. 353. Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Zweiter Band, Griechisch und deutsch von Hermann Diels, a.a.O., S. 166 f. Hans Herter, „Thukydides und Demokrit über Tyche“, in: Wiener Studien 10 (1976), S. 125. Lowell Edmunds hat auf Parallelen zwischen Demokrits Fragment B 119 und Thukydides’ Einschätzung der tyche verwiesen. Beide beschreiben menschliche Intelligenz und Planungsfähigkeit als eine der tyche überlegene Instanz, kontrastieren aber insofern auch praktische Voraussicht und tyche. Vergleiche zur Rolle der tyche in Thukydides’ Geschichtsschreibung meine Ausführungen auf S. 104–108 in diesem Kapitel. Lowell Edmunds, Chance and Intelligence in Thucydides, Cambridge/Mass. 1975, S. 19.

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die Relevanz des Zufalls in alltagspraktischen Belangen, wenn er nun dort zu einer ganz anderen Einschätzung bezüglich der Kapazitäten der tyche gelangt: „Mut ist Handelns Anfang, Glück [τύχη im Original; P. V.] aber Endes Herrin.“34 Der graduelle Widerspruch dieses Fragments zu der zuvor zitierten Sentenz ebenso wie der eklatante Widerspruch beider Sentenzen zu dem nachweisbaren naturphilosophischem Determinismus der demokritischen Physik hat nun eine Reihe von unterschiedlichsten Erklärungsansätzen und Kommentaren stimuliert. So äußert Edmunds die folgende philologische Mutmaßung über die Ursache der Sonderstellung von B 269 im Rahmen von Demokrits gesamter Philosophie: „Since this fragment [B 269; P. V.] contradicts everything else Democritus says about chance, and since the form of Stobaeus’ quotation obscures the reference of these words, we are entitled to ask whether we should think of this as Democritus’ view of chance in general or whether he was not referring to persons who, contrary to the advice of other of his sententiae on chance, relied too little on moderation and committed themselves to overreaching and tychistic projects.“35 Auch Agatha Anna Buriks hat den ganz offensichtlichen Widerspruch von Demokrits naturphilosophischer Eskamotierung der tyche einerseits, expliziter Thematisierung der tyche im Kontext moralischer Sentenzen andererseits, registriert, freilich auf der sich zwischen Naturphilosophie und im weitesten Sinne ethischen Maximen erstreckenden Skala genau konträr zu der von mir angedeuteten und auch von Edmunds vertretenen Interpretation verortet. In der englischen „summary“ ihrer niederländischen Dissertation kennzeichnet sie Demokrits Denken als eine Philosophie, „which unconsciously admitted to a certain extent accident in his physics, strenuously opposes tyche in his ethics.“36 Schließlich sei noch auf jene bemerkenswerte, wenn auch nicht am Terminus tyche orientierte Möglichkeit verwiesen, Demokrits eigentlich unerklärliche Ambivalenz zwischen seiner Thematisierung des Zufalls im Kontext praktischer Empfehlungen und seiner deterministischen Naturphilosophie aufzulösen, welche Michael Hampe im Zusammenhang seiner Diskussion der demokritischen Verwendung des Terminus ananke entwickelt. Was durch ananke geschieht, geht Hampe zufolge für Demokrit zunächst einmal „nicht auf einen Willen, einen Plan oder ein Vorhaben zurück. Doch der Gegensatz zwischen einem nicht absichtlichen Geschehen, das zufällig passiert, und einem, das auf Grund eines Naturgesetzes abläuft, wird mit diesem Begriff noch nicht gemacht. Vereinigen und trennen sich die Teilchen notwendigerweise nach Naturgesetzen oder nur zufällig? ‚Ananke‘ besagt so viel wie Zwang; was durch ananke geschieht, dagegen ist nichts zu machen. Doch das gilt

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35 36

Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Zweiter Band, Griechisch und deutsch von Hermann Diels, a.a.O., S. 201. Lowell Edmunds, „Necessity, Chance, and Freedom in the Early Atomists“, in: a.a.O., S. 357. Vergleiche hierzu Agatha Anna Buriks, „Summary“, in: ΠΕΡΙ ΤYXHΣ. De ontwikkeling van het begrip tyche tot aan de Romeinse tijd, hoofdzakelijk in de philosophie, Leiden 1948, S. 126.

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sowohl für den Zufall, der vielleicht nur einmal geschieht, wie für das Gesetzmäßige, das sich wiederholt.“37 Demokrit widerspricht demnach einer teleologischen Interpretation des Weltgeschehens – darauf hatte bereits Friedrich Albert Lange verwiesen –, aber dieser Widerspruch bedarf keinesfalls theoretisch zwingend einer Leugnung des Zufalls – dies erkennt Hampe nun ganz anders als Lange38 –, vielmehr kann die Akzeptanz des Zufalls gerade diesen Widerspruch erhärten. Wie auch immer es bei Demokrit um die Gewichtung des Verhältnisses von menschlichem Handeln und tyche, wie auch immer es ihrerseits um die theoretische Vereinbarkeit der diese Gewichtung thematisierenden Passagen mit einem grundsätzlichen naturphilosophischen Determinismus bestellt sein mag, die angeführten Interpretationen von Demokrits Philosophie vermögen den philosophiehistorischen Befund eines grundsätzlichen Determinismus der atomistischen Kosmologie und Naturphilosophie vor der Zeit Epikurs nicht in Frage zu stellen. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Widersprüche, in welche sich Demokrit im Zuge seines Versuchs, das mit der tyche konfrontierte menschliche Handeln in diese deterministische Weltanschauung zu integrieren, verstrickt, vermögen daher auch nicht die im Zuge unseres Exkurses über die atomistische Naturphilosophie gewonnene Vermutung und Einschätzung zu relativieren, dass es wohl die „alten Weisen“ Leukipp und vor allem Demokrit waren, welche Aristoteles anlässlich seiner Kritik an einer deterministischen Leugnung des Zufalls, anlässlich seiner Kritik der „Meinung, dass nichts aufgrund von tyche geschehe“, im Auge gehabt haben dürfte. Allerdings vermögen die beiden zuletzt zitierten, im weitesten Sinne ethischen Sentenzen des Demokrit die Tatsache zu verstehen helfen, wie sich zunächst in der römischen, aber später auch in der nachantiken Rezeption von Demokrits Philosophie die Meinung bilden und beharrlich festsetzen konnte, jener habe die Phänomene der Natur als Resultat und Abfolge von Zufällen verstanden. Cicero etwa unterstellt Demokrit in den Tusculanae Disputationes, das Phänomen der Seele als „durch einen zufälligen Zusammenschluß“39 entstanden erklärt zu haben. Und in De natura deorum legt Cicero dem Cotta im Kontext von dessen Widerlegung der epikuräischen Götterlehre das Wort von den „skandalösen Äußerungen Demokrits“ in den Mund, wonach „Himmel und Erde ohne den Zwang eines Naturgesetzes entstanden“40 . Diese, wie wir nunmehr sagen 37 38 39

40

Michael Hampe, Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko, Berlin 2006, S. 134. Vergleiche dazu oben Anmerkung 29 auf S. 79 in diesem Kapitel. M. Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum, übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, Stuttgart 1997, S. 55. Im Original heißt es „concurso quodam fortuito“(Ebd., S. 56). M. Tullius Cicero, De natura deorum. Über das Wesen der Götter, übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 1995, S. 61 bzw. 63. Im Original spricht Cicero von den „flagitia Democriti“ (S. 60) bzw. von „caelum atque terram nulla cogente natura“ (S. 60 f.). In Ciceros Schrift De fato heißt es freilich wiederum, Demokrit habe sich gegen den von Epikur unterstellten Zufall gewendet und die These vertreten, „necessitate omnia fieri“. M. Tullius Cicero, Über das Schicksal, De Fato. Lateinisch–deutsch, herausgegeben und übersetzt von Karl Bayer, München/Zürich 2000, S. 38.

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können, Fehleinschätzung der Philosophie Demokrits sollte sich wirkungsgeschichtlich als durchaus hartnäckig erweisen. Indes, nicht nur die von Cicero formulierte und inaugurierte Interpretation Demokrits als gleichsam eines Vorläufers Epikurs, auch die Geschichte der Kommentierung der aristotelischen Physik, etwa bei Thomas und Albertus Magnus41 , steht ganz und gar im Gegensatz zu jenen Urteilen und Kommentaren, wie wir sie am Beginn des 20. Jahrhunderts bei Curt Leo von Peter, Friedrich Albert Lange oder Alphons Lhotzky und später dann bei Lowell Edmunds formuliert fanden, im Banne der Überzeugung also, Demokrits Philosophie stelle justament jene kosmologische Nobilitierung des Zufalls dar, gegen die sich Aristoteles in seiner Diskussion des Zufalls in der Physik doch so sehr gewandt hatte, ohne dass er dabei doch Demokrit beim Namen genannt hätte, im Banne einer Überzeugung mithin, die zu perpetuieren schließlich auch Dante in seiner Göttlichen Komödie nicht zögerte, insofern er dort von einem gewissen „Democrito che ‘l mondo a caso pone“42 sprach. Wie sich die Irrtümer und Widersprüche der Rezeptionsgeschichte der atomistischen Naturphilosophie historisch erklären und verstehen lassen mögen, wie Demokrit das Verhältnis seiner alltagspraktischen Sentenzen zu seinen naturphilosophischen Überzeugungen letztlich konzipiert haben mag, all diese Fragen sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Denn schließlich interessiert uns im ersten Abschnitt dieses Kapitels vorrangig die Frage nach dem philosophiehistorischen Kontext der aristotelischen Diskussion des Zufalls in Physik B 4–6. Aristoteles’ eigenen Andeutungen und Hinweisen streng Folge leistend, blickten wir diesbezüglich zunächst allein auf mögliche Adressaten seiner vierfachen Kritik an einem mangelhaften Selbstverständnis, einer deterministischen Leugnung oder Eskamotierung, einer kosmologischen Nobilitierung und einer irrationalen Mythisierung des Zufalls und konnten diesbezüglich – neben dem von Aristoteles selbst genannten Empedokles – allein die deterministische Naturphilosophie als einen konkret nachweisbaren Kontrapunkt zu Aristoteles’ philosophischer Behandlung des Zufalls identifizieren, als einen theoretischen Antipoden, welcher Aristoteles vor allem in Gestalt von Demokrits Philosophie vertraut gewesen sein dürfte. Aber, wie bereits einmal betont, Aristoteles’ eigene Worte können nicht der einzige und schon gar nicht der einzig verlässliche Führer durch philosophiehistorisches Gelände sein. Wir haben also noch einmal und unabhängig von der Frage, welche für seine Zufallsthematisierung relevanten philosophiehistorischen Kontexte Aristoteles selbst bemerkt haben mag, anzusetzen: Welche bislang noch ungenannten philosophischen Schulen, Strömungen oder Autoren sind für eine umfassende Beschreibung des 41

42

Vergleiche etwa die von Vincent Cioffari zitierte Passage aus Thomas’ Physik-Kommentar: „Et haec videtur esse opinio Democriti, dicentis quod ex concursu atomorum per se mobilium, caelum et totus mundus casualiter constitutus est.“ Hier zitiert nach Vincent Cioffari, Fortune and Fate from Democritus to St. Thomas Aquinas, New York 1935, S. 2. Vergleiche allgemein zu Thomas’ Interpretation von Aristoteles’ Auseinandersetzung mit tyche und automaton in seiner Physik in dieser Hinsicht die kommentierenden Passagen in: Thomas von Aquin, Opera Omnia, Band 2. Commentaria in octo libros physicorum Aristotelis, Rom 1884, S. 75–77. Die zitiert Passage findet sich in Inferno IV, 136. Vergleiche hierzu Dante Alighieri, La Commedia. Die Göttliche Komödie I. Inferno/Hölle, Stuttgart 2010, S. 68.

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philosophiehistorischen Kontexts von Aristoteles’ Behandlung des Zufalls noch zu berücksichtigen? Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die zentrale Ambition von Aristoteles’ Diskussion des Zufalls: Diese besteht, so sahen wir, in dem Versuch, das Thema des Zufalls – fern aller kosmologischen Spekulationen – in der nüchternen Sprache einer rigiden begrifflichen Diskussion abzuhandeln. Welcher Autor könnte sich dieser Ambition wiederum widersetzt haben, ja sich auch in den Augen des Aristoteles zu einer gleichsam theologischen Funktionalisierung des Zufalls hinreißen haben lassen, der sich seine eigene, nüchterne Verwendung der Begriffe des Zufalls als termini technici gerade widersetzen wollte? Hier kommt nun Platon ins Spiel, auch wenn bezüglich Platons Thematisierung der tyche zunächst zugegeben werden muss, dass der Begriff tyche für Platons Denken alles andere als zentral ist und innerhalb von Platons Philosophie allenfalls eine untergeordnete oder marginale Rolle spielt. Aber immerhin findet dieser Begriff in einer für Platon durchaus charakteristischen Weise im vierten Buch der Nomoi Erwähnung. Zunächt – Nomoi 709 a – wird der tyche eine wirkungsvolle Regentschaft über das Reich des menschlichen Handelns attestiert und zwar in dem Sinne, dass, so wie für den Feldherrn, den Steuermann und den Arzt, auch für die Tätigkeit der Gesetzgebung „alle menschlichen Verfügungen von den Verhältnissen abhängen“43 . In Nomoi 709 b wird aber deutlich, dass die Tyche bei Platon nicht als autarke Instanz fungiert, welche in eigenem Auftrag menschliches Geschick in einer Weise bestimmt, welche für den Menschen theoretisch unzugänglich oder praktisch unverfügbar ist, sondern als, wie Vincent Cioffari einmal zutreffend formuliert, „minister of God“44 , denn Gott waltet, so Platon nunmehr, über alles, „und neben Gott Glück und Gelegenheit [im Original τύχη και καιρός; P. V.]“ sowie, „um weniger strenge zu sein“, auch noch „menschliche Geschicklichkeit [im Original τέχην; P. V.]“45 . Als „minister of God“, als theologisch funktionalisierte Instanz, hat auch Arnd Zimmermann in seiner Dissertation Platons Thematisierung der Tyche gedeutet, wobei auch er vor allem auf die entsprechenden Passagen in den Nomoi verweist: „[…] was dem Zeitgeschmack entsprechend in zunehmendem Maße leichthin als unerklärliches Geschehen und Walten der Zufallstyche schlechthin hätte aufgefasst werden können, sucht er im Menschen selbst oder in einer Tyche, die nun nicht selbständig, sondern Ausfluss göttlicher oder dämonischer Kräfte ist.“46 Platons Lehre von den Ideen lässt eine Autarkie des Zufalls, die immer auch die Störung eines harmonischen Kosmos bedeuten würde, nicht zu: „Dass Platon in einer Welt, die durch die Teilhabe an den Ideen ihre Ordnung erhält, nicht dem planlosen Zufallsgeschehen schlechthin das Wort re43

44 45

46

Ich zitiere nach der Ausgabe: Platon, Nomoi. Griechisch und Deutsch. Sämtliche Werke, Band IX, a.a.O., S. 281. Vincent Cioffari, Fortune and Fate from Democritus to St. Thomas Aquinas, a.a.O., S. 55. Vergleiche hierzu Platon, Nomoi. Griechisch und Deutsch. Sämtliche Werke, Band IX, a.a.O., S. 281. Arnd Zimmermann, Tyche bei Platon, Bonn 1966, S. 113.

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T – D  W  Z den konnte, ist evident. Aber die Tyche blieb für ihn bei seinem wachsenden Bestreben, den Zusammenhang zwischen Ideenwelt und Erscheinungswelt zu klären, und bei dem allgemein vordringenden Glauben an die Allmacht der Tyche ein zum Teil unerforschlicher Faktor im Geschehen, dem er Beachtung schenkte und der seine Stellungnahme stets geradezu herausfordern mochte. Das ändert nichts daran, dass seine Gesamthaltung auf dem unerschütterlichen Glauben an die sinnvoll-schöne Ordnung beharrte: Unordnung, Böses, Unvollkommenes gibt es für ihn prinzipiell nur in privativem Sinn, nämlich als Mangel an Ordnung, als Zurückbleiben hinter der Idee.“47

Wie bewertete nun Aristoteles Platons Aussagen über tyche? Eine explizite Auseinandersetzung mit Platons Auffassung von tyche findet sich bei Aristoteles nicht, und mithin lässt sich diese Frage nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Platons Thematisierung der tyche als „minister of God“ (Cioffari) oder „Ausfluß göttlicher Kräfte“ (Zimmermann) ist offensichtlich keiner der vier von Aristoteles in Physik B 4 kritisierten Positionen zu subsumieren. Platon formuliert keine deterministische Leugnung des Zufalls, erst recht nobilitiert er den Zufall nicht, indem er alles natürliche Geschehen aus ihm hervorgehen lässt. Auch bemüht er sich nicht um eine immanente theoretische Durchdringung des Zufalls als Bestandteil eines von ihm zur Erklärung des natürlichen Geschehens ohnehin verwendeten Prinzips. Schließlich behandelt Platon den wie auch immer göttlichen Zufall auch gerade nicht als eine der Vernunft unzugängliche, irrationale Instanz. Und doch mag es sein, dass Aristoteles in Platons Thematisierung der tyche in den Nomoi eine theologische Funktionalisierung oder auch unzulässige metaphysische Harmonisierung jenes Zufalls erblickte, der für ihn immer nur im Zuge einer nüchternen begrifflichen Diskussion adäquat zu fassen war und dessen für den Menschen oft in ganz praktischer Weise schmerzhafte Konsequenzen auch durch keine metaphysische Ordnung aufzuheben waren. Platons zitierte Behandlung der tyche in den Nomoi und Cioffaris und Zimmermanns Interpretation dieser Auffassung können insofern die Vermutung stützen, dass Aristoteles in Platons Auffassung der tyche eine gleichsam philosophische Variante jener Apotheose des Zufalls erblickte, die ihm durch die seinerzeitige kultur- und geistesgeschichtliche Thematisierung des Verhältnisses von Göttern und tyche, wie wir sie im zweiten Abschnitt dieses Kapitels noch eingehend beschreiben werden, ohnehin vertraut sein musste, die er aber aufgrund der genannten Ambition seiner Zufallsthematisierung, die ihrerseits von dem Bewusstsein einer unhintergehbaren alltäglichen und lebensweltlichen Relevanz allen Zufallsgeschehens getragen war, nur für ungenügend halten konnte. Welches Ergebnis bleibt zum Abschluss dieses ersten Abschnitts dieses Kapitels bezüglich des philosophiehistorischen Kontexts von Aristoteles’ Zufallsthematisierung festzuhalten? – Einerseits ist abschließend zu bilanzieren, dass Aristoteles, unabhängig davon, dass er auf Empedokles bezüglich des zweiten seiner vier oben genannten Kritikpunkte verweist, bezüglich der deterministischen Leugnung des Zufalls, also des erstgenannten Kritikpunktes, tatsächlich die Naturphilosophie vor allem eines Demokrit oder auch von Leukipp in entscheidender Weise als Kontrapunkt empfun47

Ebd., S. 104.

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den haben dürfte. Weitere konkrete Hinweise darauf, welchen Autor oder welche philosophische Schule oder Strömung Aristoteles als Vertreter oder als Exempel einer kosmologischen Nobilitierung oder einer irrationalen Mythisierung des Zufalls empfunden haben dürfte, vermochte ich hingegen nicht zu ermitteln. Als der wichtigste, zumindest als der wichtigste nachweisbare philosophische Adressat der von Aristoteles eigenständig formulierten, vierfachen Kritik an der dem Zufall bislang zuteil gewordenen theoretischen Durchdringung und mithin als der wohl bedeutendste philosophiehistorische Bezugspunkt für die aristotelische Ambition, das Thema und den Begriff des Zufalls auf intellektuell seriöse Weise zu durchdringen, ist daher die deterministische Naturphilosophie des Atomismus, wie sie Aristoteles wohl vor allem durch die Schriften Demokrits vertraut gewesen sein dürfte, auszumachen. Unabhängig von Aristoteles’ eigenständig formulierter Auseinandersetzung mit den philosophischen Zufallstheorien seiner Zeit in Physik B 4 lässt sich ferner noch die Vermutung begründen, Platons Thematisierung der tyche in den Nomoi, die dort erfolgte theologische Funktionalisierung oder auch metaphysische Harmonisierung der tyche, habe ebenfalls als philosophiehistorischer Bezugspunkt für die aristotelische Zufallsthematisierung fungiert und vor allem implizit zur Profilierung der theoretischen Ambition dieser Zufallsthematisierung beigetragen. Auch wenn es sicherlich nicht so ist, wie Martha Nussbaum schreibt, welche in ihrem ansonsten überaus bewundernswerten Buch The Fragility of Goodness bezüglich der Motive und Quellen von Aristoteles’ Thematisierung der tyche „Aristotle’s views about tuche“48 als Antwort auf die Dialoge von Platons mittlerer Schaffensperiode begreifen will. Erstens nämlich verliert Nussbaum mit dieser These jenen oben erwähnten philosophischen Kontext der atomistischen Leugnung des Zufalls durch eine deterministische Naturphilosophie aus den Augen. Zweitens finden sich Aristoteles’ philosophische Reflexionen über tyche und Zufall vorrangig in der Physik und, wie wir noch sehen werden, in der Metaphysik, weshalb die ethischen Schriften, auf die Nussbaum für ihre Rekonstruktion der aristotelischen Zufallstheorie vor allem rekurriert, diesbezüglich ohnehin nur von sekundärer Bedeutung sind. Davon unabhängig verdient an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich und grundsätzlich betont zu werden, in welch intensiver Weise sich die Philosophie des Aristoteles auch hinsichtlich der Diskussion des Zufalls mit den Meinungen ihrer Vorläufer beschäftigt. Sehr zurecht hat daher auch Joachim Ritter eine „Anküpfung“ (hypolepsis) an die Philosophie der Vorsokratiker als jenes methodische Charakteristikum der aristotelischen Philosophie beschrieben, welches davon zeugt, dass Aristoteles das Denken insbesondere der ionischen Naturphilosophie noch in ungebrochener Kontinuität zur eigenen Philosophie und Zeit sieht. Freilich wird mir in Ritters Versuch der Rehabilitierung des aristotelischen Verfahrens einer hypolepsis an die Meinungen der Alten zu gering veranschlagt, in welch starkem Maße sich Aristoteles in der Metaphysik ebenso wie in der Physik immer wieder auch von der „vetus opinio“, den Meinungen der Alten, distan-

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Vergleiche hierzu Martha Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 2001 (1986), S. 291.

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ziert. Für die aristotelische Diskussion des Zufalls, so sahen wir, ist die „Anknüpfung“ an die Alten ebenso konstitutiv wie die Kritik an ihnen.49 So viel zu dem erwähnten Einerseits. Andererseits ist zu konstatieren, dass der griechischen Philosophie vor und zu der Zeit des Aristoteles und fernab von all der seinerzeit durchaus verbreiteten kultischen Verehrung, literarischen und historiographischen Verarbeitung und alltagspraktischen Beschwörung der Göttin Tyche, auf die wir sogleich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich zu sprechen kommen werden, zumindest die naturphilosophische oder kosmologische Rolle des Zufalls keinesfalls ein derart weit verbreiteter Gegenstand der Diskussion war, wie dies aufgrund der Schwerpunkte unserer bisherigen Diskussion bislang erscheinen mochte, vielmehr in weitaus geringerem Maße thematisiert wurde, als dies Aristoteles’ vielfältige Diskussion des Zufalls selbst, seine vierfache Kritik der bislang dem Zufall zuteil gewordenen theoretischen Thematisierung, seine Kritik der deterministischen Leugnung, der kosmologischen Nobilitierung oder der irrationalen Mythisierung oder auch eines verfehlten Selbstverständnisses der vorgenommenen Thematisierung des Zufalls im vierten Kapitel des zweiten Buches seiner Physik zunächst hätte erwarten lassen. Dieser Befund wirft aber nun die Frage auf, inwiefern eine disziplinär verstandene Philosophie überhaupt oder ausschließlich der Adressat der soeben noch einmal rekapitulierten Kritik war. Kritisiert Aristoteles’ Zufallstheorie also gar nicht so sehr oder doch zumindest nicht ausschließlich die philosophische Reflexion des Terminus tyche, als vielmehr jene kulturelle Konjunktur der Göttin Tyche, der er sich als Grieche des vierten vorchristlichen Jahrhunderts, wie wir sogleich ausführlich sehen werden, gar nicht entziehen konnte und in der er nun womöglich ebenjene kosmologische Nobilitierung und irrationale Mythisierung des Zufalls erblicken musste, gegen die er sich so vehement ausgesprochen hat? Überblicken wir das Feld der griechischen Philosophie insgesamt, unabhängig von unserem Seitenblick auf Platons Nomoi und unabhängig auch auch von unserem Versuch einer philosophiegeschichtlichen Kontextualisierung von Physik B 4, dann verdient in der Tat unbedingt festgehalten zu werden: Aristoteles’ Diskussion des Zufalls stellt im Kontext der griechischen Philosophie der Zeit eher einen Sonderweg oder Ausnahmefall in einer aufs Ganze gesehen zufallsfeindlichen philosophischen Atmosphäre dar denn einen weiteren Beitrag in einem schon bestehenden diskursiven Kontext. Grundsätzlich, dieses philosophiegeschichtliche Faktum darf angesichts unserer bisherigen Fragestellung keinesfalls vernachlässigt werden, ist gerade die griechische Naturphilosophie vor und zu der Zeit des Aristoteles von einer entschiedenen Frömmigkeit gegenüber einem unvergänglichen und unentstandenen Kosmos geprägt, die jeden Gedanken an eine Willkürlichkeit oder Beliebigkeit des Naturgeschehens insgesamt oder an eine Willkürlichkeit oder Beliebigkeit einzelner Vorgänge innerhalb dieses Geschehens ausschließt. „Den antiken Griechen war grundsätzlich der Gedanke fremd, dass die Welt im ganzen nicht oder anders sein konnte“50 , so kommentiert Franz Josef Wetz diese Kosmosfrömmigkeit, die einer offensiven Zufallsthematisierung, gar einer Affirmation 49

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Vergleiche hierzu Joachim Ritter, „Aristoteles und die Vorsokratiker“ (1954), in: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 2003, S. 34–56. Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – Ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. 82.

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der unhintergehbaren Existenz eines autarken Zufalls, a priori nicht wohlgelitten war, vielmehr der Tendenz entsprach, diesen kosmologisch zu nobilitieren, deterministisch zu leugnen, irrational zu mythisieren, theologisch zu funktionalisieren oder metaphysisch zu harmonisieren. Insofern haben sowohl des Aristoteles grundlegende theoretische Ambition, eingangs des vierten Kapitels des zweiten Buches der Physik geäußert, sich des Themas des Zufalls erstmalig in einer philosophisch gründlichen und intellektuell seriösen Weise anzunehmen, ebenso wie auch sein Anspruch, ebendies geleistet zu haben, durchaus ihre Berechtigung. Dass Aristoteles den Zufall so explizit und in affirmativer Weise zum Gegenstand einer philosophischen Analyse erhebt, stellt aber nicht nur angesichts des philosophischen Kontextes der Zeit eine Ausnahmeerscheinung dar, sondern auch im Rahmen des aristotelischen Gesamtwerkes. Die Tatsache, dass es sich Aristoteles erklärtermaßen vornimmt, das Thema des Zufalls erstmalig einer nüchternen philosophischen Analyse zu unterziehen, und dass er dies auch tatsächlich tut, dies heißt für ihn ebenso wenig wie für das seinerzeitige philosophische Denken der Griechen schlechthin, dass ihm der Zufall als ein die gesamte Natur strukturierendes Erklärungsprinzip in den Blick gerät. Im Kontext seines eigenen Werkes misst Aristoteles dem Zufall und der Diskussion des Zufalls allenfalls eine untergeordnete Bedeutung bei. Franz Josef Wetz gewichtet die theoretischen Schwerpunkte der aristotelischen Philosophie insofern zutreffend: „Selbst Aristoteles, bei dem es die Möglichkeit des Andersseins durchaus im Bereich menschlicher Handlungen und in allen irdischen Naturvorgängen gibt, da diese doch nur meistenteils in derselben Art und Weise ablaufen, vertrat aufs Ganze gesehen die Auffassung, dass das räumlich begrenzte, aber zeitlich unbegrenzte Weltall unenstanden und unvergänglich sowie von immer gleich bleibender Struktur ist.“51 Wie genau auch immer mithin der philosophiehistorische Kontext von Aristoteles’ Zufallsthematisierung zu bestimmen ist, wie auch immer Aristoteles’ Philosophie, wenn sie den Zufall diskutiert und vom Zufall spricht, verstanden werden muss, die Tatsache, dass Aristoteles den Zufall diskutiert und vom Zufall spricht, darf jedenfalls nicht als philosophiegeschichtlicher Hiatus und völliger geistiger Bruch mit der harmonischen Kosmosvorstellung der griechischen Naturphilosophie seiner Zeit oder seiner Vorgänger verstanden werden. Auch Aristoteles steht im Banne einer für die gesamte griechische Philosophie kennzeichnenden Kosmosfrömmigkeit angesichts der unterstellten Unvergänglichkeiten einer immergleichen Natur; auch für Aristoteles ist die Natur grundsätzlich als „ein Geschehen umwillen von etwas“52 , als ein teleologisch strukturiertes Geschehen zu bezeichnen. „Die Umwillen-Struktur kennzeichnet das gesamte Naturgeschehen“53 , so kommentiert Helene Weiss die aristotelische Naturauffassung. Die konzedierte Existenz des Zufalls stellt insofern auch für Aristoteles den im Ganzen teleologisch strukturierten Zusammenhang allen natürlichen Geschehens 51 52

53

Ebd., S. 82. Helene Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles, Darmstadt 1967 (1942), S. 91. Ebd., S. 95.

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nicht in Frage. Kurzum: Dem Zufall eignet auch und selbst in der Philosophie des Aristoteles trotz all der ihm gewidmeten Thematisierung ein subsidiärer Charakter. Und diesen gleichsam subsidiären Charakter des Zufalls im Rahmen der gesamten aristotelischen Philosophie notiert nicht nur die Heidegger-Schülerin Helene Weiss, sondern auch der Dewey-Schüler Charles Heidel. Für Heidel ist der aristotelische Zufall im Sinne der Begriffe tyche und automaton „purely relative to a process of means and ends.“54 Innerhalb des gesamten teleologischen Naturgeschehens freilich zeigt sich Aristoteles für so etwas wie dysteleologische Faktoren oder Momente sensibel. Diese sind es, die er für die Möglichkeit und die Entstehung eines auf eine ganz spezifische Weise zu verstehenden Zufalls verantwortlich macht; und ebendiese dysteleologischen Faktoren oder Momente zu ignorieren, macht er jeder Variante einer unüberlegten oder kompletten philosophischen Leugnung des Zufalls zum Vorwurf. Wir können hier zum Abschluss des ersten Abschnitts dieses Kapitels noch einmal besonders prägnant jene theoretische Frontstellung beobachten, in die sich Aristoteles’ philosophische Behandlung des Zufalls getrieben sieht. Denn offenkundig richtet sich diese sowohl gegen eine kosmologische Nobilitierung des Zufalls, welche den Zufall zum Erklärungsgrund des Weltgeschehens erhebt, kann es sich doch auch für Aristoteles bei allem Zufall immer nur und allein um eine Suspension oder, wie Helene Weiss schreibt, um das „Verfehlen“55 eines im Ganzen geordneten Zusammenhangs der Natur handeln56 , wie 54

55 56

Charles Heidel, The Necessary and the Contingent in the Aristotelian System, Chicago 1896, S. 27. Für die Kennzeichnung der intellektuellen Abhängigkeiten Heidels gegenüber Dewey vergleiche Heidels Ausssage, Deweys Aufsatz „The Supersition of Necessity“, sei der „point of departure“ (S. 3) seiner Aristoteles-Interpretation. Dieser „point of departure“ lässt sich einer Passage am Ende seiner Arbeit deutlich entnehmen. Heidels Worte könnten von Dewey selbst stammen: „Theory is only a phase of action, and the keynote action is progress toward organization and unity. To set up fixed limits to this process is to falsify fact, and the doing so can lead only to self-contradiction.“ (S. 46) Für Weiss’ intellektuelle Verpflichtung gegenüber Heidegger vergleiche deren Aussage, ihr Interpretationsversuch des Aristoteles „verdankt seine Möglichkeit M. Heideggers unveröffentlichten Interpretationen der griechischen Philosophie.“ Vergleiche hierzu Helene Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles, a.a.O., S. 6. Ebd., S. 93. Andere Schwerpunkte als Weiss setzt Wolfgang Wielands Interpretation des aristotelischen Zufallsbegriffs. Für Wieland ist der Zufall, wie ihn Aristoteles versteht, kein „Verfehlen“ eines teleologischen Zusammenhangs, wie Weiss formuliert, kein dysteleologischer Faktor im Kontext einer ansonsten lückenlosen Teleologie. Vielmehr sei es erst der Zufall, der die teleologischen Elemente der aristotelischen Physik verständlich macht, und erst die Teleologie, die den Zufall verständlich macht. Und insofern ist der Zufall im Rahmen der aristotelischen Naturlehre für Wieland auch keine Suspension, keine Störung, kein „Verfehlen“ der Teleologie, sondern Zufall und Teleologie bedingen sich gleichsam wechselseitig. Die Existenz des Zufalls schränkt die Geltungskraft der aristotelischen Teleologie nicht ein, sondern letztere rechnet immer schon mit dem Zufall. „Wäre die Teleologie ein universales kosmisches Prinzip, gäbe es keinen Zufall. Da es aber nun für Aristoteles Zufälle und beiläufige Ursachen gibt, muss man versuchen, das Telosprinzip von Anfang an so zu verstehen, dass es die Möglichkeit des Zufalls von sich aus nicht nur offenläßt, sondern sogar fordert.“ Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Natur-

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gegen eine mit Hilfe welcher Argumentation auch immer erzielte Eskamotierung des Zufalls. Im Rahmen einer solchen theoretischen Alternative und Frontstellung bestehen anfängliches Motiv und wesentliche Ambition der aristotelischen Zufallsdiskussion darin, dass sie den Zufall in seiner praktischen Relevanz rehabilitieren und ihn in intellektuell nüchterner und seriöser Weise thematisieren, folglich die Existenz des Zufalls weder bestreiten noch diese zum Grund allen Geschehens erheben. (2) Wir dürfen uns also weder von der Tatsache, dass Aristoteles den Terminus tyche im Rahmen einer strengen philosophischen Diskussion einführt und verwendet, noch von der Frage, ob diese rigide Diskussion für die Philosophie der Zeit Ausnahme oder Regel darstellt, in die Irre führen und ablenken und unserer Frage nach dem Kontext der aristotelischen Zufallsthematisierung falsche Schwerpunkte oktroyieren lassen. Es ist uns um den Kontext der aristotelischen Zufallstheorie, und allein um diesen geht es ja bislang in diesem Kapitel, nicht nur oder nicht vorrangig in einem engen disziplinären Sinne, sondern in einem umfassenden geistes- und kulturgeschichtlichen Sinne zu tun. Nicht der philosophische terminus technicus tyche, sei’s dass er im Zuge einer deterministischen Leugnung der tyche durch eine atomistische Naturphilosophie Verwendung findet, sei’s dass er in Platons Nomoi theologisch funktionalisiert und metaphysisch harmonisiert wird, ist es aber wohl, jedenfalls nicht allein und ausschließlich, der Aristoteles vor seinem geistigen Auge steht, wenn dieser sich zu Beginn von Physik B 4 gängigen Redensarten und Ansichten über die tyche in kritischer Absicht zuwendet. Für das Denken und die Kultur der Griechen jenseits und außerhalb der Philosophie ist vielmehr einer als Göttin konzipierten Tyche eine weitaus größere Relevanz zu attestieren als der Verwendung des Begriffs tyche im Rahmen eines vergleichsweise eng umgrenzten philosophischen Diskurses. Bereits der oben zitierten, in Aristoteles’ Physik formulierten Kritik an jenen Personen, „die der Meinung sind, tyche sei eine Ursache, nur eine der menschlichen Vernunft undurchschaubare, da sie etwas Göttliches sei und ins Überwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, a.a.O., S. 259. Ernst Tugendhat hat in einer ausführlichen Rezension von Wolfgang Wielands Werk über die Physik des Aristoteles auf die Merkwürdigkeit und Ambivalenz von Wielands Charakterisierung des aristotelischen Zufallsverständnisses als „Als-ob-Teleologie“ hingewiesen. In der Tat ist ja, darauf verweist Tugendhat zurecht, Teleologie für Aristoteles ein „phänomenaler Tatbestand“, der sich in der Natur aufweisen lassen soll. Der Zufall kann daher für Aristoteles, auch darauf verweist Tugendhat zurecht, nur als eine „Ausnahme“ (S. 397) von einer teleologisch stukturierten Natur verstanden werden. „Dass die Naturdinge nicht aus Zufall, sondern aus einer Zweckursache“ (S. 397) entstehen, dies gilt Tugendhat zufolge für Aristoteles ganz unbestreitbar, und die aristotelische Akzeptanz oder Begrifflichkeit des Zufalls wird laut Tugendhat auch erst vor diesem Hintergrund verständlich. Ist diese Rangordnung innerhalb der aristotelischen Physik oder des aristotelischen Naturverständnisses einmal grundsätzlich geklärt, dann ist es ein lediglich sekundäres und allein terminologisches Problem, inwiefern es gerechtfertigt ist, die Ausnahme von der Teleologie namens Zufall als „Als-ob-Teleologie“ zu bezeichnen, wie Wieland dies tut, oder inwiefern eine solche Redeweise nicht gerade Missverständnisse heraufbeschwört, wie sich mit Weiss und Tugendhat kritisieren ließe. Vergleiche hierzu Ernst Tugendhat, „Rezension zu Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik“ (1963), in: Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S. 385–401.

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natürliche weise“, der Kritik an einer irrationalen Mythisierung der tyche ließen sich deutliche Anzeichen dafür entnehmen, dass selbst eine vorrangig philosophisch ambitionierte Diskussion des Zufalls wie diejenige des Aristoteles sich im Griechenland des vierten vorchristlichen Jahrhunderts der kulturellen und religiöse Präsenz der Göttin Tyche wohl kaum entziehen konnte. Freilich lässt sich diese kulturelle und religiöse Präsenz der Göttin Tyche, wie wir im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch ausführlich sehen werden, ebenfalls, ja in besonderem Maße für die gleichsam post-aristotelische Kultur des Hellenismus konstatieren. Daher wenden wir uns nun in diesem zweiten Abschnitt dieses Kapitels von dem philosophischen Begriff und Thema tyche ab und der Göttin Tyche zu: mithin der Datierung der kulturellen Konjunkturen dieser Göttin, der genauen Bestimmung ihres Status, dem Verständnis ihrer Göttlichkeit, aber auch der Frage nach ihren charakterlichen Merkmalen und Wesenszügen sowie schließlich den praktischen Maximen, wie sie für einen angemessenen menschlichen Umgang mit dieser Göttin in griechischer Kultur und Religion formuliert wurden. Zudem müssen wir uns der Frage zuwenden, ob und inwiefern denn eine Göttin Tyche tatsächlich noch jenen Zufall repräsentiert, der in der philosophischen Diskussion als tyche charakterisiert wurde, oder nicht gerade etwas ganz anderes und eben ganz und gar nicht Zufälliges meint. Im Einzelnen gehen wir dabei in diesem zweiten Abschnitt des Kapitels so vor, dass wir die Tyche als Objekt religiöser und kultischer Verehrung in den Blick nehmen, wobei sich die diesbezüglichen Bemerkungen nicht immer exakt und präzise auf jenen Zeitraum begrenzen lassen, den wir momentan im Blick haben, also die Zeit, während der Aristoteles schrieb, sowie die Zeit davor (b). Sodann werden wir auf schriftliche Erwähnungen und Diskussionen der Tyche unterschiedlichster Provenienz blicken, die nun tatsächlich streng der Ära von Aristoteles’ Wirken und Schaffen oder der Zeit davor entnommen sind. Die Thematisierung der Tyche, wie sie sich vor allem in Literatur und Geschichtsschreibung der Griechen findet, sie vor allem wird es sein, die uns die beiden genannten Fragen nach den Kompetenzen und Charakteristika der Göttin Tyche ebenso wie nach dem von den Griechen anempfohlenen rechten Umgang des Menschen mit dieser Göttin zu klären hilft (c). Bevor wir jedoch sowohl auf die genauen Formen der kultischen und religiösen Verehrung der Göttin Tyche sowie ihre Charakterisierung in Literatur und Geschichtsschreibung zu sprechen kommen, bedürfen drei prinzipielle Fragen vorweg einer grundsätzlichen Klärung, die unsere bisherige Redeweise, die unbefragt stets von einer Göttin namens Tyche sprechen zu können glaubte, provoziert haben dürfte (a). (a) Im Einzelnen lauten diese drei Fragen: Erstens: Ist es überhaupt legitim, die Erwähnung der Tyche oder den Gebrauch des Terminus tyche im griechischen Denken so zu verstehen, als sei hier von einem göttlichen Wesen die Rede? Zweitens: Wenn dies legitim ist, war dies immer so? Anders gefragt: Ab welchem Datum, für welchen Zeitraum lässt sich nachweisen, dass die Griechen mit Tyche ein göttliches Wesen meinten? Und schließlich drittens: Wenn die Tyche den Griechen zumindest zu einer bestimmten Zeit tatsächlich ein göttliches Wesen bedeutete, wie genau wurde dann die Göttlichkeit dieses göttlichen Wesens verstanden? – Gehen wir zunächst auf die zweite Frage ein: Während für das vierte Jahrhundert vor Christus vielfache archäologische, numismatische und schriftliche Belege Zeugnis für eine kultische Verehrung eines Wesens namens

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Tyche ablegen, ist dies schon für das fünfte vorchristliche Jahrhundert ungleich problematischer: „Prior to the fourth century, evidence for Tyche as a goddess is somewhat more problematic. Some evidence exists for a cult of Tyche in the fifth and even the sixth century B.C., but it is mostly derived from written sources that are centuries later than the statues and temples they mention, and it must thus be viewed with some caution.“57 Während sich demnach ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert die Existenz eines göttlichen und entsprechend verehrten Wesens namens Tyche nachweisen lässt, ist dies für die Zeit vor dem vierten Jahrhundert ungleich weniger eindeutig; für diesen Zeitraum lässt sich die Frage, ob es legitim ist, Zeugnisse einer kultisch verehrten Tyche als Ausdruck eines bereits seinerzeit unterstellten göttlichen Wesens zu deuten, mithin die erste der drei genannten Fragen, also nur schwer entscheiden. Zwar sprach bereits Pindar im fünften Jahrhundert, wie wir noch sehen werden, von der Tyche als der Tochter des Zeus58 , also von der Tyche dezidiert als einer Göttin, aber diese Redeweise ist dem Urteil von Susan Matheson zufolge nicht repräsentativ: „Pindar’s apparent view of Tyche as a goddess seems to be somewhat out of the ordinary for the fifth century, based on surviving works by other writers.“59 Hingegen spricht die reiche Vielfalt der kultischen Verehrung der Tyche, die ihr ab dem vierten Jahrhundert entweder allein oder – häufiger – in einer synkretistischen Kombination mit anderen Gottheiten bezeugt wurde und die sich schriftlich oder anderweitig belegen lässt, unzweideutig dafür, dass die Tyche sich in einem Jahrhunderte währenden, äußerst komplexen und kaum im Detail nachzuzeichnenden Prozess schließlich spätestens mit dem vierten Jahrhundert, wie auch immer ihr Wesen in der Zeit davor verstanden wurde, zu mehr als lediglich einer Personifikation oder einem abstrakten Begriff oder einem Symbol oder einem rhetorischen Topos oder einer Allegorie, sondern tatsächlich zu einer Göttin fortentwickelt hatte, deren göttliches Wesen unstrittig war, auch wenn sie nicht der olympischen Götterfamilie entstammte. Diese Göttin wurde angebetet, ihr wurde geopfert und ihr wurde Dank entrichtet. Insofern wird die religiöse Dimension der Tyche verkannt, wird sie auch noch für das vierte Jahrhundert oder die Zeit danach lediglich als „une abstraction enfermée dans uns forme 57

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Susan Matheson, „The Goddess Tyche“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Roman and Greek Art, New Haven 1994, S. 20. So kann die auf die Mitte des 6. Jahrhunderts datierte Tyche-Statue von Smyrna als das älteste bezeugte Kultbild der Tyche gelten, welches uns freilich nur indirekt, nämlich nach einer Beschreibung des Pausanias aus dem 2. Jahrhundert nach Christus bekannt ist. Im vierten Buch von Pausanias’ Beschreibung Griechenlands heißt es: „Bupalos aber, ein bedeutender Baumeister von Tempeln und Bildner von Kunstwerken, der den Smyrnaeern eine Statue der Tyche schuf, hat sie als erster, soweit wir wissen, mit einer Götterkrone auf dem Kopf dargestellt und in der einen Hand mit dem von den Griechen sogenannten Horn der Amaltheia.“ Pausanias, Beschreibung Griechenlands. Band 1, herausgegeben von Ernst Mayer, München 1972, S. 232. Siehe hierzu weiter meine Ausführungen auf S. 99 f. in diesem Kapitel. Susan Matheson, „The Goddess Tyche“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Roman and Greek Art, a.a.O., S. 21.

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plastique“60 beschrieben. Zutreffender ist vielmehr die Einschätzung von Matheson, die über den göttlichen Status der Tyche folgendes Urteil trifft: „[…] her divine nature was the result of a complex evolution from idea to personification to goddess that took place mainly in the fourth century B.C. and the Hellenistic period. The idea of chance or fortune (tyche) that Tyche personified was familiar to the ancient Greeks as an element of life well before Tyche became divine, and the role that chance played in the events of history and in individual lives was often a focus of poets and philosophers. But the recognition of tyche as a force, the chance by which things happened, beyond the control and often in contradiction to the plans of men, was different from the acknowledgment of Tyche as a goddess, who could be propitiated by offerings in the hope of ensuring a good fortune. […] There is little doubt that by the fourth century B.C. Tyche was firmly established as a goddess in Athens and many other cities of the Greek world.“61 Selbst jedoch wenn somit der göttliche Status der Tyche für das vierte Jahrhundert vor Christus zweifellos zugestanden wird, mithin die beiden ersten der drei oben genannten Fragen beantwortet sind, bleibt doch immer noch die dritte Frage ungeklärt, die Frage nämlich, wie genau denn die Göttlichkeit dieser göttlichen Instanz zu verstehen ist? Sicherlich ist die Tyche nicht als transzendente Gottheit oder als einzig bestehende Göttin im Sinne einer monotheistischen Religion zu verstehen. Gleichwohl würde ihre religiöse Funktion unterschätzt, wenn sie lediglich als Allegorie oder als ein abstraktes Konzept im Sinne von Bouché-Leclercq gedeutet wird. Angemessen scheinen mir die Funktion, der göttliche Status und das Wesen der Göttin Tyche im Kontext der griechischen Religion zumindest für die Zeit ab dem vierten Jahrhundert vor Christus durch Walter Pötschers Begriff des „Person-Bereich-Denkens“62 auf den Begriff gebracht zu sein, durch einen Begriff, den übrigens auch Gregor Vogt-Spira, auf dessen Arbeit über die Tyche in den Komödien Menanders wir noch ausführlich zu sprechen kommen werden, als „einleuchtend“63 bezeichnet und der für ihn einen wesentlichen Grund „ihrer weiten und dauerhaften Verbreitung vom Hellenismus bis in die Kaiserzeit“64 benennt. Gemäß Pötschers Begriff des Person-Bereich-Denkens sind eine personal zu denkende Göttin65 und der Bereich ihrer Wirkungskraft untrennbar eins. Und für die Tyche lasse 60

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Auguste Bouché-Leclercq, „Tyché ou la Fortune. A propos d’un ouvrage récent“, in: Revue de l’Histoire des Religions 23 (1891), S. 273. Susan Matheson, „The Goddess Tyche“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Roman and Greek Art, a.a.O., S. 19. Vergleiche hierzu insgesamt Walter Pötscher, „Person-Bereich-Denken und Personifikation“, in: Hellas und Rom, Hildesheim/Zürich/New York 1988, S. 70–84. Gregor Vogt-Spira, Dramaturgie des Zufalls. Tyche und Handeln in der Komödie Menanders, München 1992, S. 35. Ebd., S. 36. Auch Gertrud Herzog-Hauser schreibt, dass Tyche im Unterschied zur homerischen Moira durchaus als „Individualität oder Persönlichkeit“ gedacht wurde, „und zwar sowohl von der geistig führenden Schicht, wie Philosophen, Dichtern, Rednern, als auch von dem Mann aus dem Volke. Nur so ist zum Beispiel der weitverbreitete Kult der Tyche, ihre Beliebtheit in der Popularphilosophie

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sich nun ein solches Person-Bereich-Denken ebenso konstatieren, wie dies beispielsweise auch für den Sonnengott Helios und die Sonne helios gilt, sodass also in dem einem Begriff Tyche/tyche oder Helios/helios untrennbar sachlicher Wirkungsbereich und personale Komponente verschmelzen: Wo tyche das Leben der Menschen bestimmt, herrscht Tyche, wo Tyche herrscht, ist tyche im Leben der Menschen präsent. Deswegen ist im Übrigen auch niemals ganz präzise zu entscheiden, ob tyche mit einer Minuskel oder mit einer Maiuskel als Tyche zu schreiben ist. Denn offensichtlich stellt Tyche/tyche eine spezifische Kategorie religiösen Denkens dar, welche die Trennung von göttlicher Person und Wirkungsbereich dieser göttlichen Person unterläuft. Nachdem der Versuch, mit der Beantwortung der drei oben genannten Fragen in den zweiten Abschnitt dieses Kapitels einzuführen, es als gerechtfertigt erscheinen lässt, zumindest ab dem vierten Jahrhundert vor Christus von einer die griechische Kultur außerordentlich intensiv prägenden Göttin Tyche, jedenfalls von einer die Kultur und das Denken der Griechen keinesfalls weniger intensiv als ein im Kontext naturphilosophischer Debatten formulierter terminus technicus prägenden Tyche zu sprechen, von einer Göttin, deren Wesen, wie auch immer ihre einzelnen Attribute und Charakterzüge bestimmt sein mögen, verfehlt wird, wird sie als Allegorie, Symbol, rhetorischer Topos oder Personifikation gedeutet, ist es nun an der Zeit, die genauen Formen der Verehrung dieser Göttin in Kult und Religion zumindest überblicksartig zu skizzieren. (b) Grundsätzlich wurde für das vierte Jahrhundert vor Christus und später für die gesamte Zeit des Hellenismus eine „obsession with fortune“66 diagnostiziert, die sich in höchst facettenreicher Weise in Kultur und Alltag zeigte, in Religion und Kunst manifestierte. Unzählig sind in der Tat jene historischen Dokumente der Zeit, die hinreichend unter Beweis stellen: einer als Göttin dargestellten und aufgefassten Tyche wurden seinerzeit Opfer dargebracht; eine Göttin Tyche wurde angebetet und verehrt; Tyche war Gegenstand von feierlichen Zeremonien und Ritualen; sie fand Erwähnung in Widmungen und Grabepigrammen, sie erschien auf Münzen und als Statue. Sie konnte als Schutzgöttin einer Stadt67 , als persönliche Tyche eines jeden einzelnen im Sinne eines individuellen daimon wie als die Tyche eines bestimmten Herrschers fungieren. Die Göttin Tyche fand ferner Eingang in alltägliche Redewendungen – „im gewöhnlichen Leben, beim Kommen und Gehen, beim Beginn einer Handlung oder Unternehmung“68

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und in der Komödie zu erklären.“ Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, Stuttgart 1948, Sp. 1646. J. J. Pollitt, „An Obsession with Fortune“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Greek and Roman Art, New Haven 1994, S. 13. Vergleiche Pollitts klärende Bemerkung zum durchaus göttlichen Status einer solchen Stadtgöttin (ebd., S. 15): „It is important to emphasize that while these Tyche figures had an allegorical content that was typical of their age, and that while they probably served the same function that flags and state seals do in our own time, they were not simply symbols. In most cities Tyche was the recipient of a cult, and the fortune of a city was understood as something very real, even if unknown.“ Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1645.

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wurde auf sie verwiesen, wie Gertrud Herzog-Hauser vermerkt – wie auch Erwähnung in den Formeln von politischen Verträgen oder Urkunden. So berichtet Karl Lehrs folgende begriffliche Verwendung der Tyche aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges: „Unter der Urkunde eines von den Lacedämoniern vorgeschlagenen Waffenstillstandes heisst es in der Bestätigungsurkunde von Seiten der Athenienser (erhalten bei Thucydides): ‚Angenommen vom Volk. – Von Laches angetragen, mit der guten Tyche der Athenienser den Waffenstillstand zu schliessen, und beigestimmt vom Volk, es solle Waffenstillstand sein auf ein Jahr.‘“69 Außerdem lassen sich für das vierte Jahrhundert vor Christus zahlreiche Kultbilder und Heiligtümer, sowohl der Tyche allein als auch einer synkretistischen Kombination mit anderen Göttern geweiht, nachweisen. Diese unzähligen kultischen und religiösen, schriftlichen wie nicht-schriftlichen Repräsentationen der Tyche lassen sich an dieser Stelle nicht ausführlich behandeln. Aber immerhin zwei Heiligtümer oder bildhafte Verehrungen der Göttin Tyche, auch wenn diese Beispiele gerade nicht mehr aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert stammen, möchte ich an dieser Stelle nicht übergehen, nicht zuletzt deshalb, weil sie uns sowohl Hinweise für die Beantwortung der Frage liefern, wie seinerzeit das Verhältnis des Menschen und seiner Taten zu der Göttin Tyche konzipiert wurde, als auch einzelne charakterliche Merkmale der Tyche zu erkennen geben und damit bereits auf die beiden Fragen und das Thema der Sektion (c) verweisen: Wohl unmittelbar nach Gründung der Stadt Antiochia durch Seleukos um 300 vor Christus dürfte die wohl berühmteste aller Tyche-Statuen, die Tyche von Antiochia, entstanden sein. Auch von ihr, einem Werk des Eutychides, ist uns, wie von der Tyche von Smyrna70 , kein Original erhalten, aber literarische und numismatische Quellen sowie spätere Kopien, deren bedeutsamste sich heute in den Vatikanischen Museen befindet, versetzen uns in die Lage, die Tyche von Antiochia bildlich genau rekonstruieren zu können: „Nach den Münzbildern und Repliken […] kann eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Originalbildwerk gewonnen werden.“71 Ins Auge stechen dabei, betrachtet man die Replik aus den Beständen des Vatikanischen Museums, eine Marmorstatuette, die 1819 erstmals als Kopie des wohl „so gut wie sicher“72 überlebensgroßen Originals identifiziert wurde, zunächst einmal lokale topographische Besonderheiten.73 Die Tyche sitzt auf dem Berg Silpios; ihr rechter Fuß ist gestützt auf die rechte Schulter eines nackten männlichen Oberkörpers, der für den Fluß Orontes steht. Das Bewegungsspiel der Beine suggeriert, dass schon im nächsten Moment die Figur sich unberechenbar einer neuen Bewegung überlassen könnte. Den Kopf der Tyche schmückt sodann eine sogenannte Mauerkrone, eine Krone, die einer Stadtmauer nachgebildet ist. Diese Mauerkrone wird auch noch in späteren Jahrhunderten als das wichtigste Erkennungszeichen der Tyche gelten, wenn sie denn im Sinne einer Stadtgöttin amtet. In ihrer Rechten hält 69 70 71

72 73

Karl Lehrs, „Tyche und Dämon“, in: Populäre Aufsätze aus dem Alterthum, Leipzig 1875, S. 179. Vergleiche hierzu oben Anmerkung 57 auf S. 91 in diesem Kapitel. Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1684. Tobias Dohrn, Die Tyche von Antiochia, Berlin 1960, S. 7. Vergleiche Abbildung 1, S. 720.

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die Tyche sodann ein Büschel Ähren, Symbole der Fruchtbarkeit und des Wohlstands. Diese Tyche von Antiochia war es nun, die zu einem Prototyp für alle späteren Darstellungen der Tyche auf Münzen wie in der Form von Statuen werden sollte. Vor allem insofern die Tyche als Schutzgöttin einer Stadt fungierte, eignete ihrem augenfälligsten Attribut, der Mauerkrone, eine nachhaltige kunstgeschichtliche Karriere. In einer mich tief berührenden Weise findet sich die Tyche in einer bildlichen Darstellung der hellenistischen Zeit, die sich nun weniger auf das große Ganze der Weltgeschichte oder auch nur der Stadtgeschichte bezieht, sondern unmittelbar die alltäglichen Sorgen und Leiden betrifft, auf eine Geschichte verweist, in die sich jemand unverfügbar verstrickt fand. Ich meine die Grabstele der Hediste, die sich heute im Archäologischen Museum von Volos befindet und ungefähr aus der Zeit um 200 vor Christus stammt.74 Dargestellt ist die bei der Geburt ihres Kindes ums Leben gekommene Hediste, betrauert von ihrem Ehemann, während im Hintergrund eine Amme einen toten Säugling in ihren Armen hält. Pollitt kommentiert die Szene mit den Worten „It is not just the sadness of death but its suddenness that interested the painter of the stele“75 . Und das Epitaph der Stele lässt nun keinen Zweifel daran, dass die Urheberschaft für das dargestellte Drama letztlich einer Instanz namens Tyche zuzurechnen ist.76 So viel zu zwei künstlerischen Darstellungen aus der Zeit des Hellenismus, welche nun aber hinsichtlich der beiden in Sektion (c) zu behandelnden Fragen, welches die wesentlichen Merkmale der Tyche sind und wie wiederum die so charakterisierte Tyche durch menschliches Tun und Handeln zu beeinflussen ist oder eben auch nicht, besonders aussagekräftig sind, so viel zu zwei hellenistischen Exempeln für jene kultische und religiöse Verehrung einer als Göttin betrachteten Tyche, die sich aber durchaus schon früher, ab dem vierten Jahrhundert vor Christus, also auch zu der Zeit, da Aristoteles schrieb und lebte, vielfach belegen lässt. Nicht minder als der im engeren Sinne philosophiehistorische Kontext von Aristoteles’ Zufallsthematisierung, das heißt, wie wir sahen, nicht minder als die deterministische Leugnung des Zufalls durch die atomistische Naturphilosophie oder die theologische Funktionalisierung und metaphysische Harmonisierung des Zufalls in Platons Nomoi, vermag gerade dieser geistes- und kulturgeschichtliche Kontext einer kultischen und religiösen Verehrung Aristoteles’ Gedanken über den Zufall bestimmt haben, ihn vor allem zu seiner oben zitierten Kritik an einer kosmologischen Nobilitierung wie an einer irrationalen Mythisierung des Zufalls, für die wir ja bezeichnenderweise gerade keine konkret nachweisbaren philosophischen Adressaten ausfindig machen konnten, zu seiner Invektive gegen „Leute, die für diesen (unseren) Himmel und für alle Welten als Ursache automaton ansetzen“77 als auch zu seinem Tadel all jener, „die der Meinung sind, die Tyche sei eine Ursache, nur eine der menschlichen Vernunft undurchschaubare, da sie etwas Göttliches sei und ins Übernatürliche weise“78 , 74 75

76 77 78

Vergleiche Abbildung 2, S. 721. J. J. Pollitt, „An Obsession with Fortune“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Greek and Roman Art, a.a.O., S. 17. Vergleiche hierzu auch J. J. Pollitt, Art in the Hellenistic Age, Cambridge 1986, S. 4–5. Vergleiche dazu weiter oben in diesem Kapitel Anmerkung 18, S. 74. Vergleiche dazu weiter oben in diesem Kapitel Anmerkung 21, S. 75.

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angeregt haben. Zugleich vermag das Bewusstsein um die intensive kulturelle und religiöse Verehrung der Tyche in der Zeit des Hellenismus wie in der Zeit davor auch das Originäre jener im vorherigen Abschnitt dieses Kapitels vielfach erwähnten Ambition der aristotelischen Zufallstheorie, nämlich das Wesen des Zufalls in einer philosophisch und intellektuell seriösen Weise zu durchdringen, schärfer zu profilieren. Die Frage wiederum, was denn nun für die Kultur und das Denken jener Zeit aus der so vielfach nachweisbaren Darstellung und Anrufung der Göttin Tyche sowohl hinsichtlich ihres Wesens, ihrer charakteristischen Eigenschaften und Kompetenzen, als auch im Hinblick auf den rechten menschlichen Umgang mit ihr folge, lässt sich prägnanter und eindringlicher, als dies mit Hilfe der wie auch immer gearteten Relikte kultischer und bildhafter Verehrung oder der Objekte numismatischen Gebrauchs gelingen könnte, anhand von schriftlichen Quellen beantworten. (c) Dabei blicken wir zunächst, interessiert uns doch momentan ausschließlich der umfassende geistige und kulturelle Kontext der aristotelischen Diskussion von tyche und automaton in Physik B 4–6, auf schriftliche Erwähnungen der Göttin Tyche vor und zu der Zeit des Aristoteles. Welche Wesenszüge eignen justament in jener Zeit der Göttin Tyche, etwa in der Literatur, in der Geschichtsschreibung oder auch in der Rhetorik? Verkörpert die Göttin Tyche in jener Zeit den Zufall, oder symbolisiert sie im Gegenteil einen Aspekt jener göttlichen Ordnung, die ganz und gar nicht zufällig ist? Welches sind die wesentlichen charakterlichen Merkmale der Tyche in diesen schriftlichen Quellen? Welchen Umgang sollte der Mensch mit dieser Tyche pflegen? Wir erwähnten bereits, dass eine kultische und religiöse Verehrung einer Göttin Tyche zweifelsfrei erst ab dem vierten Jahrhundert vor Christus nachgewiesen werden kann. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse eines nominal gebrauchten, vom Verb „treffen“ (τυγχάνειν) abgeleiteten Begriffs tyche lassen sich indes bereits weitaus früher auffinden: in Hesiods Theogonie (v. 360) und in dem homerischen Hymnus auf Demeter (v. 420). Bei Hesiod erscheint Tyche als Nymphe und Tochter des Okeanos; in dem homerischen Hymnus erscheint sie ebenfalls als Nymphe „unter den Gespielinnen der Persephone“79 . Hingegen fehlt das nominal gebrauchte tyche sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee: „In den beiden großen Epen Homers kommt Tyche bekanntlich nicht vor; ihre Funktionen werden durch Moira ausgeübt.“80 79

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Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1647. Ebd., Sp. 1650. Vergleiche hierzu auch die Bemerkung von Hans Herter bezüglich Ilias und Odyssee: „Hier steht der Mensch unter Zeus und den Göttern und andererseits unter der Moira, und so ist es Stilgesetz des Epos geblieben.“ Hans Herter, „Tyche“ (1962), in: Kleine Schriften, herausgegeben von Ernst Vogt, München 1975, S. 77. Vergleiche dazu auch die Bemerkung von Erwin Rohde: „Die Tyche ist eine junge Göttin. Homer kennt sie noch nicht; von Archilochus bis Aeschylus tritt sie bei den Dichtern auf als ein Dämon im Dienste höherer Gottheiten, der Moira ähnlicher als einem willkürlich seine Gaben verteilenden Zufall.“

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Betrachten wir daher spätere literarische Genres als das Epos, zunächst die Tragödiendichter und dann Pindars Lyrik, der sich das bemerkenswerteste Beispiel einer ausführlichen Erwähnung und Diskussion der Göttin Tyche vor der Zeit des Hellenismus entnehmen lassen wird: Für die attische Tragödie lässt sich eine vielfache und grammatikalisch höchst mannigfaltige Verwendung des Verbum τυγχάνειν nachweisen, die „in der weitaus überwiegenden Anzahl“81 aller Fälle ein neutrales, indifferentes und unpersönliches Geschehen oder Eintreffen meint. Zwar ist bei Aischylos und Sophokles an wenigen Stellen von einer Tyche durchaus auch im Sinne einer personalen Gottheit die Rede. Allein, diese Göttin Tyche steht keinesfalls für den Zufall, so wie dies der Terminus tyche zweifellos in der aristotelischen Philosophie tut, auch wenn wir noch klären müssen, was dieser Zufall namens tyche für Aristoteles genau heißen soll. Einen Zufall oder gar eine Göttin des Zufalls, welche die tradierten religiösen Vorstellungen einer Ordnung des Kosmos in Frage stellte, darf man nirgendwo bei Aischylos und Sophokles vermuten. Für Aischylos etwa gelangt Heinrich Meuss in seiner Studie Tyche bei den attischen Tragikern zu dem Ergebnis, zwar finde sich eine Göttin Tyche bei Aischylos an wenigen Stellen erwähnt, „aber in untergeordneter Stellung, kaum mehr als eine ‚Augenblicksgottheit‘, eine Personifikation des Gelingens. Sie kann sich keiner Verwandtschaft rühmen wie etwa Peitho, der Aphrodite Tochter, oder gar Dike, die des Zeus: sie greift nirgends selbständig entscheidend in die Geschicke der Sterblichen ein.“82 Bei Sophokles ist dies nicht anders. Auch dieser räumt, so Meuss, „der Tyche nur einen bescheidenen Platz ein; wo er sie als Gottheit ansieht, ist sie auch ihm die Göttin des Glückes.“83 Ja, einer vermeintlichen Auffassung der Tyche als Göttin des Zufalls opponiert Sophokles vehementer noch als Aischylos. Dies lässt sich des Sophokles Charakterisierung der Iokaste in König Oidipus deutlich entnehmen. Iokaste wird von Sophokles, so schreibt Meuss, „überall gekennzeichnet als leichtfertig, oberflächlich, dem Augenblicke lebend; so entblödet sie sich nicht, nachdem sie zu Apollon gebetet, den Glauben an die Gültigkeit seiner Sprüche, die sie schon vorher bespöttelt hat, ganz über Bord zu werfen, als sie die Nachricht vom Tode des Polybos vernimmt. […] es ist ein nur wenig eingeschränkter praktischer Atheismus, mit dem wir es hier zu thun haben, freilich nicht als konsequent durchgeführte Weltanschauung, sondern als ein gedankenloser Augenblicksatheismus. Zu einer Zeit, wo die

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Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 1914, S. 297. Vergleiche auch die Bemerkung von Macrobius: „Fortunam Homerus nescire maluit, et soli deo, quam μοιραν vocat, omnia regenda committit; adeo ut hoc vocabulum τύχη in nulla parte Homerici voluminis nominetur.“ Ambrosius Theodosius Macrobius, Saturnalia, herausgegeben von Jakob Willis, Leipzig 1963, S. 312 f. Heinrich Meuss, Tyche bei den attischen Tragikern, Hirschberg 1899, S. 16. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9.

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T – D  W  Z Aufklärung mit aller Macht an dem Bau des alten Olymps rüttelte und ihn in seinen Grundfesten erbeben liess, war eine solche Auffassung bei oberflächlichen Naturen sicherlich nichts Seltenes mehr. So benutzt sie denn der Dichter als ein Mittel der Charakteristik für die Figur seiner Iokaste. Dass er selbst ganz anderer Ansicht ist, zeigt – ganz abgesehen von seinem sonst überall hervortretenden frommen Götterglauben – sofort der weitere Verlauf des Stückes. Er [Sophokles; P. V.] macht damit schweigend, aber deutlich Opposition gegen eine solche Erhebung der τύχη auf den Thron der Götter.“84

Auch Euripides, der die Tyche in seinen Dramen schon in zahlenmäßiger Hinsicht weitaus häufiger nennt als die beiden zuvor genannten Autoren85 , gilt Tyche – so wie schon Aischylos und Sophokles – nicht als Göttin des Zufalls, ja – eindeutiger oder anders als bei Aischylos und Sophokles – überhaupt nicht als Göttin; allerdings tritt ihr Euripides auch nicht, so wie sich dies soeben für Sophokles zeigen ließ, im Namen einer tradierten Religion entgegen. Vielmehr wird die Tyche bei Euripides zugelassen, aber eben als eine „unpersönliche, die Weltschicksale bewirkende Macht“86 , die „vielfach mehr oder weniger selbständig neben die Götter“87 tritt. Im Zeitalter des Euripides, dem jüngsten der drei großen attischen Tragiker, hat man, so fasst Meuss seine Untersuchungen zur Göttin Tyche in der griechischen Tragödie zusammen, „an der Weltleitung durch die alten Götter […] zu zweifeln begonnen, ohne sie doch völlig fallen zu lassen. So setzt man neben sie, ja auch über sie eine Macht höchst unbestimmter Art, der gegenüber man eben wegen dieser Unbestimmtheit durch keine Bedenken sittlicher Art gebunden ist: die Tyche; nicht die Glücksgöttin, überhaupt zunächst keine Göttin, kein persönliches Wesen; eine blosse Potenz, auf die man alles Geschehen, Glück wie Unglück zurückführt, überall wirkend, aber in diesen Wirkungen nie nach irgendwelchen sittlichen oder intellektuellen Gesetzen zu berechnen, kaum etwas anderes als der blinde Zufall.“88 84 85

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Ebd., S. 8. Gerda Busch verweist darauf, dass bei Euripides die Tyche häufiger vorkommt als bei Aischylos und Sophokles, nämlich ungefähr ein Dutzend mal je Stück erwähnt wird. Vergleiche hierzu Gerda Busch, Untersuchungen zum Wesen der τύχη in den Tragödien des Euripides, Heidelberg 1937, S. 10. Heinrich Meuss, Tyche bei den attischen Tragikern, a.a.O., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 17. Bezüglich der Unterschiede der Einschätzung der Tyche in der attischen Tragödie, hier Sophokles und Aischylos, dort Euripides, vergleiche auch das Urteil in der Encylopedia of Religion and Ethics: „With Sophocles, as with Aeschylus, the religious view prevails, and fortune is nothing but the mode of action of the gods […] It is not till we come to Euripides, ‚the rationalist,‘ that Fortune appears as a rival power to that of the gods. Euripides was a man of a religious cast of mind, but he was unable to accept the contradictions of the established theology, and he gave values to the new science and the new philosophy of the Periclean age […] Chance, it is suggested, is the true bishop of the diocese of man. With the elder dramatists we found that there was a tendency to resolve chance into Divine agency; with Euripides the tendency is to resolve Divine agency into chance.“

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So ergibt sich für die Tyche der Tragödie sowohl hinsichtlich ihres genauen Status, hinsichtlich ihrer genauen Wesensmerkmale als auch bezüglich ihres Verhältnisses zu der olympischen Götterwelt kein einheitliches Bild. Wie ist es diesbezüglich um andere literarische Genres bestellt? Für die Lyrik Pindars ist das Urteil formuliert worden, sie gebe die Tyche-Auffassung der klassischen Zeit „in ihrer ersten umfassenderen Ausprägung“89 wider. Welche Antworten auf die uns interessierenden Fragen ließen sich dann dieser pindarischen „Ausprägung“ der Tyche entnehmen? – Der Blick auf die ersten Zeilen von Pindars zwölfter Olympische Ode, die etwa um 470 vor Christus entstanden ist, zeigt zunächst einmal, dass anders als bei Euripides der Tyche ein göttlicher Status und anders als bei Aischylos und Sophokles der Tyche ein göttlicher Status von außerordentlich hoher Dignität zuerkannt wird: Ich flehe, Tochter Zeus’, des Befreiers: Himera, das weitmächtige, umhege, Retterin Tyche!90 Von der Tyche als einer Göttin, genauer: als einer Tochter des Zeus ist also bei Pindar die Rede, einer Tochter, die von Pindar offenkundig als derart mächtig eingeschätzt wird, dass von ihr das Wohl und Wehe der Stadt Himera abhängt. Welche Merkmale aber eignen Pindar zufolge einer solchen Göttin? Unmittelbar nach dem zitierten Anfang der Ode fährt der Dichter fort: Denn nach dir werden auf dem Meer gesteuert Die schnellen Schiffe und auf dem Festland Die raschen Kriege und die ratspflegenden       Versammlungen. Es werden aber vielfach hinauf und wieder hinunter, Eitlen Trug durchschneidend, gewälzt der Männer Berechnungen.91 In diesen Zeilen attestiert Pindar der Tyche neben ihrer Verwandtschaft mit Zeus, die ihren göttlichen Status ja wohl eindrücklich bezeugt, doch offenkundig noch zwei weitere Merkmale. Außerordentlich mächtig herrscht die Tyche über alle menschlichen Belange, so heißt es. Das ihr unterstellte Herrschaftsgebiet ist außerordentlich groß, es bestimmt das Kriegsgeschehen wie das Wohl und Wehe der Seefahrer und Seereisenden; und es ist von unmittelbarer alltäglicher Relevanz, denn wiewohl nicht jeder Soldat oder See-

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St. George Stock, „Artikel: Fortune (Greek)“, in: James Hastings (Hg.), Encyclopaedia of Religion and Ethics, Volume 6, Edinburgh 1913, S. 94. Hans Strohm, Tyche. Zur Schicksalsauffassung bei Pindar und den frühgriechischen Denkern, Stuttgart 1944, S. 44. Vergleiche auch die Einschätzung in der Encylopedia of Religion and Ethics, Pindars zwölfte Olympische Ode „may be considered as the first formal appearance of Fortune on the stage of Greek literature.“ St. George Stock, „Artikel: Fortune (Greek)“, in: James Hastings (Hg.), Encyclopaedia of Religion and Ethics, Volume 6, a.a.O., S. 93. Vergleiche hierzu Wolfgang Schadewaldt (Hg.), Pindars Olympische Oden, Frankfurt am Main 1972, S. 52. Ebd., S. 52.

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fahrer ist, so ist von den sich wandelnden Zeitläuften des politischen Geschehens in den „ratspflegenden Versammlungen“ doch jedermann betroffen. Das Walten und Wirken der mächtigen Tyche ist ferner, so lässt sich Pindars Worten entnehmen, „der Männer Berechnungen“ nicht gefügig. Die Tyche hält dem Menschen Glück und Leid bereit gemäß einer Dramaturgie, welche der Mensch nicht einsehen und beeinflussen kann: Doch hat ein Zeichen noch keiner der Erdbewohner, Ein verlässliches, für künftiges Handeln gefunden Von Gott her. Und für das Kommende Sind blind die Sinne. Viel aber ist den Menschen Wider Erwarten ausgefallen, Entgegen dem Ergötzen. Welche aber Auf widrige Wogenschwälle trafen, Die haben auch wieder ein tiefes Edles Gegen das Leid Eingetauscht in kurzer Zeit.92 Bestätigt der Beginn der soeben zitierten Verse das bereits aufgrund des vorangegangenen Zitats ermittelte Merkmal der Unberechenbarkeit und der theoretischen Unzugänglichkeit der Tyche – Tyche sendet eben jene verlässlichen zukunftsprognostischen Zeichen nicht, auf die der Mensch doch so sehr angewiesen wäre –, so verweist Pindar im weiteren Verlauf der zuletzt zitierten Verse doch offenkundig auf ein weiteres genuines Merkmal der Tyche. Unberechenbar zwar und sich theoretischem Verfügungswillen entziehend, ist sie dem Menschen doch letztlich wohlgesonnen. Von der Tyche als einer bedrohlichen Feindin des Menschen kann daher bei Pindar keine Rede sein. Zwar attestiert Pindar so wie schon Euripides durchaus eine Unberechenbarkeit der Tyche, aber dennoch ist die Göttin Tyche für ihn nicht bedrohlich und des Menschen Feind, sondern gütig und wohlgesonnen. Von Tyche als einer Göttin des Zufalls kann also für Pindar ebenso wenig wie für die Tragödiendichter eine Rede sein, und Tyche kann daher auch für Pindar – ganz anders als der noch im Detail zu rekonstruierende philosophische terminus technicus bei Aristoteles – niemals den Zufall bezeichnen oder meinen. Die wohlmeinende und vorausblickende Güte der Tyche verdeutlicht Pindar in seinem Epinikion konkret an dem aus seiner kretischen Heimat verbannten Ergoteles von Himera, der durch einen eben nur auf den ersten Blick bedauernswerten und eben nur vermeintlich blinden Zufall die Möglichkeit erhält, ein olympisches Siegeslob und andere Siege mehr zu empfangen, welche er, Sohn des Philanor, wohl kaum errungen hätte, hätte er sein gesamtes Leben auf Kreta verbracht: Sohn des Philanor! wahrhaftig, bei dir auch hätte, Gleich dem nur im Hofe kämpfenden Hahn, Beim angestammten Herde ruhmlos Die Ehre der Füße die Blätter fallen lassen, Hätte nicht männerentzweiender Aufruhr Dich der Knossischen beraubt, der Heimat 92

Ebd., S. 52.

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Doch jetzt, bekränzt in Olympia Und zweimal von Pytho her und an dem Isthmos, Ergoteles! berührst du der Nymphen warme Bäder, Verweilend bei den heimischen Fluren.93 Mit diesen Versen endet Pindars zwölfte Olympische Ode. Ergoteles’ olympische und mehrfach anderweitig erworbene Meriten können also gerade nicht, jedenfalls nicht ausschließlich, seiner eigenen Leistung zugeschrieben werden, sondern einer zwar menschlicher Vernunft unzugänglichen und überaus mächtigen Göttin, doch letztlich keinesfalls bösartigen oder blind-zufälligen, sondern vielmehr wohlgesonnenen Tyche, „die ihm zwar seine kretische Heimat nahm, aber dafür die Möglichkeit eröffnete, seine Siege im Agon zu erringen.“94 Pindar ist eine Haltung noch fremd, welche „die Irrationalität der Tyche als feindliches Gegenüber zu empfinden begann.“95 Pindars Auffassung der Tyche erstens als einer Göttin, genauer: als einer Göttin, die mit der olympischen Götterwelt ein Verwandtschaftsverhältnis direkter Abkunft aufweist, die also darum auch nicht als autarke Instanz gleichberechtigt neben die anderen Götter tritt, zweitens als einer überaus mächtigen Göttin, deren Wirken drittens von menschlicher Vernunft nicht berechen- und einsehbar ist, deren Wirken für den Menschen vielmehr unberechenbar ist, deren Wirken sich also einer theoretischen Kalkulation entzieht, die aber viertens auch nicht als bösartige Feindin des Menschen, als blinder Zufall agiert, die vielmehr dem Menschen wohlgesonnen ist, enthält insofern fünftens auch eine bestimmte Auffassung des Verhältnisses von menschlichem Tun und Streben und dem Wirken der Tyche. Die Göttin Tyche ist für den Menschen mithin nicht nur theoretisch unberechenbar, sie ist auch praktisch unverfügbar. Gerade mit der Behauptung dieses letztgenannten Merkmals, der praktischen Unverfügbarkeit der Göttin Tyche für menschliches Handeln, steht nun aber Pindar in der griechischen Literatur alles andere als allein. Auch in der bereits diskutierten griechischen Tragödie wird einem Urteil von Herzog-Hauser zufolge die praktische „Allmacht und Unbesiegbarkeit“96 der Tyche deutlich ausgesprochen: „Wesentlich für den ethischen Wert der griechischen Tragödie ist die Stellungnahme oder besser gesagt, die Haltung des Menschen der τύχη gegenüber, vor allem, wenn diese Missgeschick, Unglück, ja Untergang bedeutet. Kampf gegen das unabwendbare Geschick ist aussichtslos […]; man muss sich damit abfinden […], darf nicht mutlos sein […], nicht jammern […] und, falls man weiter auf göttliche Hilfe rechnen will, muß man auch handeln […], was allerdings oft besonders schwierig ist.“97

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Ebd., S. 52 f. Hans Herter, „Tyche“ (1962), in: Kleine Schriften, herausgegeben von Ernst Vogt, a.a.O., S. 79. Hans Strohm, Tyche. Zur Schicksalsauffassung bei Pindar und den frühgriechischen Denkern, a.a.O., S. 54. Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1655. Ebd., Sp. 1656 f.

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Eine ähnlich negative Einschätzung der menschlichen Chance, die Tyche sich im Sinne der eigenen Absichten gefügig zu machen, eine Darstellung der Tyche als in ihrem innersten Wesenszug nicht nur theoretisch unberechenbar, sondern eben auch als praktisch unverfügbar, findet sich Herzog-Hauser zufolge zu der Zeit des Aristoteles auch bei den griechischen Rednern.98 Auch sie, allen voran Demosthenes, „schieben gerne die Verantwortung von sich oder ihren Klienten ab und der Tyche zu […], insbesondere wird τύχη für das politische Unglück verantwortlich gemacht, ja geschmäht […]. Häufig wird der Gegensatz zwischen dem Wirken der τύχη und dem menschlichen Denken und Erwarten erörtert […]; dabei kommt natürlich die Unberechenbarkeit der τύχη besonders stark zum Ausdruck“99 . Verweilen wir noch für einen Moment bei Demosthenes’ berühmter Rede vom Kranz, seinem Versuch, die Rede, die der Sykophant Aischines gegen ihn führt, ebenso wie den Antrag, welche die für ihn beantragte Ehrbezeugung in Frage stellt, zurückzuweisen: Dabei ist es unbedingt notwendig, den apologetisch motivierten Rekurs des Demosthenes auf die praktische Unverfügbarkeit und theoretische Unzugänglichkeit der Tyche, der sich in der Kranzrede immer wieder findet, historisch zu kontextualisieren. In dem bereits zitierten Aufsatz von Lehrs findet sich diesbezüglich eine aufschlussreiche Bemerkung: „Demosthenes hatte im Kampfe gegen die schwierigsten Verhältnisse mit Klugheit und Patriotismus endlich noch eine Vereinigung der griechischen Kräfte gegen Philipp zu Stande gebracht: allein – der Erfolg schlug fehl, die Schlacht von Chäronea lief unglücklich und schmerzlich aus. Als mehrere Jahre darauf in dem Rechtsstreit über Demosthenes Bekränzung sein Gegner Aeschines die Staatsverwaltung des Demosthenes mit Hinweis auf den Erfolg als verkehrt angriff, da weist Demosthenes mit schönster Indignation, wie sie ihm seine Religiosität und der Schmerz über den Fall seines Vaterlandes eingab, diese Anschuldigungen, die auf den Erfolg hinwiesen, zurück und rechtfertigt seine Pläne für Griechenlands Freiheit.“100 98

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Heinrich Meuss hat seine Studie über die „Vorstellungen von Gottheit und Schicksal bei den attischen Rednern“ anhand der Prämisse entwickelt, gerade die Redner des vierten Jahrhunderts vor Christus böten einen idealen Fingerzeig für das allgemein herrschende Verständnis der griechischen Religion ebenjener Zeit. Vergleiche hierzu Heinrich Meuss, „Die Vorstellungen von Gottheit und Schicksal bei den attischen Rednern. Ein Beitrag zur Geschichte der griechischen Volksreligion“, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 35 (1889), S. 445–476. Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1660. Vergleiche dazu auch die Bemerkung von Rohde: „Die Redner des vierten Jahrhunderts sprechen wohl nur den Volksglauben aus, wenn sie die Tyche die Herrin aller menschlichen Dinge nennen.“ Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, a.a.O., S. 298 f. Karl Lehrs, „Tyche und Dämon“, in: Populäre Aufsätze aus dem Alterthum, a.a.O., S. 181. Lehrs nimmt in der zitierten Bemerkung auf Demosthenes’ Kranzrede Bezug. Demosthenes sagt dort unter anderem über seine gegen Philipp gerichteten politischen Bemühungen, „dass sie wohlüberlegt und richtig ausgeführt waren, dass keine gute Gelegenheit von mir vernachlässigt,

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Demosthenes zufolge ist für die Niederlage von Chäronea das Kalkül und das Handeln der Beteiligten ebenso wenig zur Verantwortung zu ziehen, wie Pindar zufolge die olympischen Meriten des Ergoteles sich dessen Leistungsvermögen verdanken, insofern doch auch der letztgenannte „beim angestammten Herde ruhmlos“ und einem „im Hofe kämpfenden Hahn“ ähnlich geblieben wäre, wäre ihm nicht die Tyche wohlgesonnen und, obwohl theoretisch unzugänglich und praktisch unverfügbar, zur Hilfe geeilt. Ein legitimer Vorwurf wäre ihm, Demosthenes, also lediglich zu machen, hätte er für die Freiheit Athens nicht „alles Menschenmögliche“ unternommen. Gerade dies aber sei nicht der Fall, wie Demosthenes an die Adresse des Aischines gerichtet einwendet: „Der Ausgang liegt bei allen Dingen in den Händen der Gottheit. Rechne dies also nicht mir zum Verbrechen an, wenn Philipp in der Schlacht gesiegt hat, denn der Ausgang hiervon lag in der Götter Hand, nicht in der meinen. Daß ich aber nicht alles Menschenmögliche unternommen und dies mit aller Gerechtigkeit, Sorgfalt und allem Bemühen weit über meine Kräfte hinaus vollbracht oder daß ich nicht rühmliche und der Stadt würdige und notwendige Unternehmungen geleitet habe, das beweise mir, und dann erst klage mich an. Wenn aber der hereinbrechende Orkan mächtiger war nicht nur als wir, sondern als alle anderen Hellenen, was sollte man da tun? Als wollte jemand dem Schiffskapitän, der alles zur Erhaltung seines Fahrzeugs getan hat und es mit allem ausgerüstet hat, was zu seiner Sicherheit nötig war, wenn ein Sturm sich erhebt und sein Gerät beschädigt oder auch gänzlich zerstört wird, den Schiffbruch zur Last legen! Aber ich steuerte ja das Schiff nicht, würde er sagen, so wie ich auch das Heer nicht führte, auch war ich nicht Herr über das Glück [τύχης im Original; P. V.], sondern dieses ist Herr über alles.“101

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verkannt oder verpasst worden und von allem, soweit es auf die Kräfte und den Verstand eines Mannes ankam, nichts unterlassen worden ist. Wenn aber eines Gottes [δαίμονός im Original; P.V.] oder des Schicksals [τύχης im Original; P.V.] Macht oder die Untauglichkeit der Heerführer oder die Nichtswürdigkeit derer, die eure Städte verrieten, oder dies alles zusammen dem Ganzen feindlich war, bis es zum Umsturz kam, was hat dann Demosthenes verschuldet?“ Demosthenes, Rede vom Kranz, nach der Übersetzung von Friedrich Jacobs bearbeitet, eingeleitet und erläutert von Marion Müller, München 1967, S. 124. Vergleiche zu der Kranzrede des Demosthenes auch die Bemerkung von Iiro Kajanto: „Demosthenes argues in his famous speech ‚On the crown‘ that he was not defeated by Philip in forethought and armaments, only the generals and forces of the allies by tyche“. Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II,17,1, Berlin 1981, S. 527. Demosthenes, Rede vom Kranz, nach der Übersetzung von Friedrich Jacobs bearbeitet, eingeleitet und erläutert von Marion Müller, a.a.O., S. 93 f. Vergleiche auch Demosthenes’ Bemerkung: „Ich halte im allgemeinen jeden, der als ein Mensch einem anderen Menschen sein Glückslos [τύχην im Original; P.V.] vorwirft, für unverständig, denn da auch derjenige, der in der günstigsten Lage zu sein glaubt und das beste Geschick zu haben wähnt, doch nicht weiß, ob es bis zum Abend so bleiben wird, wie darf er davon sprechen oder es einem andern vorhalten?“ (ebd., S. 110).

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Freilich, weder die zitierte These Strohms, Pindars Lyrik oder gar eine einzelne der Olympischen Oden gebe die Tyche-Auffassung vor dem vierten Jahrhundert „in ihrer ersten umfassenderen Ausprägung“102 zu erkennen, noch der bisherige Versuch, die Merkmale oder einige Merkmale dieser Auffassung für andere Zeiten, literarische Genres und Autoren zu belegen, darf dazu verführen, gänzlich oder zumindest partiell anderslautende Auffassungen der Tyche zu verdrängen oder in ein anderes Zeitalter zu dislozieren. So ist nicht zuletzt das Bild einer sowohl für theoretische Einsicht unzugänglichen als auch praktisch unverfügbaren Tyche zu eben der Zeit, da dieses etwa von Demosthenes’ Reden oder zuvor schon von Pindars Lyrik gezeichnet wurde, immer wieder auch in Frage gestellt worden. Am Beispiel der Geschichtsschreibung des Thukydides lässt sich dies trefflich illustrieren: Thukydides gesteht das schlichte factum brutum sowie insbesondere die historische und historiographische Relevanz von zufälligen Begebenheiten – eine Pest, ein Sturm, welche ein militärisches Geschehen dem Sieg oder der Niederlage zutreiben können – durchaus zu, auch gebraucht er dafür immer wieder den Begriff der tyche103 , nämlich insgesamt rund vierzigmal in seinem Werk.104 Wobei er freilich, anders als Pindar oder Aischlyos oder Sophokles, dieser Tyche keinerlei göttlichen Status zuerkennt. Tyche ist ihm nicht die Tochter des Zeus oder des Okeanos oder wessen auch immer, sie ist ihm auch keine „Augenblicksgottheit“105 , die für menschliches Glück sorgt, noch eine Göttin, die den Zufall einem blinden Regiment gemäß verteilt; tyche interessiert ihn, den Historiker, ausschließlich als eine analytische und für rein deskriptive Zwecke sinnvoll zu gebrauchende Kategorie hinsichtlich der zu rekonstruierenden menschlichen Geschichte, weswegen bezüglich seiner Auffassungen auch stets von einer kleingeschriebenen tyche die Rede sein sollte. In diesem Sinne aber kann und darf der Historiker laut Thukydides, freilich nur in einem eng umgrenzten Maße, für die Erklärung eines historischen Geschehens die Kategorie der tyche zur Anwendung bringen. Anders auch als Pindar oder auch die zuletzt erwähnte Kranzrede des Demosthenes subordiniert Thukydides ferner die tyche, gleichviel, ob er tyche nun eine objektive Existenz zuerkennt oder sie ohnehin lediglich als in subjektiver Wahrnehmung existierend begreift106 , jedem durch Voraus- und Umsicht gelenkten menschlichen Versuch, das beabsichtigte Resultat einer 102 103

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Vergleiche hierzu die Bemerkung Strohms in Anmerkung 89, S. 99 in diesem Kapitel. Vergleiche hierzu insgesamt Hans Herter, „Thukydides und Demokrit über Tyche“, in: a.a.O., S. 106–128. Vergleiche für eine vollständige Auflistung und Diskussion von Thukydides’ Gebrauch von tyche an den verschiedenen Stellen seines Werkes die Studie von Lowell Edmunds. Lowell Edmunds, Chance and Intelligence in Thucydides, a.a.O., S. 176 ff. Vergleiche zu dieser Charakterisierung die sich auf Aischylos beziehende Bemerkung von Meuss in Anmerkung 82, S. 97 in diesem Kapitel. Für Lowell Edmunds besteht des Thukydides eigene Position bezüglich der Einschätzung der tyche darin, dass als tyche jenes epistemische Residuum bezeichnet wird, welches sich aus einer allein subjektiven Perspektive der Planung und Kalkulation der Handelnden zu entziehen scheint. Jedenfalls ist für Thukydides tyche keine Agentin der göttlichen Vorsehung: „Roughly speaking, the earlier Greeks, from what was essentially a religious point of view, saw mortal affairs in terms of tyche. Thucydides reverses this situation and sees tyche in terms of human affairs, as that which is unexpected or contrary to calculation (ebd., S. 207).“ Tyche bezeichnet für Thukydides

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Handlung zu erzielen. Tyche ist ihm also nicht nur keine Göttin, sondern auch keine allmächtige Instanz welcher Art auch immer; tyche ist weder theoretisch unberechenbar noch praktisch unverfügbar. Wir sehen, Thukydides bricht radikal mit der zu seiner Zeit üblicherweise formulierten Charakterisierung der Göttin Tyche. Insofern kann sich auch die praktische Relevanz von tyche Thukydides zufolge nur darauf erstrecken, einem ohnehin schon entschlossenen Handeln die Hand gleichsam zur Hilfe zu reichen und dessen Konsequenzen zu intensivieren, sodass etwa ein Sturm dem Erfolg der athenischen Streitkräfte bei Pylos allenfalls förderlich war, für diesen Erfolg aber nicht ursächlich verantwortlich zu machen ist, obschon die unterlegenen Spartaner ihre Niederlage natürlich ganz auf den Zufall des Sturmes zurückführen und dementsprechend erklären, dass ihnen die Niederlage nicht widerfuhr, wie sie selbst ausführen, „aus Mangel an Kraft, auch nicht, weil wir eines Machtzuwachses uns überhoben hätten, sondern weil uns bei gleich bleibender Stärke ein Plan fehlschlug – und dagegen ist kein Mensch gefeit.“107 Umgekehrt bestraft tyche allenfalls, aber doch in der Tat die Fehler mangelhafter kriegerischer Sorgfalt, Voraussicht und Planung, sodass die Ausbreitung einer Pestepidemie sich negativ auf die davon betroffene Kriegspartei durchaus auswirken kann, wenn sie allein auch niemals einen Krieg zu deren Ungunsten zu entscheiden vermöchte.108 „Selbst in ihrer furchtbarsten Erscheinungsform, der Pest, schien dem Thukydides Tyche nicht das letzte Wort zu behalten“109 , kommentiert Hans Herter. Grundsätzlich gilt für Thukydides in der Relation von tyche einerseits, umsichtig kalkuliertem und energisch betriebenem Handeln andererseits, eine eindeutige und unbeschränkte Suprematie dergestalt, dass, wie er selbst formuliert, „zwar der Zufall Macht hat, den Menschen hinzuwerfen, aber der Geist ungebrochen überdauert, und dass Mangel an Erfahrung, wo es an der Tapferkeit nicht fehlt, doch kein Deckmantel sein darf, um sich irgendwann gehen zu lassen.“110 In diesem Sinne wurden Perikles und die Athener

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also das Charakteristikum einer praktischen Situation, die sich dadurch auszeichnet, dass sie der subjektiven Perspektive eines mit dieser Situation Konfrontierten theoretisch unzugänglich ist. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, herausgegeben und übersetzt von Georg Peter Landmann, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 238. Man fühlt sich diesbezüglich an ein Wort von Louis Pasteur erinnert, welches dieser 1854 in seiner Antrittsvorlesung an der Universität von Lille formulierte. Der Zufall begünstige den vorbereiteten Geist, „le hasard ne favorise que les esprits préparés“, heißt es bei Pasteur. Diesen Hinweis verdanke ich Bolko von Oetinger. Vergleiche hierzu René Vallery-Radot, La vie de Pasteur, Paris 1920, S. 88. Auch für Demosthenes ist entgegen der soeben erwähnten Interpretationen von Herzog-Hauser und Lehrs geltend gemacht worden, er erfülle den Glauben an Tyche „mit der alten, von Solon her dem athenischen Volk eingeprägten Idee der Mitverantwortung des Menschen an seinem Geschick und gewinnt ihm dadurch eine ethisch aufrüttelnde Wirkung ab.“ Werner Jaeger, Demosthenes, Berlin 1939, S. 131. Hans Herter, „Thukydides und Demokrit über Tyche“, in: a.a.O., S. 128. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, herausgegeben und übersetzt von Georg Peter Landmann, a.a.O., S. 147. Vergleiche dazu auch die Rede des Perikles an die Athener am Ende des ersten Buches des Peloponnesischen Krieges. Perikles ermahnt die Athener, zu ihrem Entschluss für oder gegen einen Krieg ein für allemal zu stehen, ihre Überzeugung aber nicht den Launen des Zufalls anzupassen: „So sehe ich auch jetzt Anlaß, meinen Rat gleich oder ähnlich zu wiederholen, und wer von euch meine Meinung annimmt, der sollte, finde ich, auch wenn wir einmal Unglück haben, zum gemeinsamen Beschluß stehen, oder aber auch bei Erfolgen sich am klugen Plan

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von Thukydides geradezu als Inbegriff des Glaubens an die Bezähmbarkeit der tyche durch gnome und techne aufgefasst. In der Verachtung der tyche besteht ihre Tugend, und dementsprechend zeichnet Thukydides ein düsteres Bild der spartanischen Geistesverfassung gerade dadurch, dass er von ihnen, den Spartanern, sagt, sie würden der tyche eine zu große Autorität beimessen und ihre Kriegsführung bestimmen lassen von einem „sense of a general limitation imposed on human intelligence by the power of chance.“111 Ja, im berühmten Melier-Dialog werden die mit den Spartanern verbündeten Melier von den Athenern gerade wegen ihres falschen Vertrauens auf die Gunst der tyche getadelt. Während die Melier trotzig auf der unhintergehbaren praktischen Unverfügbarkeit der tyche beharren, argumentieren, „dass sich im Krieg manchmal die Geschicke gleichmäßiger verteilen, als dem Unterschied der beiden Stärken entspräche“112 , und daher die mögliche Hoffnung auf eine ihnen gewogene tyche verzweifelt behaupten, kann dies den Athenern nur als höchster Ausdruck eines irrationalen Verhaltens gelten.113

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keinen Anteil beimessen. Denn es kommt vor, dass die Zufälle der Wirklichkeit ebenso sinnlose Wege gehen wie die Gedanken des Menschen – darum pflegen wir ja auch, sooft Dinge unsere Berechnungen kreuzen, dem Schicksal schuld zu geben (ebd., S. 85).“ Lowell Edmunds, Chance and Intelligence in Thucydides, a.a.O., S. 96. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, herausgegeben und übersetzt von Georg Peter Landmann, a.a.O., S. 365. Dass die Sieger einer kriegerischen Auseinandersetzung zurecht keinen Zufall kennen und sich die Verlierer fälschlicherweise auf den Zufall berufen, gehört zum festen Topos der abendländischen Zufallskritik – gleichsam von Thukydides bis Edward Hallett Carr. Nietzsche schreibt in diesem Sinne paradigmatisch: „Kein Sieger glaubt an den Zufall.“ Auf dieser seit Thukydides hinlänglich bekannten Argumentation beruht auch noch Carrs wissenssoziologische Dechiffrierung des Zufalls, Friedrich Meinecke nach dem Ende des Krieges entgegengehalten und durch Meineckes nach dem zweiten Weltkrieg verfasste Schrift Die deutsche Katastrophe veranlasst. Meinecke habe in dieser Schrift, so Carr, die „Bankrotterklärung eines großen Historikers, den der Druck der Missgeschicke seines Vaterlandes zerstörte“, formuliert und den geschichtstheoretischen Aberglauben zu neuem Leben erweckt, „dass die Geschichte dem blinden, unerbittlichen Zufall ausgeliefert sei.“ Indes gilt Carr Meineckes Konzilianz gegenüber der geschichtstheoretischen Kategorie des Zufalls nur als Ausdruck und Konsequenz der deutschen Niederlage. Denn, wie Carr nun nicht ohne Häme schreibt: „Die Ansicht, Examensergebnisse seien Lotterietreffer, wird immer bei den Kandidaten populär sein, die einen Dreier bekamen.“ Auch Carr gilt der Zufall mithin als Maske und Schutzkleid des Verlierers in der Geschichte, des sich von der Geschichte nur unzureichend begünstigt Fühlenden. Ein Historiker, der vom Zufall spreche, sei nicht anders zu beurteilen, als ein Schüler, der nach einer nicht bestandenen Prüfung, seine Leistung, anstatt auf mangelnden Fleiß oder ungenügende Konzentration, auf den Zufall zurückführt. Parallel zu dieser und entgegen dieser Dechiffrierung der Zufallsrhetorik als Sublimation einer real erlittenen Niederlage oder eines Minderwertigkeitsgefühls ist die abendländische Zufallsrhetorik aber auch durch den Topos eines intrinsischen Zusammenhangs insbesondere von Kriegsglück und Zufall geprägt – gleichsam von Herodot bis Clausewitz. Man vergleiche etwa die bei Herodot überlieferten Ausführungen Solons gegenüber König Kroisos, in denen der Grundsatz formuliert wird, dass das „Menschenleben ein Spiel des Zufalls“ ist. Einen intrinsischen Zusammenhang von Zufall und Kriegsgeschehen hat natürlich vor allem Carl von Clausewitz diagnostiziert: „Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine so nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse.“ Vergleiche zu den Zitaten:

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Zwar unterscheidet Thukydides durchaus, dies darf nicht übersehen werden, zwischen einem mit menschlichem Handeln in irgendeiner Weise kontaminierten Geschehen und einem natürlichen, handlungsunabhängig verursachten Ereignis wie einem Erdbeben, einem Sturm, einer Pestepidemie. Aber die Ursachen für die Entstehung eines Erdbebens lassen sich durch die theoretischen Bemühungen der Menschen durchaus entschlüsseln. Das Erdbeben ist daher nicht als eine unverständliche Strafe der Götter zu reifizieren. Und eine auf diesem theoretischem Verständnis aufbauende Kalkulation und Planung können sich somit in rationaler Weise auf die Folgen möglicher weiterer Erdbeben vorbereiten, wenn sie auch deren Entstehung nicht verhindern können. „Nur dem oberflächlichen Blick“, so unterstellen mithin Thukydides’ Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie, „erscheint Tyche als weithin bestimmender Faktor, je tiefer man aber die Dinge durchdringt, desto deutlicher treten die rational fassbaren Momente hervor, die das Geschehen wirklich beeinflussen.“114 So ist für Thukydides keine Form des Zufalls denkbar, die für menschliche Praxis unverfügbar ist. Alle tyche, die dem Menschen in seinen praktischen Vollzügen begegnet, so suggeriert Thukydides, selbst diejenige, deren Existenz sich diesen praktischen Vollzügen nicht verdankt, lässt sich folglich durch gnome und techne auflösen in eine pragmatische Bewältigung des historischen und historiographischen Residualphänomens tyche, in eine pragmatische Tychebewältigungspraxis.115 Mit Hilfe dieser den Schriften Hermann Lübbes entlehnten Terminologie lässt sich Thukydides Auffassung des Verhältnisses von tyche und menschlichem Handeln und Erkennen durchaus trefflich charakterisieren, und es wird eine der Fragen sein, die wir im vierten Abschnitt dieses Kapitels an Aristoteles’ Zufallstheorie richten, inwiefern Aristoteles dieses thukydideische Rezept für den menschlichen Umgang mit tyche akzeptiert oder modifiziert und in der Begrifflichkeit seiner praktischen Philosophie reformuliert oder ob er vielmehr, vielleicht sogar im Sinne des pindarischen Tychemodells, sowohl eine theoretische Unzugänglichkeit wie eine praktische Unverfügbarkeit der Tyche suggeriert. Weder von einem göttlichen Status der Tyche, wie sich etwa für Pindar und zumindest zwei der drei bedeutendsten Tragödiendichter nachweisen ließ, noch von einer Interpre-

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Friedrich Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“ (1882), in: Kritische Studienausgabe. Band 3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin 1999, S. 517. Edward Hallett Carr, Was ist Geschichte?, Stuttgart 1963 (1961), S. 99 bzw. 41. Herodot, Historien, herausgegeben und übersetzt von Josef Feix, Düsseldorf/Zürich 2004, S. 19. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, herausgegeben von Werner Hahlweg, Bonn 1991, S. 234. Hans Herter, „Tyche“ (1962), in: Kleine Schriften, herausgegeben von Ernst Vogt, a.a.O., S. 84. Es soll indes nicht unerwähnt bleiben, dass Herzog-Hauser in völligem Kontrast gerade zu Herters Einschätzung der Tyche-Auffassung von Thukydides das Urteil formuliert: „Tyche ist unberechenbar; sie steht meist in Gegensatz zu allem menschlichen Denken, Planen und Überlegen. Dieser Gedanke wird wiederholt ausgesprochen, gelegentlich auch schon von Herodot, mit aller Schärfe von Thukydides.“ Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1663. Vergleiche zu Hermann Lübbes Unterscheidung von pragmatischen und nicht-pragmatischen Formen von Kontingenzbewältigungspraxis ausführlich das letzte Kapitel dieser Arbeit Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbewältigungspraxis und eine Erinnerung an William James.

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tation der Wirkungsweise der Tyche als einer „Aktionsart der göttlichen Macht“116 , der keinerlei Autarkie zugebilligt werden kann, wie dies für Pindars Auffassung der Göttin Tyche zutrifft, findet sich bei Thukydides eine Ahnung. Thukydides belässt der einstmals göttlichen Tyche allenfalls den Status einer „materialisierten Schicksalsmacht“117 . Theoretisch unzugänglich und praktisch unverfügbar kann aber ein Phänomen niemals sein, überhaupt keine Wesenszüge im personalen Sinne kann ein Phänomen jemals aufweisen, welches Thukydides im Unterschied zu all jenen Autoren, die wir bislang im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zu Wort kommen ließen, lediglich entweder als unerwartete Begleitfolge oder doch nur als ein Hindernis menschlichen Handelns betrachten will und welches ihn als Historiker lediglich in der Gestalt eines historischen und historiographischen Residualphänomens interessiert. (3) Damit genug der Exkursionen zu jenen im engeren Sinne philosophie-, und im weiteren Sinne kultur- und geistesgeschichtlichen Kontext der aristotelischen Behandlung des Zufalls, mit dem ausführlich zu beschäftigen uns Aristoteles’ Diskussion des Zufalls in Physik B 4–6, vor allem die diese Diskussion einleitende, vierfache Kritik an einem bestimmten Gebrauch und Verständnis des Terminus tyche, geradezu nötigte. Nun legen Kontexte welcher Art auch immer die Bedeutung von Texten natürlich nicht zwangsläufig fest, sie machen diese im besten Fall in einer Weise verständlich, die ohne Berücksichtigung dieser Kontexte nicht möglich gewesen wäre. Keinesfalls sitzen die in den ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels vorgenommenen Kontextualisierungsversuche daher dem Missverständnis auf, Aristoteles’ philosophische Form der Zufallsthematisierung reagiere direkt und unmittelbar – sei’s in Form des expliziten Widerspruchs, sei’s in Form direkter Zustimmung – auf die bislang skizzierten Kontexte. Schon für den im engeren Sinne philosophiehistorischen Kontext von Aristoteles’ Zufallsthematisierung ließ sich eine explizite Kritik an seinerzeit formulierten philosophischen Theoremen über den Zufall nur für den Fall der atomistischen Naturphilosophie und ihrer deterministischen Leugnung des Zufalls nachweisen, wiewohl Platons in den Nomoi formulierte theologische Funktionalisierung und metaphysische Harmonisierung des Zufalls die zentrale Ambition von Aristoteles’ philosophischer Behandlung des Zufallsbegriffs, nämlich diesen Begriff im rigiden und nüchternen Sinne eines philosophischen terminus technicus zu reflektieren, implizit durchaus befördert haben mag. Was nun den skizzierten geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext angeht, so lässt sich resümieren, dass Aristoteles’ erwähnte Kritik an einer kosmologischen Nobilitierung des Zufalls wie an einer irrationalen Mythisierung des Zufalls weniger auf philosophische Autoren und Schriften reagiert, denn vielmehr sich gegen einen geistigen, kulturellen und religiösen Kontext wendet, der seiner Ambition einer seriösen philosophischen und begrifflichen Durchdringung des Zufalls gerade nicht entsprechen konnte. Aristoteles interessiert sich für tyche im Sinne eines philosophischen terminus technicus und nimmt die Tyche überhaupt nicht als eine in Kultur und Religion wirksame Figur wahr; und insofern muss er in seiner Diskussion von tyche ganz andere Ambitionen hegen als die 116

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Hans Strohm, Tyche. Zur Schicksalsauffassung bei Pindar und den frühgriechischen Denkern, a.a.O., S. 99. Hans Herter, „Thukydides und Demokrit über Tyche“, in: a.a.O., S. 128.

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zuletzt erwähnten Dichter, Historiographen oder Redner. So wie sich Aristoteles’ Zufallsthematisierung auf der philosophischen Ebene explizit gegen die deterministische Eskamotierung und implizit gegen die theologische Funktionalisierung und metaphysische Harmonisierung des Zufalls richtet, so zeugt Aristoteles’ Stillschweigen bezüglich der in seiner Zeit gängigen kulturellen und religiösen Topoi des Tycheverständnisses von einem Protest gegen jede kosmologische Nobilitierung des Zufalls im Namen der Praxisrelevanz des Zufalls wie von einem Protest gegen jede Form der irrationalen Mythisierung der Tyche im Namen der Philosophie. Der bislang skizzierte Kontext kann daher allenfalls klären, mit welchen nicht nur im engeren Sinne philosophiegeschichtlichen, sondern auch im weiteren Sinne kultur- und geistesgeschichtlichen Vermutungen und Annahmen sich Aristoteles’ streng philosophisch ambitionierte Thematisierung des Zufalls im Sinne des Terminus tyche konfrontiert sah, vor welchen intellektuellen Horizonten sich Aristoteles dabei bewegte, nicht aber, worin denn sein klärendes Wort und sein eigener Beitrag zu dieser Diskussion bestanden. Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir nun noch einmal Aristoteles’ Textkorpus direkt und weniger dessen Kontexte befragen. Insofern wird sich auch der Charakter unserer Ausführungen ändern: weg von historischen Kontextualisierungen hin zu systematischen Argumenten und Erörterungen, die mitunter etwas bemüht und nüchtern erscheinen mögen, für jede weitere philosophisch seriöse Reflexion der Begriffe und Themen von Kontingenz und Zufall aber unverzichtbare Voraussetzung sind. Dabei sind nun jene beiden Texte des Aristoteles in den Blick zu nehmen, die noch bis heute als der unerreichte Bezugspunkt jedweder Diskussion des aristotelischen Zufallsbegriffs wie des Zufallsbegriffs überhaupt gelten müssen.118 Denn so wie dies bereits für die aristotelische Diskussion des Möglichen zu beobachten war119 , wird der Zufall dem Aristoteles – wobei er seine diesbezügliche Terminologie durchaus variiert – nicht nur einmal, sondern zweimal zum Gegenstand einer ausführlichen Behandlung, in seiner Metaphysik (a) ebenso wie in der Physik (b): (a) Gehen wir zunächst auf Aristoteles’ Metaphysik ein. Als akzidentiell im Sinne des Zufälligen – und dabei wird der griechische Begriff symbebekos120 verwendet – bestimmt Aristoteles gegen Ende des fünften Buches seiner Metaphysik, am Beginn des dreißigsten Kapitels, zunächst „dasjenige, was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet.“121 Symbebekos in diesem Sinne gehört so scheinbar ganz dem Bereich des 118

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Vergleiche diesbezüglich meine gegen Martha Nussbaum gerichtete Bemerkung oben auf S. 85 dieses Kapitels. Vergleiche dazu das gesamte erste Kapitel dieser Arbeit und die dortigen Ausführungen zu Analytica Priora und Hermeneutik. Den vom Perfekt-Stamm von βαίνειν gebildeten Begriff bezeichnet Helene Weiss als „ein spezifisch aristotelisches Wort, freilich aus der gewachsenen griechischen Sprache gewonnen, aber nur von Aristoteles zum festen philosophischen Terminus mit ganz bestimmter Sinnprägung erhoben“. Vergleiche hierzu Helene Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles, a.a.O., S. 156. Met. Δ 30: 1025 a 14–15. Ich zitiere im folgenden nach Aristoteles, Metaphysik, Bücher I (A –VI (E), herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg 1982, S. 247.

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Begrifflichen oder des Logischen zu. Dieser begriffliche oder logische Zufall ist, wie Curt Leo von Peter schreibt, „das Hinzukommende, Zufällige […], das weder meistenteils noch immer geschieht und daher nicht unter allgemeine Begriffe subsummiert werden kann.“122 Dieser „logische“ Begriff des Zufalls sollte später vor allem in der Kontrastierung von Substanz und Akzidens in der scholastischen Philosophie und Theologie eine große Rolle spielen. Aristoteles interessiert aber im Grunde etwas ganz anderes als dieser begrifflich-logische Aspekt des Zufalls, nämlich die praktische Relevanz des symbebekos. Wir leben nun nämlich, so Aristoteles, in einer Welt, in der ein eben so definiertes Zufälliges nicht nur für eine begriffliche oder logische Ebene zu konstatieren ist, sondern immer wieder auch auf überraschende Weise unmittelbare lebensweltliche Relevanz gewinnt. Auch für unsere alltäglichen Handlungsvollzüge gilt: Nicht alles geschieht immer in der gleichen Weise und immer oder gar notwendig so, wie wir es gemäß unseren eingespielten Routinen und Erwartungen erwarten würden, „z. B. wenn in den Hundstagen Unwetter und Kälte eintritt, so nennen wir dies ein Akzidens, aber nicht, wenn Hitze und Schwüle, weil das letztere immer oder in der Regel stattfindet, das erstere aber nicht.“123 Immer wieder betont Aristoteles ferner in dem letzten Kapitel des fünften Buches der Metaphysik, dass dieses derart definierte akzidentiell Zufällige im Sinne des symbebekos ist. Es meint also dieses akzidentiell Zufällige in der Zufallstheorie des Aristoteles von vornherein mehr als ein lediglich logisch oder begrifflich Zufälliges oder als das einem Begriff nicht wesensmäßig Eigene. Wenn ein Zufälliges ist, dann kann aber ein zufällig Seiendes auch niemals mit dem, was nicht ist, aber möglich ist oder sein kann, gleichgesetzt werden. Dass der Zufall ist124 , diese These dient bei Aristoteles also sowohl dazu, einer Diskreditierung des Zufallsbegriffs als „asylum ignorantiae“ oder als „defectus nostrae cognitionis“ (Spinoza), als Erkenntnisdefizit, subjektive Illusion oder Perspektivbegriff ohne reales Substrat, zu begegnen, als fernerhin auch dazu, auf dem Unterschied der Begriffe von Zufall und Möglichkeit zu beharren.125 Allerdings stellt sich nun die Frage, ob Aristoteles ebendieses, was zufällig im Sinne von symbebekos und für unser Leben praktisch relevant ist, jenseits der genannten Definition als „dasjenige, was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet“, noch genauer zu bestimmen gelingt. Seine Auffassung des Zufalls im Sinne von symbebekos verdeutlicht Aristoteles in der Metaphysik an zwei Beispielen. Das erste Beispiel lautet: Jemand findet beim Graben eines Erdlochs für seine Pflanze zufällig einen Schatz. Inwiefern lässt sich nun dieses Geschehen als ein Zufall, als ein Akzidentielles im Sinne der oben erwähnten Definition beschreiben? Insofern, so lautet des Aristoteles Antwort, als dieses Geschehen dem soeben erwähnten konstitutiven Merkmal des symbebekos, weder notwendig noch in den meisten Fällen so zu sein, wie es ist, genau entspricht:

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Curt Leo von Peter, Das Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie, a.a.O., S. 35. Met. E 2: 1026 b 35–37, S. 257. Vergleiche hierzu auch Met. Δ 30: 1025 a 22–24, S. 247 f. und Met. Δ 30: 1025a 28–29, S. 249. Vergleiche zur aristotelischen Möglichkeitstheorie das gesamte erste Kapitel dieser Arbeit.

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„Dies also, einen Schatz zu finden, ist ein Akzidens für den, der ein Loch gräbt; denn weder folgt mit Notwendigkeit das eine aus dem anderen oder das eine nach dem anderen, noch findet auch in den meisten Fällen jemand einen Schatz, wenn er ein Loch für eine Pflanze gräbt.“126 Das zweite Beispiel lautet folgendermaßen: Jemand kam im Zuge einer Seereise nach Ägina, „wenn er nicht deshalb hinkam, weil er hinkommen wollte, sondern vom Sturme verschlagen oder von Räubern gefangen.“127 Auch in diesem Falle ist die nunmehr hinlänglich bekannte conditio sine qua non, um von Zufall im Sinne des symbebekos sprechen zu können, ganz offenkundig erfüllt. Denn auch in einem solchen Falle lässt sich sagen, dass nicht mit Notwendigkeit das eine aus dem anderen folgt, noch es sich in den meisten Fällen findet, dass jemand, der eine Seereise tut, nach Ägina gerät, insofern er vom Sturm verschlagen oder von Seeräubern gefangen wird. Beide Beispiele illustrieren und bestätigen insofern lediglich die von Aristoteles ja bereits im ersten Satz des dreißigsten Kapitels des fünften Buches der Metaphysik gelieferte Definition des symbebekos. Zufall im Sinne von symbebekos meint in diesem Sinne, vergegenwärtigen wir uns dies noch einmal, das, was „weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet“. Die beiden erwähnten Beispiele sind ferner insofern eindeutig und präzise bestimmt und kohärent formuliert, als Aristoteles diese seine Definition immer nur auf das Zusammentreffen von zwei Begebenheiten oder Geschehnissen, nicht auf eine einzelne und nur für sich betrachtete Begebenheit anwendet. Es ist also just dieses Zusammentreffen, welches weder notwendig sich einzustellen noch üblicherweise zu geschehen hat, wenn von Zufall, von Akzidens, im Sinne von symbebekos die Rede soll sein. Obschon also der Zufall für Aristoteles ist, und insofern nicht als eine subjektive Illusion oder als Perspektivbegriff ohne reales Substrat disqualifiziert werden darf, ist ihm der Zufall im Sinne des symbebekos doch offenkundig stets eine Relation, folglich der Zufallsbegriff ein relationaler Begriff. Niemals ein einzelnes Ereignis, wohl aber das Zusammentreffen zweier Ereignisse lässt sich unter ganz bestimmten Bedingungen als zufällig charakterisieren. Die erste Bedingung, gleichsam der Mangel an Notwendigkeit, das nec necessarium, welches dabei aufgrund der oben erwähnten Definition unhintergehbar erfüllt sein muss, um von einem zufälligen Zusammentreffen rechtmäßig sprechen zu können, haben wir soeben kennen gelernt. Man kann freilich nun weiter und im Sinne einer Präzisierung des aristotelischen Verständnisses des symbebekos die Frage stellen, ob es sich nicht um ganz bestimmte und vielleicht sogar unterschiedliche Arten von Begebenheiten oder Geschehnissen handelt, die in den zitierten Beispielen in einer bestimmten Weise zusammentreffen, ob das nec necessarium der Relation des Zufalls nicht noch genauer bestimmt werden kann. Offensichtlich kann, wie die beiden erwähnten Beispiele zeigen, gänzlich Unterschiedliches im Sinne von symbebekos aufeinander treffen: Im ersten der beiden Beispiele koinzidieren zwei intentionale Handlungen, also Handlungen, die ihre je eigenen Intentionen verfolgen und die ihrerseits durchaus durch bestimmte Ursachen bedingt sein mögen, die also keinesfalls ursachelos sind. Einer vergräbt – aus welchen Ursachen auch 126 127

Met. Δ 30: 1025 a 16–19, S. 247. Met. Δ 30: 1025 a 26–28, S. 249.

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immer – einen Schatz, um ihn zu verstecken, ein anderer gräbt – aus welchen Ursachen auch immer – ein Loch, um seine Pflanze einzusetzen. Aber das Zusammentreffen dieser beiden je für sich sowohl intendierten als auch durch bestimmte Ursachen hervorgerufenen Handlungen führt zu einem Ergebnis, welches von keiner der beiden Handlungen intendiert war, obwohl dieses Ergebnis – das Finden eines Schatzes – prinzipiell durchaus hätte beabsichtigt werden können. Die Relation des Zufalls ist in diesem Fall also durch Intentionslosigkeit charakterisiert, auch wenn die einzelnen Bestandteile dieser Relation – einen Schatz zu vergraben, um ihn zu verstecken; ein Loch zu graben, um eine Pflanze einzusetzen – durchaus intendiert waren. Der eine hat das Loch für seine Pflanze nicht um des tatsächlich eintretenden Ergebnisses willen gegraben, nicht um einen Schatz zu finden, sondern mit einer ganz anderen Intention; der andere hat das Loch für den Schatz nicht um des tatsächlich eintretenden Ergebnisses willen gegraben, nicht damit dieser Schatz entdeckt wird, sondern mit einer ganz anderen Intention, obwohl freilich sowohl die Absicht, einen Schatz zu entdecken, als auch die Absicht, einen Schatz zu verstecken, die Intention einer Handlung durchaus sein könnten. Zweifellos ist in diesem Beispiel aber auch die oben erwähnte Minimalbedingung des nec necessarium für das symbebekos erfüllt: Die Koinzidenz oder Relation der beiden Handlungen lässt sich weder als notwendige Sequenz von Ursache und Wirkung noch als übliche Routine „in den meisten Fällen“ begreifen. Weder folgt das eine aus dem anderen noch das andere aus dem einen; noch lässt sich behaupten, dass beide Handlungen üblicherweise „in den meisten Fällen“ koinzidieren. Die Relation des Zufalls ist durch keine benennbare Ursächlichkeit und in diesem Sinne durch Ursachelosigkeit, durch ein kausales nec necessarium charakterisiert, auch wenn die einzelnen Bestandteile dieser Relation durchaus ursächlich bedingt sein mögen. Unbeschadet der Tatsache, dass jemand zufällig einen Schatz fand, weil ein anderer diesen Schatz an jener Stelle vergrub, an der er seine Pflanze einsetzen wollte, lässt sich doch das Aufeinandertreffen dieser beiden Handlungen gerade nicht als notwendige Sequenz von Ursache und Wirkung noch als üblicherweise eintretendes Geschehen begreifen. Üblicherweise findet man keinen Schatz, wenn man ein Loch für seine Pflanze gräbt. Und keiner hat ein Loch gegraben, um seine Pflanze einzusetzen, weil ein anderer einen Schatz vergraben wollte. Und keiner hat einen Schatz vergraben, um ihn zu verstecken, weil ein anderer ein Loch für seine Pflanze gegraben hat. Es lässt sich also in unserem Beispiel von einem „ursachelosen Zusammentreffen unabhängiger Kausalketten“ sprechen; aber „von dieser Formel sind nahe liegende Missverständnisse fernzuhalten“, wie Franz Josef Wetz zurecht bemerkt: „Natürlich haben das Herabfallen des Ziegels vom Dach, aber auch das Vorbeigehen des Passanten Ursachen und liegt im Zusammentreffen beider Ereignisse der Grund dafür, warum der Passant sein angestrebtes Ziel nicht erreicht. Unbeschadet dieser Tatsache bleibt das Zusammentreffen beider Ereignisse selbst ursachelos. Ursachelosigkeit meint hier lediglich, dass zwischen den beiden sich kreuzenden Ereignissen kein Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht.“128 128

Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, Pfullingen 1990, S. 36 f.

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Wie verhält es sich nun mit dem zweiten Beispiel, welches Aristoteles in seiner Metaphysik für die Illustration des Zufalls im Sinne des symbebekos einführt? Ein andersartiger Fall von Zufälligkeit im Sinne des Akzidentiellen als im erstgenannten Beispiel liegt offensichtlich immer dann vor, wenn eine Handlung, deren Ursachen wie Intentionen sich durchaus bestimmen lassen, und eine handlungsunabhängige Begebenheit, deren Ursachen sich ebenfalls bestimmen lassen mögen, für die sich aber sinnvoll niemals eine Intention benennen lässt, aufeinander treffen. Dies gilt nun für das Beispiel des nach Ägina Verschlagenen, insofern und da ex hypothesi zutrifft, dass allein ein Sturm für seine Ankunft in Ägina verantwortlich zu machen ist. In diesem Fall treffen ein zweckmäßiges Handeln – die aufgrund bestimmter Ursachen angetretene Reise mit der Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen – und ein bestimmter handlungsunabhängiger Umstand – der Sturm – aufeinander. Das Zusammentreffen dieser intendierten Handlung, die wiederum ihre Ursachen haben mag, mit einer handlungsunabhängigen Begebenheit, für die sich zwar natürliche Ursachen, aber keine Intentionen benennen lassen, insofern es nicht sinnvoll ist, einem Sturm Absichten und Vorsätze zu unterstellen, dieses Zusammentreffen führt zu einem Ergebnis, welches von der intendierten Handlung nicht beabsichtigt war – die Seereise wurde mit einem ganz anderen Ziel angetreten, obwohl es natürlich die Intention einer Handlung sein könnte, eine Seereise nach Ägina anzutreten – und von der handlungsunabhängigen Begebenheit nicht sinnvoll intendiert werden konnte. Auch in diesem Beispiel ist somit mutatis mutandis in einer dem erstgenannten Beispiel strukturell analogen Weise die Relation des Zufalls durch Intentions- oder Zwecklosigkeit charakterisiert, auch wenn ein Bestandteil dieser Relation durchaus hätte intendiert gewesen sein können. Die Seereise wurde nicht angetreten mit dem Ziel, nach Ägina zu gelangen, obwohl die Intention einer Seereise natürlich stets sein kann, nach Ägina zu gelangen; der Sturm kam nicht auf, um den Reisenden nach Ägina zu verschlagen, weil einem Sturm solche Intentionen nicht sinnvoll zugeschrieben werden können. Darüber hinaus ist die oben erwähnte Minimalbedingung des nec necessarium für das symbebekos in diesem Beispiel aber ebenso erfüllt wie im erstgenannten: Die Koinzidenz oder Relation der einen Handlung mit der handlungsunabhängigen Begebenheit lässt sich weder als notwendige Sequenz von Ursache und Wirkung noch als ein üblicherweise zu erwartendes Geschehen begreifen. Dass beide Handlungen für gewöhnlich koinzidieren, lässt sich im vorliegenden Beispiel offenkundig nicht behaupten. Für gewöhnlich wird man nicht nach Ägina verschlagen, wenn während einer Seereise ein Sturm aufkommt. Und unbeschadet der Tatsache, dass der Reisende Ägina erreichte, weil ein Sturm ihn dorthin verschlug, lassen sich das Aufeinandertreffen von intendierter Handlung und handlungsunabhängiger Begebenheit nicht als Sequenz von Ursache und Wirkung beschreiben. Der Sturm kam nicht auf, weil jemand eine Seereise mit einem bestimmten Ziel antrat. Der Reisende trat nicht darum eine Seereise mit einem bestimmten Ziel an, weil ein Sturm aufkam. Die Relation des Zufalls ist, so sehen wir, auch in diesem Beispiel durch Ursachelosigkeit charakterisiert, auch wenn die einzelnen Bestandteile dieser Relation durchaus ursächlich bedingt sein mögen. Insofern lässt sich

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auch in diesem Beispiel ein „ursacheloses Zusammentreffen unabhängiger Kausalketten“ in dem von Wetz präzisierten Sinne konstatieren.129 Als akzidentiellen Zufall im Sinne von symbebekos versteht Aristoteles mithin – neben dem ohnehin konzedierten begrifflich oder logisch Akzidentiellen –, so macht diese Kommentierung der von Aristoteles gelieferten Illustrationen und Beispiele deutlich, in dem in Frage stehenden Abschnitt seiner Metaphysik stets eine tatsächliche und faktische Relation oder Koinzidenz von zwei Begebenheiten, Ereignissen oder Vorgängen. Dabei kann diese Relation sich durchaus aus unterschiedlichen Elementen zusammensetzen: Als Zufall beschreibt Aristoteles entweder das unvermutete Aufeinandertreffen voneinander unabhängiger Handlungen, die für sich genommen durchaus ursächlich bedingt und intendiert sein können. Aber das Aufeinandertreffen dieser beiden Handlungen ruft ein Ergebnis hervor, welches von keiner der beiden Handlungen intendiert war, ein Ergebnis, welches, um einen von Charles Heidel zur Kennzeichnung des Zufalls verwendeten und durchaus angemessenen Terminus in Erinnerung zu rufen, den Intentionen der Handelnden „einen Strich durch die Rechnung“130 macht. Die Relation der beiden 129

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Eine weitere Illustration für einen dem „Ägina-Beispiel“ analog strukturierten Typus des Zufalls ist der legendäre Fall eines Mannes, der sich mit einer bestimmten Absicht auf den Weg macht, dabei an einem Hausdach vorbeikommt und von einem herabstürzenden Ziegel erschlagen wird. Auch in diesem Beispiel treffen – so wie im Falle des nach Ägina verschlagenen Reisenden – eine bestimmte Handlung, deren Ursachen wie Intention sich durchaus bestimmen lassen, und eine bestimmte handlungsunabhängige Begebenheit, deren Ursachen sich ebenfalls bestimmen lassen mögen, der Intentionalität zu attestieren aber keinen Sinn machen würde, aufeinander. Diese Koinzidenz von Handlung und handlungsunabhängiger Begebenheit führt zu einem Ergebnis, welches von der intendierten Handlung nicht intendiert war und der handlungsunabhängigen Begebenheit als Intention sinnvoll nicht zugeschrieben werden kann, insofern es nicht sinnvoll ist, einem Ziegel Absichten, Vorsätze und Zwecksetzungen zu unterstellen. Der Passant ging nicht spazieren, um von einem Ziegel erschlagen zu werden. Der Ziegel fiel nicht vom Dach, um den Passanten zu töten, weil einem Ziegel solche Intentionen nicht sinnvoll zugeschrieben werden können. Die Relation von Handlung und handlungsunabhängiger Begebenheit ist durch Intentions- oder Zwecklosigkeit charakterisiert, auch wenn ein Bestandteil dieser Relation durchaus einer Intention folgte. Die Relation von Handlung und handlungsunabhängiger Begebenheit ist in diesem Beispiel aber auch durch Ursachelosigkeit gekennzeichnet. Handlung wie handlungsunabhängige Begebenheit mögen ursächlich bedingt sein, aber die Koinzidenz der einen Handlung mit der handlungsunabhängigen Begebenheit lässt sich weder als notwendige Sequenz von Ursache und Wirkung – weder die Handlung als Ursache der handlungsunabhängigen Begebenheit noch die handlungsunabhängige Begebenheit als Ursache der Handlung – noch als ein üblicherweise zu erwartendes Geschehen begreifen. Auch in diesem Beispiel handelt es sich also um das erwähnte „ursachelose Zusammentreffen unabhängiger Kausalketten“. Weil der Ziegel vom Dach fällt, wird der Passant erschlagen. Aber der Ziegel fällt nicht vom Dach, weil der Passant gerade an ihm vorbeikommt. Ebenso wenig passiert der Spaziergänger den Ziegel, weil dieser herabfällt. Anhand dieses Beispiels eines zufällig vom Dach fallenden Ziegelsteins, der dabei einen zufällig des Weges kommenden Passanten erschlägt, charakterisiert Christian Meier den Zufall so: „Alles lässt sich erklären, alles hat, für sich genommen, seinen guten Sinn und Zweck. Nur das Zusammentreffen selbst ist zufällig.“ Christian Meier, „Der Zufall in Geschichte und Historie“, in: Günter Eifler, Manfred Moser und Andreas Thimm (Hg.), Zufall. Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/95, Mainz 1995, S. 109. Charles Heidel, The Necessary and the Contingent in the Aristotelian System, a.a.O., S. 46.

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Intentionen ist zweck- oder intentionslos. Und unbeschadet der Tatsache, dass das Aufeinandertreffen dieser beiden Handlungen als Ursache des entsprechenden Ergebnisses zu begreifen ist, lässt sich keine der beiden aufeinandertreffenden Handlungen als Ursache der anderen begreifen. Die Relation der beiden Handlungen ist in diesem Sinne auch ursachelos. Oder als zufällig im Sinne im Sinne von symbebekos versteht Aristoteles in dem in Frage stehenden Abschnitt seiner Metaphysik das unvermutete und sowohl ursache- als auch zwecklose Aufeinandertreffen einer Handlung, die für sich genommen durchaus ursächlich bedingt und zweckorientiert sein mag, mit einem handlungsunabhängigen Geschehen, dessen Ursachen sich zwar benennen lassen mögen, das aber nicht als planvolles oder vorsätzliches Zweckgeschehen zu deuten ist. Das Aufeinandertreffen jener Handlung mit dieser handlungsunabhängigen Begebenheit führt zu einem Ergebnis, welches von der Handlung nicht intendiert war und der handlungsunabhängigen Begebenheit nicht sinnvoll als Intention zugeschrieben werden kann. Auch in diesem zweiten Beispiel kommt durch ein derartiges Aufeinandertreffen ein Ergebnis zustande, welches der intendierten Handlung „einen Strich durch die Rechnung“ (Heidel) macht. Die Relation der Handlung, deren Intention sich durchaus angeben lassen mag, zu der handlungsunabhängigen und intentionslosen Begebenheit ist zweck- oder intentionslos. Und weder ist – unbeschadet der Tatsache, dass das Aufeinandertreffen der Handlung mit der handlungsunabhängigen Begebenheit das entsprechende Ergebnis verursacht – die Handlung als Ursache der handlungsunabhängigen Begebenheit, noch die handlungsunabhängige Begebenheit als Ursache der Handlung zu verstehen. Die Relation von Handlung und handlungsunabhängiger Begebenheit ist in diesem Sinne ursachelos. So viel zu Aristoteles’ Verständnis des Zufälligen im Sinne von symbebekos gemäß der aristotelischen Metaphysik. Die theoretische Pointe dieses Zufallsverständnisses sei noch einmal resümiert: Bei all den begrifflichen und logischen Finessen des aristotelischen Begriffs von Zufall im Sinne von symbebekos sollte niemals die Tatsache aus den Augen verloren werden, dass der so bestimmte, zudem für unser alltägliches Leben für relevant gehaltene Zufall zunächst die Minimalbedingung des nec necessarium zu erfüllen und sich sodann auf etwas Wirkliches und auf etwas Relationales zu beziehen hat. Diesem ersten Bestimmungsmerkmal wiederum sind zwei bedeutsame theoretische Konsequenzen eigen: Der aristotelische Begriff des Zufalls bezieht sich erstens nicht auf Mögliches und nicht nur auf eine begriffliche oder logische Ebene, sondern auf etwas tatsächlich sich Ereignendes, auf etwas Wirkliches.131 Insofern ist der aristotelische 131

Es sei konzediert, dass Aristoteles im Widerspruch zu dieser Bestimmung des Zufalls als auf spezifische Weise zu bestimmendes Wirkliches in einer Passage der Ersten Analytik den Zufall im Sinne von tyche als Subkategorie des Möglichen oder Sein-Könnenden (endechomenon) bezeichnet. Es gibt einerseits Fälle, so schreibt Aristoteles hier, wo das Mögliche „allermeist so eintritt, aber an Notwendigkeit nicht heranreicht“. So ist es allermeist so, dass jemand im Alter graue Haare bekommt, obwohl es natürlich nicht notwendig ist. In einem anderen Sinne meint das Mögliche aber auch die „unbestimmten Ereignisse“ im Sinne all dessen, was sich „von Ungefähr zuträgt [απο τύχης im Original; P. V.]“. Vergleiche hierzu Analyt. priora 13: 32b 6 bzw. 10 bzw. 13. Ich zitiere im folgenden nach Aristoteles, Organon. Band 3/4. Erste Analytik; Zweite Analytik, herausgegeben von Hans Günter Zekl, Hamburg 1998, S. 57.

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Zufall auch nicht als ein Perspektivbegriff zu charakterisieren, der lediglich unserer Betrachtung, Wahrnehmung oder Interpretation dieses Wirklichen entspringt. Vielmehr gilt für Aristoteles: Der Zufall ist. „Denn das Akzidens ist geworden und ist“132 , heißt es in Aristoteles’ Metaphysik. Der Zufall ist für Aristoteles, was er ist, aber stets in der Weise einer Relation, einer Koinzidenz, eines Zusammentreffens. Eben darin besteht die zweite wesentliche theoretische Konsequenz des aristotelischen Zufallsverständnisses. Allein von der Relation zweier Handlungen oder der Relation einer Handlung mit einer handlungsunabhängigen Begebenheiten lässt sich gemäß der aristotelischen Zufallstheorie, wie sie am Ende des fünften Buches der Metaphysik entwickelt wird, sagen, dass sie zufällig im Sinne von symbebekos sind. Das faktische Zufällige ist stets im Sinne einer Relation zu verstehen. Nicht eine einzelne Handlung oder Begebenheit ist zufällig, sondern das Zusammentreffen von zwei Vorkommnissen, wie auch immer wir dieses Zusammentreffen fürderhin beschreiben mögen. Zufall ist auch nicht mit einem begrifflich Akzidentiellen im Sinne eines für diesen Begriff Unwesentlichen gleichzusetzen, auch wenn symbebekos dieses begrifflich Akzidentielle durchaus bezeichnen kann. Und Zufall im Sinne von symbebekos bezeichnet auch nicht eine wie auch immer verstandene Möglichkeit. Freilich lässt sich dieser aristotelische Begriff des Zufalls, die Auffassung des Zufalls im Sinne eines relationalen Wirklichen und einer wirklichen Relation, plausibel nur begründen, kann die Existenz eines ebensolchen Zufalls plausibel nur unterstellt werden in einer Welt, in der es prinzipiell Mögliches gibt. Damit wären wir auf Aristoteles’ im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutierten Begriff des Möglichen gleichsam als ontologische Bedingung der Möglichkeit von Zufall überhaupt verwiesen.133 (b) Eine systematische Rekonstruktion der aristotelischen Zufallstheorie hat sich, so wurde am Beginn dieses dritten Abschnitts ausdrücklich unterstellt, auf zwei zentrale Passagen des aristotelischen Werks zu konzentrieren. Neben den Ausführungen über Theorem und Begriff des symbebekos in der Metaphysik findet sich das zweite Kernstück der aristotelischen Zufallstheorie in der Physik, in welcher Aristoteles das Thema des Zufalls unter den Begriffen von tyche und automaton abhandelt und zwar unmittelbar im Anschluss an die im ersten Abschnitt dieses Kapitels diskutierte, vierfache Kritik an einem fehlerhaften Selbstverständnis der eigenen Rede über den Zufall, an einer deterministischen Leugnung, an einer kosmologischen Nobilitierung wie schließlich an einer irrationalen Mythisierung des Zufalls.134 Nachdem Aristoteles zu Beginn 132 133

134

Met. Δ 30:1025 a 28, S. 249. Vergleiche dazu auch die klärende Bemerkung von August Faust im ersten Band seiner Studie über den Möglichkeitsgedanken hinsichtlich der Unterschiede von Aristoteles’ Möglichkeitstheorie und Zufallstheorie: „Die ontologischen Grundlagen für den maßgebenden Möglichkeitsbegriff sind daher anders zu bestimmen als die des Zufallsbegriffes, obwohl beide von Aristoteles in der Materie gefunden werden. Die entscheidende Bedeutung, welche der Aristotelischen Ontologie in der Geschichte des Möglichkeitsproblems zukommt, beruht geradezu auf der Emanzipation des Möglichen vom Zufälligen“. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Erster Teil: Antike Philosophie, Heidelberg 1931, S. 84. Vergleiche hierzu den gesamten ersten Abschnitt dieses Kapitels, S. 73–89.

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des vierten Kapitels des zweiten Buches der Physik sein Erstaunen darüber äußert, dass die Alten sich so wenig oder in so undifferenzierter Weise mit der tyche beschäftigt hätten, führt Aristoteles selbst eine theoretische Unterscheidung ein, welche den dem Begriff symbebekos gewidmeten Passagen der Metaphysik stark ähnelt, eine Unterscheidung zwischen dem, welches aufgrund von tyche oder automaton geschieht, und dem, was immer gleich und notwendigerweise oder in den allermeisten Fällen regelmäßig geschieht. Es gibt eben auch Fälle, in denen etwas gerade nicht notwendigerweise immer oder regelmäßig zumeist geschieht. In diesen Fällen lässt sich nun laut Aristoteles sagen, dass etwas aufgrund von tyche oder automaton geschieht. Auch in der Physik benennt Aristoteles also zunächst gleichsam das nec necessarium als Minimalbedingung, um von einem Zufall rechtmäßigerweise sprechen zu können. Und so wie am Ende des fünften Buches der Metaphysik betont Aristoteles auch in der Physik zu Beginn seines Versuchs einer begrifflichen und theoretischen Bestimmung des Zufalls, dass all das, was eben nicht notwendigerweise oder nicht in den allermeisten Fällen geschieht, sondern vielmehr aufgrund von tyche oder automaton, sich auf ein tatsächliches Ereignis, nicht auf ein kontrafaktisches oder hypothetisches Mögliches bezieht, dass also tyche und automaton „wirklich etwas sind [Hervorhebung von mir; P. V.]“135 Was aber sind sie? Die Antwort auf diese Frage ist noch keineswegs gefunden. Die Charakterisierung des Zufalls als nec necessarium, als jenes Geschehen mithin, welches nicht notwendig oder regelmäßig geschieht, ist – so ließ sich ja bereits Aristoteles’ Diskussion des symbebekos in der Metaphysik entnehmen – ein notwendiges, nicht ein ausreichendes Kriterium, um zu entscheiden, ob von einem Zufall die Rede sein kann oder nicht. Sind diese Fälle, in denen etwas nicht notwendig oder nicht regelmäßig geschieht, genauer einzugrenzen? Aristoteles’ grundsätzliche philosophische Rehabilitierung von tyche und automaton und seine These, dass tyche und automaton „wirklich etwas sind“, sie allein bedeuten uns noch nicht, wie diese Frage zu beantworten wäre. Nun definiert aber Aristoteles in der Physik ein durch tyche oder automaton hervorgerufenes Geschehen jenseits des Merkmals der Faktizität und neben der genannten Minimalbedingung des nec necessarium, neben der Bedingung also, weder notwendigerweise noch regelmäßig so zu geschehen, wie es geschieht, gleichermaßen als Sonderfall eines Geschehens „wegen etwas“ (eneka tou) und zwar genauerhin als eine „nebenbei eintretende Wirkung“136 eines solchen Geschehens eneka tou, eines solchen Geschehens „umwillen von etwas“137 , wie es Helene Weiss nennt. Aristoteles illustriert diese seine grundsätzliche und zunächst einmal auch gar nicht weiter zwischen tyche und automaton differenzierende Definition an folgendem Beispiel: Jemand geht auf den Marktplatz und trifft dort seinen Schuldner, er ging aber ursprünglich auf den Marktplatz, um seinen Freund aufzusuchen. Deswegen war es eine „nebenbei eintretende Wirkung“, dass er seinen Schuldner traf. Denn auf den Marktplatz ging er ursprünglich doch deshalb, um seinen Freund aufzusuchen. Und deswegen lässt sich nun laut Aristoteles entweder von tyche oder automaton sprechen, und zwar, wie wir sehen werden, entweder von tyche oder (sic!) von automaton, je nachdem, ob die 135 136 137

Phys. B 5: 196 b 15, S. 75. Phys. B 5: 196 b 23, S. 75. Helene Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles, a.a.O., S. 91.

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Intention, einen Schuldner aufzusuchen, prinzipiell zumindest die Intention eines Marktgängers hätte sein können oder nicht.138 Wobei natürlich stets, um von einem Zufall im Sinne von tyche oder automaton in dem angegebenen Sinne überhaupt und in welchem Sinne auch immer sprechen zu können, die weiter oben erwähnte Minimalbedingung des nec necessarium erfüllt sein muss, nämlich die, dass die intendierte Handlung samt ihrer nebenbei eintretenden Fügung nicht aus Notwendigkeit erfolgt und nicht in den allermeisten Fällen oder im Zuge einer regelmäßigen Routine so geschieht, wie sie geschieht: „[…] weder ‚immer so‘ noch ‚in der Regel so‘ kann von den Ereignissen auf Grund von tyche eines sein.“139 Einer ging also weder aus Notwendigkeit noch in den allermeisten Fällen auf den Marktplatz. In Folge dieser weder notwendigen noch üblicherweise geschehenden Handlung, für die sich klare Ursachen, aber auch klare Intentionen angeben lassen, traf er gleichsam als „nebenbei eintretende Wirkung“ seinen Schuldner auf dem Marktplatz. Obwohl die Absicht, seinen Schuldner zu treffen, seine Intention hätte sein können, war seine ursprüngliche Absicht aber eine ganz andere, wobei durchaus mehrere Absichten in Frage kommen und die ursprüngliche Absicht sich gar nicht genau bestimmen lassen mag: „[…] für das Ereignis, dass einer hinging und sein Geld einzog, während er doch nicht deswegen hingegangen war, mag es unzählig viele Gründe geben: Entweder wollte er da jemanden sehen, oder er wollte zu Anklage oder Verteidigung in einem Prozess, oder er wollte ein Theaterstück anschauen.“140 Wäre er also regelmäßig oder notwendigerweise immer auf den Markt gegangen oder wäre es tatsächlich seine Absicht gewesen, seinen Schuldner zu treffen, und hätte er diesen dann auch getroffen, dann ließe sich in einem solchen Fall laut Aristoteles weder von tyche noch von automaton sprechen. Die bislang in der Physik gelieferten Bestimmungen des Zufalls fasst Aristoteles mit folgenden Worten in konziser Form zusammen: Wenn etwas aufgrund von tyche oder automaton geschieht, dann sind tyche und automaton „Ursachen in nebensächlicher Bedeutung […] und zwar im Bereich solcher Vorgänge, die nicht im strengen Sinn und auch nicht im Sinne von allermeistens erfolgen können, und sie gehören zu den Geschehnissen, die wegen etwas eintreten.“141 Oder noch einmal etwas anders und noch knapper formuliert: Tyche und automaton bezeichnen „nebenbei eintretende Wirkungen“142 im Kontext eines weder notwendig noch regelmäßig eintretenden Geschehens wegen etwas. Die so von Aristoteles in der Physik formulierte Definition und Systematik des Zufalls anhand der Begriffe von tyche und automaton und das diskutierte Beispiel desjenigen, 138

139 140 141 142

Zu diesem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal von tyche und automaton, je nachdem, ob die faktisch „nebenbei eintretende Wirkung“ zumindest prinzipiell als Intention dem „Akteur“ sinnvoll zugeschrieben werden kann oder nicht, vergleiche weiter unten in diesem Kapitel meine ausführliche Klärung der aristotelischen Differenz von tyche und automaton, S. 119–123. Phys. B 5: 197 a 31–33, S. 79. Phys. B 5: 197 a 17–18, S. 77. Phys. B 5: 197 a 32–35, S. 79. Vergleiche hierzu oben Anmerkung 136, S. 117 in diesem Kapitel.

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der weder notwendigerweise noch regelmäßig auf den Marktplatz geht, sondern der justament heute auf den Marktplatz geht und zwar heute deshalb, um dort einen Freund zu treffen, und der dann dort unvermuteterweise auf jemanden stößt, den er dort nicht vermutete, der aber auf dem Marktplatz ebenfalls aufgrund einer bestimmten Intention weilte, nämlich auf seinen Schuldner, lässt sich insofern analytisch in genau derselben Weise zergliedern, wie jenes Beispiel des unvermuteten Findens eines Schatzes, wie es uns in Aristoteles’ Ausführungen zum symbebekos in der Metaphysik bereits begegnet war. Der Unterschied zwischen diesen beiden Beispielen und zwischen der aristotelischen Zufallsthematisierung in der Metaphysik und derjenigen in der Physik liegt allein in der heuristischen Perspektive, die Aristoteles dabei jeweils einnimmt. Aus einem theoretischen Blickwinkel, welcher die Relation des Zufalls nicht aus einer neutralen Beobachterperspektive beschreibt, sondern das in Frage stehende Geschehen allein aus der Teilnehmerperspektive eines Akteurs wahrnimmt, aus der Perspektive nur eines Bestandteils der Relation des Zufalls also, in diesem Falle desjenigen, der auf den Marktplatz geht, nicht desjenigen, der jenem Geld schuldet, lässt sich die Relation des Zufalls in der Tat auch als unintendierte Nebenfolge einer intentional strukturierten Handlung beschreiben. Aus einer distanzierten Beobachterperspektive hingegen, welche die Relation der einen Handlung zu der anderen Handlung, die Relation des Zufalls also insgesamt im Blick behält, lässt sich dasselbe Geschehen – so wie dies ja auch in Aristoteles’ Diskussion des symbebekos in der Metaphysik geschieht – als eine ganz spezifisch zu definierende Koinzidenz, als unintendiertes und ursacheloses Zusammentreffen zweier intentional und ursächlich durchaus bedingter Handlungen begreifen. Die in der Physik formulierte Auffassung des Zufalls als untendierte Nebenfolge einer intentional strukturierten Handlung entpuppt sich somit als eine aus der Teilnehmerperspektive gewonnene Spezifizierung jenes relationalen Begriffs des Zufalls als einer auf bestimmte Weise zu charakterisierenden Koinzindenz zweier intendierter Handlungen, wie ihn Aristoteles in seiner Metaphysik aus der Beobachterperspektive entwickelt hatte. Nun ist allerdings laut Aristoteles’ Bestimmung des Zufalls in der Physik, wir deuteten dies bereits an, zwischen tyche und automaton streng zu unterscheiden. Der Begriff tyche kann Aristoteles zufolge nur im Kontext von Handlungen verwendet werden, genauer: im Kontext eines Geschehens von Handlungsakteuren, die mit freiem Willen ausgestattet handeln. Bezüglich jener Wesen hingegen, die nicht mit freiem Willen begabt sind und nicht nach „vorsätzlicher Absicht“143 und nicht durch „planende Vernunft“144 handeln können, kann der Begriff tyche nicht sinnvoll angewendet werden. „Es ist also klar: Wenn im Bereich der Geschehnisse, die im strengen Sinn wegen etwas eintreten und deren Ursache außer ihnen liegt, etwas geschieht, das mit dem Ergebnis nicht in eine Deswegen-Beziehung zu bringen ist, dann nennen wir das automaton. Auf Grund von tyche (sagen wir) von solchen Ereignissen, die im Bereich sinnvoll gewollter Handlungen bei (Wesen), die die Fähigkeit zu planendem Vorsatz haben, zufällig eintreten.“145 143 144 145

Phys. B 5: 196 b 18, S. 75. Phys. B 5: 196 b 22, S. 75. Phys. B 6: 197 b 18–22, S. 81.

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Auf welches Geschehen kann aber dann der Begriff automaton überhaupt sinnvoll angewendet werden? Der Zufall im Sinne von automaton, so Aristoteles, „trifft auch auf Tiere und einen großen Teil des Unbelebten zu; z. B. ‚das Pferd kam zufällig heraus‘, sagen wir dann, wenn es zwar durch sein Herauskommen einem Unglück entging, aber nicht herauskam in der Absicht, diesem Unglück zu entgehen.“146 An einer anderen Stelle seiner Physik schreibt Aristoteles bezüglich der Differenzierung von tyche und automaton: „Am deutlichsten getrennt ist (das zufällige Ereignis) von dem aufgrund von tyche im Bereich der naturhaften Ereignisse; wenn nämlich etwas eintritt der Naturbeschaffenheit zuwider, dann sagen wir nicht, es sei aufgrund von tyche, sondern mehr aufgrund von automaton so geworden.“147 Während tyche und automaton aus einem teilnehmenden Blickwinkel somit gleichermaßen als „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas zu verstehen sind, zeichnet es die nebenbei eintretende Wirkung im Sinne des automaton aus, dass hier dieses Geschehen wegen etwas nicht nach „vorsätzlicher Absicht“ und durch „planende Vernunft“ erfolgt, sondern gemäß seiner „Naturanlage“148 . Dem Pferd, dem es durchaus zufällig gelingen mag, die brennende Scheune zu verlassen, kann dennoch nicht, selbst wenn formuliert werden kann, dass es die Scheune „wegen etwas“, nämlich wegen seines natürlich veranlagten Strebens, sich in Sicherheit zu bringen, verlässt, eine vorsätzliche Absicht oder planende Vernunft, die Scheune zu verlassen, zugeschrieben werden. Und dies gilt für Aristoteles prinzipiell, weil ein Pferd eben jene Art von Wesen ist, die es ist. Den bei aller sonstigen strukturellen Homologie entscheidenden Unterschied zwischen dem Beispiel des Pferdes, dem es aufgrund eines natürlichen Instinkts zufällig gelungen ist, der Scheune zu entfliehen, und dem in der Physik ebenfalls diskutierten Beispiel des unvermittelten Treffens des Marktbesuchers mit seinem Schuldner hat Curt Leo von Peter vortrefflich beschrieben: „Der zweite Fall ist der gleiche wie der erste mit dem einzigen Unterschiede, dass eine bezweckte Wirkung durch die Natur des Urhebers von vornherein ausgeschlossen ist, da dieser leb-, seelen- oder vernunftlos ist […] Ein Pferd ist in der Schlacht verloren gegangen: am Abend kehrt es durch Hunger, Durst oder Instinkt getrieben in das Lager zu seinem Herrn zurück und wird so gerettet. – Aber die Wirkung gerettet zu werden zu werden, lag nicht in seiner Absicht, konnte seinem Wesen nach nicht bezweckt sein.“149 Die Rettung des Pferdes vor dem Schlachtgetümmel oder vor der brennenden Scheune ebenso wie das Treffen des Schuldners waren zufällig. Aber die Wirkung, gerettet zu werden, lag allenfalls in der „Naturbeschaffenheit“ des Pferdes, kann aber niemals in 146 147 148 149

Phys. B 6: 197 b 13–15, Phys. B 6: 197 b 32–35, Phys. B 5: 196 b 22, S. Curt Leo von Peter, Das

S. 81. S. 83. 75. Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie, a.a.O., S. 33 f.

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einer „planenden Vernunft“ des Pferdes begründet gewesen sein, während es durchaus die Absicht eines Menschen sein kann, auf den Marktplatz zu gehen, um seinen Schuldner zu treffen. Ein Ereignis, welches sich aus der Perspektive des betreffenden Akteurs als nicht intendierte Nebenfolge eines Geschehens wegen etwas beschreiben lässt und zudem nicht notwendigerweise immer und nicht regelmäßig eintritt, heißt also zufällig im Sinne von tyche, wenn die „nebenbei eintretende Wirkung“ die Intention dieses Handelns im Sinne einer vorsätzlichen Absicht zwar de facto nicht war, denn es trat etwas ganz anderes ein als die de facto vorhandene Intention, wohl aber ex hypothesi hätte sein können. Ein Ereignis, welches sich ebenfalls als nicht intendierte Nebenfolge von einem Geschehen wegen etwas beschreiben lässt und zudem nicht notwendigerweise immer und nicht regelmäßig eintritt, heißt also zufällig im Sinne von automaton, wenn die „nebenbei eintretende Wirkung“ dieses Geschehens ganz prinzipiell nicht als Resultat einer vorsätzlichen Absicht oder planenden Vernunft beschrieben werden kann, sondern als Folge einer natürlichen Anlage beschrieben werden muss: Zufällig ist der Stein hinabgefallen150 , zufällig kam der Sturm auf, zufällig verließ das Pferd die Scheune, bei all diesen Zufällen handelte es sich, würde man auf dieses Geschehen das Begriffspaar tyche – automaton anwenden und es also nicht aus einer übergeordneten Beobachterperspektive beschreiben, nicht um Fälle von tyche, sondern um Fälle von automaton, da doch in all diesen Vorgängen gerade das, was geschehen ist, nicht nur de facto nicht, sondern prinzipiell niemals als Folge einer vorsätzlichen Absicht verstanden werden könnte. Ein seinen Instinkten folgendes Pferd, ein hinabrollender Stein, ein aufkommender Sturm, solchen Formen von Geschehnissen und Ereignissen lassen sich niemals sinnvoll „vorsätzliche Absicht“ oder „planende Vernunft“ unterstellen. Dies änderte sich nur dann, wenn etwa jemand willentlich den Stein – mit welcher Absicht auch immer – hinuntergeworfen hätte und als „nebenbei eintretende Wirkung“ zufällig dies oder jenes geschehen wäre. Ein solcher Vorgang wäre dann aber auch – zumindest dann, wenn er aus der Teilnehmerperspektive eines beteiligten Akteurs beschrieben würde – nicht als automaton, sondern als tyche zu bezeichnen. Ein aufschlussreiches Kriterium dafür, ob wir ein zufälliges Geschehen, also ein Geschehen, welches alle genannten Bedingungen, um von tyche oder von automaton zu sprechen, erfüllt, nun tatsächlich als tyche oder automaton bezeichnen sollen, ist laut Aristoteles die Möglichkeit, ob das in Frage stehende Geschehen als „vergeblich“ bezeichnet werden kann oder nicht. So können wir beispielsweise den Versuch eines Spazierganges um der Verdauungsförderung willen als vergeblich bezeichnen. Die erhoffte und intendierte Wirkung trat nicht ein, der Spaziergang war also in diesem Sinne vergeblich. Wir hätten dann aber ein solchermaßen zufälliges Nicht-Eintreten – aus der Perspektive des Spaziergängers betrachtet – als tyche zu bezeichnen, weil die erhoffte Wirkung Ziel einer „vorsätzlichen Absicht“ oder „planenden Vernunft“ prinzipiell hätte sein können, wenn auch de facto sich diese Intention gerade nicht erfüllte, sondern sich vielmehr etwas ganz anderes ereignete, der Spaziergänger etwa einen Freund traf. Aber grundsätzlich lässt sich einem Menschen durchaus die Absicht unterstellen, einen Spaziergang um der Verdauungsförderung willen anzutreten. Niemals aber können wir den Fall eines Steines, der ohne Fremdeinwirkung vom Dach fällt, als vergeblich klassifizie150

Vergleiche dazu die in Anmerkung 129, S. 114 geschilderte Illustration für symbebekos.

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ren. Einem solchen Stein lassen sich niemals eine „vorsätzliche Absicht“ und „planende Vernunft“ zuschreiben – was hätte das Ziel oder die Absicht des Steins auch sein sollen? –, obschon sich das Resultat des den Passanten treffenden Steins durchaus als „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas beschreiben lässt. Wenn der Stein also zufällig einen vorbeieilenden Passanten erschlägt, hätten wir – aus der Perspektive des an diesem Geschehen teilnehmenden Passanten betrachtet – von automaton zu sprechen. Insofern verweist Aristoteles’ Thematisierung des Zufalls in der Physik anlässlich der Notwendigkeit der begrifflichen Distinktion von tyche und automaton wieder auf exakt jene zwei Arten des Zufalls, die sich bereits seiner Diskussion des symbebekos in seiner Metaphysik entnehmen ließen, obschon Aristoteles in der Physik die Thematik des Zufalls aus der Teilnehmerperspektive ausschließlich eines beteiligten Akteurs schildert, in der Metaphysik diese Thematik hingegen aus der übergeordneten Perspektive einer Relation, eines Zusammentreffens zweier Vorgänge oder Handlungen, diskutiert. Aber unbeschadet dieser Differenz lassen sich der aristotelischen Distinktion der Begriffe von tyche und automaton in der Physik als auch seiner Diskussion des Begriffs symbebekos in der Metaphysik deutlich zwei Varianten oder Typen des Zufalls entnehmen: Ist die Minimalbedingung des nec necessarium erfüllt, dann kann einerseits eine Handlung, deren Ursachen und Intentionen sich angeben lassen, mit einer anderen Handlung, deren Ursachen und Intentionen sich ebenfalls angeben lassen, koinzidieren; aber das Ergebnis dieses Zusammentreffens lässt sich weder als intendiert noch als notwendige Sequenz von Ursache und Wirkung begreifen. Andererseits kann eine handlungsunabhängige Begebenheit, der Vorsätzlichkeit zuzuschreiben prinzipiell unsinnig wäre, mit einer Handlung, deren Ursachen und Intentionen sich angeben lassen, zusammentreffen – wie etwa im Falle des Sturmes, der den Absichten des Seereisenden „einen Strich durch die Rechnung“ (Heidel) macht, oder des herabstürzenden Steines, der den Passanten erschlägt. Auch das Ergebnis eines solchen Zusammentreffens lässt sich – wie das Zusammentreffen zweier Handlungen – weder als intendiert noch als notwendige Sequenz von Ursache und Wirkungen begreifen. Für beide Typen des Zufalls, wie sie Aristoteles in strukturell homologer Argumentation in Metaphysik und Physik unterscheidet, gilt also, dass sie, ist die Minimalbedingung des nec necessarium erfüllt, aus der Beobachterperspektive betrachtet sowohl durch die Intentions- als auch die Ursachelosigkeit dieses relationalen Zusammentreffens gekennzeichnet sind. Und für beide Typen des Zufalls gilt ebenfalls, dass sie, ist die Minimalbedingung des nec necessarium erfüllt, aus der teilnehmenden Perspektive eines Bestandteils dieser Relation sich als „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas beschreiben lassen, welches weder notwendig noch regelmäßig geschieht. Aus dem Blickwinkel beider Perspektiven bezeichnet der Begriff des Zufalls daher wesentlich etwas Relationales. Und beide Perspektiven, welche Aristoteles für seine Klärung des Zufallsbegriffs einnimmt, machen ebenfalls deutlich, dass der Zufall etwas ist, also weder etwas Mögliches noch eine subjektive Wahrnehmung ohne reales Substrat bezeichnet und auch nicht, zumindest nicht vorrangig und ausschließlich, eine begrifflich-logische Dimension betrifft, sondern etwas Wirkliches charakterisiert, dass

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also tyche und automaton und symbebekos „wirklich etwas sind“151 . Aus beiden Perspektiven betrachtet dürfte die Auswahl der von Aristoteles gewählten Beispiele schließlich verdeutlicht haben, dass und inwiefern es sich um Begebenheiten und Fälle handelt, die von unmittelbarer lebensweltlicher und alltäglicher Relevanz sind. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Zufalls besteht allerdings darin, dass das, was sich aus der Teilnehmerperspektive als die „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas beschreiben lässt, aus der Perspektive eines Akteurs entweder zumindest ex hypothesi vorsätzlicher Absicht und Zwecksetzung hätte entspringen können, auch wenn es de facto ganz und gar nicht der Fall war – es trat vielmehr etwas ganz anderes als die Realisierung der beabsichtigten Intention ein –, und in einem solchen Fall ließe sich von tyche sprechen, oder dies eben prinzipiell niemals hätte der Fall sein können, insofern sich die „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas niemals als Resultat einer Intention oder Zwecksetzung verstehen lässt – was könnten die Absichten oder Zwecksetzungen eines Steines oder Sturmes denn schon sein? –, sondern vielmehr einer „Naturbeschaffenheit“152 verdankt. In einem solchen Fall sollten wir laut Aristoteles von automaton sprechen. Aus der Beobachterperspektive wiederum betrachtet lässt sich dieser zentrale Unterschied der beiden von Aristoteles in der Physik unterschiedenen Typen und Termini des Zufalls als strukturell homologes Pendant der uns bereits aus der Metaphysik bekannten Differenz zwischen dem Zufall als einer ursache- und intentionslosen Relation einer Handlung mit einer handlungsunabhängigen Begebenheit und dem Zufall als einer ursache- und intentionslosen Relation zweier Handlungen beschreiben. (4) An diese begrifflichen Distinktionen und Präzisierungen des Zufallsbegriffs, wie sie Aristoteles anhand der Begriffe symbebekos, tyche und automaton vornimmt, lassen sich im Wesentlichen zwei grundsätzlich zu unterscheidende inhaltliche Rückfragen richten: Die eine Frage betrifft die philosophische Legitimität des Zufallsbegriffs. Ist die aristotelische Rede von Zufall im Sinne eines wirklich Seienden philosophisch überhaupt zulässig? Ist die weitere aristotelische Charakterisierung dieses wirklich existierenden nec necessarium als eine ursache- und intentionslose Relation zweier Handlungen oder als eine Relation einer Handlung mit einer handlungsunabhängigen Begebenheit theoretisch plausibel? Wir werden erst im übernächsten Abschnitt dieses Kapitels, also im sechsten Abschnitt, die mit diesen Fragen angedeutete Problematik diskutieren, wobei es weniger um eine Letztgültigkeit beanspruchende und gleichsam gottesbeweisanalog verfahrende Antwort auf die Frage gehen wird, ob es denn den Zufall gibt oder vielmehr nicht gibt. Vielmehr wird uns beschäftigen, ob denn jenes Phänomen, von dem wir in unserem Sprachgebrauch doch immer schon Kunde geben und unvermeidlich Zeugnis ablegen, das Phänomen des Zufalls, ob denn dieses tatsächlich so verstanden und bestimmt werden kann, wie es Aristoteles tut. Dabei wird uns Wilhelm Windelbands Schrift Die Lehren vom Zufall sowohl verlässlicher Wegführer durch ein äußerst schwieriges theoretisches Gelände als auch luzide argumentierender Advokat des kritischen Zweifels an der philosophischen Legitimität jeder philosophischen Rede vom Zu151 152

Vergleiche Anmerkung 135 auf S. 117 in diesem Kapitel. Vergleiche Anmerkung 147 auf S. 120 in diesem Kapitel.

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fall überhaupt – allen begrifflichen Distinktionen und Präzisierungen der aristotelischen Zufallsdiskussion zum Trotz – sein. Gelänge es, durch Rekurs auf die aristotelische Bestimmung und Charakterisierung des Zufalls und gegen die Argumente Windelbands, des schärfsten Kritikers aller nur erdenklichen „Lehren vom Zufall“, die philosophische Legitimität des Zufallsbegriffs im Anschluss an Aristoteles’ Bestimmungen wenn auch nicht letztgültig zu begründen, so doch immerhin nahezulegen, wäre dem Zufallsbegriff ein theoretisch unüberbietbarer Dienst geleistet. Ein umfassendes Verständnis von Aristoteles’ Zufallsthematisierung sowie der Versuch ihrer theoretischen Rehabilitierung bedürfen jedoch vor der Erörterung der mit dem Namen Windelbands verbundenen Zweifel und ihrer Bewertung noch der Diskussion einer anderen Frage. Bereits in unseren Bemerkungen zum kultur- und geistesgeschichtlichen Kontext der aristotelischen Zufallsthematisierung im zweiten Abschnitt dieses Kapitels stießen wir einerseits auf Autoren, die zwar von tyche – anders als Aristoteles – nicht im Sinne eines philosophischen terminus technicus sprachen, gleichwohl für den menschlichen Umgang mit einer als Göttin verstandenen Tyche ganz bestimmte Maximen und Rezepte formulierten, nämlich vor allem die menschliche Einsicht in die theoretische Unzugänglichkeit und praktische Unverfügbarkeit bei gleichzeitiger Bewahrung des Glaubens an eine dem Menschen wohlgesonnene Tyche nahelegten. Andererseits löste Thukydides tyche in eine historische und historiographische Residualkategorie auf und behauptete für diese eine prinzipiell unbeschränkte theoretische Kalkulierbarkeit und insofern auch praktische Verfügbarkeit durch menschliche Umsicht und Klugheit, auch und selbst für den Fall, dass diese tyche menschlichem Handeln gar nicht entsprungen sein mochte. Wie ist nun Aristoteles’ Denken über den Zufall innerhalb dieser Spannweite kultur- und geistesgeschichtlich nachweisbarer Empfehlungen für den rechten und angemessenen Umgang mit Tyche oder tyche zu verorten? Wie soll und kann laut Aristoteles menschliche Praxis mit der für ihn nicht zu bestreitenden Existenz eines Zufalls im Sinne von symbebekos, tyche oder automaton umgehen? Anders und in Abwandlung einer Formulierung von Hermann Lübbe gefragt: Welche Form von Tychebewältigungspraxis153 empfiehlt eigentlich die aristotelische Analyse und Philosophie des Zufalls? Und schließlich möchte ich in einem längeren Exkurs am Ende dieses vierten Abschnitts des Kapitels der Frage nachgehen, inwiefern sich John Deweys Argumentation in Die Suche nach Gewißheit als zeitgenössische philosophische Variante oder Modifikation der aristotelischen Form von Tychebewältigungspraxis verstehen lässt. Diesbezüglich findet sich bei Aristoteles ein interessanter Verweis unmittelbar im Anschluss an die bezüglich einer definitorischen Bestimmung des Zufalls im Sinne des symbebekos oben bereits zitierten Passagen der Metaphysik, nämlich am Ende des zweiten Kapitels des sechsten Buches. Auf ein Zufälliges – Aristoteles spricht an dieser Stelle 153

Bereits für die Kennzeichnung von Thukydides’ historiographischer Thematisierung von tyche hatten wir diese Abwandlung von Lübbes Formulierung gebraucht. Vergleiche S. 104–108 in diesem Kapitel. Zu Lübbes Kontingenzbewältigungspraxis vergleiche ganz allgemein das letzte Kapitel dieser Arbeit Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbewältigungspraxis und eine Erinnerung an William James.

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vom symbebekos im Sinne eines Akzidentiellen – könne sich, so behauptet Aristoteles hier, keine „Wissenschaft“, wie es in der Übersetzung heißt, keine episteme, wie es in diesen Passagen nun durchgängig im Original heißt, richten: „Dass es aber keine Wissenschaft des Akzidentiellen gibt, ist offenbar. Denn jede Wissenschaft hat zu ihrem Gegenstande das, was immer oder doch in den meisten Fällen stattfindet. Denn wie sollte man es sonst lernen oder einen andern lehren? Es muß vielmehr als immer oder als in der Regel stattfindend bestimmt sein; z. B. das Honigwasser ist den Fieberkranken in der Regel heilsam. Was aber außerhalb dieser Regel fällt, wenn es nicht heilsam ist, wird man nicht angeben können, z. B. etwa bei Neumond; denn insofern es immer oder in der Regel heilsam ist, wird es auch bei Neumond heilsam sein; das Akzidentielle aber fällt neben und außer diesen Fällen. Was also das Akzidens ist und durch welche Ursache es ist und warum es keine Wissenschaft desselben gibt, ist hiermit erklärt.“154 Worin aber besteht, wenn eine nur auf regelmäßige Fälle anwendbare episteme, die eo ipso auf das, was diesem Regelmäßigen einen „Strich durch die Rechnung“ (Heidel) macht, nicht anwendbar ist, worin aber besteht dann die geeignete Umgangsform des Menschen dem Zufall gegenüber, wie ist der dem Menschen angemessene und zu empfehlende Umgang mit symbebekos vorzustellen? Was hilft, wenn die allgemeine Medizin des Honigwassers nicht mehr hilft? Im neunten Kapitel seiner Hermeneutik, auf welches wir im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits als Belegstelle für den temporalen Bezug der aristotelischen Möglichkeitsbegriffe zu sprechen kamen, verweist Aristoteles im Kontext der Diskussion, ob den „Gegenständen des Werdens“155 notwendigerweise Sein oder Nicht-Sein, Wahrheit oder Falschheit zukommt, auf den Begriff der tyche. Wenn es bezüglich dieser Welt des Werdens kein „wie es sich gerade so fügte“ (hopoter etychen) und auch keine tyche gäbe, wenn auch für den die Lebenswelt und den Alltag der Menschen doch so stark beeinflussenden Bereich des Werdens nur eine eiserne Kette der Notwendigkeit zu konstatieren sei, „so brauchte man“, so folgert Aristoteles, „denn weder zu Rate zu gehen noch sich die Mühe der Überlegung zu machen.“156 Dass aber nun justament das genaue Gegenteil der Fall ist, dass gerade eine Welt des Werdens mitsamt ihren Unwägbarkeiten unbestreitbar das Leben der Menschen in ganz praktischer Weise bestimmt, dass Dinge eintreten können oder nicht eintreten können, dass eben durchaus Dinge in unserem Leben sich „gerade so ergeben“ (hopoter etychen) können, wie Aristoteles immer wieder 154

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156

Met. E 2: 1027 a 20–28, S. 259. Vergleiche hierzu auch die folgende Passage in der Physik: „Auch die Behauptung, etwas Widervernünftiges sei doch diese tyche, ist richtig: der vernünftige Schluss bezieht sich auf diese Dinge, die immer so sind oder doch in der Mehrzahl der Fälle, die tyche dagegen findet statt unter dem, was dem zuwider geschieht; da also so geartete Ursachen unbestimmbar sind, ist auch die tyche ein Unbestimmbares.“ Phy. B 5: 197 a 18–21, S. 77. De int. 9: 18 b 28–29, in: Aristoteles, Organon. Band 2. Kategorien u. a., herausgegeben von Hans Günter Zekl, Hamburg 1998, S. 113. Ich zitiere im folgenden nach dieser Ausgabe. De int. 9: 18 b 28–31, S. 113.

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formuliert, oder sich in Folge von tyche ereignen, wie es bei Aristoteles in diesem neunten Kapitel seiner Hermeneutik an zwei Stellen auch heißt, diese Tatsache spricht dafür, dass die Welt im spezifischen Bereich „der Dinge, die nicht immer wirkend sind“157 , in ihrem Verlauf gerade auch davon abhängt, ob und inwiefern man eben doch gewillt ist, „zu Rate zu gehen“ und sich die „Mühe der Überlegung“158 zu machen. Insofern laut Aristoteles „zukünftig Eintretendes seinen Ausgangspunkt nimmt sowohl vom Beraten aus wie davon, dass man zu handeln beginnt“159 , bestehen das praktische Gebot und die Notwendigkeit, mit sich bezüglich dieses zukünftig Eintretenden „zu Rate zu gehen“. Kurzum: Wo eine an Regelmäßigkeiten orientierte Erkenntnisweise im Sinne von episteme nicht weiterhilft, kann praktische Klugheit bezüglich einzigartiger Handlungen in folgenreicher Weise dem Leben der Menschen nützlich sein. Angesichts eines unerwartet einbrechenden Zufalls hilft weder die Suche nach letztgültiger Gewissheit bei unveränderter Beibehaltung der geltenden Handlungsmaximen noch defaitistische Handlungsabstinenz, wohl aber situationsabhängiges Räsonnieren. Aristoteles empfiehlt so gleichsam, so möchte ich es sagen, praktische Intelligenz und eine prudentielle Form von Tychebewältigungspraxis und verlagert damit Thukydides’ historiographisches Rezept für die Bewältigung historischen Zufalls auf das Terrain der praktischen Philosophie und die Bewältigung des praktisch relevanten Zufalls. Rüdiger Bubner und Stephen Toulmin haben dieses für die praktische Philosophie des Aristoteles konstitutive Plädoyer für eine praktische und situtationssensible Vernunft, welche sich nicht einem unerreichbaren Ideal epistemischer Gewissheit verschreibt, als die dem Menschen angemessene Antwort auf die Herausforderungen von automaton, symbebekos und tyche in einer deutlich von Aristoteles inspirierten Weise jeweils reformuliert. Bei Bubner heißt es: „Die fragliche Anleitung ist Sache des konkreten, auf das je Einzelne gerichteten Überlegens, das im Lichte praktischer Vernunft das Worumwillen des Handelns definiert. Angesichts der Pluralität von Alternativen im Bereich des Nicht-Festgelegten muß jeder Handelnde mit sich zu Rate gehen, bevor das Handeln überhaupt einsetzen kann.“160 Toulmin schreibt im Zusammenhang einer ganz ähnlich lautenden Interpretation, Aristoteles „erkannte, dass unsere Chance, auf einem praktischen Gebiet klug zu handeln, von unserer Bereitschaft abhängt, nicht nur die zeitlosen Forderungen theoretischer Formeln einzukalkulieren, sondern auch die Entscheidungen pros ton kairon zu treffen – das heißt, ‚nach den Erfordernissen des Einzelfalls‘.“161

157 158 159 160

161

De int. 9: 19 a 9, S. 115. De int. 9: 18 b 30–31, S. 113. De int. 9: 19 a 7–9, S. 115. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, S. 39. Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1994 (1991), S. 303.

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Martha Nussbaum wiederum hat durchaus im positiven Anschluss an Aristoteles’ prudentielle Form von Tychebewältigungspraxis betont, dass Aristoteles’ Plädoyer für einen von praktischer Klugheit geprägten Umgang mit tyche, der sich gerade nicht an der unumstößlichen Gewissheit situationsunabhängiger Regelmäßigkeiten orientiert, sich nicht auf eine wissenschaftlich verfahrende episteme beruft und verlässt, sondern auf eine kontextuell gebundene und praktisch flexible Intelligenz setzt, sich niemals die Anmaßung zu eigen gemacht hätte, eine kognitive Leistung des Menschen allein, und sei’s auch die einer praktisch flexiblen Intelligenz, könnte alle Widerfahrnisse des menschlichen Lebens meistern und also durch den Vollzugs eines theoretischen Akts allein gleichsam überwinden oder beherrschen. Aristoteles spielt für Nussbaums Argumentation in The Fragility of Goodness doch gerade deshalb eine so zentrale Rolle, weil er laut Nussbaum ähnlich wie die griechischen Tragödiendichter und anders als Platon sich gegen eine solche Anmaßung und Überschätzung menschlicher Kapazitäten gerade zur Wehr gesetzt habe, indem er stets auf die Fragilität des menschlichen Lebens im Sinne von dessen Zufallsanfälligkeit verwiesen habe, ohne sich deshalb freilich zu der geradewegs konträren These gedrängt zu sehen, alles im Leben unterstehe vollständig dem Belieben eines vermeintlich unverfügbaren Zufalls, ohne sein Plädoyer für eine praktische Intelligenz als Form einer prudentiellen Bewältigung des Zufalls durch die immer auch partiell unverfügbare Macht und Reichweite des Zufalls in Frage gestellt zu sehen. Durchaus manches, wenn auch gleichwohl nicht alles in unserem menschlichen Leben, hängt für Aristoteles’ Ethik, wie sie Nussbaum in The Fragility of Goodness rekonstruiert, von unserer Praxis und der Klugheit, mit welcher wir diese unsere Praxis regeln, ab; manches freilich bestimmt und beeinflusst unsere Praxis auch in einer unvorhersehbaren und unverfügbaren Weise, die allenfalls, wenn überhaupt, nachträglich bearbeitet werden kann, die aber doch der praktischen Verfügbarkeit des Zufalls Grenzen setzt. Auch die Ethik des Aristoteles, wonach eudaimonia von unserer Praxis und den in dieser Praxis bezeugten Tugenden abhängt, besagt deshalb Nussbaum zufolge gerade nicht, dass Aristoteles jene Lebenssituationen verkannt oder ignoriert hätte, in denen Umstände welcher Art auch immer in einer menschlicher Praxis unverfügbaren Weise die Ausübung von Tugendhaftigkeit und damit die Erlangung von eudaimonia einschränken, ja sogar nachhaltig und langfristig verunmöglichen können. Aristoteles selbst verdeutlicht seine Sensibilität für die niemals unbeschränkte Reichweite menschlicher Praxis und Intelligenz und sein Bewusstsein für die unverfügbaren Zufällen stets unterliegende „fragility of goodness“, wenn er etwa in der Nikomachischen Ethik über den ehemaligen trojanischen Kriegshelden Priamos schreibt, in dessen Leben hätten sich in tragischer Weise die Veränderlichkeit und Zufallsanfälligkeit des menschlichen Lebens manifestiert. „Denn es gibt viele Veränderungen und vielerlei Zufälle in einem Leben, und es kann derjenige, dem es am besten ergeht, in seinem Alter in großes Unglück stürzen, so wie es im troianischen Epos über Priamos erzählt wird.“162 Aristoteles balanciert somit laut Nussbaum im Rahmen seiner Ethik in einer genau angemessenen Weise die Offenheit für die zufallsanfälligen und partiell unverfügbaren Aspekte des menschlichen Lebens und dessen Streben nach eudaimonia mit einem 162

NE 1100 a 5–10. Hier zitiert nach Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, München 1991, S. 122.

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ausgewogenen Plädoyer für die stets möglichen, niemals zu gering einzuschätzenden Chancen einer durch praktische Klugheit gesteuerten Domestizierung und Bewältigung des Zufalls: „The vulnerability of the good person is not unlimited. For frequently, even in diminished circumstances, the flexible responsiveness of his practical wisdom will show him a way to act well. But the vulnerability is real: and if deprivation and diminution are severe or prolonged enough, this person can be ‚dislodged‘ from eudaimonia itself.“163 Aristoteles’ prudentielle Tychebewältigungspraxis verlagert insofern nicht nur ein von Thukydides für den Umgang mit dem historischen Zufall entwickeltes historiographisches Rezept auf das Terrain der praktischen Philosophie, sondern balanciert im Unterschied zu Thukydides die Möglichkeiten einer prudentiellen Tychebewältigungspraxis auch mit der eingestandenen Existenz von Widerfahrnissen und Zufällen, die aller Praxis unverfügbar sind. Bevor ich mich nun im nächsten Abschnitt dieses Kapitels um eine weitere Präzisierung des aristotelischen Zufallsverständnisses bemühe, um im Anschluss daran im sechsten Abschnitt dieses Kapitels – wie angekündigt – wiederum zu zeigen, dass wir in der Philosophie des Aristoteles tatsächlich ein bis heute theoretisch unüberbotenes Verständnis dessen vorfinden, was als Zufall zu bezeichnen wir uns intuitiv in unserem Sprachgebrauch doch stets berechtigt sehen, mich also um eine theoretische Rehabilitierung von Aristoteles’ Zufallsverständnis bemühe, möchte ich in einem diesen vierten Abschnitt des Kapitels beschließenden Exkurs, noch auf eine späte Variante und zugleich Modifikation des aristotelischen Plädoyers für eine prudentielle Bewältigung des Zufalls in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hinweisen, nämlich auf John Deweys Argumentation in seiner Schrift Die Suche nach Gewißheit. In seinen 1929 gehaltenen Gifford Lectures, deren erkenntnistheoretische, moralphilosophische, philosophiegeschichtliche und auch wissenschaftstheoretische Thesen uns hier nicht genauer zu interessieren haben164 und die noch im gleichen Jahr unter dem Titel The Quest for Certainty publiziert wurden, differenziert Dewey zwischen drei Typen jener „escape from peril“, welche dem ersten Kapitel dieser Schrift im Original den Titel gibt: Da ist zum einen der von Dewey im Laufe der gesamten Argumentation seines Buches immer wieder umschriebene, vehement verteidigte und eindeutig favorisierte Typus einer Suche nach praktischer „Sicherheit“, nach einer in der Praxis zu findenden und in der praktischen Lösung eines gestörten Handlungsvollzugs erfahrbaren „safety“, „security“ oder „assurance“, wie die entsprechenden Termini im Original lauten. Diese Form einer praktischen Sicherheit vor den Anfechtungen einer gefahrvollen Unsicherheit ist für Dewey also offensichtlich nur innerhalb des Handelns selbst zu gewinnen und zwar nur im Zuge einer situativ flexiblen und intelligenten Bewältigung 163

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Martha Nussbaum, The Fragility of Goodness, Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, a.a.O., S. 340. Vergleiche hierzu meine ausführliche Rezension von Deweys Schrift, welche diese vor allem aus dem Blickwinkel der genannten Perspektiven bespricht. Peter Vogt, „Sicherheit statt Gewissheit“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 153–160.

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eines gestörten Handlungsablaufs, welche sich niemals auf situtationsblinde Regeln und Gesetzmäßigkeiten verlassen kann. Diese Suche nach praktischer Sicherheit dank einer situativ flexiblen und sich in Praxis vollziehenden Intelligenz entspricht nun aber ziemlich genau jener „practical wisdom“ (Nussbaum), die auch Aristoteles meinte, wenn er bezüglich einer wandelhaften Welt und Lebenswelt die Empfehlung aussprach, „sich die Mühe der Überlegung zu machen“ und mit sich „zu Rate zu gehen“, also „pros ton kairon“ zu entscheiden, wie Toulmin reformuliert, nicht hingegen auf diese konkreten Handlungssituationen überschreitende Regelmäßigkeiten zu vertrauen, auch wenn Deweys Begriff praktischer Intelligenz im Unterschied zu Aristoteles’ Begriff der praktischen Reflexion und der reflexiven Praxis weniger an der ethischen Perspektive der Gestaltung eines tugendhaften Lebens orientiert ist als vielmehr die pragmatistische Perspektive der intelligenten Fortführung eines gestörten Handlungsablaufs im Blick hat. Diese gleichsam pragmatistische Variante des Plädoyers für eine prudentielle Bewältigung des Zufalls ihrerseits untergliedert Dewey in zwei weitere Subkategorien: Praktische Intelligenz im Umgang mit den Zufällen und Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens und die dadurch erlangte praktische Souveränität kann sich einerseits in der Veränderung von subjektiven Einstellungen oder Handlungsabsichten realisieren. Die Störung eines Handlungsvollzugs wird in diesem Falle dadurch aufgehoben, dass der genuine Störfaktor ins Leere läuft, den Absichten eben keinen „Strich durch die Rechnung“ (Heidel) macht, weil diese Absichten flexibel genug auf dieses Handlungshemmnis reagieren und sich wandeln. Wenn es regnet, und wir an der Fortsetzung des angestrebten oder bereits unternommenen Spaziergangs gehindert werden, können wir das Kaffeehaus besuchen. Dewey umschreibt hier exakt jene Subkategorie der Suche nach praktischer Sicherheit, die Hermann Lübbe als pragmatische Form von Kontingenzbewältigungspraxis analysiert.165 Andererseits vermag praktische Intelligenz im Umgang mit den Zufällen und Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens und eine dadurch erlangte praktische Souveränität die Destruktivität des unsere Absichten hemmenden oder störenden Geschehens selbst zu modifizieren. Wenn der Zug verspätet kommt, und wir nicht pünktlich abreisen können, können wir, anstatt nun Zeitung zu lesen, also im Sinne der erstgenannten Subkategorie zu reagieren, uns vielmehr auch darum bemühen oder dafür sorgen, dass die Ursache für die Verspätung, etwa eine organisatorische Fehlplanung der Gleisbelegung im Bahnhof, wenn nicht in diesem Fall, so doch im nächsten Fall, beseitigt oder behoben wird, wir also durchaus pünktlich, wenn nicht dieses Mal, dann das nächste Mal, zum Reiseziel gelangen. Um diese Differenzierung zweier Subkategorien eines Strebens nach praktischer Sicherheit noch einmal mit Hilfe von Deweys eigenen Worten zu klären: Wer seinen Acker von Überschwemmungen ständig bedroht sieht, sollte im erstgenannten Sinne versuchen, ein entsprechendes Wehr oder einen Damm zu errichten, da er doch offensichtlich nicht ändern kann, dass es regnet, sich eine derart natürliche Begebenheit seinem Einfluss vielmehr grundsätzlich entzieht: „[…] wenn wir die Anzeige eines Barometers als Zeichen lesen, dass es wahrscheinlich regnen wird, werden wir dadurch nicht in die Lage versetzt, das 165

Vergleiche hierzu das letzte Kapitel dieser Arbeit Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbewältigungspraxis und eine Erinnerung an William James.

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T – D  W  Z Eintreten des Regens zu verhindern. Aber wir können unser Verhältnis dazu verändern: Wir können einen Garten bepflanzen, beim Ausgehen einen Regenschirm tragen, die Route eines Schiffes auf See lenken usf.; wir können vorbereitende Handlungen unternehmen, um Werte etwas weniger unsicher zu machen. Wenn wir auch nicht befähigt werden, genau das zu regulieren, was gerade stattfindet, so doch, einen bestimmten Aspekt dieses Ereignisses in einer Weise zu lenken, welche die Stabilität von Absichten und Resultaten beeinflusst. In anderen Fällen, wie in den eigentlichen Künsten [„in the arts proper“ im Original; P. V.], können wir nicht nur unsere eigene Einstellung modifizieren, um so eine nützliche Vorbereitung auf das kommende Ereignis zu bewirken, sondern wir können das Geschehen selbst modifizieren.“166

In „den eigentlichen Künsten“, von denen in der zuletzt zitierten Passage die Rede ist, lässt sich also laut Dewey gerade vorstellen, dass „das Geschehen selbst“ modifiziert werden kann. Mag sein, dass sich dies bei natürlichen Vorgaben oder Begebenheiten nur schwer konkret vorstellen lässt. Regen lässt sich unschwer abschaffen. Aber unpünktliche Züge sehr wohl. Unpünktliche Züge sind eben gerade kein unveränderliches fatum, auf welches wir einzig mit zeitvertreibender Zeitungslektüre reagieren könnten, sondern wir können „in the arts proper“ – also bezüglich all jenes Geschehens, welches sich unabhängig von naturalen Vorgaben allein menschlicher Praxis verdankt – doch „das Geschehen selbst modifizieren“, und es spielt dabei nur eine sekundäre Rolle, ob der verspätete Zug ex hypothesi tatsächlich in die Kategorie der „eigentlichen Künste“ fällt oder nicht doch stets in die Kategorie eines auch natural bedingten Zufalls, auf den wir nur mit der Änderung unserer subjektiven Einstellungen reagieren können.167 Wie auch immer man sich Deweys Differenzierung der beiden Subkategorien einer gleichsam prudentiellen Bewältigung des das Leben doch stets kennzeichnenden Zufalls vorzustellen hat, von Subkategorien, die wiederum zwei unterschiedlichen Arten von Zufällen, Unsicherheiten oder Ungewissheiten zu korrespondieren scheinen, je nachdem nämlich, welche Funktion eine natürliche Begebenheit für den Eintritt eines solchermaßen zufälligen, unsicheren oder ungewissen Geschehens spielt oder nicht: für beide Subkategorien gilt, dass sie in unterschiedlicher Weise jene von Dewey emphatisch beschriebene „art of control“ kultivieren, die ihm als das unüberbietbare Ideal eines im Geiste des Pragmatismus verfahrenden Umgangs mit den Ungewissheiten, Unsicherheiten und Zufällen des menschlichen Lebens gilt.168 Freilich kann, so ließe sich gegen 166

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Vergleiche hierzu John Dewey, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt am Main 1998 (1929), S. 135. John Dewey, „The Quest for Certainty. A Study in the Relation of Knowledge and Action“ (1929), in: The Later Works 1925–1953, Volume 4: 1929, herausgegeben von Jo Ann Boydston, Carbondale 1984, S. 106. Vergleiche hierzu meinen ausführlichen Vergleich von Lübbes pragmatischer Kontingenzbewältigungspraxis und Deweys beiden Subkategorien des Strebens nach praktischer Sicherheit im letzten Kapitel dieser Arbeit in Anmerkung 64, S. 684. Diese „art of control“ stellt für Dewey nicht nur eine normative Empfehlung dar, sondern sie bezeichnet ihm auch eine tatsächlich zu beobachtende gesellschaftliche Tendenz, die er immer mehr auf dem kulturellen und politischen Vormarsch und so auch immer stärker gesellschaftlich akzep-

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Deweys bisherige Argumentation einwenden, die der Kultivierung dieser beiden Typen einer „art of control“ korrespondierende Form von Ungewissheit, Unsicherheit oder Zufall immer nur eine ganz spezifische sein, andernfalls Deweys Plädoyer für diese „art of control“ doch theoretisch gar nicht verfangen würde. All demjenigen, was da durch menschliche Initiative und Lenkung kontrolliert werden soll, sei’s dass dabei natürliche Begebenheiten involviert sind – wie im Falle des durch einen Regenschirm zu domestizierenden Regens –, sei’s dass „das Geschehen selbst“ modifiziert werden kann, weil nur von menschlicher Praxis abhängige Begebenheiten koinzidieren, all diesem Geschehen können doch gemäß Deweys Argumentation niemals menschliche Problemlösungskapazitäten prinzipiell überfordernde Merkmale der Unverfügbarkeit eigen sein. Ungewissheiten und Unberechenbarkeiten einer Situation, Zufälle und Unsicherheiten eines Lebens, sie können Deweys pragmatistischem Plädoyer für eine über zweierlei Optionen verfügende „art of control“ zufolge niemals etwas anderes als ein Problem sein, ein Problem, das seiner Auflösung durch eine praktisch eingesetzte Intelligenz harrt und dieser Auflösung auch stets gefügig ist. Indes, sind, so mag man an dieser Stelle gegenüber Deweys Argumentation nachfragen, sind Zufall, Unsicherheit und Ungewissheit stets allein und ausschließlich Facetten eines gestörten Handlungsablaufs, sind die sich mit ihnen stellenden praktischen Herausforderungen stets allein und ausschließlich im Sinne eines Problems zu verstehen, welches sich durch eine situativ flexible und praktisch vollzogene Intelligenz zudem stets zufriedenstellend lösen lässt? Oder sind Menschen auch mit Unsicherheiten, Ungewissheiten und Zufällen konfrontiert, die sich gerade nicht als ein Problem, zumal als ein durch praktische Intelligenz lösbares, begreifen lassen, vielmehr auf eine systematische Grenze einer derartigen Problemorientierung verweisen, weil und insofern sie unverfügbar sind? Und für welchen Typus von Unsicherheit, Ungewissheit und Zufall träfe dies zu? Deweys Reaktion auf derartige Einwände verfolgt in Die Suche nach Gewißheit keine ganz eindeutige Argumentationsstrategie. Einerseits finden sich in Die Suche nach Gewißheit Formulierungen, die sowohl den Eindruck erwecken, Dewey habe tatsächlich Zufälle, Unsicherheit und Ungewissheit nur als Resultat und Element von Praxis zugelassen, als auch suggerieren, Dewey habe die pragmatische Bewältigung aller Zufälle

tiert sieht. Wir hätten in der Gegenwart, so schreibt Dewey, „ein Gefühl, dass die Kontrolle über die Hauptbedingungen des Schicksals zu einem spürbaren Grad in unsere eigene Hände übergegangen ist. Wir leben umgeben vom Schutz Tausender von Künsten und haben Sicherheitspläne ersonnen, welche die sich anhäufenden Übel mildern und verteilen.“ Die dieser „art of control“ korrespondierende Mentalität umschreibt Dewey ferner als diejenige eines disziplinierten Geistes, der sich in seinem Streben, Probleme zu lösen, von keinen Widerfahrnissen schrecken lässt: „Ein disziplinierter Geist hat Freude am Problematischen und lässt nicht locker, bis ein Ausweg gefunden ist, der auch einer Prüfung standhält. Das Fragwürdige löst ein aktives Fragen, eine Suche aus; der Wunsch nach dem Gefühl der Sicherheit macht der Suche nach Gegenständen Platz, mit deren Hilfe das Obskure und Unerledigte zum Stabilen und Klaren weiterentwickelt werden kann.“ John Dewey, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, a.a.O., S. 13 bzw. S. 228.

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und Unsicherheiten so wie bereits Thukydides auf dem Gebiet der Historiographie169 für uneingeschränkt möglich erachtet und alle Formen nicht-pragmatischen Umgangs mit Zufällen weniger als praktisch folgenreiche Bewältigung denn als Verdrängungsstrategie diskreditiert.170 Damit aber hätte Deweys Argumentation in Die Suche nach Gewißheit zwei fundamentale Merkmale der aristotelischen Zufallsphilosophie und aus meiner Sicht auch theoretische Stärken derselben gerade ignoriert. Sie hätte nämlich zum einen Aristoteles’ Differenzierung der Begriffe von tyche und automaton übersehen und insofern die Tatsache, dass für Aristoteles Zufall sowohl die Relation einer Handlung mit einer anderen Handlung als eben auch die Relation einer Handlung mit einer handlungsunabhängigen Begebenheit, die gerade per definitionem nicht zur Gänze aus menschlicher Praxis resultiert, bedeuten kann. Und sie hätte im Zuge einer solchen, der aristotelischen Zufallstheorie theoretisch unterlegenen Auffassung von Unsicherheit, Ungewissheit und Zufall ausschließlich und allein im Sinne von Aspekten und Elementen menschlicher Praxis auch Aristoteles’ balanciertes Plädoyer für die Chancen, aber eben auch unverfügbaren Grenzen praktischer Intelligenz in der Auseinandersetzung mit tyche und automaton, welches Martha Nussbaum so treffsicher in den Vordergrund ihrer Aristoteles-Interpretation stellt171 , systematisch verkannt und insofern die intrinsischen Grenzen einer pragmatisch verfahrenden Problembewältigung ignoriert. Andererseits ist es natürlich ein konstitutives Charakteristikum von Deweys gesamter Argumentation in Die Suche nach Gewißheit, dass er die präferierte Suche nach praktischer Sicherheit im Prozess des Handelns qua praktisch orientierter Intelligenz im Sinne der Auflösung von situationsspezifischen Problemen innerhalb eines Handlungskreislaufs – durch welchen Typus einer „art of control“ auch immer, ob durch eine Modifikation des tatsächlichen Geschehens oder durch eine intellektuelle Vorbereitung auf das erwartete Geschehen – jener Suche nach letztgültiger kognitiver Gewissheit opponiert, die ihre „escape from peril“ nicht in der menschlichen Praxis vollzieht, sondern dadurch, dass sie ein Reich unwandelbarer und unveränderlicher Gewissheiten, Werte und Erfahrungen postuliert. Offensichtlich existiert für Dewey also durchaus mehr als nur eine mögliche Form des menschlichen Umgangs mit Zufällen, Ungewissheiten und Unsicherheiten. Ja, es ist doch gerade der Gegensatz zwischen einer praktischen Suche nach Sicherheit und einer theoretischen Suche nach unwiderruflicher Gewissheit, welcher Deweys Argumentation in Die Suche nach Gewißheit derart nachhaltig prägt und strukturiert, dass die Schlussfolgerung zwingend wird, dass Dewey die Suche nach praktischer Sicherheit durch eine problemlösende Intelligenz entgegen mancher seiner eigenen Formulierungen gerade nicht als die einzige Art und Weise des menschlichen Umgangs mit Zufällen, Unsicherheiten und Ungewissheiten begreift, wohl aber für die 169

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Vergleiche diesbezüglich meine Ausführungen zu Thukydides’ Thematisierung von tyche als historiographische und historische Residualkategorie und zu Thukydides’ Tychebewältigungspraxis im zweiten Abschnitt dieses Kapitels, S. 104–108. Vergleiche zu der von Lübbe in die Diskussion eingeführten Unterscheidung von pragmatischen und nicht-pragmatischen Formen von Kontingenzbewältigungspraxis meine Ausführungen im letzten Kapitel dieser Arbeit, S. 683–685. Vergleiche hierzu meine Ausführungen zu Nussbaums The Fragility of Goodness, S. 127 f. in diesem Kapitel.

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angesichts seiner eigenen theoretischen Prämissen und Präferenzen einzig angemessene und für die den größten praktischen Erfolg versprechende Form der Bewältigung von Zufällen, Unsicherheiten und Ungewissheiten hält. Während Dewey die Problemlösungskapazitäten einer praktisch situierten und intelligent verfahrenden „art of control“ durch das experimentelle Verfahren der Naturwissenschaften und eine diesem Verfahren verpflichtete Intelligenz auf vorbildhafte Weise charakterisiert sieht, kritisiert er andererseits die philosophische Tradition – von der griechischen Metaphysik bis zu den erkenntnistheoretischen Ansätzen des Idealismus wie des sensualistischen Empirismus – gerade als Inbegriff einer praktisch folgenlosen Verdrängung oder Sublimation von Unsicherheit, Ungewissheit und Unberechenbarkeit im Namen der Suche nach einer apostrophierten philosophischen Gewissheit. Und dieser Kontrast bestimmt die gesamte argumentative Anlage von Die Suche nach Gewißheit. Der philosophiegeschichtliche Nachweis, dass die Suche nach letztgültiger theoretischer Gewissheit tatsächlich die abendländische Philosophiegeschichte seit ihren Anfängen bestimmt, die Frage zudem, welche Rolle und Funktion hierbei einzelnen philosophischen Schulen und Strömungen zukommt, welche Dualismen und Dichotomien das philosophische Streben nach Gewissheit dabei kreiert hat, wie diese Dualismen und Dichotomien wiederum aus der Sicht einer pragmatistischen Philosophie und Philosophiegeschichte zu dekonstruieren und zu kritisieren sind, all diese Aspekte und Fragestellungen bilden zwar nun das thematische Schwergewicht von Deweys Die Suche nach Gewißheit, auf sie an dieser Stelle nicht ausführlich einzugehen, dürfen wir uns freilich leisten.172 Denn uns ist es allein um das Verständnis von Deweys Typologie von Formen der Bewältigung von Zufall, Ungewissheit und Unsicherheit zu tun. Wir präsentierten diesbezüglich bislang die von Dewey favorisierte Suche nach praktischer Sicherheit in ihrer zweifachen Ausführung, erwähnten sodann dann gute Gründe dafür, dass Dewey die philosophische Suche nach letztgültiger kognitiver Gewissheit tatsächlich als eine weitere Möglichkeit des menschlichen Umgangs mit Zufall, Ungewissheit und Unsicherheit vorstellt, obschon er diese Variante auch philosophisch kritisiert und philosophiegeschichtlich dekonstruiert. Eine Frühform aber nun, gleichsam das erste Entwicklungsstadium dieser philosophischen Suche nach Gewissheit erblickt Dewey – und deswegen sprachen wir ja am Beginn unseres Exkurses über Die Suche nach Gewißheit als einer gleichsam zeitgenössischen Variante und zugleich Modifikation von Aristoteles’ Plädoyer für eine prudentielle Bewältigung von tyche davon, dass Dewey drei, eben nicht nur zwei Formen der menschlichen Bewältigung von Ungewissheit, Unsicherheit und Zufall unterscheidet – in der Religion, wobei Dewey jede Religion gleich welcher Art nicht anders begreifen kann denn als ein – in theoretischer Hinsicht – bestimmtes Streben nach religiöser Gewissheit und als eine – in praktischer Hinsicht – fatalistische Einfügung in ein vermeintlich Unvermeidliches. Insofern kontrastiert Dewey in Die Suche nach Gewißheit die präferierte, auf eine handlungsorientierte Intelligenz vertrauende „art of control“ und ihre beiden Subkategorien eben nicht nur einem gemäß seiner Sichtweise die Philosophiegeschichte dominierenden „quest for certainty“, sondern auch einem religiösen „quest for certainty“, der sich praktisch wiederum in einer 172

Ich habe in meiner in Anmerkung 164 auf S. 128 erwähnten Rezension Deweys philosophiegeschichtliche Argumentation in Die Suche nach Gewißheit systematisch dargestellt.

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„art of acceptance“173 realisiert finden soll. Für beide Möglichkeiten, auf Unsicherheit, Zufall und Ungewissheit in Form einer – wie es Dewey scheint – theoretischen Verdrängungsleistung und Flucht vor der Praxis, sei’s philosophischer, sei’s religiöser Natur, zu reagieren, hat Dewey freilich das selbe Maß an theoretischer Geringschätzung übrig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Die von der Philosophie betriebene „quest for certainty“ wird von Dewey in Die Suche nach Gewißheit als im Grunde mit dem experimentellen Verfahren der naturwissenschaftlichen Forschung konfligierend beschrieben und deshalb kritisiert. Anstatt nach einer letztgültigen Gewissheit in einer kognitiven Sphäre zu streben, die es gerade nicht geben kann, anstatt zu glauben, dass wir durch kognitive Gewissheiten „außerhalb der Welt des Zufalls und des Wandels und innerhalb der Welt des vollkommenen und unveränderlichen Seins“174 stehen, anstatt all dies zu tun, sollten wir, so lautet Deweys Plädoyer, nach Sicherheit auf der Ebene menschlicher Praxis streben, indem wir unsere „art of control“ zunehmend perfektionieren. Die religiöse „art of acceptance“ wird von Dewey wiederum im Zuge einer gleichsam ideologiekritisch verfahrenden175 Kritik schon jedes Gedankens an eine transzendente Sphäre gering geschätzt und ebenso wie die Philosophie als Flucht vor praktischen Herausforderungen und als illusionäre Hoffnung auf eine letztgültige Gewissheit diskreditiert. So existieren also für Dewey insgesamt drei Formen des menschlichen Umgangs mit Zufall, Unsicherheit und Ungewissheit: Entweder durch Religion einer unsicheren und ungewissen Situation fliehen, die „Seele von den vergänglichen Dingen ab- und dem vollkommenen Sein zuzuwenden“176 und sich so religiöse Gewissheit verschaffen oder sich durch philosophisches Streben nach Gewissheit eine theoretisch unangreifbare Position erarbeiten oder sich auf der Ebene menschlicher Praxis darum bemühen, das Problem eines unterbrochenen Handlungskreislaufs qua praktischer Intelligenz zu lösen, um so eine praktische Situation zu kontrollieren, diese Trias von Optionen hinsichtlich der menschlichen Bewältigung von Unsicherheit, Ungewissheit und Zufall rekonstruiert und bewertet Deweys Argumentation in Die Suche nach Gewißheit. Diesen Exkurs zu Deweys pragmatistischem Plädoyer für praktische Sicherheit abschließend, lässt sich die Trias der dem Menschen laut Dewey stets zur Verfügung stehenden Formen der praktischen Bewältigung oder vielmehr auch theoretischen Verdrängung von Unsicherheit, Ungewissheit und Zufall prägnant bilanzieren, indem wir noch einmal retrospektiv auf Deweys allererste Sätze in Die Suche nach Gewißheit genauer eingehen. Diese Anfangspassagen von Die Suche nach Gewißheit müssen näm173

174

175

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Das vierte Kapitel von Die Suche nach Gewißheit lautet im Original „The Art of Acceptance and the Art of Control“. John Dewey, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, a.a.O., S. 292. Vergleiche exemplarisch für Deweys gleichsam ideologiekritisch verfahrende Kritik der Religion die folgende Passage: „Wir sahen zu Beginn unserer Diskussion, dass Unsicherheit die Suche nach Gewissheit veranlasst. Aus jeder Erfahrung ergeben sich Konsequenzen, und diese sind die Quellen unseres Interesses an dem, was uns vorliegt. Das Fehlen aller Techniken der Naturbeherrschung lenkte die Suche nach Sicherheit in irrelevante Formen der Praxis, in Ritus und Kultus; das Denken kümmerte sich mehr um die Entdeckung von Omina als um Zeichen des Bevorstehenden.“ (ebd., S. 254) Ebd., S. 293.

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lich einem Leser, welcher der von Dewey im Verlauf des gesamten Buches entwickelten Argumentation zunächst unkundig ist, zwangsläufig unverständlich erscheinen, weil sie zwar einerseits die Suche nach praktischer Sicherheit als einzig angemessene Form des Umgangs mit Zufall, Ungewissheit und Unsicherheit, andererseits die eskapistische Flucht vor den ungewollten Widerfahrnissen des Lebens in den schützenden Schein der Religion durchaus thematisieren, nicht aber klarmachen, wie denn die Suche der abendländischen Philosophie nach kognitiver Gewissheit, deren philosophische und philosophiegeschichtliche Dekonstruktion doch sodann so sehr im Zentrum des gesamten Buches steht, in diesem Konflikt zu verorten wäre. Wenn wir aber nunmehr dank der geleisteten Rekonstruktion von Deweys The Quest for Certainty darum wissen, dass Dewey Religion und Philosophie, Streben nach religiöser Gewissheit im Verbund mit entsprechender „art of acceptance“ und philosophisches Streben nach theoretischer Gewissheit gleichermaßen nur als die beiden Varianten eines der Suche nach praktischer Sicherheit widerständigen Strebens nach Gewissheit gelten lassen kann und ferner Dewey die philosophische Tradition gleichsam als verspätete Rationalisierung der religiösen Flucht vor den Unwägbarkeiten des Schicksals betrachtet und zu dechiffrieren beabsichtigt, dann haben wir bereits in diesen allerersten Sätzen von Deweys Gifford Lectures jene theoretischen Bestandteile versammelt, aus denen sich Deweys Typologie von drei unterschiedlichen Typen des Umgangs mit Zufall, Unsicherheit und Ungewissheit ergibt: „Man who lives in a world of hazards is compelled to seek for security. He has sought to attain it in two ways. One of them began with an attempt to propitiate the powers which environ him and determine his destiny. It expressed itself in supplication, sacrifice, ceremonial rite and magical cult. In time these crude methods were largely displaced. The sacrifice of a contrite heart was esteemed more pleasing than that of bulls and oxen; the inner attitude of reverence and devotion more desirable than external ceremonies. If man could not conquer destiny he could willingly ally himself with it; putting his will, even in sore affliction, on the side of the powers which dispense fortune, he could escape defeat and might triumph in the midst of destruction. The other course is to invent arts and by their means turn the powers of nature to account; man constructs a fortress out of the very conditions and forces which threaten him. He builds shelters, weaves garments, makes flame his friend instead of his enemy, and grows into the complicated arts of associated living. This is the method of changing the world through action, as the other is the method of changing the self in emotion and idea.“177 177

Gerade diese Passage sollte im englischen Original zitiert werden. Ohnehin möchte ich anmerken, dass die deutsche Übersetzung von The Quest for Certainty sehr darunter leidet, dass sie die von Dewey im englischen Original terminologisch strikt getrennten und inhaltlich so scharf kontrastierten Begriffe von „security“, „safety“ und „assurance“ einerseits, von „certainty“ und „certitude“ andererseits, in der deutschen Übersetzung nicht ebenso permanent kontrastiert und eindeutig als „Sicherheit“ und „Gewissheit“ widergegeben werden, sondern in ihrer Begrifflichkeit permanent changieren. So verschwimmen aber die inhaltlichen Konturen der für Deweys gesamte Argumentation in Die Suche nach Gewißheit zentralen begrifflichen Dichotomie.

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(5) Mein Versuch der systematischen Rekonstruktion der aristotelischen Zufallstheorie entlang ihrer mannigfaltigen Begrifflichkeit im dritten Abschnitt dieses Kapitels und meine Darstellung von Aristoteles’ prudentieller Form von Tychebewältigungspraxis im vierten Abschnitt dieses Kapitels, die wiederum auf eine bestimmte Variante und Modifikation dieser prudentiellen Form von Tychebewältigungspraxis in der zeitgenössischen Philosophie verwies, die sich freilich im Unterschied zu Aristoteles’ Philosophie dem Gedanken eines partiell immer auch unverfügbaren Zufalls verschließt, diese beiden Argumentationsschritte der beiden vorangegangenen Abschnitte des Kapitels, die sich ihrerseits an die Darstellung des sowohl im engeren Sinne philosophiegeschichtlichen als auch im weiteren Sinne kultur- und geistesgeschichtlichen Kontexts der aristotelischen Zufallsphilosophie anschlossen (1, 2), sind damit an ein Ende gelangt. Auf dieser Grundlage will ich mich nun zunächst noch – bevor ich abschließend im siebten Abschnitt dieses Kapitels der gleichsam post-aristotelischen Auffassung der Tyche und dem historischen Schicksal des Begriffs tyche im Zeitalter des Hellenismus nachgehe – mit der Präzisierung und schließlich der theoretischen Rehabilitierung der aristotelischen Zufallstheorie auseinandersetzen: Präzisieren will ich die aristotelische Zufallstheorie, indem ich in diesem fünften Abschnitt des Kapitels auf jene Interpretation der aristotelischen Zufallstheorie, wie sie Rüdiger Bubner formuliert, zu sprechen komme, mich dabei aber gegen diese Interpretation ausspreche und die aristotelische Relation von Praxis und Zufall als weder unauflöslich noch als antipodisch beschreibe. Auf der Grundlage dieser Kritik einer zeitgenössischen Aristoteles-Interpretation und der schon im dritten Abschnitt des Kapitels geleisteten, systematischen Rekonstruktion der aristotelischen Zufallstheorie will ich sodann im sechsten Abschnitt das bislang nicht nur systematisch rekonstruierte und präzisierte, sondern nunmehr eben auch von theoretischen Missverständnissen bereinigte Verständnis der aristotelischen Zufallstheorie gegen die von Wilhelm Windelband in seiner Schrift Die Lehren vom Zufall geäußerten Zweifel an der philosophischen Seriosität jedes Zufallsbegriffs schlechthin verteidigen. Lässt sich, so wird die Frage dieses sechsten Abschnitts lauten, wenn man vom Zufall spricht, in der aristotelischen Weise über den Zufall sprechen, ja erweist sich die aristotelische Theorie des Zufalls justament als die theoretisch avancierteste und erweist sich ihre theoretische Stärke gerade in der Konfrontation mit der bis zum heutigen Tage raffiniertesten Kritik jeder philosophischen Thematisierung des Zufalls schlechthin? Doch zunächst zur Präzisierung der aristotelischen Zufallstheorie im Medium des Rekurses auf deren Deutung durch Bubner: In seinem Werk Geschichtsprozesse und Handlungsnormen unterzieht Bubner die aristotelische Zufallslehre – die „klassische Gestalt, in der der Zufall philosophisch auf den Begriff gebracht wurde“178 – einer ausführlichen Interpretation, freilich ausschließlich anhand des Begriffs tyche. Bubner glaubt dabei die Quintessenz des aristotelischen Zufallsverständnisses so widergeben zu können:

178

John Dewey, „The Quest for Certainty. A Study in the Relation of Knowledge and Action“ (1929), in: The Later Works 1925–1953, Volume 4: 1929, herausgegeben von Jo Ann Boydston, Carbondale 1984, S. 3. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, a.a.O., S. 35.

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„Was zufällig geschieht, fällt nicht als Faktum gleichsam vom Himmel. Dann ließe sich höchstens darüber sagen, dass es nicht notwendig gewesen sei. Die bloße Faktizität kann aber durchaus Gründe haben, so dass die Aussage der Nicht-Notwendigkeit zur Analyse des Zufalls nicht ausreicht. Zufällig erscheint etwas vielmehr dort, wo man an sich Zweckmäßigkeit erwartet. Das Zufällige überrascht, weil es wie absichtlich aussieht, ohne dass für sein Eintreten ein Zweck gefunden werden kann.“179 Bubner verweist also zunächst einmal und dies auch ganz und gar zurecht darauf, dass die Charakterisierung des Zufalls als nec necessarium allenfalls eine notwendige Minimalbedingung, nicht aber eine ausreichende Bedingung darstellt, um von einem Zufall rechtmäßig sprechen zu können. Ebendies hatten ja auch Aristoteles’ Versuche einer theoretischen Bestimmung und begrifflichen Definition des Zufalls, wie wir sahen, immer wieder betont. Darüber hinaus stelle der Zufall für Aristoteles, so deutet Bubner in dem obigen Zitat an, so etwas wie die Sabotage eines zweckorientierten Handelns dar, kann er sich, wie Bubner an einer anderen Stelle formuliert, allein und ausschließlich „parasitär“ zum zweckhaften Handeln ereignen. Zufall kann es immer nur dort geben, wo zweckhaft gehandelt wird, sich dann aber etwas Zufälliges ereignet, was den ursprünglichen Zweck dieses zweckhaften Handelns sabotiert, „ohne dass für sein Eintreten ein Zweck gefunden werden kann.“ Das Eintreten des Zufalls, so will Bubner diese zusätzliche Bedingung, um von Zufall theoretisch legitim sprechen zu können, verstanden wissen, „erfolgt nur begleitend zum jeweils konkreten Handeln, so dass die Als-obZweckmäßigkeit parasitär auf der eigentlichen Zwecksitzung aufsitzt. Ohne bestimmtes Handeln besäße der Zufall keine Chance. Ohne die Nötigung, im Handeln praktische Bestimmung als Wählen eines Worumwillen aus einer im Überlegen bereitgestellten Vielzahl anderer Möglichkeiten zu setzen, entfiele von vornherein der Ausschluss anderer Möglichkeiten. Wären keine Möglichkeiten ausgeschlossen oder ließen sich alle realisieren, dann unterläge das Handeln auch keinen Zufällen mehr.“180 Insofern der Zufall für Aristoteles so als gleichsam destruktiver Sonderfall eines zweckorientierten Handelns, weil als parasitäre Durchkreuzung eines ursprünglich eine Handlung in Gang setzenden Worumwillen zu verstehen sei, sieht sich Bubners Interpretation der aristotelischen Zufallstheorie schließlich auch zu der These einer für das aristotelische Verständnis des Zufalls vermeintlich konstitutiven, „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“181 bestätigt. Und aufgrund ebendieser Annahme einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ habe nun Aristoteles weiterhin, so folgert Bubner, den Begriff des Zufalls im Sinne von tyche auch „auf reale Prozesse in der Welt“ übertragen. „Was Aristoteles über die Tyche sagt“, so schreibt Bubner, „ist eigentümlich praktischen Vorgängen abgelesen und erfährt von dort eine Übertragung auf reale Pro179 180 181

Ebd., S. 36. Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 47.

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T – D  W  Z

zesse in der Welt.“182 Zur Charakterisierung dieser „Übertragung“ spricht Bubner auch von einer aristotelischen „Parallelbehandlung“ des „naturalen Zufalls“, im Rahmen dessen sich einfach nur etwas ereignet, und jener Art des Zufalls, die „jemandem passiert“, und zwar dezidiert auch im Hinblick auf die Termini tyche und automaton, welche diese „Parallelbehandlung“ „geradezu schulmäßig“183 erkennen ließen. An diese systematischen Bestandteile von Bubners Interpretation möchte ich nun zwei kritische Rückfragen richten, Fragen, deren grundsätzlicher theoretischer Impuls wohl bereits anlässlich meiner mehr oder weniger explizit formulierten Skepsis gegenüber John Deweys Verständnis von Ungewissheit und Zufällen als stets zu lösende Probleme von Handlungssituationen angeklungen sein dürfte.184 Erstens: Wird Bubners These von einer „Übertragung“ des praktischen Zufalls „auf reale Prozesse in der Welt“, seine These gar von einer „Parallelbehandlung“ von tyche und automaton, eigentlich der aristotelischen Auffassung des Zufalls, insbesondere ihrer Differenzierung der Begriffe von tyche und automaton, gerecht? Zweitens: Wie genau ist vor dem Hintergrund dieser aristotelischen Differenzierung von tyche und automaton Bubners These von einer die aristotelische Zufallstheorie prägenden, „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ einzuschätzen? Wird diese These der Auffassung des Aristoteles ohne weitere Erläuterung und Präzisierung gerecht? Oder müsste sie, soll sie zutreffen, genauer geklärt oder eingeschränkt, präzisiert oder relativiert werden? Zu der ersten Frage: Bubners Formulierung einer „Parallelbehandlung“ von tyche und automaton, seine Interpretation des aristotelischen Zufallsbegriffs als eines Begriffs, der sich ferner „auf reale Prozesse in der Welt“ übertragen ließe, wäre sicherlich insofern und in dem Maße zutreffend, wollte sie lediglich besagen, dass Aristoteles in seiner Diskussion von tyche und automaton in Physik B 4–6 auf strukturelle Ähnlichkeiten, insofern in der Tat auch auf theoretische „Parallelen“ dieser beiden Begriffe verweist. Aber das gesamte sechste Kapitel des zweiten Buches der Physik widmet sich eben dann, wie wir im dritten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich berichteten, den strukturellen Unterschieden dieser beiden Begriffe. Und die semantische Differenz von tyche und automaton spiegelt sich für Aristoteles, wie wir ebenfalls sahen, in zwei distinkten Typen des Zufalls mit ihren unverwechselbaren, genuinen und gerade nicht „übertragbaren“ Merkmalen wider. Die Erinnerung an Aristoteles’ explizite semantische und substanzielle Distinktion von tyche und automaton, aber auch an die durchaus heterogenen Beispiele für ein zufälliges Geschehen, wie sie sich anlässlich von Aristoteles’ Diskussion des Begriffs symbebekos in der Metaphysik erwähnt finden, sie lässt die Rede von einer „Parallelbehandlung“ oder einer möglichen „Übertragung“ eines für menschliches Handeln konstitutiven Zufallsverständnisses auf alle realen Prozesse in der Welt zumindest dann als fragwürdig erscheinen, würde diese Rede die von Aristoteles immer auch vermerkten Differenzen von tyche und automaton ignorieren. Genau dieses trifft aber nun für Bubners Rede von einer möglichen „Übertragung“ des der Praxis entsprungenen

182 183 184

Ebd., S. 35. Alle Zitate dieses Satzes auf ebd., S. 36. Vergleiche dazu meine in der Form von Fragesätzen angedeutete Kritik an Dewey auf S. 131 in diesem Kapitel.

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Zufalls auf den „naturalen“ Zufall und von einer „Parallelbehandlung“ von tyche und automaton zu. Nehmen wir zur Begründung dieses Vorwurfs das aristotelische Verständnis der Differenz von tyche und automaton noch einmal in den Blick: Aristoteles bemüht sich in der Physik um eine Differenzierung von tyche und automaton und zeigt auf, in welchem Falle gerade nur von tyche, nicht von automaton, und in welchem Falle nur von automaton, nicht aber von tyche gesprochen werden kann. Rekapitulieren wir das entscheidende Kriterium für diese Distinktion: Letzteres ist nur dann der Fall, von automaton ist also nur dann zu sprechen, wenn die „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas grundsätzlich niemals als Resultat einer „vorsätzlichen Absicht“ oder „planenden Vernunft“185 verstanden werden könnte. Der „automatisch“ vom Dach fallende Stein, der „automatisch“ aufkommende Sturm, dies sind Verkörperungen eines Zufalls, die sich von den Beispielen eines Geschehens durch tyche im Sinne des unverhofften Findens eines Schatzes oder des Treffens eines Schuldners auf dem Marktplatz durch ebendiese differentia specifica absondern lassen. Das Finden eines Schatzes, das Treffen des Schuldners, sie hätten, auch wenn sie es de facto nicht waren, ex hypothesi die vorsätzliche Absicht jenes Akteurs, dem dann etwas ganz anderes passierte, immerhin sein können. Hingegen lassen sich einem hinabrollenden Dachziegel oder einem aufkommenden Sturm „vorsätzliche Absicht“ und „planende Vernunft“ prinzipiell niemals sinnvoll zuschreiben. Natürlich kann der Stein auch willentlich oder vorsätzlich von einem bestimmten Akteur vom Dach geschmissen werden, um etwa jemanden zu erschlagen, wobei dann wiederum etwas ganz anderes eintreten mag, der Dachziegel etwa im Blumenbeet landet. Aber dann wäre nach Aristoteles gerade nicht von automaton, sondern von tyche zu sprechen. Indes, der Stein fiel vom Dach, der Sturm kam auf, ohne dass dies der Sturm oder der Stein vorsätzlich hätten beabsichtigen können, ohne dass „vorsätzliche Absicht“ und „planende Vernunft“ am Werk waren. Dann aber sollten wir Aristoteles zufolge vom Zufall im Sinne von automaton sprechen, weil für diesen Typus des Zufalls der Eindruck, das tatsächlich eingetretene Resultat sei Ergebnis einer vorsätzlichen Absicht oder Intention, nicht nur de facto nicht zutrifft, sondern prinzipiell niemals zutreffen kann, daher der gegenteilige Eindruck allenfalls als eine subjektive, tatsächlich aber unzutreffende Illusion und einzig in diesem Sinne als eine „Als-ob-Zweckmäßigkeit“ (Bubner) verstanden werden kann. Dass Bubner nun gerade die genau zu bezeichnende aristotelische Distinktion von tyche und automaton ignoriert, wenn er für beide Begriffe eine aristotelische „Parallelbehandlung“ unterstellt, erweist sich unter anderem an seiner Verwendung des Terminus der „Als-ob-Zweckmäßigkeit“. Denn den ursprünglich von Wolfgang Wieland in die Diskussion der aristotelischen Physik eingeführten Terminus der „Als-Ob-Teleologie“186 will Bubner in einer terminologisch offenkundig nur leicht variierten Version nicht nur für die Kennzeichnung eines der beiden von Aristoteles 185

186

Vergleiche zu diesen Formulierungen des Aristoteles oben die Anmerkungen 136, 143 und 144 auf S. 117 bzw. 119 in diesem Kapitel. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, a.a.O., S. 259.

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unterschiedenen Zufallstypen verwenden, sondern er glaubt von Zufall schlechthin im Sinne einer „Als-ob-Zweckmäßigkeit“ sprechen zu können. Aber gerade diese Redeweise ignoriert die Raffinessen der soeben noch einmal skizzierten aristotelischen Distinktion von tyche und automaton. Zwar mag es bezüglich eines als tyche zu beschreibenden Geschehens plausibel sein, von einer „Als-Ob-Teleologie“ oder einer „Als-ob-Zweckmäßigkeit“ zu sprechen, insofern das tatsächliche Geschehen erscheint, als ob es das Resultat einer handlungsleitenden Intention war, wenn es dieses auch de facto gerade nicht war. Bezüglich eines Geschehens im Sinne eines automaton, in welchem Falle die nebenbei eintretende Wirkung Resultat einer „vorsätzlichen Absicht“ und „planenden Vernunft“ nicht nur de facto nicht war, sondern auch prinzipiell niemals gewesen sein kann, kann die Rede von der „Als-ob-Zweckmäßigkeit“ oder „Als-Ob-Teleologie“ hingegen einzig und allein auf die perspektivische Illusion eines Betrachters referieren, welche dazu verführt, ein ganz und gar nicht vorsätzlichen Absichten folgendes Geschehen „wie absichtlich“187 aussehen zu lassen. Das als automaton zu kennzeichnende Geschehen selbst freilich folgt weder einer teleologischen noch einer als-ob-teleologischen Struktur, denn das als als-ob-zweckmäßig erscheinende Geschehen ist nicht nur de facto nicht als Resultat der ursprünglichen Intention, sondern prinzipiell niemals als Resultat einer vorsätzlichen Absicht zu beschreiben, erscheint vielmehr nur einer perspektivisch verzerrten Wahrnehmung so. Exemplarisch suggeriert aber doch zumindest Wielands Bemerkung, Aristoteles’ Diskussion des Zufalls verlasse „den Bereich der Teleologie gar nicht“188 , dass hier die aristotelische „Als-Ob-Teleologie“ im Falle des automaton nicht „nur“ im Sinne einer 187

188

Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, a.a.O., S. 36. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, a.a.O., S. 259. Zumindest dieses Zitat steht bei Wieland im Kontext einer Passage, die ebenso wie Bubners entsprechende Ausführungen Aristoteles’ explizite Differenzierung von tyche und automaton in Phys. B 6 übersieht, vielmehr die ja durchaus zu konzedierenden Ähnlichkeiten zwischen den beiden aristotelischen Typen des Zufalls in einer diese Differenzen gerade ignorierenden Weise beschreibt. Bezugnehmend auf diese beiden aristotelischen Begriffe schreibt Wieland: „Es handelt sich beim Zufall um eine scheinbare, eine Als-Ob-Teleologie; diese liegt dann vor, wenn ein Zweck erreicht wird, obwohl er nicht als solcher intendiert gewesen war. Dieser Zweck wird dann sozusagen beiläufig, d.h. bei Gelegenheit der Intention eines anderen Zweckes erreicht. Man verlässt also den Bereich der Teleologie gar nicht.“ (S. 259) Dieses Verständnis des Zufalls, welches sich auf Aristoteles berufen zu können glaubt, trifft doch aber nur auf tyche, nicht auf automaton zu. Im Falle des die Scheune verlassenden Pferdes wäre das Resultat – das Pferd verlässt zufällig die Scheune – zwar als die „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas zu beschreiben; aber diese „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas entspringt weder dieser noch jener Intention, vielmehr gar keiner „vorsätzlichen Absicht“, weil im Falle des automaton das schließliche Resultat des Geschehens nicht nur de facto nicht, sondern prinzipiell niemals einer vorsätzlichen Absicht und planenden Vernunft zugerechnet werden kann, sich vielmehr einer „Naturbeschaffenheit“ oder einer „Naturanlage“, wie die diesbezüglich relevanten aristotelischen Termini lauten, verdankt.

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perspektivischen Verzerrung und illusionären Wahrnehmung, sondern doch tatsächlich zur faktischen Charakterisierung eines Handelns verstanden werden soll, so eben, als ob es nicht von dieser, wohl aber von jener Zwecksetzung in Gang gesetzt worden wäre. Und auch Bubners Ausführungen zur vermeintlichen aristotelischen Bestimmung des Zufalls im Sinne einer „Als-ob-Zweckmäßigkeit“ scheinen mir die nur eingeschränkte Anwendbarkeit dieses Terminus zur Kennzeichnung des aristotelischen Zufalls zu verkennen. Dies wiederum ist wohl bei beiden Autoren das Resultat der mangelnden theoretischen Berücksichtigung der aristotelischen Distinktion von tyche und automaton, für welche Bubners Formeln von einer aristotelischen „Parallelbehandlung“ von tyche und automaton oder seine Rede von einer aristotelischen „Übertragung“ des praktischen Zufalls auf alle realen Prozesse in der Welt nur der sichtbarste Ausdruck sind. Bubners mangelnde Sensibilität für die Unterschiede und die jeweilige differentia specifica von tyche und automaton, seine Vermutung etwa, die von Aristoteles noch säuberlich unterschiedenen Typen des Zufalls könnten sich allesamt und zudem in identischer Weise im Sinne einer Als-ob-Zweckmäßigkeit beschreiben lassen, generiert nun aber auch Missverständnisse, wenn es um die Klärung der zweiten von uns an Bubners Interpretation gerichteten Rückfrage zu tun ist, um die Klärung seiner These, Aristoteles’ Zufallstheorie sei der theoretischen Prämisse einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ verpflichtet. Ist die Interpretation einer für die aristotelische Zufallstheorie konstitutiven, „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ eo ipso zutreffend oder bedarf sie, so wollen wir im Folgenden im Sinne der zweiten an Bubners Interpretation gerichteten Rückfrage überlegen, für ihre theoretische Rechtfertigung weiterer Bestimmungsgründe? Sezieren wir für die Klärung dieser Frage einmal genauer die folgende Passage aus Geschichtsprozesse und Handlungsnormen: „Die Beispiele, an denen Aristoteles seine Analyse des Zufalls erläutert, zeigen die vorwiegend praktische Dimension. Wer einen Baum eingräbt und einen Schatz findet, dem geschieht etwas, das er hätte wollen können, ohne dass er um dessentwillen gehandelt hat. Er hätte nämlich ebenso gut den Schatz suchen können, der ihm nun zufällig unter die Hände gerät. Wer vom Wind abgetrieben oder von Seeräubern gekapert in Ägina landet, dem widerfährt zufällig, was er auch zum Ziel einer Handlung hätte machen können. Ähnlich darf das Auftreten naturaler Zufälle, die dem ‚automatischen‘ Selbstlauf entstammen, in Analogie zur Praxis gedeutet werden [Hervorhebung von mir; P. V.]. Wenn ein Stein so vom Dach fällt, als ob er geworfen worden wäre, um jemanden zu treffen, oder wenn ein Stuhl so umkippt, dass er wie zum Sitzen platziert erscheint, stellt sich eine Als-ob-Zweckmäßigkeit ein. Von selbst geschieht etwas, woran kein Handeln beteiligt war, obwohl es die Ursache hätte sein können. Das berühmteste Beispiel des Aristoteles spricht von der Zufallsbegegnung mit einem Schuldner. Wer auf den Markt zu Geschäften geht und dort den Freund trifft, der Geld schuldet und auch bei Kasse ist, geht unerwartet reicher nach Hause. Wäre er regelmäßig zum Zweck der Schuldeintreibung auf den Markt gegangen und hätte den Schuldner einmal getroffen, oder wäre er diesmal gekommen, weil er von dessen Anwesenheit wusste, wäre kein Zu-

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T – D  W  Z fall im Spiel. Nur, dass die Schuldeintreibung gelingt, obwohl sie kein Zweck war, lässt uns den Zufall zur Verantwortung ziehen. Der Zufall betrifft also das unerwartete Auftreten eines Ereignisses, das an sich auch zweckmäßigem Handeln hätte entspringen können. Der Zufall macht ein Handeln zum Ereignis. Was geschieht, tritt ohne vollkommene Zuständigkeit des Handelns ein. Deshalb gehen im Zeichen des Zufalls die Ereignisse anders aus, als das Handeln für sich intendierte.“189

Diese Passage ist nun in ganz vielfacher Weise, vor allem hinsichtlich ihrer Vermengung strukturell durchaus nicht homologer Beispiele missverständlich und wird der fundamentalen theoretischen Distinktion und der begrifflichen Präzision der aristotelischen Zufallstheorie in mehreren Hinsichten nicht gerecht. Gehen wir dies im Einzelnen durch: Eine „vorwiegend“ oder besser: ausschließlich „praktische Dimension“ zeigen tatsächlich drei der in der zitierten Passage genannten Beispiele; der Fall eines Mannes, der einen Baum eingraben möchte, und dabei auf einen Schatz stößt, den ein anderer an dieser Stelle vergraben hat; der Fall eines Mannes, der zu einer Seereise aufbricht, und von Seeräubern nach Ägina verschleppt wird; und schließlich natürlich der Fall eines Mannes, der auf dem Markt seinen Freund sucht, dabei aber seinen Schuldner trifft; all diese Beispiele verweisen auf einen spezifischen Typus des Zufalls, insofern tatsächlich zwei Handlungen koinzidieren, nicht aber eine Handlung und eine handlungsunabhängige Begebenheit. Und genau in diesem Sinne, als eine fürderhin noch genauer zu definierende Koinzidenz von zwei Handlungen fanden diese drei Beispiele ja bereits in Metaphysik und Physik Erwähnung, dabei entweder aus der Teilnehmerperspektive oder aus der Beobachterperspektive beschrieben.190 In diesen Fällen lässt sich also in der Tat im Sinne Bubners uneingeschränkt und zutreffend von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ sprechen. Und für diesen Typus des Zufalls lässt sich in der Tat auch von einer „Als-ob-Zweckmäßigkeit“ im Sinne eines faktischen Merkmals des koinzidierenden Geschehens sprechen. Zwar war das Ergebnis dieser Koinzidenz zweier Handlungen de facto nicht beabsichtigt; nach Ägina zu gelangen, den Schuldner zu treffen oder einen Schatz zu finden, waren niemals die die Handlung in Gang setzende Intention; aber einen Schatz zu finden oder einen Schuldner zu treffen oder nach Ägina zu gelangen, dies alles könnte einem Handelnden ex hypothesi als Intention durchaus zugeschrieben werden. In den drei anderen, in der soeben zitierten Passage genannten Beispielen ist dies aber durchaus anders, handelt es sich offensichtlich um einen andersartigen Typus des Zufalls. Die Koinzidenz eines Seereisenden mit einem Sturm, die Koinzidenz eines Spaziergängers mit einem Dachziegel und schließlich der ohne sichtbare Fremdeinwirkung umfallende Stuhl, welcher das Sitzen verunmöglicht, in all diesen Fällen koinzidieren doch stets eine Handlung und eine handlungsunabhängige Begebenheit, und deshalb dürfen diese „naturalen Zufälle“ gerade nicht „in Analogie zur Praxis gedeutet werden“, wie Bubner in obigem Zitat ebenfalls unterstellt, lässt sich für diese drei Fälle vielmehr nur 189

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Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, a.a.O., S. 37. Vergleiche dazu insgesamt den dritten Abschnitt dieses Kapitels, S. 108–123.

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in einer eingeschränkten oder nur in einer ausreichend präzisierten Weise davon sprechen, Zufall und Praxis seien hier in unauflöslicher Weise miteinander verkettet. Denn Praxis ist hier immer nur ein Bestandteil der Relation des Zufalls, ein notwendiger zwar, aber kein ausreichender. Die Koinzidenz des Zufalls ergibt sich in all diesen drei zuletzt genannten Fällen also stets nur in einem partiellen Sinne aus menschlicher Praxis. Die Koinzidenz etwa einer geplanten Reise mit einem meteorologischen Zufall, dem aufkommenden Wind, und die Beachtung der differentia specifica einer derartigen Koinzidenz im Vergleich zur Koinzidenz zweier Handlungen wären insofern geeignet, Bubners These von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ entweder zu relativieren oder zumindest doch zu präzisieren. Es existiert offenkundig für Aristoteles ein Typus des Zufalls, der, obschon auch er aus einem bestimmten Blickwinkel als „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens wegen etwas verstanden werden kann, sich nicht als Koinzidenz zweier Handlungen und entsprechender Handlungsabsichten begreifen lässt, weshalb die These einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ in einem solchen Falle fragwürdig ist, insofern sie dann nämlich das für einen solchen Typus des Zufalls in konstitutiver Weise relevante Element einer handlungsunabhängigen Begebenheit ignoriert. Zu relativieren wäre Bubners These von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ und der praktischen Wurzel allen Zufalls also entweder dahingehend, dass diese These allein für den Zufall im Sinne von tyche, nicht aber für den Zufall im Sinne von automaton behauptet werden kann. Zu präzisieren wäre die These von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“, will sie nicht nur für tyche, sondern auch für den Zufall im Sinne von automaton, also für beide Arten des Zufalls, zutreffend sein, insofern, als dabei die handlungsunabhängige Komponente des automaton keinesfalls theoretisch ignoriert und zu Gunsten der handlungsabhängigen Komponente entwertet werden dürfte. Die These von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“, will sie auch die praktische Dimension eines Geschehens namens automaton betonen und behaupten, ist jedenfalls nur in jener präzisierten Weise aufrecht zu erhalten, welche die unhintergehbare Abhängigkeit eines solchen Typus des Zufalls von einer handlungsunabhängigen Begebenheit theoretisch sichtbar bleiben lässt. Die aristotelische Relation von Praxis und Zufall lässt sich mithin weder als gänzlich unauflöslich noch als antipodisch beschreiben. Zufall ist nicht das Gegenteil von Praxis, Praxis ist stets ein unhintergehbarer Bestandteil von Zufällen, aber für bestimmte Typen des Zufalls gilt, dass sie sich nicht gänzlich Praxis verdanken und nicht gänzlich in Praxis aufzulösen sind.191 191

Es sei an dieser Stelle auf ein zu Bubners These von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ geradezu konträres Verständnis des Zufalls verwiesen. Es wird von Manfred Sommer formuliert, wenn er im ersten Teil seines im Übrigen brillanten Aufsatzes „Mit dem Zufall leben. Überlegungen zu Kants Moralphilosophie“ und im Rahmen einer äußerst knappen, aber umfassende theoretische Fragestellungen eröffnenden und theoretische Perspektiven aufzeigenden „Phänomenologie der Kontingenz“ den Zufall als „Gegen-Instanz der Handlung“ beschreibt und anlässlich eines zufälligen Stolperns schreibt: „Denn, selbstverständlich, dieser Sturz war nicht Absicht, sondern das, wodurch eine Absicht vereitelt wird; er war nicht eine Handlung, sondern, anstelle einer Handlung, ein zufälliges Ereignis. Der Zufall und die Handlung sind Rivalen [Hervorhebung von mir; P.V.]. […] Zufall ist der Zufall aber dadurch, dass die Schalt-Stelle, von der aus zukünftige Zustände bestimmt werden, statt von einer Handlung von einem Ereignis besetzt

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(6) Fassen wir die wesentlichen Erträge unserer bisherigen, systematisch ambitionierten Rekonstruktion der aristotelischen Zufallstheorie im dritten sowie ihrer Präzisierung angesichts anders lautender Interpretationen im fünften Abschnitt dieses Kapitels zusammen und betrachten diese noch einmal vor dem Hintergrund der im ersten Kapitel dieser Arbeit formulierten Bemerkungen zur Genese der begriffsgeschichtlichen Distinktion der Begriffe von Kontingenz und Zufall: Im ersten Kapitel gelangten wir zu dem Ergebnis, dass sich die Geschichte des Begriffs „contingens“ seit seiner begriffsgeschichtlich genau zu datierenden Einführung und dann zumindest für lange Perioden der Begriffsgeschichte zumeist auf etwas Mögliches bezog und dass es jedenfalls im Sinne einer begriffsgeschichtlichen Präzisierung semantisch angeraten ist, den Begriff der Kontingenz in ebendiesem Sinne zu verwenden. Der Zufall hingegen, so sahen wir sowohl in jenem ersten Kapitel als auch in diesem zweiten Kapitel im Anschluss an unsere Beschäftigung mit der aristotelischen Zufallstheorie, bezeichnet stets und bezeichnete schon für Aristoteles etwas, was ist, aber eben auf eine spezifische Weise ist. Der Zufall bezieht sich somit niemals auf noch nicht Existierendes, gleichviel, ob es als möglich behauptet wird oder nicht. Der Begriff des Zufalls meint folglich anderes als der Begriff der Kontingenz, insofern und wenn dieser Begriff der Kontingenz eben im Sinne einer begriffsgeschichtlich fundierten Distinktion zur Bezeichnung eines noch nicht Seienden verwendet wird, Kontingenz also im Sinne eines Möglichen verstanden wird, auch wenn die so verstandene Kontingenz ihrerseits als ontologische Bedingung für die Möglichkeit des Zufalls aufgefasst werden kann. In diesem Sinne ließ sich bereits am Ende des ersten Kapitels und noch ohne jeden Rekurs auf die aristotelische Zufallstheorie der Begriff des Zufalls bereits ex negativo allein durch eine Präzisierung des Kontingenzbegriffs bestimmen, nämlich als das, was auf spezifische Weise ist. Die sich zunächst allein aus dergleichen begriffsgeschichtlichen Distinktionen und Präzisierungen ergebende Vermutung, dass der Zufall, will man überhaupt in intellektuell seriöser Weise von ihm sprechen, ein auf spezifische Weise zu charakterisierendes Wirkliches bezeichnet, findet darüber hinaus freilich starke Argumente in dem Nachweis, dass auch für denjenigen Denker, welcher dem Zufallsbegriff so systematisch ambitionierte und theoretisch scharfsinnige Begriffsanalysen wie kein anderer Autor in der Philosophiegeschichte hat angedeihen lassen, dass auch für Aristoteles der Zufall ist. Für Aristoteles gilt, dass tyche und automaton „wirklich etwas sind“192 , wie es in der Physik heißt. Mag der Zufall durchaus auch ein Attribut von Begriffen sein. Der Zufall kann dieses Attribut von Be-

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wird.“ Gegen Sommers These vom Zufall als gleichsam „Gegen-Instanz der Handlung“, die freilich auf Aristoteles’ Zufallstheorie weiter gar keinen Bezug nimmt, und Bubners These von einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ wäre aus meiner Sicht Aristoteles’ Differenzierung von zwei strukturell ähnlichen, aber eben auch deutlich zu unterscheidenden Typen des Zufalls zu rehabilitieren, die deren „Verkettung“ mit der Praxis weder absolut setzt noch ignoriert. Zufälle, zumindest bestimmte Typen des Zufalls, sind – anders als Bubner unterstellt – nicht gänzlich in Praxis aufzulösen oder nicht gänzlich als Resultat von Praxis zu verstehen, aber Praxis ist doch – anders als Sommers Definition des Zufalls als „Gegen-Instanz der Handlung“ suggeriert – immer und in unhintergehbarer Weise Bestandteil von Zufällen. Vergleiche hierzu Manfred Sommer, „Mit dem Zufall leben. Überlegungen zu Kants Moralphilosophie“, in: Neue Hefte für Philosophie 22 (1983), S. 97 bzw. 97 f. Vergleiche dazu Anmerkung 135 auf S. 117 dieses Kapitels.

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griffen doch nur sein, weil er auch und wesentlich ein Charakteristikum der Welt ist, in der wir leben und für die wir unsere Begriffe entwickeln. Die entscheidende theoretische Frage, die sich die aristotelische Zufallsphilosophie vorlegte, betraf nun freilich gar nicht die Existenz und insofern auch nicht den Nachweis der Existenz dieses solchermaßen als wirklich begriffenen Zufalls. Diese Existenz des Zufalls erschien Aristoteles unstrittig. Die entscheidende Frage, auf die seine Zufallsphilosophie vielmehr eine Antwort zu finden suchte, lautete: Was ist der Zufall, wenn er denn ist? Am Ende des ersten Kapitels dieser Arbeit und am Beginn des zweiten Kapitels dieser Arbeit empfahl sich, so sahen wir noch unabhängig von und vor aller Aristoteles-Exegese, eine Bestimmung des Zufalls als jene Form des Wirklichen – im Gegensatz zu allen wie auch immer lautenden Auffassungen des Möglichen –, welche nicht notwendig ist, eine Bestimmung des Zufalls als nec necessarium. Dass der Zufall „weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet“, wie wir in Aristoteles’ Metaphysik lesen konnten, dass das Zufällige nec necessarium ist, ist freilich, so ließ sich sodann von Aristoteles’ Analyse des Zufallsbegriffs sowohl in der Metaphysik wie in der Physik lernen, lediglich eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung dafür, um etwas, was nicht notwendig ist, als Zufall zu bezeichnen. Darüber hinaus ist der Zufall, dieses nec necessarium, für Aristoteles als eine bestimmte Relation zu verstehen, auch wenn sich dieser Zufall dabei durchaus sinnvoll aus der Teilnehmerperspektive nur eines Bestandteils dieser Relation beschreiben lässt. Es ist eine Relation oder Koinzidenz – entweder zweier Handlungen oder aber einer Handlung mit einer handlungsunabhängigen Begebenheit – nämlich Aristoteles zufolge genau dann als ein Zufall zu bezeichnen, wenn sich für ebendiese Relation oder Koinzidenz weder eine Ursache ermitteln noch eine Intention angeben lässt, auch wenn die einzelnen Bestandteile dieser Relation oder Koinzidenz durchaus ursächlich bedingt und intentional strukturiert sein mögen. Daraus ergibt sich, dass Aristoteles, spricht er von Zufall, niemals in dem Sinne einen absoluten Zufall meint, als er sich etwa nur auf ein isoliertes Ereignis oder Geschehen bezöge und dieses Ereignis oder Geschehen dann als zufällig im Sinne von ursachelos oder zwecklos charakterisieren zu können glaubte. Für Aristoteles ist der Zufall stets sowohl etwas Wirkliches als auch etwas Relationales, und daher ist für Aristoteles’ Zufallstheorie der Begriff einer absoluten, weil nur auf ein isoliertes Geschehen bezogenen Akausalität ebenso wenig plausibel wie der Begriff einer absoluten, weil nur auf ein isoliertes Geschehen bezogenen Dysteleologie, weshalb sich der Zufall in Aristoteles’ Sinne niemals auf die Zwecklosigkeit oder Ursachelosigkeit eines singulären Ereignisses bezieht.193 Curt Leo von Peter hat dieses gleichsam relationale Fundament von Aristo193

Zu korrigieren wäre insofern auch die Aristoteles-Interpretation von Charles Sanders Peirce. Wie Peirce in „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ schreibt, vertrat Aristoteles, der „Fürst unter den Philosophen“, in den Kapiteln 4, 5 und 6 des zweiten Buches der Physik die Ansicht, dass Ereignisse entweder erstens durch äußeren Zwang oder durch Wirkursachen, zweitens durch ihre innere Natur oder durch ihre Finalursachen oder drittens schließlich „unregelmäßig ohne bestimmte Ursache, sondern eben durch absoluten Zufall“ entstehen könnten. Aristoteles’ Begriff des Zufalls will jedoch entgegen dieser Äußerung von Peirce gerade nicht besagen, dass Ereignisse durch Zufall gleichsam verursacht werden können. An anderer Stelle in demselben Aufsatz behauptet Peirce in ungeklärtem Widerspruch zu der soeben zitierten Aristoteles-Deutung, sein eigener Begriff des Zufalls als Faktor in der Evolution, welcher das Zustandekommen von Re-

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teles’ Zufallsverständnis vortrefflich zusammengefasst: Für Aristoteles handelt es sich beim Zufall, so von Peter, „nicht um eine einzelne zufällige Tatsache, sondern um das Verhältnis zweier bestimmter Tatsachen zueinander; die beiden Ereignisse wurden nicht als zufällig an und für sich betrachtet, sondern nur in ihrer Relation zueinander. Bedenkt man nämlich, dass der Weltlauf keine einfache Kette von Ereignissen ist, in der sich ein Glied an das andere reiht, sondern dass er aus einem Conglomerat nebeneinander laufender, einander treffender oder kreuzender Fäden besteht, so begreift man ohne Mühe, dass natürlicherweise häufig zwei Tatsachen, von denen eine jede ursächlich bedingt ist, aufeinander treffen müssen, ohne dass sie offenbar in irgendwelchem notwendigen Zusammenhang miteinander stehen.“194 Freilich lässt sich nun selbstverständlich auch noch an die Adresse eines solchermaßen präzisierten wie gegen etwaige Missverständnisse immunisierten aristotelischen Zufallsbegriffs jene Frage richten, die für die aristotelische Zufallstheorie, wie soeben schon einmal angedeutet, offensichtlich nur von untergeordnetem Interesse war, die Frage nämlich, ob das, wovon da bei Aristoteles mit unüberbietbarer theoretischer Raffinesse und in höchster begrifflicher Präzision die Rede ist, überhaupt tatsächlich ist. Oder ist selbst ein mit Hilfe des gesamten begriffsanalytischen Instrumentariums der aristotelischen Zufallstheorie präzisierter Zufallsbegriff nicht mehr als eine theoretische Chimäre, subjektives Konstrukt oder Hirngespinst, in der Wirklichkeit aber gar nicht nachweisbar? Hätte sich mithin jede seriöse Philosophie einer solchen Begrifflichkeit, mithin jeder Semantik des Zufalls, gleichviel, ob es die aristotelische ist oder nicht, zu enthalten, vielmehr der von Hegel formulierten Maxime zu folgen, die Philosophie habe „keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen“195 ? Um diese Frage zu beantworten und damit die aristotelische Zufallstheorie nicht nur, wie in den letzten drei Abschnitten dieses Kapitels geschehen, zu präzisieren, hinsichtlich ihrer praktischen Konsequenzen zu befragen und vor theoretischen Missverständnissen in Schutz zu nehmen, sondern auch in systematischer Absicht ihre theoretische Legitimität zu prüfen, die gleichsam ontologische Möglichkeit ihrer Begründbarkeit mit

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gelmäßigkeit ebenso wie Unregelmäßigkeit zu erklären beansprucht, verleite und verpflichte nicht zu der unsinnigen Redeweise, wonach etwas durch Zufall entstanden sei. „Etwas dadurch erklären zu wollen, dass man einfach sagt, es sei durch Zufall entstanden, würde in der Tat nichtig sein.“ Zufall will Peirce vielmehr nun verstanden wissen als „Form einer Spontaneität, die bis zu einem gewissen Grad regelmäßig ist.“ Charles Sanders Peirce, „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ (1892), in: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, herausgegeben von Karl-Otto Apel, Frankfurt am Main 1991, S. 289 bzw. 308. Vergleiche zu Peirces evolutionärer Auffassung des Zufalls und seiner zufallssensiblen Kosmologie der Evolution, die in eine Dynamisierung und Naturalisierung schöpfungstheologischer Vorstellung mündet, den Abschnitt (2, b) des dritten Kapitels dieser Arbeit, S. 234–254. Curt Leo von Peter, Das Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie. Eine historischkritische Untersuchung, a.a.O., S. 53. Vergleiche hierzu Anmerkung 2 auf S. 68 zu Beginn dieses Kapitels.

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Aristoteles und anders als Aristoteles explizit zu verteidigen, gibt es meiner Ansicht nach kein besseres Verfahren, als sich mit dem schärfsten, ausführlichsten und, wie zu konzedieren ist, ungeheuer komplex argumentierenden Kritiker aller „Lehren vom Zufall“ auseinander zu setzen. Ich meine Wilhelm Windelband und dessen 1870 publizierte Schrift Die Lehren vom Zufall, mit welcher er bei Hermann Lotze promoviert wurde, eine Schrift, die sich zwar nicht ausdrücklich oder im besonderen der aristotelischen Zufallstheorie widmet, die es sich aber zur Aufgabe setzt, die existierenden „Lehren vom Zufall“ einer ausführlichen Kritik zu unterziehen und sie alle – bis auf eine einzige Ausnahme, wie wir sehen werden – als philosophisch unhaltbar zu entlarven. Windelbands prinzipielle Kritik des Zufallsbegriffs ist meines Erachtens in ihrer Fähigkeit zu systematischen Distinktionen und argumentativer Subtilität bis heute unerreicht, und diese Anerkennung wird nicht dadurch gemindert, dass ich, wie sich schließlich zeigen wird, die theoretischen Schlussfolgerungen des Autors ganz und gar nicht teile. Freilich darf der theoretische Widerspruch oder Protest gegen Windelbands Argumente nun seinerseits nicht im Umkehrschluss als ontologischer und gleichsam gottesbeweisanaloger Beweis der Existenz des Zufalls verstanden werden. Allenfalls wäre es uns erlaubt, ein Indiz für die aristotelische Position, wonach ebenjene Zufälle, von deren Existenz unser Sprachgebrauch doch immer schon Kunde geben zu können meint, „wirklich etwas sind“196 , in der Tatsache zu erblicken, dass Windelbands generelles Verdikt gegen jede philosophische Zufallsthematisierung an der aristotelischen Theorie und Semantik, welche den Zufall stets als ein auf spezifische Weise zu begreifendes, relationales Wirkliches begreift, theoretisch folgenlos abprallt. Doch folgen wir zunächst einmal Windelbands verästeltem Argumentationsgang: Windelbands Ausführungen zu Beginn von Die Lehren vom Zufall suggerieren anfänglich, mit der aristotelischen Zufallstheorie zwei theoretische Prämissen zu teilen: Er beginnt seine Diskussion des Zufalls zunächst mit der scheinbaren Akzeptanz jener aristotelischen Minimalbedingung des Zufalls, nämlich nec necessarium zu sein, also weder notwendig immer noch regelmäßig zu geschehen. Der Zufall sei, so Windelband, der „Schatten der Nothwendigkeit: je nach den Verhältnissen, in denen das Licht der verschiedenen philosophischen Lehren auf diesen Cardinalbegriff fällt, ändert auch jener Schatten seine Gestalt und Bedeutung.“197 Ferner scheint Windelband am Beginn seiner Ausführungen eine weitere entscheidende Prämisse von Aristoteles’ Zufallstheorie zu teilen, jene Ansicht nämlich, wonach der Begriff des der Notwendigkeit opponierten Zufalls – so wie dies Leibniz für den Begriff der Kontingenz, Kant für den Begriff des Zufälligen und Aristoteles eben für die Begriffe von tyche, automaton und symbebekos annahmen und unterstellten – auf ein wirkliches Seiendes, auf ein wirkliches Geschehen anzuwenden sei, eben auf jene „Art des Geschehens“198 , welche gerade nicht notwendig ist und so ist, wie sie ist, sodass sich, wie Windelband schreibt, der Begriff des Zufalls „als das durch keine Nothwendigkeit bedingte Wirklichwerden einer Möglichkeit definiren“199 lässt. Der Zufall meint also, so lässt sich Windelbands scheinbar zufallsaf196 197 198 199

Vergleiche hierzu Anmerkung 135 auf S. 117 in diesem Kapitel. Wilhelm Windelband, Die Lehren vom Zufall, a.a.O., S. 5. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4 f.

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firmativen Ausführungen am Beginn seiner Schrift entnehmen, notabene gerade keine Möglichkeit, sondern ist als ein auf eine bestimmte Weise zu definierendes Geschehen, als ein Wirkliches aufzufassen, für welches minimal zumindest zweierlei zu gelten hat: zu sein und nicht notwendig zu sein. Für eine philosophiegeschichtliche Bestätigung dieser Auffassung des Zufalls als eines auf spezifische Weise zu beschreibenden Wirklichen beruft sich Windelband freilich erstaunlicherweise nicht auf Aristoteles’ Auffassung des Zufalls, was doch nahegelegen hätte, sondern auf Leibniz’ Definition von Kontingenz als dem quod potest non esse200 , Leibniz freilich dabei wiederum gar nicht als diese Formulierung verwendend beim Namen nennend, sondern sich fälschlicherweise auf Trendelenburgs Logische Untersuchungen berufend.201 Aber wie dem auch sei: Der Zufall scheint für Windelband zu Beginn seiner Schrift offenkundig so zu definieren sein, wie Kontingenz – quod potest non esse – von Leibniz und tyche, automaton und symbebekos von Aristoteles bestimmt werden: nämlich als ein Wirkliches, genauer: als ein nicht notwendiges Wirkliches. Wäre dieser Eindruck zutreffend, dann stimmte mithin auch Windelband jener Kernthese der aristotelischen Zufallsthematisierung zu, wonach gilt: Der Zufall ist. Und insofern wäre der Zufall – dieser Ansicht zuzuneigen erweckt Windelband immerhin zu Beginn seiner Schrift den Eindruck, wenn es sich doch dabei auch lediglich, wie wir sogleich sehen werden, um ein argumentationsstrategisches Täuschungsmanöver im Dienste der effektvolleren Pointierung seiner eigentlichen These handelt –, insofern wäre der Zufall ein gleichsam ontologisches Charakteristikum der Welt, in der wir leben, eine „Art des Geschehens“, also mehr und anderes als ein subjektiver Perspektivbegriff. Indes, die Pointe von Windelbands Schrift besteht ja nun genau in der entgegengesetzen These, der These nämlich, dass es eben einen solchermaßen ontologisch konnotierten Zufall als das nicht notwendige Wirkliche nicht gibt. Die bislang lediglich in durchsichtiger argumentationsstrategischer Absicht vorgetäuschte Akzeptanz einer gleichsam tradierten Auffassung des Zufalls, die scheinbar zwei entscheidende Gemeinsamkeiten von Aristoteles’ und Windelbands eigener Auffassung des Zufalls suggeriert, markiert tatsächlich jene zufallstheoretische Position, von der sich Windelband gerade abzusetzen gedenkt. Denn dass es den Zufall gibt, gerade dies will Windelband bestreiten, und er fühlt sich zu dieser These insofern berechtigt, als er in seiner Schrift akribisch die unterschiedlichsten Zufallstheorien abhandelt, deren semantische und theoretische Plausibilität sodann stets bestreitet und so letztendlich nur jenes semantische Residuum des logisch oder begrifflich Zufällig-Akzidentiellen theoretisch anerkennt, den Begriff des Zufalls also nur als subjektiven Perspektivbegriff gelten lässt und damit nur in jener eingeschränkten Weise für legitim hält, welche zwar, wie wir sahen, der aristotelischen Metaphysik im Rahmen ihrer Diskussion von symbebekos durchaus auch vertraut ist, welche aber Aristoteles’ genuines zufallstheoretisches Interesse gerade nicht repräsentiert. Lassen sich aber nicht gerade der aristotelischen Zufallstheorie die denkbar überzeugendsten, wenn schon nicht Beweise, so doch immerhin Indizien dafür entnehmen, dass der Zufall stets mehr und anderes ist als logisch oder begrifflich Akzidentielles, nämlich ist? 200 201

Siehe dazu meine Bemerkungen im ersten Kapitel dieser Arbeit, S. 54 f. Vergleiche hierzu Wilhelm Windelband, Die Lehren vom Zufall, a.a.O., S. 4.

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Nun darf unsere bisherige, lediglich ex post vorgenommene Konfrontation von Windelbands Schrift Die Lehren vom Zufall mit Aristoteles’ Zufallstheorie, die Diskussion ihrer vermeintlichen Gemeinsamkeiten oder tatsächlichen Differenzen, keinen falschen Eindruck bezüglich der theoretischen Ziel- und argumentativen Stoßrichtung von Windelbands Arbeit erwecken: Windelband beabsichtigt alle ihm bekannten „Lehren vom Zufall“, nicht nur die aristotelische, zu widerlegen. Insofern lässt sich auch nicht behaupten, dass er die aristotelische Auffassung des Zufalls einer gesonderten Auseinandersetzung für würdig erachtet hätte. Er nimmt Aristoteles gerade nicht als jenen geistigen Kontrahenten wahr, an dem sich seine eigene Thesen und Argumente zuallererst und zu guter Letzt abzuarbeiten hätten. Insofern wendet sich Windelband eben immer wieder auch, wie wir im Folgenden sehen werden, gegen Varianten oder Typen einer Zufallstheorie, die Aristoteles’ Zufallsbegriff gar nicht berühren, sich daher auch niemals gegen dessen theoretische Substanz richten können: So widerspricht Windelband ausführlich einem Zufallsbegriff, der sich auf ein von allen menschlichen Handlungen gänzlich unabhängiges Naturgeschehen bezieht und dieses sodann als zwecklos beschreibt. Doch der Zufall bezog sich bei Aristoteles ja nie auf ein singuläres Faktum, und sei’s die Verfassung der Natur, sondern stets auf eine Relation, und diese Relation war eben immer auch, wenn auch nicht ausschließlich, durch ein Moment der Praxis geprägt, also nie als gänzlich handlungsunabhängig zu charakterisieren.202 Ob also alles oder zumindest manches in der Natur gemäß irgendwelchen Zwecken vonstattengeht, steht für Aristoteles’ Zufallstheorie überhaupt nicht zur theoretischen Disposition, auch wenn sich dem philosophischen Weltbild des Aristoteles insgesamt zweifellos eine bejahende Antwort auf diese Frage entnehmen ließe.203 Auch die Kritik an jener weiteren Variante des Zufallsbegriffs, mit welcher Windelband seine sukzessive Dekonstruktion der theoretischen Plausibilität aller Varianten des Zufallsbegriffs in Die Lehren vom Zufall im Grunde überhaupt erst einsetzen lässt, berührt den Gehalt von Aristoteles’ relationaler Zufallstheorie nicht und ist deshalb für eine Abwägung der theoretischen Plausibilität der aristotelischen Zufallstheorie kaum von theoretischer Tragweite. Eine Auffassung des Zufalls, die davon spricht, dieses oder jenes sei durch Zufall geschehen, dieses oder jenes habe der Zufall herbeigeführt, einerseits also die Ursachelosigkeit eines Ereignisses postuliert, andererseits den Zufall gleichsam a tergo als verursachende causa wieder ins Spiel bringt, eine solche Auffassung des Zufalls als eines in diesem Sinne absoluten Zufalls, wie Windelband an dieser Stelle formuliert, verstrickt sich laut Windelband in eine unauflösbare Aporie. Sie stellt das principium rationis sufficientis zugleich in Frage und ist doch auf es angewiesen: „Wenn das Wort ‚Zufall‘ irgend einer Thatsache gegenüber ausdrücken soll, dass zum Eintreten derselben die zureichenden Gründe nicht vorhanden waren und dass sie doch eingetreten ist ‚von ohngefähr‘, wie man zu sagen pflegt, so 202

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Vergleiche hierzu weiter oben in diesem Kapitel meine Auseinandersetzung mit Bubners These einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ und meinen Versuch einer Präzisierung und Relativierung dieser These, S. 141–143. Vergleiche diesbezüglich meine Bemerkungen auf S. 84–89 über das Verhältnis der aristotelischen Zufallsthematisierung zu der Kosmosfrömmigkeit des griechischen Denkens und den grundsätzlichen teleologischen Prämissen der aristotelischen Philosophie insgesamt.

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T – D  W  Z ist diese Vorstellung eine dem Grundgesetz alles Denkens widersprechende Ungereimtheit.“204

Hinsichtlich eines isolierten Ereignisses eine Ursachelosigkeit zu apostrophieren, eine derartige Vorstellung eines „absoluten“ Zufalls im Sinne einer absoluten Akausalität ist für Windelband zutiefst inkohärent. Alles Geschehen verweist auf einen zureichenden Grund, und wenn wir diesen Grund nicht kennen und deshalb die Rede vom Zufall einführen, so ist diese Präsumtion eines Zufalls allenfalls als ein „testimonium paupertatis“ zu werten, „das der Geist sich selbst ausstellt, indem er dadurch eingesteht, die bedingenden Ursachen einer Thatsache nicht zu kennen“205 , verweist aber nicht auf eine zufallsbedingte Einschränkung des Satzes vom zureichenden Grunde. Den Zufall in jenem absoluten Sinne, den Zufall im Sinne der Akausalität eines partikularen Geschehens begriffen, den Begriff des absoluten Zufalls also nicht in jenem Sinne aufgefasst, wie Peirce ihn verwendet, in jenem Sinne nämlich, dass zufällig ist, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts206 , einen Zufall in diesem Sinne, einen Zufall, der die Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde einschränkt, einen solchen Zufall kann es für Windelband niemals geben. Doch erneut vermag bereits eine nur kurze Besinnung auf die systematische Rekonstruktion der aristotelischen Zufallstheorie, wie wir sie im dritten Abschnitt dieses Kapitels vorgenommen haben, daran zu erinnern, dass Windelbands Kritik des absoluten Zufalls im Sinne der Ursachelosigkeit eines isolierten Geschehens zumindest Aristoteles’ Zufallstheorie überhaupt nicht trifft, insofern diese doch den Begriff des Zufalls niemals auf ein einzelnes Ereignis bezieht, sondern den Zufalls stets als eine Relation begreift. Weder als ursachelos noch als zwecklos werden dabei die einzelnen Relate beschrieben, freilich die Koinzidenz dieser Relate in ebendieser Weise.207 Die von Aristoteles stets konzedierte, ja ausdrücklich selbst vermerkte Tatsache, dass es den Zufall als Merkmal eines singulären und isolierten Geschehens, dass es den in diesem Sinne absoluten Zufall weder im Sinne von Akausalität noch im Sinne von Dysteleologie geben kann, vermag über den Windelbandschen Generalverdacht, dass es den Zufall schlechthin nicht gibt, gar keine theoretische Entscheidung zu fällen. Vielmehr regt sie zu einer eingehenden Prüfung der Frage an, ob und in welchem Sinne der Zufall im Sinne einer Relation existieren könnte. Wie verhält es sich nun laut Windelband mit jenem relationalen Zufall, mit jener Auffassung des Zufalls, die nicht allein eine Tatsache oder allein ein Geschehen oder allein ein Ereignis als zufällig bezeichnet, sondern mit Zufall in jedem Fall das Verhältnis mehrerer, mindestens zweier Ereignisse oder Begebenheiten meint, den Zufall also als einen relationalen Begriff auffasst und diese Beziehung sodann genauer definiert, beispielsweise weiterhin annimmt, dass der Begriff des Zufalls „eine Negation des Causalitätsprincips nicht für das Geschehen einer einzelnen Tatsache, sondern für das

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207

Wilhelm Windelband, Die Lehren vom Zufall, a.a.O., S. 6. Ebd., S. 21. Vergleiche dazu meine Diskussion von Peirces Verständnis von „absolute chance“ im dritten Kapitel dieser Arbeit, S. 251–254. Vergleiche dazu meine diesbezügliche Klärung im Anschluss an Franz Josef Wetz, Anmerkung 128, S. 112.

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Verhältnis zweier bestimmter Tatsachen“208 darstellt, Zufall also als relationale Akausalität begreift? Windelband spricht diesbezüglich von einem relativen Zufallsbegriff – im Gegensatz zu dem von ihm als absolut deklarierten, sich nur auf ein singuläres Geschehen beziehenden Zufallsbegriff – und begreift ihn als die „räumlich-zeitliche Coincidenz von Thatsachen, zwischen denen kein Verhältniß der Causalität Statt findet“209 , die aber auch nicht – wie etwa die Abfolge von Tag und Nacht – von einer gemeinschaftlichen Ursache abhängen dürfen. Dieser relative Begriff des Zufalls als relationale Akausalität löst im Unterschied zu dem soeben diskutierten Begriff des absoluten Zufalls im Windelbandschen Sinne die Unhintergehbarkeit des Kausalitätsprinzips nicht auf, denn jede der koinzidierenden Tatsachen ihrerseits gilt durchaus als zureichend bedingt, „und nur ihr Zusammentreffen macht die Zufälligkeit aus.“210 Dieser Zufallstheorie zufolge kann daher niemals ein einzelnes Ereignis für sich genommen als zufällig qualifiziert werden, sondern lediglich „für ein anderes, mit dem es zusammentrifft.“211 Es ist dieser Begriff des relativen Zufalls im Sinne relationaler Akausalität, der nun laut Windelband in unserem alltäglichen Sprachgebrauch üblicherweise den Zufall bezeichnet, insofern wir mit einem solchen Begriff all die unberechenbaren, unerwarteten und überraschenden Widerfahrnisse des alltäglichen Geschehens beschreiben. Hält Windelband nun einen solchen Sprachgebrauch und einen derartigen Begriff des Zufalls im Sinne einer relationalen Akausalität, welcher ja nun in der Tat im Unterschied zu den bislang erwähnten Varianten eines absoluten Zufallsbegriffs zumindest einen Aspekt der aristotelischen Zufallstheorie tatsächlich trifft, wenn er auch nicht vollständig das umfasst, was Aristoteles mit Zufall meint, für legitim? Der relative Zufall im Sinne relationaler Akausalität meint, so präzisiert Windelband zunächst noch einmal, niemals in einem absoluten Sinn das „Ursachlose“, sondern bezieht sich in einem relativen Sinn stets auf „das Gesetzlose“. Windelband freilich hält den Begriff des relativen Zufalls im Sinne einer kausalen „Gesetzlosigkeit“ für nicht weniger haltlos als den Begriff des absoluten Zufalls im Sinne einer auf ein singuläres Geschehen bezogenen Ursachelosigkeit. Von einem relativen Zufall im Sinne relationer Akausalität sei nur dann rechtmäßig zu sprechen, so Windelband, wenn die diese beiden Begebenheiten und Vorkommnisse jeweils bedingenden Ursachen in keiner Weise „in irgend einem Verhältniß der Notwendigkeit zu einander stehen“212 , weder also die eine noch die andere Tatsache notwendigerweise zu der jeweils anderen führen würde noch sich eine gemeinsame Ursache außerhalb von ihnen angeben ließe. In der Tat, genau so hatte es auch Aristoteles gesehen, als er das nec necessarium als Minimalbedingung des Zufallsbegriffs postuliert hatte. Im Gegensatz zu Aristoteles sieht Windelband dem so präzisierten, relativen Zufallsbegriff im Sinne relationaler Akausalität damit aber eine Beweispflicht aufgebürdet, welche nur in einen regressus ad infinitum münden kann. Ließe sich die Koinzidenz zweier Ereignisse nicht als Sequenz von Ursache und Wirkung nachweisen, dann dürften wir nämlich, so Windelband, niemals annehmen, dass es diese 208 209 210 211 212

Wilhelm Windelband, Die Lehren vom Zufall, a.a.O., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23. Ebd., S. 53.

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Sequenz nicht gibt. Vielmehr müssten wir die Existenz einer solchen Sequenz so lange unterstellen, bis wir das definitive Gegenteil beweisen könnten. Da wir aber niemals befähigt sein werden, dieses Beweisziel zu erreichen, lässt sich nun laut Windelband niemals vom Zufall im Sinne einer relationalen Ursachelosigkeit sprechen, sondern von einer relationen Ursachelosigkeit einzig und allein im Sinne jenes subjektiven Perspektivbegriffs, welcher sich einer auf Gesetzmäßigkeiten zielenden Wissenschaft bislang noch entzieht: „Damit ist klar, dass dieser relative Zufallsbegriff, auf die Verknüpftheit der Tatsachen bezogen, nur ein subjektives Phänomen ist, hervorgegangen aus der Beschränktheit unserer Erkenntnis, welche uns nicht gestattet, alle Ursachen eines Zusammentreffens zweier Thatsachen bis zu dem Puncte zu verfolgen, wo ihre nothwendige Verknüpftheit klar wird.“213 Insofern und weil alle Wissenschaft laut Windelband nach Gesetzmäßigkeit strebt und danach, die „nothwendige Verknüpftheit“ zweier koinzidierender Sachverhalte oder Begebenheiten zu erkennen, ist es nur folgerichtig, dass sie für ihre Zwecke den Begriff des relativen Zufalls im Sinne relationaler Akausalität als theoretischen „Erbfeind“214 auffassen und zu eliminieren trachten muss. Windelbands Strategie zur Widerlegung eines relationalen Zufallsbegriffs im Sinne relationaler Akausalität, der zumindest partiell, wenn auch nicht vollständig die aristotelische Zufallstheorie repräsentiert, besteht also weniger in einer inhaltlichen Widerlegung, als vielmehr in einer Umkehrung der Beweispflicht. Selbst wenn prima facie alles für die Existenz einer relationalen Ursachelosigkeit sprechen mag, muss doch, so argumentiert Windelband, nicht derjenige, der diese Existenz bezweifelt, nach einem Gegenbeweis suchen, sondern vielmehr muss derjenige, der diese Existenz einer relationalen Ursachelosigkeit annimmt und präsupponiert, alle faktischen oder hypothetischen Einwände gegen diese Annahme entkräften. Dabei aber verstrickt sich der dazu Genötigte laut Windelband in einen regressus ad infinitum. Und eben deshalb lässt sich für Windelband die Existenz des Zufalls im Sinne einer relationalen Ursachelosigkeit niemals belegen. Weder in einem relationalen noch in einem absoluten Sinne kann es den Zufall als Ursachelosigkeit für Windelband daher geben. Dass Windelbands Argumentation gegen die Existenz des Zufalls als einer relationalen „Gesetzlosigkeit“ letztlich einzig in einer Umkehrung der Beweispflicht besteht und gar nicht auf einem im eigentlichen Sinne inhaltlichen Argument beruht, ist als ein unverzeihliches Desiderat seiner Argumentation in Die Lehren vom Zufall zu bemängeln. Denn dieses Desiderat zeugt doch deutlich von den unbefragten Vorurteilen von Windelbands Kritik aller Zufallslehren, und jedenfalls lässt sich auf diesem Wege keine zwingende Widerlegung der Existenz eines Zufalls im Sinne relationaler Akausalität gewinnen. Wie aber verhält es sich mit dem Zufall als relationaler Zwecklosigkeit? Kann wenigstens die Auffassung des Zufalls als einer relationalen Zwecklosigkeit, wenn schon nicht die einer relationalen Ursachelosigkeit, vor dem Richterstuhl von Windelbands Dekonstruktion aller Zufallslehren bestehen? Mit dieser Fragestellung wendet sich Win213 214

Ebd., S. 53. Ebd., S. 28.

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delbands Diskussion der Lehren vom Zufall nun einem Zufallsbegriff zu, der die dem Zufall kontrastierte Notwendigkeit nicht im Sinne einer kausalen Bedingtheit, sondern im Sinne einer Zweckbedingtheit verstanden wissen will. Insofern der Zufall ja von Windelband zunächst als „Schatten der Nothwendigkeit“ eingeführt wurde, dessen Konturen sich mit dem Wandel der schattenwerfenden Lichtquellen ebenfalls ändern müssen, ist der Zufall im Sinne einer Zwecklosigkeit von den bisherigen Verdikten gegen den Zufall im Sinne einer Ursachelosigkeit, sei’s absoluter, sei’s relationaler Art, gar nicht betroffen: „Es ist daher sehr wohl möglich“, so schreibt Windelband nun, und erneut bleibt unklar, ob es sich bei dieser Aussage um eine Meinungsäußerung oder ein argumentationsstrategisches Manöver handelt, „es ist daher sehr wohl möglich, ein Geschehen in Rücksicht auf den Zweck zufällig zu nennen, während man ihm jegliche causale Zufälligkeit abspricht.“215 Jedenfalls gilt dies so lange, als diese Privation der Zweckbedingtheit als Relation verstanden wird, nicht als Merkmal nur eines Bestandteils einer Relation, denn für ein solchermaßen isoliertes Relat hatte Windelband doch – wie wir sahen – nicht anders als Aristoteles die Möglichkeit, einen Zufall, und sei’s auch im Sinne von Zwecklosigkeit, zu postulieren, immer schon bestritten. Der Zufall als das relationale Zwecklose kann sich Windelband zufolge eo ipso auf zwei Gebiete erstrecken: Die Behauptung der Zufälligkeit im Sinne von relationaler Zweckfreiheit kann sich einerseits auf menschliche Handlungen beziehen, für die behauptet wird, dass sie nicht durch einen Zweck bedingt sind, und andererseits auf das von den willentlichen Handlungen des Menschen unabhängige Geschehen. Nun sahen wir insbesondere in unserer geistes- und kulturgeschichtlichen Kontextualisierung der aristotelischen Zufallstheorie, die ihrerseits von Aristoteles’ philosophiegeschichtlichen Andeutungen zu Beginn seiner Diskussion des Zufalls in Physik B 4 ihren Ausgang nahm, dass Aristoteles’ Diskussion des Zufalls sich einerseits, was die Philosophie betrifft, explizit vor allem gegen eine deterministische Leugnung und implizit gegen eine theologische Funktionalisierung und metaphysische Harmonisierung des Zufalls wendet, sich andererseits, was die seinerzeit verbreitete, kulturelle und religiöse Konjunktur der Göttin Tyche angeht, sich vor allem gegen eine kosmologische Nobilitierung und irrationale Mythisierung dieser Tyche wendet. Aristoteles war es also gerade nicht um eine kosmologische Zufallstheorie zu tun, vielmehr war er von einem unhintergehbaren praktischen Moment des Zufalls ausgegangen, auch wenn dies – wie wir im fünften Abschnitt dieses Kapitels gegen Bubners Aristoteles-Interpretation geltend gemacht hatten – wiederum nicht oder jedenfalls nur in einem hinreichend präzisierten Sinne so verstanden werden darf, als ob Aristoteles einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“ (Bubner) das Wort redet. Ferner sahen wir, dass Aristoteles’ Zufallstheorie stets die Relation des Zufalls im Sinne hat. Weder für ein singuläres noch für ein gänzlich handlungsunabhängiges Geschehen, und sei’s dass dieses als relationale Zwecklosigkeit zu beschreiben wäre, entwickelte Aristoteles’ Zufallstheorie daher jemals ein ernsthaftes Interesse. Unabhängig von Aristoteles’ theoretischer Absage an eine gänzlich handlungsunabhängige Relation der Zwecklosigkeit glaubt nun auch Windelband im Ergebnis ganz ähnlich, wenn auch aus anderen Gründen, alles natürliche Geschehen zwar nicht als Re215

Ebd., S. 55 f.

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sultat einer „unmittelbar wirkenden Zweckursache“216 verstehen zu können, eine Auffassung, die angesichts einer für Windelband eben unbestreitbaren kausalen Notwendigkeit aller Vorgänge in dieser Welt niemals zu halten wäre, wohl aber den „Mechanismus des Weltlaufs in seiner Gesammtheit als die Realisirung eines unendlich werthvollen Zweckgedankens ansehen“217 zu können, was wiederum zur Folge hat, dass er eine relationale Dysteleologie im Bereich eines gänzlich handlungsunabhängigen Weltlaufs und Naturgeschehens niemals zugestehen kann. Während sich also Windelbands Zufallskritik darin, wie wir oben sahen, von der aristotelischen Zufallsaffirmation unterscheidet, dass sie den Begriff einer relationalen Akausalität durch eine Umkehrung der Beweispflicht abwehren zu können glaubt, eine Überzeugung, die mehr von Windelbands eigenen präreflexiven Präferenzen zeugt, als dass sie ein überzeugendes Argument gegen die Existenz eines solchen Zufalls im Sinne relationaler Akausalität darstellt, sind sich Windelband und Aristoteles, der prominenteste Kritiker aller Lehren vom Zufall und der Protagonist der theoretisch raffiniertesten Lehre vom Zufall bis zum heutigen Tage, darin einig – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen –, dass sich bezogen auf ein eine gänzlich handlungsunabhängige Relation zweier Geschehnisse in theoretisch überzeugender Weise nicht von einem dysteleologischen Zufall sprechen lässt. Wie steht es aber nun um den Zufall im Sinne einer handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit? Im Bereich der menschlichen Handlungen, schreibt Windelband, „wird das Zufällige als dasjenige aufgefasst, was entweder gegen oder ohne die menschliche Absicht in dem Bereich der zweckmäßigen Handlungen vor sich geht: es ist das Zweckwidrige oder das Unbezweckte, das Absichtslose.“218 Dabei kann es sich Windelband zufolge entweder um von der eigenen Handlung unabhängige Hemmnisse handeln, die von außen unserem Handeln entgegentreten. Oder unsere Handlungen erzeugen Wirkungen, die nicht intendiert oder geplant waren: „Wie nämlich in das Reich menschlicher Handlungen einerseits Wirkungen hineinreichen können, die durch keinerlei menschliche Zwecktätigkeit hervorgebracht sind, und wie andererseits aus einer menschlichen Handlung Wirkungen hervorgehen können, die in der diese Handlung bedingenden Zweckthätigkeit nicht vorhergesehen werden konnten oder wenigstens nicht vorhergesehen wurden, und auf die sich daher der Zweckgedanke nicht bezog, das leuchtet von selbst ein: denn das menschliche Handeln ist ein stetes Wechselwirken mit dem von der menschlichen Zweckthätigkeit unabhängigen Verlauf der Ereignisse.“219 Diese beiden Formen des Zufalls im Sinne einer handlungsabhängigen relationalen Zwecklosigkeit, wie sie Windelband hier vorstellt, lassen sich nun freilich aus der Perspektive der aristotelischen Zufallstheorie weniger als zwei distinkte Typen des Zufalls, als vielmehr als die aus der Teilnehmerperspektive wie aus der Beobachterperspektive gewonnenen Beschreibungen ein und desselben Zufalls, eben des Zufalls im Sinne einer 216 217 218 219

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

64. 61. 57. 57.

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handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit, charakterisieren. So können wir den Zufall im Sinne einer handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit, bei der eine bestimmte Handlung auf ein bestimmtes Hemmnis – sei’s eine andere Handlung, sei’s eine handlungsunabhängige Begebenheit – stößt, welches dem Vollzug dieser Handlung „einen Strich durch die Rechnung“ (Heidel) macht, aus einer Beobachterperspektive als Koinzidenz entweder einer Handlung mit einer weiteren Handlung oder einer Handlung mit einer handlungsunabhängigen Begebenheit beschreiben, wobei diese Koinzidenz eben nicht als Resultat eines Zweckes zu verstehen ist. Oder wir beschreiben dasselbe Geschehen eben aus einer Teilnehmerperspektive: Dann handelt es sich offensichtlich um das, was Wilhelm Wundt die „Heterogonie der Zwecke“ nannte und Aristoteles in seiner Physik aus der Teilnehmerperspektive als „nebenbei eintretende Wirkung“ eines Geschehens diskutierte und bezeichnete, welche sich komplementär stets, wie es Aristoteles in der Metaphysik ja auch tut, aus einer neutralen Beobachterperspektive beschrieben ließen. Insofern nun Windelband den Begriff des Zufalls in diesem Sinne einer handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit – sei diese aus der Teilnehmerperspektive als eine unbezweckte Nebenfolge des menschlichen Handelns, gleichsam als „Heterogonie der Zwecke“, beschrieben, sei diese aus der Beobachterperspektive entweder im Sinne des unbezweckten Aufeinandertreffens einer Handlung und einer handlungsunabhängigen Begebenheit oder im Sinne des Aufeinandertreffens zweier Handlungen beschrieben –, insofern nun Windelband diesen Begriff des Zufalls im Sinne einer handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit in seinen weiteren Ausführungen in Die Lehren vom Zufall gar nicht weiter validiert, hat es, insofern doch diese Unterlassung eines expliziten Urteils seiner bisherigen Vorgehensweise methodisch so deutlich widerspricht, fast den Anschein, als billige er in Die Lehren vom Zufall zumindest doch den Zufall im Sinne einer handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit oder Dysteleologie. Aber diese Vermutung bleibt – dies sei ausdrücklich konzediert – spekulativ. Zumindest aber sollte betont werden, dass Windelband zunächst in Die Lehren vom Zufall keine eindeutige und explizite Ablehnung des Begriffs des handlungsabhängigen relationalen Zufalls im Sinne von Zwecklosigkeit mit derselben Eindeutigkeit formuliert, wie er dies für die Begriffe des absoluten Zufalls im Sinne des partikularen Ursachelosen oder partikularen Zwecklosen oder für den Begriff einer gänzlich handlungsunabhängigen Relation der Zwecklosigkeit, die freilich Aristoteles’ Zufallstheorie gar nicht treffen, oder für den Aristoteles’ Zufallstheorie durchaus treffenden Begriff der relationalen Akausalität – weniger freilich, wie wir sahen, aufgrund einer inhaltlichen Argumentation als durch eine Umkehrung der Beweispflicht – tut. Der Begriff des Zufalls könnte somit, so will es zunächst scheinen, im Anschluss an Aristoteles und mit dem Placet von Windelband als handlungsabhängige Relation der Zwecklosigkeit bestimmt und dabei aus der Teilnehmerperspektive als unbezweckte Nebenfolge einer Handlung und aus der Beobachterperspektive als unerwartete Koinzindenz einer Handlung mit einem bestimmten Handlungshemmnis beschrieben werden. Insofern so Windelband zumindest einer Komponente von Aristoteles’ Zufallstheorie gegenüber durchaus aufgeschlossen zu sein scheint, nämlich ihrer Beschreibung des Zufalls als handlungsabhängige Relation von Zwecklosigkeit, mag sich ebendiese Annäherung von Windelbands und Aristoteles’ jeweiligen Argumentationen doch immerhin als ein Indiz dafür werten lassen, dass wir

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den Zufall zumindest und genau in diesem Sinne einer handlungsabhängigen Relation von Zwecklosigkeit als wirklich seiend verstehen dürfen, wiewohl sich auf derartigen Indizien niemals eine gottesbeweisanaloge Argumentation für die Existenz des Zufalls errichten ließe. Indes und wie eigentlich nicht anders zu erwarten: die Neutralität von Windelbands Diskussion des Zufalls im Sinne einer handlungsabhängigen und relationalen Zwecklosigkeit ist nur eine trügerische. Denn gegen Ende seiner Schrift Die Lehren vom Zufall gelangt Windelband doch relativ abrupt und jedenfalls in deutlichem Kontrast zu der argumentativen Subtilität seiner bisherigen Versuche der Widerlegung der Existenz des Zufalls und auch in ungeklärtem Widerspruch zu der erwähnten Neutralität gegenüber der Existenz eines Zufalls als handlungsabhängige relationale Zwecklosigkeit zu dem apodiktischen Urteil, dass der Zufall – wie auch immer definiert und präzisiert – niemals als „Realprincip“ unserer Wirklichkeit betrachtet werden kann, der Zufall also – wie auch immer er verstanden wird – niemals ist, sondern immer nur und allenfalls die subjektive Perspektive der Betrachtung oder Wahrnehmung eines stets zufallslosen Wirklichen benennt. Was auch immer der Zufall sein mag, die Überzeugung, dass der Zufall das, was er ist, nur für unsere subjektive Wahrnehmung ist, der Zufall also im Grunde niemals ist und daher also auch keine handlungsabhängige Relation der Zwecklosigkeit im Sinne des zuletzt besprochenen Zufallsverständnisses sein kann, diese Überzeugung scheint Windelband gegen Ende seiner Schrift gänzlich unbestreitbar zu sein. Wir mögen etwas mehr oder weniger rechtmäßig als zufällig bezeichnen, betrachten, bewerten, gleichwohl sei doch niemals daran zu zweifeln, so Windelband abschließend, dass der Zufall kein Charakteristikum unserer Wirklichkeit ist: „Wo er [der Zufall; P. V.] dagegen in ein metaphysisches Realprincip übergehen sollte, erwies es sich als ein subjectives Phänomen, als ein Mangel der Erkenntnis, welche die Gesammtheit des Geschehens nicht zu überblicken vermag. Somit ist der Zufall in allen Fällen ein Princip unserer Betrachtung, nicht ein Princip des Geschehens: er ist eine Anschauungsweise des Einzelnen, sofern es in irgend einer Weise vom Allgemeinen getrennt wird, und enthüllt sich immer als eine Täuschung, wo er auf dies Allgemeine selbst als Realprincip angewendet werden soll.“220 Damit nimmt Windelband letztendlich und endgültig im Zuge seiner gesamten Argumentation jene anfängliche, doch, wie wir nun abschließend feststellen müssen, tatsächlich nur scheinbare Akzeptanz einer der zentralen Prämissen von Aristoteles’ Zufallstheorie zurück, mit der er, wenn auch nicht unter expliziter Bezugnahme auf Aristoteles, seine Schrift gerade eröffnet hatte. Der Zufall ist nicht, so konstatiert Windelband nun entgegen seiner anfänglich und offensichtlich nur kontrafaktisch und aus Gründen seiner Argumentationsdramaturgie eingeführten These, der Zufall beschreibe stets eine bestimmte „Art des Geschehens“ und ein „Wirklichwerden der Möglichkeit“, also ein auf spezifische Weise zu charakterisierendes „Realprincip“, und auch entgegen der scheinbaren Neutralität seiner Diskussion des Zufalls als einer handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit. Unabhängig von all ihren 220

Ebd., S. 68 f.

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luziden begrifflichen Distinktionen und semantischen Bemühungen, ihrer zwischen absolutem und relationalem, kausalem und teleologischem, handlungsabhängigem und handlungsunabhängigem Zufall differenzierenden Rede, gelangt Windelband in seiner Studie zu dem philosophiehistorisch vergleichsweise konventionellen Ergebnis, den Zufall als „Realprincip“ kategorisch abzulehnen.221 Dieses im Ganzen und letztlich eindeutige Verdikt Windelbands bezüglich der Existenz des Zufalls, sei’s im absolut-kausalen, sei’s im absolut-teleologischen Sinne, sei’s im Sinne relationaler Akausalität oder auch im Sinne einer relationalen Dysteleologie, stimuliert Windelband am Ende seiner Schrift dazu, der Frage nachzugehen, „ob nicht vielleicht das Zufällige als ein Moment nur der Begriffsbildung sich seine eigenen Grenzen zieht.“222 Das Zufällige gerät Windelband so nunmehr als dasjenige in den Blick, welches für die begriffliche Bestimmung einer Sache oder eines Wesens per definitionem gerade nicht wesentlich, sondern eben zufällig im Sinne von akzidentiell ist, also gewissermaßen als das logisch oder begrifflich Zufällige: „So stellt sich neben das causal Zufällige und das teleologische Zufällige ein dritter Begriff: das logisch Zufällige.“223 Das logisch Zufällige erscheint freilich nur im Hinblick auf einen postulierten Allgemeinbegriff als das Unwesentliche und Zufällige: „Z. B. der Fall eines Steins, der einen Menschen trifft, wird nicht als dieser Fall dieses Steins betrachtet, wenn man sagt, er habe den Menschen zufällig getroffen, sondern vielmehr als Fall eines Steines überhaupt, und in diesem Begriff lag es allerdings nicht, dass er den Menschen treffen musste.“224 Insofern rehabilitiert Windelband nun das aristotelische symbebekos in jenem Sinne des begrifflich oder logisch Akzidentiellen, welchen Aristoteles in seiner Diskussion des symbebekos in der Metaphysik zwar durchaus erwähnt, aber gerade doch, wie wir sahen, niemals als einzigen Aspekt oder gar als den theoretischen Kern des Zufallsbegriffs auffasst, insofern und weil doch, wie Aristoteles in seiner Physik schreibt, tyche und automaton „wirklich etwas sind“, der Zufallsbegriff sich also gerade nicht nur auf diese begriffliche und logische Ebene beschränken lässt. Für Windelband hingegen bezeichnet dieser aristotelische Residualbegriff des Zufälligen als der in Hinsicht auf einen bestimmten Allgemeinbegriff besonderen oder akzidentiellen Merkmale ebendieses Begriffs das einzig philosophisch legitime Verständnis des Zufallsbegriffs.225 Der Zufall muss und kann demnach für Windelband ausschließlich als das Postulat einer Denkope221

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Vergleiche dazu bereits die Verweise auf Hegel, Schopenhauer und Mauthner am Beginn dieses Kapitels, S. 67 f. Wilhelm Windelband, Die Lehren vom Zufall, a.a.O., S. 70. Ebd., S. 70. Ebd., S. 72. Dies betont zurecht Bubner, wenn er auch vielleicht zu sehr verkennt, dass Windelbands Ausführungen zumindest dem Begriff des Zufalls im Sinne einer handlungsabhängigen Relation der Zwecklosigkeit gegenüber eine gewisse Sympathie erkennen lassen. Vergleiche hierzu Rüdiger Bubner, „Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 6: „W. Windelband hat in seiner klugen Dissertation Die Lehren vom Zufall, Berlin 1870, die kausalanalytische und teleologische Betrachtung des Zufalls als ergebnislos abge-

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ration aufgefasst werden, die das Allgemeine vom Besonderen, begriffliche Essenz von begrifflicher Akzidenz, scheidet und sodann das begrifflich Unwesentliche als das Zufällige definiert, niemals aber ein „Realprincip“ des Zufalls konzediert. Und eben eine solche Auffassung verwahrt sich strikt dagegen, den Zufall durch eine semantisch ungerechtfertigte Übertragung in das Reich des Kausalen oder Zweckmäßigen als etwas Wirkliches, sei’s Ursacheloses, sei’s Zweckloses, aufzufassen: „Deshalb hat die Zufälligkeit keinen realen und keinen metaphysischen Werth: nur indem wir in unserm Proceß der Begriffsbildung das gemeinschaftliche Merkmal einer Gruppe von Erscheinungen als ihren allgemeinen Gattungsbegriff zusammenfassen, erscheinen diesem Gattungsbegriff gegenüber die besonderen Merkmale jedes einzelnen Begriffs, obwohl sie dessen nothwendige Bestandtheile bilden, als zufällig. Die Zufälligkeit existirt daher erst in der Abstraction“226 . An einer anderen Stelle heißt es bei Windelband in ebendiesem Sinne: „Überall, wo durch das menschliche Denken das Allgemeine und das Besondre aus einander gerissen werden, entsteht das Phänomen der Zufälligkeit“227 . Weiterhin gesteht Windelband am Ende von Die Lehren vom Zufall zwar ein, dass alle Wissenschaft und Ethik und seiner Ansicht nach auch die Kunst zwangsläufig nicht anders können, als diese Scheidung des Allgemeinen und des Besonderen immer wieder aufs Neue zu betreiben, die begriffliche Zufälligkeit insofern unhintergehbares Merkmal aller geistigen, moralischen und ästhetischen Begriffsbildung ist. Zugleich aber erstrebten Wissenschaft, Ethik und Kunst immer auch eine Vereinigung des Allgemeinen und des Besonderen, und insofern glaubt sich Windelband eben auch zu der Behauptung berechtigt, „dass alles wissenschaftliche, alles moralische, alles künstlerische Leben ein unermüdlicher und wenigsten an einzelnen Puncten stets siegreicher Kampf gegen die Zufälligkeit ist.“228 Selbst an jenem argumentationsstrategischen Orte also, an welchem Windelband dem Begriff des Zufalls eine rechtmäßige theoretische Heimstatt zubilligt, kann er nicht anders denn alles wissenschaftliche und philosophische Denken sowie bemerkenswerterweise auch alle Kunst, als ein Streben danach zu betrachten, den offensichtlich konzedierten Zufall im Sinne des logisch-begrifflich Akzidentiellen theoretisch zu eskamotieren. Das abschließende Resultat von Windelbands Untersuchung und Prüfung aller Lehren vom Zufall ist damit eindeutig und folgt strikt Hegels in diesem Kapitel bereits mehrmals zitierter Absicht, aus jeder philosophischen Betrachtung „das Zufällige zu entfernen“: Die Rede vom Zufall ist und bleibt Windelband nicht mehr und nicht weniger als ein Armutszeugnis unserer Erkenntnis, ein „testimonium paupertatis“, wie es bereits am Beginn von Die Lehren vom Zufall hieß. Der Zufall ist kein „Realprincip“, der Zufall ist nicht, sondern er ist allenfalls ein der subjektiven Betrachtung entnommenes Attribut zur Bezeichnung des Akzidentiellen. Und letztlich will Windelband daher

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wiesen, um dem Zufall eine Rolle als Prinzip unserer Begriffsbildung beim Zusammengehen des Allgemeinen mit dem Besonderen einzuräumen.“ Wilhelm Windelband, Die Lehren vom Zufall, a.a.O., S. 70. Ebd., S. 78. Ebd., S. 80.

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auch aller geistigen, moralischen und ästhetischen Bemühung keine andere Absicht zubilligen, als auch noch dieses letzte Relikt des Zufallsbegriffs, das logische Zufällige, aufzulösen. Was lässt sich nun aus all dem, aus Windelbands Argumentation gegen den Zufall als „Realprincip“ und aus der von uns nachträglich vorgenommenen Konfrontation von Windelbands Argumenten gegen die Existenz des Zufalls mit den aristotelischen Bestimmungen, Distinktionen und Präzisierungen des Zufallsbegriffs, was lässt sich aus all dem für die Frage, ob und in welchem Sinne es einen Zufall gibt, folgern? Bereits Aristoteles, so sahen wir, hatte den wirklich seienden Zufall einzig im Sinne einer auf bestimmte Weise zu beschreibenden Relation verstehen wollen. Windelband folgt ihm zunächst darin. Auch für ihn kann es Zufall im Sinne der Ursachelosigkeit oder Zwecklosigkeit eines isolierten oder partikularen Geschehens nicht geben. Für die Relation des Zufalls war der aristotelischen Zufallstheorie ferner ein Moment der Praxis zwar nicht in jedem Falle allein ausreichend, wohl aber galt ihr ein solches Moment der Praxis als unverzichtbares Merkmal des relationalen Zufalls. Deswegen kann es für Aristoteles, auch darin folgt ihm Windelband im Ergebnis, wenn auch aus anderen Gründen, eine Relation des Zufalls in einem gänzlich handlungsunabhängigem Sinne nicht geben. – Wie aber steht es nun um einen Begriff des Zufalls als einer Relation der Akausalität oder der Dysteleologie, welcher ein Moment der Praxis immer schon enthält und berücksichtigt? Lässt sich die Existenz dieser beiden Typen des Zufalls plausibel behaupten? Lässt sich zeigen, dass ein so verstandener Zufall tatsächlich ist? Hinsichtlich dieser Frage, die Aristoteles in einer so selbstverständlichen Weise bejaht, dass ihm die genaue Bestimmung dieser beiden Typen des Zufalls theoretisch relevanter wird als die Begründung des Nachweises, dass sie „wirklich sind“, hinsichtlich dieser Frage der Existenz des Zufalls findet sich bei Windelband nun bezüglich des Zufalls als relationaler Akausalität eine Umkehrung der Beweispflicht und bezüglich des Zufalls als handlungsabhängiger relationaler Dysteleologie zunächst scheinbar ein schüchternes theoretisches Zugeständnis, welches freilich im weiteren Fortgang der Argumentation ohne nähere Begründung wieder einkassiert wird. Windelbands letztendliche und im Vergleich zu dem betriebenen argumentationsdramaturgischen Aufwand zumindest in philosophiegeschichtlicher Hinsicht erstaunlich konventionelle These, dass der Zufall niemals im Sinne eines „Realprincips“ zu konzedieren sei und wir vom Zufall ausschließlich im Sinne eines begrifflich-logisch Akzidentiellen sprechen dürften, steht demnach meines Erachtens auf einem äußerst schwachen theoretischen Fundament. Die Schwächen von Windelbands Zweifel an der Existenz des Zufalls als „Realprincip“ sind freilich ihrerseits im Umkehrschluss kein gleichsam ontologischer oder gottesbeweisanaloger Beweis für die Existenz des Zufalls. Wohl aber ist die Tatsache, dass Windelband die Existenz des Zufalls in justament dem zweifachen Sinne, wie er von Aristoteles in die Diskussion eingeführt und systematisch geklärt und nun freilich als unbestreitbar existierend vorausgesetzt wird, keinesfalls zwingend widerlegen kann, dass Windelbands Kritik aller „Lehren vom Zufall“ vielmehr genau an diesen beiden Begriffen theoretisch folgenlos abprallt, ein Indiz, wenn auch kein Beweis, dafür, dass wir von einer Existenz des Zufalls justament in der von Aristoteles vorgeschlagenen Weise sprechen können.

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(7) Nach dieser Darstellung sowohl der philosophie- als auch der geistes- und kulturgeschichtlichen Kontexte, welche der aristotelischen Zufallstheorie zum Zeitpunkt ihrer Formulierung vorlagen (1, 2), nach der systematischen Rekonstruktion der begrifflichen und theoretischen Fundamente dieser Zufallstheorie anhand der Begriffe symbebekos, tyche und automaton (3) sowie der Darstellung des aus ihr folgenden Plädoyers für eine prudentielle Form von Tychebewältigungspraxis, welche freilich dieses Plädoyer stets mit den Grenzen der praktischen Verfügbarkeit der tyche ausbalanciert (4), zudem nach der Präzisierung dieser Zufallstheorie im Spiegel einer anders lautenden Interpretation und einer systematischen Klärung der aristotelischen Relation von Praxis und Zufall als weder unauflöslich noch als antipodisch (5), sowie schließlich nach der theoretischen Rehabilitierung der aristotelischen Zufallstheorie gegen einen Protagonisten des Zweifels an der philosophischen Legitimität jedes Zufallsbegriffs überhaupt (6), nach all diesen Abschnitten möchte ich dieses Kapitel über die Tyche und tyche, dieses Kapitel über die griechischen Wurzeln des Zufallsbegriffs, ebenso beenden wie ich es begonnen habe: mit einer historischen Fragestellung und einem sich daran anschließenden Exkurs. Es stellt sich nämlich nach all den bisherigen Argumentationsschritten, nach der Darstellung, Präzisierung und Verteidigung der aristotelischen Zufallstheorie ebenso wie der Darstellung ihres Kontexts, die Frage, wie es sich mit der gleichsam postaristotelischen Entwicklung sowohl des philosophischen terminus technicus und von Aristoteles auf eine bestimmte Weise verwendeten Terminus tyche als auch der Konjunktur jener Göttin Tyche, auf die unsere geschichtlichen Betrachtungen in den ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels zu sprechen kamen, verhält. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den wesentlichen Befund der beiden ersten Abschnitte über den philosophie-, kultur- und geistesgeschichtlichen Kontext des aristotelischen Zufallsbegriffs: Die aristotelische Rezeption dieses Kontexts wurde dergestalt zusammengefasst, dass das anfängliche Motiv und die wesentliche Ambition der aristotelischen Zufallsdiskussion darin bestehen, den Zufall in seiner praktischen Relevanz zu rehabilitieren und ihn in intellektuell seriöser Weise zu thematisieren. So wollte Aristoteles den Gehalt des Zufallsbegriffs einer deterministischen Eskamotierung von tyche im Namen einer atomistischen Naturphilosophie, der theologischen Funktionalisierung und metaphysischen Harmonisierung der tyche in Platons Nomoi sowie schließlich einer kosmologischen Nobilitierung wie irrationalen Mythisierung des Zufalls im Namen einer apostrophierten Göttin Tyche entziehen. Wir stießen also bei dem Unternehmen einer möglichst umfassenden Kontextualisierung der aristotelischen Zufallstheorie nicht nur auf den in der Philosophie schon vor Aristoteles verwendeten terminus technicus tyche, sondern auch auf die Tyche in ihrer religiösen und kulturellen Bedeutung, auf die Göttin Tyche, für die sich unterschiedliche Formen kultischer Verehrung spätestens seit dem vierten Jahrhundert vor Christus nachweisen ließen. Eine prägnante Auffassung dieser Göttin Tyche ebenso wie der seinerzeit formulierten Rezepte für einen adäquaten menschlichen Umgang mit ihr konnten wir schließlich dadurch gewinnen, dass wir uns schriftlichen Quellen vor der Zeit des Aristoteles und während dieser Zeit – in der Literatur, in der Geschichtsschreibung, in der Rhetorik – widmeten. Insbesondere anhand einer ausführlichen Betrachtung der zwölften von Pindars Olympischen Oden glaubte ich

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zu einer genaueren Bestimmung der Wesensmerkmale und Charakterzüge der Göttin Tyche und ihres Verhältnisses zu menschlichem Handeln und Denken in jener Zeit vordringen zu können. Dieses in den ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels zu Rate gezogene Ensemble aus einer im engeren Sinne philosophie- und einer im weiteren Sinne kultur- und geistesgeschichtlichen Perspektive lässt sich nun auch für die Frage nach der gleichsam post-aristotelischen Gestalt des Zufallsbegriffs Gewinn bringend wiederholen. Eine post-aristotelische Geschichte der im engeren Sinne philosophischen Thematisierung des Zufalls hat natürlich zuerst bei Epikur Halt zu machen. Epikurs Philosophie unterstellt bekanntlich, dass die Atome ursachelos im leeren Raum verlaufen, also kausal zufällig aus ihrer senkrechten Fallbahn ausscheren, infolgedessen zufällig aneinander stoßen und so die gegenständliche Welt bilden. Eine atomistische Naturphilosophie hatten vor Epikur schon Demokrit oder auch Leukipp, so sahen wir bereits im ersten Abschnitt des Kapitels, formuliert. In einem auffälligen Kontrast zu jenem kausalen Determinismus, wie er sich sowohl bei Leukipp B 2229 als auch in den Fragmenten Demokrits230 findet, flicht Epikur in sein atomistisches Weltbild aber den Zufall als einen entscheidenden Akteur ein.231 So findet sich, wie Franz Josef Wetz reformuliert, bei Epikur die „Annahme eines plötzlichen Abweichens von Atomen aus der geraden Falllinie. Völlig ursachelos scheren Atome aus der Fallbahn aus.“232 Otto Liebmann resümiert die atomistische Zufallstheorie des Epikur so: „Ein dummer Zufall, ein planloses Ohngefähr, nicht allein ohne Zweck, nein auch ohne Gesetz, ruft die unendlich reiche Gestaltenfülle in der Natur hervor.“233 Inwiefern Epikur dabei im Rahmen seiner atomistischen Naturphilosophie den Terminus tyche verwendete, ist einem Urteil von Agatha Anna Buriks zufolge ungesichert: „In the domain of physics tyche gains a victory with Epicurus. The latter explains the process of nature by the action of a blind ananke. To reserve freedom of action for man, he accepts beside it a spontaneity which, right from the beginning of the world, shows itself in a causeless deviation from the perpendicular fall of the atoms. It is not certain whether he gave this accidental factor breaking through ananke the name of tyche as terminus technicus. Pro229 230

231

232 233

Vergleiche hierzu Anmerkung 26 dieses Kapitels, S. 78. Siehe hierzu meine Demokrit gewidmete Diskussion auf S. 78–82 dieses Kapitels und meine dortige Diskussion von Demokrits Widerspruch zwischen kosmologischem Determinismus und Akzeptanz der alltagspraktischen Relevanz des Zufalls. Die Kontrastierung der demokritischen und der epikuräischen Naturphilosophie und zwar anhand der Thematik von Notwendigkeit oder Zufall in der Natur war übrigens das zentrale inhaltliche Merkmal von Karl Marx’ Dissertation: „So viel ist also historisch sicher, Demokrit wendet die Nothwendigkeit, Epikur den Zufall an; und zwar verwirft Jeder die entgegengesetzte Ansicht mit polemischer Gereiztheit.“ Karl Marx, „Die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange“ (1841), in: Die Promotion von Karl Marx – Jena 1841. Eine Quellenedition, herausgegeben von Erhard Lange u. a., Berlin/Ost 1983, S. 60. Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, a.a.O., S. 40. Otto Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit. Philosophische Untersuchungen, Straßburg 1876, S. 322 f.

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T – D  W  Z bably the word was too heavily charged by popular and religious use to make it possible for it to serve as a purely philosophical notion.“234

Hätte Aristoteles diese nach seinen Lebzeiten formulierte, epikuräische Variante einer atomistischen Naturphilosophie beurteilen und bewerten können, dann hätte er ein Denken, welches dem Zufall für die Entstehung der Welt eine derart entscheidende Rolle attestiert, wohl nicht anders wahrnehmen können denn als jene kosmologische Nobilitierung des Zufalls, gegen die er sich im Zuge seiner praktisch motivierten Rehabilitierung des Zufalls und seiner nüchternen und philosophisch seriösen Thematisierung von tyche immer schon ausgesprochen hatte.235 Wie auch immer: Betrachtet man die griechische Philosophie nach Aristoteles insgesamt, lässt sich in einer offenkundigen Parallele zu unserer im ersten Abschnitt dieses Kapitels formulierten Diagnose bezüglich der nur eingeschränkten Relevanz des philosophiegeschichtlichen Kontexts für Aristoteles’ Zufallstheorie konstatieren, dass die aristotelische Analyse des Zufalls seinerzeit in der Philosophie eine vergleichsweise geringe Beachtung fand, auch nur in geringem Maße rezipiert wurde und insofern auch nach dem Tod ihres Urhebers eindeutig einen Sonderfall oder eine Ausnahmeerscheinung darstellt denn lediglich einen weiteren Beitrag im Kontext einer seinerzeit üppig wuchernden philosophischen Diskussion. Entsprechend schätzt auch Curt Leo von Peter in seiner Studie über Das Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie das theoretische Niveau, welches einer genuin philosophischen Behandlung des Zufalls im Zeitalter des Hellenismus zuteil wurde, äußerst gering ein: „Während man dem Aristoteles eine beinah erschöpfende Behandlung der verschiedenen Zufallsarten zu verdanken hat, ist es bei den Philosophen der Nacharistotelischen Schulen, die bekanntlich im allgemeinen keine ‚Mehrer des Reiches‘ der Gedanken gewesen sind, insbesondere hinsichtlich unseres Problems mit originellen Anschauungen spärlich bestellt.“236 Für die Kultur- und Geistesgeschichte des Hellenismus jenseits einer eng begrenzten Philosophiegeschichte gilt, dies eine weitere Parallele zu dem zweiten Abschnitt dieses Kapitels, dass der Begriff tyche und die damit bezeichnete Auffassung des Zufalls in hellenistischer Zeit selten im logisch konzisen und begrifflich rigiden Gewande eines 234

235

236

Agatha Anna Buriks, „Summary“, in: ΠΕΡΙ ΤYXHΣ. De ontwikkeling van het begrip tyche tot aan de Romeinse tijd, hoofdzakelijk in de philosophie, a.a.O., S. 128. Allerdings ging auch Epikur ebenso wie Demokrit neben der naturphilosophischen und kosmologischen Rolle des Zufalls auch der alltäglichen Relevanz des Begriffs tyche nach. Die Philosophie Epikurs und der Epikuräismus waren neben ihrer naturphilosophischen Ausrichtung immer auch, so formuliert dies Pollitt, „above all a philosophy of behavior designed to meet the problems and crises of daily living.“ So schreibt Epikur beispielsweise in einem Brief an Menoikos, dass „einiges infolge der Notwendigkeit entstehe, anderes dagegen infolge des Zufalls und noch anderes durch uns selbst.“ Von einer Omnipotenz des Zufalls ist hier, diesseits kosmologischer Thesen, also keine Rede. Es geht Epikur vielmehr offensichtlich, ganz so wie den oben erwähnten Lebensmaximen Demokrits, um die Balance aus menschlicher Handlungskraft und zufälligem Geschehen. Vergleiche hierzu: J. J. Pollitt, Art in the Hellenistic Age, a.a.O., S. 8. Epikur, „Brief an Menoikos“, in: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch I–X, herausgegeben von Klaus Reich, Hamburg 1967, S. 285. Curt Leo von Peter, Das Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie, a.a.O., S. 36.

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philosophischen Diskurses auftreten. Tyche war – von der Ausnahme des Aristoteles und der atomistischen Naturphilosophie und Platons äußerst knappen Bemerkungen in den Nomoi einmal abgesehen – den Griechen immer schon und nun in hellenistischer Zeit wieder weitaus mehr eine kultisch und religiös, kulturell und literarisch, historiographisch und rhetorisch gebräuchliche Figur denn ein philosophischer terminus technicus. Ganz im Sinne von Pollitts bereits zitierter Diagnose einer die Zeit des Hellenismus insgesamt kennzeichnenden „obsession with fortune“237 war die tyche seinerzeit – vorrangig in Gestalt der Göttin Tyche – in allen Gebieten des geistigen und kulturellen Lebens Gegenstand von menschlicher Verehrung und Furcht, Hoffnung und Reflexion. So wie sich allerdings bereits den Tyche-Statuen von Smyrna oder Antiochia oder auch der von uns erwähnten und ja schon aus hellenistischer Zeit stammenden Grabstele der Hediste238 zwar die kulturelle Omnipräsenz der Tyche, nicht aber oder jedenfalls nur unscharf die Auffassung ihrer einzelnen Charakterzüge und Wesensmerkmale und die Charakterisierung des Verhältnisses von menschlicher Theorie und Praxis zu dieser Tyche entnehmen ließen, wir vielmehr auf schriftliche Zeugnisse, etwa in der Literatur oder in der Geschichtsschreibung oder in der Rhetorik, angewiesen waren, um die entsprechenden Rückfragen für die Zeit vor und während des Lebens des Aristoteles beantworten zu können, so lassen sich auch für die gleichsam post-aristotelische Ära die Konturen der seinerzeitigen Auffassung der Göttin Tyche besonders prägnant der Literatur und der Geschichtsschreibung entnehmen. Auch die Epoche des Hellenismus, eine Zeit von immensen politischen Wirren und geistigen Umwälzungen, konnte – so werden wir sehen – der Beschäftigung mit der Göttin Tyche nicht entraten.239 Was die Göttin Tyche der gleichsam klassischen Ära betraf, rekapitulieren wir dieses Ergebnis des zweiten Abschnitts dieses Kapitels, so ließen sich ihre charakteristischen Wesenszüge anhand eines exemplarischen Textes von Pindar besonders trefflich illustrieren. Tyche erweist sich dabei im Wesentlichen als der olympischen Götterwelt untergeordnete und insofern nicht autarke, wenn auch als überaus mächtige Instanz, deren Wirken für menschliches Kalkül weder theoretisch berechen- und vorhersehbar noch menschlicher Praxis verfügbar, vielmehr praktisch unverfügbar ist, die aber doch letztlich als eine dem Menschen wohlgesonnene Instanz betrachtet wird.240 Lassen sich diese 237 238 239

240

Vergleiche dazu Anmerkung 66 auf S. 93 in diesem Kapitel. Vergleiche hierzu Abbildungen 1 und 2, S. 720 f. Iiro Kajanto kontextualisiert die Popularität der Tyche in der hellenistischen Literatur folgendermaßen: „Tyche was a dominant figure in the literature of the Hellenistic period. Two factors contributed to her popularity. The Olympic Gods were rapidly losing ground. This created a religious vacuum, which was in part filled by Tyche. Again, the time of Alexander the Great and of the Epigoni was a period of great upheavals. Many great states, e.g. the Persian Empire, fell to pieces, and new ones were founded instead. The success of an individual seemed often to depend more upon chance than upon his own efforts. This may explain why fickle Tyche, the personification of blind chance, gained so important a position in men’s minds.“ Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 527 f. Freilich finden wir, darauf verwiesen wir am Ende des zweiten Abschnitts dieses Kapitels, bei Thukydides das Vertrauen in eine stets und gänzlich unbeschränkte Verfügbarkeit des Zufalls und

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Merkmale in der Literatur oder in der Geschichtsschreibung des hellenistischen Zeitalters wiederfinden oder nicht? Wie wäre demnach das Verhältnis der gleichsam postaristotelischen Göttin Tyche zu der Göttin Tyche jener Zeit, die wir in den beiden ersten Abschnitten dieses Kapitels behandelt hatten, zu kennzeichnen? Handelte es sich um ein Verhältnis der Kontinuität oder der Diskontinuität? Oder wären diesbezüglich Aspekte der Kontinuität und der Diskontinuität in einer unauflösbaren Weise verknüpft? Für die Beantwortung derartiger Fragen blicken wir zunächst auf die Komödien des Menander. Sie zeugen in ähnlich repräsentativer Weise von der Tyche des Hellenismus, wie die Tyche von Pindars besprochener Ode für die Auffassung der Göttin Tyche in und vor der Zeit des Aristoteles. Für die Stücke des Menander trifft grundsätzlich zu, dass sich in ihnen die konkrete und für die betroffenen Akteure in ihrem alltäglichen Streben und Leiden erfahrbare Wirkungsmacht der Tyche stets in der Weise zeigt, dass die in diesen Stücken Handelnden nicht ohne weiteres erreichen, was sie beabsichtigen, und nicht ohne weiteres beabsichtigen, was sie erreichen, „ihre Handlungen führen nicht auf dem geplanten Wege zum erwünschten Ziel, sondern treffen auf Hindernisse, die sie, je nach Partei, überwinden oder an denen sie scheitern.“241 Dieses grundsätzliche strukturelle Merkmal von Menanders Stücken, die literarische Aufmerksamkeit für eine dem Menschen nur eingeschränkt zur Verfügung stehende Verfügbarkeit seiner Handlungsabsichten und der Ergebnisse dieser Absichten, findet sich in Das Schiedsgericht, einem der bekanntesten Stücke des Menander, auf eine prägnante literarische Formel gebracht: Wo du dir klug und vorbedacht erschienst, Hast du dich roh und töricht aufgeführt Und wo du es nicht ahntest, da warst du gescheit!242 Was sich aus der neutralen Beobachterperspektive eines Zuschauers nüchtern als Divergenz von Intention und Resultat einer Handlung analysieren lässt, stellt sich indes für die unmittelbar in ein derartiges Geschehen Verstrickten als leidvolles oder schmerzhaftes oder doch zumindest unbeabsichtigtes Widerfahrnis dar, wobei freilich in den Stücken des Menander diese unfreiwilligen Verstrickungen und unwillkommenen Widerfahrnisse, wie wir sehen werden, immer nur von befristeter Dauer sind. Um das für das menschliche Leben offensichtlich konstitutive „Risiko von Scheitern und Enttäuschung“243 zu erklären und zu bewältigen, referieren aber nun die Figuren der menandrischen Komödien immer wieder und in einem ganz bestimmten Sinne auf die Tyche und durchaus auch namentlich. Wie begreifen sie dabei diese Tyche?

241

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insofern eine Form von Tychebewältigungspraxis formuliert, die Aristoteles dann freilich einerseits deutlich ausbalanciert und nur eingeschränkt gelten lässt und andererseits auf das Terrain der praktischen Philosophie verlagert. Gregor Vogt-Spira, Dramaturgie des Zufalls. Tyche und Handeln in der Komödie Menanders, a.a.O., S. 3. Menander, „Das Schiedsgericht“, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt, in: Der Menschenfeind. Das Schiedsgericht, Frankfurt am Main 1962, S. 132. Gregor Vogt-Spira, Dramaturgie des Zufalls. Tyche und Handeln in der Komödie Menanders, a.a.O., S. 5.

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Was die Frage der Wesenszüge und Charakteristika der hellenistischen Tyche angeht, so gibt bereits eine lediglich abstrakte Skizze des Verlaufs und des Gehalts der Komödien Menanders drei Züge und Merkmale zu erkennen, die sich bereits für Pindars Tyche-Auffassung als konstitutiv erwiesen hatten: nämlich erstens ihre theoretische Unberechenbarkeit und Unzugänglichkeit – ein von Menander überliefertes Fragment, das Fragment 355 K 244 setzt ein mit den Worten, wonach Tyche in ihrer Bestimmung der menschlichen Angelegenheiten keine Regeln kennt245 –, zweitens ihre praktische Unverfügbarkeit – die Charaktere von Menanders Stücken, so bemerkt Pollitt, „see life as a kind of performance put on by Fortune, over which they have no control“246 – und drittens ihre außerordentliche Bedeutsamkeit und Relevanz für die Lebenswelt und den Alltag jedes Einzelnen – dieses Merkmal gibt sich zu erkennen, hören wir Pollitts Übersetzung des soeben erwähnten Menander-Fragments in Gänze: „Fortune observes no rule by which she decides human affairs. Nor is it possible, while still alive, to say, ‚I will not suffer this fate‘.“247 Alle drei Merkmale werden übrigens nun exemplarisch in Menanders Stück Das Schiedsgericht, wie es in Schadewaldts Übertragung vorliegt, erwähnt. Unter Berücksichtigung diverser menandrischer Fragmente, die er für die Ergänzung der Lücken des nur fragmentarisch überlieferten Stückes benützt, freilich auch explizit ausweist, lässt Schadewaldt die Tyche in der zweiten Szene des Stückes etwa mit folgender Selbstdarstellung zu Wort kommen und auf die Bühne treten: Ein wenig wetterwendisch, spielerisch, so sagen sie mir nach, wenn sie nicht gar Mich launisch, treulos, unberechenbar, Spröde, gefallsüchtig und grausam schelten – Die guten Menschenkinder: sie ersehnen, Jeder für sich, das Glück und meinen, Sie könnten es – das flüchtige – an die Kette legen. Und wenn denn das nicht angehn will, hab ich die Schuld. Ich aber liebe mir das bunte Leben. Ich gebe, nehme, stürze, richte auf, So wie es kommt und wie der Würfel fällt. Das Unverhoffte, Sprunghafte ist mein Revier: Das Meer, der Krieg, die Politik, die Liebe. 244 245

246 247

Vergleiche Theodor Kock (Hg.), Comicorum Atticorum Fragmenta. Band 3, Leipzig 1888, S. 100. „Fortune observes no rule by which she decides human affairs“, so übersetzt Pollitt das genannte Fragment. Vergleiche hierzu J. J. Pollitt, „An Obsession with Fortune“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Greek and Roman Art, a.a.O., S. 13. Vergleiche dazu auch Herzog-Hausers Interpretation von Menanders Komödien: „[…] jedenfalls gilt Tyche als ‚Göttin‘ und ‚Herrin‘ […] und ihrem Regiment […] gegenüber ist menschlicher Geist und menschliche Voraussicht völlig machtlos. Tyche macht alles, wir Menschen aber werden dafür zur Verantwortung gezogen“. Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1657 f. J. J. Pollitt, Art in the Hellenistic Age, a.a.O., S. 6. Zitiert nach J. J. Pollitt, „An Obsession with Fortune“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Greek and Roman Art, a.a.O., S. 13.

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T – D  W  Z Verwirrung und Entwirrung – ewiges Spiel Der Welten und der Seelen! – Aufgemerkt, Wie es sich auf dem engen Raum auch auf dieser Bühne Verflicht und wieder dann entflicht durch meine Macht!248

Auch die Göttlichkeit dieser solchermaßen charakterisierten Tyche, und damit ein weiteres Charakteristikum jener Auffassung der Tyche, wie es sich schon bei Pindar nachweisen ließ, als jener von der Tyche als Tochter des Zeus sprach, auch die Göttlichkeit der Tyche wird dabei von Menander keinesfalls in Frage gestellt, vielmehr ausdrücklich bejaht. So ergreift in Menanders Komödie Aspis unmittelbar nach der ersten Szene des ersten Aktes Tyche selbst das Wort, und sie bezeichnet sich gleich zu Beginn ihrer Ausführungen ausdrücklich als Gottheit (θεός), um sodann den Zuschauer über das soeben Geschehene ebenso wie über den weiteren Verlauf des Stückes in Andeutungen aufzuklären und schließlich ihre Ausführungen mit den Worten zu beschließen: Mir bleibt nur noch Euch meinen Namen anzusagen, wer ich bin, die ich die Vollmacht habe, in allen diesen Dingen zu schalten und zu walten, wie ich will: die Tyche.249 Darüber hinaus – und damit diagnostizieren wir bezüglich der Komödien Menanders schließlich eine ziemlich exakte Wiederkehr ebenjener fünf Merkmale der Tyche, wie wir sie bezüglich des im weiteren Sinne geistes- und kulturgeschichtlichen Kontexts vor der Zeit des Aristoteles am Beispiel Pindars entwickelt und dargestellt hatten – wird all dies lebensweltlich und alltäglich so relevante Treiben und Wirken der Göttin Tyche in Menanders Stücken und dies trotz all ihrer theoretischen Unberechenbarkeit und praktischen Unverfügbarkeit als gütig und wohlgesonnen in dem Sinne gekennzeichnet, dass Tyche dem Menschen doch assistierend, nützlich und hilfreich zur Seite steht, ihm beisteht, daher in letzter Instanz nicht übelmeinend, sondern wohlwollend dem Menschen gegenübertritt. Ihre Unberechenbarkeit und Launenhaftigkeit, die für den Menschen mitunter schmerzhaft sein mag, hindert doch Tyche, wie sie uns in den Komödien Menanders begegnet, nicht daran, durchaus vorausblickend und wohlmeinend zu agieren, eben nicht blind, eben nicht bösartig, eben nicht als Feind des Menschen. Die Komödien Menanders enden, um einen zeitgenössischen Jargon zu gebrauchen, der an dieser Stelle durchaus 248

249

Menander, „Das Schiedsgericht“, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt, in: Der Menschenfeind. Das Schiedsgericht, a.a.O., S. 73. Menander, Der Schild oder die Erbtochter, eingeleitet und übersetzt von Konrad Gaiser, Zürich/ Stuttgart 1971, S. 34. Auch in Schadewaldts Übertragung des Schiedsgerichtes bezeichnet sich die Tyche selbst ausdrücklich als Göttin, bevor sie dann unmittelbar danach mit ihrer bereits in Anmerkung 248 zitierten Selbstbeschreibung einsetzt: Ich bin die Göttin Tyche, bin Fortuna, Die alle Menschendinge lenkt – auf ihre Art. Ein wenig wetterwendisch, […] Vergleiche dazu Menander, „Das Schiedsgericht“, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt, in: Der Menschenfeind. Das Schiedsgericht, a.a.O., S. 73.

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nicht fehl am Platze ist, stets mit einem Happy End. Aber dieses Happy End kommt so wie bei Pindar auch bei Menander unerwartet, und es kommt eben nicht oder zumindest nicht ausschließlich durch menschliche Leistung und Fähigkeiten zustande, vielmehr nur dank der tätigen, der wohlgesonnenen, aber eben theoretisch unzugänglichen und praktisch unverfügbaren Mithilfe der Göttin Tyche. Schon der verbannte „Sohn des Philanor“ bei Pindar hätte seine Siege nicht errungen, vielmehr nur „gleich dem nur im Hofe kämpfenden Hahn/Beim angestammten Herde ruhmlos“ sein Leben verbracht, hätte nicht Tyche, die eben nur einem ersten ungenauen Blick bösartig und blind erscheint, ihm das nur vermeintlich unglückselige Los der Verbannung geschickt. In der Aspis, einer Komödie Menanders, in der die Tyche, wie wir sahen, selbst das Wort ergreift und sich als Göttin charakterisiert, endet das anfänglich so verworrene Geschehen schließlich mit einer Doppelhochzeit, welche die Wünsche und Hoffnungen aller unmittelbar Beteiligten erfüllt. Einzig der habsüchtige Ränkeschmied Smikrines, der glaubte, diesen und jenen Zufall zu seinen eigenen Gunsten instrumentalisieren zu können, scheitert. Ihn weist die Tyche letztlich in die Schranken, seinen intriganten Eskapaden zeigt sie Grenzen auf. Auch Menanders Stück Der Menschenfeind (Dyskolos), ein nahezu vollständig erhaltenes Stück, dessen Erstaufführung auf 326 vor Christus datiert werden kann, endet mit einer Doppelhochzeit, die sich am Ende des Stückes glücklich einstellt, wiewohl zu Beginn des Stückes nichts dafür zu sprechen schien, dass der jugendliche Liebhaber Sostratos erreichen würde, was er beabsichtigt. Auch im Dyskolos also ein Happy End.250 Lediglich in der Art und Weise, wie bewirkt wird, dass „Handlungen nicht auf dem geplanten Wege zum erwünschten Ziel“ (Vogt-Spira) führen und dennoch das Geschehen ein glückliches Ende nimmt, insofern auch manches Leid „Vorwand nur zu neuem Glück“ darstellt, unterscheiden sich die beiden zuletzt genannten Stücke des Menander. Während in der Aspis der Zufall einer Verwechslung erst in Kombination mit einer bewusst geplanten und eingefädelten Intrige das weitere Geschehen ins Werk setzt, entscheidet in dem Stück Dyskolos allein das für sich selbst 250

Die Wohlgesonnenheit der Tyche findet sich auch in Schadewaldts Fassung des Schiedsgerichts. Eine Lücke des Originals ergänzt Schadewaldt durch Zeilen aus des Menanders Fragment Koneiazomenai (Menander, Koneiazomenai, 13–20), in dem die Tyche aus dem Munde eben jenes Beteiligten, für den sich am Ende des Stückes alles zum Guten gefügt hat, mit folgenden Worten charakterisiert wird: Freunde, da unverhofft sich alles nun so wohl gefügt, Sei Göttin Tyche unser erster Dank gebracht! Wie oft hab ich – zu Unrecht – sie geschmäht als blind! Als Sehende hat sie sich einzig nun erwiesen! Da haben selbst wir uns gequält, gemüht Und doch mit unsern Mühen nicht erreicht. Doch sie griff ein, und so ging alles gut! Drum sollte niemand, dem es schlecht ergeht, Zu sehr den Mut verlieren. Es war vielleicht Sein Leid der Vorwand nur zu neuem Glück! – Menander, „Das Schiedsgericht“, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt, in: Der Menschenfeind. Das Schiedsgericht, a.a.O., S. 133. Vergleiche für das griechische Original F. H. Sandbach (Hg.), Menandri reliquiae selectae, Oxford 1972, S. 178.

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genommen in der Tat banale und zufällige Ereignis eines Sturzes in einen Brunnen – erst des Eimers, dann der Haue, mit der der Eimer wieder an das Tageslicht befördert werden soll, und dann des Menschenfeindes Knemon, der versucht, sich des Eimers wie der Haue zu bemächtigen – die weitere Handlung und setzt das gütliche Ende in Gang, ohne dass dies so von irgendeinem der Beteiligten überhaupt hätte beabsichtigt oder forciert, intendiert oder verhindert werden können. Insofern kehren in Menanders Komödien, diese Einschätzung lässt sich durch Verweise auf einige seiner wohl bekanntesten Stücke ausreichend illustrieren, alle fünf Merkmale der oben beschriebenen Tyche-Auffassung von Pindars zwölfter Olympischer Ode wieder: ihre Göttlichkeit; ihre außerordentliche Mächtigkeit, deren alltägliche Relevanz von Menander besonders effektvoll und lebensnah inszeniert wird251 ; ihre theoretische Unzulänglichkeit für menschliche Umsicht und Kalkulation; ihre praktische Unverfügbarkeit für menschliche Absichten und Handlungen; und schließlich doch ihre Wohlgesonnenheit für alle menschlichen Mühen, ihre Fähigkeit, Dinge wider Erwarten ausfallen zu lassen, „widrige Wogenschwälle“ gegen ein „tiefes Edles“ einzutauschen, wie dies noch Pindar formuliert hatte, manches Leid als „Vorwand nur zu neuem Glück“ zu gebrauchen, wie es in Menanders Fragment Koneiazomenai heißt. Auch für Menander agiert die Tyche also trotz ihrer theoretischen Unzugänglichkeit und praktischen Unverfügbarkeit nicht als bösartige und übellaunige Feindin des Menschen, sondern als eine Instanz, die dem Menschen eine Fülle von Gaben und Wohltaten bereithält.252 Nach dieser systematischen Widergabe der wichtigsten Züge der Tyche-Auffassung von Menanders Komödien scheint sich auf den ersten Blick auch die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität der Tyche der klassischen Zeit und der hellenistischen Tyche in ganz eindeutiger Weise beantworten zu lassen. Doch so einfach und eindeutig ist es eben gerade nicht, die hellenistische Auffassung der Tyche ist weitaus ambivalenter und vielschichtiger, als der Blick auf Menanders Stücke allein vermuten lassen würde. Daher lässt sich nun in drei anderen Hinsichten für die Zeit des Hellenismus bis zu der Zeit, da die römische Kultur und die lateinische Sprache ihren Siegeszug in der 251

252

Vergleiche dazu auch Pollitts grundsätzliche Charakterisierung der Themen und des Inhalts der „Neuen Komödie“: „Stock themes such as misunderstandings in love, the discovery of long lost children, and cases of mistaken identity provided the plots for New Comedy, and common human types – querulous fathers, aggressive sons, shy daughters, scheming servants, braggarts – served as its characters.“ J. J. Pollitt, Art in the Hellenistic Age, a.a.O., S. 5. Die überaus prominente Rolle, welche der Tyche in Menanders Komödien zukommt – wir sahen ja, dass sie teilweise sogar als eigenständige Figur die Bühne betritt und dort das Wort ergreift – legt die Frage nahe, ob die Komödie nicht ohnehin das dramatische Genre par excellence für die Thematisierung des Verhältnisses von Mensch und Zufall ist, während sich die Tragödie und die dramatische Thematisierung des Tragischen stärker auf ein notwendiges Schicksal, auf fatum, auf heimarmene, beziehen. Gerda Busch schreibt diesbezüglich zurecht, Tyche-Fortuna sei „keine Vertreterin des tragischen Prinzips – denn es ist noch nicht tragisch, wenn sie heute nimmt, was sie gestern gegeben hat –, eher ist sie als Gegenspielerin des Menschen eine Komödiantin.“ Gerda Busch, „Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca“, in: Antike und Abendland 10 (1961), S. 151.

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abendländischen Welt antreten sollten, die hier verhandelten Fragen also ohnehin nicht mehr an die terminologische Adresse der Tyche gerichtet werden konnten, sondern die römische Fortuna betrafen253 , ein deutlich zu markierender Bruch mit jener Auffassung der Göttin Tyche konstatieren, wie sie uns exemplarisch bei Pindar oder auch bei den attischen Tragikern begegnete, lassen sich insofern nicht nur Kontinuität, sondern auch Diskontinuität zwischen klassischer und hellenistischer Tyche diagnostizieren. Vorausgeschickt werden muss dabei noch, auch wenn dies die Charakterisierung der Tyche unmittelbar noch gar nicht zwingend betreffen muss, dass für die hellenistische Zeit ein spezifischer Bedeutungsgewinn der Göttin Tyche zu registrieren ist, der sicherlich zu Lasten der olympischen Götterwelt verbucht werden muss. Denn in gleichem Maße, wie die Göttin Tyche an kultureller Bedeutung gewinnt, verliert die olympische Götterwelt an Bedeutung: „Τύχη und δαίμων treten, vielfach an Stelle der bereits mehr oder weniger zu rein dekorativen Figuren werdenden Olympier, als die eigentlich wirksamen überirdischen Mächte handelnd auf den Plan. […] Manchmal wird zur Bezeichnung des Irrationalen noch der Götterapparat benutzt, geglaubt aber wird eher an das Walten jener rätselhaften Macht, die man τύχη nennt“254 . Bezüglich dieses zunächst einmal zu konstatierenden Bedeutungsgewinns der hellenistischen Tyche zu Lasten der olympischen Götterwelt, dessen geistige Konsequenzen erst noch geklärt werden wollen, wissen sich alle philologischen und historischen Kommentare einig. Herter etwa gelangt zu dem Urteil, in der Zeit des Hellenismus „verließen sich immer weniger Menschen auf die Gottheit wie noch die Melier des Thukydides, und mit der Zurruhesetzung der höheren Wesen bekam Tyche das Heft allein in die Hand“255 . Und bei Erwin Rohde findet sich bezüglich des kulturellen und religiösen Bedeutungsgewinns der Tyche zu Ungunsten der olympischen Götterwelt die Äußerung: „Wie aber der Glanz der Olympier allmählich verbleicht, tritt dieser neue Dämon immer bedrohlicher leuchtend hervor.“256 Meuss konstatiert bezüglich der kulturellen Präsenz der Tyche im Zeitalter des Hellenismus: „Es ist bekannt, welche hervorragende Stellung sich vom vierten vorchristlichen Jahrhundert an die Tyche in der Weltanschauung der griechischen Kultursphäre erobert und wie sie in hellenistisch-römischer Zeit schliesslich zu einer Art von Universalgottheit wird, die in weiten Kreisen den alten Göttern der Volksreligion den Rang abläuft.“257 Noch radikaler stellen Attilio Roveri und Hans Strohm die hellenistische Asymmetrie von Tyche und olympischer Götterwelt dar. Roveri bezeichnet Tyche als die einzige 253

254

255 256 257

Vergleiche hierzu das siebte Kapitel dieser Arbeit Virtù vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos. Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1660. Hans Herter, „Tyche“ (1962), in: Kleine Schriften, herausgegeben von Ernst Vogt, a.a.O., S. 83. Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, a.a.O., S. 297. Heinrich Meuss, Tyche bei den attischen Tragikern, a.a.O., S. 3.

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„Gottheit der hellenistischen Altäre“258 . Strohms apodiktischem Urteil zufolge amtet Tyche im Zeitalter des Hellenismus sogar als Weltregierung: „In einer götterlosen Zeit wird Tyche, als neue Gottheit, die Weltregierung übernehmen.“259 Dieser Autoritätsverlust der olympischen Götterwelt einerseits, der Bedeutungsgewinn der Tyche auf Kosten dieser Götterwelt andererseits, dieser für das Zeitalter des Hellenismus eben doch zu registrierende Wandel bezüglich des religiösen Einflusses und der kulturellen Autorität der Tyche dürfte aber nun wiederum an der Wesensbeschreibung und Charakterisierung der Tyche nicht spurlos vorbeigegangen sein, was wiederum nicht nur für eine gleichsam quantitative, sondern auch für eine qualitative Diskontinuität von hellenistischer Tyche und Tyche der klassischen Zeit spricht. Und dies gilt eben nun in jener dreifachen Hinsicht, von der einige Absätze zuvor bereits die Rede war: Zwei Aspekte dieses Bedeutungswandels, der mehr ist als quantitativer Bedeutungsverlust oder Bedeutungsgewinn, zwei Aspekte dieses qualitativen Wandels, die sowohl das Verhältnis der Göttin Tyche zu den anderen Göttern der Griechen als auch gerade das Verhältnis der Tyche zum Zufall, zu dem also, was Aristoteles mit Hilfe des philosophischen terminus technicus tyche fasste, betreffen, will ich zunächst benennen, wobei diese beiden Aspekte eng zusammenhängen: Der erste Aspekt betrifft die Autarkie der Tyche. In der klassischen Zeit wurde, wie wir am Beispiel von Aischlyos, Sophokles und Pindar sahen, die Göttin Tyche niemals, wie Strohm zurecht vermerkt, als „Macht von selbständiger Gültigkeit“260 , sondern vielmehr als „Aktionsart der göttlichen Macht“261 betrachtet. Insbesondere für Pindars Auffassung der Tyche ließ sich nachweisen, dass Tyche als Tochter des Zeus stets im Verbund mit der olympischen Götterwelt handelte, sodass sie niemals als eigenmächtige und autarke Instanz dem Menschen allein gegenübertrat: „Nirgends heißt bei Pindar die Frontstellung ‚Mensch – Tyche‘ (hier wurzelt der grundlegende Unterschied gegenüber dem Hellenismus!)“262 . Tyche handelt demnach niemals autark, sondern im Verbund mit der olympischen Götterwelt oder in Koalition mit moira, heimarmene, der Macht des Schicksals oder anderen göttlichen Kräften, in deren Auftrag und als deren Medium die Tyche lediglich agiert. Auch bei Aischlyos und Sophokles zeichnet die Tyche aus, dass sie einer Formulierung von Meuss zufolge „nirgends selbständig entscheidend in die Geschicke der Sterblichen“263 eingreift; erst bei Euripides tritt, wie wir in unseren Bemerkungen über Tyche in der attischen Tragödie im zweiten Abschnitt dieses Kapitels sahen, die wie auch immer aufgefasste Tyche vielfach „mehr oder weniger selbstständig neben die Götter“264 . In einem deutlichem Gegensatz zu dieser klassischen Auffassung zeichnet die Göttin Tyche ab dem vierten Jahrhundert und im Zeitalter des Hellenismus dann aus, dass sie sich „allmählich von den Göttern emanzipiert: sie wirkt neben oder gar über ihnen.“265 Die Tyche reüs258 259

260 261 262 263 264 265

Attilio Roveri, „Tyche bei Polybios“, in: Klaus Stiewe (Hg.), Polybios, Darmstadt 1982, S. 316. Hans Strohm, Tyche. Zur Schicksalsauffassung bei Pindar und den frühgriechischen Denkern, a.a.O., S. 99. Ebd., S. 31. Ebd., S. 99. Ebd., S. 33. Heinrich Meuss, Tyche bei den attischen Tragikern, a.a.O., S. 7. Ebd., S. 14. Hans Herter, „Tyche“ (1962), in: Kleine Schriften, herausgegeben von Ernst Vogt, a.a.O., S. 80.

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siert als autarke Göttin, und als solche ist sie nicht mehr eingebunden in das Regiment der olympischen Götterwelt und an die Direktiven dieses Regiments gebunden. „Tyche ist, hellenistischem Glauben entsprechend, die eigentliche ‚Herrin‘ […], der Einzelmenschen, Heere und Staaten erliegen […]. Im 2. Jahrhundert nach Christus war der Glaube an Tyches Allmacht zur communis opinio geworden“266 . Buriks spricht diesbezüglich von einer „transition from the tied to the untied tyche“267 . Mit diesem ersten Aspekt des Bedeutungswandels der Tyche, der Tatsache, dass die Tyche im Zeitalter des Hellenismus als autark und „Macht von selbständiger Gültigkeit“ und gerade nicht als „Aktionsart der göttlichen Macht“ aufgefasst wird, hängt nun ein zweiter Aspekt eng zusammen, nämlich die Tatsache, dass diese autarke Göttin Tyche eindeutig als göttliche Repräsentation des Zufalls oder tatsächlich als Göttin des Zufalls begriffen wird, als eine Göttin, deren Wirken keinem anderen Gesetz als ebenjenem Zufall Folge leistet. Wir sahen im zweiten Abschnitt dieses Kapitels, dass bei Aischlyos und Sophokles die Tyche, wiewohl an einigen wenigen Stellen durchaus als Göttin, gerade nicht als Göttin eines willkürlichen und irrationalen Zufalls aufgefasst wurde, obwohl sie sich in ihrer Wirkung dem Menschen genau so präsentieren mochte. Und mochte sich Pindar auch, wie wir sahen, von der theoretischen Unzugänglichkeit und praktischen Unverfügbarkeit der Göttin Tyche überzeugt zeigen, insofern er doch die Tyche stets als Akteur im Verbund mit der olympischen Götterwelt begriff, so konnte er doch ihr Wirken niemals als dem Zufall Folge leistend betrachten. Tyche gilt dem Pindar so wie noch dem Menander durchaus als Göttin, aber eben gerade im Unterschied zu Menander nicht als eine Göttin des Zufalls, sondern als ein ganz spezifischer Wirkungstyp des göttlichen Wirkens, als eben jener, der sich aus menschlicher Perspektive als undurchschaubarer Zufall darstellt, dieser Zufall aber nicht ist.268 „Tyche ist nicht objektiv blind, weil der Mensch ihr Wirkungsgesetz nicht durchschaut“269 , so bringt Strohm Pindars Verständnis der Tyche auf den Punkt. Lehrs fasst Pindars Thematisierung der Tyche mit den Worten zusammen, einer derartigen Thematisierung wäre nichts fremder und befremdlicher erschienen „als der Gedanke, jeder Mensch sei seines Glückes Schmidt“, und folglich konnte Pindar den „götterlosen, gottlosen Zufall wohl nicht denken“270 . Anders stellt sich dies dar ab dem Ende des vierten Jahrhunderts, da die Macht der Göttin Tyche nicht nur, wie sich dies schon für Pindar zeigen ließ, begriffen wurde als eine göttliche Instanz von erheblicher Relevanz für die alltäglichen Geschicke des Menschen, als theoretisch unberechenbar, als praktisch unverfügbar und letztlich doch dem Menschen wohlgesonnen, sondern auch als eine Macht, die nichts anderem als dem Zufall Folge leistet, wozu sie für befähigt gehalten wird, insofern sie autark handelt und 266

267

268

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270

Gertrud Herzog-Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1660 und 1668. Agatha Anna Buriks, „Summary“, in: ΠΕΡΙ ΤYXHΣ. De ontwikkeling van het begrip tyche tot aan de Romeinse tijd, hoofdzakelijk in de philosophie, a.a.O., S. 124. Vergleiche dazu meine Erläuterungen zu Pindars Verständnis von Tyche auf S. 99–101 in diesem Kapitel. Hans Strohm, Tyche. Zur Schicksalsauffassung bei Pindar und den frühgriechischen Denkern, a.a.O., S. 36. Karl Lehrs, „Tyche und Dämon“, in: Populäre Aufsätze aus dem Alterthum, a.a.O., S. 177.

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nicht von anderen göttlichen Instanzen abhängig ist. Im Unterschied zu der klassischen Auffassung der Göttin Tyche, wie wir sie im zweiten Abschnitt dieses Kapitels skizziert hatten, wird im Zeitalter des Hellenismus nun auch der Göttin Tyche in Religion, Kultur und Literatur, also in einem weiten geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext, explizit ebenjenes Attribut der Zufälligkeit zugeschrieben, welches für die Bedeutung des terminus technicus tyche im strengen Rahmen des philosophischen Diskurses ohnehin, wie wir sahen, schon früher und besonders deutlich bei Aristoteles konstitutiv war. Die beiden zuletzt erwähnten Aspekte der hellenistischen Auffassung der Göttin Tyche und der sie gedanklich miteinander verknüpfende Zusammenhang, die ganz entgegen unserer oben ermittelten Ähnlichkeiten des Tyche-Bildes der menandrischen Komödie mit der entsprechenden Auffassung Pindars, weitaus weniger für eine Kontinuität denn für eine Diskontinuität der hellenistischen Tyche zu ihrer klassischen Vorgängerin zu zeugen scheinen, lassen sich so zusammenfassen: Die Göttin Tyche ist in klassischer Zeit keine göttliche Instanz von autarker Dignität; daher repräsentiert sie, wie sehr sie sich auch dem praktischen Handeln und dem theoretischen Wissen des Einzelnen entziehen mag, im Unterschied zum philosophischen Terminus tyche auch nicht den Zufall oder handelt allein dem Zufall folgend. Im Zeitalter des Hellenismus wiederum ist genau dieses beides der Fall: Die Göttin Tyche repräsentiert den religiösen Gepflogenheiten und der kulturellen Stimmung der Zeit zufolge nun den Zufall – so wie ja schon der Terminus tyche in der Philosophie des Aristoteles zweifellos den Zufall bezeichnete, wenn auch nicht im Sinne einer göttlichen Instanz –, und sie folgt daher in ihrem Wirken auch keinem anderen Prinzip als dem Zufall. Insofern ist Tyche, die Göttin des Zufalls, auch nicht mehr an die Anweisungen einer olympischen Götterwelt gebunden, sie handelt nicht mehr als Dienstbotin einer göttlichen Ordnung oder in deren Auftrag, sondern autark. Ferdinand Rösiger registriert prägnant das Zusammenspiel dieser beiden Facetten einer Diskontinuität, welche die hellenistische Tyche vom geistigen Erbe klassischer Zeit trennt, wenn er formuliert: „Auch in früherer Zeit galt die Tyche als Schicksalsmacht, die sich besonders in dem Wechsel der irdischen Begebenheiten offenbarte, aber sie war doch nicht der reine, blinde Zufall, sondern ein Organ des Göttlichen, wenn schon ihr Walten oft unbegreiflich und dunkel erschien. Keineswegs fasste man den Lauf der Welt allein als ihr Werk.“271 Diese beiden Merkmale und Wesenszüge der hellenistischen Tyche – ihre Autarkie und die Charakterisierung ihrer Herrschaft als zufällig, Merkmale und Wesenszüge, die sich übrigens schon für Euripides’ Verwendung des Begriffs tyche in der Tragödie nachweisen ließen, freilich mit dem wesentlichen Unterschied, dass Euripides den Begriff tyche überhaupt nicht für die Bezeichnung eines wie auch immer zu charakterisierenden göttlichen Wesens verwenden wollte272 –, diese beiden Merkmale und Wesenszüge der hellenistischen Tyche hat auch Rohde in den Mittelpunkt seiner Bemerkungen über 271

272

Ferdinand Rösiger, Die Bedeutung der Tyche bei den späteren griechischen Historikern, besonders bei Demetrios von Phaleron, Konstanz 1880, S. 3. Vergleiche hierzu meine Bemerkungen zu Euripides im Anschluss an Meuss’ Studie im zweiten Abschnitt dieses Kapitels, Seite 98.

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die hellenistische Komödie und deren Verständnis der Tyche gestellt. Die Komödiendichter jener Zeit reden, so Rohde, „von der Gewalt der Tyche, der blinden unseligen Herrin der Welt“ und ihrer vernunftlosen, „nur am ruhelosen Wechsel“273 sich belustigenden Willkür. Diese „Gottheit des Zufalls“274 ist aber zugleich „von der Oberleitung der Götter losgebunden“, herrscht „nicht nur über die Menschen, sondern selbst über die Götter“275 . Man blicke zur Illustration der bislang beschriebenen Diskontinuität zwischen hellenistischer und klassischer Tyche noch einmal auf die Komödien des Menander zurück. Bei aller bemerkenswerten Eintracht, die, wie wir sahen, zwischen Menander und Pindar bezüglich der charakterlichen Merkmale der Göttin Tyche besteht, hinsichtlich ihrer praktischen Unverfügbarkeit und theoretischen Unzugänglichkeit, ihrer alltäglichen Relevanz, ihrer wohlgesonnenen Art und ihres göttlichen Status, agiert die Göttin Tyche bei Menander doch als autarke Instanz und ohne anderweitige göttliche Anweisung. Und in diesem ihren autarken Handeln folgt sie keinem anderen Prinzip als dem Zufall, und daher ist sie der Zufall, der sich nicht mehr in eine übergeordnete göttliche Fügung oder Ordnung auflöst, auch wenn sich die Göttin Tyche am Ende von Menanders Komödien doch stets als dem Menschen wohlgesonnen erweist. Es ist die Tyche, es ist nichts als der pure Zufall, welcher den Menschenfeind Knemon schließlich in den Brunnen stürzen lässt, kein der Tyche übergeordnetes Regiment von anderen Göttern, so wie dies für das Schicksal des Ergoteles von Himera Pindars besprochene Ode noch ausdrücklich behaupten zu können gemeint hatte. Es gilt den dritten Aspekt jenes Bedeutungswandels zu registrieren, welcher von einer Diskontinuität zwischen hellenistischer Tyche und klassischer Tyche zeugt, der nun freilich im Unterschied zu dessen beiden bislang genannten Facetten, nicht das Verhältnis der Tyche zu den anderen Göttern oder dem Zufall betrifft, sondern das Verhältnis zwischen Tyche und dem mit dieser Tyche rechnenden Menschen: Im Gegensatz zu einer Göttin, die im Verbunde mit der olympischen Götterwelt und insofern alles andere als autark und zufällig agiert, dabei aber theoretisch unzugänglich sowie praktisch unverfügbar ist, wie noch bei Pindar, im Gegensatz zu einer „Allmacht und Unbesiegbarkeit“276 der Tyche, wie in der griechischen Tragödie, im Gegensatz auch zu einer Zufallsgöttin, die zwar nun autark handelt und dabei doch ebenso wie ihre Vorgängerin theoretisch wie praktisch unverfügbar bleibt, wie noch bei Menander, formt sich in Kultur und Denken des Hellenismus, wenn auch nicht ausschließlich, so zumindest doch in zunehmendem Maße auch ein Bild der Göttin Tyche als einer durch menschliches Handeln zu beeinflussenden Göttin, die je nach der Qualität dieses menschlichen Handelns, dessen theoretischer Voraussicht und dessen praktischer Entschlossenheit, dem Menschen Glück und Leid in ganz unterschiedlichem Maße bereithält. Folglich gewinnt in hellenistischer Zeit bezüglich des menschlichen Umgangs mit der autarken Zufallsgöttin Tyche 273 274 275 276

Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, a.a.O., S. 301. Ebd., S. 296. Ebd., S. 301. Vergleiche dazu die sich auf die griechische Tragödie beziehende Bemerkung von Herzog-Hauser in Anmerkung 96 auf Seite 101 dieses Kapitels.

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sowohl die Diagnose, dass die Menschen das Wirken der Tyche durchaus beeinflussen können, als auch die praktische Maxime, dass die Menschen genau dies tun sollen, zunehmend an Bedeutung. Das Wirken der Göttin Tyche gilt nunmehr, wenn auch nicht ausschließlich, so doch zumindest zunehmend in praktischer Hinsicht keinesfalls als unverfügbar, sondern als durch menschliche Praxis zu steuern und zu lenken. Und insofern dabei als Gegenstand dieser Beeinflussung tatsächlich eine göttliche Instanz angesprochen ist, handelt es sich, da ja sowohl Aristoteles als auch Thukydides, wie sehr sich ihre jeweilige Einschätzung des Grades der praktischen Verfügbarkeit der tyche auch unterscheiden mochte277 , ihr jeweiliges programmatisches Plädoyer für eine bestimmte Form von Tychebewältigungspraxis nicht auf ein göttliches Wesen, sondern auf eine historiographische oder eine Kategorie der praktischen Philosophie bezogen hatten, tatsächlich um ein kultur- und ideengeschichtliches Novum. Dieser dritte Aspekt jenes Bedeutungswandels, den die Göttin Tyche in und ab der Zeit des Hellenismus durchlebt und welcher insofern den Eindruck einer Kontinuität zu ihrer Vorgängerin gleichen Namens schmälert, den Eindruck einer Diskontinuität zugleich verstärkt, lässt sich exemplarisch, wiewohl dabei nicht zu gänzlich eindeutigen Resultaten, sondern erneut zu ambivalenten und unentschiedenen Schlüssen führend, für das Genre der griechischen Geschichtsschreibung nachweisen, wobei freilich wiederum das Genre der Historiographie naturgemäß vor allem die historische und historiographische Relevanz oder Irrelevanz des Zufalls interessiert, weshalb wiederum mitunter gar nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob hier nun von tyche in einem gleichsam thukydideischen Sinne oder von Tyche im Sinne einer religiösen Instanz die Rede ist. Schon Thukydides hatte den Begriff tyche, den er ja als historiographische Residualkategorie verstanden wissen wollte, hinsichtlich seiner praktischen Konsequenzen allenfalls als eine Art Stimulus für jenes Handeln gedeutet, welches die praktische Verfügung über die immanenten Resultate seines Handelns doch stets in unbegrenzter Weise in der Hand behalte. Mit dieser Auffassung distanzierte sich Thukydides, wie wir im zweiten Abschnitt des Kapitels sehen konnten, von den gängigen Topoi des Denkens seiner Zeit zumindest in Dichtung und Tragödie und formulierte so noch vor Aristoteles eine Form von Tychebewältigungspraxis, welche in prinzipiell unbeschränkter Weise alle Konsequenzen der auf das Treiben der tyche zurückgehenden Widerfahrnisse bewältigen zu können glaubte, mithin eine Tychebewältigungspraxis, die des von Aristoteles formulierten Eingeständnisses einer doch zumindest partiell stets unhintergehbaren praktischen Unverfügbarkeit der tyche entbehrte. Jahrhunderte später, in der Zeit des Hellenismus, tritt nun tyche bei dem griechischen Historiker Polybios auf, und auch für ihn sollten wir wie für Thukydides den Begriff tyche stets mit einer Minuskel versehen. Es spricht dabei für die erwähnte Ambivalenz des dritten Aspekts des in Frage stehenden Bedeutungswandels der hellenistischen Tyche, dass Polybios’ Ansichten, was den menschlichen Umgang mit tyche angeht, zwischen der Akzeptanz einer vermeintlich unverfügbaren Tyche, wie sie sich von Pindar 277

Vergleiche zu Aristoteles’ gleichsam balancierter Auffassung die Interpretation von Martha Nussbaum auf S. 127 f. in diesem Kapitel; zu Thukydides’ Präsumtion einer gänzlich unbegrenzten Verfügbarkeit der tyche vergleiche meine Ausführungen auf S. 104–108 in diesem Kapitel.

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bis Menander für die griechische Literatur nachweisen lässt, und dem Gedanken einer praktischen Verfügbarkeit von tyche, wie er in balancierter Weise von Aristoteles für das Gebiet der praktischen Philosophie und in grenzenloser Weise von Thukydides für das Gebiet der Historiographie bereits formuliert worden war, auffallend changieren: Zum einen erscheint tyche bei Polybios als Erkenntnisdefizit, als „testimonium paupertatis“ (Windelband), welches eine pragmatische, an der neutralen Schilderung der historischen Fakten orientierte Geschichtsschreibung möglichst zu vermeiden sich bemühen soll.278 Zum anderen wird tyche von Polybios als ein Geschehenszusammenhang präsentiert, den zumindest in einem gewissen Umfang und unter der Voraussetzung nicht nachlassender Beharrlichkeit menschliches Handeln und kluge Voraussicht stets oder doch zumindest weitgehend zu beeinflussen in der Lage sind: „Dass ein Mensch Glück hat, ist möglich, dass man durchgängig Glück hat, unmöglich.“279 Freilich äußert sich Polybios an anderen Stellen seines Werkes doch wiederum in einer ganz andersartigen Weise, in einer Weise nämlich, welche tyche als eine Instanz beschreibt, die dem Menschen gerade nicht restlos praktisch verfügbar und theoretisch zugänglich ist, und in dieser Instanz gerade das unaufhebbare irrationale Moment der menschlichen Geschichte erblickt: „So pflegt wohl immer die Tyche in den wichtigs-

278

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Vergleiche dazu die folgende Passage: „Da ich mich mit denen, die das Weltgeschehen im ganzen und die Unglücksfälle, die einzelne treffen, der Tyche und dem Schicksal zuschreiben, nicht einverstanden erklären kann, will ich jetzt meine Auffassung zu dieser Frage darlegen, soweit das ein pragmatisches Geschichtswerk zulässt. Sicher, alles, wovon es für uns Menschen unmöglich oder doch schwierig ist, die Ursachen zu erfassen, das kann man vielleicht in seiner Unwissenheit auf Gott oder die Tyche zurückführen, zum Beispiel besonders heftige und anhaltende Regengüsse und Schneefälle, oder umgekehrt Trockenheit und Frost, die zu Missernten führen, ebenso langandauernde Seuchen und anderes Ähnliches mehr, wofür es schwer ist, die Ursache zu ergründen. Es ist daher verständlich, wenn wir deswegen, in solcher Ratlosigkeit uns dem Volksglauben verschreibend, die Gottheit durch Gebete und Opfer zu versöhnen suchen und die Orakel befragen, was wir sagen und tun müssen, damit das Unglück, das uns getroffen hat, weicht und eine Wendung zum Besseren eintritt. Dort aber, wo es durchaus unmöglich ist, die Ursache herauszufinden, aus der und derentwegen geschehen ist, was geschah, dürfen wir meines Erachtens die betreffenden Ereignisse nicht auf die Gottheit zurückführen.“ Ich zitiere nach Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, Zürich/Stuttgart 1963, S. 1301 f. Im Anschluss an die zitierte Passage führt Polybios exemplarisch aus, dass etwa die aktuelle Kinderlosigkeit Griechenlands auf gänzlich natürliche Ursachen zurückzuführen sei, und mit entsprechend natürlichen Maßnahmen, so folgert er, könnte dieses Übel auch behoben werden. In diesem Sinne argumentiert auch die folgende Bemerkung von Polybios: „Denn wer entweder aus Mangel an Gaben des Verstandes oder an Erfahrung oder aus geistiger Trägheit die Situationen, die Gründe und Motive in jedem Fall nicht klar zu erkennen vermag, führt Erfolge, die ein scharfer Intellekt mit kluger Berechnung und Voraussicht erringt, auf die Götter und die Tyche zurück.“ Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Erster Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, Zürich/Stuttgart 1961, S. 693 f. Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, a.a.O., S. 1089.

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T – D  W  Z

ten Dingen wider alle Berechnung zu entscheiden.“280 Insgesamt aber, so lässt sich konstatieren, ist der Gedanke der praktischen Verfügbarkeit der tyche durch menschliche Einsicht und Umsicht wohl auch für Polybios wesentlich oder doch zumindest für sein Denken prägender als die gegenteilige Ansicht, und insofern teilt Polybios eine Sichtweise, die bereits Thukydides und Aristoteles in freilich deutlich unterschiedlicher Nuancierung vor ihm vertreten hatten. Tyche gilt Polybios letztlich als eine historiographisch verwertbare und nicht weiter aufzulösende Residualkategorie, nicht als die 280

Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Erster Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, a.a.O., S. 183. Oder auch folgende Stelle: „Denn die Tyche ist imstande, alle berechtigten Erwartungen wie durch einen Blitz aus heiterem Himmel zunichte zu machen, und wenn sie jemanden begünstigt und ihre Gewichte auf die Waagschale seines Schicksals gelegt hat, dann, als käme ihr die Reue, sofort das Zünglein zurückschnellen zu lassen und das Glück in einen Scherbenhaufen zu verwandeln.“ Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, a.a.O., S. 1170. Zu Polybios’ insgesamt ambivalenter Einschätzung der tyche vergleiche auch die Bemerkung von Rösiger: „So sehr er auf einer Seite Front macht gegen die schwächliche Neigung seiner Zeit, gedankenlos und in dumpfer Resignation die Fügung der Begebenheiten mit τύχη zu erklären, z. B. (I. 63.9) die Ueberlegenheit der römischen Waffen, so steckt er andrerseits selbst im Banne der Denkweise vieler seiner Zeitgenossen.“ Ferdinand Rösiger, Die Bedeutung der Tyche bei den späteren griechischen Historikern, besonders bei Demetrios von Phaleron, a.a.O., S. 7. Die Passage, auf die Rösiger hier anspielt, ist jene, in der Polybios die These formuliert, „dass die Römer nicht, wie manche Griechen glauben, durch das Glück oder den blinden Zufall, sondern dass sie mit gutem Grunde und durchaus folgerichtig“ den Sieg über Karthago davongetragen hätten. Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Erster Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, a.a.O., S. 77. Herzog-Hauser führt die ins Auge stechenden Widersprüche und Inkonsistenzen von Polybios’ Sichtweise der tyche vor allem hinsichtlich des menschlichen Umgangs mit dieser „vielleicht auf die lange Abfassungszeit des Geschichtswerkes […] oder auf dessen Überarbeitung im stoischen Sinne“ zurück. Gertrud Herzog Hauser, „Artikel: Tyche“, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band VII A 2, herausgegeben von August Pauly, a.a.O., Sp. 1664. Im „Roscher“ heißt es zu Polybios’ tyche-Auffassung: „Es ist nämlich auffällig, dass τύχη bei ihm einmal die Leiterin einer planvollen Weltregierung ist, die die geschichtliche Entwicklung (Römerherrschaft!) einem bestimmten Ziele zuführt, an anderen Stellen hingegen wird ihr Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit vorgeworfen, und zwar ganz in der Art, wie wir sie aus den bis jetzt beigebrachten Beispielen anderer Autoren kennen gelernt haben.“ L. Ruhl, „Artikel: Tyche“, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Fünfter Band, herausgegeben von Wilhelm Roscher, Leipzig 1916–1924, Sp. 1323. Kajanto schreibt, dass Polybius trotz seiner theoretischen Destruktion der tyche in 36, 17, 1 ff. – er hat dabei jene längere Passage im Blick, in welcher Polybios die tyche als Erkenntnisdefizit beschrieb und die wir soeben in Anmerkung 278 erwähnten – .„in not a few passages“ von eben dieser tyche durchaus historiographischen Gebrauch mache, „even in contexts where the events are otherweise rationally explicable.“ Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 528.

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Repräsentantin einer göttlichen Ordnung und Vorsehung, und daher übertrumpft in seinen Schriften letztlich hinsichtlich der Frage des praktischen Umgangs mit einer solchen tyche das im Kontext historiographischer Erklärungsversuche entwickelte Plädoyer für eine Tychebewältigungspraxis, welche Polybios bei Thukydides für den Bereich der Historiographie in uneingeschränkter Radikalität und bei Aristoteles für den Bereich der praktischen Philosophie in der Form eines ausbalancierten Plädoyers für die niemals grenzenlose Macht einer situativ flexiblen und handlungsbezogenen Klugheit vorformuliert finden konnte, all jene anderen Passagen und Formulierungen, in denen auch Polybios die tyche als praktisch unverfügbar auftreten lässt. Rund zwei Jahrhunderte nach Polybios sind die im weitesten Sinne historischen Überzeugungen Plutarchs für eine Illustration dessen, wie ab der Zeit des Hellenismus und bis in die Zeit des frühen römischen Kaiserreichs hinein die Zuversicht immer stärker und stetiger zunahm, die Tyche – so denn überhaupt noch von einem griechischen Begriff, nicht ohnehin schon von der lateinischen Fortuna die Rede war – beeinflussen zu können, gut geeignet, auch wenn sich bei Plutarch diese Zuversicht keineswegs als immun erweist gegen die resignierende Akzeptanz einer theoretischen Unzugänglichkeit und praktischen Unverfügbarkeit der Tyche, sich also für Plutarch dieselbe Inkonsistenz nachweisen lässt, welche schon das polybianische Geschichtsverständnis prägt: In seiner Schrift ΠΕΡΙ TΥXHΣ bestreitet Plutarch vehement und explizit die Idee eines dem Menschen unverfügbaren oder gar omnipotenten Zufalls, der sich der Lenkung und Beeinflussung durch menschliche Umsicht und Einsicht entzöge. Menschliche Einsicht und Umsicht zeigten sich vielmehr stets imstande, den Zufall zu übertrumpfen, so lautet die entscheidende These Plutarchs in dieser kleinen Schrift, die ihn unter anderem zur Auseinandersetzung mit dem schon von Cicero in den Tusculanae Disputationes zitierten und viel diskutierten Satz des Theophrast Vitam regit fortuna, non sapientia281 drängt. Plutarchs Plädoyer für die Möglichkeit einer praktischen Verfügbarkeit des Zufalls zeigt sich deutlich in der folgenden Passage: „War es etwa bloß Zufall und Zufallsgunst, dass Aristides in seiner Armut beharrte trotz aller Möglichkeit sich ansehnlich zu bereichern, oder dass Scipio nach der Einnahme von Karthago sich weder irgend etwas von der Beute aneignete noch auch nur einen Blick darauf warf? War es Zufall, dass Philokrates das Gold, mit dem ihn Philipp bestochen, zum Handel mit Huren und Fischen verwendete, oder dass Lasthenes und Euthykrates Olynth preisgaben, Menschen, welche ihre Baucheslust und schamlosen Gelüste zum Maßstab ihrer Glückseligkeit machten? War es Zufall, dass Philipps Sohn Alexander gegenüber den Weibern nicht bloß selbst jeder Begehrlichkeit entsagte, sondern auch die Zudringlichen bestrafte, während Paris, des Priamus Sohn, getrieben von einem bösen Dämon und von des Schicksals Tücke mit dem Weibe seines

281

Vergleiche hierzu auch das siebte Kapitel dieser Arbeit Virtù vince fortuna. Zur Ideengeschichte eines Topos.

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T – D  W  Z Gastfreundes buhlte, sie entführte und dadurch beide Weltteile mit Krieg und Elend erfüllte?“282

All diese rhetorischen Fragen nach der praktischen Reichweite und Wirkungsmächtigkeit des Zufalls – wobei nie ganz eindeutig zu entscheiden ist, ob bei Plutarch von einer historiographischen Kategorie namens tyche oder von einer religiösen Instanz namens Tyche die Rede ist – beantworten sich für Plutarch wie von selbst. Sie zu bejahen, erschiene ihm als absurd. Ebenso könnte man dann „dreist behaupten, auch die Wiesel, Böcke und Affen seien nur aus Zufall an ihre Naschlust, ihre Geilheit und ihre possierlichen Mätzchen gebannt.“283 Die dem Menschen stets mögliche Beeinflussung des Zufalls, sie wird für Plutarch exemplarisch verkörpert durch die Tätigkeit der Handwerker, „bei denen es ersichtlich kein Gelingen von Ungefähr oder durch Zufall gibt. […] Durchweg bedient man sich da der Richtschnur, der Wage, des Maßstabes und der Zahlen, um jedem etwaigen Einfluss des Zufalls, des Geratewohls von dergleichen Werken auszuschließen.“284 Und sollte nicht, so fragt nun Plutarch weiter, was für die Künste und das Handwerk im Einzelnen gilt, auch für die menschliche Praxis schlechthin und bezüglich der für ihr Gedeihen notwendigen Unternehmungen zutreffend sein? „Es befeuchtet doch niemand die Erde mit Wasser und überlässt sie dann ruhig sich selbst und der Erwartung, dass der Zufall oder das Ungefähr daraus Ziegeln machen werde; niemand kauft Wolle oder Leder und legt dann die Hände in den Schoß mit dem Gebet an den Zufall, ihm daraus Kleider- und Schuhwerk werden zu lassen.“285 Freilich zeugt auch Plutarchs Auseinandersetzung mit dem Zufall davon, dass die gesamte hellenistische und post-aristotelische Geschichte des Zufallsbegriffs, sei’s dass von der historiographischen Kategorie tyche, sei’s dass von einer Göttin des Zufalls namens Tyche die Rede ist, gerade hinsichtlich der Frage der praktischen Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit von tyche oder Tyche kein einheitliches Bild ergibt, die diesbezüglich relevanten Ansichten vielmehr zwischen einer Behauptung der praktischen Unverfügbarkeit allen Zufalls und der wie auch immer modifizierten Wiederaufnahme eines thukydideischen und aristotelischen Plädoyers für eine bestimmte Form von Tychebewältigungspraxis unentschieden schwanken, sich die erwähnte dritte Facette des Bedeutungswandels der klassischen Tyche – im Unterschied zu den beiden erstgenannten – ab dem Zeitalter des Hellenismus also nicht durchgängig diagnostizieren und behaupten lässt. Wir stellten diese Ambivalenz bereits für die geschichtstheoretischen Schriften des Polybios fest. Aber diese Ambivalenz eignet eben auch den moralischen Schriften und moralistischen Maximen des Plutarch, zumal, wenn wir nun neben der genannten Schrift ΠΕΡΙ TΥXHΣ und dem darin formulierten Glauben an die praktische Verfügbar282

283 284 285

Plutarch, „Vom Zufall“, in: Moralische Schriften. Zweites Bändchen, herausgegeben von Otto Apelt, Leipzig 1926, S. 125 f. Ebd., S. 126. Ebd., S. 129 f. Ebd., S. 131.

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keit einer in der Geschichte wirksamen Tyche durch menschliche Einsicht und Umsicht auch noch das Fragment ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΡΩΜΑΙΩΝ ΤΥΧΗΣ286 berücksichtigen, von dem bedauerlicherweise nur der erste Teil287 erhalten ist und in welchem Plutarch jene Aspekte des Aufstiegs des römischen Weltreichs beleuchtet, die er tatsächlich auf die Tyche zurückführen zu können glaubt, während die Aspekte, die auf arete, also auf Tugendhaftigkeit, zurückzuführen sind, nicht eingehender behandelt werden.288 Schon die Geburt der beiden Gründer Roms, ihr Überleben, ihre Ernährung durch eine Wölfin, dies alles sei, so schreibt Plutarch in ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΡΩΜΑΙΩΝ ΤΥΧΗΣ, nur der Gunst von Tyche zu danken. Insofern muss aber auch unklar bleiben, wie Plutarch seine Sichtweise des Aufstiegs des römischen Weltreichs in diesem Fragment mit seiner in der Schrift ΠΕΡΙ TΥXHΣ vertretenen These vereinen zu können glaubt, wonach es eben gerade kein Zufall war, „dass Scipio nach der Einnahme von Karthago sich weder irgend etwas von der Beute aneignete noch auch nur einen Blick darauf warf“. Der Eindruck, dass in der Zeit des Hellenismus und dann auch in der römischen Zeit gerade keine eindeutige Empfehlung hinsichtlich des menschlichen Umgangs mit der Tyche formuliert wurde, vielmehr die Kultur und das Denken jener Zeit in unentschiedener Weise schwanken zwischen der Behauptung einer praktischen Unverfügbarkeit und theoretischen Unzugänglichkeit der tyche oder der Tyche, wie sie Pindar, die Tragödie und auch die Komödien Menanders unterstellt hatten, und einer wie auch immer modifizierten Wiederaufnahme des thukydideisch oder aristotelisch beeinflussten Plädoyers für eine bestimmte Form von Tychebewältigungspraxis, sei’s im Kontext des historiographischen Genres, sei’s im Kontext moralistischer Lebensmaximen formuliert, der Eindruck, dass die von Demokrit formulierte Maxime, wonach „das meiste […] im Leben ein

286

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Vergleiche dazu Plutarch, ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΡΩΜΑΙΩΝ ΤΥΧΗΣ, in: W. Nachstädt u. a. (Hg.), Plutarchi Moralia, Vol. II, Leipzig 1935, S. 43–74. Vergleiche zu der sich aus diesem Verlust ergebenden Einseitigkeit des überlieferten Textes die Bemerkung von Kajanto: „The problem of the success of Rome, whether it was due more to tyche than to arete, was debated by the Greeks also during the Empire, witness an early rhetorical essay by Plutarch, ‚De fortuna Romanorum‘. Unfortunately only the first part, in which the claims of tyche are set forth, has come down to us. According to Plutarch, the rescue of the twins which made the founding of Rome possible, the external peace prevailing during the reign of Numa, the fact that Hannibal received no help from home, that Antioch kept peace while Philip was warring with the Romans, and vice versa, that the Cimbri and the Teutones did not come simultaneously and with joined forces, the saving of the Capitol by the cry of the geese, and finally the death of Alexander before the proposed expedition to Italy, were all due to tyche. It is likely that the claims of arete were discussed in the lost part of the work and that Plutarch finally made a synthesis of the two sets of claims“. Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 535. Gemäß der Encyclopaedia of Religion and Ethics besteht das zentrale Thema von Plutarchs De fortuna Romanorum in der Behandlung der Frage,, „whether the greatness of Rome was due more to Fortuna or to Virtus, and the author concludes that it is due to both, but chiefly to Fortuna.“ W. Warde Fowler, „Artikel: Fortune (Roman)“, in: James Hastings (Hg.), Encyclopaedia of Religion and Ethics, Volume 6, a.a.O., S. 102.

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wohlverständiger Scharfblick ins Grade“289 richte, die Menschen ihr Unglück oder Glück also selbst zu verantworten hätten, seinerzeit zwar durchaus zunehmende kulturelle und intellektuelle Verbreitung findet, aber eben immer wieder auch angesichts der weiterhin postulierten „Allmacht und Unbesiegbarkeit“290 der Tyche in Frage gestellt wird, insofern also die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität der hellenistischen Tyche zu ihrer Vorgängerin der klassischen Zeit insbesondere bezüglich der Frage nach den praktischen Möglichkeiten der Beeinflussung der Tyche nicht eindeutig und endgültig zu entscheiden ist –, dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn wir eine weitere historiographische Stimme der Zeit zu Wort kommen lassen, jene des Demetrios von Phaleron, die Stimme eines Autors mithin, welcher zu seinen Lebzeiten den unerwarteten Untergang des Perserreiches ebenso wie den Aufstieg des makedonischen Weltreiches überblicken konnte, dem mithin die Geschichte seiner Gegenwart, wie Rohde schreibt, eine Fülle von Beispielen bot, „um das Spiel der ‚unzuverlässigen und alles gegen unsere vernünftige Erwartung umändernden, in unerwarteten Streichen ihre Macht prahlend dartuenden‘ Göttin zu illustrieren“291 . Polybios berichtet im 29. Buch seiner Geschichte von einer Schrift des Demetrios von Phaleron, einer „Schrift über die Tyche“292 , die nur als Fragment erhalten geblieben sei.293 Polybios stellt die Schrift des Demetrios mit den Worten vor: „Um in seiner Schrift über die Tyche den Menschen ihre Unzuverlässigkeit und Wankelmütigkeit eindrücklich klarzumachen, weist er auf die Zeit Alexanders, die Vernichtung des Kaiserreiches hin“294 . Sodann paraphrasiert er die in dieser Schrift formulierte Auffassung des Verhältnisses von menschlichem Vermögen und Tyche: „Wenn ihr euch, nicht etwa viele Generationen, geschweige denn die unendliche Zeit, nein, nur diese letzten fünfzig Jahre vor Augen haltet, dann könnt ihr die gefährliche Macht der Tyche erkennen. Hätte vor fünfzig Jahren ein Gott den Persern oder dem König der Perser, den Makedonen oder dem König der Makedonen die Zukunft geweissagt, meint ihr, sie hätten geglaubt, dass heute nicht einmal der Name der Perser bleiben würde, die doch damals fast die ganze bewohnte Erde beherrschten, und dass die Makedonen, deren Name damals ganz unbekannt war, sich ihres ganzen Reiches bemächtigen würden? Aber die Tyche, die mit uns Sterblichen niemals einen ewigen Bund zu flechten gedenkt, die durch immer neue, überraschende Wendungen alle unsere Berechnungen 289 290

291 292

293

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Vergleiche hierzu Anmerkung 31 in diesem Kapitel, S. 79. Vergleiche hierzu Herzog-Hausers auf die Tyche-Auffassung der griechischen Tragödie bezogene Bemerkung in Anmerkung 96 auf S. 101 in diesem Kapitel. Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, a.a.O., S. 300. Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, a.a.O., S. 1169. Karl Löwith verweist auf diese Schrift in seinem Aufsatz „Vom Sinn der Geschichte“, indem er ihr bezeichnenderweise den nicht ganz zutreffenden Titel „Über das Schicksal“ verleiht. Vergleiche dazu Karl Löwith, „Vom Sinn der Geschichte“, in: Leonhard Reinisch (Hg.), Der Sinn der Geschichte, München 1961, S. 39. Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, a.a.O., S. 1169.

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zuschaden werden lässt und ihre Macht im Unerwartet-Widersinnigen kundtut, will auch jetzt, wie mir scheint, allen Menschen zeigen, indem sie die Makedonen an die reichen Tische der Perser gesetzt hat, dass sie auch diesen all das Gute nur geliehen hat, bis sie etwas anderes über sie beschließt.“295 Nach dieser Paraphrasierung von Demetrios’ Schrift über die Tyche formuliert nun wiederum Polybios, für dessen Geschichtstheorie insgesamt wir doch das Überwiegen der Überzeugung von einer praktischen Verfügbarkeit von tyche diagnostiziert hatten, dass er, der nun in seiner eigenen Zeit und in seinem eigenen historiographischen Werk justament in ebenjener Epoche angelangt sei, da er den Untergang des makedonischen Weltreichs überblicken und kommentieren könne, den Demetrios zu seiner Zeit nur hatte ahnen können, die historiographischen Prämissen und Einsichten des Demetrios nicht genügend loben könne: „Denn fast hundertfünfzig Jahre vorher hat er die späteren Ereignisse vorausgesagt.“296 Gerade für die Frage nach dem menschlichen Umgang mit dem Zufall, sei’s in Gestalt der Göttin Tyche, sei’s in Gestalt des philosophisch oder historiographisch reüssierenden terminus technicus tyche, ergibt sich für die Zeit des Hellenismus somit ein ambivalentes Bild. Schon die Formulierungen des Polybios, so sahen wir, formieren sich in dieser Hinsicht zu keinem eindeutigen Bild. Auch wissen wir nicht, wie Plutarch schließlich das Verhältnis von tyche und arete gewertet hätte, wenn uns seine Schrift ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΡΩΜΑΙΩΝ ΤΥΧΗΣ vollständig erhalten geblieben wäre. Hinsichtlich dieses einen zuletzt diskutierten Merkmals, der Frage also, ob die Göttin Tyche oder eben auch die historiographische Kategorie tyche durch kluges menschliches Handeln zu beeinflussen oder ob sie praktisch unverfügbar und theoretisch unzugänglich seien, lassen sich mithin für die hellenistische Tyche im Vergleich zu ihrer Vorgängerin aus klassischer Zeit ebenso Kontinuität wie Diskontinuität registrieren, wiederholt sich also bezüglich nur eines ihrer Aspekte und Charakteristika ebenjene grundsätzliche Ambivalenz, die sich bereits für den Merkmale von Kontinuität wie Diskontinuität insgesamt vermengenden Bedeutungswandel der Auffassung der Göttin Tyche in der Zeit des Hellenismus als konstitutiv erwiesen hatte. Und dieses im ganzen uneinheitliche Bild wird übrigens auch noch das post-hellenistische Schicksal der Göttin Tyche in Gestalt der römischen Fortuna und die römische Thematisierung des menschlichen Umgangs mit dieser Fortuna in unhintergehbarer Weise prägen.297 In jedem Falle findet sich im Zeitalter des Hellenismus, wenn eben auch nicht ausschließlich, für den praktischen Umgang mit der Göttin Tyche jener Topos formuliert, welchen Aristoteles bereits für den menschlichen Umgang mit der philosophischen Kate295 296

297

Ebd., S. 1169 f. Ebd., S. 1170. Vergleiche dazu auch die Studie von Agatha Anna Buriks, die bei Demetrios eine Geschichtsphilosophie formuliert sieht, „according to which the course of events entirely depends on tyche. This conception was much applauded, i.a. by Polybius, though the latter in his after years accepted the stoic teleology.“ Agatha Anna Buriks, „Summary“, in: ΠΕΡΙ ΤYXHΣ. De ontwikkeling van het begrip tyche tot aan de Romeinse tijd, hoofdzakelijk in de philosophie, a.a.O., S. 128. Vergleiche hierzu auch das siebte Kapitel dieser Arbeit Virtù vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos.

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gorie tyche für den Bereich der praktischen Philosophie und Thukydides für den Umgang mit der historischen Kategorie tyche für den Bereich der Historiographie entwickelt hatten, der Topos, ein bestimmtes, flexibel auf Situationen und Handlungshemmnisse reagierendes menschliches Vermögen, sei durchaus in der Lage, durch die „Mühe der Überlegung“, pros ton kairon, Tyche entweder graduell oder vollständig zu beeinflussen, obgleich diesem Topos für die Zeit des Hellenismus doch niemals eine alleinige kulturelle und intellektuelle Vorherrschaft attestiert werden darf. Die aristotelische Überzeugung von einer, wenn auch nicht vollständigen, so doch immerhin graduellen praktischen Verfügbarkeit des Zufalls namens tyche und die thukydideische Überzeugung von einer unbegrenzten praktischen Verfügbarkeit des Zufalls namens tyche finden seinerzeit auch für den Umgang mit einer als göttliches Wesen verstandenen Tyche zunehmend kulturelle und intellektuelle Resonanz, wenn auch die seit Pindars Zeiten formulierte, ehedem herrschende Überzeugung von der theoretischen Unzugänglichkeit und praktischen Unverfügbarkeit der Tyche keinesfalls ausstirbt, wie der Verweis auf Menanders Komödien ebenso wie auf die diesbezüglich auffallende Ambivalenz der hellenistischen Geschichtsschreibung zu zeigen vermag. Freilich wird es insbesondere der Topos eines dem menschlichen Vermögen – wie auch immer dieses zu bestimmen sei – prinzipiell verfügbaren Zufalls sein, der dann, wie wir im letzten Kapitel dieser Arbeit noch ausführlich sehen werden, in lateinischer Sprache ausgebildet den römischen Umgang mit der Fortuna nachhaltig prägen und der in der italienischen Renaissance seine nachhaltige ideengeschichtliche Wirkung im Zuge der Konjunktur der Maxime „virtù vince fortuna“ unter Beweis stellen wird. Ohnehin haben unsere Ausführungen in diesem Kapitel über tyche und Tyche spätestens mit der Erwähnung von Autoren wie Polybios oder Plutarch ein Zeitalter betreten, in welchem weniger die griechische, sondern vor allem die lateinische Sprache die abendländische Kultur bestimmt. Fortuna tritt nun an die Stelle der Tyche, virtus an die Stelle der arete. Insofern hat sich jede nicht mehr nur post-aristotelische, sondern auch post-hellenistische Untersuchung der Wurzeln des Zufallsbegriffs sicherlich auf die dem Zufall geltenden Begriffe der lateinischen Sprache zu konzentrieren. Diese Beobachtung bestätigt am Ende dieses Kapitels noch einmal nachträglich die dieses Kapitel einleitende Feststellung, dass es nicht eine Begriffsgeschichte des Zufalls geben kann, sondern immer nur viele. Der nächste entscheidende Schritt der Begriffsgeschichte des Zufalls, welche wir mit diesem Kapitel begonnen haben, jener Begriffsgeschichte nämlich, welche vom griechischen Terminus tyche ausgeht, bestünde also in der Klärung der Frage, inwiefern und mit welchen Begriffen das Denken der Römer den Zufall thematisiert. Und so wie jede Form des Vergleichs zwischen der Tyche des Hellenismus und der Tyche der klassischen Zeit die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität zwingend nahelegte, so würde sich nun auch in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Verhältnis von griechischer Tyche und römischer Fortuna stellen. Dabei hätte ein solches Projekt sein Erkenntnisinteresse von vornherein so zu formulieren, dass der Eindruck vermieden würde, es ließen sich zwei kulturell und zeitlich säuberlich voneinander getrennte Phänomene gegenüberstellen, hier die griechische Tyche, dort die römische Fortuna, dürfte es sich doch vielmehr um ein gleichzeitiges und synkretistisches Nebeneinander von Tyche und Fortuna im Sinne einer kulturellen und geistigen Fusion handeln:

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„Tyche was readily fused with the Roman fertility goddess Fortuna, and in the Roman West the two became virtually snynonymous. […] Temples to Fortuna proliferated in Rome and the western empire, while temples to Tyche were erected in the Greek and Graeco-Roman East.“298 Immerhin lässt diese hier angedeutete Tatsache einer engen geistigen und kulturellen Fusion von Tyche und Fortuna erwarten, dass eine Geschichte der römischen Fortuna und ihrer Repräsentation in der Literatur, der Philosophie, den bildenden Künsten und den Kulten der römischen Religion, in vielen Bereichen und in erheblichem Maße Kontinuität mit der griechischen oder doch zumindest der hellenistischen Tyche aufweisen können wird. Inwiefern diese Erwartung tatsächlich berechtigt ist, wie die Römer die Fortuna begreifen und wie vor allem das Verhältnis von virtus und Fortuna, diese Fragen werden wir jedoch nicht mehr in diesem Kapitel, sondern im Rahmen der Kontextualisierung des Renaissance-Topos „virtù vince fortuna“ im vorletzten Kapitel dieser Arbeit ausführlich behandeln.

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Susan Matheson, „The Goddess Tyche“, in: Susan Matheson (Hg.), An Obsession with Fortune. Tyche in Roman and Greek Art, a.a.O., S. 23. Bezüglich des Verhältnisses und des Übergangs von Tyche zu Fortuna schreibt Herzog-Hauser: „Der Synkretismus hatte die griechische und die römische Schicksalsgöttin zu einer einzigen Gestalt zusammenschmelzen lassen. Eigentlich kann man kaum mehr von ‚griechisch‘ und ‚römisch‘ sprechen“. Vergleiche hierzu Gertrud Herzog-Hauser, „Tyche und Fortuna“, in: Wiener Studien. Zeitschrift für klassische Philologie 63 (1948), S. 156.

III Welt, Natur, Geschichte: Drei Sphären von Kontingenz und Zufall

„Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen, und man lässt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorne: ‚Der Wachtmeister soll vorreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.“ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften Für einen immer auch systematisch ambitionierten Versuch der Präzisierung der Begriffe und Ideen von Kontingenz und Zufall, der freilich zunächst keinen anderen Weg als den einer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion beschreiten will, bietet sich auch ein gänzlich andersartiger Ansatz als jener, welcher in den bisherigen zwei Kapiteln verfolgt wurde. Statt nach den Begriffen von Kontingenz und Zufall und ihrer inhaltlichen und semantischen Bedeutung und Genese zu fragen, ließe sich ebenso nach dem diesen Begriffen stets zugeschriebenem Objekt oder Gegenstandsbereich fragen. Anstatt also zu fragen, was es denn einstmals hieß und heute noch heißen soll und heißen kann, wenn etwas als kontingent und zufällig bezeichnet wird, lässt sich auch danach fragen, was genau denn einstmals gemeint war oder heute gemeint sein kann, von dem gesagt wurde oder gesagt wird, dass es kontingent und zufällig sei. Anstatt der historischen Genese der Begriffe von Kontingenz und Zufall im Sinne ihrer Präzisierung nachzugehen, sollen daher in diesem dritten Kapitel der Gegenstandsbereich oder gerade die Gegenstandsbereiche der zugeschriebenen Zufälligkeit und Kontingenz ermittelt werden. Kontingenz und Zufall, sie interessieren uns nun, wie man vielleicht in Anlehnung an de Saussures Terminologie formulieren könnte, nicht mehr in ihrer Rolle als Signifikant. Vielmehr stehen die möglichen und historisch auch nachweisbaren „Signifikate“ der Begriffe von Kontingenz und Zufall im Mittelpunkt dieses Kapitels. Kurzum: Es geht im Folgenden um Sphären von Kontingenz und Zufall, wie man stilistisch vielleicht halbwegs akzeptabel formulieren könnte. Dabei lassen sich grob drei Sphären benennen, von denen immer wieder behauptet wurde und immer noch behauptet wird, sie seien durch Zufall und Kontingenz zumindest charakterisiert, wenn nicht gar in elementarer Weise bestimmt. Diese mögen im Folgenden Welt, Natur und Geschichte heißen. Für die Sphären von Welt, Natur und Geschichte soll gelten, so wurde und wird immer wieder formuliert, dass in ihnen Kon-

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tingenz und Zufall, wenn schon nicht regieren, so doch immerhin sich als nachweisbare Elemente oder Merkmale bestimmen lassen, wobei in ganz unterschiedlicher Weise und Intensität entweder sowohl von Kontingenz als auch von Zufall die Rede als auch nur von Kontingenz oder auch nur von Zufall explizit oder implizit die Rede sein kann. Insofern will ich in diesem gesamten dritten Kapitel und dann auch besonders im zweiten Teil dieser Arbeit, welcher sich bestimmten ideengeschichtlichen Skizzen widmet, gar nicht suggerieren, in der Ideengeschichte wäre stets und immer schon so schön säuberlich zwischen den Begriffen von Kontingenz im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nicht notwendigen Möglichen und Zufall im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nicht notwendigen Wirklichen getrennt worden, wie wir dies nachträglich nach all unseren begriffsgeschichtlichen Präzisierungsunternehmungen in systematischer Absicht, nach den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit also, zu tun in der Lage sind. Der im Rückblick vorgenommene und begriffsgeschichtlich verfahrende Präzisierungsversuch darf insofern nicht den Blick dafür verstellen, dass die Ideen und Begriffe von Kontingenz und Zufall in der Ideengeschichte immer wieder auf untrennbare Weise vermengt wurden, sodass ein Bewusstsein für jene analytischen Distinktionen und begrifflichen Präzisierungen, die wir allein ex post nachzuweisen in der Lage sind, in den dieser Arbeit zugrunde liegenden Primärquellen zunächst gar vorhanden ist. Das ändert nichts an der Gültigkeit dieser Distinktionen und Präzisierungen, entwertet aber ihre heuristische Relevanz sowohl für dieses als auch für alle weiteren Kapitel. Wir werden im Folgenden daher immer dann, wenn wir auf bestimmte Vertreter und Verfechter einer expliziten Verwendung der Begriffe von Kontingenz und Zufall oder eines impliziten Rekurses auf eine bestimmte Auffassung von Kontingenz und Zufall blicken, der Sprache der Quellen eine unbeschränkte Suprematie und einen methodischen Primat über unsere retrospektiv angefertigten begrifflichen Distinktionen und Subtilitäten, die doch allein einer präzisierenden Klärung in systematischer Absicht dienten, zugestehen. Zwar wird im Kontext der Schöpfungstheologie nicht von Zufall – oder allenfalls in einem eng umgrenzten Sinne1 – gesprochen, sehr wohl aber von contingens und contingentia und dies in einer für die schöpfungstheologische Thematik geradezu konstitutiven Weise. Denn in diesem schöpfungstheologischen Zusammenhang ist in der Tat von nichts weniger die Rede als von der contingentia mundi, der Kontingenz der Welt schlechthin. Gott habe, so wird im Kontext einer solchen Rede von der Kontingenz der Welt und der mit einer solchen Rede aufs Engste verknüpften schöpfungstheologischen Lehre einer creatio ex nihilo behauptet, die Welt gleichsam aus dem Nichts geschaffen, obgleich er dies nicht hätte tun müssen. Dass diese Welt überhaupt ist, dies ist für die christliche Schöpfungstheologie insofern weder notwendig noch unmöglich, auch nicht zufällig, wohl aber kontingent. So entsteht der Gedanke einer Kontingenz der Welt schlechthin. Dieser Gedanke, dass nicht nur womöglich dieser oder jener Sachverhalt in der Welt kontingent, sondern vielmehr eine Kontingenz der Welt schlechthin zu diagnostizieren sei, beruht, so wird im ersten Abschnitt dieses Kapitels zu zeigen sein, auf einem bestimmten möglichkeitsbegrifflichen Fundament, und er überdauert zudem, so wird in diesem ersten Abschnitt ebenfalls auszuführen sein, seine theologische Geburtsstunde, lebt sowohl im deutschen Idealismus fort, wobei dort auf das „Rätsel 1

Vergleiche zu der patristischen Diskussion des Zufalls das siebte Kapitel dieser Arbeit, S. 542–546.

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des Daß“ (Wetz) eben keine schöpfungstheologische Antwort mehr formuliert wird, sondern eine „vernunftphilosophische“ (Wetz)2 , als auch post-idealistisch in der nihilistischen Diagnose einer absoluten Grundlosigkeit der Faktizität der Welt, wobei diese Diagnose zu einer resignativen Attitüde wie zu einer existentialistischen Emphase gleichermaßen anregen kann (1). Die schöpfungstheologisch inspirierte und ambitionierte, später auch jenseits aller theologischen Tradition fortgeführte Rede von der contingentia mundi interessiert sich für den Begriff der Kontingenz nicht als eine modale Kategorie der Logik, sondern attestiert dem Begriff der Kontingenz eine ontologische Dignität, während ja Aristoteles, wie wir am Beginn des ersten Kapitels andeuteten, seine Begriffe des Möglichen sowohl im Sinne einer logischen Kategorie wie in einem ontologischen Sinne als wirklichen Aspekt des Seins diskutierte.3 Diese ontologische Dimension des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs ist insofern in unüberbietbarer Weise radikal, als sie nun nicht mehr dies oder jenes Wirkliche bezeichnet und charakterisiert, wie dies noch Aristoteles’ Diskussion der Realpotenz im Sinne von dynamis charakterisiert, sondern die Faktizität der Wirklichkeit schlechthin betrifft. Diese radikale ontologische Dignität der schöpfungstheologischen Rede von einer contingentia mundi bleibt gewahrt, wiewohl sie auch nicht mehr theologisch begründet oder ambitioniert ist, sondern naturwissenschaftlich konkretisiert, also gleichsam naturalisiert wird, wenn in den Naturwissenschaften selbst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert zunehmend Kontingenz und Zufall der Natur schlechthin oder doch immerhin Kontingenz und Zufall in der Natur thematisiert werden. Dass und inwiefern dies vor allem in Physik und Biologie der Fall ist, soll in einer ersten Sektion des zweiten Abschnitts dieses Kapitels gezeigt werden, in welchem die Natur als Sphäre von Kontingenz und Zufall verhandelt wird. So wie sich der Begriff einer contingentia mundi vor allem der schöpfungstheologischen Tradition der Scholastik verdankt, so dürfte für die naturwissenschaftliche und später dann für eine von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen inspirierte philosophische Rede gleichsam einer contingentia naturae der entscheidende theoretische Impuls sich wohl vor allem Darwins Evolutionslehre verdanken. Auf Darwin und seine Evolutionstheorie jedenfalls berufen sich jene beiden Advokaten aus den Reihen der Biologie, die wir in dieser Sektion ausführlicher besprechen werden, wenn sie der Sphäre der Natur Zufall und Kontingenz unterstellen, explizit und ausführlich: Jacques Monod und Stephen Jay Gould. Aber auch im Zusammenhang der quantenphysikalischen Innovationen in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach Kontingenz und Zufall in der Natur immer wieder verhandelt (2, a).4 2

3 4

Vergleiche zu dieser Begrifflichkeit Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. 81–106. Vergleiche dazu Anmerkung 6 des ersten Kapitels dieser Arbeit, S. 46. Die Frage, wie sich die Problematik des Zufalls in der Mathematik behandelt findet, lasse ich hier unberücksichtigt. Sind die Axiome der Mathematik „frei von Zufall“ (Konrad Jacobs)? Oder ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung gerade als der spezifisch mathematische Versuch der Domestizierung des Zufalls zu verstehen, sodass die eigentlich interessante Frage demnach lauten würde, ob der Mathematik eine zwingende und lückenlose Eskamotierung des Zufalls durch die Mittel der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelingt, oder ob auch jede wahrscheinlichkeitstheoretische „taming

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of chance“ (Hacking) letztlich ein nicht weiter auflösbares Residuum des Zufalls zu akzeptieren hat. Für letztere Ansicht plädiert Hermann Lübbe: „Der Einzelfall bleibt ja aus allgemeinen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit unableitbar, so dass auch durch ein statistikwissenschaftlich elaboriertes Bewusstsein die elementare Erfahrung der Zufallsabhängigkeit unserer Werke und Tage eher intensiviert als abgeschwächt wird.“ Von der Nichtauflösbarkeit des Zufalls im Angesicht wahrscheinlichkeitstheoretischer oder statistischer Prognosen zeugt ganz ähnlich Mallarmés zuerst 1897 veröffentlichtes Gedicht Un coup de dés n’abolira jamais le hazard. Im Gegensatz zu jener bei Mallarmé nur poetisch angedeuteten theoretischen Position werden im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts vor allem wissenschaftstheoretische Positionen entwickelt und formuliert, die sich einerseits einem rigiden Determinismus entwinden, andererseits aber auch im Anschluss an Cournot den Zufall befreien wollen von „cette auréole de mystére, ce je ne sais quoi d’étrange“ (Maldidier). Poincaré und Milhaud etwa, um nur zwei der in diesem Kontext prominentesten Namen zu nennen, beteiligten sich an dieser Debatte um Cournots Zufallstheorie und deren Auffassung des „hasard“, welche ganz im Sinne von Aristoteles den Zufall als eine auf spezifische Weise zu definierende Koinzidenz begreift. Auch Boutroux’ Kontingenz-Schrift, die in diesem Kapitel noch ausführlich vorgestellt werden wird (vergleiche S. 234–236 dieses Kapitels) gehört in diesen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Die in Frankreich in besonderem Maße wissenschaftstheoretisch gefärbte Debatte über die Grenzen des Determinismus angesichts des Zufalls wirkte sich wiederum eminent auf Valérys Thematisierung des „hasard“ in seinen Cahiers aus. Um zur Mathematik zurückzukehren: Versteht man die Wahrscheinlichkeitsrechung als die „mathematische Wissenschaft vom Zufall“ (Klaus Mainzer), dann lassen sich auch jene Bereiche des modernen Lebens, die wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle benützen, wie beispielsweise die Finanzmarkttheorie und das Versicherungswesen, als mathematisch operierende Formen der Bewältigung von Zufall und Kontingenz verstehen. „Es gibt kein Schicksal mehr, die Parzen sind als Direktricen bei einer Lebensversicherung untergekommen“, schreibt Gottfried Benn in diesem Sinne 1930. Vergleiche hierzu Konrad Jacobs, „Die Mathematiker und der Zufall“, in: Henning Kössler (Hg.), Über den Zufall: fünf Vorträge, Erlangen 1996, S. 37. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, München 2004 (1986), S. 152. Zu Mallarmé vergleiche Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990, S. 10. Jules Maldidier, „Le Hasard“, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 43 (1897), S. 561. Zur Debatte um Cournots Zufallstheorie vergleiche: Henri Poincaré, „Le Hasard“, in: Revue du Mois 3 (1907), S. 257–276. Gaston Milhaud, „Le hasard chez Aristote et chez Cournot“, in: Revue de métaphysique et de morale 10 (1902), S. 667–681. Zu Valéry vergleiche Christel Krauß, Der Begriff des Hasard bei Paul Valéry. Theorie und dichterische Praxis, Heidelberg 1969. Klaus Mainzer, Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt, München 2007, S. 35. Vergleiche zu der „probabilistic revolution“ und ihren Auswirkungen sowohl auf Gesellschaft wie auf Natur- und Geisteswissenschaften auch die Ergebnisse einer in den frühen 80er-Jahren am Bielefelder ZIF angesiedelten Forschungsgruppe: Gerd Gigerenzer, Zeno Swijtink, Theodore Porter, Lorraine Daston, John Beatty, Lorenz Krüger, The Empire of Chance. How Probability Changed Science and Everyday Life, Cambridge/Mass. 1989. Lorenz Krüger, Gerd Gigerenzer, Mary S. Morgan (Hg.), The Probabilistic Revolution. Volume 1: Ideas in History, Cambridge/Mass. 1987. Lorenz Krüger, Gerd Gigerenzer, Mary S. Morgan (Hg.), The Probabilistic Revolution. Volume 2: Ideas in the Sciences, Cambridge/Mass. 1987.

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Nun wirkten sich diese auf die Natur schlechthin wie auf Aspekte der Natur bezogene Thematisierung von Kontingenz und Zufall sowie die Skepsis gegenüber einem rigiden Determinismus und einem deterministischen Verständnis von Naturgesetzen, wie sie von den Naturwissenschaften selbst formuliert wurden, freilich auch auf entsprechende philosophische Bestimmungsversuche und Reflexionen aus. Die Frage nach Kontingenz und Zufall in der Natur, vor allem schließlich aber auch die Frage nach Kontingenz und Zufall der Natur, sie wurden, so wird in einer zweiten Sektion dieses zweiten Abschnitts des Kapitels zu zeigen sein, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der Philosophie verhandelt. So spricht der französische Philosoph Émile Boutroux, wiewohl niemals vom „hazard“, dessen Existenz er bestreitet, doch ganz explizit auch von der Kontingenz der Natur und der Naturgesetze. Noch deutlicher spiegelt sich die philosophische Sensibilität für eine von Zufall charakterisierte Natur ebenso wie für den Zufall der Natur schlechthin meiner Ansicht nach freilich in Charles Sanders Peirces Philosophie wider, seiner zufallssensiblen Kosmologie der Evolution, wie ich sie bezeichnen möchte, in der ich gleichsam eine Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Gehalte erblicke (2, b). Peirces Auffassung von Evolution und Natur und die zentrale Rolle, welche die Sensibilität für Kontingenz und Zufall für ebendiese Auffassung spielt, möchte ich aber nicht allein deshalb ausführlich zur Sprache bringen, weil sie nach meiner Ansicht bis heute die bedeutendste Thematisierung der contingentia naturae aus der Perspektive der Philosophie darstellt. Peirces Reflexionen zur contingentia naturae, insofern ich sie am Ende meiner diesbezüglichen Ausführungen als eine zumindest implizit formulierte Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Fragestellungen interpretieren möchte, dienen mir nämlich auch als theoretischer Ausgangspunkt, um mich am Ende dieses zweiten Abschnitts des Kapitels, in Sektion (2, c), darüber hinaus inspiriert vor allem von Wolfhart Pannenbergs Theologie der Natur, schließlich einer systematischen und nunmehr auch expliziten Diskussion des grundsätzlichen Verhältnisses von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie zu widmen, insbesondere der Frage, wie sich schöpfungstheologische und evolutionstheoretische oder doch zumindest evolutionstheoretisch beeinflusste Begriffe von Kontingenz und Zufall theoretisch zueinander verhalten. Lässt sich, so wird dabei meine zentrale Frage lauten, in intellektuell redlicher Weise von einer contingentia mundi sprechen und zugleich eine contingentia naturae behaupten? Lassen sich schöpfungstheologisches und evolutionstheoretisches Kontingenz- oder Zufallsbewusstsein versöhnen, ja können sie sich sogar wechselseitig intellektuell befruchten? Empfiehlt sich diesbezüglich die Vereinbarung einer strikten Abgrenzung von Zuständigkeitsbereichen, gleichsam die Vereinbarung eines theoretischen Waffenstillstands durch Respektierung von Zuständigkeitsbereichen oder Wahrung von Indifferenz? Oder lassen sich die schöpfungstheologische These von einer contingentia mundi und der evolutionstheoretisch belehrte Begriff einer contingentia naturae auch noch in ganz anderer Weise versöhnen, und zu welchen innertheologischen Konsequenzen nötigt wiederum diese Weise? Oder sieht sich vielmehr, wer aufgrund welcher Motive und Überzeugungen auch immer Gottfried Benn, „Genie und Gesundheit“ (1930), in: Essays, Reden, Vorträge. Gesammelte Werke in vier Bänden. Erster Band, herausgegeben von Dieter Wellershoff, Stuttgart 1986, S. 85.

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an eine Kontingenz der Welt im Sinne der Schöpfungstheologie glaubt, gezwungen, jede aus den Reihen der Evolutionstheorie stammende Rede von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur zu ignorieren? Und sieht sich also, wer den Zufall oder Kontingenz im Sinne der Evolutionstheorie akzeptiert, zu einer Leugnung des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs verpflichtet? Kann man also entweder von Kontingenz und Zufall der Natur oder in der Natur überzeugt sein oder aber an Gott glauben, nicht aber beides zugleich? Auf derart fundamentalphilosophische Rätsel, auf die freilich früher oder später selbst ein zunächst primär begriffsgeschichtlich orientierter Versuch der Präzisierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall unvermeidlich stößt, lässt sich wohl kaum eine prinzipielle und allgemeingültige Antwort erwarten. Insofern werde ich mich auch davor hüten, meine Gedanken zu der soeben formulierten Kette von Fragestellungen als letztgültige Antwort auf das Verhältnis des Glaubens an Gott oder an eine göttliche Vorsehung zu der Akzeptanz einer Rede von Kontingenz und Zufall der Natur oder in der Natur zu präsentieren. Eine ungleich defensivere Argumentationsstrategie und vorsichtigere These erscheint mir theoretisch seriöser und attraktiver zugleich: Weder, so werde ich zunächst argumentieren, fundiert die Schöpfungstheologie die Evolutionstheorie, noch die Evolutionstheorie die Schöpfungstheologie; ebenso wenig aber widerlegt die Schöpfungstheologie die Evolutionstheorie, oder die Evolutionstheorie die Schöpfungstheologie. Weil dies so ist, kann nun aber auch derjenige, welcher sich aus welchen Gründen und Motiven auch immer schöpfungstheologischen Vorstellungen und also auch einem schöpfungstheologischem Kontingenzbegriff verpflichtet weiß, diese seine Vorstellungen mit der evolutionstheoretischen oder doch immerhin evolutionstheoretisch beeinflussten Rede von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur durchaus in intellektuell redlicher Weise miteinander in Einklang bringen. Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei um eine theoretische Möglichkeit für denjenigen, der sich schöpfungstheologischer Rede verpflichtet glaubt, nicht um eine intellektuell zwingende Notwendigkeit, aber eben auch nicht um eine Unmöglichkeit. Wer also aus welchen Gründen und Motiven auch immer sich schöpfungstheologischen Vorstellungen verpflichtet weiß, wer also aus welchen Gründen und Motiven auch immer an eine Kontingenz der Welt schlechthin im schöpfungstheologischen Sinne glaubt und diesen seinen Glauben bewahren möchte, der muss diese seine Überzeugung durch die evolutionstheoretische Rede von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur weder in Frage gestellt sehen noch muss er diese seine Überzeugung durch Indifferenz gegenüber dieser evolutionstheoretischen Rede immunisieren, sondern er kann, im Gegenteil, diese seine Überzeugung durch diese Rede argumentativ bereichert sehen. Freilich legt ein solcher, obschon nicht letztbegründbarer, aber eben auch durch nichts zu widerlegender Versuch gleichsam einer wechselseitigen intellektuellen Bereicherung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie im Medium und mit Hilfe einer theologischen oder philosophischen Reflexion der ihnen je eigenen Begriffe von Kontingenz und Zufall eine Form von Schöpfungstheologie nahe, die – gleichermaßen inspiriert von Peirces zufallssensibler Kosmologie der Evolution und von Pannenbergs kontingenzsensibler Theologie der Natur – in einer Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen und des schöpfungstheologischen Kontingenz-

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begriffs mündet und also creatio ex nihilo und creatio continua als gleichberechtigte schöpfungstheologische Lehren begreift. Dieser Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen und des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs eignen wiederum providenztheologische Konsequenzen: Denn wer solchermaßen zu begründen versucht, inwiefern und weshalb er zugleich den schöpfungstheologischen Kontingenzbegriff und die evolutionstheoretische Rede von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur für plausibel hält, ja glaubt, dass diese wechselseitige Akzeptanz zu einer theoretischen Bereicherung der eigenen Überzeugungen beiträgt, der muss nun auch Zufall und göttliche Vorsehung nicht mehr als Gegensätze sehen, sondern kann diese – wiewohl sich dies erneut nicht als ein zwingendes theoretisches Gebot verstehen lässt – als durchaus miteinander zu versöhnende Begriffe verstehen. Diese durch nichts auszuschließende, freilich erneut auch durch keine Letztbegründung zu fundierende theoretische Möglichkeit, legt dann freilich eine bestimmte Pointierung oder eine veränderte Setzung von theoretischen Schwerpunkten hinsichtlich einer göttlichen Vorsehung nahe: erstens eine veränderte Wesensbestimmung der göttlichen providentia, nämlich nunmehr auch deren Dynamisierung und Naturalisierung; diese theoretische Konsequenz des vorgestellten Unternehmens einer wechselseitigen Befruchtung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie werden wir bei einer ganzen Reihe von eine bestimmte theologische Position repräsentierenden Autoren ausfindig machen können, welche alle die grundsätzliche Ambition einer Versöhnung von contingentia naturae und providentia teilen; zweitens eine bestimmte Gewichtung des Kräfteverhältnisses von Zufall und Vorsehung unter strikter Wahrung der Autarkie des Zufalls. Dass nämlich auch die Naturalisierung und Dynamisierung der providentia – anders als die Auffassung des Zufalls als Medium und Agent der Vorsehung, als „minister of God“ (Cioffari), wie sie von der Spätantike bis in die Zeit der Scholastik und darüber hinaus formuliert wurde5 – die Autarkie des Zufalls zu respektieren hat, auf des Zufalls autarke Konsequenzen stets flexibel zu reagieren hat, ihn freilich dabei auch stets übertrumpfen kann, dies ist die providenztheologische Konsequenz von William James’ Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ von 1884, die für mich bis heute überzeugendste und faszinierendste Lösung des fundamentalphilosophischen Rätsels, wie sich in intellektuell redlicher Weise zugleich an Gott und die göttliche Vorsehung und an den Zufall glauben lässt. Mit James’ Diskussion des Kräfteverhältnisses von Zufall und Vorsehung in dem genannten Aufsatz endet daher auch der zweite Abschnitt dieses Kapitels. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels wiederum wende ich mich endlich jener Sphäre von Kontingenz und Zufall zu, welche für die ideengeschichtlichen Miniaturen, Illustrationen und Skizzen des gesamten zweiten Teils dieses Buches ungleich zentraler sein wird als die beiden bislang behandelten Sphären von Kontingenz und Zufall – Welt und Natur – und die so den zweiten Teil dieses Buches gleichsam vorbereitet und einleitet, der Sphäre der menschlichen Geschichte. Inwiefern auch für diese behauptet wurde und behauptet wird, dass sich ihr Kontingenz und Zufall zuschreiben lassen, wie eine solche Redeweise zu verstehen und wie die Präsumtion von Kontingenz und Zufall für das Ge5

Vergleiche dazu meine Ausführungen im siebten Kapitel dieser Arbeit, S. 546–568. Zu Cioffaris Formulierung vergleiche Anmerkung 44 auf S. 83 im zweiten Kapitel dieser Arbeit.

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biet der menschlichen Geschichte systematisch zu beschreiben ist, wenn sie sinnvoll sein soll, dies will ich zunächst anhand der geschichtstheoretischen Abbreviaturen einiger Historiker des 20. Jahrhunderts, die sich um eine Wesensbestimmung des historischen Zufalls mehr oder weniger ausführlich bemühten, in einer gleichsam anekdotischen Weise erörtern (3, a). Hinsichtlich einer systematischen Beantwortung der Frage, was es heißt oder heißen kann, bezüglich der Sphäre von Geschichte von Kontingenz im Sinne eines nicht notwendigen Möglichen, im Sinne des am Ende des ersten Kapitels bestimmten nec necessarium nec impossibile, und von Zufall in dem im zweiten Kapitel näher bestimmten Sinne eines nicht notwendigen Wirklichen, im Sinne eines nec necessarium, zu sprechen, verweise ich zunächst auf das gleichsam zwingende anti-nezessaristische Fundament, auf das gegen jede Präsumtion historischer Notwendigkeit gerichtete theoretische Fundament, welches jedem Versuch einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von historischer Kontingenz und historischem Zufall zu Grunde liegen muss, gleichviel, ob sich dieser Versuch sodann im weiteren Fortgang seiner Argumentation auf das nicht notwendige Mögliche oder das nicht notwendige Wirkliche in der menschlichen Geschichte, auf historische Kontingenz oder historischen Zufall beruft, gleichviel, welche Terminologie dabei nun genauer verwendet wird. Ich verweise diesbezüglich auf Isaiah Berlins und Karl Poppers Protest gegen die Idee historischer Notwendigkeit, insofern diese beiden Autoren ihren geschichtstheoretischen Anti-Nezessarismus doch in einer besonders raffinierten Weise zu begründen suchen und in einer besonders wirkungsmächtigen Weise formulieren. Während Popper prätendiert, eine logisch zwingende Widerlegung einer „historizistischen“ Geschichtsphilosophie geleistet zu haben, formuliert Berlin, an dieser Stelle seines Werkes deutlich beeinflusst von der „ordinary language philosophy“, eine common sense-fundierte Argumentation gegen die Idee einer „historical inevitability“, welche nicht deren logische Unmöglichkeit, wohl aber deren semantische Praktikabilität und Plausibilität bestreitet (3, b). Nun stellt ein Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit zwar das unhintergehbare theoretische Fundament für jede auf die Sphäre der Geschichte bezogene Rede von Kontingenz und Zufall dar, insofern diese Begriffe offenkundig und unhintergehbar immer ein bestimmtes nec necessarium bezeichnen oder doch zumindest implizieren. Freilich, wer gegen die Idee historischer Notwendigkeit protestiert, muss sich nicht zwingend auf die Existenz oder Nachweisbarkeit von Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte berufen – gerade dies lässt sich ja der Diskussion von Poppers und Berlins Geschichtstheorie entnehmen –, wiewohl er dies sehr wohl tun kann. Wer dies aber nun wiederum tut, wer also zum Zwecke der Begründung einer gegen die Idee der historischen Notwendigkeit gerichteten Geschichtstheorie, sich auf historischen Zufall und historische Kontingenz bezieht, und solchen Versuchen wenden wir uns dann in der allerletzten Sektion dieses Kapitels zu, für den gibt es zwei grundsätzliche theoretische Optionen: Einerseits kann sich der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall auf die unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte berufen. Die Geschichte wäre kontingent und zufällig – und dass die von welchem Autor oder welcher geschichtstheoretischen Strömung auch immer realiter verwendeten Begriffe den in den ersten beiden Kapiteln erarbeiteten systematischen Distinktionen und Präzisierungen nicht folgen, ist dabei sekundär –, eben weil man diese Geschichte aufgrund ihrer prinzipiellen Verfügbarkeit stets anders ma-

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chen kann, insofern auch stets hätte anders machen können oder anders machen können wird. Nicht Notwendigkeit bestimmte demnach die menschliche Geschichte, sondern Kontingenz und Zufall, insofern diese menschliche Geschichte prinzipiell unbeschränkt verfügbar ist. In diesem Fall artikuliert also die Semantik von historischer Kontingenz und historischem Zufall – unabhängig von den semantischen Binnendifferenzen zwischen einem verfügbaren Möglichen und einem verfügbaren Wirklichen – justament jene prinzipiell unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte. Andererseits kann sich der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall auf die, wenn auch nicht ausschließliche, so doch immer auch unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte berufen. Geschichte wäre demnach kontingent und zufällig – erneut folgen hier die realiter verwendeten Begriffe, wie wir sehen werden, nicht unseren in den ersten beiden Kapiteln erarbeiteten systematischen Distinktionen –, eben weil man diese Geschichte aufgrund ihrer zwar nicht ausschließlichen, wohl aber unhintergehbaren Unverfügbarkeit gerade nicht stets so machen kann, wie dies beliebt. Geschichte wäre demnach kontingent und zufällig, insofern sie – wenn nicht restlos, so doch unhintergehbar immer auch – unverfügbar ist. Nicht Notwendigkeit bestimmte demnach die menschliche Geschichte, sondern Kontingenz und Zufall, insofern diese menschliche Geschichte unhintergehbar unverfügbar ist. Und in diesem Fall artikuliert die Semantik von historischer Kontingenz und historischem Zufall – unabhängig von den semantischen Binnendifferenzen zwischen einem unverfügbaren Möglichen und einem unverfügbaren Wirklichen – justament jene unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte. Aus argumentationsdramaturgischen Gründen, die mit dem Gesamtaufbau dieser Arbeit zu tun haben6 , insbesondere mit der Tatsache, dass ich im ersten Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit ausführlich auf die Romantik als die paradigmatische Artikulation der Auffassung von einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit menschlicher Geschichte und auf den Historismus als paradigmatische Artikulation der Auffassung von einer zwar nicht ausschließlichen, wohl aber unhintergehbaren Unverfügbarkeit menschlicher Geschichte im Kontext der ideengeschichtlichen Skizzierung einer Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der historischen Periode der „Sattelzeit“ (Koselleck) eingehe, möchte ich in diesem dritten Abschnitt dieses Kapitels, in Sektion (3, c), ausschließlich auf Autoren des 20. Jahrhunderts eingehen und zwar ausschließlich auf ein im 20. Jahrhundert formuliertes Plädoyer für die Akzeptanz der Unverfügbarkeit von Geschichte zu sprechen kommen. Ich diskutiere die diesbezüglich relevanten Äußerungen von zwei Philosophen, Hermann Lübbe und Wilhelm Schapp, und von einem Schriftsteller, Robert Musil. Die Auswahl dieser drei Autoren, zumal im Kontext einer geschichtstheoretischen Diskussion, mag Verwunderung und Erstaunen hervorrufen. Sie ergibt sich einerseits dadurch, dass die Historiker selbst, abgesehen von den beiläufigen und kursorischen Bemerkungen aus ihren Reihen, die in Sektion (a) des dritten Abschnitts des Kapitels immerhin Erwähnung finden sollen, abgesehen auch von jenen beiden Historikern, die freilich erst im nächsten und übernächsten Kapitel dieser Arbeit ausführlich behandelt werden, abgesehen also von Reinhart Koselleck 6

Wie dies genauer zu verstehen ist, wird auf S. 282–287 dieses Kapitels ausführlicher explizit gemacht. Im jetzigen einleitenden Stadium dieses Kapitels ist eine Klärung nicht von Nöten.

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und Arnd Hoffmann, das Thema von Kontingenz und Zufall in der Geschichte in den letzten Dekaden souverän ignoriert haben.7 Musil wie Lübbe wie Schapp, so wird sich hingegen zeigen, sprechen durchaus, wenn auch in unterschiedlich expliziter Weise von Zufall und von Kontingenz in der Geschichte und freilich auch in Geschichten. Unabhängig von ihrem Wortgebrauch eint die drei letztgenannten Autoren ferner, dass sie auf der Unverfügbarkeit sowohl von Geschichte als auch von Geschichten theoretisch beharren und diesen Befund wiederum sowohl als Indiz für die Grenzen historischer Notwendigkeit werten als auch schließlich als Argument für die Widerlegung der Idee einer vollständigen Verfügbarkeit von Geschichte nutzbar machen. Noch einmal und zum letzten Mal sei wiederholt, was ich bereits am Beginn dieses dritten Kapitels betont hatte: Ich will und kann in diesem gesamten dritten Kapitel und dann auch besonders im gesamten zweiten Teil dieser Arbeit, welcher sich bestimmten ideengeschichtlichen Skizzen widmet, keinesfalls suggerieren, in der Ideengeschichte wäre stets und immer schon so schön säuberlich zwischen den Begriffen von Kontingenz im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nicht notwendigen Möglichen und Zufall im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nicht notwendigen Wirklichen getrennt worden, wie wir dies nachträglich nach all unseren begriffsgeschichtlichen Präzisierungsunternehmungen in systematischer Absicht, nach den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit also, zu tun in der Lage sind. Der im Rückblick vorgenommene Versuch zur Präzisierung bestimmter Begriffe darf demnach nicht den Blick dafür verstellen, dass die Ideen und Begriffe von Kontingenz und Zufall in der Ideengeschichte immer wieder auf untrennbare Weise vermengt wurden. Insofern sei an dieser Stelle noch einmal auf eine wichtige Erkenntnis unserer Ausführungen am Ende des ersten Kapitels verwiesen. Dort hatten wir ja gesehen, dass eine schon mit der späten Scholastik einsetzende und dann immer stärker zunehmende, in der Frühen Neuzeit schließlich ihren Höhepunkt erreichende Unaufmerksamkeit für die theoretischen und semantischen Grenzen der Begriffe von Kontingenz und Zufall schließlich in der zeitgenössischen Philosophie in eine ausdrückliche Gleichsetzung der Begriffe von Kontingenz und Zufall mündet. Diese begriffsgeschichtlich zu registrierende Vermengung von Kontingenz- und Zufallsbegriff, wie sie spätestens seit der Frühen Neuzeit etabliert ist, bewirkt, dass ein Bewusstsein für jene analytischen Distinktionen und begrifflichen Präzisierungen, die wir allein ex post nachzuweisen in der Lage sind, in unseren Primärquellen zumeist gar nicht vorhanden ist. Das ändert nichts an der Gültigkeit dieser Distinktionen und Präzisierungen, entwertet aber ihre heuristische Relevanz sowohl für dieses als auch für alle weiteren Kapitel. Wir werden im Folgenden daher immer dann, wenn wir auf bestimmte Vertreter und Verfechter einer bestimmten expliziten Verwendung der Begriffe von Kontingenz und Zufall oder eines bestimmten impliziten Rekurses auf eine bestimmte Auffassung von Kontingenz und Zufall blicken, 7

Vergleiche dazu meine Diskussion von Arnd Hoffmanns geschichtstheoretischer Behandlung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im vierten Kapitel dieser Arbeit, S. 325–341, sowie meine Diskussion von Kosellecks ambivalenter Thematisierung des historischen Zufalls, die mir wiederum den hermeneutischen Schlüssel für meine Interpretation der romantischen und historistischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall bietet, im übernächsten Kapitel dieser Arbeit, S. 349–358.

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der Sprache der Quellen eine unbeschränkte Suprematie und einen methodischen Primat über unsere retrospektiv angefertigten begrifflichen Distinktionen und Subtilitäten, die doch allein einer präzisierenden Klärung in systematischer Absicht dienen, zugestehen. (1) Im ersten Kapitel dieser Arbeit hatten wir ausführlich behandelt, dass und inwiefern die scholastische Theologie die systematische Vorleistung der aristotelischen Diskussion des Möglichkeitsbegriffs für die Zwecke der Schöpfungstheologie in Anspruch nimmt. Dabei interessierte uns freilich seinerzeit weniger die Frage nach der Sphäre von Kontingenz, sondern mehr das begriffsgeschichtliche und begriffssemantische Detail, dass und inwiefern sich der Begriff der Kontingenz schon in den Diskussionen der Scholastik seiner möglichkeitstheoretischen Konnotation oder Einbettung immer stärker entledigt, bis dann schließlich bei Leibniz contingens und possibile strikt getrennt werden. Allein, die semantische Frage, inwiefern die scholastische Schöpfungstheologie den Begriff der Kontingenz in einer die aristotelische Möglichkeitstheorie rezipierenden Weise aufnimmt oder gerade modifiziert, gibt die begriffs- und ideengeschichtlich wegweisende Innovation der scholastischen Diskussion des Kontingenzbegriffs nicht ausreichend zu erkennen. Denn die Originalität des scholastischen Kontingenzbegriffs zeigt sich doch auch, ja gerade auch darin, dass Kontingenz nicht als Modalität der Logik begriffen und auch nicht nur einer spezifischen Facette der Wirklichkeit zugeschrieben wird, sondern vielmehr der Sphäre der Welt schlechthin. Für die Welt schlechthin wird nun behauptet, diese sei kontingent. Die schöpfungstheologische Inanspruchnahme des sich der spätantiken Latinisierung der aristotelischen Möglichkeitstheorie verdankenden Kontingenzbegriffs wirkte sich also nicht nur auf dessen semantischen Gehalt aus, sie musste auch dessen ontologische Würde im Vergleich zu der aristotelischen Diskussion unterstreichen und immens erhöhen. Kontingenz wird nun weder als Modalität der Logik verstanden wie in der aristotelischen Logik noch als lediglich ein Aspekt der Wirklichkeit im Sinne einer realpotenten dynamis wie in der aristotelischen Metaphysik, sondern als Konstituens der Faktizität von Wirklichkeit schlechthin. Nicht nur – wie im ersten Kapitel dieser Arbeit gezeigt – eine spätantike Latinisierung der aristotelischen Möglichkeitstheorie, sondern auch eine radikale Ontologisierung des spätantiken Kontingenzbegriffs durch die Scholastik lässt sich mithin für die Geschichte des Kontingenzbegriffs konstatieren. Was meint nun die schöpfungstheologische Rede von einer contingentia mundi, inwiefern bezeichnet sie eine Sphäre von Kontingenz, nämlich die Sphäre der Welt schlechthin? So viel sei zur besseren Strukturierung und Verständlichkeit der folgenden Ausführungen schon an dieser Stelle erläutert, bevor wir uns im weiteren Verlauf des ersten Abschnitt dieses Kapitels – belehrt sowohl über die ontologische Radikalität des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs vor allem im Vergleich zur Kosmosfrömmigkeit der griechischen Philosophie als auch über das möglichkeitsbegriffliche Fundament dieses schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs – noch genauer und ausführlicher dem systematischen Kern des Theorems einer contingentia mundi im Medium der Rekonstruktion von dessen ideen- und theologiegeschichtlicher Genese zuwenden: Schöpfungstheologisch ist es die Welt schlechthin, nicht nur dieser oder jener Bestandteil dieser Welt, die Gott aus dem Nichts geschaffen hat, obgleich er dies nicht hätte tun müssen. Insofern ist die Welt im Ganzen, weil sie Gottes Schöpfung

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ist, kontingent. Sie ist kontingent und eben nicht notwendig und eben auch nicht unmöglich, also kontingent in jenem im ersten Kapitel ermittelten Sinne des nec impossibile nec necessarium. Und sie ist in diesem Sinne kontingent, eben weil und insofern sie von Gott geschaffen wurde. Wir sehen: Die Rede von der contingentia mundi ist auf unhintergehbare Weise mit der Rede von einer göttlichen creatio ex nihilo verknüpft. Die eine ist ohne die andere nicht zu haben. Und wir sehen ebenfalls: Beide Redeweisen lassen an der unüberbietbaren ontologischen Dimension und Relevanz des scholastischen Kontingenzbegriffs keinerlei Zweifel aufkommen. Hans Blumenberg hat in seinem „Kontingenz“-Artikel für Religion in Geschichte und Gegenwart auf diese radikale ontologische Relevanz und Dimension der scholastischen Vorstellung von einer Kontingenz der Welt schlechthin in prägnanter Weise aufmerksam gemacht: „Kontingenz bringt die ontische Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenen und zum Vergehen bestimmten, nur durch den göttlichen Willen im Sein gehaltenen Welt zum Ausdruck, die an der Idee des unbedingten und notwendigen Seienden gemessen wird. […] die Welt ist kontingent als eine Wirklichkeit, die, weil sie indifferent zu ihrem Dasein ist, Grund und Recht zu ihrem Sein nicht in sich selbst trägt. Das Sein der Welt nimmt Gnadencharakter an. Der antike Kosmos war weder in seinem Ursprung noch in seinem Bestand einem absoluten Willensakt zugeordnet. Er war die volle Ausschöpfung des eidetisch Seinsmöglichen.“8 Dieser auf die Welt im Ganzen sich beziehende Kontingenzbegriff der Schöpfungstheologie ist Blumenbergs Urteil zufolge „einer der wenigen Begriffe spezifisch christlicher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik, obwohl er aus der Latinisierung der aristotelischen Logik hervorgegangen ist.“9 Zu einer ähnlich lautenden historischen Einschätzung der Genese und der Konjunkturen des Kontingenzbegriffs sieht sich Heinrich Barth, Bruder von Karl Barth, angesichts des für den Kontingenzbegriff im Rahmen scholastischer Schöpfungstheologie unverkennbar zu diagnostizierenden Zugewinns an theoretischer Reputation berechtigt. In dem Kapitel „Das kontingente Sein“ seiner Philosophie der Erscheinung formuliert Barth: „Wir dürfen darum das Problem der

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Hans Blumenberg, Artikel „Kontingenz“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, herausgegeben von Kurt Galling und Wilfrid Werbeck, Tübingen 1959, Sp. 1793 f. Ebd., Sp. 1793. An anderer Stelle schreibt Blumenberg, seine zitierte Formulierung aus dem „Kontingenz“-Artikel aufnehmend: „Das Mittelalter fand im Begriff der Kontingenz erst die radikale Auslegung des Schöpfungsgedankens, jenem Begriff, der zu den wenigen genuinen Prägungen spezifisch christlicher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik gehört, obwohl er aus der Latinisierung der aristotelischen Logik hervorgegangen war. Kontingenz bestimmt die Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenen und zum Vergehen bestimmten, nur durch göttlichen Willen in ihrer Existenz gehaltenen Welt, die an der Idee eines unbedingten und notwendigen Seienden gemessen wird.“ Hans Blumenberg, „Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution neuzeitlicher Rationalität“ (1970), in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976, S. 165 f.

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‚Kontingenz‘ als ein im eminenten Sinne mittelalterliches Problem ansehen.“10 Und nicht nur hinsichtlich der historischen Diagnose einer scholastisch-mittelalterlichen Konjunktur des Kontingenzbegriffs, sondern auch hinsichtlich der Gründe für diese Konjunktur kommen Blumenberg und Barth überein: Zwar mag der Begriff der Kontingenz ursprünglich der spätantiken Latinisierung der griechischen Philosophie, genauer: den aristotelischen Auffassungen von Möglichkeit, entsprungen sein11 , seine eigentümliche Relevanz und erheblichen ideengeschichtlichen Folgewirkungen gewinnt der Begriff aber doch erst in dem Moment, da er sich dem Thema der contingentia mundi widmet und die Frage nach der Schöpfung der Welt durch Gott beantworten helfen soll, also als ein Begriff von unüberbietbarer ontologischer Relevanz reüssiert: „Diejenige Problematik der Modalität, deren Grundzüge uns aus den logischen Schriften des Aristoteles erkennbar werden, konnte erst in einer wesentlich andern geistigen Umwelt zu ihrer philosophischen Bedeutung gelangen. Dem reinen Begriff der Möglichkeit (possibile contingens) entspricht die Frage: Ist etwas oder ist es nicht? Solche Disjunktion kann aber erst dort wahrhaftig gewichtig werden, wo sich das Sein der Dinge als solches von der Möglichkeit seines Nicht-Seins abzuzeichnen scheint. – Die aristotelische Ontologie ist weit davon entfernt, die universale Frage nach Sein oder Nicht-Sein als solchem in ihre Problematik einzubeziehen.“12 Man könnte auch so formulieren: Erst das christliche Bewusstsein, dass Gott die Welt auch nicht hätte schaffen können, lässt aus dem Begriff der Kontingenz ein Problem der Kontingenz werden. Jedenfalls ist der folgenden Formulierung von Günter Renz zweifellos zuzustimmen: „Es entsteht in jedem Fall erst mit der christlichen Theologie die Möglichkeit des Gedankens einer Totalkontingenz der Welt.“13 Dieser Gedanke einer „Totalkontingenz der Welt“ konnte nämlich im Kontext antiker Kosmosfrömmigkeit noch gar nicht formuliert werden. Allenfalls, wenn nicht ohnehin im Zusammenhang einer Diskussion der Modalitäten, also im Bereich der Logik abgehandelt, allenfalls auf diesen oder jenen Sachverhalt in dieser Welt, auf dieses oder jenes Urteil über diese Welt, konnten sich für die Griechen der Gedanke und der Begriff der Kontingenz oder deren Vorgänger, Gedanke und Begriff der Möglichkeit, beziehen, niemals aber auf die 10

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Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte, Band 1, Basel 1947, S. 327. Vergleiche dazu das erste Kapitel dieser Arbeit. Insofern ist auch die These von Ernst Troeltsch zu relativieren, der schreibt: „Der Ausdruck ‚Kontingenz‘ stammt aus der scholastischen Philosophie und bedeutet dort das Tatsächliche und Zufällige im Gegensatz zum begrifflich Notwendigen und Gesetzmäßigen.“ Die ontologische Brisanz des Kontingenzbegriffs und die damit zusammenhängende Problematik mag sich zwar wesentlich der Scholastik verdanken, der „Ausdruck“ hingegen findet sich schon weit früher, bereits in der Spätantike. Vergleiche dazu Ernst Troeltsch, „Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz“ (1910), in: Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, S. 771 f. Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte, Band 1, a.a.O., S. 337 f. Günter Renz, Zufall und Kontingenz. Ihre Relevanz in philosophisch-kosmogonischen, evolutionären und schöpfungstheologischen Konzeptionen, Tübingen 1996, S. 25.

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Welt schlechthin. „Zweckmäßigkeit des Aufbaus wie Harmonie aller Teile lassen nicht die Vermutung zu, dass alles ganz anders oder gar nicht zu sein brauchte, und wecken dadurch auch nicht die Frage, warum es das Ganze überhaupt gibt.“14 Das gleichsam eingehegte Kontingenzbewusstsein, dass irgendetwas in dieser Welt sein kann oder nicht sein kann, wandelt sich freilich in dem Augenblick in eine philosophisch, theologisch und ontologisch unüberbietbare Problematik, wenn dieses Etwas, von dem die Rede ist, die Existenz der Welt schlechthin betrifft. Ebendies, dass die Welt im Ganzen möglich ist oder auch nicht sein könnte und insofern kontingent ist, wie dies die schöpfungstheologische Verwendung des Kontingenzbegriffs unterstellt, dies kann auch der letztlich noch deutlich im Banne der griechischen Kosmosfrömmigkeit stehenden Philosophie des Aristoteles doch niemals einsichtig werden, so sehr diese Philosophie doch anderweitig, wie wir im ersten Kapitel zeigten, sowohl für die geschichtliche und semantische Genese des Begriffs der Kontingenz konstitutiv als auch für die Kontingenz von realen Potenzen in einem ontologischen Sinne sensibel war. Noch viel weniger kann bezüglich der aristotelischen Thematisierung des partikularen Möglichen von einer allgemeinen ontologischen Rehabilitierung der Möglichkeit als einer der Wirklichkeit oder der Realität ebenbürtigen Kategorie die Rede sein, weder von einer Rehabilitierung des Möglichkeitssinns als eines dem Wirklichkeitssinn gleichrangigen Zugangs zur Welt, wie sie uns in Robert Musils entsprechenden Passagen über den „Möglichkeitssinn“15 am Beginn von Der Mann ohne Eigenschaften begegnet, noch von einem indeterministischen Plädoyer für eine Wirklichkeit, die als stete Verschränkung von Wirklichkeit und Möglichkeit aufzufassen ist, wie es sich am Beginn von William James’ Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ formuliert findet.16 14

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Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 82. „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch ganz anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. […] Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wirklicher Wahrheit weniger dem Werte des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrer Anhänger, etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewussten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.“ Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/1932), in: Gesammelte Werke. Band 1, Reinbek 1978, S. 16. Für William James besteht die grundsätzlichste Prämisse des Determinismus, wie er in seinem Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ darlegt, in der Hypothese, „dass die bereits festgelegten Teile des Universums unumschränkt anordnen und verfügen, was die anderen Teile sein sollen. Die Zukunft birgt keine zwiefältigen Möglichkeiten in ihrem Schoß: der Teil, den wir Gegenwart nennen, ist nur mit einer einzigen Ganzheit vereinbar. Jedes andere künftige Komplement außer dem einen von Ewigkeit her festgelegten ist unmöglich. Das Ganze ist schlechthin in jedem Teil und verschmilzt ihn mit den übrigen zu einer absoluten Einheit, einem ehernen Block, in dem es keine Zweideutigkeit und keinen Schatten von Abweichung geben kann.“ (S. 148) James illustriert

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Für ein angemessenes Verständnis der schöpfungstheologischen Rede von einer contingentia mundi, zumindest in der Form, wie es die Scholastik prägt, ist weiterhin unbedingt zu beachten: Die schöpfungstheologische These von der contingentia mundi zumindest in ihrer scholastischen Variante radikalisiert zwar einerseits die ontologische Relevanz des Kontingenzbegriffs, insofern sie sich nicht auf einen Aspekt oder ein Merkmal des Wirklichen, sondern auf die Faktizität der Wirklichkeit schlechthin bezieht, sie delegitimiert aber anderseits auch jede andere, ungleich profanere Rede von der Zufälligkeit in der Welt. Zwar ist die Welt schlechthin kontingent, insofern Gott sie geschaffen hat, die Existenz einer Welt schlechthin also weder notwendig noch unmöglich. Hat Gott freilich einmal diesen die Existenz der Welt inaugurierenden Schöpfungsakt vollzogen, dann ist, so argumentiert das scholastische Verständnis der contingentia mundi, in dieser Welt nichts mehr dem Zufall überlassen, sondern die so geschaffene Welt wird nun Gottes Vorsehung gemäß regiert. Insofern bestimmt die scholastische Rede von einer contingentia mundi die Welt schlechthin als Schöpfung Gottes zwar als kontingent, aber in dieser Welt ist dennoch nichts Zufälliges. Und wenn auch der Zufall im Sinne von „fortuna“, „casus“ oder „accidens“ in der scholastischen Theologie durchaus explizite Thematisierung findet17 , hat doch in der christlichen Theologie der Rekurs auf einen schöpfungstheologischen Kontingenzbegriff nur äußert selten zu einer Reformulierung providenztheologischer Annahmen dergestalt geführt, dass die Existenz und die Autarkie des Zufalls in der Welt nun konzediert und zugleich mit der Rede von einer providentia Dei versöhnt worden wäre. Im Großen und Ganzen trifft für das traditionelle christliche Verständnis von Kontingenz und Zufall vielmehr die folgende Charakterisierung von

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diese die Kategorie der Möglichkeit prinzipiell ausschließende Weltanschauung des Determinismus mit folgenden Zeilen aus den Rubaiyat des persischen Dichters und Philosophen Omar Chajjam, wie sie von dem englischen Privatgelehrten Edward Fitzgerald Mitte des 19. Jahrhunderts ins Englische übertragen wurden (zitiert nach ebd., S. 148): With earth’s first clay they did the last man knead, And there of the last harvest sowed the seed. And the first morning of creation wrote What the last dawn of reckoning shall read. Der Indeterminismus hingegen begreift laut James die Wirklichkeit stets als ein Ineinander von verwirklichten und unverwirklichten Möglichkeiten: „Er räumt ein, dass es mehr Möglichkeiten als tatsächliche Verwirklichungen geben kann, und dass unserem Wissen noch nicht offenbare Dinge wirklich in sich selbst zweideutig sein können. Von zwei einander ausschließenden zukünftigen Gestaltungen, die wir uns vorstellen, können jetzt beide wirklich möglich sein, und die eine kann erst genau in dem Augenblick unmöglich werden, wenn die andere sie durch ihre eigene Verwirklichung ausschließt.“ (ebd., S. 148) Für die von James als Indeterminismus beschriebene Position scheinen also „die Wirklichkeiten in einer größeren See der Möglichkeiten zu schwimmen, aus der sie ausgewählt werden. Und irgendwo, erklärt der Indeterminismus, bestehen solche Möglichkeiten und bilden einen Teil der Wahrheit. Der Determinismus dagegen behauptet, sie existieren nirgends, die Notwendigkeit einerseits und die Unmöglichkeit andererseits seien die einzigen Kategorien des Wirklichen. Möglichkeiten, die nicht zur Verwirklichung kommen, sind für den Determinismus reine Illusionen: sie waren überhaupt niemals Möglichkeiten.“ (ebd., S. 148 f.) Alle Zitate nach William James, „Das Dilemma des Determinismus“ (1884), in: Essays über Glaube und Ethik, Gütersloh 1948, S. 143–179. Vergleiche dazu meine Ausführungen zu Thomas von Aquins Diskussion des Zufalls im siebten Kapitel dieser Arbeit, S. 558–562.

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Wetz zu: „[…] die Welt ist christlich-metaphysisch betrachtet zwar etwas Kontingentes, weil Gott ihre Erschaffung auch hätte unterlassen können; sie ist aber nichts Zufälliges, da sie, zweckmäßig eingerichtet, von der Vorsehung gelenkt wird.“18 Der erwähnte historische Befund, auf den sowohl Heinrich Barth wie Blumenberg aufmerksam gemacht haben, die bemerkenswerte Tatsache nämlich, dass erst im Kontext christlicher Schöpfungstheologie die contingentia mundi als unüberbietbar dringliches intellektuelles Problem, weil als ein Thema von unüberbietbarer ontologischer Brisanz wahrgenommen wird, der Begriff der Kontingenz nun weder eine Modalität der Logik meint noch einen partikularen Sachverhalt in der Welt bezeichnet, dessen Faktizität unstrittig ist, sondern die Tatsache der Faktizität als solche betrifft, die „Totalkontingenz der Welt“ meint, dieser Befund lässt sich ferner noch indirekt bestätigen, nämlich anhand des im Zuge der Formulierung eines christlichen Verständnisses von göttlicher Schöpfung und contingentia mundi entwickelten und diesen Theoremen zugrunde liegenden, spezifischen Möglichkeitsbegriffs oder – ex negativo – anhand des Mangels eben eines solchen Möglichkeitsbegriffs in der antiken und spätantiken Philosophie. Erst in jenem Augenblick, da sich der Begriff der Möglichkeit nicht mehr wie in antikem und spätantikem Denken auf ein isoliertes und partikulares Wirkliches bezieht und diesem Möglichkeit oder Unmöglichkeit attestiert, sich also nicht auf ein Faktisches und dessen Charakteristika, sondern auf die Tatsache der Faktizität schlechthin bezieht und diese schlechthin als möglich oder unmöglich bezeichnet, nicht mehr also die Frage „faktischer Realisierbarkeit“ eines Möglichen im Sinne einer Realpotenz behandelt, sondern sich an der Frage „bloßer Denkbarkeit“19 orientiert, erst auf der Grundlage dieses im Kontext scholastischer Theologie formulierten Möglichkeitsbegriffs, des Möglichen im Sinne des possibile logicum, erst in jenem Augenblick ist überhaupt die möglichkeitsbegriffliche Voraussetzung für eine sinnvolle Formulierung der Theoreme von einer contingentia mundi und einer creatio ex nihilo gegeben. Dass nun aber genau diese ideen- und begriffsgeschichtliche Entwicklung zu diagnostizieren ist, dass nämlich in der Tat Begriff und Idee der Möglichkeit in Antike und Spätantike sich stets auf ein bestimmtes Wirkliches, auf ein possibile reale, nie aber auf die Faktizität des Wirklichen schlechthin beziehen, also niemals in ebenjenem Sinne eines possibile logicum verwendet werden, wie er eben für die christliche Schöpfungstheologie und ihren Begriff einer Kontingenz der Welt zentral ist, weist August Faust in seiner monumentalen zweibändigen Studie über den Möglichkeitsgedanken in antiker und christlicher Philosophie nach. Über die Motive und die historische Genese des spezifischen möglichkeitsbegrifflichen Fundaments der scholastischen Schöpfungstheologie schreibt Faust zusammenfassend: „Die christliche Gottes- und Schöpfungslehre verlangt weitere Fortbestimmungen eines Möglichkeitsbegriffes, welcher nicht nur (wie die Aristotelische Realpotenz) gewisse Veränderungen an schon vorhandenem Seiendem, also bestimmte Vorgänge innerhalb der Welt, erklärt. Auch der Ursprung der 18

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Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 85. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Erster Teil: Antike Philosophie, Heidelberg 1931, S. 16.

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W, N, G: D S  K  Z Welt selber in ihrer Gesamtheit, d. h. die Herkunft alles Seienden, sofern es kreatürlich ist, muss mit Hilfe der scholastischen Möglichkeitslehre noch irgendwie einer philosophischen Begriffsbildung zugänglich gemacht werden. Darum wird schon von mittelalterlichen Denkern der Begriff einer logischen Möglichkeit (possibile logicum, possibile per se ipsum) herausgearbeitet.“20

Keiner der vor der Formulierung der schöpfungstheologischen Theoreme von contingentia mundi und creatio ex nihilo kursierenden und historisch nachweisbaren Möglichkeitsbegriffe sieht sich aufgrund der theoretischen Ambitionen der ihn umgreifenden und einbettenden philosophischen Systeme und Weltanschauungen genötigt und auch nicht dazu befähigt, so behauptet Fausts Studie, so wie die Scholastik ein Mögliches im Sinne des possibile logicum zu denken.21 Fausts mühsame historische Detailstudien, die notwendig sind, um diese These plausibel zu machen, brauchen uns nur kursorisch zu interessieren: So weist Faust für die Vorsokratiker die Formulierung eines sogenannten archaischen Möglichkeitsbegriffs nach, wonach sich die Möglichkeit höchstens „in bestimmten ‚Vermögen‘, ‚Kräften‘ oder ‚Mächten‘ gewisser Einzeldinge zeigt.“22 Platon wiederum formuliert Faust zufolge in der Politeia einen ethisch-praktischen Begriff der Möglichkeit im Sinne der Annäherung an das Sittlich-Gute sowie im Schöpfungsmythos des Timaios einen Begriff der Schöpfung der Welt, die freilich nicht aus dem Nichts erfolgt, sondern bereits vorhandene Materie lediglich demiurgisch umbildet. Wie gesagt, wir haben nicht alle Akten des umfangreichen Dossiers von Interpretationen, welches Faust anlegt, zu durchblättern. So viel steht jedenfalls für Faust fest: weder für die Vorsokratiker noch für Platon lässt sich behaupten, dass der Begriff der Möglichkeit im Zentrum ihres philosophischen Interesses gestanden habe. Anders ist dies selbstredend bei Aristoteles, der deshalb von Faust zurecht als „der Vater der gesamten europäischen Spekulation über das Möglichkeitsproblem“23 bezeichnet wird. Dieser Vater aller Möglichkeitstheorien formuliert laut Faust einen Möglichkeitsbegriff, der den Begriff der dynamis zum „Fundamente der gesamten Erfahrungswelt“24 macht; also auch und gerade Aristoteles begreift Faust zufolge die Möglichkeit als ein reales Prinzip unserer Wirklichkeit, gleichsam als ein possibile reale, und bemüht sich entsprechend vor allem um theoretische Klärung eines solchermaßen zugleich Möglichen und Existierenden, während das „nur auf formallogische Widerspruchslosigkeit begründete possibile logicum“25 , das Denkmögliche, von ihm, so jedenfalls Faust, gerade nicht

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Ebd., S. 6. In diesem Sinne äußert sich auch Henry Deku: „Die Problematik einer Schöpfung aus den Nichts hatte also ein Hinausgehen über die antike Spekulation erzwungen, der die reinlogische Möglichkeit unbekannt geblieben war.“ Vergleiche hierzu Henry Deku, „Possibile Logicum“, in: Philosophisches Jahrbuch der GörresGesellschaft 64 (1956), S. 1–21. Den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich Martin Mulsow. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Erster Teil: Antike Philosophie, a.a.O., S. 24. Ebd., S. 65. Ebd,, S. 30. Ebd., S. 201.

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thematisiert wird.26 Was nun wiederum die unterschiedlichen post-aristotelischen Versionen des Möglichkeitsgedankens angeht, so glaubt Faust in seiner Studie zeigen zu können, dass die stoische Kosmostheologie zur „Vereinigung von Freiheit und monistisch-teleologischem Schicksalsglauben“27 führt und dabei einen Begriff der Möglichkeit verwendet, der „nur in der Modalität gewisser Urteile über wirkliche Dinge“28 besteht, also keinerlei Aussagen über die Welt als solche – und sei’s nur ein Ausschnitt derselben – zu treffen intendiert. Den stoischen Möglichkeitsbegriff interpretiert Faust somit als „ein methodisches Hilfsmittel für unser Denken; aber er ist keine maßgebende Instanz für das Dasein, auf welches unser Denken sich bezieht.“29 Plotins Philosophie schließlich, und mit ihr lässt Faust den ersten Band seiner Studien zur begriffs- und ideengeschichtlichen Entwicklung des Möglichkeitsgedankens zu Ende kommen, formuliere einen mystischen Möglichkeitsbegriff, der im Sinne eines Emanationismus die Welt durch Gott ermöglicht sieht, der Kategorie der Möglichkeit also im Unterschiede zur Stoa durchaus objektive, nicht nur subjektive Geltung zubilligt. Dennoch ist auch Plotins Denken bei all seiner „Theologisierung der Möglichkeitstheorie“30 , die es „zum Schrittmacher für die Einführung des Begriffes vom possibile logicum und damit sowohl für die theologischen Möglichkeitsbegriffe des Mittelalters wie für deren erkenntnistheoretische Umbildung in der Neuzeit“31 werden lässt, insofern es „zum mindesten die Stätte“ vorbereitet, „die später in der christlichen Scholastik das possibile logicum einzunehmen berufen ist“32 , dennoch ist auch Plotins Denken von jenem möglichkeitsbegrifflichen Fundament, welches dem schöpfungstheologischen Gedanken einer göttlichen Schöpfung aus dem Nichts und einer Kontingenz der Welt schlechthin zugrunde liegen muss, noch weit entfernt, insofern sein Schöpfungsbegriff nicht an den Willensakt eines persönlichen Gottes denkt, sondern der Idee einer „gleichsam unwillkürlich überquellenden Dynamis des Ureinen“33 verpflichtet ist. Wiederum Gershom Scholem hat die theoretische Differenz von neuplatonischem Emanationismus und schöpfungstheologischer Lehre einer creatio ex nihilo sehr schön auf den Begriff gebracht: „Auch für Plotin, dem das griechische Denken seine letzte große Gestaltung verdankt, gibt es keine Schöpfung im eigentlichen Sinne. In einem ewigen, 26

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In dieser Hinsicht, dies sei nur kurz erwähnt und nicht weiter ausgeführt, widersprechen sich Faust und Barth. Barth behauptet ja, dass sich gerade in der aristotelischen Logik der Modalitäten sowohl ein Begriff des possibile logicum – im Sinne eines Denkmöglichen – wie der Begriff des possibile contingens – im Sinne des logisch Disiunktiven – ausmachen lassen, nun aber vor allem der erstere für die schöpfungstheologischen Diskussionen der Scholastik in Anspruch genommen wird, während der spätmittelalterliche Voluntarismus seine Diskussion der contingentia mundi tatsächlich auf dem Begriff eines possibile contingens fundiert. Vergleiche dazu weiter unten in diesem Kapitel meine Ausführungen zu Barth, S. 205 f. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Erster Teil: Antike Philosophie, a.a.O., S. 289. Ebd., S. 260. Ebd., S. 301. Ebd., S. 224. Ebd., S. 223. Ebd., S. 459. Ebd., S. 460.

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W, N, G: D S  K  Z anfangslosen Prozeß fließt das Sein aller Dinge aus dem überquellenden Seinsgrunde des Einen, nicht aus einem freien Willensakt der göttlichen Persönlichkeit (von der Plotin nichts weiß), sondern aus dem notwendigen Emanationsprozeß heraus.“34

Der Befund, dass die schöpfungstheologischen Theoreme der Kontingenz der Welt und einer göttlichen Schöpfung aus dem Nichts den Begriff der Kontingenz in einer unerhörten und unüberbietbar radikalen Weise ontologisieren, diesen Begriff weder als partikularen Aspekt des Wirklichen noch als Modalkategorie der Logik begreifen wollen, sondern mit seiner Hilfe das Problem oder das Rätsel der Faktizität schlechthin zu lösen trachten, wofür sie wiederum jenes spezifische möglichkeitsbegriffliche Fundament benötigen, welches wir soeben im Blick auf die Studie von Faust skizziert und zusammengefasst haben, ist das eine. Die Frage nach den genauen Inhalten dieser Theoreme und auch die Frage nach der historischen Genese dieser Theoreme ist aber ein ganz anderes. Zwar hatten wir die enge und unhintergehbare gedankliche Verknüpfung, die zwischen den Theoremen einer contingentia mundi und einer creatio ex nihilo besteht, und insofern auch den systematischen Kern dieser Lehren weiter oben en passant angedeutet und beschrieben. Auf die ideen- und theologiegeschichtliche Genese dieser Theoreme waren wir indes bislang kaum nennenswert eingegangen. Und doch könnte eine derartige Genese ihrerseits als ein auch hinsichtlich des systematischen Kerns und Inhalts dieser Theorie aufklärend wirkendes Medium unverzichtbar sein. Ausführlicher als dies bislang geschehen ist, wollen wir uns daher im Folgenden der Frage widmen, wie denn die historischen Anfänge und intellektuellen Konjunkturen jener christlichen, auf einem Begriff des Möglichen im Sinne des possibile logicum basierenden Vorstellung einer contingentia mundi, insofern und weil diese von Gott im Sinne einer creatio ex nihilo geschaffen wurde, wie also die historische Genese des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs zu bestimmen ist. Und hinsichtlich dieser ideen- und theologiegeschichtlichen Frage wenden wir uns zunächst noch einmal an Heinrich Barth. Barth verweist in seiner Untersuchung über das „kontingente Sein“, die wir weiter oben bereits zitiert hatten, zunächst einmal auf die islamische Theologie und Philosophie. Dort nämlich, in der die Antike rezipierenden islamischen Philosophie und Theologie des Mittelalters, ist Barth zufolge zum ersten Mal das kontingente Seiende einem absoluten Wesen kontrastiert worden, welches selbst gerade nicht kontingent ist, welches aber die Ursache für die Existenz des kontingenten Seienden ist, insofern es dieses geschaffen hat. Behauptet wurde also seinerzeit und dortselbst Folgendes: „Das Sein der Welt beruht auf einem freien Schöpfungsakte Gottes in der Zeit. Die Dinge bedürfen nicht nur zu ihrem Sein, sondern auch zu ihrer Erhaltung der fortwährenden Wirkung Gottes.“35 So schließe etwa im 10. Jahrhundert die Lehre des islamischen Gelehrten Alfarabi aus dem Phänomen einer contingentia mundi auf die Tatsache einer göttlichen Schöpfung der Welt aus dem Nichts, schließe von einem kontingenten Sein gleichsam auf ein „ens necessarium“, 34

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Gershom Scholem, „Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes“, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt am Main 1970, S. 54 f. Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte, Band 1, a.a.O., S. 342.

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„ein Beweis, der als der Schluß vom kontingenten auf das notwendige Sein für Jahrhunderte zum Bestandteil metaphysischer Erkenntnis werden sollte. […] Sofern Gott in freischaffender Schöpfung, in einem Schaffen, dem durch eine logische oder physische Determination der Weg vorgezeichnet ist, die Existenz des Weltseins begründet, ist diese Existenz ein kontingentes Sein. Sie ‚ist‘; aber sie ‚könnte auch nicht sein‘, indem der Schöpferwille ein anderes Sein geschaffen haben könnte.“36 Derartige schöpfungstheologische Konzeptionen markieren offensichtlich, so deuteten wir weiter oben bereits an, einen radikalen Bruch mit der antiken Kosmologie und Ontologie sowohl hinsichtlich des Prozesses der Schöpfung der Welt als auch bezüglich der Merkmale dieser so geschaffenen Welt, insofern die Welt nun nicht mit der vollen „Ausschöpfung des eidetisch Seinsmöglichen“ (Blumenberg) identifiziert werden kann. Ihre begriffliche und philosophische Ausarbeitung und explizite Formulierung erlangt die Vorstellung einer sich der göttlichen Schöpfung aus dem Nichts verdankenden Kontingenz der Welt allerdings Barths historischen Untersuchungen zufolge noch nicht in der islamischen Rezeption der antiken Philosophie, sondern erst in der scholastischen Theologie, welche sich von den ontologischen Voraussetzungen antiken Philosophierens, und sei’s auch noch in der Form neuplatonischer Vermittlung, so durchgängig und radikal löst, dass sie nun aus den verschiedenen Bedeutungen, die der Terminus „contingens“ seit Boethius’ Schriften der theoretischen und theologischen Reflexion bereit hält37 , justament jene eine in Anspruch nimmt und verwertet, welche ihr für die Zwecke schöpfungstheologischer Argumentation am sinnvollsten erscheint: Gott erschafft die kontingente Welt aus einem Nichts, dieser Akt ist also nicht unmöglich; aber Gott muss diese Welt nicht aus dem Nichts erschaffen, dieser Akt ist also auch nicht notwendig. Barths historische Einschätzung, wonach also erst die Scholastik im Rahmen ihrer Lehre einer creatio ex nihilo, welche wiederum einem Urteil Scholems zufolge „in den klassischen Urkunden der monotheistischen Offenbarungsreligionen noch gar nicht gegeben“38 ist, insofern doch zumindest der Ausdruck einer Schöpfung aus dem Nichts „weder in der hebräischen Bibel noch im griechischen Neuen Testament“39 auftaucht, Barths historische Einschätzung, wonach also erst die Scholastik in begrifflich expliziter und theoretisch zwingender Weise die Gedanken und die Begriffe der contingentia mundi und des possibile logicum gebrauche und zur Fundierung ihrer schöpfungstheologischen Argumentation im Sinne der Lehre einer creatio ex nihilo verwerte, trifft sich übrigens – zumindest was den Aspekt der historischen Datierung angeht – mit Fausts er-

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Ebd., S. 345 bzw. 347. Vergleiche dazu meine Ausführungen im ersten Kapitel, S. 50 f. Gershom Scholem, „Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes“, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, a.a.O., S. 55. Ebd., S. 60. Vergleiche gegen Scholem freilich folgende Stelle aus dem apokryphen zweiten Buch der Makkabäer, die in der Übersetzung Luthers lautet: „Ich bitte dich, mein Kind, sieh Himmel und Erde an und alles, was darin ist, und bedenke: dies hat Gott alles aus nichts gemacht, und wir Menschen sind auch so gemacht.“ (2. Makk 7,28).

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wähnten Thesen zur Entwicklung des Möglichkeitsgedankens.40 Denn auch Faust findet den Begriff des possibile logicum und der auf diesem Verständnis von Möglichkeit im Sinne sowohl eines für Gott Denkmöglichen als auch im Sinne einer logischen Denkmöglichkeit beruhenden Überzeugung von einer creatio ex nihilo und der contingentia mundi – trotz aller Anregungen, die „eine über Aristoteles hinausführende Möglichkeitsspekulation in echt christlichem Sinne“ beispielsweise „durch das sehr oft kommentierte Sentenzenbuch des Petrus Lombardus“41 erhalten haben mag – erst „bei der von den Dominikanern vollzogenen vollständigen Rezeption des Aristoteles“42 explizit formuliert und systematisch zu Ende gedacht. Zu einer theoretisch ausgereiften Formulierung eines possibile logicum und einer darauf beruhenden christlichen Schöpfungstheologie könne es erst in dem Augenblick kommen, da die creatio ex nihilo nicht nur postuliert oder geglaubt, sondern im Rahmen systematischen Philosophierens begriffen und bewiesen werden solle, also in der Scholastik: „Bis zu Thomas von Aquino galt das Dogma von der Erschaffenheit der Welt aus dem Nichts nur als ein Glaubenssatz, der zwar philosophisch nicht zu widerlegen, immerhin aber bloß mit Hilfe der Heiligen Schrift positiv zu beweisen sei. Jetzt soll diese Lehre schon innerhalb der Metaphysik und nicht erst in der christlichen Theologie ihren Platz finden; d. h. sie muß in rein philosophischem Sinne bewiesen werden können. Die Mittel, deren Thomas von Aquino sich dabei bedient, sind erstens seine fünf Gottesbeweise, welche zeigen, dass ein Gott als Urheber und Erhalter der Welt gedacht werden muß, und zweitens der Begriff einer logischen Denkmöglichkeit, mit dessen Hilfe nachgewiesen wird, dass der Gedanke der Weltschöpfung sich nach philosophischer, d. h. rationaler Konsequenz zu Ende denken lässt.“43 Thomas nun ist es auch, der sich im Rahmen seiner grundsätzlichen schöpfungstheologischen Argumentation und der dieser zugrunde liegenden Begriffe von Kontingenz und Möglichkeit auch gegen eine übersteigerte Auffassung von Gottes Allmacht ausspricht, gegen eine Auffassung beispielsweise, wonach dieser Gott nicht nur einstmals, als Rom noch nicht existierte, hätte bewirken können, dass Rom niemals existiert hätte, was auch für Thomas unstrittig ist, sondern auch bewirken könnte, dass Rom, welches offenkundig existiert, niemals existiert hat, wie dies in der frühen Scholastik von dem extremen Voluntarismus eines Petrus Damiani behauptet wurde.44 Thomas zufolge folgt 40

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Über ihre inhaltliche Differenz, nämlich die Frage, inwiefern der aristotelische Begriff der Möglichkeit Realpotenz im Sinne von dynamis oder logische Modalität, wie auch immer deren Varianten zu verstehen sind, meint, vergleiche Anmerkung 26 in diesem Kapitel, S. 201. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Zweiter Teil: Christliche Philosophie, Heidelberg 1932, S. 197. Ebd., S. 186. Ebd., S. 212 f. Vergleiche dazu wiederum Barths erhellende Diskussion: Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte, Band 1, a.a.O., S. 355–359: „Und es hat sich nun eben Petrus Damiani in der Geschichte dadurch einen Namen gemacht, dass er für die schrankenlose Omnipotenz des göttlichen Willens eingetreten ist. Wenn Gott die Fülle der Möglichkeiten vor Augen steht, in denen Sein oder Nicht-Sein des Wirklichen beschlossen ist, dann gibt es keine Bedingung und

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Gottes schöpferisches Handeln vielmehr den grundsätzlichen Prinzipien und Charakteristika seines Wesens, und zu diesen zählt auch der Logos seines Handelns. Bei Thomas wird, wie Barth formuliert, der Kontingenz des Seins „ihr Recht gegeben, ohne dass dabei die Vernunft verleugnet wird“45 . Intellektualismus, der Verweis auf Gottes Weisheit, und Voluntarismus, der Verweis auf Gottes gänzlich ungebundenen Willen, sie befinden sich dem Urteil Barths zufolge in Thomas’ Schöpfungstheologie in einem theoretischen „Gleichgewicht“46 . Gott schafft die Welt demnach im Sinne eines mit seinem Wesen verträglichen Möglichen, im Sinne eines eben für diesen Gott, der er ist, Denkbaren, im Sinne eines „possibile logicum“, nicht im gleichsam beliebigmöglichen Sinne des logisch Disiunktiven, nicht im Sinne eines „possibile contingens“. Barth präzisiert damit den der Schöpfungstheologie zugrundeliegenden Begriff des possibile logicum im Vergleich zu Fausts Begrifflichkeit und Verständnis erheblich. Barth stellt nämlich dieses possibile logicum eindeutig nicht nur dem Begriff einer Realpotenz gegenüber, wie Faust, sondern eben auch dem Begriff einer logischen Disiunktion: „Gott kann also nicht etwas schaffen wollen, was – zufolge eines logischen Widerspruchs – dem Sinn des Seins zuwiderläuft. Dem Sinn des Seins läuft aber zuwider, dass Etwas in Einem seiend und nicht seiend sein soll oder dass Bejahung und Verneinung zugleich wahr sind. In sich selbst widerspruchsvoll wäre es auch, dass Vergangenes nicht gewesen ist. Dies zu schaffen kann darum nicht Sache der göttlichen Allmacht sein.“47

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keinen Vorbehalt, an den die Verwirklichung dieser Möglichkeiten gebunden wäre. Sie stehen der Entscheidung seines Willens vorbehaltlos zu Gebote. Das Welt-Sein ist für Gott ein reines ‚possibile contingens‘, das nur darauf zu warten scheint, ob es von Gott in die Wirklichkeit gerufen wird oder nicht. Ein ‚possibile logicum‘, eine Möglichkeit, die ihr Maß an gewissen Vernunftprinzipien hat (wie z. B. dem der Widerspruchslosigkeit), scheint es für die radikale Auffassung eines Petrus Damiani nicht zu geben.“ (ebd., S. 355) Vergleiche dazu auch die Charakterisierung des theologischen Voluntarismus des Petrus Damiani durch Renz: „Und sogar, dass Gott die Vergangenheit ändern könne, hielt Damiani in gewisser Weise für eine zutreffende Aussage.“ Günter Renz, Zufall und Kontingenz. Ihre Relevanz in philosophisch-kosmogonischen, evolutionären und schöpfungstheologischen Konzeptionen, a.a.O., S. 30. Vergleiche auch Fausts exzellente Schilderung von Damianis Verteidigung der göttlichen Allmacht in § 27 des zweiten Bandes seiner Studie über den Möglichkeitsgedanken. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Zweiter Teil: Christliche Philosophie, a.a.O., S. 72–95. Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte, Band 1, a.a.O., S. 361. Ebd., S. 365. Ebd., S. 366. Vergleiche dazu auch die folgende Erläuterung Barths: „Die Welt hat als solche ein kontingentes Sein. Sie geht nach keiner logischen oder ontologischen Notwendigkeit aus dem Sein Gottes hervor. Darum ist sie doch nicht ein ‚possibile contingens‘, nicht ein Sein, das in jedem beliebigen Sinne möglich wäre. Bevor sie geschaffen wird, steht sie Gott als ein sinnvoller Entwurf vor Augen. Sie ist ein ‚possibile logicum‘, ein kontingentes Sein, das doch der göttlichen Sinngebung nicht entbehrt. Das Weltsein enthält als solches in sich keinen logischen Widerspruch. Es ist der rationalen Bestimmung nicht unzugänglich. In seiner Möglichkeit ist ein wirkliches Sein vorgezeichnet, das unbeschadet seiner Kontingenz von dem Licht des göttlichen Logos erhellt wird.“ (ebd., S. 375.)

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Indes, dass Gott im Zuge seiner kontingenten Schöpfung einer Welt aus dem Nichts vernunftgebunden verfährt, diese Tatsache allein beantwortet noch nicht die Frage nach seinen Motiven für diesen schöpferisch-vernünftigen Akt. Ließe sich in dieser Motivation auch nur eine Spur von Notwendigkeit nachweisen, würde Kontingenz als Charakteristikum der von Gott geschaffenen Welt schließlich doch einkassiert. Dem ist aber laut Barth nicht so. Zwar hat, wie Barth ausführt, der göttliche Wille nach scholastischer Auffassung „notwendig seine Güte und sein Sein zum Gegenstand [Hervorhebung von mir; P. V.].“48 Dies wiederum heißt nun nicht, dass Gott „auch das außer ihm liegende Sein notwendig will. Dieses außer Gott liegende Sein ist zwar auf das Ziel seiner Güte hingeordnet. Aber diese Güte ist auf es doch nicht angewiesen; und sie kann von ihm keinen Zuwachs erfahren. Und so zielt zwar der göttliche Wille auf jenes außer ihm liegende Sein hin, indem es seiner Güte wohl ansteht, nicht aber, weil es seiner Güte unentbehrlich wäre. Darum wohnt dem göttlichen Willen keine Notwendigkeit inne, das, was außer ihm liegt, zu wollen.“49 Dass und inwiefern Gott eine kontingente Welt schafft, ergibt sich also nicht aus Notwendigkeit, sondern liegt in seinem Vernunftwesen und in einem durch Güte und Liebe charakterisierten Willen begründet, der „das Sein Gottes zugunsten anderen Seins disponiert“50 , wie Eberhard Jüngel prägnant formuliert. Bereits Abaelard hatte in ebendiesem Sinne die göttlichen Motive der christlichen Schöpfungstheologie zusammenfassend benannt, wenn er in dem ganz anderen Kontext einer Klärung seiner Auffassung der Trinitätslehre in den Worten Fausts davon sprach, dass „durch den Namen ‚Sohn‘ die Weisheit und durch den Namen ‚Heiliger Geist‘ die Güte Gottes zum Ausdrucke gebracht wird. Also kann der dreieinige Gott seine Allmacht nicht mit blinder Willkür betätigen, sondern nur, indem er sie zugleich regelt und mäßigt, indem er sich beschränkt auf das Weiseste und Beste. Wenn man seiner Allmacht die Fähigkeit zuschreibt, alles zu tun, was er will, so bedeutet dies im Grunde doch nur, dass nichts seinen Taten Widerstand leisten kann, sobald er etwas will; aber es bedeutet nicht, dass er jede beliebige Tat wollen könnte. Denn etwas Unpassendes oder Überflüssiges zu können ist gar kein Zeichen für Macht, sondern für Ohnmacht.“51 Freilich, entgegen der skizzierten thomistischen Variante von Schöpfungstheologie tendierte die spätmittelalterliche Philosophie und Theologie mit und seit der Zeit des Duns Scotus dem Urteil Barths zufolge durchaus dazu, die Logosgebundenheit des weltentwerfenden Gottes in einer Weise einzuschränken, welche „durch die Stichworte ‚Nomi48 49 50

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Ebd., S. 373. Ebd., S. 373 f. Eberhard Jüngel, „Artikel ‚Schöpfung‘. VI. Schöpfung und Erhaltung“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, herausgegeben von Kurt Galling und Wilfrid Werbeck, Tübingen 1986, Sp. 979. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Zweiter Teil: Christliche Philosophie, a.a.O., S. 193 f.

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nalismus‘ und ‚Voluntarismus‘ schematisch angedeutet sein“52 mag, also in einer Weise zu konzipieren, dass nun der Intellekt Gottes eindeutig hinter dessen Willen zurücktritt. Allerdings sieht Barth mit der Theologie des Duns Scotus den entscheidenden Bruch zwischen Hochscholastik und spätmittelalterlichem Voluntarismus noch gar nicht markiert, sondern vielmehr erst im Werk Wilhelm von Ockhams angelegt, welcher „in seiner singularistischen Ontologie auch die – noch immer am Formprinzipe orientierte – Position des Johannes Duns Scottus überbietet.“53 Leo Scheffczyk wiederum schreibt über Ockhams schöpfungstheologische Konzeption: „Mit der weitergehenden nominalistischen Metaphysikkritik kam es bei Wilhelm von Ockham zu einer Überbetonung des Allmachtsprinzips, die nicht mehr von der göttlichen Wesenheit, sondern nur noch von der logischen Widerspruchsfreiheit normiert war.“54 Wolfhart Pannenberg wiederum sieht – anders als Barth – den entscheidenden Hiatus in der theoretischen Entwicklung der scholastischen Schöpfungstheologie tatsächlich schon früher formuliert und benennt sehr wohl den Aquinaten einerseits, Duns Scotus andererseits, als die beiden wesentlichen Protagonisten dieses Bruchs. In Erinnerung zu rufen ist in diesem Zusammenhang zunächst noch einmal die Formulierung des Duns Scotus: „[…] quare voluntas voluit hoc, nulla est causa nisi quia voluntas est voluntas.“55 Thomas habe, so charakterisiert nun Pannenberg den registrierten theologiegeschichtlichen Hiatus, zwar die Welt als kontingent bezeichnet, nicht aber den Schöpfungsakt als solchen und „daher auch den göttlichen Willen als jenseits der Differenz von Kontingentem und notwendig Seiendem gedacht.“56 Die zentrale Pointe der schöpfungstheologischen Argumentation des Scotisten hingegen ist laut Pannenberg eine andere, denn sie besage, „dass nur frei handelnde Ursachen Kontingentes hervorbringen können, weil alles, was aus der Notwendigkeit seiner Natur wirkt, auch notwendigerweise seinen Effekt hervorbringt, so dass dieser nicht faktisch auch nicht-sein kann. Duns Scotus behauptete daher, die Tatsache, dass es Kontingentes gibt, beweise bereits, dass die erste Ursache aller Dinge nicht aus einer Notwendigkeit ihrer Natur heraus wirke, sondern kontingent wirke, und zwar als freie Ursache, durch ihren Willen. Wenn nämlich die erste Ursache alles aus einer Notwendigkeit ihrer Natur hervorbrächte, dann könnte es in der Welt gar nichts Kontingentes geben. Die Frage aber, wie es zu denken sei, dass Gott kontingent wirke, da er doch seinem Wesen nach unveränderlich ist, beantwortete 52 53 54

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Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: eine Problemgeschichte, Band 1, a.a.O., S. 389. Ebd., S. 390. Leo Scheffczyk, „Artikel ‚Schöpfer/Schöpfung‘. VI. Mittelalter“, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 30, herausgegeben von Gerhard Müller, Berlin 1999, S. 303. Hier zitiert nach Hans Blumenberg, Artikel „Kontingenz“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, herausgegeben von Kurt Galling und Wilfrid Werbeck, a.a.O., Sp. 1794. Wolfhart Pannenberg, „Die Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit“, in: Günter Eifler, Manfred Moser und Andreas Thimm (Hg.), Zufall. Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/95, Mainz 1995, S. 165.

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W, N, G: D S  K  Z Duns durch eine genauere Darlegung zum Verständnis der göttlichen Freiheit im Unterschied zu der des menschlichen Willens: Der menschliche Wille kann Entgegengesetztes nur in sukzessiven Akten wählen. Das aber schließt die Veränderlichkeit unseres Willens und seiner Neigungen ein. Daher gehört es zur Unvollkommenheit unseres Wollens. Der göttliche Wille dagegen in seiner Ewigkeit umgreift alle seine Inhalte in einem einzigen, unveränderlichen Akt. Dennoch ist dieser Akt frei hinsichtlich seiner Gegenstände und kann sogar Entgegengesetztes gleichzeitig wollen, wenn auch für unterschiedliche Zeiten und Orte der geschöpflichen Verwirklichung.“57

Ähnlich wie Pannenberg charakterisiert auch Walter Brugger in jenen von ihm verfassten Passagen des „Kontingenz“-Artikels im Historischen Wörterbuch der Philosophie die schöpfungstheologische Differenz von Thomas und Duns Scotus: „Während nach Thomas die freie Kausalität Gottes über dem Gegensatz der notwendig und kontingent wirkenden Ursachen steht, ist nach Duns Scotus die kontingente Kausalität der Erstursache die Bedingung der Möglichkeit aller Kontingenz.“58 Wie auch immer nun genau der theologiegeschichtliche Hiatus zwischen Thomismus und spätmittelalterlichem Nominalismus und die Auswirkungen dieses Hiatus auf schöpfungstheologische Vorstellungen zu beschreiben und zu datieren sein mögen, eines jedenfalls ist unbestreitbar, die Tatsache nämlich, dass im Zuge der kontinuierlichen Fortentwicklung der scholastischen Theologie die These von Gottes Allmacht und einer einzig seinem Willen entsprungenen, ansonsten aber gerade nicht weiter gebundenen Kontingenz der Welt sukzessive stärker betont, zunehmend auf die „Spitze“ getrieben wurde, wie Renz schreibt.59 Auf die Frage, warum Gott die Welt geschaffen hat, steht am Ende dieser Entwicklung keine andere Antwort mehr zur Verfügung als jene, welche in dem vom Blumenberg zurecht so sehr hervorgehobenen Zitat des Scotisten artikuliert wird: der Verweis auf Gottes puren Willen, einen göttlichen Willen, dessen Schöpfungsakt im Sinne des possibile contingens möglich war und der Gott weder durch seine Güte und Liebe noch durch sein Vernunftwesen auferlegt noch für ihn einzig möglich im Sinne eines mit dem göttlichen Wesen verträglichen possibile logicum war. Blumenberg bringt die letzthinnige theoretische Konsequenz dieser theologie- und ideengeschichtlichen Entwicklung so auf den Begriff: „Durch den Voluntarismus der franziskanischen Scholastik wird dann, genau genommen, auch Gott in die Grundlosigkeit der Kontingenz hineingezogen.“60 57 58

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Ebd., S. 165. W. Brugger S. J., „Artikel ‚Kontingenz‘“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IV, herausgegeben von Joachim Ritter u. a., Darmstadt/Basel 1976, Sp. 1030. Günter Renz, Zufall und Kontingenz. Ihre Relevanz in philosophisch-kosmogonischen, evolutionären und schöpfungstheologischen Konzeptionen, a.a.O., S. 35. Hans Blumenberg, Artikel „Kontingenz“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, herausgegeben von Kurt Galling und Wilfrid Werbeck, a.a.O., Sp. 1794. Auf Blumenbergs These, wonach die Neuzeit dann einen „Ausweg aus der Überwältigung durch das Welt- und Selbstbewusstsein der Kontingenz“ (ebd., Sp. 1794) sucht, kann hier nicht eingegangen werden. Blumenberg spricht in dem weiter oben bereits zitierten Aufsatz „Selbsterhaltung und

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Die Vorstellung von einer Kontingenz der Welt schlechthin, von einer contingentia mundi, ebenso wie die Frage, warum Gott die Welt geschaffen habe und nicht vielmehr nicht, warum Welt überhaupt ist und nicht vielmehr nicht, ebenjene Frage also, die im Kontext scholastischer Theologie den Begriff der Kontingenz zum Kern und zur Grundlage eines ontologischen Problems von höchster existenzieller Dringlichkeit werden lässt, sie verdanken sich, dies sahen wir bislang, einem schöpfungstheologischen Kontext und werden von der Scholastik erstmals in philosophisch ausgereifter Form formuliert. Aber dies ist kein zwingender Konnex. Von einer Kontingenz der Welt schlechthin kann auch jenseits der scholastischen Schöpfungstheologie, ja sogar jenseits jeder theologisch imprägnierten Rede überhaupt die Rede sein. Die contingentia mundi, die Auffassung von einer Kontingenz der Welt schlechthin, wird auch von philosophischen Strömungen unterstrichen, denen zwar ein genuines und nur ursprünglich christliches Kontingenzbewusstsein im Sinne einer unüberbietbar radikalen ontologischen Problematik ebenfalls zu eigen ist, die daher ebenfalls davon ausgehen, dass die Welt schlechthin nicht notwendig existieren müsste, die sich aber nun einer religiösen Reaktion und Antwort auf dieses Bewusstsein und auf diese Problematik strikt verweigern. Wir stellen dieses ideengeschichtliche Faktum eines nichtreligiösen Bewusstseins einer Kontingenz der Welt schlechthin vor, indem wir uns einer diesbezüglich exemplarischen Aussage d’Alemberts zuwenden, einer Aussage, die auch Troeltsch in seinem bereits erwähnten Aufsatz über den Begriff der Kontingenz zitiert: „Das Unbegreiflichste ist, sagt d’Alembert, dass es überhaupt etwas gibt“61 . Freilich, dem skeptischen Aufklärer und Agnostiker wird dieses Bewusstsein einer Kontingenz der Welt schlechthin nicht zu Grund und Anlass für eine Auffassung der Kontingenz der Welt im Sinne und als Resultat einer Schöpfung Gottes. Während das Bewusstsein der Kontingenz der Welt in der christlichen Schöpfungstheologie auf dem möglichkeitsbegrifflichen Fundament

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Beharrung. Zur Konstitution neuzeitlicher Rationalität“ von der „Unmöglichkeit der menschlichen Freiheit und Selbstverantwortlichkeit unter den Voraussetzungen der Kontingenz-Metaphysik“ (S. 149), insofern doch diese „Kontingenz-Metaphysik“ stets auf der scholastischen Lehre nicht nur einer creatio ex nihilo basiere, sondern auch auf dem Gedanken einer creatio continua oder eines concursus divinus, wonach die Welt nicht nur aus dem Nichts entstanden ist, sondern „für jeden Augenblick ihres Bestehens in ihrem Bestand gegen den Rückfall in das Nichts verteidigt werden“ (S. 147) müsse. Der Begriff der auf keinen göttlichen Beistand angewiesenen Selbstbeharrung ist es daher laut Blumenberg, der im Zuge der Genese neuzeitlicher Rationalität aufs Entschiedenste dem scholastischen Kontingenzbegriff, vor allem dem voluntaristischen Kontingenzbegriff widerspricht: „Die mittelalterliche Zuspitzung des Kontingenzgedankens, nach welcher die Wirklichkeit der Welt nicht genügt, sie für den Menschen zuverlässig und beständig zu machen, hat auch den Kanon für dessen Überwindung festgelegt. Wenn es in der weltlichen Seinsmodalität lag, ohne die göttliche Erhaltung nicht beständig, ohne den göttlichen Willen nicht gesetzmäßig sein zu können, so gab es nur eine Alternative, aus dieser Verunsicherung herauszutreten: die Welt selbst musste das ens necessarium werden.“ (S. 182) Vergleiche hierzu Hans Blumenberg, „Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution neuzeitlicher Rationalität“ (1970), in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, a.a.O. Zitiert nach Ernst Troeltsch, „Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz“ (1910), in: Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, S. 773.

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des possibile logicum beruht und mit der Lehre einer creatio ex nihilo durch Gott, der diese Welt eben auch nicht hätte erschaffen müssen, aufs Engste verknüpft ist, ergeben sich jenseits der Formulierung einer contingentia mundi im schöpfungstheologischen Kontext ganz andere Bedeutungsgehalte für die Formel von einer Kontingenz der Welt: So entwickelt sich nach Franz Josef Wetz, dem wir die gründlichste Untersuchung der nichtchristlichen Formen eines Bewusstseins der Kontingenz der Welt schlechthin zu verdanken haben, erstens ein von Wetz als vernunftphilosophisch bezeichneter Kontingenzbegriff, der mit der Kontingenz der Welt weniger das Geschaffensein der Welt durch Gott bezeichnet und weniger die Frage stellt, weshalb Gott die kontingente Welt aus dem Nichts erschaffen hat, als vielmehr und ohne dabei immer schon an Gott zu denken, das Rätsel bezeichnet, dass überhaupt Welt existiert und nicht vielmehr nichts, also ohne theologischen oder religiösen Bezug die Faktizität des Dass thematisiert: „So zeitlos sich die Formel Kontingenz der Welt auch gibt, grundsätzlich ist sie vom Wandel der Zeiten nicht unberührt geblieben. Christlich-metaphysisch bedeutet sie, die Welt ist das frei bewirkte Werk Gottes, in dem sie zwar ihren Halt hat, dessen Vorsehung sie lenkt wie dessen Fürsorge sie trägt, der ihr Werden aber auch nicht hätte zu beschließen brauchen. Kontingenz der Welt heißt aber ebenso die erstaunliche Tatsache, dass es überhaupt Welt gibt, obgleich es sie gar nicht geben müsste. Das veranlasst die Frage, weshalb sie dann doch existiert.“62 Bei dem Versuch, eine Antwort auf dieses „Rätsel des Daß“ zu finden, sucht der von Wetz als vernunftphilosophisch bezeichnete Kontingenzbegriff des deutschen Idealismus, so lässt sich wiederum mit einer Formel von Troeltsch prägnant zusammenfassen, ebendieses „Rätsel des Daß“ als Resultat „der ideellen Notwendigkeit des Ausgangs der Welt aus der Idee“63 zu bezeichnen. Den bislang von Gott eingenommenen Platz hatte nun eine wie auch immer verstandene Vernunft auszufüllen, „die damit verständlicherweise maßlos überfordert war.“64 Um genauer zu verstehen, wie die Philosophie des Idealismus mit dem Gedanken einer „Totalkontingenz der Welt“ umgeht, ist es hilfreich, auf einen von Manfred Sommer in seinem Aufsatz „Mit dem Zufall leben. Überlegungen zu Kants Moralphilosophie“ formulierten Gedanken zurückzugreifen. Sommer zufolge kann der Zufall, das zufällige Stolpern ebenso wie die Kontingenz der Welt schlechthin, einerseits entweder durch Bezugnahme auf eine fremde Intentionalität – theologisch hieße dies: Gott hat gewollt, dass ich stolpere, und Gott hat gewollt, dass die Welt überhaupt ist – zum Verschwinden ge62

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Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 92. Ernst Troeltsch, „Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz“ (1910), in: Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, a.a.O., S. 773. Genau dagegen richtet sich freilich die Kontingenzphilosophie von Émile Boutroux: „Nach der Lehre von der Kontingenz ist der Anspruch ungereimt, ganz verkehrt, die Geschichte auf eine einfache, blosse Deduktion zurückführen zu wollen.“ Vergleiche hierzu Émile Boutroux, Die Kontingenz der Naturgesetze, Jena 1911 (1874), S. 140. Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 92.

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bracht werden. Die Extremform dieser theologischen Rückführung von Kontingenz auf die fremde Intentionalität Gottes stellt für Sommer der theologische Nominalismus dar. Andererseits kann der Zufall, das zufällige Stolpern ebenso wie die Kontingenz der Welt schlechthin durch Bezugnahme auf die eigene Intentionalität – idealistisch hieße dies: der eigene Wille oder das Ich wollte stolpern oder wollte es, dass die Welt überhaupt ist – zum Verschwinden gebracht werden. Die Extremform dieser philosophischen Rückführung von Kontingenz auf die eigene Intentionalität oder auf „das, was die Metaphysik des Idealismus als ihr absolutes Ich feiert“65 , stellt nun für Sommer in der Tat die Philosophie des Idealismus dar. Die Welt und die Tatsache ihrer Existenz schlechthin sollen sich also aus einem wie auch immer genau bestimmten Absoluten, für das aber jedenfalls dies eine gilt: dass es nicht Gott ist, deduzieren lassen oder ergeben. Wiederum Wetz hat in seiner ungeheuer dicht geschriebenen und anspruchsvollen Studie Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, ursprünglich eine Dissertation bei Odo Marquard, die idealistische Thematisierung der contingentia mundi als spekulative Systemphilosophien des Absoluten bezeichnet und dabei vor allem im Hinblick auf Fichtes Wissenschaftslehre und Schellings Spätphilosophie nachgewiesen, dass und inwiefern eine solche Auseinandersetzung mit der contingentia mundi und mit dem „Rätsel des Daß“ einen theoretischen Bruch mit der schöpfungstheologischen Antwort auf dieses Rätsel darstellt.66 Nicht nur von einer christlichen, sondern auch von einer idealistischen Antwort auf die contingentia mundi wird Abstand genommen, wenn nun etwa bei Schopenhauer oder Nietzsche überhaupt nicht mehr nach einem Grund für die Kontingenz der Welt gesucht wird, dieser Grund also weder in einem Schöpfergott vermutet noch aus einer absoluten Idee oder einem absoluten Ich deduziert wird, sondern vielmehr dieses Rätsel einer „Totalkontingenz der Welt“ mit einer ganz anders gearteten philosophischen Strategie beantwortet wird, nämlich durch die nihilistische Postulierung einer unüberwindlichen Grundlosigkeit der Welt in einer nicht mehr weiter zu befragenden Weise affirmiert und beantwortet wird. Dass die Faktizität der Welt schlechthin als grundlos erscheint, kann für diese nihilistische Vorstellung von einer contingentia mundi den Grund nur darin haben, dass die Faktizität der Welt eben tatsächlich grundlos ist, und nicht durch Verweis auf eine jenseits dieser Faktizität angesiedelte Sphäre oder Rationalität – sei’s Gott, sei’s ein absolutes Ich – beantwortet werden. Wetz kommentiert die theoretische Pointe des nihilistischen Bewusstseins einer „Totalkontingenz der Welt“, welche bezüglich der Präsumtion der Welt schlechthin als Sphäre von Kontingenz eine theoriegeschichtliche Entwicklung zum Abschluss bringt, so: „Damit hat sich die Bedeutung des Ausdrucks Kontingenz weiter verschoben, sie ist praktisch in das Gegenteil dessen umgeschlagen, was er ehemals bedeutete. Einst kennzeichnete Kontingenz das Erschaffensein des Alls, dann das Rätsel der Existenz der Welt überhaupt, auf das der christliche Gott damals

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Manfred Sommer, „Mit dem Zufall leben. Überlegungen zu Kants Moralphilosophie“, in: Neue Hefte für Philosophie 22 (1983), S. 100. Vergleiche dazu insgesamt Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Die Frage nach der Faktizität, a.a.O., S. 56–132.

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W, N, G: D S  K  Z die einzige Lösung war; nun steht das Wort Kontingenz aber für die absolute Grund- und Zwecklosigkeit des Ganzen.“67

Diese nihilistische These einer absoluten Grund- und Zwecklosigkeit der contingentia mundi wiederum kann ganz unterschiedliche praktische Reaktionen hervorrufen. Sie kann entweder – dafür steht exemplarisch Schopenhauer – mit der Attitüde des ostentativen Pessimismus und der larmoyanten Resignation zur Kenntnis genommen werden oder im Gegenteil in einer gleichsam aktivistischen Wendung als Ausweis unbegrenzter menschlicher Freiheit oder Chance für menschliche Authentizität bejaht werden. Ein besonders prominentes Beispiel für diese zweitgenannte Variante einer nihilistischen Affirmation der Grundlosigkeit der Welt stellt wohl jenes berühmte Stück philosophisch durchtränkter Literatur des 20. Jahrhunderts dar, Sartres Roman Der Ekel von 1938, in welchem die Kontingenz der Welt als „Grundkategorie der Wirklichkeit“68 reüssiert und in geradezu emphatischer Weise zu einer desillusionierenden Erkenntnis dieser Kontingenz und Grundlosigkeit der Welt als der ersten Bedingung für die Erlangung authentischer individueller Freiheit aufgefordert wird: Antoine Roquentin, die an taedium vitae leidende Hauptfigur von Sartres Roman, sieht sich von seinen Mitbürgern und Zeitgenossen durch die Einsicht getrennt, dass die Existenz der Welt ebenso wie die eigene Existenz völlig grundlos und in diesem Sinne kontingent sind, während die epigonalen Figuren einer trägen und dekadenten Bourgeoisie eine Welt nach gesetzesmäßigen Abläufen postulieren und es sich in einer solchen Welt behaglich gemacht haben. Die geistig mediokren Angehörigen der bürgerlichen Welt entfliehen der Kontingenz der Welt schlechthin, aber sie erhalten aufgrund dieses Verhaltens in der Tat, und eben deshalb ziehen sie sich Roquentins Haß und Missachtung zu, sie erhalten „hundertmal am Tag den Beweis, dass alles mechanisch abläuft, dass die Welt starren und unwandelbaren Gesetzen gehorcht. Die der Leere überlassenen Körper fallen alle mit der gleichen Geschwindigkeit, der Park wird im Winter täglich um 16 Uhr, im Sommer um 18 Uhr geschlossen, Blei schmilzt bei 335 Grad, die letzte Straßenbahn fährt um 23 Uhr 5 am Hôtel de Ville ab.“69 Der nach authentischer Freiheit verlangende Roquentin hingegen gelangt in seinen einsamen Monologen zu der Einsicht einer absoluten Grundlosigkeit nicht nur der Welt schlechthin, sondern auch der eigenen Existenz in dieser Welt: „Das Wesentliche ist die Kontingenz. Ich will sagen, dass die Existenz ihrer Definition nach nicht die Notwendigkeit ist. Existieren, das ist dasein, ganz einfach; die Existierenden erscheinen, lassen sich antreffen, aber man kann sie nicht ableiten. Es gibt Leute, glaube ich, die das begriffen haben. Nur haben sie versucht, diese Kontingenz zu überwinden, indem sie ein notwendiges und sich selbst begründendes Sein erfanden. Doch kein notwendiges Sein kann die 67

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Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 93. Norbert Luyten, „Das Kontingenzproblem. Das Zufällige und das Einmalige in philosophischer Sicht“, in: Norbert Luyten (Hg.), Zufall, Freiheit, Vorsehung, Freiburg/München 1975, S. 63. Jean-Paul Sartre, Der Ekel, Reinbek bei Hamburg 1982 (1938), S. 248.

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Existenz erklären: die Kontingenz ist kein Trug, kein Schein, den man vertreiben kann; sie ist das Absolute, folglich die vollkommene Grundlosigkeit. Alles ist grundlos, dieser Park, diese Stadt und ich.“70 Die nihilistische Einsicht in die absolute Grundlosigkeit und Kontingenz unserer Welt wie unserer individuellen Existenz fundiert nun für Sartre, wiewohl weniger in dem Roman Der Ekel, so doch ganz offensichtlich in seiner frühen existentialistischen Philosophie das Pathos radikaler Freiheit, Wahl und Selbsterschaffung, wonach der Mensch nichts anderes ist als der Entwurf, den zu sein er beabsichtigt: In seinem Vortrag „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ schreibt Sartre, „der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht“71 , „[…] der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.“72 Es gibt also, so Sartre in seinem zunächst 1945 gehaltenen Vortrag, keine „optimistischere Lehre“ als ebenjene des Existentialismus, welche davon ausgeht, dass „das Schicksal des Menschen in ihm selbst liegt“73 . Besonders aussagekräftig ist diesbezüglich das von Sartre in seinem Vortrag zitierte Beispiel jenes jungen Mannes, welcher sich in tragischer Weise mit der Wahl konfrontiert sieht, entweder seine kranke Mutter zu pflegen oder sich fern von zu Hause der Résistance anzuschließen. Wie soll er sich entscheiden? Nichts kann ihm, so Sartre, die „totale Verantwortung“74 für diese konkrete Wahl ebenso wie für den sich in dieser Wahl bekundenden Entwurf seiner Existenz schlechthin abnehmen. Aber welchen normativen Kriterien kann eine solche Wahl laut Sartre folgen? Wenn Gott nicht existiert, eine theoretische Prämisse, deren Unbezweifelbarkeit Sartre in „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ für selbstverständlich und keiner Begründung für nötig erachtet, dann existieren Werte, so schlussfolgert Sartre, eben nicht „in einem intelligiblen Himmel“75 , sondern erlangen Wirklichkeit nur durch den Akt der Wahl selbst. Daher glaubt sich Sartre auch zu der These einer weitgehenden Parallele zwischen der Erschaffung eines Kunstwerks und der Erschaffung von Werten berechtigt: „[…] die moralische Wahl ist mit der Erschaffung eines Kunstwerkes vergleichbar.“76 Werte werden demnach nicht gefunden, sondern geschaffen. Das Dilemma des jungen Mannes kann folglich nur durch eine radikale Wahl, nicht durch die Orientierung an jenseits dieser Wahl existierende Werte entschieden werden, die wiederum ebenjenen Wert überhaupt erst artikuliert, welchen der junge Mann in seinem Leben entwirft und realisiert. Der Mensch ist für Sartre, was er wählt, und nur diese Wahl gibt für Sartre Aufschluss darüber, was der Mensch sei. Das skizzierte Dilemma kann folglich nicht durch eine dieser Wahl vor- oder übergeordnete Instanz, sei es die moralische Vernunft, seien es moralische Gefühle, seien es wahlunabhängig existierende Werte, entschieden werden. 70 71

72 73 74 75 76

Ebd., S. 207. Jean-Paul Sartre, „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ (1946), in: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 150. Ebd., S. 161. Ebd., S. 164. Ebd., S. 150. Ebd., S. 154. Ebd., S. 169.

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Die radikale Selbsterschaffung im Angesicht der absoluten Kontingenz unserer Welt und der in ihr sich ereignenden Situationen gilt Sartre vielmehr als Inbegriff existentialistischer Lebenskunst. Wir haben dieses existentialistische Programm menschlicher Selbsterschaffung, diese existentialistische Inanspruchnahme des nihilistischen Postulats einer absoluten Grundlosigkeit und Kontingenz der Welt an dieser Stelle ebensowenig einer Bewertung zu unterziehen wie die, wenn auch auf derselben Diagnose beruhende, geradezu konträre Empfehlung, die Attitüde der Resignation und pessimistischen Larmoyanz. Uns ging es im ersten Abschnitt dieses Kapitels allein darum, eine bestimmte Sphäre von Kontingenz darzustellen, nämlich die Sphäre der Welt schlechthin, und dabei zu klären, was denn gemeint sein könne, wenn diese Sphäre in einem schöpfungstheologischen Sinne als eine Sphäre von Kontingenz bezeichnet wird, und was denn gemeint sein könne, wenn diese Sphäre jenseits dieses schöpfungstheologischen Verständnisses als eine Sphäre von Kontingenz bezeichnet wird. Die Rede von einer contingentia mundi, so zeigte sich, kann eben sowohl in einem schöpfungstheologischen, aufs engste mit der Lehre von einer creatio ex nihilo verknüpften Sinne verstanden werden, woraus sich wiederum – abhängig auch von dem verwendeten Möglichkeitsbegriff – ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage ergaben, warum Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen habe, als auch im vernunftphilosophischen Sinne des deutschen Idealismus und schließlich auch in einem nihilistischen Sinne, der gar nicht mehr nach einer theoretischen Antwort auf das Rätsel einer Kontingenz der Welt schlechthin sucht, sondern dieses Rätsel eo ipso für nicht lösbar hält und die praktischen Konsequenzen dieser Antwort wiederum in ganz unterschiedlicher Weise konkretisiert. (2) Die Rede von einer contingentia mundi erlangte ihre erste Formulierung, ihre epochale ideen- und theologiegeschichtliche Konjunktur und ihre unüberbietbare ontologische Relevanz im Kontext der schöpfungstheologischen Fragestellung und beruht dabei auf dem skizzierten möglichkeitsbegrifflichen Fundament. Freilich konnte sich die Auffassung einer „Totalkontingenz der Welt“, so war den letzten Absätzen des vorherigen Abschnitts dieses Kapitels zu entnehmen, diesen schöpfungstheologischen Ursprüngen und Zusammenhängen entwinden. Das Bewusstsein von einer Kontingenz der Welt schlechthin war dann in keinem geringerem Maße virulent, die Faktizität der Welt schlechthin wurde immer noch als Rätsel empfunden, aber auf keinen Fall ließen sich nunmehr jenes Bewusstsein und dieses Rätsel durch die spezifisch christlichen Lehren einer creatio ex nihilo oder einer contingentia mundi befriedigend ruhigstellen oder auflösen. Schließlich standen entweder die Attitüde der Resignation und eines ostentativen Pessimismus oder das existentialistische Pathos individueller Selbsterschaffung als praktische Formen des Umgangs mit dem Rätsel der contingentia mundi zur Verfügung, wenn nicht mehr nur die schöpfungstheologische, sondern auch die idealistische Auffassung des Rätsels der Faktizität der Welt schlechthin als Resultat der, wie es Troeltsch interpretiert hatte, „ideellen Notwendigkeit des Ausgangs der Welt aus der Idee“77 an Überzeugungskraft verloren hatte. Aber die Welt schlechthin, also die Welt nicht im Sinne eines bestimmten Ausschnitts unserer Wirklichkeit, und insofern die Rede, dass diese Welt schlechthin kontingent sei, 77

Vergleiche oben Anmerkung 63 in diesem Kapitel, S. 210.

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sie repräsentieren eben nur – wie wir dies nennen wollen – eine Sphäre von Kontingenz. Wir wollen in diesem Kapitel aber allen relevanten Sphären von Kontingenz und Zufall nachgehen. Und ein weiterhin zu nennender Bereich der Wirklichkeit, der immer wieder als Sphäre von Kontingenz und Zufall aufgefasst wurde, ist nun eben die Natur. Wir wollen uns daher, um die bislang verwendete Terminologie zu variieren, in diesem zweiten Abschnitt dieses Kapitels mit der contingentia naturae beschäftigen. Wer hat, so wollen wir fragen, eine solche Sichtweise von einer kontingenten und auch zufälligen Natur postuliert und in welchem Sinne verstanden? Zunächst ist dabei klärend vorauszuschicken, dass zweierlei gemeint sein, wenn von Kontingenz und Zufall bezüglich der Natur die Rede ist. Denn erstens kann eben dies, dass die Natur nicht als das Ganze unserer Wirklichkeit, wohl aber als ein Ausschnitt unserer Wirklichkeit überhaupt ist, für kontingent und zufällig gehalten werden. In diesem Sinne lässt sich von Kontingenz und Zufall der Natur sprechen, und die Philosophen, die wir in der Sektion (b) dieses Abschnitts des Kapitels diskutieren werden, Émile Boutroux und vor allem Charles Sanders Peirce, verstehen letztendlich immer auch, wenn auch nicht ausschließlich, ihre auf die Natur bezogene Rede von Kontingenz und Zufall in einem Sinne, welcher sich letztendlich und zumindest implizit eben als eine Naturalisierung und Dynamisierung der schöpfungstheologischen Fragestellung begreifen lässt und daher ein besonders guter theoretischer Ausgangspunkt ist, das Verhältnis der Rede von einer contingentia mundi schlechthin und einer contingentia naturae als eines Bestandteils dieser Welt systematisch und nunmehr auch ganz explizit in Sektion (c) des zweiten Abschnitts dieses Kapitels zu diskutieren. Aber auch Darwins Evolutionslehre und die über die theoretischen Konsequenzen des Darwinismus bezüglich einer auf die Natur bezogenen Rede von Kontingenz und Zufall spekulierenden Naturwissenschaftler Jacques Monod und Stephen Jay Gould, auf die wir sogleich in Sektion (a) dieses zweiten Abschnitts dieses Kapitels eingehen, sprechen, wenn auch nicht ausschließlich, so doch immer auch von dem Rätsel, dass die Natur ist, wie sie ist, behandeln also die Kontingenz und den Zufall der Natur. Nun können aber zweitens Kontingenz und Zufall auch als Attribute, Charakteristika und Wesensmerkmale ebendieser Natur betrachtet werden. Dann befinden sich Kontingenz und Zufall in dieser Natur im theoretischen Visier, und die Physiker und die physikalischen Theoreme, die wir ebenfalls in Sektion (a) dieses zweiten Abschnitts des Kapitels behandeln, meinen immer nur und ausschließlich dieses, wenn sie bezüglich der Natur von Kontingenz und Zufall sprechen: nämlich Kontingenz und Zufall in der Natur. Nicht also, dass die Natur ist, wie sie ist, gilt als kontingent und zufällig, sondern wie die Natur ist. Und natürlich können nun einzelne Autoren, seien dies Philosophen, seien dies Naturwissenschaftler, in unendlich variablen begrifflichen Schattierungen und inhaltlichen Nuancierungen, und ohne dass sie dies zwingend begrifflich reflektiert hätten, immer auch beides meinen, wenn sie von Kontingenz und Zufall bezüglich der Sphäre der Natur sprechen, sowohl Kontingenz und Zufall der Natur als auch Kontingenz und Zufall in der Natur. Wenn im ersten Sinne von Kontingenz und Zufall der Natur die Rede ist, und wir deuteten an, für welchen Autor dies vorrangig, wenn auch nicht ausschließlich, der Fall ist, dann wird die schöpfungstheologische Begrifflichkeit von einer contingentia mundi gleichsam in eine moderne und zeitgemäße und vor allem mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Naturwissenschaften verträgliche Rede einer contingentia naturae

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übersetzt, also der Terminus „Welt“ durch ein begrifflich funktionales Äquivalent – „Natur“ – ersetzt, ohne dass der neu eingesetzte Terminus einen semantischen Bedeutungsverlust gegenüber seinem Vorgängerbegriff erführe. Die schöpfungstheologische Rede von einer contingentia mundi wird gleichsam naturalisiert. Wenn die Sphäre der Natur im zweiten Sinne als Ausschnitt der Wirklichkeit, Kontingenz und Zufall mithin lediglich als Charakteristika dieses Ausschnitts verstanden werden und insofern immer Kontingenz und Zufall in der Natur gemeint sind, dann wird im Unterschied zur Rede von einer „Totalkontingenz der Welt“, sei’s im originalen schöpfungstheologischen, sei’s im naturalisierten Sinne, niemals die „Faktizität des Dass“ schlechthin thematisiert, sondern soll tatsächlich und in jedem Falle „nur“ ein spezifischer Ausschnitt unserer gesamten Wirklichkeit, in diesem Fall: jener Wirklichkeitsbereich, der für gewöhnlich als Natur bezeichnet wird, auf eine bestimmte Weise charakterisiert werden. Antworten auf das Rätsel der Faktizität schlechthin zu finden – sei’s im schöpfungstheologischen, sei’s im idealistischen, sei’s im nihilistischen Sinne –, dies ist insofern für diese Semantik einer contingentia naturae im zweitgenannten Sinne gar nicht von Interesse. Allein auf einen Ausschnitt unserer Wirklichkeit, eben die Natur, bezieht sich nun die Rede von Zufall und Kontingenz, und insbesondere interessieren dabei ihre physikalischen Phänomene und die Evolution ihrer biologischen Artenvielfalt. Zu dieser zweifachen Möglichkeit, die Rede von einer natürlichen Kontingenz oder einem natürlichen Zufall zu verstehen, schreibt Walter Brugger in seinen Ausführungen im „Kontingenz“-Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie – freilich bezogen auf die Naturgesetze selbst – sehr prägnant und zutreffend: „Was die Kontingenz der Naturvorgänge angeht, so ist zwischen der Kontingenz der Vorgänge gegenüber den Naturgesetzen (relative Indetermination) und der Soseins-Kontingenz der Naturgesetze selbst zu unterscheiden.“78 Wie auch immer nun die unterschiedlichen, auf die Sphäre der Natur bezogenen Begriffe von Kontingenz und Zufall verstanden werden können, ob im Zuge gleichsam einer Naturalisierung der schöpfungstheologischen Fragestellung als Kontingenz und Zufall der Natur oder als Merkmal eines Bestandteils der gesamten Wirklichkeit, nämlich der Natur, also als Kontingenz und Zufall in der Natur, in jedem Falle wahrt die Rede von natürlichem Zufall und natürlicher Kontingenz in wie abgeschwächter Form auch immer die ontologische Dimension der unterschiedlichen Varianten der schöpfungstheologischen Formel contingentia mundi insofern, als die Bezugnahme auf eine kontingente und zufällige Natur zweifellos auf die objektive Wirklichkeit, in der Menschen leben, Bezug nimmt, diese Rede also Kontingenz und Zufall nicht als Charakteristika unseres subjektiven Sprechens über diese Welt verstanden wissen will. Daher eint alle auf die Sphäre der Natur bezogene Rede von Kontingenz und Zufall, philosophischer wie naturwissenschaftlicher Provenienz, dass die Natur nunmehr nicht als eine geordnete und statische und notwendige Sphäre unserer Wirklichkeit gilt, sondern, wie es einmal sehr schön von dem Naturwissenschaftler und Theologen Arthur Peacocke formuliert wurde, aufzufassen ist als „a giant Monte Carlo saloon in which the dice have happened to fall out in the

78

W. Brugger S. J., Artikel „Kontingenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IV, herausgegeben von Joachim Ritter u. a., a.a.O., Sp. 1033.

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way which produced man.“79 Stellt die Rede von einer contingentia mundi einen Bruch vor allem mit der griechischen Kosmosfrömmigkeit dar, so der Gedanke einer contingentia naturae eine theoretische Opposition gegen die Vorstellung einer Gesetzen der Notwendigkeit uneingeschränkt und lückenlos folgenden Natur. Insofern entzünden sich die beiden genannten Varianten einer auf die Natur bezogenen Rede von Kontingenz und Zufall zunächst und stets an der Frage, ob das natürliche Geschehen in dieser Welt vollständig determiniert ist oder ob sich Zufall und Kontingenz in der Natur als Attribute eines vor dem Horizont des Ganzen unserer Welt auftauchenden spezifischen Ausschnitts unserer Wirklichkeit ausmachen lassen, ob – um Peacockes Metapher aufzugreifen – das Geschehen in der Natur mehr den zwingenden Gesetzmäßigkeiten von Billardkugeln oder mehr den Launen des Roulettespiels folgt. Und im Anschluss an diese Frage muss dann wohl nicht, kann dann aber eben auch die Frage gestellt werden, ob die Tatsache, dass die Natur überhaupt ist, ihrerseits als kontingent und zufällig zu gelten habe. (a) Dass nun Kontingenz und Zufall als Wesensmerkmale der Natur im Sinne einer spezifischen Sphäre unserer gesamten Wirklichkeit, also Kontingenz und Zufall in der Natur auch in den ex officio für diese Sphäre zuständigen Disziplinen, in den Naturwissenschaften selbst, im Laufe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer vehementer thematisiert wurden und sich in den verschiedenen Naturwissenschaften seinerzeit immer stärker die Ansicht durchsetzte, dass ihr ureigener Gegenstandsbereich, die Natur, zumindest nicht gänzlich von unwiderruflichen Gesetz- und Regelmäßigkeiten geprägt sei, sondern vielmehr Kontingenz und Zufall unhintergehbare Merkmale dieser Natur seien, sodass ein strikt deterministisches Weltbild als einzige Möglichkeit, Phänomene der Natur wissenschaftlich seriös zu erklären, zunehmend in einer Weise in Frage gestellt wurde, dass Physik und Biologie gleichermaßen für ihren Untersuchungsgegenstand von einer Kontingenz und einem Zufall in der Natur sprechen konnten, sodass mitunter auch – obschon nicht für die Physik, wohl aber für eine evolutionstheoretisch fundierte Biologie – die Frage nach Kontingenz und Zufall der Natur schlechthin virulent werden konnte, dafür gibt es in der Geschichte der Naturwissenschaften der beiden letzten Jahrhunderte zwei entscheidende theoretische Katalysatoren aus zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen: zum einen die von Darwin formulierte, evolutionstheoretische Sichtweise der Biologie und der Natur, zum anderen die Entwicklung der quantentheoretischen Physik, welche starke theoretische Zweifel aufkommen ließ an dem theoretischen Vorbild der klassischen Physik, welche einem Worte von Max Born zufolge davon überzeugt war, „Unsicherheiten […] ohne Verletzung der deterministischen Gleichungen berücksichtigen“80 zu können. Während ich dabei auf die theoretischen Entwicklungen der Physik und jene physikalischen Theoreme, die zu einer theoretischen Reflexion von Kontingenz und Zufall in der Natur förmlich zwangen, mangels ausreichender Kompetenz nur kurz und auch nur indirekt eingehen kann, möch79

80

Arthur Peacocke, „Chance, Potentiality and God“, in: John Lewis (Hg.), Beyond Chance and Necessity. A Critical Inquiry into Professor Jacques Monod’s Chance and Necessity, London 1974, S. 14. Max Born und D. J. Hooton, „Statistische Dynamik mehrfachperiodischer Systeme“, in: Zeitschrift für Physik 142 (1955), S. 201.

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te ich die theoretischen Entwicklungen in der Biologie, welche einer Thematisierung von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur günstig waren, anfänglich ebenfalls nur im indirekten Rückgriff auf Darwins Sicht der natürlichen Evolution belegen und deren wirkungsgeschichtliche Relevanz sodann im Rückgriff auf zwei Naturwissenschaftler des späten 20. Jahrhunderts bezeugen, indem ich auf die diesbezüglich relevanten Thesen und Arbeiten des Molekularbiologen Jacques Monod und des Paläontologen Stephen Jay Gould verweise, welche freilich aus ihrer wissenschaftlichen Expertise immer wieder auch weitgehende philosophische und weltanschauliche Folgerungen für die uns in diesem Kapitel interessierenden Fragestellungen nach Kontingenz und Zufall in der Natur und der Natur ausdrücklich ableiteten, dabei mitunter ein eng begrenztes disziplinäres Gebiet und wissenschaftlich disziplinierte Reflexion zugunsten weitreichender weltanschaulicher Schlussfolgerungen verlassend. Die in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts formulierte Quantenphysik und im besonderen Werner Heisenbergs Unschärferelation stellten den Determinismus der klassischen Physik wie kein anderes physikalisches Theorem in Frage. Die genaue physikalische Begründung, inwiefern die Annahmen der quantenmechanischen Physik den Prämissen der klassischen Physik widersprechen, kann ich hier freilich aus Gründen mangelnder eigener Kompetenz nicht ausführlich liefern, sondern allenfalls indirekt erörtern, indem ich auf philosophische und wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten verweise, aber auch auf philosophische Interpretationen und Äußerungen von Physikern selbst, welche die theoretischen Implikationen und Konsequenzen ihrer neuen quantenphysikalischen Erkenntnisse kommentierten. So lässt die Wissenschaftshistorikerin Anneliese Maier ihre Studie über die Begriffe von Notwendigkeit, Kontingenz und Zufall in der Theologie des 13. und 14. Jahrhunderts mit folgenden Sätzen beginnen, um die aktuelle und sich auch auf die Naturwissenschaften auswirkende Relevanz des eigentlichen Themas ihrer Untersuchung zu verdeutlichen: „Eine der hauptsächlichsten metaphysischen Grundlagen der klassischen Physik ist das sogenannte Kausalprinzip, das folgende zwei Postulate umfasst: wenn die zureichenden Realgründe für das Eintreten einer Wirkung gegeben sind, so tritt sie mit Notwendigkeit (d.h. immer und immer in derselben Weise) ein und umgekehrt: jeder physikalische Vorgang hat eine oder mehrere Ursachen, von denen er mit Notwendigkeit hervorgebracht worden ist. Selbstverständlich sind die Ursachen, die hier gemeint sind, im Sinn der causa efficiens verstanden. Dieses Prinzip, oder diese beiden sich ergänzenden Prinzipien galten jahrhundertelang für selbstverständlich. Erst in unserer Zeit wurde ihre Gültigkeit von der sogenannten akausalen oder indeterministischen Physik in Frage gestellt. Man zog die Möglichkeit in Betracht, dass das Eintreten einer Kausalwirkung bei völlig gleichen gegebenen Ursachen und völlig gleichen Bedingungen nicht mit schlechthinniger Notwendigkeit, sondern nur mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgt, dass also von einer durchgängigen

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Determiniertheit im physikalischen Geschehenszusammenhang keine Rede sein kann.“81 Die zentrale Rolle für dieses im Zuge der Quantenphysik formulierte Unbehagen an der These „von einer durchgängigen Determiniertheit im physikalischen Geschehenszusammenhang“ und für die quantenphysikalische Aufmerksamkeit für Kontingenz und Zufall in der Natur spielte dabei die sogenannte Heisenbergsche Unschärferelation. Was ist damit gemeint? Um zu verstehen, inwiefern die Unschärferelation eine physikalische Form von Ungewissheit registriert, die sich mit dem klassischen Determinismus nicht mehr verträgt, verweise ich auf die Formulierung des gelernten Atomphysikers William Pollard, wonach die Unschärferelation unterstellt, dass es für sehr kleine Objekte wie Elektronen oder Atome unmöglich ist, „ihre Position wie zugleich auch ihre Geschwindigkeit wie Genauigkeit zu bestimmen. Ist eine der beiden Größen genau bekannt, bleibt die andere völlig unbestimmt.“82 Dem beobachteten Teilchen kann also nicht zugleich eine eindeutige Position und Geschwindigkeit zugeschrieben werden, sondern immer nur entweder eine eindeutige Position oder eine eindeutige Geschwindigkeit. Insofern ist ein Element der Unschärfe oder Unbestimmtheit aus der physikalischen Beobachtung niemals zu tilgen. Diese Ungenauigkeit wird aber nun im Kontext der Heisenbergschen Unschärferelation gerade nicht als das Resultat von Beobachtungs- oder Messfehlern verstanden, sondern als ein unhintergehbares Merkmal quantenphysikalischer Experimente, insofern dabei der Beobachter von dem Untersuchungsgegenstand prinzipiell niemals restlos getrennt werden kann. Der Physiker Max Born bringt diese allgemeine theoretische Konsequenz der Quantenphysik so auf den Begriff: „Man lehrte die Generation, zu der Einstein, Bohr und ich gehören, dass eine objektive physikalische Welt existiert, die sich nach unveränderlichen Gesetzen entfaltet, die von uns unabhängig sind. Wir betrachten diesen Vorgang, wie das Publikum im Theater ein Stück verfolgt. Einstein hält daran fest, dass dies das Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Beobachter und seinem Gegenstand sein soll. Die Quantenmechanik deutet indessen die in der Atomphysik gewonnene Erfahrung auf andere Weise. Wir können den Beobachter einer physikalischen Erscheinung nicht mit dem Publikum einer Theateraufführung vergleichen, sondern eher mit dem bei einem Fußballspiel, wo der Akt des Zusehens, der von Applaus oder Pfeifen begleitet wird, einen ausge81

82

Anneliese Maier, „Notwendigkeit, Kontingenz und Zufall“, in: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Rom 1949, S. 219. William G. Pollard, Zufall und Vorsehung. Wissenschaftliche Forschung und göttliches Wirken, München 1960 (1958), S. 46. Vergleiche in diesem Sinne auch John Deweys Interpretation von Heisenbergs Unschärferelation: „The principle of Heisenberg is that given the determination of position, its velocity can be stated only as of a certain order of probability, while if its velocity is determined the correlative factor of position can be stated only as of a certain order of probability. Both cannot be determined at once, from which it follows necessarily that the future of the whole collection cannot possibly be foretold except in terms of some order of probability.“ John Dewey, „Time and Individuality“ (1940), in: Later Works, Volume 15, Carbondale/Illinois 1988, S. 106 f.

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W, N, G: D S  K  Z prägten Einfluss auf die Schnelligkeit und Konzentration der Spieler und damit auf den beobachteten Vorgang hat. Ein noch besseres Gleichnis ist das Leben selbst, wo Publikum und Akteure die gleichen Personen sind.“83

Werner Heisenberg selbst verweist in seinem Aufsatz „Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie“ auf diesen Aspekt der fundamentalen Differenz von klassischer Physik und Quantentheorie. Die klassische Physik „beruhte auf der Annahme – oder sollten wir sagen auf der Illusion? –, dass wir die Welt beschreiben können oder wenigstens Teile der Welt beschreiben können, ohne von uns selbst zu sprechen. Das ist tatsächlich in weitem Umfang möglich. Wir wissen z. B., dass es die Stadt London gibt, unabhängig davon, ob wir sie sehen oder nicht sehen. Man kann sagen, dass die klassische Physik eben die Idealisierung der Welt darstellt, in der wir über die Welt oder über ihre Teile sprechen, ohne dabei auf uns selbst Bezug zu nehmen.“84 Die Quantentheorie erinnert uns hingegen, so schreibt Heisenberg weiterhin in diesem Aufsatz, daran, „dass man beim Suchen nach der Harmonie im Leben niemals vergessen darf, dass wir im Schauspiel des Lebens gleichzeitig Zuschauer und Mitspielende sind. Es ist verständlich, dass in unserer wissenschaftlichen Beziehung zur Natur unsere eigene Tätigkeit dort sehr wichtig wird, wo wir es mit den Teilen der Natur zu tun bekommen, in die wir nur durch die kompliziertesten technischen Hilfsmittel eindringen können.“85 Was folgt nun aber ganz allgemein und in einem gleichsam weltanschaulichen Sinne aus Heisenbergs Unschärferelation oder allgemein aus den theoretischen Erkenntnissen der Quantenphysik, wie wir sie bruchstückhaft beschrieben haben, für das uns in diesem zweiten Abschnitt dieses Kapitels interessierende Thema der Natur als einer Sphäre von Kontingenz und Zufall? Der Philosoph John Dewey hat sich in seinem Werk Die Suche nach Gewißheit ebendiese Frage vorgelegt und dabei die Heisenbergsche Unschärferelation als letzten Schritt „in der Ablösung der alten Zuschauertheorie der Erkenntnis“86 interpretiert und als gleichsam naturwissenschaftliche Unterstützung für seine eigene erkenntnistheoretische Position wahrgenommen.87 William Pollard wiederum entnimmt in seinem bereits zitierten Werk Zufall und Vorsehung der theoretischen Entwicklung der Quantenphysik weniger erkenntnistheoretische Konsequenzen, sondern Argumente für eine grundsätzliche Ontologie der Unbestimmtheit. Zufall und Kontingenz seien demnach für die Quantenphysik unhintergehbare Bestandteile oder Merkmale unserer 83 84

85 86

87

Max Born, Physik im Wandel meiner Zeit, Braunschweig 1966, S. 110. Werner Heisenberg, „Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie“ (1958), in: Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze, Stuttgart 1979, S. 56 f. Ebd., S. 60 f. John Dewey, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkennen und Handeln, Frankfurt am Main 1998 (1929), S. 205. Vergleiche dazu meine Rezension von Deweys Die Suche nach Gewißheit: Peter Vogt, „Sicherheit statt Gewissheit“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 153–160.

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Wirklichkeit der Natur, eben keine residualen Erkenntnisdefizite: „Ob es uns passt oder nicht“, schreibt Pollard, die Quantenphysik gebe zu erkennen, dass diese Welt eine sei, „in der Unbestimmtheit, Alternative und Zufall reale Aspekte der fundamentalen Natur der Dinge und nicht nur Folgen unseres unzulänglichen und provisorischen Verständnisses sind.“88 Gemäß dieser Lesart spricht Heisenbergs Unschärferelation ganz unzweideutig für die unhintergehbare Faktizität von Kontingenz und Zufall in der Sphäre der Natur. Für besonders bemerkenswert halte ich schließlich die Tatsache, dass Werner Heisenberg selbst, was nun die gleichsam ontologischen oder naturphilosophischen Konsequenzen des mit seinem Namen verbundenen physikalischen Ansatzes angeht, auf Ähnlichkeiten zwischen den wahrscheinlichkeitstheoretischen Implikationen der Quantenphysik und dem Möglichkeitsbegriff des Aristoteles, den er eben nicht als einen logischen, sondern als einen ontologischen versteht, verweist. 1959 schreibt er in seinem Artikel „Die Plancksche Entdeckung und die philosophischen Probleme der Atomphysik“: „Der Gedanke, dass das Geschehen selbst nicht zwangsläufig bestimmt sei, sondern dass die Möglichkeit oder die ‚Tendenz‘ zu einem Geschehen selbst eine Art von Wirklichkeit besitze – eine gewisse Zwischenschicht von Wirklichkeit, die in der Mitte steht zwischen der massiven Wirklichkeit der Materie und der geistigen Wirklichkeit der Idee oder des Bildes –, dieser Gedanke spielt in der Philosophie des Aristoteles eine entscheidende Rolle. In der modernen Quantentheorie gewinnt er eine neue Gestalt, indem man eben diesen Begriff der Möglichkeit quantitativ als Wahrscheinlichkeit formuliert und ihn mathematisch fassbaren Naturgesetzen unterwirft. Die in der Sprache der Mathematik formulierten Naturgesetze bestimmen hier nicht mehr das Geschehen selbst, sondern die Möglichkeit zum Geschehen, die Wahrscheinlichkeit dafür, dass etwas geschieht.“89 Der zu Beginn meiner Ausführungen über die Entwicklung der Quantenphysik zitierte Befund der Wissenschaftshistorikerin Anneliese Maier, dass „also von einer durchgängigen Determiniertheit im physikalischen Geschehenszusammenhang keine Rede sein kann“, er wurde freilich entgegen Maiers Datierung – und damit kommen wir noch auf Ludwig Boltzmann zu sprechen – schon lange vor den quantenphysikalischen Innovationen des 20. Jahrhunderts formuliert und spielte im Rahmen der Physik eine prominente Rolle auch in der Wärmelehre oder Thermodynamik: Erst gegen Beginn des 19. Jahrhunderts und später dann im Zuge der Entwicklung der kinetischen Gastheorie wurde Wärme nicht mehr auf einen „Wärmestoff“ zurückgeführt, sondern auf die Bewegungszustände von Atomen. 1852 sprach Lord Kelvin dann von einer „universellen Tendenz in der Natur zur Dissipation (Zerstreuung) mechanischer Energie.“90 In den 88

89

90

William G. Pollard, Zufall und Vorsehung. Wissenschaftliche Forschung und göttliches Wirken, a.a.O., S. 48. Werner Heisenberg, „Die Plancksche Entdeckung und die philosophischen Probleme der Atomphysik“, in: Universitas 14 (1959), S. 140. Michael Hampe, Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko, Berlin 2006, S. 144. Die folgenden Bemerkungen zu Boltzmann berufen sich überhaupt sehr stark auf Hampes Ausführungen in diesem Buch.

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60er-Jahren des 19. Jahrhunderts führte der deutsche Physiker Rudolf Clausius einen „Verwandlungswert“ der Wärme ein, der den Wärmeaustausch eines Systems bei vorgegebener Temperatur maß, und prägte dafür das Wort Entropie. Eine Tasse mit warmem Kaffee kühlt in einer kalten Küche auf die Zimmertemperatur ab, die höchstens minimal durch die Kaffeetasse erwärmt wurde. Wärme verteilt sich also immer so, dass die Entropie zunimmt oder zumindest konstant bleibt.91 Der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann stellte nun wahrscheinlichkeitstheoretische und statistische Überlegungen an, um den als zweiten Hauptsatz der Thermodynamik bekannten Satz, den Satz, der besagt, dass bei allen in einem abgeschlossenen System ablaufenden Vorgängen die Entropie, die molekulare Unordnung, mit fortschreitender Zeit nur zunehmen kann, den Satz, wonach ein abgeschlossenes System im thermischen Gleichgewicht ein höchstmögliches Maß an Entropie beibehält, um dieses „Evangelium der klassischen Physik“92 , wie Arthur Koestler einmal formulierte, zu belegen, und zeigte ferner, dass nun ganz entgegen dem Geiste dieses „Evangeliums“ die „Entwicklung der Welt hin zu einem Zustand zerstreuter, gleichmäßig verteilter Energie eine zufällige ist“93 , wie Michael Hampe formuliert, sich also nicht auf unveränderliche Ursachen zurückführen lässt, sondern einzig auf erwartbare Wahrscheinlichkeiten. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik „mit seiner Aussage über das Anwachsen der Entropie“94 konnte insofern aber, wie es in Simonyis Kulturgeschichte der Physik heißt, nicht mehr als „absolut und unter allen Umständen gültig“ gelten: „Wird nämlich jeder Mikrozustand eines Gases mit der gleichen Wahrscheinlichkeit realisiert, so nimmt das Gas im Verlauf einer hinreichend langen Zeit jeden beliebigen Zustand an. Wir wissen zwar, dass zur Mehrzahl dieser Zustände die maximale Entropie gehört, aber nichtsdestoweniger müssen – wenn auch sehr selten – andere Zustände mit einer geringeren Entropie vorkommen. Selbst eine besonders anschauliche Formulierung des zweiten Hauptsatzes, nach der die Wärme nicht allein vom kälteren zum wärmeren Körper übergeht, gilt […] nicht völlig streng. Es ist nicht ausgeschlossen, dass von zwei sich berührenden Körpern unterschiedlicher Temperatur der eine noch kälter wird und der andere sich entsprechend anwärmt.“95 91

92 93

94

95

Vergleiche zu diesem Beispiel und zu Rudolf Clausius: Klaus Mainzer, Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt, a.a.O., S. 61. Arthur Koestler, Die Wurzeln des Zufalls, Frankfurt am Main 1972, S. 120. Michael Hampe, Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko, a.a.O., S. 144. Vergleiche dazu auch die Bemerkung von John Dewey in „Time and Individuality“: „Recognition of the statistical nature of physical laws was first effected in the case of gases when it became evident that generalizations regarding the behavior of swarms of molecules were not descriptions or predictions of the behaviour of any individual particle. A single molecule is not and cannot be a gas. It is consequently absurd to suppose that the scientific law is about the elementary constituents of a gas. It is a statement of what happens when a very large number of such constituents interact with one another under certain conditions.“ John Dewey, „Time and Individuality“ (1940), in: Later Works, Volume 15, a.a.O., S. 106. Károly Simonyi, Kulturgeschichte der Physik. Von den Anfängen bis heute, Frankfurt am Main 2001, S. 374. Ebd., S. 374.

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Die Einbeziehung wahrscheinlichkeitstheoretischer Überlegungen im Rahmen der Deutung und Bestätigung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik veranlasste also Boltzmann schon weit vor den quantenphysikalischen Innovationen des 20. Jahrhunderts zu einem Bruch mit der grundsätzlichen Überzeugung des Determinismus, alle physikalischen Phänomene als Relation von Ursache und Wirkung und damit als wahrscheinlichkeitsfrei beschreiben zu können. Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Erhard Scheibe kommentiert diesen Bruch so: „Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein konnte man die Physik wahrscheinlichkeitsfrei formulieren und verstehen. Diese Zeit ging zu Ende, als in den thermodynamischen Theorien des ausgehenden Jahrhunderts erstmalig Wahrscheinlichkeiten auftauchten und zur Beschreibung der nicht genau bekannten Zustände eines mechanischen Systems von sehr vielen Freiheitsgraden dienten.“96 Die gleichsam kosmologischen Konsequenzen, die Boltzmann aus seinen thermodynamischen Überlegungen zog, führten ihn selbst nun freilich weniger zu einer Epistemologie oder auch einer Ontologie der Unbestimmtheit, wie sich diese sowohl Heisenbergs Äußerungen als auch retrospektiv formulierten, philosophischen Interpretationen der Unschärferelation etwa durch John Dewey oder William Pollard entnehmen ließen, sondern zu der These vom zufälligen Wärmetod des Universums, gleichsam zu einer Ontologie der Unbestimmtheit, die sich zu einer naturgeschichtlichen Prognose verstieg, welche sich mit Hampe folgendermaßen reformulieren läßt: „Weil Bewegung und Leben auf Energiedifferenzen angewiesen sind, sowohl mit der Erhaltung als auch dem Ausgleich solcher Differenzen zu tun haben, führt die zufällige Entwicklung der Welt zur Zerstreuung, zu einer gleichmäßig verteilten Energie, zum so genannten ‚Wärmetod‘, zur Bewegungs- und Leblosigkeit der Welt.“97 Wir sprachen am Beginn dieser Sektion (a) des zweiten Abschnitts dieses dritten Kapitels von zwei naturwissenschaftlichen Disziplinen und zwei theoretischen Katalysatoren, welchen zu verdanken sei, dass eine aus den Reihen der Naturwissenschaften selbst formulierte und auf die Sphäre der Natur bezogene Rede von Kontingenz und Zufall oder eben auch Unbestimmtheit gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer stärker reüssierte. Denn nicht nur hinsichtlich der physikalischen Struktur des Universums, auch hinsichtlich der biologischen Evolution und der organischen Welt wurden in den Naturwissenschaften spätestens ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Fragen nach Kontingenz und Zufall – und nunmehr tatsächlich Fragen nach Kontingenz und Zufall sowohl der Natur als auch in der Natur – gestellt. Entscheidender Auslöser für diese theoretische Sensibilität war natürlich Charles Darwins Evolutionstheorie, wie er sie exemplarisch in seinem 1859 erstmals erschienenen Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life formulierte. Darwins Denken erwies sich 96 97

Erhard Scheibe, Die Philosophie der Physiker, München 2006, S. 229. Michael Hampe, Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko, a.a.O., S. 144 f.

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insofern als entscheidend für jede weitere naturwissenschaftliche Thematisierung von Kontingenz und Zufall sowohl der Natur wie in der Natur, als es die biologische Evolution durch zwei Mechanismen erklärte: durch zufällige Variationen und eine natürliche Selektion, welche diese zufälligen Variationen durch das Sieb der Auslese treibt. Dieser gewissermaßen zweistufige Prozess, wie er für Darwin die Evolution der biologischen Arten erklären können soll, macht einsichtig, dass für Darwins Evolutionstheorie die Natur und ihre Entwicklung keinesfalls ausschließlich vom Zufall regiert wird, gleichwohl aber auch nicht ausschließlich von Gesetzen der Notwendigkeit, sondern vielmehr Zufall und Notwendigkeit gleichermaßen berücksichtigt. Ernst Mayr hat Darwins Vorstellung von einem zweistufigen Prozess der Selektion und die dieser Vorstellung immanente Berücksichtigung der Existenz von Zufall und Notwendigkeit in der Natur so gedeutet: „Nahezu alle, die etwas gegen den Gedanken der natürlichen Selektion hatten, erkannten nicht, dass es sich um einen zweistufigen Vorgang handelt. Deshalb bezeichneten manche Gegner die Selektion als einen Zufallsprozess, andere nannten sie deterministisch. In Wirklichkeit ist die natürliche Selektion beides. Das wird sofort deutlich, wenn man die beiden Schritte der Selektion getrennt betrachtet. Zum ersten Schritt gehören alle Vorgänge (unter anderem Meiose, Keimzellbildung und Befruchtung), die zur Entstehung einer neuen Zygote führen und für neue Variationen sorgen. Hier steht der Zufall an oberster Stelle […] Im zweiten Schritt, dem der Selektion (Beseitigung), wird die ‚Güte‘ des neuen Individuums ständig überprüft, vom Larven- oder Embryonalstadium bis zum Erwachsenenalter und der Zeit der Fortpflanzung. Individuen, die mit den Anforderungen der Umwelt am besten zurechtkommen und im Wettbewerb mit anderen Angehörigen ihrer Population sowie mit den Mitgliedern anderer biologischer Arten am besten bestehen, haben die größte Chance, bis zum fortpflanzungsfähigen Alter zu überleben und selbst Nachkommen hervorzubringen.“98 Durch sexuelle Fortpflanzung, bei der alle möglichen Zufallsprozesse eine Rolle spielen – Partnerwahl, zufällige Rekombination elterlicher Chromosomen, Überleben der neu befruchteten Eizelle –, stehen der Evolution einer Spezies also Variationen bereit, aus denen sie sodann eliminieren kann. Freilich spielt auch bei diesem Prozess der Selektion der Zufall immer noch eine gewisse Rolle, wie sich anhand eines Massensterbens etwa aufgrund einer Umweltkatastrophe leicht klar machen lässt. Zufall und Notwendigkeit, beide also spielen für Darwins Erklärung der Evolution durch Variation und Selektion eine konstitutive und unhintergehbare Rolle. Mayr illustriert dieses evolutionäre Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit anhand der Entstehung des Homo sapiens: „Die Spezies Homo sapiens ist rund eine Viertelmillion Jahre alt, und vor dieser Zeit nahmen unsere Vorfahren im Tierreich keinerlei Sonderstellung ein. Niemand hätte vorhersagen können, dass ein schutzloses Lebewesen, das sich langsam auf zwei Beinen fortbewegte, zur Krönung der Schöpfung werden sollte. Aber eine Population von Australopithecinen erwarb auf irgendeine 98

Ernst Mayr, Das ist Evolution, München 2003 (2001), S. 151 f.

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Weise die notwendige Leistungsfähigkeit des Gehirns, um mit ihrer Intelligenz zu überleben. Man kann sich kaum dem Gedanken entziehen, dass dies mehr oder weniger Zufall war, aber reiner Zufall war es andererseits auch wieder nicht, denn jeder Schritt in der Verwandlung vom Australopithecus zum Homo sapiens wurde von der natürlichen Selektion vorangetrieben.“99 Die evolutionstheoretische Verknüpfung von Zufall und Evolution meint bei Darwin, darauf macht Mayrs Rekonstruktion besonders treffend aufmerksam, also immer zweierlei: den Zufall in der Evolution, also etwa das unvorhersehbare, durch eine klimatische Katastrophe oder einen Meteoriten verursachte Aussterben der Dinosaurier, wie auch den Zufall der Evolution, die Tatsache etwa, dass homo sapiens überhaupt ist. Mit dieser Betonung des Zufalls in der Evolution und der Evolution wendet sich Darwin gegen eine ganze Reihe von zu seiner Lebenszeit vertretenen naturphilosophischen Positionen: gegen die Annahme einer der Natur immanenten Zielstrebigkeit unter Wirkung von Finalursachen, wie sie seinerzeit in einer säkularen Variante, aber auch von einer in England wirkungsmächtigen Physikotheologie vertreten wurde. Mithin wendet sich Darwin auch gegen eine theologische Position, welche die Natur als Ausdruck eines auf Schritt und Tritt handelnden göttlichen Wirkens und die Zweckmäßigkeiten und Funktionalitäten der Natur als Beweis für die Allmacht und Güte Gottes betrachtete, wie sie etwa von der für die englische Theologie besonders wirkungsmächtigen, 1802 erschienenen Natural Theology von William Paley formuliert wurde100 . Darwins evolutionäres Denken erweist sich aber auch als unvereinbar mit einer Auffassung aller Naturphänomene als unveränderliche und konstante Wesensformen sowie schließlich auch mit einem der Physik nacheifernden biologischen Determinismus, welcher Darwins Sensibilität für den evolutionären Zufall nur verächtlich als „Gesetz des Drunter und Drüber“101 (John Herschel) abtun konnte. Gegen all diese religiösen wie säkularen Positionen einer Verdrängung des evolutionären Zufalls, die ihrerseits in unterschiedlichsten intellektuellen Variationen auftreten konnten, kurzum: gegen eine deterministische, gegen eine essentialistische und gegen eine finalistische Erklärung natürlicher Phänomene, beharrte Darwin darauf, dass die natürliche Evolution nicht aus unveränderlichen Wesensformen besteht, sondern aus evolutionär sich verändernden Populationen. Darwin wollte diese evolu-

99 100

101

Ebd., S. 281. Vergleiche dazu insgesamt den äußerst instruktiven Aufsatz von Jan Rohls: Jan Rohls, „Darwin und die Theologie. Zwischen Kritik und Adaption“, in: Kurt Bayertz und Walter Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 2: Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007, S. 107–131. Gegen Paleys Natural Theology vor allem richtet sich das anti-teleologische Fundament von Darwins Denken: „The old argument of design in nature, as given by Paley, which formerly seemed to me so conclusive, fails, now that the law of natural selection has been discovered. We can not longer argue that, for instance, the beautiful hinge of a bivalve shell must have been made by an intelligent being, like a hinge of a door by man. There seems to be no more design in the variability of organic beings and in the action of natural selection, than in the course which the wind blows.“ Charles Darwin, Autobiographies, London 2002, S. 50. Hier zitiert nach Ernst Mayr, Konzepte der Biologie, Stuttgart 2005 (2004), S. 107.

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tionär sich verändernden Populationen durch rein natürliche Vorgänge erklären, und er wollte dabei die evolutionäre Rolle des Zufalls berücksichtigen. Allerdings wurden, dies sei in Erinnerung gerufen, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts auch andere, nämlich nicht-darwinistische evolutionstheoretische Ansätze formuliert, die bezüglich der Sphäre der Natur gerade nicht von Zufall sprechen wollten. Zwischen evolutionstheoretischen Prämissen und einer auf die biologische Natur bezogenen Sensibilität für Zufall besteht mithin gerade kein zwingendes Junktim. Herbert Spencer etwa formulierte, ganz anders als Darwin, keine zufallssensible Evolutionstheorie, sondern gerade einen teleologischen Evolutionismus. Und bereits Darwins großer Gegenspieler Lamarck hatte die Evolution der Natur ganz anders als Darwin erklären wollen, nämlich durch veränderte Verhaltensgewohnheiten und einen sich daraus ergebenden häufigeren Gebrauch von bestimmten Organen. Das Paradebeispiel, welches zur Verdeutlichung des Lamarckschen Verständnisses von Evolution immer wieder angeführt wurde, war dabei der Hals der Giraffe. Dieser strecke sich, um an Nahrung zu kommen, und diese Anstrengung und ihre Konsequenzen würden dann durch Vererbung in der Evolution weitergegeben. Auch Ernst Mayr, der Doyen der Evolutionsbiologie, kommt auf diesen lamarckschen Hals der Giraffe zu sprechen, wenn er in seiner an eine breite Öffentlichkeit gerichteten und kurz vor seinem Tode verfassten überblicksartigen Darstellung des Verlaufs der Evolution und der inhaltlich unbestreitbaren Substanz der Evolutionstheorie die Vorstellungen von Lamarck so umschreibt: „Lamarck hielt das Verhalten für eine wichtige Ursache des entwicklungsgeschichtlichen Wandels. Nach seiner Ansicht wurden Veränderungen, die auf Grund aller möglichen Tätigkeiten in den Lebewesen vorgehen, durch die Vererbung erworbener Eigenschaften an zukünftige Generationen weitergegeben. Wenn Giraffen sich beispielsweise streckten, um immer höher hängende Blätter zu erreichen, sollte dies zu einer Verlängerung des Halses führen, die an die nächste Generation vererbt wurde.“102 Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce markiert die evolutionstheoretischen Differenzen von Lamarck und Darwin gerade anhand ihrer unterschiedlichen Sensibilität für die Relevanz des evolutionären Zufalls: „[…] umfassenderem und philosophischerem Verständnis nach ist die Evolution nach Darwin Evolution durch die Wirksamkeit des Zufalls und die Vernichtung negativer Ergebnisse, während die Evolution nach Lamarck Evolution durch die Wirkung von Verhaltensgewohnheiten und Anstrengungen ist.“103 Die Evolutionstheorie Darwins vermittelt der Biologie und ihren verschiedenen Bereichen bis heute, so lässt sich ihre intellektuelle Wirkung bezüglich der uns in diesem Abschnitt dieses Kapitels interessierenden Fragestellung nach der Sphäre der Natur und der Relevanz von Kontingenz und Zufall für diese Sphäre und in dieser Sphäre zusammen102 103

Ernst Mayr, Das ist Evolution, a.a.O., S. 172. Charles Sanders Peirce, „Die Architektonik von Theorien“ (1891), in: Karl-Otto Apel (Hg.), Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt am Main 1991, S. 273.

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fassen, einerseits theoretische Anschlusspunkte für die Affirmation von Kontingenz oder Zufall der Natur und in der Natur, andererseits theoretische Fundamente für den Protest gegen eine deterministische Reduktion sowie gegen eine finalistische und essentialistische Nobilitierung natürlicher Phänomene und natürlicher Lebewesen, Anschlusspunkte und Fundamente, die nicht nur eine theoretische Möglichkeit darstellen, sondern im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Biologie tatsächlich auch genutzt und verwertet wurden. Auf zwei besonders prominente und dabei auch erhebliche Kontroversen und Debatten auslösende Autoren aus dem 20. Jahrhundert möchte ich in diesem Zusammenhang verweisen, Naturwissenschaftler, die zudem aus ihrer Betonung eines unhintergehbaren Junktims von Evolution und Natur mit den Begriffen und Themen von Kontingenz und Zufall erhebliche weltanschauliche Konsequenzen gezogen haben. Sowohl der von dem Molekularbiologen Jacques Monod 1970 publizierten Schrift Zufall und Notwendigkeit als auch dem 1989 erstmals erschienenen Buch Zufall Mensch des Paläontologen Stephen Jay Gould lässt sich sehr aufschlussreich entnehmen, wie die Themen und Begriffe von Kontingenz und Zufall sowohl in der Natur als auch der Natur schlechthin zu weitgehenden weltanschaulichen Spekulationen anregen können, die ihrerseits wiederum sehr gut zu einer ungleich prinzipielleren Ebene der Diskussion von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur und insofern am Ende dieser Sektion (a) dieses zweiten Abschnitts des Kapitels zu der grundsätzlichen Frage überleiten, ob die Sensibilität für Zufälle und Kontingenzen in der Evolution und der Evolution tatsächlich zu einem Bruch mit schöpfungstheologischen Überzeugungen zwingend verpflichtet, die Rede von einer contingentia naturae und die einer contingentia mundi sich also zwingend ausschließen, eine Frage, auf die dann freilich erst in Sektion (c) dieses zweiten Abschnitts dieses Kapitels eine Antwort formuliert werden soll. Jacques Monod verweist im Kontext seiner im engeren Sinne molekularbiologischen Argumentation, die ich hier mangels entsprechender Kompetenz ebenso wenig erörtern kann wie den physikalischen Kern der Quantentheorie, auf die aristotelische Definition des Zufalls als einer kausal durch nichts bedingten Koinzidenz zweier kausal durchaus bedingter Determinationsketten. In der Tat spricht Aristoteles, wie wir im zweiten Kapitel sahen, von symbebekos in der Metaphysik aus der Beobachterperspektive und von tyche und automaton in seiner Physik aus der Teilnehmerperspektive und meint dabei stets die Relation zweier für sich betrachtet kausal und intentional durchaus bedingter Handlungen oder Ereignisse, deren Koinzidenz aber nun weder kausal noch intentional bedingt ist.104 Ein gleichsam biologisch bezeugtes Äquivalent zu Aristoteles’ begriffsanalytischer Klärung des Zufalls macht Monod nun in der biologischen Evolution aus und zwar genauer in dem Phänomen der Koinzidenz einer genetischen Mutation und der Reaktion des Organismus auf diese Mutation. Beide „Ereignisse“ mögen wie stark auch immer kausal determiniert sein; für ihre Koinzidenz indes lassen sich keine Ursachen, Gründe oder gar Intentionen angeben: „Nun besteht aber gleichfalls vollständige Unabhängigkeit zwischen den Ereignissen, die in der Replikation der genetischen Botschaft einen Fehler 104

Vergleiche zu einer systematischen Darstellung der aristotelischen Zufallstheorie den dritten Abschnitt des zweiten Kapitels dieser Arbeit, S. 108–123.

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W, N, G: D S  K  Z hervorrufen können, und dessen funktionalen Auswirkungen. Der funktionale Effekt ist abhängig von der Struktur und der tatsächlichen Rolle des veränderten Proteins, von den Wechselwirkungen, die es eingeht, und von den Reaktionen, die es katalysiert. Das sind alles Dinge, die mit dem Mutationsvorfall selbst wie auch mit seinen unmittelbaren oder ferneren Ursachen nichts zu tun haben – seien dies im übrigen nun deterministische ‚Ursachen‘ oder nicht.“105

Zwischen der „Determiniertheit einer Mutation in der DNS-Sequenz und der Determiniertheit ihrer funktionalen Auswirkungen auf der Ebene der Proteinwechselwirkungen“106 lässt sich also Monod zufolge „nur“ eine ihrerseits durch nichts bedingte Koinzidenz feststellen. Hat sich dieser Zufall freilich einmal in der DNS-Struktur etabliert, dann reproduziert sich diese Struktur invariant, bis sie eben wieder auf andere Einflüsse und Einwirkungen trifft. „Der Zufall wird durch den Invarianzmechanismus eingefangen, konserviert und reproduziert und so in Ordnung, Regel, Notwendigkeit verwandelt.“107 Diese molekularbiologische Nachweisbarkeit von nicht bedingten Koinzidenzen kausal durchaus bedingter Ereignisse oder Ereignisketten und die in diesem Sinne empirische Bestätigung der Existenz von Zufällen in der Natur stimuliert Monod nun jenseits seiner im engeren Sinne fachlichen Argumentation zu einer prinzipiellen und nicht ohne weltanschauliches Pathos vorgetragenen evolutionstheoretischen und naturphilosophischen Position, wonach „einzig und allein der Zufall jeglicher Neuerung, jeglicher Schöpfung in der belebten Natur zugrunde liegt. Der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolute, blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution – diese zentrale Erkenntnis der modernen Biologie ist heute nicht mehr nur eine unter anderen möglichen oder wenigstens denkbaren Hypothesen; sie ist die einzig vorstellbare, da sie allein sich mit den Beobachtungs- und Erfahrungstatsachen deckt.“108 Insofern ist für den Biologen etwa auch die Entstehung des menschlichen Lebens schlechthin, wie sehr sich für den weiteren Verlauf dieses Lebens auch Gesetzmäßigkeiten finden lassen mögen, auf keine biologisch nachweisbare Ursache zurückzuführen. In letzter Instanz steht Monods Biologe vor dem irreduziblen Zufall nicht nur in der Natur, sondern der Natur schlechthin, und er gleicht darin dem die contingentia mundi gewahrenden und reflektierenden Theologen, mit dem Unterschied freilich, dass er seine Rede von Kontingenz und Zufall auf die ihn allein interessierende Wirklichkeitssphäre der Natur bezogen wissen will. Es war dabei vor allem Monods Formulierung von „blinden Zufall“, der „einzig und allein“ aller natürlichen Evolution zugrunde liegt, welche in den Naturwissenschaften selbst, aber auch unter Theologen höchst kontroverse Debatten auslöste. Weshalb sah Monod nicht, wie sehr schon diese Formulierung mit 105

106 107 108

Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1975 (1970), S. 108. Ebd., S. 108. Ebd., S. 95. Ebd., S. 106.

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anderen Passagen seines Werkes in Konflikt geraten musste, ja auch und gerade mit dem von ihm gewählten Titel seiner Abhandlung, der doch eine Gleichberechtigung von Zufall und Notwendigkeit suggerierte? Widerspricht Monods Rede von der Suprematie oder gar der biologischen Alleinherrschaft und Omnipotenz des Zufalls nicht dem Darwinschen Prinzip des „survival of the fittest“, so wurde in diesen Debatten kritisch vermerkt, ignoriert sie nicht das ureigene Anliegen der Evolutionslehre, den Prozess der Evolution als weder notwendig noch zufällig anzusehen, sondern eben als Resultat einer von Notwendigkeit und Zufälligkeiten gleichermaßen geprägten Evolution?109 In der Tat suggerierte ja Darwins Rede von einem „survival of the fittest“ ganz bestimmte Merkmale von „fitness“, wie auch immer diese zu definieren wären, mündete also gerade nicht in die Tautologie eines nicht weiter zu befragenden „survival of the survivors“, in eine Tautologie, deren Opfer Monods Argumentation in den Augen seiner Kritiker zumindest in einigen Passagen seines Buches wurde.110 109

110

Sehr prägnant bringt diese an Monods Argumentation kritisch zu richtende Rückfrage auch Theodosius Dobzhansky auf den Punkt, der sich gleichermaßen gegen Monods Vorstellung eines evolutionären Zufalls oder einer allein zufallsgesteuerten Evolution wie auch gegen Teilhard de Chardins Vorstellung einer evolutionär notwendigen Prädestination oder einer notwendig prädestinierten Evolution wendet, wenn er schreibt: „Evolution is neither necessary, in the sense of being predestined, nor is it a matter of chance or accident. It is governed by natural selection, in which ingredients of chance, and antichance are blended in a way which makes the dichotomy meaningless, and which renders evolution to be a creative process. […] Mankind appeared neither by chance nor by predestination. It is a product of a creative process of evolution.“ Theodosius Dobzhansky, „Two Contrasting World Views“, in: John Lewis (Hg.), Beyond Chance and Necessity. A Critical Inquiry into Professor Jacques Monod’s Chance and Necessity, a.a.O., S. 132 bzw. 136. Auch Ernst Mayr hat den Prozess der natürlichen Selektion als einen zweistufigen Prozess beschrieben, der sowohl durch Zufall als auch durch Notwendigkeit charakterisiert ist (vergleiche dazu seine entsprechenden Bemerkungen in Das ist Evolution in Anmerkung 98 bzw. 99, S. 224 bzw. 225 in diesem Kapitel), welcher die theoretische Alternative, das Geschehen in der Natur folge entweder dem Zufall oder der Notwendigkeit, bedeutungslos werden lässt: „Überraschenderweise bot die natürliche Selektion eine Lösung für ein altes philosophisches Problem. Seit der Zeit der griechischen Philosophen drehte sich eine hitzige Diskussion um die Frage, ob die Ereignisse dieser Welt von Zufall oder Notwendigkeit abhängig sind. Was die Evolution betrifft, machte Darwin diesen Meinungsverschiedenheiten ein Ende. Evolution ist, kurz gesagt, wegen des zweistufigen Vorganges der natürlichen Selektion die Folge sowohl von Zufall wie von Notwendigkeit. Sie enthält tatsächlich ein starkes Zufallselement, insbesondere was die Entstehung der genetischen Variationen angeht, aber ihr zweiter Schritt, ob man ihn nun Selektion oder Beseitigung nennt, ist das Gegenteil von Zufall. Das Auge beispielsweise ist kein Zufallsprodukt, wie die Darwin-Gegner so oft behaupten, sondern eine Folge der Tatsache, dass Generation für Generation jene begünstigten Individuen überlebten.“ Ernst Mayr, Das ist Evolution, a.a.O., S. 153. So schon Manfred Eigen in seiner Vorrede zur deutschen Ausgabe von Monods Buch, in welcher Eigen im Hinblick auf Monods explizite und weiter oben erwähnte theoretische Anleihen bei Aristoteles und im Hinblick auf seine entsprechende Definition des Zufalls als Koinzidenz zweier unabhängiger, für sich durchaus aber determinierter Handlungsketten zurecht einen Widerspruch zu jener Rede von der absoluten Rolle des Zufalls erkennt, wie sie Monod auf einer grundsätzlicheren, gleichsam weltanschaulicheren Ebene eben auch verwendet. Wenn der Zufall in der Biologie die Koinzidenz von Mutation und Selektion meint, wie Monod behaupte, dann ist,

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Wie auch immer diese an Monods Verständnis von natürlicher Evolution gerichteten kritischen Rückfragen zu beantworten wären, wie auch immer Monod seine theoretischen Überzeugungen gegen dergleichen Rückfragen behaupten könnte, die prinzipielle weltanschauliche Sichtweise der Evolution von Mensch und Natur als Zufallsprodukt sowie die genauere molekularbiologische Beschreibung der Mechanismen von genetischer so bemerkt Eigen, die „zufällige Mutation […] einem Ausleseprozeß unterworfen, und dieser trifft keineswegs eine ‚willkürliche‘ Entscheidung. Der Selektion liegt vielmehr ein physikalisch klar formulierbares Bewertungsprinzip zugrunde. Wäre die Selektion reine Willkür, wäre das einzige Kriterium der Auswahl die Tatsache des Überlebens selbst, so würde Darwins Selektionsprinzip – vom ihm selbst formuliert als ‚survival of the fittest‘ – nur eine triviale Tautologie, nämlich ‚survival of the survivor‘ zum Ausdruck bringen.“ (S. 13) So sieht Eigen in der Evolution Zufall und Notwendigkeit „gleichberechtigt“ (S. 14) am Werk, und diese Gleichberechtigung bringe der Titel von Monods Buch ja auch, wie Eigen zustimmend schreibt, „eindeutig zum Ausdruck“ (S. 14): „So sehr die individuelle Form ihren Ursprung dem Zufall verdankt, so sehr ist der Prozeß der Auslese und Evolution unabwendbare Notwendigkeit. Nicht mehr! Also keine geheimnisvolle inhärente ‚Vitaleigenschaft‘ der Materie, die schließlich auch noch den Gang der Geschichte bestimmen soll! Aber auch nicht weniger – nicht nur Zufall!“ (S. 15) Vergleiche hierzu Manfred Eigen, „Vorrede zur deutschen Ausgabe“, in: Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, a.a.O., S. 9–16. Zum Streitpunkt zwischen Monod und Eigen vergleiche auch Helga Kersten, „Gesetzmäßigkeit und Zufall im Verlaufe der Evolution“, in: Henning Kößler (Hg.), Über den Zufall. Fünf Vorträge, Erlangen 1996, S. 73. Gegen die von Eigen formulierte Position, wonach der „Prozeß der Auslese und Evolution“ durch „unabwendbare Notwendigkeit“ charakterisiert ist, argumentiert wiederum implizit John Beatty in seinem Aufsatz „The Evolutionary Contingency Thesis“. Insofern neigt sich bei Beatty das für die Evolutionstheorie Darwins grundsätzlich so charakteristische Gleichgewicht von Zufall und Notwendigkeit, wie es auch Evolutionsbiologen wie Mayr oder Dobzhansky reformulieren, stark auf die Seite der Waagschale von Zufall und Kontingenz: Beatty zufolge gibt es zwei Formen evolutionärer Kontingenz. Erstens die Kontingenz von bestimmten biologischen Kontexten, die zu einer spezifischen biologischen Entwicklung veranlassen, ohne dass diese notwendig so hätte eintreten müssen. Zweitens die Kontingenz in der Evolution. Zweierlei Phänomene erwähnt Beatty im Zusammenhang dieser zweiten Form evolutionärer Kontingenz, der Kontingenz in der Evolution: „There are many sources of this second form of contingency. One is so-called ‚chance‘ or ‚random‘ mutation, meaning that the probability of occurrence of a mutation is in no way proportional to the advantage it confers. A second source is ‚functional equivalence‘, meaning that there are very different ways of adapting to any one environment.“ Beatty beruft sich für seine These einer Zufälligkeit oder Kontingenz auch der evolutionären Reproduktion, sprich: der letztgenannten Form evolutionärer Kontingenz im Sinne funktionaler Äquivalenz, auf Darwins Untersuchung der Reproduktionsmechanismen von Orchideen in The Various Contrivances by which Orchids are Fertilized by Insects und reformuliert Darwins These dabei folgendermaßen: „Among the various orchid species, presumably derived from one, Darwin thus conceived the evolution of reproductive mechanisms occurring over and over again with no generally determined outcome except crossfertilization. And this was to be expected on the basis of chance variations and the possibility of functional equivalence. Selection acts on whatever opportunities present themselves, with never the same order of useful modifications arising, and with equally functional results.“ Also keine vollständige Notwendigkeit nicht nur hinsichtlich der biologischen Mutation, sondern auch bezüglich der Selektion laut Beatty! John Beatty, „The Evolutionary Contingency Thesis“, in: G. S. Wolters und J. Lennox (Hg.), Concepts, Theories and Rationality in the Biological Sciences, Pittsburgh 1995, S. 57 f. bzw. 58.

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Variation und Selektion, des zweistufigen Prozesses von „Mutationsvorfall“ und der sich daran anschließenden funktionalen Effekte, und in diesem Sinne die Formulierung der These von einem Zufall der Natur wie in der Natur, sie veranlassen Monod schließlich in seinem Buch zu dem pathetisch vorgetragenen Protest gegen die seinem Empfinden nach heute immer noch herrschende anthropozentrische Illusion, ein der Evolution immanenter Plan habe zielsicher die Evolution der Gattung homo sapiens intendiert und bewirkt. Die Zerstörung des heliozentrischen Weltbildes habe, so Monod, bislang eine zentrale geistige Illusion der Gegenwart noch nicht zum Verschwinden bringen können, die teleologische Illusion nämlich, welche den Menschen „zum seit jeher erwarteten natürlichen Erben des gesamten Universums“111 erhebe. Vielmehr hause der Mensch, so formuliert Monod nicht ohne das Air des seinerzeit zumal in Frankreich in Mode befindlichen Existentialismus zu bemühen, dessen kultureller und philosophischer Konjunktur das schmale Büchlein ohnehin wohl seinen fulminanten publizistischen Erfolg zu verdanken hatte, vielmehr hause der Mensch „wie ein Zigeuner am Rande des Universums […], das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“112 Ebenso wie Jacques Monod widerspricht auch Stephen Jay Gould jener als anthropozentrische Illusion kritisierten Ansicht, der Mensch stelle den zwangsläufig eintretenden Höhepunkt einer teleologischen Evolution der Natur dar; vielmehr erscheint die Evolution des homo sapiens bei Monod wie bei Gould als Resultat einer zufälligen und kontingenten Entwicklung, als etwas, was nicht notwendig eintrat, als etwas, was nicht sein müsste oder auch anders sein könnte, gleichsam als eine Episode der natürlichen Evolution, die weder vorgeschrieben war noch vorhergesehen werden konnte. Dass Natur und Evolution zufällig und kontingent so sind, wie sie sind, diese These eines Zufalls und einer Kontingenz der Natur schlechthin hat Gould in seinem Werk immer wieder formuliert, und diese These sei im Folgenden anhand der exemplarischen Publikation eines umfangreichen Werkes illustriert, welches in stilistisch wie inhaltlich zweifellos brillanter Weise stets populärwissenschaftliche Darstellung mit hochkomplexen theoretischen Schlussfolgerungen verbindet. Wir Menschen verdanken unser Dasein nicht einer wie auch immer gerichteten Evolution, die zwangsläufig aus einfachen Organismen komplexe Lebewesen erzeugen und in die Entwicklung des homo sapiens zwangsläufig münden musste, sondern einer Sukzession evolutionärer Zufälle und Kontingenzen, von Zufall und Kontingenz der Evolution, so lautet die zentrale These, die Stephen Jay Gould in seinem 1989 verfassten Buch Wonderful Life: The Burgess Shale and the Nature of History – 1991 auf Deutsch unter dem Titel Zufall Mensch publiziert – im direkten Anschluss an eine paläontologische Auswertung der bereits 1909 entdeckten Fossilien im Burgess Shale im Westen Kanadas und der seitdem erfolgten Erforschung dieser Fossilien formuliert. Gould will demnach die Evolution nicht als einen „wohlgeordneten historischen Festzug“113 verstanden wis111

112 113

Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, a.a.O., S. 51. Ebd., S. 151. Stephen Jay Gould, Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur, München 1991 (1989), S. 12.

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sen, sondern als eine „Ereignisfolge von phantastischer Unwahrscheinlichkeit, die sich zwar im Rückblick einigermaßen vernünftig ausnimmt und sich ganz genau erklären lässt, die letzten Endes jedoch unvorhersagbar und völlig unwiederholbar ist.“114 Den Stammbaum des Lebens haben wir uns daher laut Gould nicht wie einen umgedrehten Weihnachtsbaum vorzustellen, der sich vom Einfachen zum Komplexen und damit in Richtung des Fortschritts entwickelt, sondern vielmehr wie einen tatsächlich auf dem Fuße stehenden Weihnachtsbaum, insofern sich die Verschiedenartigkeit der anatomischen „Baupläne“, von denen Gould zufolge die Funde des Burgess Shale zeugen, in jedem geologischen Zeitalter aufs Neue zunächst durch eine anfängliche Diversifizierung und eine sich daran anschließende Dezimierung auszeichnet, wobei sich auf der Grundlage dieser im Ergebnis dezimierten anatomischen Stämme sodann tatsächlich eine zunehmende Vielfalt von Arten entwickelt, die bis heute existiert. Im Laufe der Evolution jedenfalls nimmt, so lautet Goulds theoretische Schlussfolgerung, „die Verschiedenartigkeit deutlich ab, und dann kommt es unter den wenigen überlebenden Entwürfen zu einer auffälligen Vermehrung der Vielfalt.“115 Freilich, auch diese evolutionäre Tendenz, auch diese Entwicklung von den untersten Ästen des Weihnachtsbaums bis zur spitzen Krone, ließe sich, so wie jedes andere Geschehen in der Natur, als den Gesetzen der Notwendigkeit folgend betrachten. Gould aber widerspricht jedem deterministischen Verständnis der natürlichen Evolution, also auch einer deterministischen Reduktion von Zufall und Kontingenz in der Evolution der biologischen Stämme. Die Evolution diversifiziert und dezimiert nicht gemäß vermeintlichen Regeln und Gesetzen der Notwendigkeit, auch nicht gemäß einem vermeintlich zwingenden und Vorhersehbarkeit ermöglichenden Gesetz adaptiver Überlegenheit, freilich aber auch nicht gemäß einer gänzlich unerklärlichen Willkürlichkeit – weshalb Gould den Terminus Kontingenz bei der Formulierung seiner Charakterisierung von Natur und Evolution bevorzugt, während er den Begriff des Zufalls im Sinne von Ursachelosigkeit versteht und daher in diesem Zusammenhang einer spezifischen Charakterisierung der Natur und der Evolution gar nicht verwenden will –, sondern durchaus aufgrund von wissenschaftlich zu ermittelnden und rational nachvollziehbaren Gründen. Aber ebendiese Gründe sind weder vorhersehbar oder zwingend notwendig noch unerklärlich noch ursachelos, sondern es sind kontingente Gründe in einer auch ganz prinzipiell kontingenten Evolution, im Rahmen einer Evolution also, die keiner Notwendigkeit Folge leistet, die auch hätte anders verlaufen können, die nun aber ihrerseits, da sie faktisch so abgelaufen ist, wie sie abgelaufen ist, die Grenzen des zukünftigen Möglichen definiert und dabei doch die Kontingenz in der Natur und in der natürlichen Evolution niemals leugnen kann: „Falls das Leben mit einer Handvoll einfacher Modelle begann und sich dann aufwärts bewegte, wird jede Wiederholung, mag sie sich in den Einzelheiten auch noch so unterscheiden, im Grunde dem gleichen Kurs folgen. Standen dagegen am Beginn schon alle Modelle zur Verfügung und baute die spätere Geschichte nur auf einigen wenigen Überlebenden auf, dann stehen wir vor einer beunruhigenden Möglichkeit. Nehmen wir an, nur einige werden üb114 115

Ebd., S. 12. Ebd., S. 48.

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rig bleiben, aber alle haben die gleiche Chance. Die Geschichte einer jeden überlebenden Gruppe ist nachvollziehbar, aber jede führt zu einer Welt, die grundlegend anders ist als alle anderen. Ist der menschliche Geist das Produkt von nur einer solchen Gruppe, dann haben wir uns vielleicht nicht gerade zufällig, im Sinne des Münzwurfs, entwickelt, aber verdanken unsere Entstehung einer massiven historischen Kontingenz, und selbst wenn das Band des Lebens tausendmal wieder abgespielt werden könnte, werden wir vermutlich nicht ein zweites Mal entstehen.“116 Aufgrund dieser seiner Überzeugung von der Kontingenz in der natürlichen Evolution und von Kontingenz und Zufall der natürlichen Evolution schlechthin117 sieht sich Gould am Ende seines Buches zu weltanschaulichen Schlussfolgerungen veranlasst, die dem existentialistischen und zugleich positivistischen Pathos eines Monod bis in die feinsten Details der Formulierung hinein in verblüffender Weise ähnlich sind. Die kosmische Obdachlosigkeit des Menschen, die Tatsache, dass der Mensch „wie ein Zigeuner am Rande des Universums […], das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“, hause, wie Monod es formuliert hatte, ist auch Gould Anlass für einen praktisch-moralischen Appell, wonach sich der Mensch auf nichts anderes verlassen könne und dürfe als sein eigenes Denken und Handeln und er so sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen müsse: „Wir sind das Ergebnis von Geschichte, und wir müssen selbst unsere Wege festlegen in diesem vielfältigsten und interessantesten aller denkbaren Universen, einem Universum, das gleichgültig ist gegen unser Leiden und uns daher die größte Freiheit gewährt, zu gedeihen oder zu scheitern auf die Weise, die wir gewählt haben.“118 Goulds und Monods Diagnose von der Gleichgültigkeit des Universums gegenüber unserem Leiden, welche wiederum beide Autoren zu einem Appell an die Gestaltungsmacht 116 117

118

Ebd., S. 259. Übrigens hat Ernst Mayr in seinen beiden unmittelbar vor seinem Tod geschriebenen Büchern Das ist Evolution und Konzepte der Biologie Goulds Thesen in dessen Buch Zufall Mensch ausdrücklich gewürdigt. In Das ist Evolution schreibt er: „Man kann sich auch die rund 35 heutigen Stämme des Tierreiches ansehen. Sie sind die Überlebenden von mindestens 60 Körperbauplänen, die es im frühen Kambrium gab. Befasst man sich näher mit ihren Unterschieden, so gewinnt man nicht den Eindruck, dass es sich immer um Notwendigkeit handelt. Viele, vielleicht sogar die meisten ihrer einzigartigen Eigenschaften könnten ihren Ursprung in einem zufälligen Entwicklungsereignis haben, das von der Selektion toleriert wurde, während das scheinbare Versagen der ausgestorbenen Formen die Folge eines Zufallsereignisses war (wie das Massenaussterben als Folge des Alvarez-Asteroiden). Solche Zufälligkeiten sind das Hauptthema in dem Buch Wonderful Life von S. J. Gould […], und ich bin zu dem Schluss gelangt, dass er in diesem Punkt im Wesentlichen Recht hat.“ (S. 280). Und in seinem Buch Konzepte der Biologie spricht Mayr von der „Unvorhersagbarkeit der Evolution, die Gould in seinem Buch Wonderful Life […] so plastisch beschreibt“. Ernst Mayr, Das ist Evolution, a.a.O., S. 280. Ernst Mayr, Konzepte der Biologie, a.a.O., S. 147. Stephen Jay Gould, Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur, a.a.O., S. 365.

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des Menschen stimuliert, dem offenkundig der Glaube an die Möglichkeit einer prinzipiell unbeschränkten praktischen Verfügbarkeit des menschlichen Schicksals zu Grunde liegt, jene Diagnose und dieser Appell, Leiden abzuschaffen oder zu mindern, derartige Topoi und Formulierungen wecken Erinnerungen unter anderem an die Figur des Doktor Rieux in Camus’ Roman Die Pest. Dessen humanitäres Engagement gegen die Pestepidemie in seiner Heimatstadt beruht ausdrücklich auf einem entschiedenen Atheismus. Heroische Versuche zur Minderung des menschlichen Leids einerseits, die Einsicht in die transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen andererseits, sie bedingen sich für Camus, Monod und Gould offensichtlich einander. Wenn er an einen allmächtigen Gott glaube, so erklärt Doktor Rieux in Camus’ Roman in einem Gespräch einem seiner Freunde, dann „würde er aufhören, die Menschen zu heilen und würde diese Sorge ihm [Gott; P. V.] überlassen.“119 Umgekehrt heißt dies: Nur weil er nicht an Gott glaubt, kann Rieux mit jenem unerbittlichem Heroismus gegen die Pest kämpfen und kann er sich jenen Glauben an die praktische Verfügbarkeit allen Geschehens auf dieser Welt bewahren, der ihm anderweitig verwehrt bliebe. Sowohl Monod als auch Gould leiten aus ihrer Sensibilität für die Kontingenz und den Zufall der Natur und für die Relevanz der Kontingenz und des Zufalls in der Natur ein dezidiert atheistisches Weltbild ab. Aber ist dies wirklich ein zwingender theoretischer Konnex? Schließt die evolutionstheoretische Sensibilität für Zufall und Kontingenz der Natur und in der Natur den Glauben an einen Gott zwingend aus? Oder lassen sich der Glaube an Gott und die evolutionstheoretisch belehrte Sensibilität für Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur miteinander theoretisch versöhnen? Wie aber wollen Gott und die Natur begriffen sein, damit es zu einer solchen theoretischen Kompatibilität von schöpfungstheologischem und evolutionstheoretischem Kontingenzbewusstsein kommen kann? Empfiehlt sich diesbezüglich die Festsetzung eines weltanschaulichen und theoretischen Waffenstillstands durch wechselseitige Indifferenz? Oder vermögen sich im Gegenteil – ein bestimmtes jeweiliges Selbstverständnis vorausgesetzt – schöpfungstheologisches und evolutionstheoretisches Kontingenzbewusstsein wechselseitig zu bereichern? Während die beiden zuletzt erwähnten Naturwissenschaftler, Monod und Gould, eine eindeutige Unvereinbarkeit und Disharmonie von Religion und Naturwissenschaft, von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie, apostrophieren, hält die Theologie ungleich versöhnlichere Gesprächsangebote bereit, auf welche wir in Sektion (c) dieses Abschnitts des Kapitels noch eingehen werden. Zunächst freilich wollen wir uns in Sektion (b) – nach dem Blick auf die Naturwissenschaften und vor der Konsultation der Theologie – der Frage widmen, inwiefern die Sphäre der Natur auch in der Philosophie als kontingent und zufällig beschrieben wurde, auch in der philosophischen Diskussion von Kontingenz und Zufall in der Natur oder gar auch von Kontingenz und Zufall der Natur die Rede sein konnte. (b) Der Philosoph Émile Boutroux behauptete gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Kontingenz der Naturgesetze120 im Besonderen sowie die Kontingenz des natürlichen 119 120

Albert Camus, Die Pest, Reinbek bei Hamburg 1998 (1947), S. 145. Vergleiche dazu insbesondere die Schrift Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft und in der Philosophie der Gegenwart, welche 1892/1893 an der Sorbonne gehaltene Vorlesungen

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Geschehens im Allgemeinen.121 Boutroux’ Kontingenzphilosophie umfasst dabei stets jene beiden Deutungsmöglichkeiten, welche einer auf die Natur bezogenen Semantik von Kontingenz und Zufall stets zugrunde liegen können. Boutroux will einerseits die Tatsache, dass die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten überhaupt sind, als kontingent verstanden wissen, andererseits begreift er Kontingenz auch als Merkmal oder Charakteristikum ebendieser Natur. Insofern formuliert Boutroux’ Philosophie einer kontingenten Natur zweierlei Thesen: Zum einen geht es Boutroux um den philosophischen Nachweis, dass sich den Naturgesetzen und den von ihnen postulierten Gesetzmäßigkeiten, deren Existenz und Rechtmäßigkeit er keinesfalls bestreiten will, keinerlei intrinsische Notwendigkeit unterstellen lässt. Dass die Welt überhaupt ist, dass die die Welt beschreibenden Naturgesetze überhaupt sind, dies ist nicht unvermeidbar und notwendigerweise so, sondern kontingent. Insofern formuliert Boutroux’ Kontingenzphilosophie tatsächlich so etwas wie eine Naturalisierung der schöpfungstheologischen These einer contingentia mundi, gleichsam eine Aktualisierung der Schöpfungstheologie im Zeichen der naturwissenschaftlichen Forschung der Zeit. Walter Brugger reformuliert in seinem bereits zitierten „Kontingenz-Artikel“ aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie Boutroux’ diesbezügliche These so: „Das wirklich gegebene Sein ist nach Boutroux nicht eine notwendige Folge des Möglichen, sondern eine kontingente Form desselben. Obwohl das Kausalprinzip, aufgrund der tatsächlich gegebenen Welt, jede Veränderung an eine andere, und zwar bestimmte Veränderung bindet, zeigt die Welt, von der Seite der Einheit ihres wirklichen Seins betrachtet, eine radikale Indeterminiertheit.“122 Die von Boutroux formulierte Ontologie der Unbestimmtheit, wie man sie nennen könnte, formuliert und impliziert nun aber zweitens auch eine Sichtweise der Natur, wonach die Vorgänge in dieser Natur kontingent sind. Diese Sichtweise ergibt sich für Boutroux, dessen Ausführungen in dieser Hinsicht sowohl lebensphilosophische als auch der Philosophie Bergsons verpflichtete Motive aufweisen als auch dem Neoidealismus der französischen Philosophie des späten 19. Jahrhunderts verpflichtet sind, auf Grundlage der Präsumtion einer Art von ontologischer Stufenleiter, die aus einer Hierarchie von unterschiedlichen und sich in einem Verhältnis radikaler Diskontinuität zueinander befindlichen Seinsgraden bestehen und welche sich von dem Sein als solchem über Gattung, Materie und Körper hin zu Leben überhaupt empor bewegen und schließlich bis zum Menschen erstrecken soll. Da die Verbindungen zwischen diesen einzelnen Seinsstufen für Boutroux aber nun nicht durch Kontinuität, sondern durch Diskontinuität charakterisiert sind, kann der Übergang von einer Seinsstufe zu der höher benachbarten niemals durch irgendeine Form von Notwendigkeit charakterisiert sein, sondern ist je-

121 122

versammelt. Émile Boutroux, Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft und in der Philosophie der Gegenwart, Jena 1907. Vergleiche dazu Émile Boutroux, Die Kontingenz der Naturgesetze, a.a.O. W. Brugger S. J., Artikel „Kontingenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IV, herausgegeben von Joachim Ritter u. a., a.a.O., Sp. 1033.

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der dieser Übergänge in konstitutiver Weise durch ein Moment von Kontingenz geprägt. Ferdinand Pelikán bringt diesen zentralen Aspekt von Boutroux’ Philosophie der Kontingenz und dessen theoretische Substanz in seiner Untersuchung über die Philosophie des „Kontingentismus“, für deren wichtigste Vertreter er die drei französischen Philosophen Charles Renouvier, Henri Bergson und eben Boutroux hält, so auf den Punkt: „Jede Ordnung, jede Form des Seins, ist in Beziehung zu der vorhergehenden kontingent, sie bedeutet das Wachstum, die Vervollkommnung des Seins. Im Universum bilden die Formen des Seins eine Hierarchie.“123 Ebenfalls prägnant findet sich diese These von Boutroux’ Kontingenzphilosophie, welche eine Kontingenz der Vorgänge auch in der Natur unterstellt, bei Ian Hacking auf den Begriff gebracht: „Thus at each step of the hierarchy we have contingency, and the evolution of the new laws undetermined by simpler structures.“124 Nicht nur dass jene Naturgesetze und diese Natur schlechthin sind, verdankt sich für Boutroux einer für die Sphäre der Natur konstitutiven Kontingenz, sondern Kontingenz zeigt sich auch konkret in dieser Natur. Es verdient dabei ausdrücklich festgehalten zu werden, dass Boutroux seine These, wonach sowohl für jede Stufe der natürlichen Ordnungen des Seins selbst als auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen diesen Stufen Kontingenz nachzuweisen sei, inhaltlich und terminologisch scharf trennt von jener These und Redeweise, wonach die Natur durch „hazard“, den Zufall, bestimmt sei. Brugger macht in seinen Bemerkungen über Boutroux’ „Kontingentismus“ darauf zurecht aufmerksam. Für Boutroux gelte: „Kontingenz ist nicht identisch mit Zufälligkeit im Sinne des Unbeabsichtigten.“125 Mit Hilfe seiner Auffassung von der Kontingenz der Natur oder auch der Naturgesetze sowie der Kontingenz in der Natur will Boutroux, so viel sei bezüglich einer besseren philosophiegeschichtlichen Positionierung seiner Kontingenzphilosophie schließlich noch erwähnt, die beiden prinzipiellen Intentionen seines gesamten Denkens fundieren: den Nachweis der potenziell stets möglichen Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion und das Plädoyer für die menschliche Handlungs- und Willensfreiheit, zwei Intentionen, die hier freilich abschließend nur erwähnt werden sollten, nicht ausführlich diskutiert werden können.126 Nach dieser Skizzierung sowohl von Boutroux’ „Kontingentismus“ (Pelikán) als auch unserer ausführlichen Auseinandersetzung mit den in den Naturwissenschaften selbst formulierten Auffassungen von Kontingenz und Zufall in der Natur und der Natur und noch vor der den zweiten Abschnitt dieses Kapitels in Sektion (c) beschließenden Thematisierung des Verhältnisses von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie, des 123 124 125

126

Ferdinand Pelikán, Entstehung und Entwicklung des Kontingentismus, Berlin 1915, S. 24. Ian Hacking, The Taming of Chance, a.a.O., S. 157. W. Brugger S. J., Artikel „Kontingenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IV, herausgegeben von Joachim Ritter u. a., a.a.O., Sp. 1033. Vergleiche hierzu die Bemerkung von Otto Boelitz: „Zwei wichtige Folgerungen zieht Boutroux aus diesem von der Wissenschaft uns bezeugten Charakter des Weltgeschehens, einmal, dass Wissenschaft und Religion nebeneinander bestehen können, dass ein ehrlicher Friede und nicht nur ein vorübergehendes Kompromiß zwischen ihnen möglich sei, und zum andern, daß der Mensch innerhalb der Welt der Erscheinungen die Fähigkeit der Freiheit des Handelns hat.“ Otto Boelitz, Die Lehre vom Zufall bei Émile Boutroux. Ein Beitrag zur Geschichte der neuesten französischen Philosophie, Leipzig 1907, S. 102.

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Verhältnisses gewissermaßen von contingentia mundi und contingentia naturae, will ich zum Abschluss dieser Sektion (b) des zweiten Abschnitts des Kapitels ausführlich noch auf ein weiteres, aus den Reihen der Philosophie des 19. Jahrhunderts formuliertes Verständnis von Kontingenz und Zufall bezüglich der Natur und der natürlichen Welt zu sprechen kommen. Ich meine die von dem pragmatistischen Philosophen Charles Sanders Peirce in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte Naturphilosophie, welche ich als eine Kosmologie der Evolution, welche sich für den Zufall dieser Evolution sowie den Zufall in dieser Evolution offen zeigt, bezeichnen möchte.127 Peirces Schriften deuten zudem zumindest implizit eine, wenn auch nicht die einzige Möglichkeit an, zu einer theoretischen Versöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie zu gelangen, eine Möglichkeit, deren theoretische Plausibilität und deren theologische Konsequenzen – sowohl in schöpfungs- wie in providenztheologischer Hinsicht – ich sodann in Sektion (c) dieses zweiten Abschnitts dieses Kapitels explizit erkunden werde. In dem 1891 publizierten Aufsatz „Die Architektonik von Theorien“, zugleich der Auftakt einer Serie von Publikationen, die Peirce zwischen 1891 und 1893 in den ersten drei Jahrgängen der Zeitschrift The Monist veröffentlichte, kommt Peirce auf eine Lehre oder Auffassung zu sprechen, wonach „alle Phänomene des physikalischen Universums aus mechanischen Prinzipien zu erklären sind.“128 Zweifellos seien, so attestiert Peirce, Regelmäßigkeiten und durchaus auch mechanische Regelmäßigkeiten in der Natur zu beobachten. Wie aber lassen sich wiederum diese Regelmäßigkeiten erklären? Eben gerade nicht, so beantwortet Peirce diese Frage, als Selbstverständlichkeit oder als weiter nicht zu befragende Faktizität. Natürliche Regel- oder gar Gesetzmäßigkeiten gelten Peirce als explanandum, nicht als explanans: „Gleichförmigkeiten sind genau die Art Fakten, über die Rechenschaft abgelegt werden muß. Daß eine Münze, die man wirft, manchmal auf die Vorderseite, manchmal auf die Rückseite zu liegen kommt, verlangt keinerlei besondere Erklärung; wenn sie jedoch jedes Mal die Vorderseite zeigt, wollen wir wissen, wie dieses Ergebnis zustande kam. Ein Gesetz ist also par excellence etwas, das nach Begründung verlangt.“129 Seien wir bereit dies zuzugeben, dann müssten wir, so konstatiert Peirce weiter, die „Naturgesetze und die Gleichförmigkeit im allgemeinen“130 , wie sie in der Natur beobachtet werden könnten, „als Ergebnis der Evolution“131 verstehen. Die Existenz von 127

128

129 130 131

In genau entgegengesetzter Weise zu Boutroux spricht Peirce allein von „chance“, gebraucht aber in jenen für unsere Fragestellung relevanten Passagen niemals den Terminus „contingency“. Unabhängig freilich von diesen semantischen Differenzen formulieren sowohl Boutroux als auch Peirce einerseits eine zufalls- und kontingenzsensible Naturphilosophie; andererseits lässt sich den Schriften beider Autoren so etwas wie eine Naturalisierung schöpfungstheologischer Fragestellungen entnehmen. Charles Sanders Peirce, „Die Architektonik von Theorien“ (1891), in: Karl-Otto Apel (Hg.), Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt am Main 1991, S. 269. Ebd., S. 271. Ebd., S. 271. Ebd., S. 271.

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bestimmten, sich auf die Natur beziehenden Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten gilt Peirce demnach weder als eine weiter nicht zu befragende Faktizität oder unbezweifelbare Selbstverständlichkeit noch als ein theoretisch produktives explanans, wie jede Form des Determinismus unterstellt, die glaubt, die phänomenale Mannigfaltigkeit der natürlichen Welt in welcher Weise auch immer aus derartigen Regelmäßigkeiten ableiten zu können, sondern als das Resultat eines spontanen und mannigfaltigen und stets auch den Zufall mit einbeziehenden evolutionären Prozesses. Natürliche Gesetz- und Regelmäßigkeiten in dieser Weise als Konsequenz einer natürlichen Evolution zu begreifen, dies wiederum heißt, so folgert Peirce in „Die Architektonik von Theorien“, dass diese Gesetzmäßigkeiten „nicht absolut sind“132 ; und dieses Wesensmerkmal wiederum äußere sich in der empirischen Tatsache, „dass sie nicht präzise befolgt werden. Damit schreibt man der Natur ein Element der Unbestimmtheit, der Spontaneität oder des absoluten Zufalls zu [Hervorhebung von mir; P. V.].“133 So gelangt Peirce im Zuge seiner Argumentation schließlich zu der These, dass es eine intrinsisch durch Heterogenität und Spontaneität, Unbestimmtheit und Zufall charakterisierte, eine – wenn man so will – immer auch im modus operandi des Zufalls verfahrende Evolution ist, welche im Prozess der Evolution überhaupt erst Homogenität und Regelmäßigkeit hervorbringt. An dieser Stelle seiner Kosmologie der Evolution bezieht sich Peirce also zunächst ganz eindeutig auf den Zufall in der Natur. Neben dem Argument, wonach jede Form deterministischer Naturerklärung an der Frage nach der Genese von natürlichen Gesetzmäßigkeiten scheitern muss oder diese Frage doch zumindest ignoriert, führt Peirce in dem Aufsatz „Die Architektonik von Theorien“ sodann ein zunächst stärker von der Empirie ausgehendes Argument ins Feld, um sein Plädoyer für die Existenz von Heterogenität und Spontaneität in der Natur zu stärken: „Es ist z. B. offensichtlich, dass es keinen Grund geben kann, anzunehmen, dass jedes Phänomen in all seinen kleinsten Einzelheiten präzise durch ein Gesetz bestimmt wird. Dass es ein willkürliches Element im Universum gibt, sehen wir – nämlich seine Mannigfaltigkeit. Diese Mannigfaltigkeit muss einer irgendwie gearteten Spontaneität zugeschrieben werden.“134 An anderer Stelle spricht Peirce in „Die Architektonik von Theorien“ davon, dass „willkürliche Heterogenität“ der hervorstechendste „Zug des Universums“135 sei. In einem ganz ähnlichen Sinne gibt sich Peirce in einem nachgelassenen Manuskript mit dem Titel „Evolution“ von der unleugbaren empirischen Evidenz einer Mannigfaltigkeit und Heterogenität der Natur überzeugt: „Was ist die aufdringlichste Tatsache in der Natur?

132 133 134 135

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

271. 271. 283. 271.

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Es ist etwas, das einfach deshalb übersehen wird, weil es so offensichtlich ist. Es ist die Verschiedenartigkeit und Vielfalt der Natur.“136 Wie sollen sich dann aber nun wiederum in der Natur vorkommende Heterogenität, Vielfalt und Spontaneität erklären lassen? In dem soeben erwähnten Nachlassmanuskript beantwortet Peirce im Unterschied zu anderen Stellen seines Werkes137 diese Frage weniger mit einer genuinen Erklärung, sondern mit einer Umkehrung der Beweislast: Heterogenität, Spontaneität und Mannigfaltigkeit, nicht Homogenität, Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit, gelten ihm als evolutionäre facta bruta, die sich nicht weiter erklären lassen und auch nicht weiter erklären lassen müssen: „Zu verlangen, dass Spontaneität erklärt werden soll, ist unlogisch und in Wahrheit absurd.“138 Als Konsequenz von unveränderlich geltender Regelmäßigkeit und Notwendigkeit jedenfalls, dies erscheint Peirce unbestreitbar, könnten die Existenz und das Zustandekommen von Vielfalt und Heterogenität in der Natur niemals begriffen werden. Zudem sind es just jene facta bruta, welche für Peirce, wie wir bereits dem Aufsatz „Die Architektonik von Theorien“ entnehmen konnten, als explanans die Frage nach der Entstehung von Homogenität und Gesetzlichkeit plausibel zu beantworten ermöglichen. Regelmäßigkeit und Notwendigkeit können, so lautet Peirces These in „Die Architektonik von Theorien“ ebenso wie in dem zuletzt angeführten Manuskript aus dem Nachlass, als Ergebnis einer spontanen und unregelmäßigen Evolution erklärt werden. „Gesetzlichkeit sollte also als Ergebnis von Spontaneität erklärt werden. Nun ist der einzige Weg, das zu tun, der, irgendwie zu zeigen, dass Gesetzlichkeit das Produkt des Wachstums, der Evolution, gewesen sein könnte.“139 So deutet Peirce also einerseits die empirisch „aufdringlichste Tatsache in der Natur“, ihre Vielfalt und Mannigfaltigkeit, und die Unmöglichkeit, diese Tatsache aus regelmäßig wirksamen Gesetzen ableiten zu können, als einen Befund, als ein nachweisbares factum brutum, welches der Auffassung, wonach „alle Phänomene des physikalischen Universums aus mechanischen Prinzipien zu erklären sind“, widerspricht. Die Auffassung von Gleichmäßigkeiten und Regelmäßigkeiten in der Natur als Resultat einer immer auch den modus operandi des Zufalls inkludierenden Evolution und eben gerade nicht als unbefragbare und selbstevidente Faktizität oder Selbstverständlichkeit gilt ihm andererseits gerade als Beleg und Zeugnis für die theoretische Schwäche einer Auffassung, wonach „alle Phänomene des physikalischen Universums aus mechanischen Prinzipien zu erklären“ sein sollen. Diese beiden Argumente basieren indes so offenkundig auf einer bestimmten Auffassung oder gar Philosophie der Natur und der natürlichen Evolution sowie auch der Rolle von Unbestimmtheit und Zufall in dieser Natur und natürlichen Evolution, dass vor allem Peirces Begriff der Evolution noch genauer geklärt werden muss. 136

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Charles Sanders Peirce, „Evolution“ (ca. 1890), in: Helmut Pape (Hg.), Charles S. Peirce: Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, Frankfurt am Main 1991, S. 137. Vergleiche hierzu weiter unten in diesem Kapitel meine Ausführungen auf S. 247 f. Charles Sanders Peirce, „Evolution“ (ca. 1890), in: Helmut Pape (Hg.), Charles S. Peirce: Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, a.a.O., S. 138. Ebd., S. 138.

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Sofort nämlich ließe sich an Peirces demonstrative theoretische Zuversicht, jede Form einer deterministischen Auffassung von den Abläufen und Phänomenen der Natur durch Rekurs auf die facta bruta oder eine Theorie der Evolution widerlegen zu können, folgende kritische Rückfrage richten: Folgt nicht die Evolution ihrerseits, wenn schon nicht mechanischen, so doch immerhin bestimmten Prinzipien der Notwendigkeit, sodass Peirces Versuch einer Widerlegung einer wie auch immer gearteten deterministischen Naturauffassung unter Verweis auf die Evolution keinesfalls zwingend ist, sondern sich vielmehr im Gegenteil in einen circulus vitiosus verstrickt? Die Art und Weise, in der Peirce diesem skeptischen Einwand entgegnet, gibt deutlich zu erkennen, dass und inwiefern Peirces Kritik einer deterministischen Auffassung der Natur auf einer ganz bestimmten, eben zufallssensiblen Auffassung der Natur oder – wie ich zu formulieren vorziehe – zufallssensiblen Kosmologie der Evolution beruht: Offenkundig sieht sich Peirce gezwungen, will er seine evolutionstheoretisch fundierte Kritik der Lehre, wonach „alle Phänomene des physikalischen Universums aus mechanischen Prinzipien zu erklären sind“, plausibel begründen, für eine ganz bestimmte Sichtweise der Evolution zu plädieren und sich zudem gegen andere, Notwendigkeiten implizierende Auffassungen der Evolution auszusprechen. Peirce kommt dieser von seinem bisherigen Argumentationsgang zwingend geforderten theoretischen Aufgabe nach, indem er vor allem das Denken Herbert Spencers als eine im Grunde gerade nicht-evolutionäre Sichtweise der Evolution kritisiert. Die von Spencer etwa in seinem Werk Die ersten Prinzipien der Philosophie formulierte Ableitung der Evolution aus notwendigen Gesetzen, die mechanische Rückführung der „einfachsten Bewegungen unserer Umgebung bis hin zum beschleunigten Fall eines Steins oder dem wiederholten Schlag einer Harfensaite auf dieselbe Notwendigkeit“140 , wie Spencer selbst formuliert, lehnt Peirce in dem Aufsatz „Die Architektonik von Theorien“ mit folgender Argumentation ab: „Herbert Spencer möchte die Evolution aus mechanischen Prinzipien erklären. Das ist aus vier Gründen unlogisch. Erstens, weil das Prinzip der Evolution keine äußere Ursache erfordert, da man annehmen kann, dass die Tendenz zu wachsen selbst aus unendlich kleinem Ansatz heraus zufällig zu wachsen begann. Zweitens, weil man annehmen sollte, dass das Gesetz eher als alles andere Ergebnis der Evolution ist. Drittens, weil das exakte Gesetz offensichtlich niemals Heterogenität aus Homogenität erzeugen kann, willkürliche Heterogenität aber der Zug des Universums ist, der am sichtbarsten und charakteristischsten ist. Viertens, weil das Gesetz der Erhaltung der Energie mit dem Satz gleichbedeutend ist, dass alle Vorgänge, die mechanischen Gesetzen unterliegen, umkehrbar sind, woraus sich als unmittelbare logische Folge ergibt, dass Wachstum durch derartige Gesetze nicht zu erklären ist, selbst wenn sie im Wachstumsprozess nicht verletzt werden. Kurz, Spencer ist kein philosophischer Evolutionist, sondern nur ein Halb-Evolutionist oder, wenn

140

Herbert Spencer, Die ersten Prinzipien der Philosophie, Pähl 2004 (1862), S. 346.

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man will, nur ein Semi-Spencerianer. Nun verlangt die Philosophie aber einen durchgreifenden Evolutionismus oder überhaupt keinen.“141 Spencers mechanischen Evolutionismus ebenso wie übrigens auch den Lamarckismus kontrastiert Peirce mit seiner eigenen Auffassung der Evolution, die unterstellt, Darwins evolutionärer Sichtweise der Natur verpflichtet zu sein und insofern auch die Existenz zufälliger Variationen, wenn auch nicht als ausschließliche, so doch als konstitutive Prinzipien der Evolution akzeptiert: „[…] umfassenderem und philosophischerem Verständnis nach ist die Evolution nach Darwin Evolution durch die Wirksamkeit des Zufalls und die Vernichtung negativer Ergebnisse, während die Evolution nach Lamarck Evolution durch die Wirkung von Verhaltensgewohnheiten und Anstrengungen ist.“142 Peirce zufolge ermöglicht Darwins die „Wirksamkeit des Zufalls“ akzeptierende und wahrhaft evolutionäre Auffassung der natürlichen Evolution anders als jede Form einer deterministischen Auffassung der Natur, und sei’s einer deterministischen Auffassung der Evolution, sowohl die empirisch unleugbare Heterogenität und Vielfalt in der Natur zu akzeptieren als auch die Evolution von Homogenität in der Natur verständlich zu machen. Ist es um die Widerlegung einer wie auch immer deterministisch verfahrenden, jedenfalls nicht im genuinen Sinne evolutionären Evolutionstheorie zu tun, dann zögert Peirce mithin nicht, sich auf Darwins Lehre von der Evolution zu berufen. Dies besagt wiederum nicht, dass Peirce Darwins Evolutionstheorie in all ihren theoretischen Facetten und Bestandteilen unwidersprochen akzeptiert und als die einzig akzeptable evolutionstheoretische Variante wahrgenommen hätte. Im Gegenteil: In dem Aufsatz „Evolutionäre Liebe“, der im dritten Jahrgang von The Monist als Teil der erwähnten Serie von Artikeln erscheint, erblickt Peirce im Darwinismus, den er in diesem Aufsatz vor allem ausgehend von der Prämisse behandelt, der Darwinismus hätte sich in einer utilitaristischen Wirtschaftslehre perpetuiert, ebenjene Variante der Evolutionstheorie, welche „die Habsuchtsphilosophie mit sich brachte“143 . Das Evangelium des Johannes deutet er hingegen nun als „die Formel einer evolutionären Philosophie, die lehrt, dass Wachstum nur von der Liebe herrührt“144 und jedem „Evangelium der Habsucht“145 grundsätzlich entgegengesetzt ist. Unabhängig von der Bewertung dieser Ideale, die deutlich zu erkennen geben, wie sehr Peirce um die intellektuelle Versöhnung seines christlichen Glaubens mit seiner Beeinflussung durch die Evolutionstheorie und seiner Auffassung der Natur als Ergebnis der Evolution ringt, ist hinsichtlich Peirces Auffassung der Evolution auffallend, dass sich Peirce in dem Aufsatz „Evolutionäre Liebe“ für die wissenschaftliche Stützung seiner religiösen Überzeugungen nicht auf Darwin bezieht, sondern vielmehr auf Lamarcks Evolutionslehre verweist. Letztere habe im Unterschied zu Darwins Modell einer „Evolution durch Zufall“146 oder durch 141

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Charles Sanders Peirce, „Die Architektonik von Theorien“ (1891), in: Karl-Otto Apel (Hg.), Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, a.a.O., S. 271 f. Ebd., S. 273. Charles Sanders Peirce, „Evolutionäre Liebe“ (1893), in: Helmut Pape (Hg.), Charles S. Peirce: Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, a.a.O., S. 246. Ebd., S. 237. Ebd., S. 243. Ebd., S. 246.

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„Zufallsvariation“147 , wie es in „Evolutionäre Liebe“ nun heißt, sowie auch im Gegensatz zu Spencers Modell einer Evolution durch mechanische Notwendigkeit die Theorie einer „Evolution kraft Verhaltensgewohnheit“148 formuliert, deren Sichtweise „mit der allgemeinen Beschreibung der Wirkungsweise der Liebe“149 und der Sichtweise einer „Evolution durch schöpferische Liebe“150 zusammenfalle.151 Um nun jedoch – unabhängig von Peirces tatsächlicher oder letztlich doch nur scheinbarer Ambivalenz zwischen Darwin und Lamarck, unabhängig auch von der in dem Aufsatz „Evolutionäre Liebe“ angedeuteten Ergänzung oder gar Ersetzung einer Vorstellung von Evolution im Darwinschen Sinne, einer Evolution, die den Zufall zu seinem Recht kommen lässt, durch eine Auffassung von Evolution, die Peirce selbst in „Evolutionäre Liebe“ auch als „Agapismus“ bezeichnet –, um nun unabhängig davon noch genauer zu verstehen, inwiefern Peirces Kritik der Präsumtion einer lückenlosen Determination des natürlichen Geschehens durch mechanische oder auch andersartige Gesetzmäßigkeiten auf einer bestimmten Auffassung und Kosmologie der Evolution und einer diese wiederum fundierenden Sensibilität für Zufall und Unbestimmtheit in der Natur beruht, müssen wir doch noch einmal auf den gesamten Argumentationsgang der in The Monist in den Jahren 1891–1893 publizierten Serie von Beiträgen blicken, die durch den schon zur Sprache gekommenen Aufsatz „Die Architektonik von Theorien“ ja lediglich eröffnet wurde. Insbesondere Peirces Versuch, die unterschiedlichen Begründungsstrategien des „Nezessarismus“ zu überprüfen und zu widerlegen, erweist sich dabei als von nicht zu vernachlässigender Bedeutung, wenn wir Peirces Auffassung der natürlichen Evolution insgesamt verstehen und ferner nachvollziehen wollen, inwiefern Peirce im Kontext dieser Auffassung schließlich zu einer theoretischen Rehabilitierung des Zufalls in der Natur wie der Natur gelangt. In dem 1892 publizierten Artikel „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ nimmt Peirce seine bereits in „Die Architektonik von Theorien“ im Rekurs auf Darwins 147 148 149 150 151

Ebd., S. 243. Ebd., S. 247. Ebd., S. 248. Ebd., S. 249. Im Gegensatz zu der antidarwinistischen Argumentation in „Evolutionäre Liebe“ beachte man aber auch sowohl Peirces Bekenntnis zum Zufall als entscheidenden Faktor, der „one essential agency“ der Evolution, als auch seine Präferenz für Darwins Form der Evolutionstheorie in dem aus dem Nachlass publizierten Manuskript „Design and Chance“. Darin heißt es bezüglich der Rolle des Zufalls für die Evolution: „It has always seemed to me singular that when we put the question to an evolutionist, Spencerian, Darwinian, or whatever school he may belong to, what are the agencies which have brought about evolution, he mentions various determinate facts and laws, but among the agencies at work he never once mentions Chance. Yet it appears to me that chance is the one essential agency upon which the whole process depends.“ Seine grundsätzliche intellektuelle Sympathie für Darwin formuliert Peirce in „Design and Chance“ ebenfalls in eindeutiger Weise, indem er sein eigenes Denken gleichsam als Ontologisierung des Darwinismus bezeichnet: „Indeed, my opinion is only Darwinism analyzed, generalized, and brought into the realm of Ontology [Hervorhebung von mir; P.V.].“ Vergleiche hierzu Charles Sanders Peirce, „Design and Chance“ (1883/1884), in: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Vol. 4 (1879–1884), herausgegeben von Max Fisch u. a., Bloomington/Indianapolis 1986, S. 548 bzw. 552.

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Evolutionstheorie entwickelte These von der Mannigfaltigkeit, Spontaneität und Heterogenität der Natur und seinen Widerstand gegen die Eskamotierung des Zufalls in der Natur durch jede Form einer deterministischen Naturphilosophie wieder auf. Freilich bestimmt er nun zunächst einmal sowohl in systematischer als auch in theoriegeschichtlicher Hinsicht die Gestalt jenes Gegners genauer, gegen den er sich eigentlich wendet, und diesen Gegner etikettiert er nun plakativ als „Nezessarismus“. Wer vertritt einen solchen Nezessarismus? Und was genau besagt eigentlich dieser Nezessarismus? Als frühester Protagonist des Nezessarismus gilt Peirce in „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ Demokrit.152 Später sei der Nezessarismus auch von der Stoa und im Zeitalter der Renaissance auch von gewissen philosophischen Strömungen, die auf dem Denken der Stoa gründeten, vertreten worden; freilich ist der Nezessarismus für Peirce kein antiquiertes Relikt vergangener intellektueller Traditionen; vielmehr genieße der Nezessarismus in der Gegenwart so hohe Reputation wie selten zuvor in der Geschichte des Denkens; die Entdeckungen der neuzeitlichen Mechanik, die Fortschritte der Physik, eine materialistische Psychologie und – notabene – eine Theologie, die das Wunder leugnet, sie alle, so führt Peirce aus, hätten das ihrige dafür getan, „dass die Lehre des Nezessarismus niemals so sehr im Schwange war wie heute.“153 Was besagt diese Lehre des Nezessarismus? Die Lehre des Nezessarismus rehabilitiert und reformuliert nach Peirce die Laplacesche Hypothese, die Ansicht also, „dass jedes einzelne Faktum im Universum präzise durch ein Gesetz bestimmt wird.“154 Peirce präzisiert diese theoretische Substanz des Nezessarismus durch folgende Bemerkung: „Die These, die in Frage steht, besagt, dass die Lage der Dinge, wie sie zu einer beliebigen Zeit besteht, aufgrund gewisser unveränderlicher Gesetze die Lage der Dinge zu jeder anderen Zeit vollständig bestimmt (denn eine Einschränkung auf die Zukunft lässt sich nicht verteidigen). Also könnte ein Geist mit ausreichenden Fähigkeiten, wäre der Zustand des Universums im Urnebel bekannt und wären die Gesetze der Mechanik gegeben, aus diesen Data die genaue Form jedes Schnörkels eines jeden Buchstabens deduzieren, den ich im Moment hinschreibe.“155 Die nezessaristische Hypothese ist demnach für Peirce mit einem Determinismus amalgamiert, demzufolge sich die Notwendigkeit alles Geschehens aus den „Gesetzen der Mechanik aufgrund unveränderlicher Anziehung und Abstoßung“156 ergibt. Die derart zu verstehende Lehre des Nezessarismus möchte nun Peirce, wie er sich ausdrückt, „prüfen“, indem er sich den vielfältigen theoretischen Mitteln zuwendet, mit deren Hilfe der Nezessarismus seinen grundsätzlichen Anspruch und seine grundsätzliche These zu begründen versucht: Der Satz der prinzipiellen, präzisen Bestimmtheit der „Lage der 152

153

154 155 156

Vergleiche zu Demokrits Einschätzung der tyche und zu der entsprechenden Ambivalenz der Forschungsliteratur meine Ausführungen im zweiten Kapitel, S. 78–82. Charles Sanders Peirce, „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ (1892), in: Karl-Otto Apel (Hg.), Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, a.a.O., S. 290. Ebd., S. 288. Ebd., S. 290. Ebd., S. 290.

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Dinge“ zu allen Zeiten kann von den Vertretern des Nezessarismus erstens als Postulat allen wissenschaftlichen Denkens betrachtet werden. Dieses erste Plädoyer für den Nezessarismus widerlegt Peirce, indem er darauf verweist, dass alle nicht-deduktiven Schlussformen wissenschaftlichen Denkens allein auf die Erfahrung, wie sie sich uns darstellt, zielen, nicht auf unterstellte Dinge oder Wesen an sich, und dass wiederum diese Schlussformen des wissenschaftlichen Denkens immer nur vorläufige Gültigkeit beanspruchen können: „Überlegen wir ferner, dass die Konklusionen der Wissenschaft keinen Anspruch erheben, mehr als wahrscheinlich zu sein, und überlegen wir, dass ein Wahrscheinlichkeitsschluss im Höchstfalle nur annehmen kann, dass etwas sehr häufig oder, anders gesagt, annäherungsweise wahr ist, niemals jedoch, dass etwas ohne Ausnahme für das ganze Universum unbedingt wahr ist, dann sehen wir, wie weit dieser Satz [der Satz des Nezessarismus; P. V.] in Wahrheit davon entfernt ist, derart vom wissenschaftlichen Denken gefordert zu sein.“157 Den nicht-deduktiven Schlussformen in der Wissenschaft lassen sich also, werden sie in ihren Ansprüchen nur angemessen verstanden, keinerlei Anzeichen dafür entnehmen, dass diese Schlussformen irgendein Postulat als zugrunde liegendes Fundament ihrer Plausibilität voraussetzen: „Nun schließt aber unser Schluss, da er nicht mehr beansprucht, als auf diese Weise erfahrungsmäßig und vorläufig zu sein, offensichtlich keinerlei Postulat ein.“158 Auch der Logik der Induktion kann demnach nicht das „Prinzip universaler Kausalität“159 zugrunde liegen, verstehen wir Forschung erst einmal, wie es uns Peirce nahelegt, als vorläufige Annäherung an unsere Erfahrungsdaten in the long run. Damit scheidet diese erste, gleichsam wissenschaftstheoretische Möglichkeit der Begründung des Nezessarismus aus. Das „Prinzip universaler Notwendigkeit“ lässt sich nicht als zwingendes „Postulat des schlussfolgernden Denkens“160 verstehen. So sieht sich Peirce im Zuge seiner „Überprüfung“ des Nezessarismus zweitens gezwungen, eine empirische Begründung des Nezessarismus abzuwägen. Im Laboratorium der Natur zeigt sich aber laut Peirce, und seine diesbezügliche These ist uns durch die Argumentation in „Die Architektonik von Theorien“ und in dem zitierten Nachlassmanuskript bereits hinlänglich vertraut, keine letztgültige empirische Exaktheit. Vielmehr fielen alle empirischen Bestimmungen, so bemerkt Peirce süffisant und unter Verweis auf seine eigenen beruflichen Erfahrungen mit der Bestimmung von Maß- und Längeneinheiten im Bereich der Geodäsie, stets hinter „der Genauigkeit von Banknoten“161 zurück und lägen allenfalls „auf einer Ebene mit den Messungen […], die ein Dekorateur an Teppichen und Gardinen“162 vornimmt. Das allem empirischen Streben nach exakten Größen- und Mengenangaben innewohnende und dieses Streben doch stets kon157 158 159 160 161 162

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

291. 293. 295. 296. 297. 297.

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terkarierende Element von Unbestimmbarkeit und Zufälligkeit lässt sich dabei nicht auf vermeidbare Beobachtungsfehler zurückführen, sondern ist in einem ganz prinzipiellen Sinne für die Unglaubwürdigkeit dieser zweiten Begründungsstrategie des Nezessarismus verantwortlich. Zwar sei, so muss auch Peirce dem Versuch einer empirischen Grundlegung des Nezessarismus konzedieren, Regelmäßigkeit in der Natur durchaus zu beobachten und nachzuweisen. Indes, so fährt Peirce fort: „Jene Beobachtungen, die man allgemein zugunsten mechanischer Kausalität anführt, beweisen nur, dass es ein Element der Regelmäßigkeit in der Natur gibt, haben jedoch keinerlei Einfluss auf die Frage, ob solche Regelmäßigkeit exakt und allgemein ist oder nicht. Ja, dieser Exaktheit steht sogar alle Beobachtung direkt entgegen; und man kann höchstens sagen, dass ein großer Teil dieser Beobachtung wegerklärt werden kann. Man versuche ein Naturgesetz zu verifizieren, und man wird finden, dass, je präziser die Beobachtungen sind, sie um so sicherer unregelmäßige Abweichungen vom Gesetz aufweisen werden. Wir sind gewohnt – und ich sage nicht, dass es falsch ist –, sie Beobachtungsfehlern zuzuschreiben; doch können wir gewöhnlich solche Irrtümer auf keinerlei Weise erklären, die schon vorher wahrscheinlich wäre. Geht man ihren Ursachen weit genug nach, so wird man sich gezwungen sehen, zuzugeben, dass sie immer auf willkürlicher Bestimmung, d.h. auf Zufall, beruhen.“163 Peirce leugnet, dies ist zu beachten, im Zuge seiner Kritik einer empirischen Fundierung des Nezessarismus also keinesfalls die Tatsache, „dass es überhaupt Regelmäßigkeit in der Welt gibt“164 . Aber die Natur besteht eben nicht zur Gänze und ausschließlich aus Regelmäßigkeiten, und Unregelmäßigkeiten ihrerseits sind nicht gänzlich auf Beobachtungsfehler zu reduzieren. Es gibt in der Natur stets auch, so hält Peirce jedwedem empirisch argumentierenden Plädoyer für den Nezessarismus entgegen, ein empirisch irreduzibles „Element realen Zufalls“165 . Mit dem Verweis auf das Würfelspiel, welches in diesem Zusammenhang ausdrücklich als allen anderen Ereignissen der Natur gleichartig eingestuft wird, glaubt Peirce seine anti-nezessaristische Position erhärten zu können. Das Würfelspiel, gleichsam als Metapher der Natur betrachtet, gebe nämlich eindeutig die „Mannigfaltigkeit, Eigentümlichkeit und Unregelmäßigkeit der Dinge“166 zu erkennen. Peirce erscheint es somit unbestreitbar, dass sich ein „Element realen Zufalls“ in der Natur empirisch nachweisen lässt. Und ebendieses Element sei es, welches eine empirische Fundierung des Nezessarismus verunmöglicht. Dem Vertreter eines empirisch fundierten Nezessarismus dürfte freilich Peirces Argumentation an dieser Stelle zu apodiktisch erscheinen und nicht überzeugen, ja gerade Peirces Verweis auf das Würfelspiel, welches ja seit alters her eine prominente Rolle in den Diskussionen über die Existenz und theoretische Legitimität des Zufalls spielte, dürfte ihn in seinen nezessaristischen Überzeugungen keinesfalls beirren. Für den Nezessaristen ist Peirces Verweis auf den Zufall als ein reales und unhintergehbares 163 164 165 166

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

299. 302. 299. 302.

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Merkmal unserer Natur lediglich ein „asylum ignorantiae“ oder ein „defectus nostrae cognitionis“ (Spinoza), lediglich ein Begriff faute de mieux für eine oder mehrere uns noch unbekannte Ursachen in einer Natur, für welche eine lückenlose Kausalität stets zu konstatieren ist, selbst wenn wir diese im Einzelnen noch gar nicht kennen. Statt in dem, was uns zufällig erscheint und auf keine Ursache zurückzuführen ist, einen empirischen Beleg oder doch zumindest ein Indiz für die Existenz des Zufalls in der Natur zu erkennen, so wie Peirce dies tut, gilt dem Nezessaristen die Rede von Zufall nur als „testimonium paupertatis“ (Windelband) einer gleichsam auf halbem Wege arretierten Vernunft, welche die Strecke zu den jedes natürliche Phänomen determinierenden Ursachen lediglich noch nicht zur Gänze zurückgelegt hat. Gerade die auf den ersten Blick scheinbar zufälligen Resultate des Würfelspiels gelten dem Nezessaristen daher nicht als Zeugnis oder Indiz oder Metapher für die empirische Existenz des Zufalls in der Natur, sondern als eindeutig bestimmtes Ergebnis von Ursachen und kausalen Einflüssen, die uns im Moment des Wurfes und aus der Perspektive eines Teilnehmers am Spiel zwar nicht bewusst sein mögen, prinzipiell aber durchaus bekannt sein könnten; „[…] jeder Würfel bewegt sich unter dem Einfluss präziser mechanischer Gesetze“167 , so unterstellt der Nezessarist; und was für das Würfelspiel gilt, trifft dem Nezessaristen zufolge auch für alle anderen Formen von Heterogenität, Vielfalt und Zufälligkeit in der Natur zu. Paul Carus, der im Rahmen einer ausführlichen Kontroverse mit Peirce, auf die wir am Ende dieser Sektion (b) des zweiten Abschnitts dieses Kapitels noch eingehen werden, die Idee der Notwendigkeit in der Natur gegen Peirces Kritik des Nezessarismus verteidigte, hat diese Form einer nezessaristischen Argumentationsstrategie zur Eskamotierung des Zufalls auch und gerade am Beispiel des Würfelspiels schön auf den Punkt gebracht: „When we call a throw of dice pure chance, we mean that the incidents which condition the turning up of these or those special faces of the dice have not been or cannot be calculated. We do not mean that the law of cause and effect is suspended; we mean that we are unable to determine the effect. That which would make this or that throw eindeutig bestimmt is either not known to us, or, if it were known, is of such a nature that we cannot produce the desired effect with any certainty. […] Chance, accordingly, as we understand it, is no exception to necessity; it does not happen contrary to law, and is in each case the strict result of a definite cause under definite circumstances [Hervorhebung von mir; P. V.].“168 Peirce wiederum weist die nezessaristische Leugnung der empirischen Existenz des Zufalls, wie sie Carus hier exemplarisch präsentiert, durch folgendes Argument in die Schranken: Die Heterogenität eines natürlichen Geschehens lasse sich doch niemals durch Verweis auf dessen mechanisch wirksame Ausgangsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten, selbst wenn deren Existenz konzediert werde, erklären; denn Gesetze wirkten immer in der gleichen Weise, erklärten also eo ipso niemals das Zustandekommen von Heterogenität. Heterogenität welcher Gestalt auch immer lässt sich für Peirce also niemals durch homogene Gesetze erklären, weil, wie bereits Spencers 167 168

Ebd., S. 302. Paul Carus, „The Idea of Necessity, Its Basis and Its Scope“, in: The Monist 3 (1893), S. 81 f.

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Auffassung der Evolution in dem die Aufsatzserie in The Monist inaugurierenden Beitrag „Die Architektonik von Theorien“ entgegengehalten worden war, „das exakte Gesetz offensichtlich niemals Heterogenität aus Homogenität erzeugen kann“. In „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ heißt es nun im gleichen Sinne: „Der Zufall liegt in der Verschiedenheit der Würfe; und diese Verschiedenheit kann nicht Gesetzen unterliegen, die unveränderlich sind.“169 Die zwischen Peirce und Carus exemplarisch geführte Debatte über die empirische Plausibilität und theoretische Legitimität der Annahme einer Existenz eines Zufalls führt uns offensichtlich noch einmal zu der von Peirce bereits in dem Aufsatz „Die Architektonik von Theorien“ diskutierten, grundsätzlichen Frage, wie denn der Nezessarist und der Anti-Nezessarist das Zustandekommen jener Unregelmäßigkeiten und Mannigfaltigkeiten in der Natur, wie sie sich im Zufall äußern mögen, theoretisch erklären. In „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ fasst Peirce die Unregelmäßigkeit und Vielfalt in der Natur – anders als die Nezessaristen wie Carus und Spencer, welche diese Unregelmäßigkeit und Vielfalt als Ausdruck und Resultat unveränderlich geltender Gesetze der Regelmäßigkeit und Notwendigkeit erklären und damit zugleich in ihrer phänomenalen Autarkie und theoretischen Dignität einschränken, anders aber auch als in dem oben erwähnten, nachgelassenen Manuskript „Evolution“, in dem Peirce selbst die Unregelmäßigkeit und Heterogenität der Natur als nicht weiter zu befragendes factum brutum klassifiziert – als Ergebnis einer kontinuierlich wirksamen Evolution auf, die sich nun allerdings nicht als mechanische Sequenz von beim Startschuss der Evolution bestehenden Ursachen und dann daraus zwingend resultierenden Wirkungen begreifen lässt. Weder die in aller Natur und in allem Leben anzutreffenden Phänomene von Wachstum und sich steigernder Komplexität noch Spontaneität, noch Vielfältigkeit – der „unvergleichbar hervorstechendste Charakter des Universums“170 , wie Peirce in „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ schreibt –, noch Heterogenität in der Form ständiger „Abweichungen vom Naturgesetz“171 , sind die „Merkmale des Universums“172 , die sich in einem deterministischen Sinne als nachträgliche Konsequenz gleichsam ab initio wirksamer Ursachen auflösen ließen. Indes, obwohl all die genannten Phänomene und Charakteristika der Natur sich für Peirce nicht als Resultat von ihrer Existenz und Genese vorausgehenden, zeitlosen Ursachen verstehen lassen, weshalb die nezessaristische Erklärungshypothese scheitern muss, so gedeihen sie doch durchaus im Zuge einer in der Zeit kontinuierlich wirksamen Evolution. Umgekehrt erfährt infolge dieser kontinuierlich wirksamen Evolution auch die „Regel der mechanischen Notwendigkeit in irgendeiner Weise Beeinträchtigungen“173 . Nur eine für Zufall und Unbestimmtheit in der Natur und für die „Beeinträchtigungen“ mechanischer Notwendigkeit in der Natur gleichermaßen sensible und eine Evolution als kontinuierlich in der Zeit wirksam begreifende Auffassung der Evolution kann daher für Peirce die Genese und vor allem 169

170 171 172 173

Charles Sanders Peirce, „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ (1892), in: Karl-Otto Apel (Hg.), Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, a.a.O., S. 303. Ebd., S. 308. Ebd., S. 304. Ebd., S. 304. Ebd., S. 304.

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das Wachstum heterogener und vielfältiger Spezifikationen erklären, sodass sich auch die „Komplexität und Verschiedenheit der Dinge vermehren kann“174 . Für den Nezessaristen hingegen haben Vielfalt und Unregelmäßigkeit in der Natur, deren schlichte Faktizität er auf einer ersten, gleichsam oberflächlichen Ebene ebenso zu konzedieren vermag wie die ihm nur scheinbar als unregelmäßig geltenden Resultate des Würfelspiels, als eindeutig bestimmte Konsequenz von Ausgangsbedingungen zu gelten, die gerade nicht kontinuierlich in der Zeit wirksam sind, sondern natürliche Phänomene gleichsam ab initio in Gang setzen. Wären uns diese Ausgangsbedingungen vollständig bekannt, gäbe es dem Nezessarismus zufolge kein theoretisches und praktisches Hindernis mehr, um jede in der Natur auftauchende Heterogenität oder Unregelmäßigkeit als Konsequenz von unveränderlich geltenden Gesetzmäßigkeiten aufzufassen und zu ermitteln. Der Würfelspieler mag das Ergebnis seines Wurfes als Zufall empfinden; der mit den notwendigen empirischen Informationen und den allgemein gültigen Gesetzen versorgte Betrachter des Würfelspiels weiß, noch bevor dieser konkrete Wurf zu Ende ausgeführt wurde, zu welchem spezifischen Ergebnis dieser einer Wurf, der scheinbar so zufällig erscheint, führen wird und vermag entsprechende Vorausberechnungen anzustellen. Freilich glaubt Peirce nicht nur Heterogenität und Unregelmäßigkeit und damit auch den Zufall als all jene Merkmale des Universums, die „immer und überall“175 wirksam sind, theoretisch angemessener respektieren und die Genese dieser Phänomene besser erklären zu können als jede Form des Nezessarismus. Seine Widerlegung des Nezessarismus greift auch, und dieses Argument ist uns ebenfalls bereits aus „Die Architektonik von Theorien“ bekannt, die theoretische Prämisse des Nezessarismus an, Regelmäßigkeit und Homogenität des Universums seien nicht weiter zu befragende Faktizitäten oder Selbstverständlichkeiten, die nicht erklärt werden müssten. Genau das Gegenteil trifft für Peirce, wie wir bereits sahen, zu: Die Regel- und Gesetzmäßigkeit in der Natur, deren Existenz Peirce gar nicht bestreiten mag, ist für Peirce kein explanans, sondern ein explanandum. Wie aber können Regelmäßigkeit und Homogenität erklärt werden, wenn sie, was Peirce unbestreitbar erscheint, keine unerklärbaren facta bruta sind, sondern ihre Existenz erklärt werden muss? Peirces Antwort auf diese Frage haben wir ebenfalls bereits in „Die Architektonik von Theorien“ kennen gelernt. Gemäß seiner auf der Auffassung einer kontinuierlich wirksamen Evolution beruhenden Form des Anti-Nezessarismus lassen sich Regel- und Gesetzmäßigkeiten in der Natur nur im Zuge einer Evolutionstheorie erklären, welche nicht mechanistisch oder deterministisch argumentiert, sondern im genuinen Sinne evolutionär und dadurch auch den Zufall zu seinem Recht kommen lässt.176 Peirces gleichsam evolutionärer Anti-Nezessarismus erklärt im Rahmen seiner zufallssensiblen Kosmologie der Evolution insofern Regelmäßigkeiten in der Natur stets und Unregelmäßigkeiten und Vielfalt in der Natur immer dann, wenn er sie nicht als facta bruta klassifiziert und bezeichnet, durch eine Auffassung der Evolution, welche den Zufall zu seinem Recht kommen lässt und die Evolution nicht als 174 175 176

Ebd., S. 304. Ebd., S. 304. In ähnlicher Weise wie Peirce spricht David Bartholomew in seinem Buch The God of Chance in dem Abschnitt „Order out of chaos“ davon, „randomness“ sei „a precondition of order.“ Vergleiche dazu David Bartholomew, The God of Chance, London 1984, S. 73.

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Startschuss für natürliche Phänomene, die dann als Konsequenz dieses Startschusses zu verstehen wären, sondern im Sinne einer kontinuierlichen Wirksamkeit begreift. Dem Nezessarismus hingegen glaubt Peirce vorwerfen zu können, dass er weder das Zustandekommen und die Genese von Regelmäßigkeit und Homogenität in der Natur erklären noch das Zustandekommen und die Genese von Unregelmäßigkeit und Heterogenität in der Natur plausibel machen kann: „Meine Hypothese von der Spontaneität jedoch erklärt tatsächlich die Unregelmäßigkeit in gewissem Sinne, d.h. sie erklärt das allgemeine Faktum der Unregelmäßigkeit, obwohl natürlich nicht, wie jedes einzelne nicht gesetzliche Ereignis nun auszusehen hat. Indem sie auf diese Weise das Band der Notwendigkeit lockert, […] befähigt [sie] uns zu verstehen, wie Gleichförmigkeit der Natur zustandegekommen sein könnte.“177 Diese beiden entscheidenden theoretischen Schwächen des Nezessarismus verunmöglichen somit – um damit wieder zu den unterschiedlichen Begründungsstrategien des Nezessarismus zurückzukehren, die zu „prüfen“ Peirce in „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ ja ursprünglich zu unternehmen beabsichtigt – auch jeden Versuch einer empirischen Fundierung des Nezessarismus. Denn weder kann ein empirisch argumentierender Nezessarismus mit den konzedierten Unregelmäßigkeiten und Zufälligkeiten in der Natur in theoretisch akzeptabler Weise umgehen, insofern er sie eben auf ein Resultat mechanischer und lediglich ab initio wirksamer Ausgangsbedingungen reduziert, sich Unregelmäßigkeit und Zufälligkeit und deren Genese und Wachstum aber niemals als direkte Konsequenz von solchermaßen unveränderlich geltender Regelmäßigkeit erklären lassen; noch kann die empirische Variante des Nezessarismus die empirisch unbestreitbare Regelmäßigkeit in der Natur erklären, insofern sie für diese den Charakter einer nicht weiter zu befragenden Faktizität postuliert, diese zu Unrecht als explanans, nicht als explanandum begreift. Nachdem also weder ein wissenschaftstheoretisches Argument, welches ein nichtdeduktiven Schlussformen wissenschaftlichen Denkens vermeintlich innewohnendes Postulat unterstellt, noch empirische Beobachtungen den Nezessarismus fundieren können, vielmehr die explanatorischen Defizite des Nezessarismus offen zu Tage liegen, bleibt den Vertretern des Nezessarismus Peirce zufolge drittens nur noch der Rekurs auf apriorische Argumente: Apriorische Begründungen des Nezessarismus nehmen, was die Existenz des Zufalls betrifft, die Form der These an, dass der Zufall unvorstellbar oder dass der Zufall unerkennbar sei. Peirce diskutiert in diesem Zusammenhang vor allem das unterschiedlich deutbare Argument, der Zufall sei a priori unerkennbar und insofern könnten prinzipiell auch keine Tatsachen des Naturgeschehens bekannt sein, für deren Erklärung der Zufall relevant sein könnte. Denn der Zufall enthülle doch, so besagt diese Argumentation, dem „Auge der Vernunft nicht das Wie und Warum der Dinge; und da eine Hypothese nur insofern gerechtfertigt sein kann, als sie irgendein Phänomen erkenn177

Charles Sanders Peirce, „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ (1892), in: Karl-Otto Apel (Hg.), Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, a.a.O., S. 305.

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W, N, G: D S  K  Z bar macht, kann uns niemals das Recht zustehen anzunehmen, absoluter Zufall könnte bei der Entstehung eines Naturgeschehens eine Rolle spielen.“178

Aber diese apriorische Annahme einer Unerkennbarkeit des Zufalls hält Peirce für eine Form „naiver Frechheit“179 , und dies deshalb, weil es doch gerade der Nezessarist ist, der einerseits auf die unhintergehbare Faktizität von Regelmäßigkeit in der Natur als nicht weiter erklärungsbedürftiges factum brutum verweist und andererseits, wie wir soeben im Kontext von Peirces Zurückweisung der empirischen Fundierung des Nezessarismus sahen, die Genese von Unregelmäßigkeit als zwingende und notwendige Konsequenz unveränderlich geltender Ausgangsbedingungen gerade nicht plausibel machen kann. Anstatt also den Anti-Nezessaristen zu kritisieren, weil dieser angeblich einen im Grunde unerkennbaren Zufall postuliere, müsse sich der Nezessarist eingestehen, so Peirce, dass seine Argumentation selbst auf Prämissen beruht, die über keine Erklärungskraft verfügen oder eine solche gar nicht verlangen und insofern selbst, da sie nicht dazu dienen, ein Phänomen erkennbar zu machen, ungerechtfertigt sind. Peirce beharrt also im Zuge seiner Kritik der auf eine apriorische Prämisse sich stützenden Variante des Nezessarismus auf seiner bereits im Zuge der Auseinandersetzung mit der empirischen Fundierung des Nezessarismus formulierten These, dass sich Unregelmäßigkeit und Heterogenität in der Natur nur durch eine bestimmte Auffassung einer kontinuierlich in der Zeit wirksamen und für den Zufall in der Natur gleichsam anfälligen Evolution erklären lassen, insofern gerade nicht unerklärbar seien. Freilich will Peirce dabei all seine Bemühungen um eine theoretische Rehabilitierung des Zufalls, der Vielfalt und der Unregelmäßigkeit als reale Merkmale und Attribute der Natur und all seine Versuche einer theoretischen Zurechtweisung der unterschiedlichen Begründungsstrategien des Nezessarismus nun nicht so verstanden wissen, als bemühe sein Anti-Nezessarismus den Zufall als ein unmittelbares Erklärungsprinzip: „Etwas dadurch erklären zu wollen, dass man einfach sagt, es sei durch Zufall entstanden, würde in der Tat nichtig sein. Aber das ist nicht das, was ich will. Ich mache vom Zufall in der Hauptsache nur Gebrauch, um Raum zu schaffen für ein Prinzip der Verallgemeinerung, oder eine Tendenz, Verhaltensgewohnheiten zu formen, das meiner Ansicht nach alle Regelmäßigkeiten hervorgebracht hat. Der mechanische Philosoph gibt für die gesamte Spezifikation der Welt nicht die geringste Erklärung, was beinahe genauso schlecht ist, wie sie einfach dem Zufall zuzuschreiben. Ich schreibe sie zwar durchaus dem Zufall zu, aber dem Zufall in der Form einer Spontaneität, die bis zu einem gewissen Grad regelmäßig ist.“180 178

179

180

Ebd., S. 301. Ganz ähnlich hatte schon Windelband in seiner Schrift Die Lehren vom Zufall argumentiert: Die Erklärung eines Geschehens als durch Zufall verursacht widerspreche a priori dem principium rationis sufficientis, mithin dem allem Denken notwendigerweise zugrunde liegenden Prinzip vom zureichenden Grunde. Vergleiche hierzu meine Ausführungen auf S. 149 f. im zweiten Kapitel dieser Arbeit. Charles Sanders Peirce, „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ (1892), in: Karl-Otto Apel (Hg.), Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, a.a.O., S. 307. Ebd., S. 308.

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Getreu dieser Argumentation hat sich Peirce in einer Replik auf die von Paul Carus mehrfach in der Zeitschrift The Monist vorgetragene Kritik181 seiner Kritik des Anti-Nezessarismus zunächst noch einmal ausdrücklich gegen die Unterstellung verwahrt, seine Verteidigung und Auffassung des Zufalls als Merkmal der Natur leugne jede „regularity“ der Natur.182 Dies zu behaupten, stelle ein grobes Missverständnis seiner Position dar. Aber beibehalten und verteidigt wissen will Peirce in seiner auf die Thesen von Carus reagierenden „Reply to the Necessitarians“ seine Kritik an der Idee, dass die Phänomene der Natur immer und präzise der Regelmäßigkeit eines Naturgesetzes entsprechen: „Like everybody else, I admit that there is regularity; I go further; I maintain the existence of law as something real and general. But I hold that there is no reason to think that there are general formulae to which the phenomena of nature always conform, or to which they precisely conform.“183 Darüber hinaus führt Peirce in seiner „Reply to the Necessitarians“ bemerkenswerterweise eine begriffliche Unterscheidung zwischen gewöhnlicher „chance“ und „absolute chance“ ein, die er so in den vorangegangenen Teilen seiner Artikelserie gar nicht formuliert hatte, insofern er dort stets nur sporadisch von einem „absoluten“ Zufall gesprochen hatte184 und dabei die Differenz des absoluten Zufalls zu einem wie auch immer zu verstehenden nicht-absoluten Zufall gar nicht eigens thematisiert hatte. Es war viel181

182

183 184

Vergleiche dazu Paul Carus, „Mr. Charles S. Peirce’s Onslaught on the Doctrine of Necessity“, in: The Monist 2 (1892), S. 560–582. Paul Carus, „The Idea of Necessity. Its Basis and its Scope“, in: The Monist 3 (1893), S. 68–96. Paul Carus, „The Founder of Tychism, His Methods, Philosophy, and Criticisms“, in: The Monist 3 (1893), S. 571–622. Schon in dem Aufsatz „The Order of Nature“ von 1878 hatte Peirce gegen einen universalen Nezessarismus sowie gegen einen universalen Anti-Nezessarismus argumentiert: „Whatever further conclusions we may come to in regard to the order of the universe, thus much may be regarded as solidly established, that the world is not a mere chance-medley. […] And, in short, while a certain amount of order exists in the world, it would seem that the world is not so orderly as it might be, and, for instance, not so much so as a world of pure chance would be.“ Charles Sanders Peirce, „The Order of Nature“ (1878), in: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Vol. 3 (1872–1878), herausgegeben von Max Fisch u. a., Bloomington/Indianapolis 1986, S. 308 bzw. 310. Vergleiche dazu auch die Äußerung von John Dewey: „Die Bedingungen und Prozesse der Natur erzeugen ebenso wahrhaft Ungewissheit und Risiken, wie die Natur Sicherheit und die Mittel der Sicherung gegen Gefahren bietet. Die Natur ist durch eine konstante Mischung des Prekären und des Stabilen charakterisiert. Diese Mischung gibt dem Dasein seine Würze. Wenn die Existenz entweder vollständig notwendig oder vollständig kontingent wäre, gäbe es weder Komödie noch Tragödie im Leben, noch das Bedürfnis des Willens zu leben. […] Jede Philosophie, die bei ihrer Suche nach Gewissheit die Realität des Ungewissen in den ständig voranschreitenden Prozessen der Natur ignoriert, leugnet die Bedingungen, aus denen sie selbst entsteht. Der Versuch, alles Zweifelhafte unter den Schutz dessen zu stellen, das theoretisch sicher ist, führt zu Unaufrichtigkeit und Flucht und wird deshalb die Stigmata des inneren Widerspruchs in sich tragen.“ John Dewey, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkennen und Handeln, a.a.O., S. 244. Charles Sanders Peirce, „Reply to the Necessitarians“, in: The Monist 3 (1893), S. 526. Vergleiche etwa oben das Zitat aus „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“ in Anmerkung 178, S. 249 f. in diesem Kapitel.

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mehr Carus, der in der Debatte mit Peirce in seinem Aufsatz „The Idea of Necessity. Its Basis and its Scope“, dessen Deutung von Zufall und Notwendigkeit im Rahmen des Würfelspiels wir bereits vorgestellt hatten, zuerst und wortwörtlich eine systematische Unterscheidung zwischen „chance“ und „absolute chance“ ins Spiel gebracht hatte. „Chance“, verstanden als unintendierte und unkalkulierbare Nebenfolge unseres Handelns, möge es ja geben, so konzedierte Carus Peirce; „absolute chance“ im Sinne einer Absenz jedweder Gesetzmäßigkeit hingegen gebe es niemals im Universum, so hatte Carus seinerzeit apodiktisch erklärt: „Absolute chance actually involves the idea of a creation out of nothing; and thus it stands in contradiction to the law of the preservation of matter and energy. Absolute chance which means that the very same thing under the very same conditions can act in this or in some other way, that it need not act in exactly the same way, involves a belief in either the creation of a not existing quality out of nothing, or the disappearance of existing qualities into nothing.“185 Es scheint, als ob Carus mit dieser erst von ihm in die Debatte mit Peirce eingeführten Begriffsdifferenzierung und vor allem mit seiner Bemerkung, die Idee des „absoluten Zufalls“ setze die Idee einer „creation out of nothing“ voraus, zwar die bis anhin explizit vertretene Position des Adressaten seiner Kritik verfehlt, sehr wohl aber Peirce zu einer Fortentwicklung, Präzisierung und Ausweitung seiner Zufallstheorie angeregt hat. Denn Peirce nimmt nun in seiner „Reply to the Necessitarians“ die von Carus formulierte Unterscheidung zwischen einem Zufall und einem absoluten Zufall tatsächlich auf und bemüht sich – und dies, wenn ich recht sehe, zum ersten Mal in seinen Schriften – um eine systematische Klärung dieser beiden Begriffe. Peirce definiert und formuliert nunmehr: „For a long time, I myself strove to make chance that diversity in the universe which laws leave room for, instead of a violation of law, or lawlessness. That was truly believing in chance that was not absolute chance. It was recognising that chance does play a part in the real world, apart from what we may know or be ignorant of. But it was a transitional belief which I have passed through, while Dr. Carus seems not to have reached it.“186 Offensichtlich will Peirce also nun tatsächlich zwischen einem gleichsam nicht-absoluten und einem absoluten Zufall unterscheiden. Aber versteht er dabei die Begriffe in ebenjener Weise, wie sie sein Kontrahent verstanden wissen wollte? Darüber gibt uns Peirces soeben zitierte Formulierung unmittelbar keinen Aufschluss, wohl aber eine Passage einige Seiten später, in welcher Peirce seine Auffassung der unterschiedlichen Begriffe von Zufall mit seinem evolutionären Denken verknüpft. Eine evolutionär denkende Philosophie wolle und müsse, so heißt es zunächst, alle philosophischen Fragen in evolutionärer Weise klären. Die einzige nicht weiter evolutionär aufzuklärende Tatsache für eine solchermaßen evolutionär denkende Philosophie sei „non-existent spontaneity.

185 186

Paul Carus, „The Idea of Necessity. Its Basis and its Scope“, in: a.a.O., S. 82 f. Charles Sanders Peirce, „Reply to the Necessitarians“, in: a.a.O., S. 544.

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This was soon to mean absolute chance.“187 Absoluter Zufall ist demnach für Peirce zu bezeichnen als jene „non-existent spontaneity“, die jeder Evolution vorausgeht und sich insofern in der Tat durch eine „general absence of any determinate law“188 auszeichnet. Innerhalb der natürlichen Evolution und im Rahmen ihrer nicht zu bestreitenden Gesetzmäßigkeiten hingegen wirke nicht der absolute Zufall, sondern eben nur ein gewöhnlicher oder relativer Zufall, der aber gleichsam als Bedingung der Möglichkeit von Gesetz- und Regelmäßigkeiten der Evolution ebenso gelten kann wie als unhintergehbares Element und modus operandi einer kontinuierlich wirksamen Evolution, die ihrerseits Unregelmäßigkeit, Vielfalt und Heterogenität in der Natur verbürgt. Die Rede von einem gewöhnlichen Zufall bezeichnet also für Peirce ein Phänomen in der Evolution und ein Phänomen in der Natur, während die Rede von einem absoluten Zufall sich gleichsam auf den Ausgangspunkt der Evolution und der Natur bezieht. Das Kriterium der Unterscheidung zwischen absolutem und nicht-absolutem Zufall ist insofern bei Peirce – anders als bei Carus – nicht die Frage der Ursächlichkeit oder Ursachelosigkeit des Zufalls. Der absolute Zufall geht für Peirce allen evolutionären Möglichkeiten, Regelmäßigkeit wie Unregelmäßigkeit, Einheit wie Vielfalt, Homogenität wie Heterogenität in der Natur, in einer Weise voraus, die es nicht einmal ermöglicht, von einem absoluten Zufall als Form oder Charakteristikum eines Geschehens zu sprechen. So ist der absolute Zufall für Peirce der Ausgangspunkt für den gewöhnlichen Zufall in der natürlichen Evolution. Der relative Zufall hingegen ist für Peirce ein Zufall in der natürlichen Evolution, er bezieht sich also auf etwas in der Natur, während die Rede von einem absoluten Zufall den Zufall der Evolution schlechthin meint, sich also nicht auf etwas in der Natur, sondern auf die Faktizität der Natur schlechthin bezieht. So münden Peirces Kosmologie der Evolution ebenso wie Boutroux’ Kontingenzphilosophie in die philosophische Behandlung jener beiden möglichen Dimensionen der Rede von der contingentia naturae, der Dimension des Zufalls und der Kontingenz in der Natur und der Dimension des Zufalls und der Kontingenz der Natur schlechthin, die in einem systematischen Sinne und von Anfang an für die Ausführungen in dieser Sektion (b) des zweiten Abschnitts dieses Kapitels differenziert worden waren. Für die entscheidende theoretische Konsequenz von Peirces Auffassung der Natur und des Zufalls in der Natur und des Zufalls der Natur halte ich also die Tatsache, dass Peirce im Zuge seiner Differenzierung von Zufall und absolutem Zufall, wie Peirce sie in seiner „Reply to the Necessitarians“, wenn ich recht sehe, erstmals formuliert und wie sie ihm durch Carus’ Kritik an seiner Position immerhin nahe gelegt wurde, seine evolutionäre und anti-nezessaristische Auffassung der Natur mit der Möglichkeit einer Schaffung der Natur aus dem Nichts durch eine von der darwinistischen Evolutionslehre inspirierte Kosmologie der Evolution zu vereinbaren oder zu versöhnen sucht und sich so zu einer Art Ontologisierung des Darwinismus, wie Peirce selbst dies einmal formuliert hat189 , gedrängt sieht. Peirce formuliert dabei freilich keine explizite Theologie, schöpfungstheologische Fragestellungen werden ihm nicht explizit zum Thema. Gleichwohl erhalten der Zufall der Natur schlechthin und der Zufall in der Natur theo187 188 189

Ebd., S. 549. Ebd., S. 552. Vergleiche Anmerkung 151, S. 242 in diesem Kapitel.

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retische Legitimität im Kontext eines philosophischen Ansatzes, welcher – zumindest implizit – Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie durch eine zufallssensible Kosmologie der Evolution zu versöhnen trachtet und so – zumindest implizit – gleichsam eine Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen nahelegt. Peirces zufallssensible Kosmologie der Evolution ist insofern ein äußerst geeigneter theoretischer Ausgangspunkt, um – ausgehend von einer systematischen Bestimmung der grundsätzlich zur Verfügung stehenden Optionen, das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft zu denken – die Frage nach der möglichen theoretischen Versöhnung der Rede von der Kontingenz unserer Wirklichkeit schlechthin mit der Überzeugung von Zufall und Kontingenz der Natur und in der Natur, die Frage nach der Kompatibilität der schöpfungstheologischen Rede von einer contingentia mundi mit der naturwissenschaftlich belehrten Rede von contingentia naturae, nunmehr auch zu einem expliziten Thema zu machen und auch die theologischen Konsequenzen eines solchen Versöhnungsunternehmens zu erkunden. (c) Aber ist ein solches Ansinnen, eine solche Absicht einer Versöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie und ihrer jeweiligen Auffassungen von Zufall und Kontingenz, nicht eo ipso als theoretisch sinnlos zu diskreditieren? Schließen sich die evolutionstheoretische Rede von contingentia naturae und die schöpfungstheologische These einer contingentia mundi nicht zwingend aus? Lässt sich nicht, so könnte man bereits gegen Peirces zumindest implizite Naturalisierung und Dynamisierung der Schöpfungstheologie einwenden, entweder von einem Zufall in der Natur oder von „absolute chance“ im Sinne der Lehre einer creatio ex nihilo sprechen, niemals aber von beidem zugleich? Oder ist es in intellektuell redlicher Weise durchaus möglich, sich sowohl einen schöpfungstheologischen Kontingenzbegriff zu bewahren als auch von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur überzeugt zu sein? Und wenn dies wiederum möglich ist: Wie ist es möglich? Zu welchen innertheologischen Konsequenzen nötigt die Realisierung einer solchen theoretischen Möglichkeit: zu welcher Form von Schöpfungstheologie, zu welchem Verständnis des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs, zu welcher Auffassung der göttlichen Providenz, zu welcher Auffassung des Kräfteverhältnisses von Zufall und Kontingenz einerseits, providentia andererseits? Wer solchermaßen argumentative Strategien zur Versöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie gerade im Medium und mit Hilfe einer theologischen Reflexion der ihnen je eigenen Begriffe von Kontingenz und Zufall erkundet, der hat sich am Beginn eines solchen Unternehmens und vor allen weiteren theoretischen Aufgaben, die ihm fürderhin begegnen mögen, der grundsätzlich zur Verfügung stehenden theoretischen Optionen, das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft zu bestimmen, zu vergewissern, wobei ich für die folgende modellartige Typologie keine Vollständigkeit beanspruchen möchte: Die Religion kann folglich erstens aufgefasst als theoretisches Fundament für das Verfahren und die Ergebnisse der Naturwissenschaften; die Naturwissenschaften können zweitens – und zwar von Theologen wie von Naturwissenschaftlern – aufgefasst werden als theoretisches Fundament der Religion; die Aussagen der Naturwissenschaften widersprechen zwingend den Auffassungen der Religion, so kann drittens aus den Reihen der Naturwissenschaften behauptet werden, sind insofern mit diesen unverträglich, wiewohl diesen überlegen; die Religion und die

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Naturwissenschaften, so kann viertens unterstellt werden, sind durchaus miteinander zu versöhnen und zwar gerade deshalb, weil sie inkompatibel sind, also ohnehin nicht vom gleichen Gegenstand sprechen. Die folgenden Ausführungen wenden sich zunächst einmal und ganz prinzipiell gegen die ersten drei Positionen. Sie lösen also weder Religion in Naturwissenschaft auf, noch Naturwissenschaft in Religion, noch akzeptieren sie die These einer unversöhnlichen Unverträglichkeit von Religion und Naturwissenschaft. Mit der vierten Position wiederum teilen sie zwar die grundsätzliche Absicht einer Versöhnung von Religion und Naturwissenschaften, nicht aber deren theoretische Mittel. Sie wenden sich also gegen die von der vierten Position vorgeschlagene argumentative Strategie zur Erreichung des akzeptierten Ziels, gegen das Postulat einer gänzlichen Inkompatibilität oder Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft, weil ihnen die so entstehenden theologischen Folgelasten zu hoch erscheinen. Weder intellektuelle Harmonie zwischen Religion und Naturwissenschaft unter Voraussetzung der Wahrung einer eindeutigen Hierarchie zwischen ihnen noch ein unüberwindlicher theoretischer Hiatus noch theoretische Inkompatibilität oder Indifferenz zwischen Religion und Naturwissenschaften werden also zu Beginn des in dieser Sektion (c) des Kapitels im Zentrum stehenden Unternehmens als geeigneter theoretischer Ausgangspunkt akzeptiert, um sodann das Verhältnis von contingentia mundi und contingentia naturae zu bestimmen. Folglich geht dieses Unternehmen erstens davon aus, dass beispielsweise die heiligen Schriften der Offenbarungsreligionen nicht die Antworten auf jene Fragen parat halten, mit denen sich die Naturwissenschaften konfrontiert sehen. Demgemäß liefert die Anzahl der Tiere in Noahs Arche kein Erklärungsmodell für die Entstehung der Vielfalt der Arten, welches die Naturwissenschaften zu berücksichtigen hätten, und auch an den Aussagen des Buches Genesis zur Entstehung der Welt hätte sich etwa die zeitgenössische evolutionstheoretische Forschung nicht zu orientieren. So wie religiöse Überzeugungen keine naturwissenschaftlichen Hypothesen bestätigen oder fundieren können, so gilt zweitens für die angestrebte Versöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie gerade im Medium und mit Hilfe einer theologischen Reflexion der ihnen je eigenen Begriffe von Kontingenz und Zufall aber auch, dass die Resultate naturwissenschaftlicher Forschung religiöse Überzeugungen nicht bestätigen oder gar fundieren können. Und es spielt dabei auch keinerlei Rolle, ob diese gleichsam physikotheologische Aufhebung der Differenzen zwischen Religion und Wissenschaft von Theologen oder von Naturwissenschaftlern vertreten wird. Die evolutionäre Entwicklung taugt ebenso wenig als Beweis für die Existenz Gottes wie der herbstliche Zug der Schwalben gen Süden, so wie dies noch der protestantische Schulphilosoph Jakob Thomasius, der Vater von Christian Thomasius, zu zeigen versucht hatte.190 Entgegen einer religiösen Fundierung der Naturwissenschaften, wie sie im Falle einer biblizistischen Auflösung der Evolutionstheorie in Schöpfungstheologie exemplarisch vorliegt, aber auch im Gegensatz zu einer naturwissenschaftlichen Fundierung der Religion, wie sie im Falle einer physikotheologischen Auflösung der Schöpfungs190

Leo Scheffczyk, „Der christliche Vorsehungsglaube und die Selbstgesetzlichkeit der Welt (Determinismus – Zufall; Schicksal – Freiheit)“, in: Norbert Luyten (Hg.), Zufall, Freiheit, Vorsehung, a.a.O, S. 332.

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theologie in Evolutionstheorie exemplarisch vorliegt, entgegen der Annahme einer intellektuellen Harmonie zwischen Religion und Naturwissenschaft, wird nur die entsprechende, vermeintlich unbestreitbare und fraglos stets vorausgesetzte Suprematie der einen oder anderen Sphäre gewahrt, im Gegensatz zu diesen hier nur angedeuteten Positionen und Postulaten respektiert der im Folgenden zu entwickelnde Versuch einer Aussöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie im Medium und mit Hilfe einer theologischen Reflexion der ihnen je eigenen Begriffe von Kontingenz und Zufall die theoretische Autarkie von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie und deutet das Verhältnis zwischen ihnen als ein Verhältnis der Spannung, welches nicht als bedeutungslos ignoriert oder als inexistent wahrgenommen werden darf, obschon es auch nicht als unüberwindbar gelten muss. Insofern erblickt dieser Versuch drittens und entgegen der Weltanschauung eines rigiden Positivismus in den Ergebnissen oder den Methoden der Naturwissenschaften auch nichts, was Naturwissenschaften und Religion als zwingend miteinander unverträglich erscheinen ließe, und es wird also dieser Versuch durch die Tatsache, dass der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin bei seinem Flug durch das Weltall Gott gesucht und gesucht und gesucht hatte, aber schließlich doch nicht fand, die Legitimität religiöser Überzeugungen niemals in Frage gestellt sehen. Die Ergebnisse der Naturwissenschaften verpflichten weder im Sinne eines weltanschaulichen Positivismus zu einem rigiden Atheismus als der einzigen Position intellektueller Redlichkeit noch lassen sich ihnen in physikotheologischer Weise Argumente ad maiorem Dei gloriam entnehmen. Die evolutionstheoretische Rede von einer contingentia naturae und die schöpfungstheologische Semantik von einer contingentia mundi müssen sich insofern nicht zwingend als miteinander unverträglich erweisen. Wie aber vertragen sie sich, wenn sie nicht eo ipso miteinander unverträglich sind? Der im Folgenden zu entwickelnde Versuch einer intellektuell redlichen Aussöhnung von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie und ihrer jeweiligen Auffassungen von Kontingenz und Zufall beruht schließlich noch auf einer letzten grundsätzlichen Voraussetzung. Die grundsätzliche Absicht einer intellektuellen Versöhnung von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie teilt dieser Versuch ja durchaus mit ganz anderen Argumentationsfiguren. Aber es zeichnet den im Folgenden von mir vertretenen Versuch nun eben im Besonderen aus, dass er dieses Ziel nicht mit Hilfe der Präsumtion einer gänzlichen Inkompatibilität und Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft, nicht also mit Hilfe der Erklärung einer Art diskursiven Waffenstillstands zu erreichen bestrebt ist. Obwohl aus meiner Sicht gegen die theoretische Plausibilität und intellektuelle Redlichkeit einer solchen Argumentationsstrategie intrinsisch gar nichts einzuwenden ist, erscheinen mir ihre theologischen Folgelasten zu hoch. Folglich will ich mich um eine andere, aber intellektuell nicht minder redliche Form der Aussöhnung von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie bemühen, deren Argumente sich, das ist nun ihre spezifische theoretische Pointe, einer theologischen Reflexion der Semantik einer contingentia naturae verdanken. Diese von mir sowohl als intellektuell redlich eingestufte als auch für theologisch attraktiv gehaltene Form der Versöhnung von schöpfungstheologischer und evolutionstheoretischer Rede von Kontingenz oder Zufall will sich daher viertens eben gerade nicht – gar in leicht überheblicher Manier – ihres theologischen Desinteresses für die Naturwissenschaften rühmen, keine gleichsam supranaturalistische

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Blindheit für die Ergebnisse der Naturwissenschaften akzeptieren, eine gänzliche Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft postulieren. Was ich in diesem Zusammenhang – ich betone: einzig in diesem Zusammenhang – als theologischen Supranaturalismus bezeichnen zu können glaube und zu kritisieren beabsichtige, dies ist eine Position, die für die Diskussion etwa des Verhältnisses von Schöpfungstheologie und Evolutionslehre eine gänzliche Inkompatibilität oder Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft unterstellt und zu einem unfruchtbaren diskursiven Waffenstillstand führt, welcher stets mehr oder weniger auf folgender Argumentation beruht: Die Frage, wie die natürliche Evolution geschehe oder wie sich die Natur erklären lasse und wie sich etwa in der natürlichen Evolution oder in der Natur auch Zufall und Kontingenz beobachten ließen, diese Frage samt ihrer Beantwortung beinhalte, so behauptet diese Position, keinerlei Antwort auf die Frage nach den möglichen Gründen dafür, dass überhaupt jene Evolution und diese Natur seien. Eine in diesem Sinne supranaturalistische Auflösung des Widerspruchs zwischen schöpfungstheologischer Semantik von contingentia mundi und evolutionstheoretischer Rede von contingentia naturae lässt also zwischen Religion und Naturwissenschaften überhaupt keine theoretischen Berührungspunkte mehr gelten, über die dann wie auch immer zu verhandeln wäre. Man verweist vielmehr leichthin die Aussagen von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie in völlig verschiedene Gegenstandsbereiche. Während der anfängliche Schöpfungsakt gemäß einer solchen disziplinären Gewaltenteilung ins Revier der Theologie falle, sei das an diesen Schöpfungsakt sich anschließende evolutionäre Geschehen vollständig durch die Evolutionstheorie zu klären.191 Exemplarisch und prägnant lässt sich dieses Ziel einer grundsätzlichen Versöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie mit Hilfe der Präsumtion ihrer gänzlichen Inkompatibilität oder Indifferenz einer Bemerkung von Joseph Ratzinger entnehmen, die dieser in seinem Aufsatz „Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie“ zur Charakterisierung einer Position verwendet, von der nicht ganz klar ist, ob er sie sich selbst zu eigen machen will: „Der Schöpfungsglaube fragt nach dem Daß des Seins als solchen; sein Problem ist, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts. Der Entwicklungsgedanke hingegen fragt, warum gerade diese Dinge sind und nicht andere, woher sie ihre Bestimmtheit erlangt haben und wie sie mit den anderen Bildungen zusammenhängen. […] Insofern bezeichnen Schöpfungsglaube und Evolutionsgedanke nicht nur zwei verschiedene Frageumfänge, sondern zwei verschiedene Denkformen. […] Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube

191

Insofern die Position, die ich hier als Supranaturalismus bezeichne und einführe, die Natur außerhalb des Ressorts der Theologie angesiedelt sieht, weist sie gewisse Ähnlichkeiten mit jener Theologie auf, die John Dewey in seinem Buch A Common Faith als Supernaturalismus beschreibt und kritisiert. Aber zwischen jenem Naturalismus, den Dewey in dem erwähnten Buch entwickelt und supranaturalistischen Positionen entgegenhält, und einem natursensiblen Theismus bestehen natürlich gewaltige Differenzen. Den Hinweis auf Deweys A Common Faith verdanke ich Hans Joas. Vergleiche hierzu John Dewey, A Common Faith, Chelsea/Michigan 1962 (1934).

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W, N, G: D S  K  Z gehören […] durchaus verschiedenen geistigen Welten zu und berühren sich unmittelbar gar nicht.“192

Einer derartigen Argumentationsstrategie, Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie und ihre jeweiligen Auffassungen und Begriffe von Kontingenz und Zufall dadurch zu versöhnen, dass man theoretische Grenzen zieht, die dann wechselseitig nicht mehr überschritten werden dürfen, ist im Unterschied zu den drei zuvor angedeuteten Modellen einer prinzipiellen Bestimmung des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Religion, die allesamt von einer Missachtung der intellektuellen Autarkie ihres jeweiligen Gegenübers geprägt waren, durchaus die theoretische Intention einer intellektuellen Aussöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie zu eigen, eine Intention mithin, welche die folgenden Ausführungen durchaus teilen. Die Frage ist lediglich, ob das Postulat einer gänzlichen Inkompatibilität oder Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft nicht zu hohe theologische Folgekosten enthält und ob also nicht auch andere, intellektuell ebenso redliche Formen der Aussöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie denkbar wären, welche diese Folgekosten nicht entrichten müssten. Worin bestehen die theologischen Folgelasten, von denen ich spreche? Eine Befriedung des Verhältnisses von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie dank der Präsumtion ihrer gänzlichen Inkompatibilität oder Indifferenz kann doch nur überzeugen, weil und insofern ihr eine Auffassung von Schöpfungstheologie zugrunde liegt, welche den Gedanken einer creatio ex nihilo einseitig privilegiert und den Gedanken einer creatio continua aus den Augen verliert. Zumindest christliche Schöpfungstheologie meinte und meint aber immer beides: creatio ex nihilo und creatio continua, göttliche Schöpfung aus dem Nichts und Erhaltung des so Geschaffenen. Zwangsläufig nämlich stieß die christliche Schöpfungstheologie mit ihrem Glauben an eine göttliche Schöpfung aus dem Nichts, so hat es Eberhard Jüngel im Rahmen des Artikels „Schöpfung“ in Religion in Geschichte und Gegenwart präzise nachgezeichnet, auf „das Problem der Zuordnung von Schöpfung und Erhaltung. Wenn es zur Wesensstruktur des geschaffenen Seienden gehört, dass es als kontingentes Sein den Grund seiner Existenz nicht in sich selbst hat, dann tritt das von Gott unterschiedene Seiende nur dadurch ins Sein und kann in ihm nur dadurch erhalten werden, dass es an Gott teilhat als dem einzigen Wesen, das ungeschaffen und insofern Ursache seiner selbst ist.“193 Zumindest für denjenigen, der aufgrund von religiösen Überzeugungen, über welche hier gar nicht weiter zu befinden ist, die Lehre einer creatio continua als unhintergehbaren Bestandteil christlicher Schöpfungstheologie bewahrt wissen möchte, muss die Vereinbarung eines theoretischen und diskursiven Waffenstillstands zwischen Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie durch Unterzeichnung einer Inkompatibilitäts- oder Indifferenzurkunde nach einem schalen Kompromiss schmecken, 192

193

Joseph Ratzinger, „Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie“, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Wer ist das eigentlich – Gott?, München 1969, S. 234 f. Eberhard Jüngel, Artikel „Schöpfung“. VI. Schöpfung und Erhaltung, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 3, herausgegeben von Kurt Galling und Wilfrid Werbeck, a.a.O., Sp. 978.

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so als ob er nun selbst, wie Ratzinger selbst dies in dem zitierten Aufsatz einmal mit leichter Häme formuliert, so als ob er nun selbst „das unhaltbar gewordene Gelände als ohnedies überflüssig erklärt, nachdem er noch kurz zuvor es lautstark als einen unersetzlichen Teil des Glaubens hingestellt hatte.“194 Bewahrt wissen möchte, formulierte und betonte ich freilich ganz bewusst im vorherigen Satz. Selbstredend muss man dies nicht wollen. Wer hingegen an der schöpfungstheologischen Überzeugung sowohl einer creatio ex nihilo als auch einer creatio continua festhalten möchte, wer gerade in einer so verstandenen Schöpfungstheologie das theologische Potenzial erblickt, sich der Rede von einem deus absconditus oder einer deistischen Gottesvorstellung zu entziehen, wer die von Karl Barth im Vorwort des Bandes „Die Lehre von der Schöpfung“ seiner Kirchlichen Dogmatik formulierte Antwort auf die Frage, warum er sich in diesem Band nicht auch mit den Fragen und Ergebnissen der zeitgenössischen Naturwissenschaften auseinandergesetzt habe195 , nicht als theologischen Pflichtzoll akzeptieren will, den man zu entrichten hätte, will man das Verhältnis der evolutionstheoretischen und schöpfungstheologischen Begriffe von Kontingenz und Zufall befrieden, wer also weiterhin zugleich von einer contingentia naturae überzeugt sein und an eine contigentia mundi glauben will, der muss nach einer argumentativen Strategie jenseits des Postulats einer gänzlichen Inkompatibilität oder Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft Ausschau halten. Anstatt eine Gesprächsverweigerung zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie – sei’s im Namen eines supranaturalistischen Waffenstillstands, sei’s im Namen einer positivistischen Weltanschauung – zu kultivieren, wären dann die Möglichkeiten eines sinnvollen Gesprächs zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungtheologie zu erkunden, ohne doch dabei einer Physikotheologie oder einem Biblizismus das Wort zu reden.196 Es geht mithin um ein Gespräch zwischen Evolutionstheorie 194

195

196

Joseph Ratzinger, „Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie“, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Wer ist das eigentlich – Gott?, a.a.O., S. 233. Karl Barth schreibt diesbezüglich: „Ich meinte es ursprünglich tun zu müssen, bis mir klar wurde, dass es hinsichtlich dessen, was die heilige Schrift und die christliche Kirche unter Gottes Schöpfungswerk versteht, schlechterdings keine naturwissenschaftlichen Fragen, Einwände oder auch Hilfsstellungen geben kann.“ Und er formuliert sodann diese Position eines gänzlichen Inkompatibilismus von Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie, von Theologie und Naturwissenschaft, in geradezu paradigmatischer Weise: „Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als das Werk des Schöpfers zu beschreiben hat. Und die Theologie darf und muss sich da frei bewegen, wo eine Naturwissenschaft, die nur das und nicht heimlich eine heidnische Gnosis und Religionslehre ist, ihre gegebene Grenze hat.“ Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Dritter Band, Erster Teil: Die Lehre von der Schöpfung, Zürich 1947, Vorwort (ohne Seitenangabe). Für eine solche Gesprächsverweigerung plädiert aus meiner Sicht auch Hermann Lübbe in Religion nach der Aufklärung: Zwar betont Lübbe zurecht die Autonomie wissenschaftlicher Vernunft im Zeitalter nach der Aufklärung. Er betont ebenfalls zurecht, dass die autonom gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse keinen Anspruch mehr vertreten können, sinnstiftend zu wirken. Die religiösen Menschen der nachaufklärerischen Moderne sind sich Lübbe zufolge also gewiss, „dass der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt gegenüber dem Wirklichkeitsverhältnis des Glaubens indifferent ist, so dass, umgekehrt, sich aus dem Glauben seinerseits, die Freiheit der Forschung begrenzend, auch nicht ableiten lässt, was nicht wahr sein darf.“ (S. 62) Nur eine Religion vor der Aufklärung wüsste sich laut Lübbe „in der Tat mit Wahrheiten über Natur und Geschichte,

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und Schöpfungstheologie, welches im Medium und mit Hilfe einer theologischen oder philosophischen Reflexion der ihnen je eigenen Begriffe von Kontingenz und Zufall erfolgt, weil sich einzig so das Verhältnis der Rede von der Kontingenz der göttlichen Schöpfung zu der Rede von Zufall und Kontingenz der Natur sowie von Zufall und Kontingenz in der Natur nicht nur befrieden lässt, sich vielmehr auch in der Weise wechselseitiger intellektueller Befruchtung gestalten lässt. Für einen solchen Gesprächsversuch empfiehlt es sich, zunächst noch einmal an Peirces zufallssensible Kosmologie der Evolution zu erinnern. Wir sahen ja bei Peirce am Ende der Sektion (b) des zweiten Abschnitts dieses Kapitels bereits eine philosophische Position formuliert, die im Rahmen einer philosophischen Klärung der contingentia naturae, dessen, was mit einer auf die Sphäre der Natur bezogenen Semantik von Kontingenz und Zufall eigentlich gemeint sein kann, einerseits Zufall und Kontingenz als Charakteristika und Attribute der Natur und der natürlichen Evolution auswies und andererseits diese Phänomene von Kontingenz und Zufall in der Natur im Kontext gleichsam eines „Darwinism […] brought into the realm of Ontology“197 zumindest implizit mit dem schöpfungstheologischen Begriff einer contingentia mundi in einer Weise zu versöhnen trachtete, welche sich zumindest implizit als eine Dynamisierung und Naturalisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen auf den Begriff bringen lässt. Indes, mag diese Interpretation von Peirces Kosmologie der Evolution als Dynamisierung und Naturalisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen auch zutreffen, so geschieht dies bei Peirce doch allenfalls implizit. Für eine nunmehr auch explizite und systematische Erörterung der Frage, inwiefern eine solche Dynamisierung und Naturalisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen erstens sowohl den Glauben an eine contingentia mundi bewahrt als auch um die contingentia naturae weiß, ohne dabei doch zweitens eine Inkompatibilität oder Indifferenz von Religion und Naturwissenschaft zu postulieren, ist es geraten, sich an die Theologie selbst zu wenden, genauer: an Wolfhart Pannenbergs Theologie der Natur. Denn der theoretische Kern und das anfängliche Motiv von Pannenbergs Theologie der Natur besteht doch – fern aller Gesprächsverweigerung zwischen Religion und Naturwissenschaft – zunächst einmal in der ganz grundsätzlichen Überzeugung, und so hat es Pannenberg selbst auf den Begriff gebracht, dass „theologisches Reden von Gott dem Schöpfer (und damit das theologische Reden von Gott überhaupt) leer bleibt, wenn es sich nicht beziehen lässt auf

197

mit Wahrheiten weltanschaulicher Art also verkoppelt“ (S. 64). Nach der Aufklärung hingegen „sind Glaube und Theologie von ihrer dogmatischen Bindung an kognitive Gehalte natur- oder kulturwissenschaftlicher Art längst frei geworden“ (S. 64f.). Eine erste Frage, die man im Anschluss an solche Passagen stellen mag, ist gewiss, inwiefern Lübbes Ausführungen tatsächlich als Zeitdiagnose der religiösen Welt nach der Aufklärung heute noch überzeugen. Diesbezüglich sind sicherlich Zweifel angebracht. Eine andere Frage ist, inwiefern die wechselseitige Respektierung autonomer Geltungssphären von Wissenschaft und Religion mit dem Gebot einer gänzlichen Indifferenz von Wissenschaft und Religion gleichgesetzt werden sollte. Lübbe scheint mir hier nicht in dem notwendigen Maße zu differenzieren. So aber droht die berechtigte These von den autarken Geltungssphären von Religion und Wissenschaft umzuschlagen in eine meines Erachtens kritikwürdige Verweigerung eines produktiven Gesprächs zwischen Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie. Zu den Zitaten vergleiche Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a.a.O. Vergleiche dazu Anmerkung 151, S. 242 in diesem Kapitel.

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die naturwissenschaftliche Beschreibung der Weltwirklichkeit. […] Wenn die Theologen Gott als den Schöpfer der wirklichen Welt denken wollen, können sie an der naturwissenschaftlichen Weltbeschreibung nicht vorbeigehen. Sicherlich werden theologische Aussagen über die Welt nicht auf der Ebene der Formulierung und Begründung naturwissenschaftlicher Gesetzeshypothesen gemacht. Sie müssen aber darauf beziehbar sein, und ob das der Fall ist oder nicht, ist auf der Ebene philosophischer (oder eben theologischer) Reflexion auf die naturwissenschaftlichen Aussagen zu erörtern.“198 Pannenbergs Theologie der Natur beruht also erstens ganz offensichtlich und grundsätzlich auf der Überzeugung, „dass die Natur, mit der sich der Naturwissenschaftler befasst, etwas mit diesem Gott zu tun habe“199 , und dies unterscheidet sie zunächst einmal ganz prinzipiell von der deistischen Vorstellung von Gott als dem Uhrmacher, von Gott als 198

199

Wolfhart Pannenberg, „Schöpfungstheologie und moderne Naturwissenschaft“, in: Hermann Deuser u. a. (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, München 1986, S. 279. Vergleiche dazu auch die folgende Bemerkung Pannenbergs: „If the God of the Bible is creator of the universe, then it is not possible to understand fully or even appropriately the processes of nature without any reference to that God. If, on the contrary, nature can be appropriately understood without reference to the God of the Bible, then that God cannot be the creator of the universe, and consequently he could not be truly God and could not be trusted as a source of moral teaching either.“ Wolfhart Pannenberg, „Theological Questions to Scientists“, in: Arthur R. Peacocke (Hg.), The Sciences and Theology in the Twentieth Century, Notre Dame 1981, S. 4. Das Zitat befindet sich im Kontext einer Passage, deren über die beiden wesentlichen Aussagen der vorherigen Anmerkung hinausweisende Pointe darin besteht, dass sie auf Gottes Wirken in Natur und Geschichte referiert: „Das Bekenntnis zu dem Gott der christlichen Botschaft als dem Schöpfer von Himmel und Erde bleibt leer, bleibt ein bloßes Lippenbekenntnis, solange nicht mit guten Gründen behauptet werden kann, dass die Natur, mit der sich der Naturwissenschaftler befasst, etwas mit diesem Gott zu tun habe […] Ein Gott, der nicht Ursprung und Vollender dieser Natur wäre, könnte nicht die alle Daseinswirklichkeit bestimmende Macht und also nicht wahrhaft Gott sein. Will die Theologie das Gottsein Gottes bedenken, so muss sie Gott als die nicht nur die menschliche Geschichte, sondern auch die Natur bestimmende Macht denken. Diese Forderung ergibt sich auch daraus, dass es in der menschlichen Geschichte selbst nur natürlich zugehen kann, so dass entweder Geschichte und Natur oder keine von beiden etwas mit Gott zu tun haben.“ Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, Gütersloh 1970, S. 35. Sowohl der dritte Abschnitt dieses Kapitels als dann auch die drei Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit sind implizit getragen gerade von dem Widerspruch gegen Pannenbergs These, „dass entweder Geschichte und Natur oder keine von beiden etwas mit Gott zu tun haben“, begreifen sich vielmehr als Versuch contingentia mundi, contingentia naturae und contingentia historiae in einer Weise zusammen zu denken, welche eine Naturalisierung und eine Dynamisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen mit einer Ablehnung jeder Auffassung von Geschichte als Heilsgeschichte und insofern mit dem Historismus zu verbinden versucht. Dieser Versuch, und damit reagiere ich auf einen von Hans Joas geäußerten Einwand, leugnet nicht, dass Heil in Geschichten begegnen mag. Aber diese Möglichkeit von Heilsgeschichten ändert nichts an der fundamentalen Differenz von Weltgeschichte und Heilsgeschichte, wie sie nach meinem Empfinden auch für den Historismus konstitutiv ist. Auf dieser fundamentalen Differenz beharrt im Übrigen doch auch Karl Rahner: „Das vollendete Heil ist kein Moment in der Geschichte, sondern deren Aufhebung, kein Gegenstand des Besitzes oder der Herstellung, sondern des Glaubens, der Hoff-

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dem „grand horloger“, auch von einer Vorstellung von God als „occasional visitor“, auch von der Rede von einem deus absconditus, auch von Barths zitiertem Plädoyer für ein schöpfungstheologisches Desinteresse an den Naturwissenschaften überhaupt, also von all jenen theologischen Positionen, welche die Rede von Gott und die natürliche Welt nicht mehr aufeinander beziehen wollen. Pannenbergs Theologie der Natur, die theologisches Reden über Gott und wissenschaftliches Reden über die Natur hingegen gerade aufeinander beziehbar halten will, zeichnet nun aber zweitens aus, dass sie diese grundsätzliche Intention gerade durch eine theologische Reflexion sowohl des schöpfungstheologischen wie des naturwissenschaftlichen Kontingenzbegriffs zu begründen sucht, gleichsam eine kontingenzsensible Theologie der Natur formuliert und insofern auf Fragen stößt, die für uns in dieser Sektion (c) von höchster Bedeutung sind. Die Zufälligkeiten und Kontingenzen der Natur und in der Natur, von denen uns die Naturwissenschaften und besonders die Evolutionstheorie so deutlich Kunde geben, zeugen sie nicht davon, so fragt Pannenbergs kontingenzsensible Theologie der Natur in einem ersten Argumentationsschritt, dass sich das Geschehen in der Welt nicht oder jedenfalls nicht zur Gänze mit Hilfe deterministischer Erklärungen und Gesetzmäßigkeiten beschreiben lässt, sondern in dieser Welt und in dieser Natur eben auch aus der Perspektive der Naturwissenschaften die Existenz von Nicht-Notwendigkeit zu konzedieren ist? Sodann fragt Pannenbergs kontingenzsensible Theologie der Natur in einer zweiten Denkbewegung: Wie anders lässt sich diese contingentia naturae, Kontingenz in der Natur und der Natur, plausibel machen, wie anders lässt sich, „das Ganze der Wirklichkeit, in der wir leben“200 erschließen, wenn nicht durch ein Weltbild oder eine Weltanschauung, die um die Kontingenz allen Geschehens in dieser Natur und der Natur sowie um die Kontingenz der Welt schlechthin immer schon wissen, es folglich für viel versprechend halten, die Existenz von nicht-kontingenten Regelmäßigkeiten durch kontingente Unregelmäßigkeiten zu erklären, insofern sich „auch das Vorhandensein von Ordnung, das Substrat von Gesetzesformeln, aus der Kontingenz des Geschehens verstehen lässt“201 , während sich die explanatorische Kraft aller anderen Weltbilder, Welt- oder Naturanschauungen angesichts des Phänomens natürlicher Kontingenz überfordert zeigt? Im Zuge dieser beiden Argumentationsschritte muss die Existenz von natürlicher NichtNotwendigkeit keinesfalls zwingend als Resultat göttlicher Eingriffe beschrieben werden, aber diese „Kontingenz des Geschehens“ kann von dem Gläubigen als ein Einfallstor für ein kontinuierliches göttliches Wirken im Sinne einer dynamisierten und naturalisierten Schöpfungstheologie durchaus verstanden werden, ohne damit wiederum zwangsläufig in Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaft zu geraten. Ein solches, hier zunächst einmal in abstracto und in Form zweier Fragestellungen vorgestelltes theologisches Programm zur Versöhnung von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie im Medium der theologischen Reflexion des Kontingenzbegriffs,

200

201

nung und des Gebetes.“ Karl Rahner, „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“, in: Schriften zur Theologie. Band V, Einsiedeln 1962, S. 115. Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, a.a.O., S. 40. Ebd., S. 40 f.

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für welches der auf die Sphäre der Natur bezogene Begriff von Kontingenz offenkundig von zentraler Bedeutung ist, hat Pannenberg nun ausführlich im Rahmen seines 1970 formulierten Versuchs einer „theologischen Durchdringung und Verarbeitung des naturwissenschaftlichen Denkens der Neuzeit“202 entwickelt, insofern dieses Programm die beiden genannten Fragen in komplexer Weise bejaht. Pannenberg beschreibt hier, in seinen „Erwägungen zu einer Theologie der Natur“, in einem ersten Schritt in übrigens erstaunlich ähnlicher Weise wie Peirces zufallssensible Kosmologie der Evolution und im Zuge einer Rezeption der zeitgenössischen Naturwissenschaften das Naturgeschehen als ein „Ineinander von Kontingenz und Gesetzmäßigkeiten“203 . Demnach lassen sich in der Natur „auch das Vorhandensein von Ordnung, das Substrat von Gesetzesformeln, aus der Kontingenz des Geschehens“, also alle natürlichen Regelmäßigkeiten durch natürliche Unregelmäßigkeiten begreifbar machen: „Jene Momente der Kontingenz im Naturgeschehen, die zunächst als Korrelat der Gesetzlichkeit ihr entgegengesetzt sind, bilden dann zugleich den Hintergrund, in den das Vorhandensein von Gesetzen selbst einzuordnen ist.“204 Diesem ersten zentralen Aspekt von Pannenbergs Theologie der Natur waren wir in der Tat bereits in einer ungleich ausführlicher begründeten Fassung in Peirces zufallssensibler Kosmologie der Evolution begegnet. Auch Peirces „Darwinism […] brought into the realm of Ontology“205 hatte ja versucht, so sahen wir, die Existenz und die Genese von Regel- und Gesetzmäßigkeiten in der Natur durch eine kontinuierlich wirksame Evolution zu erklären, in welcher der modus operandi des evolutionär wirksamen Zufalls niemals gänzlich zu Gunsten deterministischer Kausalwirkungen zu eliminieren ist, durch eine Erklärung mithin, die zumindest explizit nicht auf theologische Thesen rekurrierte, sondern sich auf ein bestimmtes Modell evolutionärer Entwicklung in der Natur verließ und dieses allen Varianten einer deterministischen Erklärung natürlicher Evolution kontrastierte. Anders Pannenberg. Die naturphilosophische These eines „Ineinander von Kontingenz und Gesetzmäßigkeiten“, so sehr sie die empirische Bestätigung der zeitgenössischen Naturwissenschaften finden mag, ist ihm lediglich Auftakt für seine genuin theologische Ambition, eben die Formulierung einer Theologie der Natur, die nun selbst beansprucht, dieses „Ineinander von Kontingenz und Gesetzmäßigkeiten“ zu erklären, und diesen Anspruch auch nicht an bestimmte evolutionstheoretische Überzeugungen oder Forschungsergebnisse delegieren will. In dem bereits skizzierten zweiten Argumentationsschritt widmet sich Pannenberg daher in „Kontingenz und Naturgesetz“ der Aufgabe, „die Naturgesetzlichkeit selbst im Horizont des Geschehens, wie es vom biblischen Gottesgedanken her in den Blick kommt, zu begreifen“206 ; er will dabei zeigen, dass ebendieser biblische Gottesgedanke besser als alle andere naturphilosophischen Weltanschauungen oder kosmologischen Ansätze geeignet ist, die im ersten Argumentationsschritt konstatierte Auffassung der Natur, wenn schon 202 203 204 205 206

Ebd., S. 36. Ebd., S. 40. Ebd., S. 58. Vergleiche dazu Anmerkung 151, S. 242 in diesem Kapitel. Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, a.a.O., S. 42.

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nicht zu erklären, so doch immerhin plausibel zu machen. Aufgrund dieses zweiten Bestandteils seiner Argumentation sieht Pannenberg die zentrale theoretische Aufgabe einer Theologie der Natur „in der Beantwortung der Frage, ob sich vom biblischen Gottesgedanken her das Ganze der Wirklichkeit, in der wir leben, umfassender erschließt als von anderen Voraussetzungen her. Die Möglichkeit dazu ist gegenüber den griechischen Konzepten einer ewigen kosmischen Ordnung, die umgesetzt in eine naturgesetzliche Betrachtungsweise auch in der klassischen Physik noch nachwirkten, darin begründet, dass vom biblischen Gottesgedanken her alles Geschehen als kontingent erfahren wurde. Auch die Welt im ganzen mitsamt der Menschheit wird als kontingente göttliche Setzung gedacht: das besagt der Schöpfungsglaube. Sein Problem steckt darin, ob sich auch das Vorhandensein von Ordnung, das Substrat von Gesetzesformeln, aus der Kontingenz des Geschehens verstehen lässt. Nur so würde einleuchten, dass auch die naturgesetzliche Ordnung ihrerseits durch den Gedanken der Schöpfung umgriffen wird und nicht ihm entgegengesetzt ist. Vermag das Verständnis der Wirklichkeit im Zeichen der Kontingenz des Geschehens auch das ihr scheinbar Entgegengesetzte, die Ordnung der Naturgesetze, zu erhellen? Daran und nur daran könnte sich zeigen, dass das vom biblischen Gottesgedanken her begründete Wirklichkeitsverständnis umfassender ist als die aus der griechischen Schau der Gesamtwirklichkeit als Kosmos hervorgegangenen Deutungen des Universums im Sinne einer zeitlosen Ordnung.“207 Wenn sich also erstens zeigen lässt, dass die naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle immer schon auf Kontingenz als conditio sine qua non ihrer eigenen Erklärungsmodelle stoßen, nicht in dem Sinne zwar, dass in den naturwissenschaftlichen Erklärungen andere als gesetzesmäßige Aussagen formuliert würden und die naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche direkt auf kontingente Aussagen oder Aussagen über Kontingentes abzielten, wohl aber in dem Sinne, dass auch für die Naturwissenschaften „an den Rändern der gesetzlichen Beschreibung des Naturgeschehens“ stets „eine Abhängigkeit von kontingenten Ausgangs- und Randbedingungen“208 bestehen bliebe, wie Pannenberg in dem Aufsatz „Die Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit“ formuliert, wenn sich also das naturwissenschaftlich feststellbare Geschehen niemals vollständig „in ein fortschreitend differenziertes System von naturgesetzlichen Zusammenhängen“209 auflösen lässt, wenn dem so ist – und ob dem so ist, lässt sich wiederum allein den Naturwissenschaften entnehmen –, wenn dem also erstens so ist, bieten sich dann, so fragt Pannenberg in einem zweiten Schritt weiter, für ein theoretisches Verständnis dieses natürlichen, aber seinerseits wiederum nicht naturwissenschaftlich erklärbaren Phänomens, 207 208

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Ebd., S. 40 f. Wolfhart Pannenberg, „Die Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit“, in: Günter Eifler, Manfred Moser und Andreas Thimm (Hg.), Zufall. Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/95, a.a.O., S. 169. Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, a.a.O., S. 40.

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nicht eine ganz bestimmte Weltanschauung oder ein ganz bestimmtes Weltbild oder eine ganz bestimmte Theologie an, nämlich jene christliche Schöpfungstheologie, die ja immer schon von der Kontingenz der Welt weiß und in einer ganz bestimmten Weise von der contingentia mundi spricht und die also angesichts der Kontingenz des Naturgeschehens nicht in der gleichen Weise auf ein ihr wesensfremdes und von ihr theoretisch nicht integrierbares Element stößt, wie dies für die griechische Kosmosfrömmigkeit oder den neuzeitlichen Determinismus zuträfe? „Vom israelitischen Gottesverständnis her, das auch das Urchristentum geprägt hat“, so schreibt Pannenberg, „ist die Erfahrung der Wirklichkeit primär durch Kontingenz, und zwar durch Geschehenskontingenz charakterisiert. Immer wieder geschieht Neues und Unvorhergesehenes, das als ein Wirken des allmächtigen Gottes erfahren wird. Darum ist nicht nur dies oder jenes einzelne, sondern alles Geschehen grundsätzlich wunderbar oder wunderhaft. Nur unter der Voraussetzung eines solchen Verständnisses von Wirklichkeit ist es für die Israeliten und für die christlichen Erben der israelitischen Überlieferung sinnvoll zu beten.“210 Der genuine Kontingenzbegriff der christlichen Schöpfungstheologie beschränkt sich also niemals, darauf verweist doch gerade Pannenbergs Begriff der „Geschehenskontingenz“ so nachdrücklich, auf die Kontingenz der Schöpfung im Vollzuge einer creatio ex nihilo, sondern meint immer auch „Geschehenskontingenz“ im Vollzuge einer creatio continua.211 Gerade der christliche Kontingenzbegriff und der Schöpfungsglaube, wird er in seiner zwiefachen Bedeutung als creatio ex nihilo wie als creatio continua be210 211

Ebd., S. 37. Gegen eine christliche Deutung irgendeines „Geschehens“ überhaupt und insofern auch gegen Pannenbergs Formulierung einer alttestamentarischen „Geschehenskontingenz“ und gegen die Frage nach den möglichen göttlichen Motiven dieser „Geschehenskontingenz“, insofern aber auch gegen die mögliche Transformation von Zufall in Sinn durch den christlichen Glauben, der das Geschehene natürlich nicht revidieren kann und auch nicht vor dessen möglichen Abgründen den Blick verschließt, der aber sehr wohl ein neues inneres Verhältnis zu diesem Geschehen beschreiben würde, welches wiederum nicht als Resultat eigenmächtiger Souveränität im Umgang mit Kontingenz und Zufall aufgefasst werden dürfte, sondern eben gerade als von Gott so vorgesehene Gnade, wendet sich die dialektische Theologie. Eine randständige Stimme dieser theologischen Strömung, Otto Weber, formuliert in seinen Grundlagen der Dogmatik in dem Abschnitt „Vorsehung und ‚Schicksal‘“ in diesem Sinne paradigmatisch: „Das Geschehen bleibt auch für den Glauben zweideutig – ihm lässt sich unmittelbar nicht entnehmen, ob Gott gut oder böse, ob der ‚Urheber‘ Gott oder der Teufel ist. Dass wirklich Gott, Gott in seiner Güte im Geschehen waltet, das ist nur in dem auf uns zukommenden Wort vernehmbar. […] Eine christliche Geschehensdeutung ist von hier aus unmöglich. Christ sein, das heißt vielmehr gerade: die Undeutbarkeit des Geschehens aushalten können. […] Der Glaube an Gott den Schöpfer aber ist von jeder Geschehensdeutung nicht linear, sondern kategorial verschieden. Er bedarf der Geschehensdeutung nicht, weil er aus der in Jesus Christus eindeutigen, wenn auch nicht verrechenbaren Offenbarung der Gnade Gottes lebt. Er schaut in einer neuen Richtung: er fragt nicht nach dem Grund der Dinge, sondern er antwortet auf die Selbsterschließung dessen, der uns in allen Dingen gut ist, der uns ‚alles zum Guten mitwirken‘ lässt (Röm. 8, 28). Nicht das Geschehen ist gut, nicht sein ‚Sinn‘, sondern Gott ist gut.“ Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik. Erster Band, Neukirchen/Moers 1955, S. 563 f.

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wahrt, ermöglichen es, das freie und kontingente Handeln Gottes nicht nur als ein die Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten der Natur initiierendes, sondern auch als ein diese Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten der Natur stets umgreifendes Handeln zu verstehen und so „das Ganze der Wirklichkeit, in der wir leben“212 , das natürliche „Ineinander von Kontingenz und Gesetzmäßigkeiten“, als welches Natur Pannenbergs erstem Argumentationsschritt zufolge und entgegen einem deterministischen Selbstmissverständnis ja stets aufzufassen wäre, ungleich adäquater zu verstehen als jene kontingenzvergessene Kosmologie oder Weltanschauung der Griechen, welche Welt und Natur als unveränderlichen und unwandelbaren Kosmos begreift, besser aber auch als jener kontingenzvergessene, von Pannenberg als „Spätform griechischer Kosmosfrömmigkeit“213 deklarierte neuzeitliche Determinismus, welcher die Natur auf das factum brutum natürlicher Gesetzmäßigkeiten reduziert und die Existenz dieser Gesetzmäßigkeiten irrtümlicherweise als explanans aller natürlichen Phänomene und nicht als explanandum begreift. Die naturwissenschaftlich nachweisliche und theologisch plausibel zu machende Existenz von Kontingenz und Zufall in der Natur im Sinne einer Theologie der Natur, welche sich nicht über das Weltbild der Naturwissenschaften erhebt, sondern die „Treue Gottes“214 im Sinne einer creatio continua als Indiz und Bedingung dafür ansieht, „dass überhaupt naturgesetzlich beschreibbare Verlaufsgestalten entstehen“215 , welche mithin die Entstehung von Regelmäßigkeit aus Unregelmäßigkeit – um wieder die Terminologie von Peirces Kosmologie der Evolution zu bemühen – aus dem unableitbaren Willen Gottes zur Schöpfung der Welt und der sich daran anschließenden Treue Gottes zu seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen erklärt, sie stärkt wiederum einer schöpfungstheologischen Position argumentativ den Rücken, welche die creatio ex nihilo ebenso wie die creatio continua gleichermaßen berücksichtigt, nicht eine dieser Lehren zu Ungunsten der anderen privilegiert, welche demnach im Sinne einer Naturalisierung und Dynamisierung von Schöpfungstheologie an einen in der Natur kontinuierlich wirksamen Gott glaubt: „Darin, dass die Naturwissenschaft auf ihrer Suche nach Gesetzen und besonders bei der Frage nach der Entstehung der gegenwärtigen Welt mit ihren Gestalten und Gesetzen in mannigfacher Weise auf kontingente Bedingungen

212

213 214 215

Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, a.a.O., S. 40. Ebd., S. 38. Ebd., S. 69. Ebd., S. 69. Vergleiche dazu auch folgende Formulierung: „Die Ordnungen des Naturgeschehens erscheinen in theologischer Perspektive als kontingente Setzungen der schöpferischen Freiheit Gottes. Die Einheit von Kontingenz und Kontinuität im schöpferischen Wirken Gottes aber ist in theologischer Sicht begründet in der Treue Gottes, dessen Handeln zwar in jedem einzelnem Moment kontingent und unableitbar ist, aber dennoch jeweils den Zusammenhang mit dem Früheren wahrt, obwohl auch die Weise, wie Gottes Treue sich in Zukunft manifestieren wird, unvorhersehbar bleibt.“ Wolfhart Pannenberg, „Schöpfungstheologie und moderne Naturwissenschaft“, in: Hermann Deuser u. a. (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, a.a.O., S. 282.

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und Ereignisse stößt, kann der Christ den Ausdruck des schöpferischen Handelns Gottes entdecken [meine Hervorhebung; P. V.].“216 Die theologische Pointe von Pannenbergs Versuch, Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie im Medium und mit Hilfe einer theologischen Reflexion des Kontingenzbegriffs zu versöhnen, besteht also in dem – in Peirces Kosmologie der Evolution nur implizit enthaltenen – expliziten Versuch einer Dynamisierung wie einer Naturalisierung des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs, der schließlich in eine Reformulierung und Rehabilitierung der schöpfungstheologischen Lehre von der creatio continua im Angesicht zeitgenössischer Naturwissenschaft mündet und ferner die deutliche Zurückweisung eines von welcher theologischen oder weltanschaulichen Position auch immer formulierten Hiatus von Gott und Natur enthält. Göttliche Schöpfung ist nicht nur einmal, so entgegnet Pannenbergs Theologie der Natur dem Deismus, am Ausgangspunkt der Erschaffung der Welt tätig und dann nie mehr – wie etwa auch das Modell eines deus absconditus unterstellt – oder nur sporadisch zu Besuch in dieser Welt, sondern kontinuierlich in der Natur wirksam. Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie ebenso wie die jeweilige Semantik von contingentia mundi und contingentia naturae, sie lassen sich Pannenberg zufolge miteinander in Einklang bringen, nicht durch wechselseitigen Indifferentismus und die Vereinbarung von Gegenstandsbereichen, die keinerlei Schnittmenge aufweisen, auch nicht durch die „Aufstellung pseudophysikalischer Konkurrenztheorien“217 , wohl aber dadurch, dass jene von den Naturwissenschaften selbst registrierte, den Naturgesetzen und der Natur unhintergehbar innewohnende Kontingenz in der Natur auf das schöpferische Handeln Gottes – und zwar sowohl auf die creatio ex nihilo wie auf die creatio continua – bezogen wird und so „die Bedeutung des Gottesgedankens für ein zusammenhängendes Verständnis der Natur“218 hervortritt. Nehmen wir die grundsätzlichen theoretischen Gemeinsamkeiten von Pannenbergs explizit theologisch argumentierender Theologie der Natur und Peirces naturphilosophisch argumentierender Kosmologie der Evolution abschließend in den Blick: Beide Autoren eint zunächst einmal eine ganz grundsätzliche Absicht, versuchen sie doch ihre theoretische Offenheit für die Naturwissenschaften im Allgemeinen und für die Evolutionstheorie im Besonderen mit ihren wie explizit oder implizit auch immer formulierten schöpfungstheologischen Überzeugungen zu versöhnen, ohne dabei eine gänzliche Inkompatibilität der Rede von Gott mit dem Wissen über die Natur zu postulieren. Beider Unternehmen einer intellektuell redlichen Aussöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie rekurriert ferner, darin besteht eine zweite Gemeinsamkeit, ganz entschieden auf bestimmten Auffassungen und Thesen bezüglich Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur, welche bei beiden Autoren in eine Dynamisierung und Naturalisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen münden. Bei Pannenberg geschieht dies im Medium und mit Hilfe einer theologischen Reflexion des Kontingenzbegriffs, bei Peirce im Medium und mit Hilfe einer höchstens 216

217 218

Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, a.a.O., S. 58. Ebd., S. 41. Ebd., S. 72.

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implizit theologischen, explizit ausschließlich naturphilosophischen Reflexion des auf die Sphäre der Natur bezogenen Zufallsbegriffs.219 Freilich blieben Peirces wie Pannenbergs theoretische Gemeinsamkeiten, ihre grundsätzliche Ambition, Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie jenseits von falscher Harmonie und wechselseitiger Indifferenz zu versöhnen, die Fundierung dieser Ambition mittels einer Sensibilität für Kontingenz und Zufall der Natur wie in der Natur, welche wiederum in mehr oder weniger expliziter Weise bei beiden Autoren in eine Dynamisierung und Naturalisierung der Schöpfungstheologie mündet, nur unzureichend beschrieben, ließen wir unerwähnt, dass ihr mehr oder weniger explizites Plädoyer für einen in dieser kontingenten Natur kontinuierlich wirkenden Gott keinesfalls als Plädoyer für eine pantheistische Position verstanden werden darf. Weder Pannenberg noch Peirce reden der Formel vom deus sive natura das Wort. Pannenberg wie Peirce naturalisieren und dynamisieren Gott und seine Schöpfungstätigkeit, aber sie vergöttlichen dabei nicht die Natur. So entwinden sich also sowohl Pannenbergs kontingenzsensible Theologie der Natur als auch Peirces zufallssensible Kosmologie der Evolution der schlechten Dichotomie des pantheistischen deus sive natura einerseits, der deistischen Gottesvorstellung eines „grand horloger“ andererseits. Der protestantische Theologe Arthur Titius hat in seinem Buch Natur und Gott. Ein Versuch zur Verständigung zwischen Naturwissenschaft und Theologie die Pointe einer solchen theologischen Abwehr jener falschen Alternative einmal besonders prägnant auf den Punkt gebracht und insofern indirekt auf eine der zentralen Intentionen von Pannenbergs Theologie der Natur wie auf die zumindest schöpfungstheologischen Implikationen von Peirces Kosmologie der Evolution hingewiesen: „Gott muss als das die Welt im Grunde bedingende und tragende Prinzip gedacht werden, nicht als ein draußenstehendes, wie im Deismus, aber auch nicht als ein in der Welt aufgehendes, wie im Pantheismus, sondern als inmitten der Welt und des Menschenleben waltendes überweltliches Prinzip, das die Menschheit zu einem überweltlichen Sein emporhebt.“220 Wenn man sich – so wie Peirce und Pannenberg – um eine Aussöhnung von Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie im Medium und mit Hilfe einer theologischen oder philosophischen Reflexion der auf die Sphäre der Natur bezogenen Begriffe von Kontingenz und Zufall bemüht und dabei schöpfungstheologische Vorstellungen dynamisiert und naturalisiert, ohne sich dabei im Sinne des Postulats einer gänzlichen Inkompatibilität von Religion und Naturwissenschaft einem sinnvollen Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie zu verweigern, um so die schlechte Dichotomie von Deismus und Pantheismus zu vermeiden, wird man schließlich zwangsläufig auch zu einer Thematisierung des Verhältnisses von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur zum klassischen theologischen Thema der göttlichen Providenz gedrängt. Eine veränderte Auffassung des Wesens der göttlichen Schöpfung, nämlich deren Dynamisie219

220

Es verwundert stark, dass sich in den von mir zitierten Schriften Pannenbergs kein Verweis auf Peirce findet. Arthur Titius, Natur und Gott. Ein Versuch zur Verständigung zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Göttingen 1929, S. 743.

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rung und Naturalisierung, die gleichberechtigte Berücksichtigung von creatio ex nihilo und creatio continua, führt wie von selbst zu einer Befragung von Gottes Aktivität und Handeln in einer von Zufall und Kontingenz bestimmten Sphäre, konfrontiert also erstens mit der Frage der möglichen Vereinbarkeit von contingentia naturae und göttlicher providentia, konfrontiert zweitens mit der Frage nach den providenztheologischen Konsequenzen, sollte eine solche Vereinbarkeit gegeben sein, also mit der Frage nach der Wesensbestimmung der göttlichen providentia, und schließlich drittens mit der Frage nach dem Kräfteverhältnis von Zufall und göttlicher Vorsehung. Und mit der Erörterung dieser providenztheologischen Thematik endet die Sektion (c) des zweiten Abschnitts dieses Kapitels, welcher der Sphäre der Natur als Gegenstandsbereich von Kontingenz und Zufall gewidmet war, der Rede von einer contingentia naturae, von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur, wie sie in den Naturwissenschaften selbst diskutiert wurde, in der Philosophie von Boutroux’ „Kontingentismus“ (Pelikán) und Peirces zufallssensibler Kosmologie der Evolution angesprochen wurde und in der Theologie schließlich von Pannenbergs kontingenzsensibler Theologie der Natur behandelt wurde. Hinsichtlich der beiden soeben erstgenannten Fragen argumentiere und plädiere ich im Folgenden – analog zu der von Pannenberg theologisch und zu der von Peirce naturphilosophisch fundierten These einer theoretischen Versöhnung von contingentia naturae und contingentia mundi – erstens für eine theoretische Vereinbarkeit von Zufall und Vorsehung und – analog zu der von Peirce und Pannenberg mehr oder weniger explizit vorangetriebenen Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen und des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs – zweitens hinsichtlich einer Wesensbestimmung der providentia für eine Naturalisierung und Dynamisierung der göttlichen Providenz. Meine Argumentation oder mein Plädoyer bedient sich bezüglich dieser beiden Punkte zudem providenztheologischer Thesen von drei englischsprachigen und in der theologischen Diskussion hierzulande eher unbekannten Autoren, die allesamt zunächst eine erfolgreiche naturwissenschaftliche Karriere einschlugen und sich erst spät und gleichsam als Laien theologischen Fragen zuwandten.221 Dass diese Expertise für die Erörterung theologischer Fragen kein Schade sein muss, beweisen ihre Schriften. Eine dynamisierte und naturalisierte providentia kann schließlich, was nun das Kräfteverhältnis zwischen Zufall und Vorsehung und damit die dritte Frage angeht, die Autarkie des Zufalls respektieren, muss, anders als jene Auffassungen des Zufalls als Medium und Movens der göttlichen Vorsehung, wie sie sich von der Spätantike bis in die Zeit der Scholastik und darüber hinaus erstrecken222 , den Zufall gerade nicht als Agenten der göttlichen Vorsehung instrumentalisieren und kann doch an eine göttliche Vorsehung glauben. In einer solchen Argumentation scheint mir auch die Pointe der providenztheologischen Schlusspassage von William James’ Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ von 1884 zu liegen, die für mich bis heute faszinierende und 221

222

William Pollard war erfolgreicher Atomphysiker, bevor er in den geistlichen Dienst eintrat, David Bartholomew ist Professor für Statistik und Mathematik und beschäftigt sich aus dieser Perspektive mit theologischen Fragen, Arthur Peacocke forschte als Biochemiker, bevor er zum Priester geweiht wurde. Vergleiche dazu meine Ausführungen im siebten Kapitel dieser Arbeit zu Boethius, Thomas, Dante und Petrarca, S. 546–568.

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überzeugendste Lösung der Frage, wie man in intellektuell redlicher Weise sowohl an Gott und eine göttliche Vorsehung glauben als auch von der unbestreitbaren Existenz eines Zufalls, der eben gerade nicht als Medium einer göttlichen Vorsehung instrumentalisiert werden darf, überzeugt sein kann. Doch blicken wir, was die grundsätzliche Ambition einer theoretischen Versöhnung von contingentia naturae und providentia Dei und mithin die Ausgangsfrage jeder providenztheologischen Diskussion angeht, zunächst auf William Pollards Buch Zufall und Vorsehung. Pollards Argumentation geht – zunächst einmal ganz ähnlich wie Peirces zufallssensible Kosmologie der Evolution und Pannenbergs kontingenzsensible Theologie der Natur – davon aus, dass alle Naturwissenschaft letztlich immer auf die Phänomene von Zufall und Kontingenz stößt und dass ebendieser Sachverhalt den Glauben an eine göttliche Vorsehung oder an ein göttliches Wirken in der Natur zwar nicht zwingend nahe legen muss, wohl aber einen solchen Glauben auch nicht widerlegen kann. Wer – aus welchen Motiven und Gründen auch immer – an einen Gott, auch an einen vorsehenden Gott glaubt und diesen Glauben sodann mit dem Wissen von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur zu versöhnen trachtet, verfährt ebenso wenig intellektuell unredlich wie derjenige, der an ein göttliches Wirken in der Natur im Sinne einer creatio continua glaubt. Der eine wie der andere Glauben werden sich dabei nicht in einer Art von physikotheologischem Fehlschluss durch Verweis auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften fundieren lassen, aber dass eine Welt gleichsam ontologischer Unbestimmtheit oder Kontingenz aus Sicht der Naturwissenschaften selbst plausibel ist, kommt diesen Glaubensformen doch sehr entgegen. Die christliche Idee eines göttlichen Wirkens in der Natur und auch die Idee einer göttlichen providentia, sie lassen sich nicht aus den Naturwissenschaften deduzieren, aber sie lassen sich durch Aufmerksamkeit für die Erkenntnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaften und deren Akzeptanz von Kontingenz und Zufall als unbestreitbare Momente der Natur und in der Natur argumentativ durchaus stärken: „Beginnen wir einmal mit der biblischen Idee der Vorsehung in ihrer Gesamtheit und fragen wir, welche Art von Welt wir haben und welche Bedingungen von Geschichte erfüllt werden müssten, um dieser Idee Gültigkeit zu verleihen. Wird die Frage in dieser Form gestellt, merken wir sofort, dass diese Welt in erster und wichtigster Linie so beschaffen sein muss, dass ihrer Geschichte immer und jederzeit viele Möglichkeiten offen stehen. Nur in einer derartigen Welt könnte der Verlauf der Ereignisse in der Lage sein, jederzeit auf den Willen des Schöpfers zu reagieren.“223 Die von Pollard schon im Titel seines Buches angekündigte Absicht und Ambition einer grundsätzlichen Versöhnung von Zufall und Vorsehung nimmt insofern die zentralen Intentionen von Pannenbergs Theologie der Natur auf224 , bezieht diese Versöhnungsab223

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William G. Pollard, Zufall und Vorsehung. Wissenschaftliches Denken und göttliches Wirken, a.a.O., S. 70 f. Insofern ist es aufschlussreich und aussagekräftig, dass Pannenberg in der allerersten Anmerkung von „Kontingenz und Naturgesetz“ Pollards Werk Zufall und Vorsehung als der Konzeption seiner eigenen Studie „weitgehend verwandt“ bezeichnet.

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sicht aber nun nicht mehr vorrangig – so wie Pannenberg – auf das Verhältnis von Schöpfungstheologie und contingentia naturae, sondern auf das Verhältnis von contingentia naturae und providentia Dei: Pollard wie Pannenberg machen darauf aufmerksam, dass alle naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur stets auf die Phänomene von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur stößt. Diese Phänomene freilich lassen sich nunmehr nicht als Erkenntnisdefizite diskreditieren, sondern müssen als unhintergehbare Wesensmerkmale der Natur verstanden werden, folglich die Natur, wie sie von der Naturwissenschaft beschrieben wird, und ein deterministisches Selbstverständnis der Naturwissenschaften nicht zur Deckung kommen. Natürlich wäre es absurd, aufgrund dieses Befunds zu suggerieren, die Naturwissenschaften wären in der Lage, Argumente ad maiorem Dei gloriam zu liefern und gleichsam das göttliche Wirken in der Natur oder auch die göttliche Vorsehung in präziser Manier zu beweisen und zu beschreiben. Die Naturwissenschaften können nicht in physikotheologischer Weise die Religion fundieren. Ebenso absurd wäre es aber auch anzunehmen, der naturwissenschaftliche Determinismus könnte mit letztgültiger Gewissheit jeden Glauben an ein göttliches Wirken in der Natur oder auch an die göttliche Vorsehung zwingend widerlegen, etwa durch den empirischen Hinweis, dass bereits der sowjetische Astronaut Juri Gagarin in den Weiten des Weltalls keinen Gott erblickt habe. Dass aber, wer an ein solches göttliches Wirken in der Natur und nun zudem noch an eine göttliche Vorsehung glaubt, dies auch tun kann und keinesfalls in intellektuell unredlicher Weise etwa gegen den Erkenntnisstand der zeitgenössischen Naturwissenschaften verstößt, dies ist nun genau die spezifische Pointe von Pollards Argumentation. Insofern versucht Pollard die contingentia naturae nicht nur mit der contingentia mundi, sondern auch mit der providentia Dei theoretisch auszusöhnen. Auch David Bartholomew teilt Pollards grundsätzliche Ambition einer theoretischen Versöhnung von Zufall und Vorsehung und wendet sich in diesem Sinne in seinem Buch The God of Chance sowohl gegen die Dichotomien eines Gottesbildes, welches Gott aus der Natur verbannt, als auch gegen ein positivistisches Verständnis der Naturwissenschaften, somit auch gegen die exemplarisch von Monod und Gould apostrophierte Alternative: Entweder Zufall und Kontingenz der Natur und in der Natur, dann kein Gott! Oder Gott, dann kein Zufall und Kontingenz der Natur und in der Natur! Der Glaube an Gott und die Einsicht in die Rolle von Zufall und Kontingenz der Natur und in der Natur lassen sich vielmehr Bartholomew zufolge jenseits des Postulats eines unüberbrückbaren Hiatus und jenseits der Apostrophierung einer immer schon bestehenden intellektuellen Harmonie zwischen contingentia naturae und contingentia mundi, jenseits falscher Dichotomisierung wie Harmonisierung, durchaus theoretisch miteinander versöhnen: Dabei macht Bartholomew am Beginn seiner Ausführungen deutlich, wie sehr die Begriffe von Kontingenz und Zufall mittlerweile im Brennpunkt der Diskussionen um das angemessene Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft oder von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie stehen, zumal wenn man sich vor Augen hält, dass sich die Debatte um das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft im Zeitalter Newtons und Galileis ja stets an dem genau konträren Problem entzündet hatte, Wolfhart Pannenberg, „Kontingenz und Naturgesetz“, in: Wolfhart Pannenberg und A. M. K. Müller, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, a.a.O., S. 72.

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welcher Handlungsspielraum einem in die Welt eingreifenden und Wunder wirkenden Gott angesichts einer vermeintlich durchgängigen naturgesetzlichen Notwendigkeit noch zugebilligt werden könnte: „Chance has come to play a fundamental role in scientific thinking. This fact poses questions for theology which are only now beginning to be fully appreciated and to which the answers are far from clear. The older and simpler picture of the universe as a vast well-oiled machine obeying immutable laws has given way to something much more complex and subtle. It was difficult enough to see how God might be able to break the laws of nature to perform miracles. The very lawfulness of nature almost seemed to imprison God within his own creation. Now the challenge comes from the opposite direction. The theologian has to explain how God could be conceived of as acting purposefully in a world where the driving force appears to be chance – the very antithesis of purpose. In a sense the wheel has come full circle. Before the scientific revolution events were commonly supposed to be in the hands of capricious deities; unpredictability was the hallmark of experience. Now the gods have been dethroned but the uncertainty remains.“225 Lautete einstmals das theologische Problem, so könnte man in Anlehnung an Odo Marquard reformulieren, „si necessarium, unde deus?“, so sehen sich Bartholomew zufolge heute Theologie und Naturwissenschaften gleichermaßen und ungleich dringlicher mit dem Befund und der Frage konfrontiert: „Si contingens, unde deus?“226 Von dem Befund, dass die Naturwissenschaften die unhintergehbare Realität des Zufalls nicht eskamotieren können, nimmt folglich auch Bartholomews Suche nach einem „god of chance“ ihren Ausgang und zieht daraus die Folgerung, dass eine glaubwürdige Theologie heutzutage gar nicht anders kann, als sich der Frage des Verhältnisses von Zufall und Gott, von Zufall und göttlicher Vorsehung, anzunehmen: „Our contention is that if science is to be taken seriously then chance must be regarded as an essential ingredient of the cosmos and the theologian must try to account for its presence and purpose.“227 Im Zuge dieser für jede Theologie vermeintlich eine theoretische Pflichtübung darstellenden Behandlung des Verhältnisses von Zufall und Gott, von Zufall und göttlicher Vorsehung, vertritt Bartholomew nun zunächst die an die geschilderte Versöhnungsabsicht Pollards erinnernde Aussage, „that a world of chance is not merely consistent with a theistic view of nature but, almost, required by it“228 , „that the reality of chance is not merely compatible with the doctrine of creation but is required by it“229 , die Aussage also, dass dem, der an Gottes Schöpfung oder an Gottes Wirken in der Natur aus welchen Gründen auch immer glaubt, ein Weltbild, welches den Zufall der Natur und in der Natur akzeptiert und 225 226

227 228 229

David Bartholomew, The God of Chance, a.a.O., S. 1. Vergleiche zum Gebrauch dieser Formeln Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1987, S. 118 f. David Bartholomew, The God of Chance, a.a.O., S. 93 f. Ebd., S. 102. Ebd., S. 144 f.

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berücksichtigt, durchaus gelegen kommt, ja dass jener Glauben dieses Weltbild geradezu verlangt. Bartholomew wie Pollard sehen also den Zufall der Natur und in der Natur einerseits und Gott sowie göttliche Vorsehung andererseits nicht als sich ausschließende Vorstellungen und Begriffe. Die Sphäre einer immer schon von Zufälligkeiten geprägten Natur kann den Glauben an Gott und an eine göttliche Vorsehung nicht beweisen oder erzwingen; aber in einer solchen natürlichen Welt des Zufalls, im Angesicht der contingentia naturae, kann die Wirksamkeit göttlicher Vorsehung auch niemals definitiv ausgeschlossen werden. So viel zu einigen theologischen Reflexionen über Möglichkeiten und Formen einer theoretischen Versöhnung von contingentia naturae und providentia Dei. Dass Zufall und Vorsehung ebenso wenig als sich in einer unüberwindbaren theoretischen Dichotomie befindlich gedacht werden müssen wie die Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie je eigenen Begriffe von Kontingenz und Zufall, wirft nun ferner, so erwähnten wir bereits, die weitere Frage auf nach den providenztheologischen Konsequenzen einer theoretischen Versöhnung von Zufall und Vorsehung. Die innertheologischen Konsequenzen einer theoretischen Versöhnung der Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie je eigenen Begriffe von Kontingenz und Zufall bestanden zunächst, wie wir anhand von Peirce zufallssensibler Kosmologie der Evolution ebenso wie anhand von Pannenbergs kontingenzsensibler Theologie der Natur verfolgten, in einer mehr oder weniger expliziten Naturalisierung und Dynamisierung der Schöpfungstheologie und des schöpfungstheologischen Kontingenzbegriffs. So liegt es nahe, dass Pollards und Bartholomews angedeutete Argumente zugunsten einer theoretischen Versöhnung von Zufall und Vorsehung mutatis mutandis auch zu einer Dynamisierung und Naturalisierung providenztheologischer Annahmen drängen. In der Tat prägt die Dynamisierung und Naturalisierung providenztheologischer Annahmen die soeben skizzierten Auffassungen von Pollard wie Bartholomew. Noch deutlicher und prägnanter lässt sie sich jedoch den Arbeiten von Arthur Peacocke entnehmen. Peacocke formuliert in einer Auseinandersetzung mit Jacques Monods Formulierung eines zwingenden Junktims von atheistischer Weltanschauung und Akzeptanz des Zufalls in der Natur und der Natur zunächst die These, wonach die naturwissenschaftliche oder evolutionstheoretische Rede von Emergenz oder einer emergenten Evolution eine Naturalisierung und Dynamisierung von Schöpfungstheologie, in der die Vorstellung einer creatio continua gleichberechtigt an die Seite einer creatio ex nihilo tritt, theoretisch nahelegt. Insofern nimmt Peacocke eine These auf, die Pannenbergs kontingenzsensibler Theologie der Natur explizit und die Peirces zufallssensibler Kosmologie der Evolution zumindest implizit zu entnehmen war. Diese naturalisierte und dynamisierte, creatio ex nihilo und creatio continua gleichermaßen berücksichtigende Version von Schöpfungstheologie spricht aber nun laut Peacocke auch für eine Dynamisierung und Naturalisierung der göttlichen Vorsehung, welche die göttliche Vorsehung gerade nicht als „ocassional visitor“ (Aubrey Moore) begreift – providentia vielmehr dynamisiert – und die göttliche Vorsehung auch nicht als supranaturalen Lückenbüßer und spontan intervenierenden Stoßtrupp auffasst, der bemüht werden muss, sobald die naturwissenschaftlichen

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Erklärungsversuche nicht mehr ausreichen230 – providentia also auch naturalisiert –, welche insofern die göttliche Vorsehung im Sinne einer kontinuierlich wirksamen Tätigkeit und im Sinne einer in der Natur wirksamen Tätigkeit versteht, die göttliche Vorsehung also ebenso dynamisiert und naturalisiert wie die göttliche Schöpfung: „The theological perspective itself is correspondingly reshaped by this consideration of the scientific account of the cosmic development. For the theological account will now be seen to be most meaningful and to correspond best with the scientific one, when it emphasises that God is immanent, that his action in the world is continuously creative […] creativity, in the sense of the emergence of new forms of matter, is a permanent potentiality whose actualisation depends on circumstances. This potentiality is not injected into the cosmos from ‚outside‘ either by God, or by a Life Force, élan vital, or other supposedly ‚supernatural‘ agency. If God is in the world-process of matter at all, he is in it all through, in all its potentialities, whether actualised or not, and he continues to hold it in being by his will with these potentialities and not otherwise. […] to postulate a ‚God of the gaps‘ who is supposed to intervene to bridge the gap between, for example, the living and the non-living is not only a tactical error on the part of theists (for science has a habit of bridging these gaps from its own resources!) but is to mistake entirely the relation between God and the cosmos [Hervorhebung von mir; P. V.].“231 So formuliert Peacocke eine Dynamisierung und Naturalisierung der providentia, welche sich die göttliche Providenz gleichsam als Facette oder Aspekt oder Begleiterscheinung einer in der Natur dynamisch und kontinuierlich wirksamen creatio continua vorstellt: „God has again to be imagined as continuously giving existence to what is new. God is creating at every moment of the world’s existence through perpetually giving creativity to the very stuff of the world.“232 „Special providence“, so schreibt wiederum Bartholomew,

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So werde, hatte Aubrey Moore bereits geurteilt, die Rolle der göttlichen Vorsehung systematisch zu defensiv eingeschätzt. „Yet it is no wonder that people who take refuge in gaps find themselves awkwardly placed when the gaps begin to close.“ Aubrey Moore, „The Christian Doctrine of God“, in: Charles Gore (Hg.), Lux Mundi. A Series of Studies in the Religion of the Incarnation, London 1891, S. 44. Jan Rohls macht in seinem in diesem Kapitel in Anmerkung 100 (S. 225) bereits genannten Aufsatz sehr schön deutlich, wie sehr Aubrey Moores theologischer Versuch einer Versöhnung von Schöpfungstheologie und Darwinismus sich einerseits gegen ein deistisches Gottesmodell, andererseits gegen eine Vorstellung von Gott als lediglich ocassionell in der Natur wirkende Instanz wendet, ohne doch deshalb einer physikotheologischen Position zu verfallen. Arthur Peacocke, „Chance, Potentiality, and God“, in: John Lewis (Hg.), Beyond Chance and Necessity. A Critical Inquiry into Professor Jacques Monod’s Chance and Necessity, a.a.O., S. 23 f. Arthur Peacocke, „Articulating God’s Presence in and to the World Unveiled by the Sciences“ (2004), in: Evolution. The Disguised Friend of Faith? Selected Essays, Philadelphia/London 2004, S. 96.

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„is thus more accurately regarded as part of the continuing creative act rather than as a distinct and subsequent action of a different kind. […] God does not, therefore, have to be seen as acting on the world from the outside but is at work at the very heart of the matter.“233 Indes, selbst wenn die göttliche providentia in ihrem Wesenskern als eine dynamisch und natürlich agierende und kontinuierlich wirksame gedacht werden soll, wie dies Bartholomew und Peacocke empfehlen, bleibt das Kräfteverhältnis zwischen einer wie auch immer zu bestimmenden providentia und dem Zufall und insofern die Frage nach Autarkie oder Heteronomie des Zufalls ungeklärt. Damit ist endgültig der weiter oben in der drittgenannten Frage bereits angesprochene Glutkern jeder providenztheologischen Debatte berührt.234 Diesbezüglich öffnet nun ein Blick auf die gleichsam providenztheologische Quintessenz von William James’ Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ den Blick auf eine ganz neuartige und – wie ich finde – äußerst faszinierende theoretische Perspektive, die ich so auch bei keinem anderen Autor finden kann, die sich auch nicht bei jenen zuletzt erwähnten Stimmen findet, welche einer Naturalisierung und Dynamisierung von göttlicher Schöpfung oder auch göttlicher Providenz durchaus das Wort reden. Mein grundsätzliches Plädoyer dafür, dass man in intellektuell redlicher Weise sowohl an Gott in einem die providentia Dei einbeziehenden Sinne glauben kann wie von Zufall und Kontingenz in der Natur und der Natur überzeugt sein kann, obschon ich dieses Plädoyer auch nicht einer Letztbegründung für fähig erachte, ebenso wie meine Überzeugung, dass diese theoretische Möglichkeit spezifische theologische Konsequenzen nach sich zieht, nämlich sowohl eine Naturalisierung und Dynamisierung schöpfungstheologischer Vorstellungen impliziert und in Folge dessen eine Schöpfungstheologie, die den Gedanken einer creatio ex nihilo nicht einseitig zu Ungunsten des Gedankens einer creatio continua privilegiert, als auch zu einer Naturalisierung und Dynamisierung providenztheologischer Vorstellungen drängt, die freilich sodann – anders als die Instrumentalisierung des Zufalls als Medium und Movens der Vorsehung in der Zeit der Spätantike, Scholastik und Frührenaissance suggeriert235 – die Autarkie des Zufalls vor der stets lauernden Gefahr bewahrt, diesen als einen heteronomen Agenten der Vorsehung zu mißbrauchen, jenes Plädoyer und diese Überzeugung kann ich nämlich am besten zusammenfassen und am anschaulichsten und trefflichsten illustrieren, indem ich auf die Schlusspassagen von James’ Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“, ursprünglich eine Ansprache vor Theologiestudenten in Harvard, verweise. Nachdem James in seinem Vortrag in luzider und höchst komplexer Weise ein theoretisches Plädoyer formuliert für den Indeterminismus, wie er ihn verstanden wissen möchte, ein theoretisches Plädoyer nämlich für eine Welt von Möglichkeiten, für eine Ontologie von Unbestimmtheiten, für eine Auffassung der Welt, in der sich Wirklichkeit und Möglich233 234

235

David Bartholomew, The God of Chance, a.a.O., S. 121 bzw. 127. Vergleiche bezüglich meiner Differenzierung der providenztheologischen Thematik gemäß dreier Fragestellungen meine entsprechenden Formulierungen auf S. 269 oben. Vergleiche dazu meine Ausführungen im siebten Kapitel dieser Arbeit zu Boethius, Thomas, Dante und Petrarca, S. 546–568.

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keit stets verschränken236 , und insofern auch für die ontologische Realität des Zufalls, ferner für eine Auffassung des Lebens als eine „tragische Realität“237 und gleichwohl für einen tragischen Meliorismus argumentiert, für die „Chance, dass in moralischer Hinsicht die Zukunft anders und besser sein kann, als es die Vergangenheit gewesen ist“238 , nach all diesen argumentativen Versatzstücken, welche sich in „Das Dilemma des Determinismus“ versammelt finden, legt sich James abschließend die Frage vor, ob die theoretische Akzeptanz von Zufall in der Natur und der Natur und ein Glaube an eine göttliche Vorsehung sich ausschließen oder ob sie miteinander verträglich sind. Sie sind miteinander verträglich, so lautet James’ emphatische Antwort, wird nur die Vorsehung in einer ganz bestimmten Weise begriffen, nämlich nicht als „fulminating nothing but fatal decrees“239 , wie es im englischen Original heißt; wird hingegen die göttliche Vorsehung in einer Weise konzipiert, so schreibt nun James, wonach es ihr erlaubt ist, „Möglichkeiten sowohl wie Wirklichkeiten für das Universum vorzusehen und ihr eigenes Denken in diesen Kategorien zu vollziehen, gerade wie wir dies in unserem Denken tun, dann kann es Zufälle geben, nicht beherrscht sogar von ihr, und der Ablauf des Universums kann wirklich zwei Möglichkeiten enthalten, und dennoch kann das Endziel aller Dinge genau das sein, was die Vorsehung von aller Ewigkeit her als solches beabsichtigte. Eine Analogie wird klarmachen, was ich damit meine. Stellen Sie sich zwei Menschen am Schachbrett vor, der eine ein Anfänger, der andere ein Meister des Spiels. Der Meisterspieler will gewinnen. Aber er kann nicht genau vorhersehen, welchen Zug der Gegner jeweils wirklich machen wird. Er kennt jedoch alle für letzteren überhaupt möglichen Züge und weiß im voraus, wie man einem jeden von ihnen durch einen Gegenzug begegnet, der auf den Sieg hinarbeitet. Und der Sieg kommt unfehlbar, gleichgültig nach welchen Umwegen, in der einen vorherbestimmten Form: Schach dem König des Anfängers. Setzen Sie nun den Anfänger gleich uns endlichen frei handelnden Wesen und den Meister gleich dem unendlichen Geist, in dem das Universum liegt. Nehmen Sie an, letzterer denke sich das Universum aus, bevor er es tatsächlich schafft. Nehmen Sie an, er sage: ich will die Dinge zu einem bestimmten Endziel führen, aber ich will nicht jetzt über alle Schritte dazu entscheiden. An verschiedenen Stellen sollen zweierlei Möglichkeiten offengelassen werden, von denen jede in einem gegebenen Augenblick wirklich werden kann. Doch welcher von diesen zwei Wegen auch verwirklicht werden mag, ich weiß, was ich an der nächsten Wegscheide tun werde, um die Dinge davor zu bewahren, von dem Endergebnis abzuweichen, das ich vorhabe. Der Schöpfer ließe so im Plane 236

237

238 239

Vergleiche dazu meine Bemerkungen auf S. 197 f. am Anfang dieses Kapitels zu James und Musils theoretischer Rehabilitierung der gleichsam ontologischen Kategorie der Möglichkeit oder der gleichsam hermeneutischen Kategorie des Möglichkeitssinns. William James, „Das Dilemma des Determinismus“ (1884), in: Essays über Glaube und Ethik, a.a.O., S. 172. Ebd., S. 173. William James, „The Dilemma of Determinism“ (1884), in: The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, New York 1923 (1897), S. 180.

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des Universums viele seiner wirklichen Einzelheiten offen, würde aber alle Möglichkeiten festlegen. Die Verwirklichung einzelner dieser Möglichkeiten würde uneingeschränkt dem Zufall überlassen bleiben240 , das heißt, würde erst entschieden werden, wenn der Augenblick der Verwirklichung kommt. Andere Möglichkeiten würden bedingt festgelegt sein, das heißt, ihre Entscheidung würde ausgesetzt werden müssen, bis sich herausstellte, welche Wahl der uneingeschränkte Zufall trifft. Der übrige Plan aber, einschließlich seines Endzieles, würde ein für allemal unerbittlich festgelegt sein. So würde der Schöpfer selbst nicht alle Einzelheiten der Wirklichkeit zu kennen brauchen, bevor sie eintreten; und sein Bild von der Welt würde sich jederzeit teils aus Tatsachen und teils aus Möglichkeiten zusammensetzen, genau wie jetzt unser Weltbild. Einer Sache jedoch könnte er gewiss sein, und zwar, dass seine Welt in sicheren Händen ist, und dass ohne Rücksicht darauf, welchen Zickzackkurs sie steuert, er sie zuletzt sicher in den Hafen bringen kann. Es ist nun gänzlich unwesentlich in diesem Schema, ob der Schöpfer die uneingeschränkten Zufallsmöglichkeiten seiner eigenen Entscheidung vorbehält, und er selbst eine jede Wirklichkeit werden lässt, wenn ihr richtiger Augenblick gekommen ist, oder ob er im Gegenteil sich dieser Macht entäußert und die Entscheidung ganz und gar endlichen Geschöpfen wie uns Menschen überlässt. Der Hauptpunkt ist, dass die Möglichkeiten wirklich da sind. Ob wir es sind, die sie auslösen, oder er die Auslösung durch uns bewirkt in jenen die Seele erschütternden Augenblicken, wenn die Waagschalen des Schicksals sich erzitternd neigen und das Gute dem Bösen den Sieg entreißt oder kraftlos vor dem Kampf zurückbebt, das ist von geringer Bedeutung, solange wir zugeben, dass die Streitfrage nirgendwo anders als jetzt und hier entschieden wird.“241 Lassen wir die einzelnen gedanklichen Schritte dieses äußerst komplexen und zugleich doch höchst anschaulichen Zitats in ihrer theoretischen Substanz noch einmal vor unserem geistigen Auge Revue passieren: James akzeptiert Vorsehung und Zufall in ihrer Autarkie und Autonomie, was sich in dem Bilde der beiden sich am Schachbrett gegenüber sitzenden Spieler andeutet. Dieser Zufall wird nicht in jene Vorsehung überführt, jene nicht in diesen aufgelöst. Weder kontrolliert und beherrscht die Vorsehung den Zufall, noch konterkariert und verunmöglicht der Zufall jene Vorsehung. Zufälle sind stets reale Zufälle, Möglichkeiten sind stets reale Möglichkeiten, keine Agenten der göttlichen Vorsehung, und daran ändert auch die Existenz einer göttlichen Vorsehung nicht das Geringste. Dennoch unterstellt James natürlich durch die Metapher des erfahrenen Großmeisters und des unerfahrenen Schachnovizen ein bestimmtes Kräfteverhältnis zwischen Zufall und Vorsehung. Der Sieg des Großmeisters „kommt unfehlbar“, wie James schreibt. Allerdings weiß auch der Großmeister mit letzter Gewissheit nicht mehr als allein die Tatsache, dass er schließlich gewinnen wird. Den genauen Weg zu diesem Sieg 240 241

Bei James im Original heißt es, „would be left absolutely to chance“, vergleiche ebd., S. 182. William James, „Das Dilemma des Determinismus“ (1884), in: Essays über Glaube und Ethik, a.a.O., S. 175 ff.

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kennt er ebenso wenig wie der Anfänger den genauen Weg zu seiner Niederlage. Providentia ist also nicht mit praescientia zu verwechseln. Diese Differenz ergibt sich daraus, dass auch der Großmeister die exakten Spielzüge des Anfängers nicht vorhersehen kann, jene also tatsächlich unvorhersehbare, das heißt reale Möglichkeiten darstellen; „ambiguous possibilities shall be left“242 , schreibt James im Original. Der Schachgroßmeister selbst weiß in einem gegebenen Augenblick nicht, wie sich der weitere Verlauf des Spiels entwickeln wird; er kennt die Züge seines Gegenübers nicht im Voraus, sondern weiß, dass verschiedene Möglichkeiten, die Partie fortzuführen, zur Verfügung stehen. Und sie, die realen Möglichkeiten in Form unvorhersehbarer Spielzüge, wirken sich, wenn sie in einer auch für den Großmeister unvorhersehbaren Weise in die Wirklichkeit gebracht werden, zwar nicht auf das letztendliche Ergebnis des Spiels, wohl aber auf dessen weiteren Verlauf aus. Aber der Schachgroßmeister hätte ferner auch gar kein Interesse daran, selbst wenn er alle Züge seines Gegenübers im Voraus erkennen könnte, den gesamten Verlauf des Spiels exakt vorherzubestimmen. Providentia ist nicht mit praedestinatio zu verwechseln. Die providentia agiert nicht im Sinne eines fatum, welches dem Schicksal des Menschen unwiderruflich „nothing but fatal decrees“ auferlegt. Allein die Tatsache des endgültigen Sieges des omnikompetenten Meisters steht unwiderruflich fest! Auf jeden unvorhersehbaren und unbestimmten Schachzug seines Gegenübers hat der Großmeister jene Antwort parat, die seinen Sieg garantiert. So stellt sich Gott die Realität ebenso dar wie jedem Schachspieler, als eine Kombination aus Wirklichkeiten und Möglichkeiten, eine Kombination, die nicht vorherzusagen und auch nicht vorbestimmt ist und auch keinem unwiderruflichen und unveränderlichen fatum gleicht, die freilich dennoch unwiderruflich zu einem bestimmten Spielresultat führt. James wendet sich also gegen eine falsche Dichotomisierung wie gegen eine falsche Harmonisierung von Zufall und Vorsehung; der empirische Nachweis der Existenz eines Zufalls kann den Glauben an eine göttliche Vorsehung weder fundieren noch widerlegen; aber James glaubt aufgrund von Motiven und Überzeugungen, über die letztinstanzlich ein Tribunal der Vernunft, wie auch immer es gedacht wird, gar nicht befinden kann, an beides, an den Zufall und an eine auf bestimmte Weise interpretierte göttliche Vorsehung; und James argumentiert für die intellektuelle Redlichkeit einer Position, die zugleich an der providentia Dei wie an einer contigentia naturae festhält. Wer an die göttliche Vorsehung glaubt und zugleich von Kontingenz und Zufall der Natur und in der Natur überzeugt ist, kann dies tun, ohne dass ihm eine wie auch immer begründete intellektuelle Unredlichkeit vorgehalten würde; er wird dann aber, wie James in der zitierten Passage andeutet, zu bestimmten theologischen Überzeugungen und providenztheologischen Konsequenzen gleichsam genötigt. Einer solchen Perspektive kann sich die göttliche Providenz nicht mehr als zeitlos darstellen; die providentia ist auch keine praescientia, sie ist nicht allwissend, sie kennt die Züge ihres Gegners nicht im Voraus und weiß daher auch nicht im Voraus, zu welchen Zügen sie wiederum motiviert sein wird; auch der providentia stehen unvorhersehbare Möglichkeiten offen, zumal sie auf von ihr unbeeinflusste Handlungen der Menschen reagieren muss. Die providentia will auch gar nicht den Verlauf des Spiels im Detail bestimmen, sondern nur dessen endgül242

William James, „The Dilemma of Determinism“ (1884), in: The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, a.a.O., S. 181.

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tiges Resultat; die providentia ist also keine praedestinatio und auch kein fatum, keine unwiderrufliche Vorbestimmung des eigenen göttlichen Handelns wie des Handelns der Menschen. Wer im Sinne dieser Dynamisierung und Naturalisierung von Schöpfungstheologie und Providenztheologie und jenseits der Dichotomisierung und der Harmonisierung von Vorsehung und Zufall sowohl an die Vorsehung glaubt als auch die Existenz des Zufalls anerkennt, für den ergibt sich schließlich, folgen wir James’ Gleichnis vom ungleichen Schachspiel zwischen Zufall und Vorsehung, bezüglich des Kräfteverhältnisses von göttlicher Vorsehung und Zufall folgendes Bild: Der Zufall ist kein heteronomer Agent der Vorsehung, der Zufall ist gerade nicht, wie Anatole France einmal formulierte, als Pseudonym Gottes, der selbst nicht unterschreiben will243 , zu verstehen, der Zufall ist ebenso autark und autonom wie die Vorsehung, aber die Vorsehung, aufgefasst als eine kontinuierlich wirksame und in der Natur auftretende, nicht als „ocassional visitor“ (Aubrey Moore), auch nicht als supranaturaler Lückenbüßer und spontan intervenierender Stoßtrupp eines „god of the gaps“, aufgefasst zudem als eine weder allwissende noch allbestimmende providentia, eine derartige Vorsehung vermag den Zufall doch stets zu übertrumpfen. (3) Damit wenden wir uns nun endgültig jener möglichen Sphäre von Kontingenz und Zufall zu, welche uns für den Rest dieses Kapitels und sodann auch im Fortgang der gesamten Arbeit vorrangig beschäftigen wird. Um zu verstehen, was von den im Folgenden zu diskutierenden Autoren prinzipiell gemeint sein kann, wenn von Zufall und Kontingenz bezüglich der Sphäre der menschlichen Geschichte explizit oder implizit die Rede ist, ist es hilfreich, zunächst noch einmal die im ersten und zweiten Kapitel erarbeitete systematische Distinktion und Präzisierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall in Erinnerung zu rufen. Wenn in dem im Folgenden im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden Quellen – häufig – explizit vom Zufall in der Geschichte oder einer zufälligen Geschichte oder – weniger häufig – explizit von Kontingenz in der Geschichte oder einer kontingenten Geschichte die Rede ist, dann kann dies auf einer ersten grundsätzlichen Ebene und gemäß unserer im ersten Kapitel erarbeiteten systematischen Distinktion der Begriffe von Kontingenz und Zufall prinzipiell immer zweierlei meinen, unabhängig von der Frage, ob dies den solchermaßen sich äußernden Autoren bewusst war oder nicht, nämlich: erstens jenes nicht notwendige (nec necessarium) Wirkliche, welches als zufällig, oder zweitens jenes Mögliche (nec necessarium nec impossibile), welches als kontingent zu charakterisieren ist. Erstens also all jenes historische Geschehen, welches historisch durchaus der Fall war, sich in der Geschichte tatsächlich ereignete, aber nicht notwendigerweise hätte eintreten müssen, vielmehr zufällig im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nec necessarium eintrat. Zweitens aber auch jenes nicht notwendige Mögliche in der Geschichte, das, was sein könnte oder hätte sein können, jedenfalls weder notwendig sein wird noch notwendig ist noch unmöglich sein wird noch 243

„Le hasard c’est peut-etre le pseudonyme de Dieu, quand il ne veut pas signer“, auf diese Formulierung Anatole Frances wurde ich durch eine Bildunterschrift anlässlich eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufmerksam. Vergleiche hierzu Henning Ritter, „Das kann doch kein Zufall sein“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. April 2007, S. Z 1–2.

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unmöglich ist, und welches in ebendiesem Sinne eines nec necessarium nec impossibile als kontingent zu bezeichnen sich empfiehlt.244 Dies heißt nun wohlgemerkt nicht, über Zufall oder Kontingenz in der Sphäre der menschlichen Geschichte wäre in der Ideengeschichte stets und immer schon so schön säuberlich zwischen den Begriffen von Kontingenz im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden, weder notwendigen noch unmöglichen Möglichen und Zufall im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nicht notwendigen Wirklichen getrennt worden, wie wir dies nachträglich nach all unseren begriffsgeschichtlichen Präzisierungsunternehmungen in systematischer Absicht, nach den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit also, zu tun in der Lage sind. Ein im Rückblick vorgenommener Versuch zur Präzisierung bestimmter Begriffe darf also nicht den Blick dafür verstellen, dass die Ideen und Begriffe von Kontingenz und Zufall in der Ideen- und Begriffsgeschichte tatsächlich immer wieder auf untrennbare Weise vermengt wurden. Das ändert nichts an der Gültigkeit dieser Distinktionen und Präzisierungen, entwertet aber ihre heuristische Relevanz sowohl für dieses als auch für alle weiteren Kapitel. Wir werden daher im verbleibenden Abschnitt dieses Kapitels und im gesamten zweiten Teil dieser Arbeit immer dann, wenn wir auf bestimmte Vertreter und Verfechter einer bestimmten expliziten Verwendung der auf die Sphäre der menschlichen Geschichte bezogenen Begriffe von Kontingenz und Zufall oder auf bestimmte Vertreter und Verfechter eines bestimmten impliziten Rekurses der auf die Sphäre der menschlichen Geschichte bezogenen Begriffe von Kontingenz und Zufall blicken, der Sprache der Quellen eine unbeschränkte Suprematie und einen methodischen Primat über unsere retrospektiv angefertigten begrifflichen Distinktionen, welche doch allein einer präzisierenden Klärung in systematischer Absicht dienen, zugestehen. Damit genug der begriffsgeschichtlichen Subtilitäten. Auch unabhängig davon ist auf einen Blick ersichtlich, dass der Gegenbegriff zu den begriffsgeschichtlich präzisierten und systematisch distinkten Begriffen und Auffassungen sowohl von Kontingenz wie von Zufall in der Geschichte – auch wenn, wie uns die im Folgenden zu besprechenden Texte zu verstehen geben, diese Präzisierungen und Distinktionen jenen Autoren, welche Kontingenz und Zufall in der Geschichte ausmachen zu können glaubten, gar nicht bewusst waren – stets das Theorem oder die Idee historischer Notwendigkeit ist. Jede Version eines geschichtstheoretischen Plädoyers für Kontingenz und Zufall in der Geschichte nimmt daher zwingend ihren Ausgang bei einem Protest gegen einen historischen „Nezessarismus“ (Peirce), gegen eine Vorstellung von Geschichte, wonach – im Sinne einer gleichsam geschichtstheoretischen Anwendung der Laplaceschen Hypothese und ebenfalls in Anlehnung an eine Formulierung von Peirce – „jedes einzelne Faktum im Universum“, nun aber jedes einzelne Faktum im Universum der menschlichen Geschichte, „präzise durch ein Gesetz bestimmt wird“245 . Jede Version eines geschichtstheoretischen Plädoyers für Kontingenz und Zufall in der Geschichte beruht 244

245

Zu dieser begriffsgeschichtlich gewonnenen, systematischen Unterscheidung der Begriffe von Kontingenz und Zufall und zu meinem Plädoyer, den Begriff des kontingenten Möglichen auf eine ganz bestimmte Weise zu verstehen, vergleiche das gesamte erste Kapitel dieser Arbeit. Vergleiche dazu Anmerkung 134 in meinen Ausführungen zu Peirces Aufsatz „Eine Überprüfung der Lehre des Nezessarismus“, S. 238 in diesem Kapitel.

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mithin zwingend auf einem Protest gegen eine Vorstellung von Geschichte, wonach sich einerseits all jenes, was sich in der menschlichen Geschichte ereignete und ereignet, notwendigerweise immer und stets justament so ereignete und ereignet, wie es der Fall war oder ist, dass sich folglich jedes tatsächliche historisches Ereignis als das in seiner Funktion und Relevanz zwingend bestimmte Glied einer Kette historischer Notwendigkeit ausweisen lässt, andererseits all dies, was sich in der Geschichte nicht ereignete, nicht ereignet oder nicht ereignen wird, vielmehr im Vorhof des historischen Faktums verblieb, verbleibt oder verbleiben wird, notwendigerweise nicht ereignete, nicht ereignet oder ereignen wird. Ein geschichtstheoretischer Anti-Nezessarismus stellt somit stets das unwiderrufliche theoretische Fundament einer auf die Sphäre der menschlichen Geschichte bezogenen Semantik von Kontingenz und Zufall dar. Auf welche geschichtstheoretischen Argumente und Überlegungen kann sich ein solcher Protest gegen die Idee historischer Notwendigkeit berufen, auf welche geschichtstheoretischen Argumente und Überlegungen hat er sich nachweislich berufen? Wie wird dabei der theoretische Kern des kritisierten oder zu widerlegenden geschichtstheoretischen Nezessarismus aufgefasst? Diese beiden Fragen will ich in diesem dritten Abschnitt dieses Kapitels exemplarisch anhand der Schriften von Karl Popper und Isaiah Berlin beantworten, insofern diese beiden Autoren ihren geschichtstheoretischen AntiNezessarismus doch in einer besonders raffinierten Weise zu begründen suchen und in einer besonders wirkungsmächtigen Weise formulieren. Während Popper prätendiert, eine logisch zwingende Widerlegung einer historizistischen Geschichtsphilosophie geleistet zu haben, formuliert Berlin, an dieser Stelle seines Werkes deutlich beeinflusst von der „ordinary language philosophy“, eine common sense-fundierte Argumentation gegen die Idee einer „historical inevitability“, welche nicht deren logische Unmöglichkeit, wohl aber deren semantische Praktikabilität und Plausibilität bestreitet (b). Ein geschichtstheoretischer Anti-Nezessarismus muss sich aber nicht, wiewohl er dies durchaus kann, auf die Begriffe und theoretischen Kategorien historischer Kontingenz und historischen Zufalls beziehen. Gerade dies lässt sich der Diskussion von Poppers und Berlins Anti-Nezessarismus deutlich entnehmen. Wer sich aber nun wiederum für die Begründung seiner gegen die Idee historischer Notwendigkeit gerichteten Geschichtstheorie tatsächlich unter Zuhilfenahme welcher Begrifflichkeit auch immer auf einen wie auch immer verstandenen historischen Zufall und auf eine wie auch immer begriffene historische Kontingenz beruft, und solchen Versuchen wenden wir uns in der Sektion (c) dieses Kapitels zu, für den gibt es erneut grundsätzlich zwei unterschiedliche theoretische Optionen: Die Affirmation von Kontingenz und Zufall in der Geschichte ihrerseits kann nun wiederum – unabhängig davon, ob dabei die Begriffe von Kontingenz und Zufall explizite Erwähnung finden oder nicht, unabhängig auch davon, ob dabei an das nicht notwendige Wirkliche oder an das weder unmögliche noch notwendige Mögliche, an das nec necessarium im Sinne des Zufallsbegriffs oder an das nec necessarium nec impossibile im Sinne des Kontingenzbegriffs gedacht wird – durch den Gedanken einer prinzipiellen und unbeschränkten Verfügbarkeit menschlicher Geschichte wie durch die Überzeugung einer, wenn auch nicht ausschließlichen, so doch unhintergehbaren Unverfügbarkeit menschlicher Geschichte fundiert sein. Mag demnach der Protest gegen den Gedanken einer in der Geschichte waltenden Notwendigkeit mit Recht als das theoretische Fundament einer kontingenz- und zufalls-

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sensiblen Geschichtstheorie gelten, er bestimmt weder deren darauf weiters beruhende Argumentation noch deren genaues Verständnis der Begriffe und Ideen historischer Kontingenz und historischen Zufalls. Dass die Geschichte einem Aperçu Alexander Herzens zufolge, welches Isaiah Berlin immer wieder in seinem Werk erwähnt, dass die Geschichte keinem „Libretto“ folgt, dass die einzelnen historischen Episoden und Epochen sich nicht als Glieder einer Kette der Notwendigkeit verstehen lassen, dass vielmehr historische Kontingenz und historischer Zufall zu den, wenn auch nicht ausschließlichen, so doch unleugbaren und unhintergehbaren Merkmalen und Bestandteilen menschlicher Geschichte gehören, diese These kann zwei gänzlich konträren Argumentationen und Gedankengängen folgen. Man kann sich dies in abstracto besonders leicht klar machen: Einerseits kann sich der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall auf die unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte berufen. Die Geschichte folgt demnach keinem Libretto historischer Notwendigkeit, sondern wäre kontingent und zufällig – und dass dabei die von welchem Autor oder welcher geschichtstheoretischen Strömung auch immer realiter verwendeten Begriffe unsere systematischen Distinktionen unbeachtet lassen, ist und bleibt sekundär –, eben weil man diese Geschichte aufgrund ihrer prinzipiellen Verfügbarkeit stets anders machen kann, insofern auch stets hätte anders machen können oder anders machen können wird. Nicht Notwendigkeit bestimmt demnach die menschliche Geschichte, sondern Kontingenz und Zufall, insofern diese menschliche Geschichte prinzipiell unbeschränkt verfügbar ist. In diesem Fall artikuliert also die Semantik von historischer Kontingenz und historischem Zufall – unabhängig von den semantischen Binnendifferenzen zwischen einem verfügbaren Möglichen und einem verfügbaren Wirklichen – justament jene prinzipiell unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte. Die differentia specifica dieser ersten Variante einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall im Namen der Verfügbarkeit von Geschichte ließe sich mit einer begrifflichen Distinktion und systematischen Unterscheidung, welche Odo Marquard einmal im Kontext seiner „Apologie des Zufälligen“ im Namen menschlicher Endlichkeit formuliert hat, besonders prägnant konturieren und zugleich von der zweiten Variante unterscheiden: Marquard differenziert in seinem Aufsatz „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, der auf einem 1984 gehaltenen Vortrag beruht, grundsätzlich zwischen dem „Schicksalszufälligen“ und dem „Beliebigkeitszufälligen“ oder 1998 in seinem „Vorwort“ zu dem von ihm mit herausgegebenen Tagungsband der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik mit dem Titel Kontingenz zwischen „Schicksalskontingenz“ und „Beliebigkeitskontingenz“.246 Marquard versteht dabei das Beliebigkeitszufällige oder die Beliebigkeitskontingenz als das, was auch an246

Marquard wiederholt insofern in dem „Vorwort“ seine schon in „Apologie des Zufälligen“ formulierte Unterscheidung von „Schicksalszufälligem“ und „Beliebigkeitszufälligem“ und spricht nun in genau bedeutungsidentischem Sinne von „Schicksalskontingenz“ und „Beliebigkeitskontingenz“. Dass diese Begrifflichkeit insofern problematisch ist, als so ebenjene These suggeriert wird, der wir im ersten Kapitel dieser Arbeit mit begriffsgeschichtlichen Argumenten widersprochen hatten, die These, dass Kontingenz und Zufall identisch zu verwendende Begriffe seien, sei hier ausdrücklich vermerkt. Ich kann darin aber keinen prinzipiellen Einwand gegen den theoretischen Gehalt von Marquards Distinktion erkennen.

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ders sein und dabei von uns geändert werden könnte. Dem Beliebigkeitszufälligen oder der Beliebigkeitskontingenz stellt Marquard nun das Schicksalszufällige oder die Schicksalskontingenz gegenüber, welche ein Geschehen oder einen Zustand umschreiben, der auch anders sein könnte, aber eben gerade nicht von uns geändert werden kann: Überträgt man Marquards theoretische und terminologische Distinktion auf die uns in diesem Kapitel und in diesem Abschnitt allein interessierende Sphäre der menschlichen Geschichte, dann lässt sich von historischem Zufall und historischer Kontingenz sowohl im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren und in diesem Sinne von einem Beliebigkeitszufälligen oder von einer Beliebigkeitskontingenz als auch im Sinne eines unhintergehbar Unverfügbaren und in diesem Sinne von einem Schicksalszufälligen oder von einer Schicksalskontingenz sprechen.247 Wurde nun ein solches, womöglich heute ganz und gar sonderbar erscheinendes Plädoyer für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer unbeschränkten Verfügbarkeit jemals formuliert? – Ja. Die Geschichtstheorie der Romantik ist in meinen Augen das paradigmatische Beispiel einer solchen theoretischen Rehabilitierung von

247

Vergleiche hierzu Odo Marquard, „Vorwort“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. xi–xvi. Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 117–139. Bezüglich der terminologischen Plausibilität von Marquards Differenzierungsversuch mögen zurecht Zweifel angemeldet werden. Besonders der Begriff des „Schicksalszufälligen“ oder der „Schicksalskontingenz“ scheint nicht besonders glücklich gewählt zu sein. Denn der Begriff des Schicksals suggeriert doch gerade eine gewisse Form von Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit jener unverfügbaren Begebenheiten des Schicksals, scheint sich also der Konnotation des Zufälligen gerade zu entziehen. Diese Konnotation des Schicksalsbegriffs findet sich bei Marquard übrigens auch artikuliert, wenn er ausdrücklich und allein von „Schicksal“ spricht. Georg Simmel meinte einmal in diesem Sinne, dass wir, indem wir etwas als Schicksal betrachten, seine Zufälligkeit doch gerade aufheben. Und ähnlich hatte es Schillers Wallenstein gesehen, als er Schicksal und Zufall in Wallensteins Tod kontrastierte, ein lebenrettendes „Pfand vom Schicksal“ für sich persönlich reklamierte, die Existenz eines Zufalls aber gerade bestritt: Es gibt keinen Zufall, Und was uns blindes Ohngefähr nur dünkt, Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen. Eine andere, an einen von Michael Theunissen formulierten Befund anschließende Rückfrage an die terminologische Plausibilität des Begriffs der Schicksalskontingenz oder des Schicksalszufälligen zielt in folgende Richtung: Erweckt der Begriff des Schicksals tatsächlich nur Assoziationen an etwas Unverfügbares, welches uns widerfährt, spielt er nicht auch auf etwas an, das wir durch unser schuldhaftes Tun auslösen, also in gewisser Weise auch hätten vermeiden können? Eine solche Auffassung des Schicksals als zumindest partiell immer auch beeinflussbar wäre aber weder mit Marquards Verständnis des Schicksalsbegriffs noch mit Marquards Begriff des Schicksalszufälligen in Einklang zu bringen. Vergleiche hierzu: Odo Marquard, „Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren“ (1977), in: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1991, S. 68. Georg Simmel, „Das Problem des Schicksals“ (1913), in: Gesamtausgabe, Band 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Band I, herausgegeben von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt am Main 2001, S. 486. Friedrich Schiller, Wallensteins Tod, Stuttgart 2003 (1799), S. 33 bzw. 34. Michael Theunissen, Schicksal in Antike und Moderne, München 2004, S. 27.

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Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer unbeschränkten Verfügbarkeit, gleichviel, wie sie dieses verfügbare Moment menschlicher Geschichte auf den Begriff bringt. Diese Sichtweise der Romantik will ich im Einzelnen nicht in diesem, sondern erst im ersten Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit begründen und illustrieren. Nicht in diesem ersten, allein begriffsgeschichtlichen Präzisierungen gewidmeten Teil der Arbeit, sondern erst im zweiten, ideengeschichtliche Fallstudien und Skizzen entwerfenden Teil dieser Arbeit will ich daher – im Kontext der Frage nach der geschichtstheoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der so genannten „Sattelzeit“ (Koselleck) – auf die impliziten wie expliziten geschichtstheoretischen Thesen und Themen der Romantik eingehen und zu zeigen versuchen, inwiefern die Romantik im Allgemeinen und die romantische Geschichtstheorie im Besonderen die menschliche Geschichte als prinzipiell von Zufall und Kontingenz charakterisiert deutet, eben weil ihr diese Geschichte als unbeschränkt verfügbar erscheint.248 Gab es Formen einer solchen theoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer Verfügbarkeit auch im 20. Jahrhundert? – Ja, wobei ich diesbezüglich weniger an einzelne Autoren, Historiker oder Philosophen und weniger an ausgearbeitete geschichtstheoretische Ansätze denke, denn vielmehr an politisch und kulturell radikale Weltanschauungen und Strömungen, die das 20. Jahrhundert in ganz unbestreitbarer Weise geprägt haben. Ich will auf die genannte Frage hier nicht genauer eingehen, habe ich doch in meiner Arbeit Pragmatismus und Faschismus. Kreativität und Kontingenz in der Moderne ausführlich besprochen, inwiefern sich die Weltanschauung des Faschismus in der Tat als gleichsam voluntaristische Radikalisierung eines Plädoyers für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer Verfügbarkeit verstehen lässt. In dieser Arbeit habe ich ebenfalls für das geschichtstheoretische Denken Georges Sorels ausführlich die Relevanz der Vorstellung einer Verfügbar- und Machbarkeit von Geschichte belegt.249 Auch die geschichtstheoretischen Äußerungen Benito Mussolinis lassen sich, so belegte ich in einem anderen Kapitel dieser Arbeit anhand einer Reihe von Zitaten, unschwer in ähnlicher Weise deuten250 , wobei es eben sehr bezeichnend ist, dass für beide, Sorel wie Mussolini, die Gewalt Garant wie Beleg für die unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte ist. Einen weiteren Hinweis auf die soeben gestellte Frage entnehme ich Isaiah Berlins an überaus zahlreichen Stellen seines Werkes bekundete, freilich immer nur angedeutete, nie systematisch elaborierte Interpretation des kulturellen und sozialen Aufbruchs ab den späten 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA und Westeuropa als Spätform eines romantischen Expressivismus und einer spezifisch romantischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte. In der Tat lassen sich das Pathos und das Sendungsbewusstsein einer heutzutage stets mit dem Jahr 1968 assoziierten kulturellen und politischen Bewegung als eine weitere, nun freilich in ein politisch ganz anderes Extrem getriebene Artikulation einer Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer vollständigen Verfügbarkeit interpretieren, 248 249

250

Vergleiche dazu das fünfte Kapitel dieser Arbeit, S. 393–447. Peter Vogt, Pragmatismus und Faschismus. Kreativität und Kontingenz in der Moderne, Weilerswist 2002, S. 103–135. Ebd., S. 282–307.

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zumal dann, wenn man noch die Rolle einer politisch dezidiert links auftretenden existentialistischen Emphase für diese Bewegung, insbesondere für den Mai 1968 in Frankreich berücksichtigt. Denker wie Frantz Fanon oder Jean-Paul Sartre kämen so als weitere Protagonisten einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer unbeschränkten Verfügbarkeit in Betracht. Ferner ließen sich wohl auch ein revolutionär gestimmter Marxismus, wie er sich etwa im Leninismus, im Maoismus oder in verschiedenen antikolonialistischen Befreiungsbewegungen artikulierte, als ein im 20. Jahrhundert formulierter Ausdruck einer radikal voluntaristischen Auffassung von Geschichte als prinzipiell verfügbar interpretieren. Andererseits kann sich der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall auf die zwar nicht ausschließliche, wohl aber unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte berufen. Geschichte folgt demnach keinem Libretto historischer Notwendigkeit, wäre demnach kontingent und zufällig – erneut folgen hier die realiter verwendeten Begriffe, wie wir sehen werden, nicht unseren systematischen Distinktionen –, eben weil man diese Geschichte aufgrund ihrer zwar nicht ausschließlichen, wohl aber unhintergehbaren Unverfügbarkeit gerade nicht stets so machen kann, wie dies beliebt. Geschichte wäre demnach kontingent und zufällig, insofern sie – wenn nicht restlos, so doch unhintergehbar immer auch – unverfügbar ist. Nicht Notwendigkeit bestimmt demnach die menschliche Geschichte, sondern Kontingenz und Zufall, insofern diese menschliche Geschichte unhintergehbar unverfügbar ist. In diesem Fall artikuliert also die Semantik von historischer Kontingenz und historischem Zufall – unabhängig von den semantischen Binnendifferenzen zwischen einem unverfügbaren Möglichen und einem unverfügbaren Wirklichen – justament jene unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte. Wurde nun ein solches, womöglich heute ganz und gar sonderbar erscheinendes Plädoyer für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer Unverfügbarkeit jemals formuliert? – Ja. Blicken wir zunächst auf die historische Epoche der Sattelzeit, so wie wir dies ja auch bereits für die Beantwortung dieser Frage hinsichtlich der Affirmation von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer Verfügbarkeit taten, dann lässt sich meines Erachtens der Historismus als das paradigmatische Beispiel für ein solches Plädoyer für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer Unverfügbarkeit interpretieren. Romantik und Historismus wären demnach als die beiden sattelzeitlichen, gegen bestimmte Formen einer geschichtstheoretischen Präsumtion historischer Notwendigkeit gerichteten Versionen der Affirmation einer auf die Sphäre der menschlichen Geschichte bezogenen Kontingenz und eines auf die Sphäre der menschlichen Geschichte bezogenen Zufalls zu interpretieren. Zwei Versionen mithin, die sich zwar einig sind in ihrem Protest gegen jede Form eines historischen Nezessarismus, dabei aber eben nun denkbar konträre Argumentationen entwickeln und insofern die geschichtstheoretische Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte entweder im Namen einer beliebig verfügbaren oder im Namen einer unbeliebig unverfügbaren Geschichte intendieren. Aber nicht nur auf das romantische Plädoyer für die unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte, sondern auch auf das historistische Plädoyer für die, wenn auch nicht ausschließliche, so doch immer auch unhintergehbare Unverfügbarkeit von

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Geschichte möchte ich nicht in diesem ersten, allein begriffsgeschichtlichen Präzisierungen gewidmeten Teil, sondern erst im zweiten, ideengeschichtliche Fallstudien und Skizzen entwerfenden Teil dieser Arbeit eingehen, indem ich dann im Kontext der Frage nach der geschichtstheoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Sattelzeit die auf die menschliche Geschichte bezogene Auffassung von Kontingenz und Zufall des Historismus mit derjenigen der Romantik kontrastiere und dies im Rückgriff auf im 20. Jahrhundert formulierte Interpretationen des Historismus und der Romantik wie auf die Originaltexte der Historisten und Romantiker im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert selbst tue.251 Gab es Formen eines solchen Plädoyers für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer Unverfügbarkeit auch im 20. Jahrhundert? – Ja. Doch diesbezüglich ist nun anders als anlässlich der Frage nach der geschichtstheoretischen Auffassungen einer Verfügbarkeit von Geschichte im 20. Jahrhundert weniger an kulturelle Strömungen und weltanschauliche Extreme, denn an einzelne, vergleichsweise harmlose, weil nur am Schreibtisch oder allenfalls am Kathederpult arbeitende Autoren zu erinnern und insofern an gänzlich andersartige Genres theoretischer Reflexion und literarischer Form. Auf diese gleichsam zeitgenössischen Vertreter eines geschichtstheoretischen Plädoyers für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer unhintergehbaren Unverfügbarkeit möchte ich aber nun in der Tat noch im weiteren Verlauf dieses dritten Kapitels des ersten Teils dieser Arbeit eingehen. Und allein auf diese. Insofern werde ich in den verbleibenden Passagen dieses Kapitels den Historismus noch nicht direkt oder ihn doch allenfalls am Rande oder nur indirekt erwähnen, nämlich anlässlich zeitgenössischer Deutungen des Historismus als geschichtstheoretische Kultivierung des unverfügbaren Moments von Geschichte zu Wort kommen lassen. So werde ich in Sektion (c) dieses dritten Abschnitts dieses Kapitels die theoretische Substanz eines Plädoyers für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Sinne und im Namen einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte zu ermitteln suchen, indem ich auf die diesbezüglich relevanten Äußerungen von zwei Philosophen, Hermann Lübbe und Wilhelm Schapp, aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und von einem Schriftsteller, Robert Musil, aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genauer eingehe, so aber auch die Geschichtsschreibung oder die geschichtswissenschaftliche Theoriebildung oder von Historikern selbst vorgenommene Bestimmungen von Zufall und Kontingenz in der Geschichte zumindest in diesem Zusammenhang vernachlässigen zu können glaube. Diese mangelnde Berücksichtigung der Geschichtswissenschaft mag Verwunderung und Erstaunen hervorrufen, ist aber dadurch bedingt, dass die Historiker selbst, abgesehen von eher beiläufigen und kursorischen Bemerkungen aus ihren Reihen, die in Sektion (a) des dritten Abschnitts des Kapitels immerhin Erwähnung finden sollen, abgesehen auch von jenen beiden Historikern, die freilich erst im nächsten und übernächsten Kapitel dieser Arbeit ausführlich behandelt werden, abgesehen also von Reinhart Koselleck und Arnd Hoffmann252 , das Thema von Kontingenz und Zufall in der Geschichte in den letzten 251

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Vergleiche dazu das gesamte fünfte Kapitel dieser Arbeit Historismus und Romantik: Das Verfügbare und das Unverfügbare in der Geschichte. Vergleiche dazu meine Diskussion von Arnd Hoffmanns geschichtstheoretischer Behandlung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im nächsten Kapitel dieser Arbeit, S. 325–341, sowie

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Dekaden souverän ignoriert haben. Musil wie Lübbe wie Schapp sprechen hingegen durchaus, so wird sich zeigen, wenn auch in unterschiedlich expliziter Weise von Zufall und von Kontingenz in der Geschichte und freilich auch in Geschichten. Unabhängig von ihrem Wortgebrauch eint die drei letztgenannten Autoren ferner, dass sie auf der Unverfügbarkeit sowohl von Geschichte als auch von Geschichten theoretisch beharren und diesen Befund wiederum sowohl als Indiz für die Grenzen historischer Notwendigkeit bewerten als auch schließlich als Argument für die Widerlegung der Idee einer vollständigen Verfügbarkeit von Geschichte nutzbar machen. Komplett vernachlässigen möchte ich, wie soeben angedeutet, die von Historikern selbst vorgenommene oder im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Theoriediskussionen formulierte Thematisierung einer auf die Sphäre der menschlichen Geschichte bezogenen Semantik von Kontingenz und Zufall in dieser Arbeit also nicht. Zwar kann ich einer Thematisierung derartiger Provenienz keine wirklich zentrale Rolle für meine Argumentation in diesem dritten Abschnitt dieses Kapitels zubilligen. Immerhin und auf einer gleichsam anekdotischen Ebene möchte ich aber diesen dritten Abschnitt des Kapitels eröffnen, indem ich – bevor in einem systematischen Sinne das anti-nezessaristische Fundament aller geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte gleich welcher Variante und bevor das im 20. Jahrhundert von zwei Philosophen und einem Schriftsteller formulierte Plädoyer für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen einer wenn auch nicht ausschließlichen, so doch unhintergehbar immer auch unverfügbaren Geschichte geklärt werden soll – gleichsam als Einstimmung für die dann folgenden systematischen Erörterungen belege und illustriere, dass Kontingenz und Zufall in der Geschichte keinesfalls nur Faszinosum für Philosophen oder Tremendum für Geschichtsphilosophen und Historiker oder Stimulus für Romanciers war, sondern durchaus und immer wieder einzelne Historiker, wiewohl auch nicht die Zunft der Historiker im Allgemeinen253 , theoretisch in den Bann gezogen und zu einer Wesensbestimmung vor allem und vorrangig des historischen Zufalls gereizt hat.254 Auch auf dieser anekdotischen Ebene werde ich mich indes in dieser ersten Sektion (a) des dritten Abschnitts dieses Kapitels – so wie dies auch die Sektionen (b) und

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meine Diskussion von Kosellecks ambivalenter Thematisierung des historischen Zufalls, die mir wiederum den hermeneutischen Schlüssel für meine Interpretation der romantischen und historistischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall liefert, im übernächsten Kapitel dieser Arbeit, S. 349–358. Vergleiche zur tatsächlichen oder vermeintlichen Verdrängung des historischen Zufalls in der Geschichtsschreibung von Aufklärung und Historismus den einschlägigen und im fünften Kapitel dieser Arbeit ausführlich diskutierten Aufsatz von Reinhart Koselleck. Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ (1968), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1983, S. 158–176. Der Kontingenzbegriff oder der Begriff historischer Kontingenz spielt im Kontext der Geschichtswissenschaft eine deutlich geringere Rolle als der Zufallsbegriff oder der Begriff des historischen Zufalls. Aber wir betonten am Beginn dieses dritten Kapitels ausdrücklich und in den einleitenden Bemerkungen zu diesem dritten Abschnitt des Kapitels dann erneut, dass die realiter von wem in welcher Weise auch immer verwendeten Begriffe nicht unseren systematischen Distinktionen und auch nicht der systematischen Substanz dessen, was mit Kontingenz und Zufall in der Geschichte überhaupt gemeint sein kann, zu folgen haben.

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(c) des dritten Abschnitts dieses Kapitels prägen wird – allein auf Autoren des 20. Jahrhunderts beschränken, also nicht auf die Historiographie des 19. Jahrhunderts und mithin auch noch nicht auf die Historiographie des Historismus im engeren Sinne eingehen. (a) In einem kurzen Text von 1942 attestierte Friedrich Meinecke Ranke, also zweifellos einem Protagonisten des Historismus, die Rolle des Zufalls in der Geschichte anerkannt zu haben, konstatierte aber zugleich, dass und wie Ranke diese Rolle des Zufalls mit seiner providentiellen Geschichtstheologie in Einklang zu bringen versucht habe, Ranke einerseits die Überzeugung an eine in der Geschichte wirkende göttliche Vorsehung nicht in der Weise radikalisiert habe, dass ihm dabei die schlichte Existenz des Zufalls zweifelhaft geworden wäre, Ranke andererseits seine Überzeugung von der göttlichen Vorsehung niemals in einer Weise konkretisiert habe, die ihn dazu gezwungen hätte, den Zufall als geschichtstheoretisches Medium der göttlichen Vorsehung instrumentalisieren zu müssen: „Ranke aber hat dem Zufall einen gewissen Platz in seinem Geschichtsbilde eingeräumt. […] Für Ranke war die Rolle des Zufalls in der Geschichte erträglich, weil er an eine göttliche Providenz, die über ihr im ganzen walte, glaubte. Und weil er gerechte Scheu trug, diese Providenz im einzelnen nachzuweisen, so kam er auch um die Verlegenheit herum, die vielen Falten, die der Zufall in das Gewebe der wirklichen Geschichte wirft, glatt ausbügeln zu müssen.“255 Die göttliche Providenz suspendiert gemäß Meineckes Ranke-Interpretation gerade davon, die unbestreitbare Existenz des Zufalls geschichtstheoretisch aufheben zu müssen. Die Überzeugung von der Existenz eines historischen Zufalls lässt ihrerseits die Vorstellung einer geschichtsphilosophisch zu konkretisierenden providentia specialis nicht mehr zu. Nun, ganz unabhängig von der Frage, ob Meinecke Ranke zurecht attestierte, „dem Zufall einen gewissen Platz in seinem Geschichtsbilde“ einzuräumen und das Verhältnis von Zufall und Vorsehung in einer plausiblen Weise auszusöhnen, finden wir doch, und damit gelangen wir nun zur Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und ihrer Thematisierung oder Diskussion des historischen Zufalls, immer wieder auch bei Meinecke selbst Passagen, in denen dieser die Rolle des Zufalls in der Geschichte betont und eine positive Würdigung dieser Rolle vornimmt: Unmittelbar im Anschluss an die soeben zitierte, Ranke interpretierende Stelle legt sich Meinecke selbst – anders als Ranke – die Frage vor, wie sich der historische Zufall darstellt, wenn dieser nicht mehr als mit einer göttlichen Providenz in einem wie auch immer gearteten Verhältnis befindlich gedacht wird: „Wie wird sich aber der Historiker, dem der Glaube an die göttliche Providenz über der Geschichte abhanden gekommen ist, zum Zufall in der Geschichte und seinen mancherlei Tücken stellen? Er muß ihn hart und entschlossen anerkennen als einen der geschichtlichen Grundfaktoren, als eine Pforte, durch 255

Friedrich Meinecke, „Ranke“ (1942), in: Werke. Band IV: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1959, S. 262.

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die etwas Sinnloses in die Geschichte immer einzubrechen droht und oft genug auch eingebrochen ist.“256 Der Zufall erscheint bei Meinecke demnach als irrationales und residuales factum brutum einer durch keine theoretische Konstruktion aufzulösenden Sinnlosigkeit der Geschichte, aber eben doch auch als ein in einem empirischen Sinne ganz unbestreitbarer „Grundfaktor“ der Geschichte.257 Ganz ähnlich wie Meinecke behauptet auch Theodor Schieder nach dem zweiten Weltkrieg in Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung und dort in dem Kapitel „Die Fragestellungen der Geschichte“ sowohl die empirische Unbestreitbarkeit als auch die alle Sinnerwartungen oder Sinnstiftungen konterkarierende Rolle des historischen Zufalls: „Im Zufall tritt uns die Unberechenbarkeit in der Geschichte in ihrer absolutesten Form als das völlig Unerwartete, Regelwidrige, als die Entscheidung durch Kräfte entgegen, die außerhalb einer großen Kontinuitätsreihe an der Peripherie fallen oder diese Kontinuitätsreihe plötzlich abreißen lassen.“258 So wie Meinecke verweist auch Schieder auf Ranke als denjenigen Historiker und Vertreter des Historismus, der sich des Zufalls thematisch stets besonders angenommen habe. Anders als Meinecke freilich, der Ranke ja dafür lobte, aufgrund seines nicht geschichtsphilosophisch imprägnierten Glaubens an eine wie auch immer in der Geschichte waltende göttliche Providenz die Falten des Zufalls im Gewebe der Geschichte gerade nicht ausgebügelt zu haben, erblickt Schieder in Rankes Geschichtsschreibung die Gefahr, eine historistische Sensibilität für den Zufall zu transformieren in eine Sichtweise von Geschichte, der zufolge all jene Irrungen und Wirrungen der Geschichte namens Zufall keinesfalls autark, sondern schließlich und endlich doch nichts anderes als Handlanger der göttlichen Vorsehung sind. Schieder zufolge opfert Ranke also seine grundsätzliche geschichtstheoretische Sensibilität für die Rolle des historischen Zufalls im Sinne der historistischen Tradition auf dem Altar der göttlichen Vorsehung. Schieder verweist für diese seine Interpretation exemplarisch auf die folgende Passage aus Rankes Weltgeschichte, in welcher Ranke den Entschluss Alexanders des Großen, seine Eroberungszüge auch gen Asien zu richten, mit folgenden Worten kommentiert: „Nun aber durfte er schon wegen der Verflechtung der griechischen und persischen Angelegenheiten, wie sie im Moment vorlagen, keinen Augenblick verlieren, seine Waffen auch nach Asien zu richten. Von jeher ist man der Meinung gewesen, Alexander habe seine Regierung mit der Absicht angetre256 257

258

Ebd., S. 262. Zu dem Vorwurf, Meineckes geschichtstheoretische Akzeptanz des Zufalls stelle eine Sublimierung der deutschen Niederlage im zweiten Weltkrieg dar, vergleiche meine anlässlich des Melier-Dialogs formulierte Diskussion von E. H. Carrs Invektive gegen Meineckes Zufallsaffirmation sowie des von verschiedenen Autoren immer wieder geäußerten Topos, die Sieger der Geschichte kennten keinen Zufall, der Rekurs auf den Zufall charakterisiere die Verlierer der Geschichte, im zweiten Kapitel dieser Arbeit, Anmerkung 113, S. 106 f. Theodor Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung. München/Wien 1965, S. 50.

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W, N, G: D S  K  Z ten, das persische Reich umzustürzen; er habe darin gleichsam seinen Beruf gesehen. Ich möchte das doch nicht unbedingt wiederholen; aber der Zug der Dinge führte ihn nach und nach dahin.“259

Gegen Rankes wörtliche Apostrophierung eines in der Geschichte wirksamen „Zugs der Dinge“ und gegen eine geschichtstheoretische Eskamotierung des Zufalls allgemein beharrt Schieder so wie Meinecke auf dem „geschichtlichen Grundfaktor“ (Meinecke) des Zufalls und auf der durch keinerlei gedankliches Konstrukt aufzuhebenden Irrationalität des historischen Zufalls: „Zufall tritt uns also in der Geschichte meist als ein Ereignis von umwälzender Bedeutung gegenüber, für das wir innerhalb einer bis dahin ununterbrochenen Wirkungseinheit oder Kausalreihe keinen ‚Sinn‘ finden können, wie die Ermordung Heinrichs IV. von Frankreich, der Schlachtentod Gustav Adolfs bei Lützen oder aus moderner Zeit die Ermordung des amerikanischen Präsidenten Kennedy.“260 Auch den Althistoriker Eduard Meyer trieb am Beginn des 20. Jahrhunderts eine grundsätzliche geschichtstheoretische Reflexion in dem Aufsatz „Zur Theorie und Methodik der Geschichte“ zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit Wesen und Rolle des historischen Zufalls, auch er erblickte die entschiedenste Akzeptanz des historischen Zufalls in der Geschichtstheorie des Historismus, und auch ihn drängte dies zu einer Behandlung der Frage, wie sich etwa bei Ranke Historismus, Zufallsthematisierung und Bestimmung des göttlichen Einflusses auf die Geschichte verhielten. Meyer neigt dabei insofern stärker Meineckes Interpretation zu, als er behauptet, Ranke als strenggläubiger Christ habe „doch niemals einer theologisierenden Auffassung der Geschichte, welche etwa in ihr die Verwirklichung eines göttlichen Planes aufzeigen wollte, Raum gegeben“261 . Unabhängig nun von dieser Interpretation von Rankes Geschichtsdenken, welche die grundsätzliche Differenz von historistischem Geschichtsbild und einer Auflösung von Geschichte in Heilsgeschichte betont und die Wahrung dieser Differenz einem der bedeutendsten Vertreter des Historismus unterstellen zu können meint, bezeichnet Meyer in dem genannten Aufsatz den Zufall in einem ganz sachlichen Sinne als ein unhintergehbares empirisches Charakteristikum der Geschichte. Hingegen glaubt er die historiographische Eskamotierung des historischen Zufalls, wie er sie in einer späteren Fassung seines Aufsatzes von 1910 vor allem einem von Lamprecht beeinflussten Verständnis von Kulturgeschichte unterstellt, als Wesensmerkmal einer Geschichtsschreibung auffassen zu dürfen, welche die Mannigfaltigkeit und Vielfalt des historischen Lebens in unzutreffender Weise verkürzt und verfälscht. Denn der Zufall spiele doch, so Meyer, 259 260 261

Hier zitiert nach ebd., S. 53. Ebd., S. 51. Eduard Meyer, „Zur Theorie und Methodik der Geschichte“ (1902), in: Kleine Schriften zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums, Halle 1910, S. 26.

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„auch im historischen Leben eine ungeheure Rolle, die durch einige wenige Beispiele zu erläutern nur darum erforderlich scheint, weil immer wieder der Versuch gemacht wird, die Bedeutung des Zufalls in der Geschichte zu bestreiten oder doch nach Kräften zu beschränken. Es ist ein Zufall, dass die Attentate auf Wilhelm I. und Bismarck missglückt sind, die auf Philipp von Makedonien, Caesar, Alexander II. von Russland nicht, dass Gustav Adolf bei Lützen gefallen ist, andere Feldherrn, die sich in Schlachten eben so sehr exponiert haben, dagegen nicht, dass Alexander der Große oder Kaiser Friedrich III. auf der Höhe ihres Lebens von Krankheiten hingerafft wurden, dass in beiden Zweigen des Hauses Habsburg die männliche Linie rasch hinter einander ausgestorben ist, dass der für tot geborene Goethe zum Leben erweckt wurde, dass Raffael und Schiller früh gestorben sind, Michelangelo und Goethe ein hohes Alter erreicht haben, dass die Hohenzollerndynastie, statt die Entartung durchzumachen, in welche die Bourbonen, die Wettiner und andere Fürstenhäuser versanken, in Friedrich Wilhelm I. eine tatkräftige, von der Bedeutung ihrer Aufgaben durchdrungene Persönlichkeit und in Friedrich d. Gr. einen Genius erzeugt hat; und alle diese Zufälle und tausend andere sind ausschlaggebend geworden für die gesamte geschichtliche Entwickelung, sie haben eine Wirkung geübt oft weit über ihre Zeit und ihr Volk hinaus, die noch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden zu spüren ist. – Wer diese Tatsachen nicht in ihrer grundlegenden Bedeutung für das historische Leben anerkennt und Zufall und freien Willen aus der Geschichte hinausweisen oder auf unwesentliche Elemente reduzieren will, der vernichtet nicht nur ihr ganzes reiches Leben, alles das, was den Hauptgegenstand des historischen Interesses bildet, sondern er hebt ihr Wesen vollständig auf und ersetzt sie durch Formeln“262 . Auch Reinhard Wittram, um nun damit wieder zu einem Zeitgenossen Schieders und zur Zufallsthematisierung der deutschsprachigen Geschichtsschreibung in der Nachkriegszeit zurückzukehren, bekennt sich in seinen 1958 unter dem Titel Das Interesse an der Geschichte veröffentlichten „zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses“ ganz grundsätzlich zu der unbestreitbaren Existenz des historischen Zufalls als einem der „geschichtlichen Grundfaktoren“ (Meinecke). Und auch Wittram erblickt im Zufall ein Einfallstor für das Unerwartete, Unberechenbare, „Regelwidrige“ (Schieder) oder das „Sinnlose“ (Meinecke) in der Geschichte: „Kein Geschichtsablauf ist von ursprünglichen Anlagen und Einrichtungen absolut erkennbar determiniert, immer, zu jeder Stunde, ist das Unberechenbare wirksam. […] Der Geschichtsbetrachter begegnet dem Zufall am unmittelbarsten dort, wo die persönlichen Schicksale walten: Geburt und Tod, Krankheit und langes Leben, treffende oder fehlgehende Kugeln, das Blitzen der genialen Begabungen oder das Ausbleiben des Blitzes, Sinneswandel oder Verstockung, Kraft und Schwäche.“263 262 263

Ebd., S. 27 f. Reinhard Wittram, Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses, Göttingen 1958, S. 13.

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Im Anschluss an diese Passage sucht Wittram das genuine Moment dieses historischen Zufalls dadurch genauer zu bestimmen, dass er den Begriff des historischen Zufalls jener geschichtstheoretischen Kategorie einer historischen Entwicklung kontrastiert, die insbesondere für den Historismus konstitutiv war: „[…] der Wirkungsradius des Ereignisses, das nicht aus dem Vorausgegangenen abgeleitet werden kann, des unberechenbaren ‚contigit‘, kann wesentlich größer sein, als es auf den ersten Blick scheinen will. Es gibt solche Einschläge, die nicht nur einen Trichter bohren, sondern in weitem Umkreis die Erdoberfläche umgestalten, es gibt große und kleine Wendepunkte, die sich nicht als Entwicklung verstehen oder gerade im Entscheidenden nicht auf Entwicklung zurückführen lassen.“264 Kann sich die geschichtstheoretische Affirmation des historischen Zufalls also auf die Tradition des Historismus berufen, wie dies Meinecke und Schieder mit ihren Hinweisen auf Ranke unterstellen, oder ist sie dieser Tradition geradezu entgegengesetzt, wie Wittram zu suggerieren scheint? Wir werden diese Frage im ersten Kapitel des zweiten Teils ausführlich behandeln und dadurch zeigen, dass wir einerseits prinzipiell zwischen zwei möglichen Varianten, historischen Zufall und historische Kontingenz zu verstehen, differenzieren und dass wir andererseits mit Hilfe dieser, im Zuge der bisherigen Argumentation ja schon mehrfach angedeuteten Distinktion genauer den Historismus des 19. Jahrhunderts interpretieren.265 Um an dieser Stelle unsere bislang allein anekdotisch und episodisch verfahrende Einstimmung auf die sogleich in den Sektionen (b) und (c) des dritten Abschnitts dieses Kapitels folgende, systematische Diskussion von Kontingenz und Zufall in der Geschichte abzuschließen, seien abschließend noch einige Beispiele für die Thematisierung historischer Kontingenz und historischen Zufalls außerhalb der deutschsprachigen Historiographie genannt, die zudem den terminologischen Radius unserer bisherigen Bemerkungen nun tatsächlich auch um die Begriffe von „contingent“ oder „contingency“ erweitern. Der englische Historiker H. A. L. Fisher etwa betont in dem ursprünglich 1934 verfassten Vorwort zu seiner dreibändigen History of Europe die Relevanz historischer Kontingenz und weigert sich, dieses Kontingente einem „predetermined pattern“ zu opfern: „Men wiser and more learned than I have discerned in history a plot, a rythm, a predetermined pattern. These harmonies are concealed from me. I can only see one emergency following upon another as wave follows wave, only one great fact with respect to which, since it is unique, there can be no generalizations, only one safe rule for the historian: that he should recognize in the development of human destinies the play of the contingent and the unforeseen.“266

264 265 266

Ebd., S. 14. Vergleiche hierzu S. 364–393 des fünften Kapitels dieser Arbeit. H. A. L. Fisher, „Preface to the Original Three-Volume Edition of A History of Europe“ (1934), in: A History of Europe from the Earliest Times to 1713, London 1952, S. vi.

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Aber auch in der französischen Historiographie wurde dem Zufall in der Geschichte immer wieder die Ehre gegeben. So eröffnet Raymond Aron sein geschichtstheoretisches Hauptwerk, die Schrift Introduction à la philosophie de l’histoire. Essai sur les limites de l’objectivité historique, mit einer Auseinandersetzung mit den Schriften Cournots und der darin formulierten Dichotomie von „ordre“ und „hasard“, um anschließend zu folgern: „Le fait historique est, par essence, irréductible à l’ordre: le hazard est le fondement de l’histoire.“267 Arons Aussage lässt sich ein bemerkenswerter Reputationsgewinn des historischen Zufalls entnehmen. Galt allen bislang zitierten Stimmen unseres Überblicks über die Zufallsthematisierung in der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts der historische Zufall doch stets, dies machte seine Charakterisierung als sinnlos (Meinecke), als regelwidrig und unerwartet (Schieder), als unberechenbar (Wittram), als „unforeseen“ (Fisher) zu Genüge deutlich, als ein zwar unhintergehbares und für alle Geschichte konstitutives Residualphänomen, nicht aber als ein die Geschichte konstituierender Faktor, so deutet Arons Formel vom Zufall als „fondement de l’histoire“ eine ungleich radikalere Sichtweise an. Im Übrigen findet sich diese Radikalisierung des geschichtstheoretischen Valeurs des historischen Zufalls in der folgenden Formulierung von Michel Foucault wohl ebenfalls angedeutet: „Die Kräfte im Spiel der Geschichte gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern dem Zufall des Kampfes.“268 (b) So viel zu dem lediglich illustrativen Zwecken dienenden Nachweis, dass historischer Zufall und historische Kontingenz, wiewohl sie die methodischen oder geschichtstheoretischen Diskussionen der Historiographie des 20. Jahrhunderts keinesfalls bestimmten oder in entscheidender Weise prägten, immer wieder vereinzelt auch die Historiker zu einer theoretischen Reflexion nötigten, welche die Existenz des historischen Zufalls sowohl konzedierte wie auch interpretierte und insofern immer schon mit dem Gedanken historischer Notwendigkeit brach. Freilich, insbesondere wenn wir berücksichtigen, dass jeder Versuch einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall zwingend durch einen Protest gegen eine wie auch immer zu verstehende Präsumtion historischer Notwendigkeit inauguriert wird, die theoretisch 267

268

Raymond Aron, Introduction à la philosophie de l’histoire. Essai sur les limites de l’objectivité historique Paris 1986 (1938), S. 20. Es bleibt meines Erachtens unklar, ob Aron an dieser Stelle lediglich einen Gedanken Cournots paraphrasiert oder selbst eine eigene geschichtstheoretische Position formuliert. Interessant ist in jedem Falle, dass gerade bei einem Autor wie Aron, dessen Schriften stets durch eine höchst sensible Aufmerksamkeit für die deutsche Tradition der Geisteswissenschaften gekennzeichnet waren, die Diskussion des historischen Zufalls eine geschichtstheoretische Prominenz erlangt, die einer ausführlicheren Interpretation bedürfte, als ich dies hier leisten kann. Vergleiche hierzu auch: Raymond Aron, La philosophie critique de l’histoire. Essai sur une théorie allemande de l’histoire, Paris 1988 (1938). Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971), in: Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 98. Im Original spricht Foucault vom „hasard de la lutte“. Vergleiche dazu Michel Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“ (1971), in: Dits et écrits 1954–1988. Tome II 1970–1975, Paris 1994, S. 136–156.

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raffiniertesten Formen und wirkungsmächtigsten Exempla dieses Protests aber nun gerade außerhalb der Historiographie im strikten Sinne formuliert wurden, bestätigt sich der Befund, dass Historiographie und Geschichtstheorie zumindest im 20. Jahrhundert im Ganzen zu einer systematischen Bestimmung dessen, was mit einer auf die Sphäre der menschlichen Geschichte bezogenen Semantik von Kontingenz und Zufall in der Geschichte gemeint sein könnte, nicht nennenswert vorgedrungen sind. Nicht von der Geschichtswissenschaft oder der Geschichtsschreibung kann ein derartiger systematischer Bestimmungsversuch daher seinen Ausgang nehmen, wenn er sich auch der seltenen Beispiele einer ausführlichen Behandlung von historischem Zufall und historischer Kontingenz durch Historiker selbst ausführlich zu widmen hat.269 So möchte ich die Frage nach der inhaltlichen Substanz und den theoretischen Formen und freilich auch Varianten eines Protestes gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit anhand zweier Autoren diskutieren, welche zumindest einer im engen Sinne definierten Geschichtswissenschaft nicht zuzurechnen sind, anhand von Karl Poppers Schrift über Das Elend des Historizismus und anhand der im weitesten Sinne geschichtstheoretischen Essays des Frühwerks von Isaiah Berlin. Ihrer jeweiligen Version eines antinezessaristischen Geschichtsbildes lassen sich zwei besonders wirkungsmächtige und theoretisch raffinierte Weisen des Widerspruchs gegen eine auf eine bestimmte Weise gedeutete Vorstellung historischer Notwendigkeit entnehmen, ohne dass dabei freilich schon von historischem Zufall und historischer Kontingenz die Rede wäre. Worin besteht für Karl Popper in seinem 1957 erstmals auf Englisch als Monographie erschienenem Werk The Poverty of Historicism, dessen Konzeption und erste Niederschrift aber auf die 30er-Jahre zu datieren ist, das Elend dieses Historizismus? Was meint Popper mit dem immerhin doch recht missverständlichen Titel „historicism“, insofern er sich ja damit nicht auf die geisteswissenschaftliche oder geschichtstheoretische Tradition des Historismus, sondern auf geschichtsphilosophische Prognosen und Prophetien des zukünftigen Verlaufs der menschlichen Geschichte bezieht? Inwiefern unterstellt dieser Historizismus wiederum eine historische Notwendigkeit, der Popper widersprechen zu müssen meint? – Zunächst zur theoretischen Bestimmung des Popperschen „historicism“: Popper glaubt all jene Auffassungen der menschlichen Geschichte als historizistisch bezeichnen zu dürfen, die einerseits wie auch immer verstandene Gesetze historischer Notwendigkeit postulieren, andererseits eben aufgrund dieses Postulats historischer Notwendigkeit den zukünftigen Verlauf menschlicher Geschichte mit Gewissheit zu prognostizieren sich anmaßen. Historizismus in Poppers Sinne meint also immer zweierlei: Zunächst die geschichts- oder gesellschaftstheoretische Präsumtion, dass, wie Popper einmal formuliert, „die Gesellschaft sich zwangsläufig verändert, aber auf einer im voraus feststehenden Linie, die sich ihrerseits nicht ändern kann, durch Zwischenstadien hindurch, die mit unerbittlicher Notwendigkeit vorausbestimmt sind [Hervorhebung von mir; P. V.].“270 In diesem Sinne bezeichnet Popper auch die Auffassung, „dass die Aufgabe der Sozialwissenschaften in der Entdeckung des Entwicklungsgesetzes der Gesellschaft besteht“, als „zentrale 269

270

Vergleiche hierzu das gesamte vierte Kapitel zu Arnd Hoffmanns, S. 325–341, und im fünften Kapitel meine Ausführungen zu Kosellecks Thematisierung des historischen Zufalls, S. 349–358. Karl Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 2003 (1965), S. 45.

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Doktrin des Historizismus“271 . Diese Präsumtion historischer Notwendigkeit bleibt jenem Geschichtsmodell, welches Popper als Historizismus bezeichnet, aber kein folgenloses theoretisches Kalkül, denn sie findet sich im Historizismus kombiniert mit der Zuversicht, den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte anhand der sich in einer vermeintlich notwendigen Weise in die Zukunft erstreckenden Linien des Verlaufs der menschlichen Geschichte vorhersagen oder prognostizieren zu können. Geschichtstheoretische Diagnose und unterstellte historische Prognosefähigkeit amalgamiert der Historizismus laut Popper zu der für ihn zentralen Idee, dass die Beschäftigung mit Vergangenheit und Gegenwart, die Enthüllung der die Geschichte bestimmenden Gesetze historischer Notwendigkeit kein Selbstzweck ist, sondern „zur Enthüllung der politischen Zukunft beitragen soll“272 . Erst wer begriffen hat, wie sich in der vergangenen Geschichte in notwendiger Weise einst das eine aus dem anderen entwickelte, ja sich notwendig das eine aus dem anderen entwickeln musste, und wie sich in der Gegenwart in notwendiger Weise das eine aus dem anderen entwickeln muss, wird in der Lage sein, zutreffende Prognosen über den Verlauf der zukünftigen Geschichte treffen zu können. Insbesondere jene Variante des Historizismus, die Popper als die pronaturalistische – im Gegensatz zu einer antinaturalistischen – bezeichnet, diejenige, welche ihre historizistischen Prämissen und Überzeugungen durch eine an den Naturwissenschaften angelehnte oder eine den Naturwissenschaften nachgebildete Methode begründen zu können glaubt, also nicht ein von der naturwissenschaftlichen Methode kategorial zu unterscheidendes Vorgehen für die Fundierung ihrer eigenen theoretischen Ambitionen für nötig erachtet, soll dabei die Annahme auszeichnen, dass etwa Physik und Soziologie die Fähigkeit gemeinsam hätten, die Zukunft „mit Hilfe von Gesetzen und Überprüfungen der Gesetze durch Beobachtung“273 zu bestimmen. Das geschichtstheoretische Vertrauen des pronaturalistischen Historizismus in die eigene Prognosefähigkeit reklamiert so für den ihn eigentlich interessierenden Gegenstandsbereich, die Sphäre der menschlichen Geschichte, dieselbe Kompetenz wie die Naturwissenschaften für die Natur: „Wenn es der Astronomie möglich ist, Sonnenfinsternisse vorherzusagen, warum sollte es der Soziologie nicht möglich sein, Revolutionen vorherzusagen?“274 , diese rhetorische Frage formuliert der naturalistische Historizist und wischt im gleichen Atemzug alle Skepsis gegen eine solche Möglichkeit beiseite. Inwiefern Popper die Präsumtion historischer Notwendigkeit ebenso wie den Glauben an die Prognosefähigkeit von Geschichte als die beiden zentralen theoretischen Standbeine einer als „historicism“ zu etikettierenden Auffassung von Geschichte betrachtet, macht auch eine Bemerkung Poppers in einem der deutschen Erstausgabe des Buches von 1965 vorangestellten Vorwort deutlich, darin er ausdrücklich sagt, die „Grundthese“ seines Buches bestehe in der Überzeugung, „dass die Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit der reinste Aberglaube ist und bleibt, wie sehr sie sich

271 272 273 274

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

94. 37. 31. 32.

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auch als ‚wissenschaftlich‘ gebärden mag, und dass man den Lauf der Geschichte nicht rational voraussagen kann“275 . Doch warum sollte es der Soziologie eigentlich nicht möglich sein, Revolutionen vorherzusagen? Ja, warum eigentlich nicht? Worin besteht denn nun eigentlich laut Popper das theoretische Elend einer geschichtstheoretischen Position namens Historizismus, ihrer Präsumtion der Notwendigkeit wie der Prognostizierbarkeit von Geschichte, die geistige Armut einer geschichtstheoretischen Position, die Popper seinerzeit konkret vor allem dem Marxismus, aber auch jenen zyklischen Geschichtstheorien, wie sie im 20. Jahrhundert etwa von Spengler und Toynbee formuliert wurden, vorwirft? Mit Hilfe welcher Argumentation glaubt Popper einen solchen Historizismus kritisieren, ja geradezu widerlegen zu können? Diese Frage zu beantworten, also genau zu verstehen, worin denn eigentlich Poppers zentraler Einwand sowohl gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit wie auch gegen ein darauf beruhendes Zutrauen in die Prognosefähigkeit von Geschichte besteht, ist gar nicht so einfach, wie man zunächst meinen möchte. Zu sehr verstrickt sich Popper in seiner Schrift in wissenschaftstheoretische, wissenschaftshistorische, logische und methodologische Auseinandersetzungen, in Differenzierungen zwischen antinaturalistischer und pronaturalistischer Variante des Historizismus, zu sehr verliert er die ihm gestellte Aufgabe einer theoretischen Kritik der historizistischen Grundannahmen aus den Augen, als dass er es vermöchte, den innersten theoretischen Kern seiner Kritik des Historizismus und dessen zwei theoretischen Standbeinen klar auf den Begriff zu bringen. Dennoch glaube ich, dass sich Poppers zentrales und auch theoretisch reizvollstes Argument gegen die von ihm als historizistisch bezeichnete Auffassung menschlicher Geschichte – welcher Variante auch immer, ob die pronaturalistische oder die antinaturalistische – einer aufmerksamen Lektüre in dem Maße erschließt, wie sich diese nicht nur für Poppers explizite und eben nie eine theoretische Einheitlichkeit erlangende Stellungnahmen gegen die kritisierte Position des Historizismus sensibel zeigt, sondern sich vielmehr auch jenen deskriptiv gehaltenen Passagen zuwendet, welche zunächst ausschließlich der Darstellung bestimmter theoretischer Charakteristika der antinaturalistischen Variante des Historizismus dienen, also der Darstellung derjenigen Variante des Historizismus, welche sich gerade nicht auf die naturwissenschaftliche Methode verlassen und gründen zu können glaubt. Popper beschreibt und reformuliert in diesen Passagen die Skepsis der antinaturalistischen Variante des Historizismus gegenüber der Prognosefähigkeit von Geschichte, und er macht sich diese Form der Skepsis in einer ihm offensichtlich gar nicht vollständig bewussten Weise dann schließlich selbst zu eigen, wenn es gilt, das theoretische „Elend“ des Historizismus zu dechiffrieren. Popper missachtet also die Tatsache, dass die antinaturalistische Skepsis gegenüber der Prognosefähigkeit von Geschichte sowie das ihr entlehnte zentrale Argument gegen die theoretische Plausibilität des Historizismus ihrerseits nicht eine Subkategorie des Historizismus darstellen können, sondern vielmehr dessen exakte theoretische Opposition verkörpern, sodass es im Sinne der Wahrung der internen Kohärenz seiner Argumentation unbedingt notwendig gewesen wäre, zwischen antinaturalistischem Historizismus und antinaturalistischem Antihistorizismus zu trennen. 275

Ebd., S. ix.

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Doch welche Widersprüchlichkeiten auch immer sich Poppers Argumentationsstrategie in dieser Hinsicht nachweisen lassen: Wie lautet denn nun sein entscheidendes Argument gegen den Historizismus? Für den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte lassen sich, so formuliert ein von Popper referierter geschichtstheoretischer Antinaturalismus, eben gerade keine Prognosen treffen – zumindest nicht in derselben Weise wie für eine Sonnenfinsternis –, und dies sei vor allem deshalb der Fall, weil jene Prognosen bezüglich des zukünftigen historischen Geschehens – anders als die Prognosen der Astronomie bezüglich des Geschehens am Firmament über uns – sich auf das prognostizierte Ereignis oder Geschehen immer schon und zwar in einer unvorhersehbaren Weise auswirken: „Man nehme etwa an, es wird die Prognose aufgestellt, dass die Preise auf dem Aktienmarkt drei Tage lang steigen und dann fallen werden. Selbstverständlich würde jeder, der auf dem Aktienmarkt tätig ist, am dritten Tag verkaufen, woraus ein Preissturz an diesem Tag entstehen würde, und damit wäre die Prognose falsifiziert.“276 Dass in dem soeben rekonstruierten Gedankengang in der Tat Poppers zentrales Argument gegen die historizistische Geschichtstheorie und insofern gegen deren Glauben an historische Notwendigkeit einerseits, gegen eine dadurch ermöglichte Vorhersehbarkeit des historischen Verlaufs andererseits, enthalten ist, in dieser Interpretation fühle ich mich indirekt durch eine Äußerung von Hermann Lübbe bestätigt. Auch Lübbe hat nämlich in seinem geschichtstheoretischen Hauptwerk Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie und dort im Zuge einer Beschäftigung mit Poppers Kritik des Historizismus versucht, den innersten theoretischen Kern von Poppers Widerspruch gegen den Historizismus und aus der unübersichtlichen „Menge dieser Argumente“277 das vorrangige Argument gegen die historizistische Präsumtion der Notwendigkeit und Prognostizierbarkeit von Geschichte zu ermitteln, und dabei ebenfalls – vor allem unter Rückgriff auf das von Popper 1957 geschriebene Vorwort der englischen Buchausgabe – die theoretische Quintessenz von Poppers Antihistorizismus in der These erblickt, wonach unser Wissen den Verlauf der menschlichen Geschichte stets beeinflusst, insofern auch unser zukünftiges Wissen den Verlauf der menschlichen Geschichte stets beeinflussen wird, sodass wir, wie Lübbe schreibt, „aus logischen Gründen prinzipiell nicht wissen können, was wir künftig wissen werden; denn wir hätten ja dieses Wissen jetzt schon, wenn wir das wissen könnten [Hervorhebung von mir; P. V.].“278 In der Tat reklamiert Popper in dem von Lübbe in den Vordergrund seiner Interpretation gestellten Vorwort von 1957 mit unverhohlenem Selbstbewusstsein, er habe den Historizismus „aus streng logischen Gründen“279 widerlegt. Und er präsentiert diese logische Widerlegung des Historizismus in der folgenden viergliedrigen Argumentationskette: Wissen beeinflusst die menschliche Geschichte; die Entwicklung unseres Wissens lässt 276 277

278 279

Ebd., S. 12 f. Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 127. S. 129. Karl Popper, Das Elend des Historizismus, a.a.O., S. xiii.

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sich nicht vorhersagen; daher können wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen; und dies bedeutet nun wiederum laut Popper, „dass wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft verneinen müssen, also die Möglichkeit einer historischen Sozialwissenschaft, die der theoretischen Physik oder der Astronomie des Sonnensystems entsprechen würde. Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich.“280 So viel zu Karl Poppers Versuch einer logischen Widerlegung des Historizismus und dessen Präsumtion der Notwendigkeit und Prognostizierbarkeit von Geschichte. Eine derartige Kritik der Präsumtion historischer Notwendigkeit und Prognostizierbarkeit bildet zwingend, wenn auch nicht zwingend in der von Popper vorgelegten Weise, das theoretische Fundament jedes Versuches einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte – welchem Verständnis von Kontingenz oder Zufall und welcher Semantik und Begrifflichkeit diese Versuche sodann auch folgen mögen –, auch wenn wir Poppers Argumentation ja gerade entnehmen können, dass der Protest gegen die Idee historischer Notwendigkeit sich nicht auf die gedanklichen Kategorien und Begriffe von Kontingenz und Zufall berufen muss. Damit zu Isaiah Berlins Kritik des Gedankens historischer Notwendigkeit, die keine logische Widerlegung einer nezessaristischen Geschichtstheorie prätendiert, gegen den Gedanken einer „historical inevitability“ vielmehr ein common sense-fundiertes Argument formuliert, welches den Nezessarismus zwar nicht als logisch widersprüchlich, wohl aber als in einem mit den tradierten Kategorien unserer „ordinary language“, mit jenen sprachlichen Verständigungsmitteln, die wir immer schon verwenden, unvereinbaren Lichte erscheinen lässt. Dabei mag Berlins Anfang der 50er-Jahre formulierter theoretischer Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit ganz ähnlich wie Popper durchaus die marxistische Geschichtsphilosophie, die zyklischen Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts oder auch die sozialwissenschaftliche Methodologie im Auge gehabt haben, grundsätzlich hat er diesen seinen Protest aber im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem geschichtstheoretischen Denken der Aufklärung und besonders der französischen Aufklärung entwickelt und begründet. Bereits im Geschichtsdenken des 18. Jahrhunderts nämlich glaubt Berlin jene Präsumtion historischer Notwendigkeit formuliert, der sein eindeutiger und vehementer theoretischer Widerspruch lebenslang gilt. Besonders prägnant lassen sich der argumentative Kern von Berlins Kritik und dessen konkrete Zielrichtung dabei den beiden frühen Aufsätzen Berlins über „Wirklichkeitssinn“281 und „Historische Unvermeidlichkeit“282 entnehmen. In diesen beiden Aufsätzen verweist Berlin nämlich vor allem, anders als in seinen sonstigen Arbeiten, welche die Aufklärung stets wegen ihrer gleichsam moraltheoretischen und antipluralistischen Annahme normativer Eindeutigkeit kritisieren, die sich nun ihrerseits wiederum 280 281

282

Ebd., S. xiv. Isaiah Berlin, „Wirklichkeitssinn“ (1953), in: Wirklichkeitssinn. Ideengeschichtliche Untersuchungen, Berlin 1998, S. 31–91. Isaiah Berlin, „Historische Unvermeidlichkeit“ (1954), in: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 1995, S. 113–197.

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aus drei distinkten Prämissen ergeben soll283 , auf so etwas wie das geschichtstheoretische Fundament der Aufklärung, welches mit der Hoffnung auf normative Eindeutigkeit prima facie nichts zu tun hat. Zumindest in diesen Arbeiten der frühen 50er-Jahre also sieht Berlin die Aufklärung nicht nur von einer bestimmten normativen Vision stimuliert, sondern in ihr auch eine bestimmte Auffassung menschlicher Geschichte und eben auch die Präsumtion historischer Notwendigkeit angelegt.284 Insbesondere die Faszination für die Ergebnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaften285 und eine bestimmte Deutung der Gründe für ihren unleugbaren Erfolg sind es, die laut Berlin die aufklärerischen Geister, insbesondere die philosophes und Enzyklopädisten, zu der geschichtstheoretischen Vermutung anregen, die Geschichtsschreibung könne wie eine Naturwissenschaft betrieben werden. Denn nicht nur die Natur, auch der historische Wandel folgt gemäß dieser Vermutung unwandelbaren Gesetzen historischer Notwendigkeit, die eine am Vorbild der Naturwissenschaften orientierte Geschichtsschreibung ermitteln kann: „Die Vorstellung, man könne im Ablauf historischer Ereignisse umfassende Muster oder Regelmäßigkeiten auffinden, erscheint begreiflicherweise jenen besonders attraktiv, die der Erfolg der Naturwissenschaften beim Klassifizieren, beim Herstellen von Korrelationen und vor allem beim Treffen von Voraussagen beeindruckt hat.“286 Die Präsumtion historischer Notwendigkeit beruht also zunächst laut Berlin auf einer ganz bestimmten Auffassung der Naturwissenschaften, zumal einer Auffassung der Gründe für ihren wissenschaftlichen Erfolg, und wird zudem entscheidend beeinflusst von einer bestimmten Vorstellung der Natur selbst, ihrer natürlichen Ordnung, der vermeintlichen Regelmäßigkeit, Stetigkeit und Gesetzmäßigkeit ihres ohne alle Zufälligkeit und Willkürlichkeit sich vollziehenden Verlaufs. Die Natur folgt, so wird unterstellt, Gesetzen, die fixiert, statisch und unveränderlich sind und die sich von menschlichen Beobachtern, mögen sie auch von Gott in Gang gesetzt worden sein, klar und deutlich erkennen lassen. Dieses Bild der Natur und jene theoretische Bewunderung der Erfolge der Naturwissenschaften, sie legen dem geschichtstheoretischen Denken der Aufklärung nun gemäß Berlins Deutung die Analogie nahe, dass nicht nur die Natur, sondern auch das historische Dasein des Menschen von derartig unveränderlichen Gesetzen der Notwendigkeit bestimmt ist. Auch die Zeiger auf dem Ziffernblatt der menschlichen Geschichte 283

284

285

286

Vergleiche hierzu mein Buch Pragmatismus und Faschismus. Kreativität und Kontingenz in der Moderne, a.a.O., S. 259–261. Diese bedeutende Einsicht seines Frühwerks hat Berlin selbst übrigens in seinen späteren ideengeschichtlichen Studien ignoriert oder zumindest unberücksichtigt gelassen, insofern sich seine ideengeschichtliche Interpretation der Aufklärung später doch zunehmend und nahezu ausschließlich mit der Annahme normativer Eindeutigkeit befasst und dieser Annahme im Namen eines Pluralismus widerspricht, dessen erste ideengeschichtlichen Zeugnisse Berlin bei Autoren wie Vico, Herder oder Hamann erblickt. Vergleiche hierzu insbesondere Isaiah Berlin, „The Scientific Concept of History“ (1960), in: Concepts and Categories, London 1978, S. 103–142. Isaiah Berlin, „Historische Unvermeidlichkeit“ (1954), in: Freiheit. Vier Versuche, a.a.O., S. 115.

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gehorchen demnach der nimmermüden Arbeit eines Uhrwerks, welches nicht einfach willkürlich umgestellt, beschleunigt oder zu Halt gebracht werden kann. Der geschichtstheoretische Nezessarismus, der sich aus den skizzierten theoretischen Prämissen ergibt, geht demnach davon aus, „dass es, kurz gesagt, eine Uhr gab, deren innerer Mechanismus zu entdeckenden Regeln gehorchte und die nicht wieder zurückgedreht werden konnte.“287 Wie es sich für funktionstüchtige Maschinen gehört, folgt auch das Uhrwerk der Geschichte – nicht anders als das von Gott, dem „grand horloger“, in Gang gesetzte Uhrwerk der Natur – Mechanismen und Gesetzen der Notwendigkeit. So unterstellt die einer bestimmten Vorstellung der Natur verpflichtete Geschichtstheorie der Aufklärung gemäß Berlins Interpretation in geradezu paradigmatischer Weise, und noch bevor sie sich zum menschlichen Fortschritt als dem entscheidenden Gesetz des historischen Uhrwerks äußert oder bekennt, die Möglichkeit einer dem Modell der Naturwissenschaften nachgebildeten Geschichtsschreibung und schließt daraus wiederum auf die Existenz notwendig geltender Zusammenhänge und Gesetze auch im Bereich der menschlichen Geschichten: „Es gibt ein Muster, und dieses hat eine Richtung; es ist nicht notwendigerweise ‚fortschrittlich‘, das heißt, wir müssen nicht glauben, daß wir uns kontinuierlich einem erstrebenswerten Ziel annähern, wie immer wir den Begriff ‚erstrebenswert‘ definieren; wir verfolgen jedoch eine definitive und unumkehrbare Richtung“.288 Die Annahme, dass die menschliche Geschichte in einer naturanalogen Weise von Strukturen und Gesetzen historischer Notwendigkeit geprägt ist, ist demnach nicht eo ipso mit einer Akklamation oder Prognose des Fortschritts verbunden; sie wendet sich zunächst ausschließlich gegen die These, wonach die menschliche Geschichte durch singuläre und unerwartete Ereignisse, unvorhersehbare Zufälle oder Möglichkeiten oder das willkürliche Eingreifen eines göttlichen Heilsplans oder eines strafenden Gottes geprägt sei. Freilich will und kann sich die Aufklärung von der theoretischen Pflicht, diese Gesetze und Gesetzmäßigkeiten historischer Notwendigkeit, deren Existenz doch so beharrlich unterstellt wird, zu entziffern, nicht dispensieren. Ob im Kontext dieser Aufgabe nun nach den kausalen Ursachen eines Ereignisses, nach den ihm vorgegebenen Zwecken, nach dessen verborgenen ökonomischen Strukturen oder nach dem „Geist einer Epoche“ zu suchen ist, dies mag in der Epoche der Aufklärung durchaus umstritten sein. Aber dass die Geschichte durch Notwendigkeit oder durch notwendige Gesetze oder Strukturen oder Mechanismen bestimmt wird, die dank spezifischer Methoden, Methoden, die sich bereits bei der naturwissenschaftlichen Erkundung der Gesetze oder Strukturen oder Mechanismen der Natur als überaus erfolgreich erwiesen haben, entdeckt werden können, diese Vermutung will eine auf der Präsumtion historischer Notwendigkeit beruhende Geschichtstheorie nicht länger bezweifeln:

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Isaiah Berlin, „Wirklichkeitssinn“ (1953), in: Wirklichkeitssinn. Ideengeschichtliche Untersuchungen, a. a. O., S. 44. Ebd., S. 35f.

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„Die Frage ‚Warum?‘ bedeutet für den Teleologen ‚Nach welchem unwandelbaren Ziel strebend?‘; für den nicht-teleologischen, metaphysischen ‚Realisten‘ bedeutet sie ‚Durch welche letzte Struktur unwandelbar determiniert?‘; und für die Verfechter der Comteschen Ideale der Sozialstatistik und Sozialdynamik bedeutet sie ‚Aus welchen Ursachen resultierend?‘ – aus welchen faktischen Ursachen, gleichgültig, ob sie auch anders hätten beschaffen sein können oder nicht. Die Unausweichlichkeit von historischen Prozessen und Tendenzen, von ‚Aufstiegen‘ und ‚Niedergängen‘ besteht für jene, die glauben, das Universum gehorche bloß ‚natürlichen Gesetzen‘ und werde von ihnen zu dem gemacht, was es ist, nur de facto; de iure – als Rechtfertigung und zugleich Erklärung – besteht sie für jene, die diese Gleichförmigkeit nicht einfach als gegeben, als rohes Faktum, als etwas Unveränderliches, nicht in Frage zu Stellendes ansehen, die in ihr vielmehr Strukturen, Pläne, Zwecke, Ideale erkennen, Gedanken im Kopf einer rationalen Gottheit oder einer universalen Vernunft, Ziele, ästhetische, sich selbst verwirklichende Ganzheiten, metaphysische Prinzipien, theologische, außerweltliche Rechtfertigungen, Theodizeen, die das Verlangen befriedigen, nicht nur zu erfahren, warum die Welt existiert, sondern auch, warum sie es wert ist, zu existieren; und warum gerade diese Welt existiert und keine andere oder überhaupt keine.“289 Zweifellos aber ist es nun für die Geschichtstheorie der Aufklärung charakteristisch und konstitutiv, dass sie grundsätzlich hinsichtlich der Ergebnisse dieses Verlaufs der Gesetze historischer Notwendigkeit, wie auch immer diese zu verstehen sein mögen, keinerlei Unsicherheit, vielmehr höchste Gewissheit bekundet. Dass nämlich die notwendigen Gesetze der menschlichen Geschichte einen unvermeidlichen Fortschritt in der Geschichte verbürgen, erscheint nun keinesfalls als zweifelhaft, ja vielmehr als höchst gewiss. Die theoretische Amalgamierung des auf eine spezifische Weise fundierten Gedankens, dass in der Geschichte Gesetze historischer Notwendigkeit walten, mit der Idee, dass eben diese Gesetze, gleichviel, ob sie nun teleologischer oder deterministischer Natur sind, ob sie aus unwandelbaren Ursachen resultieren oder vorgegebenen Zwecken folgen, tatsächlich einen unvermeidlichen Fortschritt garantieren, mit der euphorischen Hoffnung und selbstgewissen Sicherheit, dass sich die Menschheit prinzipiell auf dem Pfad des Fortschritts befindet, insofern Vernunft und empirische Methoden zunehmend und unvermeidlich Aberglauben, Intoleranz und religiösen Dogmatismus ablösen werden, kurzum: der Gedanke eines historisch notwendigen Fortschritts, er erst bringt Berlin zufolge die Quintessenz der aufklärerischen Geschichtstheorie vollständig zum Ausdruck: „Broadly speaking, it could be said that it was Voltaire and his friends, people like Helvétius, people like Fontenelle, who represented the major position of the age, and this was that we were progressing, we were discovering, we were destroying ancient prejudice, superstition, ignorance and cruelty, and we were 289

Isaiah Berlin, „Historische Unvermeidlichkeit“ (1954), in: Freiheit. Vier Versuche, a. a. O., S. 130.

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W, N, G: D S  K  Z well on the way towards establishing some kind of science which would make people happy, free, virtuous and just.“290

Es ist bemerkenswert, wie sehr Berlins Darstellung der Geschichtstheorie der Aufklärung ziemlich genau jene beiden Momente oder die Kombination jener beiden Momente widerspiegelt, die auch Popper als die zwei theoretischen Standbeine der Geschichtsphilosophie des Historizismus ausgewiesen hatte: die Annahme einer die Geschichte strukturierenden Notwendigkeit und eine darauf basierende Prognose über den weiteren Verlauf dieser notwendigen Geschichte in Form einer wie auch immer gedeuteten Fortschrittsgewissheit. Nicht anders als Popper glaubt auch Berlin diese beiden Momente eines historischen Nezessarismus mit guten Gründen kritisieren zu können, aber die Art der von ihm dabei vorgebrachten Kritik unterscheidet sich von Poppers Versuch einer logischen Widerlegung des Historizismus doch erheblich: Wir deuteten dabei bereits an, dass Berlin – anders als Popper – die Überzeugung von einer in der Geschichte wirksamen historischen Notwendigkeit nicht im strengen Sinne widerlegen zu können glaubt. Berlins Kritik des Gedankens historischer Notwendigkeit prätendiert erst recht keine logische Widerlegung einer nezessaristischen Geschichtstheorie, formuliert gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit vielmehr ein common sense-fundiertes Argument, welches diese Präsumtion zwar nicht als logisch widersprüchlich oder empirisch haltlos, wohl aber als in einem mit den tradierten Kategorien unserer „ordinary language“, mit jenen sprachlichen Verständigungsmitteln, die wir immer schon verwenden, unvereinbaren Lichte erscheinen lässt. Berlins Kritik der Idee historischer Notwendigkeit zehrt also ganz eindeutig von seiner intellektuellen Verpflichtung gegenüber jenes Zweigs der analytischen Philosophie, wie er sie als junger Philosophiestudent in Oxford in den 30erJahren kennen gelernt hatte, seiner intellektuellen Beeinflussung durch John L. Austin und durch jene Strömung innerhalb der analytischen Philosophie, die heute gemeinhin als „ordinary language philosophy“ bezeichnet wird. In dem Aufsatz „Historische Unvermeidlichkeit“ etwa formuliert Berlin, dass jene begrifflichen und sprachlichen Kategorien, die alle unsere Konzepte und Begriffe anleiten, wenn wir über menschliches Handeln und Tun sprechen, Verantwortung und Handlungsfreiheit immer schon voraussetzen, dass aber den historischen Nezessarismus zu akzeptieren hieße, diesen ganzen kategorialen Apparat zu revidieren, eine Konsequenz, die zwar nicht durch irgendein theoretisches Argument a priori auszuschließen ist, die wir uns aber nicht vorstellen können, ohne dadurch doch jene semantischen Kategorien und Konzepte in Frage zu stellen, auf denen unser alltägliches Handeln und Sprechen eben gerade beruhen. Wären der geschichtstheoretische Nezessarismus oder die Präsumtion historischer Notwendigkeit zutreffend, dann wären eben auch all jene begriffliche Unterscheidungen von gut oder böse, von verantwortlich oder nicht-verantwortlich, sprachlich nicht mehr sinnvoll zu verwenden. Doch „diese Kategorien prägen unser Denken und Empfinden so tief und eindringlich, dass der Versuch, sie wegzudenken und sich vorzustellen, wie und was wir ohne sie oder im Kontext der ihnen entgegengesetzten Kategorien 290

Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, Princeton 1999, S. 30.

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denken, empfinden, reden würden, fast oder genauso unmöglich ist, wie wenn wir vorgeben wollten, in einer Welt zu leben, in der es Raum, Zeit und Zahl im gewöhnlichen Sinne nicht mehr gibt. […] Ich möchte hier nicht behaupten, dass der Determinismus notwendigerweise falsch ist, sondern nur, dass wir weder so sprechen noch so denken, als könnte er wahr sein, und dass es schwierig ist und vielleicht unsere gewöhnlichen Kräfte übersteigt, sich vorzustellen, wie unser Bild von der Welt aussähe, wenn wir ernstlich an ihn glauben würden“291 . Wer die Präsumtion historischer Notwendigkeit akzeptiert, missachtet Berlin zufolge also die grundlegenden Kategorien und Konzepte unseres konventionellen Sprachgebrauchs; der geschichtstheoretische Nezessarismus oder Determinismus, wie Berlin bevorzugt formuliert, ist also mit unserem konventionellen Sprachgebrauch und unserem common sense unvereinbar; und insofern dieser common sense allenfalls partiell, niemals aber zur Gänze in Frage gestellt werden kann, spricht eben nichts für die Präsumtion historischer Notwendigkeit. Dieser Präsumtion liegen vielmehr, so Berlin, „Überzeugungen in bezug auf die Welt und die Menschen zugrunde, die nicht akzeptabel und nicht plausibel sind, weil sie bestimmte fundamentale Unterscheidungen für unzulässig erklären, die wir alle treffen – Unterscheidungen, die sich unweigerlich in unserem alltäglichen Sprachgebrauch spiegeln. Wenn jene Überzeugungen richtig wären, würde sich allzu viel von dem, was wir fraglos akzeptieren, als grundfalsch erweisen. Jene Paradoxa werden uns jedoch aufgenötigt, obwohl uns weder starke Tatsachenbeweise noch überzeugende logische Argumente nötigen, sie anzunehmen.“292 Karl Poppers Versuch einer logischen oder wissenschaftstheoretischen Widerlegung eines Historizismus, einer Geschichtsphilosophie, die für Popper eben auf zwei theoretischen Standbeinen beruht, der Präsumtion historischer Notwendigkeit und der Überzeugung, der zukünftige Verlauf menschlicher Geschichte lasse sich prognostizieren, und Isaiah Berlins common sense-fundierte und auf einem sprachphilosophischen Konventionalismus beruhende Skepsis gegenüber der semantischen Plausibilität und Praktikabilität eines geschichtstheoretischen Nezessarismus, dessen ideengeschichtlichen Kulminationspunkt Berlin wiederum im Geschichtsdenken der Aufklärung erblickt, die Skepsis gegenüber einem geschichtstheoretischen Nezessarismus, der die auf einer bestimmten Auffassung von Natur und Naturwissenschaften beruhende Überzeugung von einer „historical inevitability“ mit einem Fortschrittsglauben kombiniert, sie stellen ganz sicherlich nicht die einzigen, wohl aber zwei besonders prominente, wirkungsmächtige und theoretisch raffinierte Versionen eines anti-nezessaristischen Geschichtsbildes dar. Poppers wie Berlins Argumentation lässt sich mithin entnehmen, auf welche Argumente und Überzeugungen sich ein Protest gegen die Idee historischer Notwendigkeit berufen kann, aber eben nicht berufen muss. Andere Argumentationen 291

292

Isaiah Berlin, „Historische Unvermeidlichkeit“ (1954), in: Freiheit. Vier Versuche, a. a. O., S. 143 bzw. 144 f. Ebd., S. 163 f.

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gegen einen historischen Nezessarismus, dies soll gar nicht bestritten werden, wären denkbar. In diesem Sinne werden wir uns in der abschließenden Sektion dieses dritten Abschnitts des Kapitels mit theoretischen Versuchen beschäftigen, welche sich nun direkt auf die geschichtstheoretischen Kategorien oder gar Begriffe von Zufall und Kontingenz im Sinne einer Unverfügbarkeit von Geschichte und freilich auch auf den Gedanken einer Unverfügbarkeit von Geschichten berufen und im Zuge dessen weder die theoretische Präsumtion historischer Notwendigkeit noch den Gedanken einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten akzeptieren. (c) Der Protest, so hatten wir sowohl am Beginn dieses dritten Kapitels als auch in unseren diesen dritten Abschnitt des dritten Kapitels einleitenden Bemerkungen immer wieder betont, der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit, mag er auch ein unerlässliches Fundament jedweden Plädoyers für Kontingenz und Zufall in der Geschichte sein, lässt offen, welche theoretischen Optionen jene geschichtstheoretische Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall sodann weiters ergreift, ob sie im Namen der prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichte oder im Namen der, wenn auch nicht ausschließlichen, so doch stets unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte argumentiert. Der Protest gegen die Idee einer historischen Notwendigkeit kann also sehr wohl, muss aber nicht auf die geschichtstheoretischen Kategorien und Begriffe von Kontingenz und Zufall rekurrieren; die Affirmation von Kontingenz und Zufall in der Geschichte ihrerseits lässt sich durch den Gedanken einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit wie durch die Überzeugung einer, wenn auch nicht ausschließlichen, so doch immer auch unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte fundieren. Während ich den Historismus im ersten Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit als die paradigmatische Form eines geschichtstheoretischen Plädoyers für die Unverfügbarkeit von Geschichte im 19. Jahrhundert präsentieren möchte, will ich für den Rest dieses Kapitels am Beispiel dreier Autoren aus dem 20. Jahrhundert die systematischen Konturen eines Plädoyers für die Unverfügbarkeit von Geschichte und die ihm zugrunde liegenden Argumentationen und Gedanken erkunden. Auf den Historismus werde ich dabei nur insofern kursorisch zu sprechen kommen, als sich einer dieser drei Autoren, Hermann Lübbe, dezidiert auf ihn beruft. In diesem Sinne werde ich in dieser abschließenden Sektion dieses Kapitels vor allem auf die Geschichts- und freilich auch Geschichtentheorien von Hermann Lübbe und Wilhelm Schapp eingehen. Beide, Lübbe wie Schapp, so will ich zeigen, begründen ihren Protest gegen das Postulat historischer Notwendigkeit im Namen einer Affirmation von Kontingenz oder Zufall in der Geschichte mit dem Gedanken einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten, wobei freilich nur der Erstgenannte explizit die Begriffe von Kontingenz und Zufall verwendet. Und in diesem Sinne wenden sich beide, Lübbe wie Schapp, auch ausdrücklich gegen die Idee einer prinzipiellen Verfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten. Bevor ich so auf die geschichts- oder geschichtentheoretischen Reflexionen zweier Philosophen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sprechen komme, möchte ich freilich noch, wenn auch nur kursorisch, einige Passagen und Überlegungen eines Romanciers und Schriftstellers aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorstellen, Bemerkungen von Robert Musil, welche explizit zwar nicht von Kontingenz, wohl aber

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von Zufall sprechen, und die ich als geschichtstheoretische Reflexionen über die Unverfügbarkeit von Geschichte verstanden wissen möchte. Theoretische Aufmerksamkeit für Zufall und Kontingenz in der Geschichte charakterisiert eben nicht nur in wie fragmentarischer Weise auch immer die Historiographie und Geschichtswissenschaft, wie wir in Sektion (a) des dritten Abschnitts dieses Kapitels sahen, auch nicht nur die Philosophie, wie wir noch sehen werden, sondern offenkundig auch – und dies zeigt exemplarisch der Verweis auf Musil – die Literatur. Inspiriert zeigen sich die folgenden Ausführungen dabei von dem von Michael Makropoulos in seinem Aufsatz „Krise und Kontingenz. Zwei Kategorien im Modernitätsdiskurs der Klassischen Moderne“ formulierten Urteil, Robert Musil habe in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften das, „was man historische Kontingenz nennt“293 , zutreffend beschrieben. Aber Musil hat auch noch, so will ich im Folgenden zeigen, mehr und anderes getan. Er hat nämlich in seiner unnachahmlichen Art anschaulich gemacht und verdeutlicht, dass und inwiefern sich der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen des historischen Zufalls oder im Namen historischer Kontingenz auf die These einer Unverfügbarkeit von Geschichte berufen kann. In seiner 1908 in Berlin bei Carl Stumpf eingereichten Dissertation hatte Robert Musil, der junge Doktorand der Philosophie, im Zuge einer direkten und äußerst komplex argumentierenden Auseinandersetzung mit der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Ernst Machs im Wesentlichen die These entwickelt, dass Machs Theorie und Philosophie von ihrem eigenen theoretischen Ansatz her zwingend auf der Überzeugung beruhe, „dass die Naturvorgänge, genau betrachtet, gesetzlos und regellos seien“294 , andernfalls sie sich in Missverständnisse und Selbstwidersprüche verstricke. Empfindet Musil dieses zwingende Fundament der Machschen Philosophie nun gerade als theoretisch attraktiv, oder lässt sich diesem Fundament gerade die theoretische Haltlosigkeit von Machs Denken entnehmen? Musil widerspricht in der schließlich publizierten Version seiner Dissertation, der Schrift Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs, dem Machs Philosophie innewohnenden Anti-Nezessarismus vehement; die Erfahrung lehre vielmehr für den Bereich des natürlichen Geschehens, so heißt es nun bei Musil, „das Bestehen ungeheurer Regelmäßigkeiten mit Deutlichkeit erkennen. Diese Regelmäßigkeit, die uns zu allererst auf eine Notwendigkeit schließen lässt, liegt also in den Tatsachen.“295 Musils dabei überaus deutlich und demonstrativ einem wissenschaftstheoretischen und physikalischen Realismus verpflichteten Argumente, welche ihn gegen Machs tatsächliche oder vermeintliche Leugnung der Naturnotwendigkeit zu einer Affirmation „ungeheurer“ Notwendigkeit in der Natur drängen, sind dabei für unsere Fragestellung ungleich weniger interessant als die offensichtliche Tatsache, dass schon der junge Philosophiestudent für die Thematik der Grenzen und Reichweite

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Michael Makropoulos, „Krise und Kontingenz. Modernität und Modernitätskritik im Intellektuellendiskurs der Klassischen Moderne“, in: Moritz Föllmer und Rüdiger Graf (Hg.), Die ‚Krise‘ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005, S. 66. Robert Musil, „Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs“ (1908), in: Beitrag zur Beurteilung de Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 105. Ebd., S. 132 f.

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der Notwendigkeit – freilich noch bezogen allein auf die Sphäre der Natur – hochgradig sensibilisiert war.296 Rund zwei Jahrzehnte später und die Erfahrung eines Weltkrieg hinter sich hören wir von Musil freilich ganz andere Töne: In dem für unsere Fragestellung nach Musils theoretischer Rehabilitierung von Zufall und Kontingenz in der Geschichte äußerst bedenkenswerten Abschnitt „Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?“, der sich im zweiten Teil des ersten Buches von Musils Der Mann ohne Eigenschaften befindet, also 1930 publiziert wurde, insistiert Musil zunächst einmal darauf, dass auch und jedenfalls die menschliche Geschichte sich keinen Gesetzen der Notwendigkeit fügt: „Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen. Die Gegenwart ist immer wie das letzte Haus einer Stadt, das irgendwie nicht mehr ganz zu den Stadthäusern gehört.“297 Aber nicht nur gleicht für Musil der Verlauf der Weltgeschichte nicht dem Verlauf eines einmal angestoßenen Billardballs, der als das exakte Resultat der ihn hervorrufenden Ursachen zu verstehen sei. Dieser Sachverhalt allein würde keinesfalls den theoretischen Grund dafür zu erkennen geben, dass der Weg der Geschichte so oft dem Weg eines „durch die Gassen Streichenden“ ähnelt, der sich unerwarteterweise in der Umgebung 296

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Die erste Fassung von Musils Dissertation wurde übrigens von seinem Lehrer Carl Stumpf nicht angenommen und zurückgewiesen, woraufhin Musil die Arbeit völlig neu konzipierte und schließlich erneut einreichte. Inwiefern die erste Fassung der Arbeit hinsichtlich der Frage der Existenz natürlicher Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit eine deutlich näher an Mach gelegene, also eine gegenüber einer der Natur zu entnehmenden Notwendigkeit deutlich skeptischere Position formuliert hatte und nur aus Gründen karrierestrategischen Kalküls von dieser Position abgerückt war, darüber lässt sich nur spekulieren, da dieser erste Entwurf der Dissertation verschollen ist. Der Musil-Biograph Corino fühlt sich freilich zu der Einschätzung berechtigt: „Alles in allem will einem die approbierte Fassung von Musils Dissertation letztlich als Ergebnis einer gelungenen akademischen Dressur, als Anpassung an die Position des akademischen Lehrers, erscheinen.“ Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 312. Im Widerspruch zu dieser These stehen aber die zahlreichen, lobenden Äußerungen Musils über seinen Lehrer Stumpf, wie sie aus seinen Tagebüchern auch noch lange nach der erfolgreichen Promotion überliefert sind. Angesichts eines ihm nicht zusagenden Vortrags über den „Physikalismus“ in der Psychologie schreibt Musil etwa noch Jahrzehnte nach seinem Philosophiestudium: „Wieviel genauer ist es doch in der Stumpfschule zugegangen. Diese nüchterne und wissenschaftliche Atmosphäre war doch ein Verdienst dieses Lehrers, der wohl nicht bloß durch Zufall die bedeutendsten Schüler hatte.“ Robert Musil, „Tagebuch – Heft 33 [Sommer 1937 – etwa Ende 1941]“, in: Robert Musil, Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, herausgegeben von Adolf Frisé, Hamburg 1955, S. 451. Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/1932), in: Gesammelte Werke. Band 1, Reinbek 1978, S. 361.

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der letzten Häuser der Stadt findet, obwohl er sich doch gerade noch im ersten Bezirk der Innenstadt wähnte. Denn wir sahen, dass der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit sich nicht auf Zufall und Kontingenz in der Geschichte berufen, schon gar nicht explizit auf diese Begriffe verweisen muss, und ferner sahen wir, dass der Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen historischer Kontingenz und historischen Zufalls sowohl im Namen einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichte als auch im Namen einer, wenn auch nicht ausschließlichen, so doch unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte erfolgen und also den Gedanken einer historischen Notwendigkeit mit Hilfe zweier gänzlich konträrer theoretischer Optionen attackieren kann. Nun bezieht sich aber Musil für die Begründung seines Widerstands gegen eine Auffassung von Geschichte als notwendige Resultante der beiden Vektoren von Queue und Billardball ganz eindeutig auf den, so ließe sich formulieren, Widerfahrnischarakter von Geschichte, auf eine für alles historische Geschehen konstitutive „Heterogonie der Zwecke“, wie dies Wundt formuliert hatte, die dazu führt, dass die menschliche Geschichte keinen postulierten Gesetzen historischer Notwendigkeit folgt, dies aber nicht deshalb, weil Geschichte unbeschränkt verfügbar ist, sondern deshalb, weil Geschichte unhintergehbar unverfügbar ist. In einem Gespräch zwischen Clarisse und Ulrich in Musils Der Mann ohne Eigenschaften stehen sich die Ansicht von Clarisse, „man sollte die Geschichte machen“298 , und Ulrichs Überzeugung, „man solle alles gehen lassen, wie es geht“299 , gegenüber. Ulrich reflektiert nun in dem sich an diese mündlich ausgetragene, aber letztlich – wie könnte es bei Musil anders sein? – ergebnislos abgebrochene Auseinandersetzung unmittelbar anschließenden Abschnitt „Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?“ während einer Straßenbahnfahrt genauer über die eigentlichen Gründe, die er der These von Clarisse entgegenhalten zu können und als Bestätigung seiner eigenen Ansicht werten zu können glaubt: Ulrich führt dabei zunächst aus, dass in der Geschichte kleine Ursachen historisch äußerst bedeutsame Folgen zeitigen könnten – „große Amplitude der Äußerung, kleine im Innern“300 , so formuliert Musil diesen Topos wiederum in seinem 1922 erschienenen Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste – und dass insofern Geschichte auch niemals als unmittelbares Handlungsresultat von Intentionen zu verstehen sei. Im Anschluss an diesen sattsam bekannten geschichtstheoretischen Topos, der an dieser Stelle von Musil auch lediglich rezipiert wird, bezieht sich Ulrich sodann auf eine biographische Reminiszenz, um sein Argument gegen Clarisses Ansicht, „man sollte die Geschichte machen“, nachhaltig zu stärken: „Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen. Wahrscheinlich gehört gar nicht so viel dazu, wie man glaubt, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu 298 299 300

Ebd., S. 362. Ebd., S. 357. Robert Musil, „Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausende“ (1922), in: Gesammelte Werke. Band II, Reinbek 1978, S. 1081.

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W, N, G: D S  K  Z machen. Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere. […] Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen, und man lässt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorne: ‚Der Wachtmeister soll vorreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.“301

Auch in dem soeben erwähnten, 1922 veröffentlichten Essay „Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste“ verweigert sich Musil dem Gedanken historischer Notwendigkeit in ganz ähnlicher Weise wie später in Der Mann ohne Eigenschaften, bezieht sich nun aber auch ganz explizit auf den historischen Zufall oder gar den Zufall schlechthin, wenn er auf den ersten Weltkrieg zurückblickt: „Es ist ein sehr aktuelles Gefühl von Zufall mit bei allem, was geschah. Es hieße den Glauben an die Notwendigkeit der Geschichte doch beträchtlich überspannen, wollte man in allen Entscheidungen, die wir erlebt haben, den Ausdruck einer einheitlichen Bedeutung sehn. Leicht vermag man hinterdrein im Versagen der deutschen Diplomatie oder Feldherrnkunst zum Beispiel eine Notwendigkeit zu erkennen; aber jeder weiß doch, dass es ebensogut auch anders hätte kommen können, und dass die Entscheidung oft an einem Haar hing. Es sieht beinahe aus, als ob das Geschehen gar nicht notwendig wäre, sondern die Notwendigkeit erst nachträglich duldete.“302 Indes, wie genau ist eigentlich der Zufall zu bestimmen, auf den sich Musils Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit beruft, und welche geschichtstheoretischen Konsequenzen beinhaltet eine Affirmation des wie auch immer zu verstehenden Zufalls in der Geschichte? Diese Frage legt sich Musil im Anschluss an die zitierte Passage selbst vor und zwar mit Hilfe von Formeln und Formulierungen, die deutlich zu erkennen geben, dass Musil seinen Aristoteles sehr wohl kannte, über die unbedingte Relevanz der aristotelischen Zufallstheorie auch für alle zeitgenössische Reflexion über das Wesen des Zufalls wohl informiert war: „Ich will nicht Philosophie treiben – Gott behüte mich, in einer so seriösen Zeit – aber ich muss an den berühmten Mann denken, der unter dem berüchtigten Dach vorübergeht, von dem der Ziegel fällt. War das notwendig? – Gewiß ja und gewiß nein. Dass der berühmte Ziegel sich lockerte, und dass der berüchtigte Mann vorbei kam, trug sich – wollen wir sagen, unter Nachlass der Lehre vom freien und unfreien Willen, bei der sich die ganze Geschich301

302

Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/1932), in: Gesammelte Werke. Band 1, a.a.O., S. 361. Robert Musil, „Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausende“ (1922), in: Gesammelte Werke. Band II, a.a.O., S. 1077.

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te noch einmal wiederholt, – ganz gewiß mit Gesetz und Notwendigkeit zu; dass aber beides just zur selben Zeit geschah, tat es nicht, wenn man nicht an den lieben Gott glaubt oder an das Walten einer noch höheren Vernunft in der Geschichte. Weshalb man die Unglücksfälle zwar aus Gott oder einer Ordnung ableiten kann, aber nicht Gott oder die Ordnung aus den Unglücksfällen. Schlicht gesagt: Was man geschichtliche Notwendigkeit nennt, ist bekanntlich keine gesetzliche Notwendigkeit, wo zu einem bestimmten p ein bestimmtes v gehört, sondern es ist so notwendig, wie es Dinge sind, ‚wo eins das andere gibt‘. Gesetze mögen schon dabei sein, aber doch ist immer auch etwas dabei, das so nur einmal und diesmal da ist. Und nebenbei bemerkt, zu diesen einmaligen Tatsachen gehören zum Teil auch wir Menschen.“303 Als gleichsam literarische Urszene und Verkörperung des Musilschen Kontingenz- und Zufallsbewusstseins, die darüber hinaus besonders deutlich zu erkennen gibt, dass sich Musils Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen des Zufalls auf den, wie man in diesem Fall besonders treffend sagen kann, Widerfahrnischarakter ebendieses Zufalls beruft, Zufall oder auch Kontingenz im Leben wie in der Geschichte gleichsam als unhintergehbar unverfügbar im Sinne von Marquards Schicksalszufälligem oder Schicksalskontingentem auffasst304 , empfinde ich jenen wohl bekanntesten Verkehrsunfall der Literaturgeschichte, den Musil gleich im allerersten Abschnitt seines opus magnum, in dem Abschnitt „Woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht“, schildert.305 Zunächst wird der Leser durch Musils unnachahmliche Schilderung der optischen und akkustischen Reize des modernen Verkehrstreibens bis in die feinsten Kapillaren der mit unvermuteten und unberechenbaren Widerfahrnissen und Zufälligkeiten nur so angereicherten Nervenbahnen des modernen Großtstadtlebens versetzt. In diesem konkreten Fall schildert Musil das Air und den Rhythmus eines „jener langen, gewundenen Verkehrsflüsse, die strahlenförmig am Kern der Stadt entspringen, die äußeren Bezirke durchziehn und in die Vorstädte münden.“306 Wie alle großen Städte bestand nämlich auch die Residenz- und Reichshauptstadt Wien seinerzeit, so Musil, aus

303 304 305

306

Ebd., S. 1077 f. Vergleiche dazu meine Erläuterung dieser Begrifflichkeit auf S. 282 f. in diesem Kapitel. Dass die Straße als geradezu chocartig empfundener Ort und Inbegriff des Zufalls in der modernen Literatur verewigt wurde, bezeugt exemplarisch Bretons Nadja. In den Straßen von Paris, der „capitale du hasard“ (Balzac), spürt Nadja, wie es bei Breton einmal heißt, dem „Wind des Eventuellen“ nach. Vergleiche in diesem Sinne auch die Bemerkung von Timm Starl: „Die Straße ist den Surrealisten die Stätte gehäufter Zufälle, der Unbestimmtheiten, der Geheimnisse im Mantel des Alltäglichen, wo alles zum Objekt der Blicke wird und zugleich jeder im Blick des anderen präsent ist, wo Nähe das Gefühl bestimmt und doch Distanz herrscht im Meer der Begegnungen, wo das Unbekannte vertraut und das Vertraute unheimlich erscheinen kann.“ Timm Starl, „Photographie und Kontingenz. Notizen zum Zufall“, in: Sprung in die Zeit. Bewegung und Zeit als Gestaltungsprinzipien in der Photographie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Ausstellungskatalog Berlinische Galerie, Berlin 1992, S. 38. Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/1932), in: Gesammelte Werke. Band 1, a.a.O., S. 11.

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W, N, G: D S  K  Z „Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.“307

Mag auch jenes „Gefäß“, von dem hier bei Musil die Rede ist, in früheren Zeiten vielleicht als Symbol und Ausdruck einer sinnhaften Ordnung gegolten haben, so kann es doch in der Gegenwart den Einbruch des immer auch Schmerz- und Rätselhaften, wie er sich typischerweise den Kontingenzen und Zufälligkeiten des großstädtischen Verkehrsflusses verdankt, nicht abwehren. Und gesprengt wird dieses „Gefäß“ ja in der Tat zu Beginn von Musils Der Mann ohne Eigenschaften und zwar durch einen Verkehrsunfall, der als statistisches Phänomen betrachtet zwar durchaus, auch von den ihn Beobachtenden, als keinesfalls ungewöhnliche Usance und daher als ein Ausdruck von Regelmäßigkeit gewertet werden kann – nach amerikanischen Statistiken, so bemerkt ein den Verkehrsunfall beobachtender Herr, „werden dort jährlich durch Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletzt“308 –, dennoch für diejenigen, denen dieser Verkehrsunfall widerfährt, den Lenker eines Lastwagens und den auf dem Trottoir gebetteten und auf professionelle Hilfe wartenden Passanten, nur als unerwarteter und unerklärlicher und sinnloser Einbruch von Zufall und Kontingenz im Sinne eines einbrechenden Widerfahrnisses gewertet werden kann, den niemand nur einen Moment zuvor hätte ahnen können: „[…] etwas [war] aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie Packpapier, und erklärte mit groben Gebärden den Unglücksfall.“309 Zugleich mit diesem Verkehrsunfall als der literarischen Urszene eines kontingenten oder zufälligen Widerfahrnisses in der Moderne, als einer für die urbane Moderne zudem typischen Form von Zufall und Kontingenz, schildert Musil zwei mögliche Weisen, auf jenen zufälligen und kontingenten Einbruch einer Unordnung zu reagieren, welche den „dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen“ zu sprengen droht: Musil registriert einerseits das Mitleid, welches sich exemplarisch bei einer das Unfallsgeschehen beobachtenden Dame spontan äußert und dessen Konsequenz und Quelle allein in dem abstrakten und emotionalen Bedauern darüber besteht, das kontingente und zufällige Geschehen nicht mehr in eine feste 307 308 309

Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 10.

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und unwiderrufliche Ordnung, etwa in die Ordnung des Verkehrs, nicht mehr in ein harmonisches Ganzes bannen zu können. Das Mitleid verwandelt sich also nicht mehr in helfende Aktion, sondern bleibt ein „unentschlossenes, lähmendes Gefühl“310 . Das Mitleid bleibt abstrakt, verharrt in Passivität und delegiert die Verantwortung für eine zur Hilfe schreitende Tat schließlich an die Instanz des herannahenden Rettungswagens, an eine dieser bewundernswerten „sozialen Einrichtungen“311 , wie es bei Musil heißt. Dem männlichen Begleiter der empathisch mitfühlenden Dame hingegen gelingt die Transformation von Unordnung und Unregelmäßigkeit in Ordnung und Regelmäßigkeit sehr viel besser; er übersetzt nämlich das bedrohliche und unerklärliche Moment des soeben Geschehenen in ein technisches Problem: „Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.“312 Die Dame dankt daraufhin dem so sich äußernden Herren für diese plausibel erscheinende Erklärung, welche das in ihr sich regende Erstaunen über die Rätselhaftigkeit eines kontingenten und zufälligen Widerfahrnisses gleichsam theoretisch suspendiert, dessen drohendes und beunruhigendes Potenzial bannt und sie selbst von der Bürde einer belastenden und handlungslähmenden Unsicherheit befreit: „Man ging fast mit dem Eindruck davon, dass sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe.“313 Auch wenn die Dame gar nicht verstand, was mit einem Bremsweg gemeint sein könne, „es genügte ihr, dass damit dieser grässliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.“314 Erst Musils Affirmation der unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte, wie sie sich meines Erachtens den im weitesten Sinne geschichtstheoretischen Passagen von Der Mann ohne Eigenschaften entnehmen lässt, und seine ausdrückliche und explizite Berufung auf den Zufall, wie wir sie ferner seinem Essay „Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste“ nachweisen konnten und gleich zu Beginn von Der Mann ohne Eigenschaften in unübertrefflich meisterhafter Manier literarisch verewigt fanden, erst jene Affirmation und diese Berufung lassen übrigens auch Musils berühmte theoretische Legitimierung des „Möglichkeitssinns“ verständlich werden. Weil vieles von dem, was ist, unverfügbar ist, und weil vieles von dem, was nicht ist, unverfüg310 311 312 313 314

Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Als literarische Verarbeitung einer anderen Facette eines mit dem Treiben und Geschehen moderner Großstädte zwangsläufig verbundenen Zufalls- oder Kontingenzgeschehens mag man Baudelaires 1857 verfasstes Gedicht À une passante interpretieren. Auch diese Szene spielt sich bezeichnenderweise in einer ohrenbetäubend heulenden Straße, in einer „rue assourdissante“ ab, aber es ist nun für Baudelaire die „fugitive beauté“ einer Vorübergehenden, nicht die lebensgefährliche Konsequenz des zu langen Bremswegs eines Lastwagens, vielmehr die epiphanische Entrückung durch die momenthafte Begegnung mit einer weiblichen Passantin, welche als Inbegriff des Einbruchs eines zufälligen und kontingenten Widerfahrnisses gilt. Vergleiche hierzu Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal, Aus dem Französischen übertragen, herausgegeben und kommentiert von Friedhelm Kemp, München 1997, S. 198–199. Vergleiche hierzu auch Hans Joas, „Wertevermittlung in einer fragmentierten Gesellschaft“, in: Nelson Killius u. a. (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt am Main 2002, S. 66.

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bar nicht ist, ist der Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit gerade kein ontologisches Plus zu attestieren. Wer das Mögliche ebenso ernst nimmt wie das Wirkliche, weiß um diese unhintergehbare Unverfügbarkeit von Wirklichem und Möglichem, und ein solchermaßen mit Möglichkeitssinn ausgestatteter Mensch sagt nicht, um nun erneut in diesem Kapitel Musils viel zitierte Worte zu bemühen, sagt nicht: „Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitsssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, dass die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig.“315 Die sich einem Möglichkeitssinn verdankende Sensibilität für die Unverfügbarkeit von Möglichem und Wirklichem lässt sich freilich niemals im Sinne einer fortan unbezweifelbaren Suprematie auflösen. Wer eine Entscheidung getroffen hat für das Wirkliche und damit für das Unwirkliche des Möglichen oder für das Mögliche und damit für das Unmögliche des Wirklichen, so könnte man mit Odo Marquard sagen, ist nicht entschieden, sondern gebrochen: „So machen Entscheidungen nicht entschieden, sondern gebrochen. Gebrochenheit definiert einen Menschen, der es trotz aller Versuche nicht fertigbringt, sich in ernsthafter Weise mit seiner Entscheidung zu identifizieren, weil er nicht umhin kann, auch das, wogegen er sich entschieden hat, (wenigstens insgeheim) als seine eigene, zugehörige Wirklichkeit anzuerkennen.“316 Übrigens ließe sich die theoretische Quintessenz von Sartres Theaterstück Geschlossene Gesellschaft als das radikale Gegenprogramm zu Musils Rehabilitierung des Möglichen und des Möglichkeitssinns, an welche auch Marquard ganz offensichtlich mit der obigen Formulierung anschließt, begreifen, weil schließlich in eine Verabsolutierung des Wirklichen und vor allem des tatsächlich Verwirklichten mündend. Am Ende des Stückes sagt Inés, eine der drei in jene von Sartre mit Empire-Möbeln ausgestatteten Hölle eingesperrten Personen: „Nur Taten entscheiden über das, was man gewollt hat.“ Auf Garcins Einwand: „Ich bin zu früh gestorben. Man hat mir nicht die Zeit gelassen, meine Taten auszuführen“ entgegnet Inés kühl: „Man stirbt immer zu früh – oder zu spät. Und nun liegt das Leben da, abgeschlossen; der Strich ist gezogen, fehlt nur noch die Summe.

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Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/1932), in: Gesammelte Werke. Band 1, a.a.O., S. 16. Vergleiche zu Musils Rehabilitierung des Möglichkeitssinns als eines dem Wirklichkeitssinn gleichrangigen Zugangs zur Welt auch Anmerkung 15, S. 197, im ersten Abschnitt dieses Kapitels. Odo Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg/München 1982 (1958), S. 53.

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Du bist nichts andres als dein Leben.“317 Inés Argumentation besagt in aller Knappheit und Unerbittlichkeit, dass es erstens nur Wirkliches oder Reales einerseits und NichtReales andererseits gibt und dass zweitens für die Bilanzierung einer Lebensleistung, wie sie scheinbar nun sogar in der von Sartre ganz und gar profan konzipierten Hölle auf der Tagesordnung steht, nur verwirklichte Taten zählen, nicht aber unverwirklichtes Mögliches, welchem aus welchen Gründen auch immer der ontologische Status der Wirklichkeit versagt geblieben ist. Angesichts der Aufgabe einer infernalischen Bilanzierung des eigenen Lebensertrags verweigert Inés Garcin so den Rekurs auf die Instanz einer unverwirklichten Möglichkeit. Damit nun zu den beiden bereits angekündigten, philosophischen Plädoyers für die unhintergehbare Unverfügbarkeit von menschlicher Geschichte und menschlichen Geschichten, wie sie von Wilhelm Schapp und von Hermann Lübbe formuliert wurden, die ebenjene unhintergehbare Unverfügbarkeit sowohl als Indiz für die Grenzen historischer Notwendigkeit als auch als Argument gegen den Gedanken einer gänzlich unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichte und Geschichten interpretieren: Hermann Lübbe hat in seiner 1977 erschienenen Schrift Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie im Kontext der Diskussion der Frage, was es denn heiße, etwas lasse sich nur historisch erklären, auf das theorieunfähige Element jeder Historie aufmerksam gemacht. Dieses theorieunfähige Element der Historie, welches auf Theorien aus anderen Disziplinen, diese hilfswissenschaftlich in Anspruch nehmend, angewiesen sein mag, diese Theorien aber selbst nicht entwickeln oder liefern kann, insofern theorieunfähig ist, artikuliert sich Lübbe zufolge immer dann, wenn das erklärungsbedürftige geschichtliche Phänomen nicht anders verstanden werden könne denn dadurch, dass wir immer auch, wenn auch nicht ausschließlich, eine Geschichte erzählen. In welchen Fällen, bezüglich welcher Gegenstände oder Vorkommnisse aber soll denn zutreffen, dass sich etwas nur insofern historisch erklären lässt, indem – wenn auch nicht ausschließlich, so doch zumindest notwendigerweise auch – eine Geschichte erzählt wird? Keinesfalls in allen Fällen, also keinesfalls bezüglich allen nur denkbaren Geschehens. Dann nämlich etwa nicht, so präzisiert Lübbe, „wenn einer tut, was er will, indem er kann, was er will […] Warum sollte man denn erzählen, was einer getan hat, wenn man weiß, was er wollte und konnte? Eben damit weiß man normalerweise ja ohnehin, was er entsprechend tat – es sei denn, es wäre etwas dazwischen gekommen. Das allerdings müsste man dann erzählen, um zu erklären, wieso einer nicht tat, was seinem primären Können und Wollen entsprochen hätte.“318 Das genuine Terrain des historischen Erklärens im Medium historischer Erzählung bilden demnach für Lübbe erstens nicht Prozesse oder Strukturen; aber eben zweitens auch nicht Handlungen, „sofern sie nach üblichen Handlungsregeln ungestört ausgeführt worden wären“319 ; sondern ein drittes: nämlich jener Bereich, in dem etwas dazwischen317 318

319

Jean-Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1986 (1947), S. 57. Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, a.a.O., S. 54. Ebd., S. 54.

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kommt, sich etwas anderes ereignet, als wir dies uns zunächst gedacht haben, uns also etwas einen „Strich durch die Rechnung“ (Heidel)320 macht. Allein für derartiges Geschehen gilt laut Lübbe, dass wir es nur erklären können, wenn wir darüber erzählen, während Handlungen, deren Resultate der zugrunde liegenden Intention in harmonischer Weise korrespondieren, gerade nicht erzählt werden müssen, damit wir sie begreifen können: „Nicht Handlungen also werden erzählt, sondern das Sichdurchkreuzen, das Sichüberlagern von Handlungen“321 . An anderer Stelle formuliert Lübbe so: „Geschichten sind nicht Handlungen und Geschichten werden erzählt, nicht Handlungsabläufe.“322 Und noch einmal in einer anderen Passage: „Nicht das, was einer Handlungsraison folgt, wird erzählt, sondern das, was ihr nicht folgt, indem man ihr folgt.“323 Geschichten bestehen, so könnte man mit Lübbe auch sagen, gerade nicht aus dem, was man tut, oder zumindest nicht allein aus dem, was man tut, sondern auch und vor allem aus dem, was passiert, was dazwischenkommt. Lübbe spricht diesbezüglich immer wieder von „Handlungsinterferenzen“; diese Handlungsinterferenzen sind es, die als das konstitutive Merkmal aller Geschichten die Theorieunfähigkeit der Historie verantworten; diese Handlungsinterferenzen sind es, die dazu führen, dass sich auf die Bemerkung, dieses oder jenes lasse sich nur historisch erklären, produktiv nur geantwortet werden kann, indem eine Geschichte erzählt wird. Aus der Sicht nur eines interferierenden Handlungsakteurs, nur eines Endpunkts des verworrenen Knäuels einer Handlungsgemengelage, wiederum erscheinen diese Handlungsinterferenzen als unintendierte Nebenfolgen einer Handlung, für die Wilhelm Wundt einst die Formel „Heterogonie der Zwecke“ prägte. Aus der Sicht dieses einen, in ein Ensemble von Aktionen involvierten Akteurs ergibt sich die Geschichte aus der Inkongruenz dessen, was geschieht, mit der ursprünglichen Absicht dessen, was hätte geschehen sollen. In seiner Beschreibung jener Elemente von Handlungsinterferenzen, welche die unaufhebbar narrative Struktur von Geschichten und damit deren Theorieunfähigkeit bedingen, verlässt sich Lübbe somit offensichtlich genau auf jene doppelpolige Sichtweise, die Berücksichtigung einer Teilnehmer- wie einer Beobachterperspektive, welche, wie wir im zweiten Kapitel sahen, auch für Aristoteles’ begriffliche Analyse des Zufalls in Metaphysik wie Physik zentral ist.324 So wie Aristoteles den Zufall, so beschreibt auch Lübbe Geschichten und die diese Geschichten konstituierenden Handlungsinterferenzen sowohl aus einer Teilnehmer- wie aus einer Beobachterperspektive. Um nun weiterhin zu verdeutlichen, was er meint, wenn er Geschichten als Handlungsinterferenzen oder als – aus der Teilnehmerperspektive betrachtet – „Heterogonie der Zwecke“ (Wundt) beschreibt und ferner die so verstandenen Geschichten als das die Theorieunfähigkeit der Historie verbürgende Charakteristikum auffasst, insofern sie eben nur erzählt werden können, verwendet Lübbe mitunter auch den, wie er selbst konzediert, etwas altmodisch 320

321

322 323 324

Vergleiche zu Charles Heidels Bemerkung die Anmerkung 130 im zweiten Kapitel dieser Arbeit, S. 114. Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, a.a.O., S. 55. Ebd., S. 77. Ebd., S. 58. Vergleiche hierzu meine Ausführungen im zweiten Kapitel dieser Arbeit, S. 119.

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klingenden Begriff des Widerfahrnisses. Man könnte insofern auch sagen, dass es Widerfahrnisse sind, die aus Handlungen erst Geschichten werden lassen, Geschichten, die wiederum erzählt werden müssen, wenn sie vollständig erklärt werden sollen. Aus Handlungsplänen und den ihnen zugrunde liegenden Intentionen werden, widerfährt ihnen etwas, Geschichten, die ihrerseits nur erklärt werden können, indem sie erzählt werden, und im Zusammenhang dieser Erzählungen und Berichte wird eben vor allem erzählt und berichtet, was ihnen, den Handlungen und Handlungsabsichten, widerfahren ist: „Das Wort ‚Widerfahrnis‘ hat einen altertümlichen Klang; die Assoziationen, die es auslöst, reichen bis in theologisch disziplinierte Orientierungen hinein, und das ist ganz angemessen. Uns widerfährt, womit wir nicht rechneten, und insoweit ist es dann gleich, ob, was so aus der Raison unserer Handlungen unableitbar war, uns als die zufällige oder beabsichtigte Intervention der Handlungen anderer oder als ein Naturgesetz widerfährt.“325 In diesem Zusammenhang bezeichnet Lübbe auch expressis verbis den Zufall als einen spezifischen Typus jener für Geschichten konstitutiven Handlungsinterferenzen, als eine „spezielle Sorte“326 dieser Handlungsinterferenzen oder Widerfahrnisse freilich, insofern in diesem Fall nicht eine Handlungsintention und die in ihrem Vollzug sich einstellenden Interferenzen oder Widerfahrnisse im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, sondern vielmehr zwei Begebenheiten oder Geschehnisse aufeinander bezogen werden und nunmehr deren Koinzidenz als zufällig betrachtet wird, insofern weniger die interferierende Unterbrechung einer Handlung betont wird als vielmehr die Koinzidenz zweier Begebenheiten. Für die Verdeutlichung eines solchen Verständnisses des Zufalls beruft sich Lübbe zurecht auf die theoretische Autorität von Aristoteles’ klassischer Diskussion und Distinktion der Begriffe von tyche und automaton in der Physik.327 Das mit einer Handlung koinzidierende Geschehen kann freilich, so unterschied bereits Aristoteles, immer zweierlei meinen: Zunächst nämlich kann mit einer Handlungsintention eine andere Handlungsintention koinzidieren, ohne dass diese Koinzidenz intendiert oder kausal zu erklären wäre. Jemand geht auf den Markt, um einen zu treffen; er trifft aber nicht diesen einen, der verhindert ist, sondern einen anderen. Diesen letzteren zu treffen, war ein Zufall. Freilich kann nun, darauf verweist Lübbe ebenfalls und insofern sind seine Ausführungen der Aristoteles-Interpretation von Rüdiger Bubner und dessen These einer „unauflöslichen Verkettung von Praxis und Zufall“, wie wir sie im zweiten Kapitel in einem eigenen Exkurs rekonstruiert und kritisiert hatten328 , eindeutig überlegen, freilich kann die eine Intention nicht nur mit einer anderen Intention kollidieren, woraus sich dann ein Zufall ergibt; eine Intention kann auch mit einem Naturgeschehen kollidieren, und das Ergebnis dieser Kollision wäre dann ebenso als zufällig zu bezeichnen. Lübbe fasst seine Gedanken bezüglich jenes genuinen Merkmals von Geschichten, welches Geschichten sowohl von Handlungen und ihren Intentionen 325

326 327 328

Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, a.a.O., S. 59. Ebd., S. 65. Vergleiche hierzu meine Ausführungen im zweiten Kapitel dieser Arbeit, S. 119–123. Vergleiche hierzu meine Ausführungen im zweiten Kapitel dieser Arbeit, S. 136–143.

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als auch von theoriefähigen Prozessen, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten unterscheidet, abschließend noch einmal so zusammen: „Aus Handlungsabläufen werden Geschichten durch Handlungsinterferenzen, durch Heterogonie der Zwecke, durch Widerfahrnisse, durch Zufälle [Hervorhebung von mir; P. V.].“329 Gleichviel nun, ob wir von Widerfahrnis, Handlungsinterferenz oder Zufall sprechen, Geschichten zeichnet in konstitutiver und unhintergehbarer Weise aus, so könnten wir abschließend Lübbes Versuch einer Wesenbestimmung derselben auf den Punkt bringen, dass sie in unhintergehbarer Weise unverfügbar sind; sie gehen weder in der Ausführung von Handlungen auf noch ergeben sie sich zwangsläufig aus apostrophierten Gesetzmäßigkeiten. Nun ist freilich sehr die Frage, ob das, was für die vielen einzelnen und mannigfaltigen Geschichten gilt, auch für die eine Geschichte zutrifft. Belehrt uns Lübbes These von der Theorieunfähigkeit der Historie und der unaufhebbaren narrativen Struktur von Geschichten nicht nur über die Wesensmerkmale von partikularen Geschichten, sondern auch über die Geschichte sub specie historiae, mithin über jene Sphäre, welche im Mittelpunkt des dritten Abschnitts dieses Kapitels zu stehen prätendiert und der Kontingenz und Zufall als unhintergehbare Bestandteile und Merkmale nachzuweisen sich dieser Abschnitt unterfängt. „Auch die eine Geschichte ist eine Geschichte“330 , schreibt Lübbe knapp und apodiktisch in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. In einer anderen Passage dieses Werkes attestiert er dieser einen Geschichte, dass sie als die eine Geschichte „von anderen singulären Geschichten nicht durch ihre Struktur, sondern einzig durch die numerische Singularität ihres Referenzsubjekts, unserer Gattung nämlich, sich unterscheidet.“331 Auch für die Geschichte soll demnach gelten, was für die vielen einzelnen Geschichten ebenfalls zutrifft, dass sie in konstitutiver Weise unverfügbar ist und dass sie daher, insofern sie niemals als Resultat von Handlungsabsichten und Planrealisationen und auch nicht als Konkretisierung abstrakter Gesetzmäßigkeiten aufzufassen ist, sich vollständig nur erklären lässt, wenn sie erzählt wird. Lübbes Auffassung von Geschichte und Geschichten als unhintergehbar unverfügbar, seine Auffassung von Geschichte und Geschichten als Widerfahrnisse, die seine „Analytik und Pragmatik der Historie“ ebenso kennzeichnet wie die erwähnten Äußerungen Musils über eine „Geschichte ohne Autoren“ und ein „Sich-Verlaufen“ der Weltgeschichte und Schapps noch zu erwähnende Phänomenologie der Geschichten, zeichnet freilich gegenüber Musil und Schapp aus, dass sie sich für die Begründung und Legitimierung ihrer Thesen auf den Historismus berufen zu können glaubt. Den Historismus soll nämlich laut Lübbe gerade auszeichnen, dass er – so wie die eigene Argumentation in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse – für die solchermaßen erzählungsbedürftigen Geschichten aufmerksam ist, weil er weiß, dass Geschichten stets – aus der Teilnehmerperspektive – als „Heterogonie der Zwecke“ oder – aus der Beobachterperspektive – als Widerfahrnis oder als Handlungsinterferenz aufzufassen sind, wobei stets auch dem Zufall als „spezielle Sorte“ dieser Handlungsinterferenzen in seiner zweifachen Ausführung historische und historiographische Relevanz zu 329

330 331

Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, a.a.O., S. 69. Ebd., S. 84. Ebd., S. 275.

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attestieren ist. Es stellt insofern für Lübbe eine wohlfeile „Karikatur des Historismus“ dar, „ihm zu unterstellen, er wäre entsprechend darauf festgelegt, Geschichten nach Grundsätzen von der Art ‚Männer machen Geschichte‘ zu schreiben.“332 Das Gegenteil sei doch gerade der Fall, so insistiert Lübbe; der Historismus ziehe aus der Geschichte die „Lehre“, „dass wir, im ganzen, niemals das sind, was wir zu sein gewollt haben, und es ist die Erfahrung der Geschichte, die uns diese Einsicht vermittelt. […] Die Geschichte belehrt uns über die ungewissen Grenzen unserer Handlungsmacht […] Die Geschichte demonstriert uns die mangelnde Interventionsresistenz unserer Pläne gegen den Zufall.“333 Für jene Lehre und für diese Demonstration theoretisch sensibel zeigt sich aber nun gerade der Historismus. Zwar will Lübbe gar nicht bestreiten, dass im Rahmen von Geschichte und auch von Geschichten gehandelt werden kann, noch unterstellt er dem Historismus, dass dieser das tue. Selbstverständlich können sich innerhalb von Geschichten und Geschichte auch Handlungen ereignen, deren Absicht und deren Resultat zur Deckung kommen. Aber für die eine Geschichte und die vielen Geschichten soll laut Lübbe so wie auch jenem Historismus zufolge, wie ihn Lübbe verstanden wissen möchte, gelten, dass Geschichte und Geschichten niemals ausschließlich und zur Gänze als Folgen von Handlungsintentionen zu verstehen sind: „Das Resultat einer Geschichte, der Zustand, zu dem sie führte, hat nicht Produktcharakter. Was aus Geschichten herauskommt, ist nicht das, was einer wollte, was natürlich nicht ausschließt, dass innerhalb von Geschichten Handelnde tun, was sie wollen. Evident ist diese Struktur bei Personen. Wer und was jeweils einer ist, ist er geworden, und dazu trug bei, was er tat oder unterließ. Aber niemand kann sich in seiner Identität als das Produkt seines Willens zur Produktion dieses Produkts denken.“334 Gleichermaßen den Historismus karikierend wäre es aber auch – und diese verzerrende Interpretation lässt sich in der Tat ungleich häufiger antreffen als die von Lübbe kritisierte –, dem Historismus die Ansicht zu unterstellen, Gesetze historischer Notwendigkeit postuliert und die Geschichte lediglich als Illustration dieser wie auch immer verstandenen Gesetzmäßigkeiten begriffen zu haben. Die geschichtstheoretische Quintessenz des Historismus würde durch eine solche Interpretation ebenfalls stets verfehlt. Der Historismus beruht laut Lübbe auf der Einsicht in die strukturelle Ähnlichkeit von der einen Geschichte und den vielen Geschichten, und der Historismus schließt aus dieser Einsicht, dass allen Geschichten ebenso wie aller Geschichte ein unaufhebbares Moment von Unverfügbarkeit eigen ist und insofern Geschichte niemals ausschließlich und zur Gänze durch historische Notwendigkeit oder durch vollständige Verfügbarkeit, sondern immer auch durch Kontingenz und Zufall im Sinne unhintergehbar unverfügbarer Widerfahrnisse charakterisiert ist. Insofern lässt sich der Historismus für Lübbe in seinem 332 333 334

Ebd., S. 133. Ebd., S. 276. Ebd., S. 81.

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Kern als Kultivierung eines Bewusstseins von Unverfügbarkeit begreifen. Sowohl gegen die Idee der prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichten und Geschichte als auch gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit kultiviert der Historismus die Einsicht in die unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichten und Geschichte und formuliert genau auf dieser theoretischen Grundlage eine Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in den Geschichten und in der Geschichte: „Wer weiß, was er kann, und es will, tut es. Dergleichen kommt in Geschichten vor; aber es macht Geschichten als Geschichten nicht aus. Ihre Narrativität beruht theoretisch auf den Einschüssen von Kontingenz in ihre Ereignis- und Zustandsabfolgen, und Historie, als Kultur der Erfahrung dieser Kontingenz, stellt uns darauf ein, dass wir, als Subjekte von Geschichten, die Betroffenen solcher Kontingenz sind.“335 Insofern glaubt Lübbe den Historismus auch als historiographische Variante einer „Predigt der Endlichkeit“336 bezeichnen zu können. Während die Religion sich für Lübbe als eine auf die Widerfahrnisse eines individuellen Lebens bezogene „Kontingenzbewältigungspraxis“ verstehen lassen soll337 , besteht die Kontingenzerfahrungskultur des Historismus in der Wahrung der Einsicht, dass sich es sich bei menschlichen Geschichten und menschlicher Geschichte weder um die Implementierung historisch notwendiger Gesetzmäßigkeiten noch um das Resultat vorgefertigter Pläne und Handlungsabsichten handelt, dass daher auch unsere Geschichte sub specie historiae niemals identisch ist mit dem, was wir wollen, und dass ebendieses Merkmal der Unverfügbarkeit von Geschichte zur Folge hat, dass sich die Geschichte niemals, zumindest niemals vollständig und zur Gänze in Handlungssinn transformieren lässt. Dies erkannt und formuliert zu haben, stellt für Lübbe die herausragende methodische und geschichtstheoretische Leistung des Historismus dar, und der theoretischen Würdigung dieser Leistung verdankt sich, dass Lübbe das „Resultat“ seiner gesamten Argumentation in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, auch die darin formulierte theoretische Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen ihrer unhintergehbaren Unverfügbarkeit, grundsätzlich als „Apologie des Historismus in seiner unüberholten epistemologischen und kulturellen Substanz“338 verstanden wissen will. Inwiefern es sich nun bei Lübbes Sichtweise des Historismus nicht nur um das durchschaubare Ansinnen, die eigene und in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse ausgearbeitete theoretische Position durch Referenz auf ein altehrwürdiges und zumal im deutschen Sprachraum häufig noch verehrtes geistiges Erbe theoretisch sakrosankt erscheinen zu lassen, sondern inwiefern sich eine Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Sinne und im Namen ihrer unhintergehbaren Unverfügbarkeit tatsächlich, so wie Lübbe es diagnostiziert, als zentrales geschichtstheoretisches Wesensmerkmal des Historismus im späten 18. und im 335 336 337

338

Ebd., S. 277. Ebd., S. 282. Vergleiche dazu das letzte Kapitel dieser Arbeit und die dortigen Ausführungen zu Lübbes Auffassung von Kontingenz und Religion, S. 683–687. Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, a.a.O., S. 7.

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frühen 19. Jahrhundert ausweisen lassen kann, dies werde ich nicht in diesem, sondern erst im ersten Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit überprüfen, indem ich auf Autoren wie Herder, Savigny oder Schleiermacher zu sprechen komme.339 Damit ganz am Ende dieses Kapitels zu Wilhelm Schapp, dem dritten Protagonisten jener in diesem dritten Abschnitt des Kapitels zu skizzierenden geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall im Namen der unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten, welche nun freilich im Unterschied zu Lübbes „Analytik und Pragmatik der Historie“ kennzeichnet, dass sie weniger auf einer geschichts- und geschichtentheoretischen, denn auf einer phänomenologischen Ebene argumentiert, die sich insofern auch nicht mit dem Historismus auseinandersetzt oder sich gar – wie Lübbes Geschichtstheorie – auf diesen beruft, die ferner im Unterschied zu Lübbe den Begriff der Kontingenz oder der historischen Kontingenz und im Unterschied zu Lübbe und Musil den Begriff des Zufalls oder des historischen Zufalls gar nicht explizit verwendet, und die doch – so wie eben auch Lübbe und Musil dies tun – im Namen einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten sich gegen den Gedanken einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten ebenso wie gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit wendet. Während Lübbe ausdrücklich auf einer geschichts- oder geschichtentheoretischen Ebene von Geschichten als Handlungsinterferenzen und Widerfahrnissen und dabei expressis verbis auch von den für Geschichten konstitutiven Zufällen und Kontingenzen spricht, insofern also für die Existenz und Relevanz von Zufällen und Kontingenzen in der Geschichte und in Geschichten im Sinne einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit plädiert, um jenes Moment der Geschichte und der Geschichten zu verdeutlichen, welches dem Gedanken einer vollständigen Verfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten widerspricht, so nimmt die Wesensbestimmung von Geschichten und Geschichte, wie sie der Husserl-Schüler Wilhelm Schapp formuliert, auf den sich Lübbe in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse übrigens mehrfach zustimmend bezieht, ihren Ausgang bei dem phänomenologischen Befund, wir Menschen seien, was wir seien, weil wir stets in Geschichten verstrickt seien. So wie Lübbe – wenn auch nicht in Folge einer theoretischen Reflexion der Wesensmerkmale von Geschichte und Geschichten, sondern im Zuge einer phänomenologischen Analyse des menschlichen Daseinsvollzugs – will daher auch Schapp in seiner Phänomenologie der Geschichten auf das für alle Geschichten konstitutive Moment von Unverfügbarkeit aufmerksam machen. Und so wie Lübbe überträgt auch Schapp im Zuge dieser Absicht das für alle Geschichten konstitutive Moment von Unverfügbarkeit auf die eine Geschichte, um so die Bedeutung von Kontingenz und Zufall im Sinne unhintergehbar unverfügbarer Widerfahrnisse für die eine menschlichen Geschichte theoretisch zu rehabilitieren, obwohl sich diese Termini von Kontingenz und Zufall bei ihm – und dies nun wiederum im Unterschied zu Lübbe – gar nicht explizit finden. Schapp hat seine 1953 erschienene Schrift In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding mit Sätzen eröffnet, die dem Leser den theoretischen Ausgangspunkt seiner Schrift sofort begreiflich machen: „Wir Menschen sind immer in Geschichten 339

Vergleiche hierzu meine Ausführungen auf den S. 380–390 im fünften Kapitel dieser Arbeit.

320

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verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter.“340 Ja, für Schapp gilt recht eigentlich, dass die einzelne Geschichte und die individuelle Verstrickung in diese eigentlich nur in artifizieller Weise zu trennen sind, erscheinen doch beide, die Geschichte und der in sie Verstrickte, immer synchron: „Das Verstricktsein ist nicht etwas, was zur Geschichte hinzukommt, sondern es macht die Geschichte erst zur Geschichte.“341 Dieses Verstricktsein ist nun Schapp zufolge für das, was wir sind, konstitutiv. Einzig das komplexe Verstricktsein in Geschichten gibt uns Aufschluss darüber, wer wir sind: „Anscheinend können wir nur über unsere eigenen Geschichten, über die Art und Weise, wie wir sie bestehen, wie wir in ihnen verstrickt sind, wie die Verstrickungen zustande kommen, sich lockern oder unentwirrbar werden, zu uns selbst kommen.“342 Am Beispiel der Liebe und von Liebesgeschichten lässt sich das, was Schapp hier meint, besonders trefflich illustrieren: „Wenn wir an das herankommen wollen, was Liebe ist, so ist das nur möglich über die großen Liebesgeschichten; […] Ohne Verstricktsein, ohne Mitverstricktsein gibt es keinen Zugang zur Liebe, und dies Verstricktsein und Mitverstricktsein ist immer Verstricktsein in Geschichte.“343 Dass es Liebe nur in Liebesgeschichten gibt und dass es also Liebe nur als Verstricktsein in Liebe gibt und dass es also keine für das menschliche Leben sinnvolle Handlungsoption darstellen würde, anzunehmen, man könnte mit der Liebe und dem Leben stets „von vorne“ anfangen, hat übrigens Sartre in Das Spiel ist aus entgegen den Intentionen seines existentialistischen Voluntarismus gewissermaßen à contrecoeur gezeigt.344 Unterstellen Sartres programmatischer Aufruf zu radikaler Wahl und die existentialistische Attitüde des permanenten Entwurfs seiner selbst, wie sie in dem Essay „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ pathetisch niedergelegt sind, dass der Mensch stets ganz seine Wahl ist und sich in radikaler Freiheit stets neu entwerfen kann, so zeigt die in Das Spiel 340

341 342

343 344

Willhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, S. 1. Ebd., S. 150. Ebd., S. 126. Auch Lübbe hat auf diesen von Schapp bezeichneten Sachverhalt, gewissermaßen den intrinsischen Konnex von persönlicher Identität und Verstricktsein in Geschichten, verwiesen und so reformuliert: „Identität ist kein Handlungsresultat. Sie ist das Resultat einer Geschichte, das heißt der Selbsterhaltung und Entwicklung eines Subjekts unter Bedingungen, die sich zur Raison seines jeweiligen Willens zufällig verhalten. Eben deswegen ist das Subjekt im Verhältnis zu der Geschichte, durch die es seine Identität hat, auch nicht deren Handlungssubjekt, sondern lediglich das Referenzsubjekt der Geschichte.“ Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, a.a.O., S. 154. Willhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, a.a.O., S. 148 f. Vergleiche zu jener theoretischen Position, die ich als existentialistischen Voluntarismus bezeichne, Sartres Essay „Der Existenzialismus ist ein Humanismus“ und meine diesbezüglichen Anmerkungen im ersten Abschnitt dieses dritten Kapitels, S. 213 f. Sartre, Jean-Paul, „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ (1946), in: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, a.a.O., S. 145–176.

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ist aus aufgeblätterte Liebesgeschichte von Pierre Dumaine und Ève Charlier doch gerade etwas ganz anderes, nämlich die Tatsache, dass auch zwei verstorbenen Personen, welche vermeintlich oder tatsächlich füreinander bestimmt waren, sich im Leben aber faktisch nie begegnet waren, und welche nun die Erlaubnis erhalten, ins Diesseits just in jenem Augenblick zurückzukehren, da sie de facto aus dem Leben geschieden waren, dass selbst zwei solcherart füreinander bestimmten Personen, wie es nun Pierre und Ève laut Aussage der Bürovorsteherin jenes göttlichen Instituts, welches über Leben und Tod Buch führt, tatsächlich sind, kein radikaler Neubeginn und kein komplett neuer Anfang ihres Lebens möglich ist, weil sie eben immer schon in die Geschichten verstrickt sind, in die sie verstrickt sind, und weil daher ihre Liebe und ihr Gefühl, für einander bestimmt zu sein, sich mit diesem Verstricktsein und mit den daraus resultierenden Kompromissen zwangsläufig arrangieren müssen, zwangsläufig daher auch zu Konzessionen gezwungen sind, die das aufflammende Gefühl der Liebe bereits im Keime ersticken. Die Faktizität des Verstricktseins in Geschichten erweist sich für die beiden Protagonisten von Sartres Das Spiel ist aus mithin als den eigenen Wünschen, Trieben, Gefühlen und Intentionen überlegen. Daher müssen Pierre und Ève gemäß den göttlichen Regularien ihren vierundzwanzigstündigen Ausflug ins Diesseits beenden und wieder in jenes Schattenreich zurückkehren, aus dem sie sich kraft ihrer Liebe eben erst aufgemacht hatten. „Kann man wirklich versuchen, sein Leben neu anzufangen?“, werden Pierre und Ève am Ende von Sartres Skript gefragt. Pierres und Èves nüchterne Antwort an den Fragesteller lautet: „‚Versuchen Sie’s‘, rät Pierre. ‚Versuchen Sie’s ruhig einmal‘, murmelt Ève.“345 Pierre und Ève müssen sich eingestehen, so hat Ulrich Pothast dieses Finale von Sartres Stück interpretiert, „dass ihre Liebe nicht stärker war als ihre im bisherigen Leben eingegangenen Bindungen und dass es ein menschliches Gutsagen für die Unbedingtheit oder Absolutheit der eigenen Liebe sogar da, wo an diese Liebe als an ein Fatum geglaubt wird, nicht gibt. Auch das Dekret einer fiktiven Schicksalskanzlei, diese beiden Menschen seien füreinander und für die Liebe zueinander bestimmt, hat den sehr folgenreichen Rest von Erkenntnisungewissheit auf seiten der Liebenden und den Rest ebensolcher Wirkungslosigkeit des willentlichen Eingriffs in das undurchdringliche Gesamtgefüge der je eigenen liebenden Person nicht aus der Welt geschafft. Deshalb sind Sartres Liebende freilich auch bis zu ihrem erneuten Tod liebende Menschen geblieben, eingeschlossen in die typischen Grenzen menschlicher Verfügung über das eigene Selbst, statt wohlberechenbare Automaten zu werden oder irreale Götter.“346 Wie auch immer es um die Liebe von Pierre und Ève bestellt sein mag: Welche Lehren lassen sich aus Schapps Phänomenologie des in Geschichten und insbesondere in Liebesgeschichten stets verstrickten Menschen für das Gebiet der Geschichtstheorie, ja mehr noch für die Frage nach Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit dieser Geschichte und nach der Existenz und Relevanz von Kontingenz und Zufall in dieser Geschichte – be345 346

Jean-Paul Sartre, Das Spiel ist aus, Reinbek bei Hamburg 2005 (1947), S. 138. Ulrich Pothast, „Liebe und Unverfügbarkeit“, in: Heinrich Meier und Gerhard Neumann (Hg.), Über die Liebe. Ein Symposion, München 2000, S. 319 f.

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trachtet sub specie historiae – entnehmen? Diese Frage haben wir an Schapps Versuch, zunächst das Wesen von Geschichten und ihre Bedeutung für die Frage, wer wir sind, aufzuklären, ebenso zu richten wie an Lübbes Analyse des Widerfahrnischarakters von Geschichten. Läßt sich dem phänomenologischen Befund, wonach die Menschen im Vollzug ihres Lebens sich stets in Geschichten verstricken, eine auch für die Wesensbestimmung der Geschichte sub specie historiae relevante theoretische Konsequenz entnehmen, eine theoretische Konsequenz, die weniger für partikulare Geschichten Geltung beansprucht als vielmehr für ebenjene Geschichte, wie sie den Historiker interessiert, für die Geschichte der „Völker oder Nationen oder Staaten“347 , wie Schapp schreibt, die Geschichte, „wie sie Herodot, Thukydides, Livius oder Ranke oder Mommsen uns darbieten“348 ? Schapp behauptet nun, und dies ebenfalls gleich in den ersten Sätzen von In Geschichten verstrickt, dass die eine Weltgeschichte zwar niemals in einem Konglomerat aller individuellen Narrative aufgeht, von den einzelnen Geschichten aber auch nicht abzutrennen sei: „Wir wollen nicht behaupten, dass die Weltgeschichte, wenn es so etwas gibt, oder die Geschichte irgendeiner Nation oder irgendeines Zeitalters nur aus Geschichten bestehe oder nur eine Aneinanderreihung von Geschichten sei, aber jedenfalls stehen Einzelgeschichten in engstem Zusammenhang mit der Weltgeschichte. Eine Weltgeschichte, die nicht als wesentlichen Ausgangspunkt Geschichten hätte, lässt sich kaum vorstellen.“349 Die Geschichte im Sinne einer umfassenden Weltgeschichte oder einer spezifischen historischen Epoche lässt sich weder von den einzelnen Geschichten trennen noch geht sie in diesen auf. Allerdings sind die vielen Geschichten und die eine Geschichte für Schapp immer schon auf eine spezifische Weise verbunden. Deshalb fühlt sich Schapp zu der These berechtigt, dass alle Geschichten in einer geschichtlichen Welt wurzeln, die unmittelbar mit den Geschichten mitgegeben ist. Warum und inwiefern soll dies gelten? Alle Menschen sind in ihre eigenen Geschichten verstrickt, so lautete, wie wir sahen, Schapps Ausgangsthese. Alle Menschen sind aber stets auch in die Geschichten von vielen anderen mitverstrickt. Und letzteres gilt nun auch für die nicht oder nicht mehr aktuellen Geschichten ebenjener anderen, so dass also gilt, „dass wir nicht nur in die Geschichte des Präsidenten der USA, des englischen Ministerpräsidenten oder irgendeines anderen mächtigen Mannes der Jetztzeit mitverstrickt sind, ebenso wie diese in unsere Geschichten verstrickt sind, sondern dass wir auch in die Geschichten von Luther, Karl dem Großen und weiter zurück, soweit der Horizont reicht, mitverstrickt sind“350 .

347 348 349 350

Willhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, a.a.O., S. 198. Ebd., S. 198 f. Ebd., S. 1. Ebd., S. 143.

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Wir sind zunächst in die vielen eigenen Geschichten verstrickt, und in diese unsere Geschichten können wiederum andere mitverstrickt sein; und in die Geschichten von manchen anderen sind wir ebenfalls ganz direkt mitverstrickt; und in die Geschichten von vielen anderen, wenn auch vielleicht nicht allen anderen, sind wir ebenfalls, wenn auch in einer weniger intensiven Weise, ebenfalls mitverstrickt, und dies letztgenannte Phänomen kann sich wiederum auf die Gegenwart wie auf die Vergangenheit beziehen, sprengt mithin das Gehäuse einer gegenwartshörigen und vergangenheitsvergessenen Philosophie. So plausibilisiert sich für Schapp die erwähnte These: Die Geschichte sub specie historiae ist nicht ohne die Geschichten zu denken, auch wenn sie niemals im Ensemble von Geschichten aufgeht. Die Geschichten sind nicht ohne die Geschichte sub specie historiae zu denken, auch wenn sie niemals in dieser Geschichte sub specie historiae aufgehen. Insofern bestimmt Schapp das Verhältnis von historia und historiae ganz ähnlich wie Lübbe, der ja ebenfalls die eine Geschichte und die vielen Geschichten nicht hatte gleichsetzen wollen, freilich auf ihrer strukturellen Ähnlichkeit hinsichtlich des ihnen je eigenen Moments von Unverfügbarkeit insistiert hatte. Insistiert auch Schapp auf der unhintergehbaren Unverfügbarkeit der Geschichte sub specie historiae und liegt auch seinem Plädoyer für die strukturelle Ähnlichkeit von Geschichten und Geschichte eine solche Insistenz zugrunde? Schapp hat sich niemals explizit die Frage vorgelegt, ob sich den unverfügbaren Momenten von Geschichten geschichtstheoretische Parallelen entnehmen lassen. Der Grund für diese verblüffende und gegenüber Lübbes theoretischen Reflexionen in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse eindeutig defizitäre, geschichtstheoretische Enthaltsamkeit scheint mir darin begründet zu sein, dass Schapp phänomenologische Wesensschau und objektivierende Geschichtsschreibung in das schroffe Verhältnis eines unüberbrückbaren Gegensatzes rückt, weswegen für ihn jede Form einer historiographischen oder geschichtstheoretischen Reflexion über das Wesen der einen Geschichte dem Phänomen des einzig phänomenologischer Analyse sich erschließenden, prinzipiellen Verstricktseins in Geschichten nicht gerecht werden kann. Am Ende von Schapps später Philosophie der Geschichten wird eine geschichtstheoretische Enthaltsamkeit in diesem Sinne ganz bewusst artikuliert: „Wir kommen dann zu dem Verhältnis unserer Überlegungen zur Geschichtswissenschaft. Hier liegt das Thema auf der Hand. Dabei handelt es sich aber um außerordentlich schwierige Fragen.“351 Schapp hat diese „außerordentlich schwierigen Fragen“ niemals ausdrücklich gestellt und zu beantworten versucht. Aber immerhin einen impliziten und indirekten Hinweis darauf, dass nun eine geschichtstheoretische Betonung der unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte und ein darauf beruhender Versuch einer geschichtstheoretischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte, wie er in dieser Sektion (c) des dritten Abschnitts dieses Kapitels im Mittelpunkt stand und sowohl für Musil als auch Lübbe nachgewiesen werden konnte, die Intentionen von Schapps geschichtstheoretisch enthaltsamer Verstrickungsphänomenologie keinesfalls gewaltsam verfälscht, diesen vielmehr gerecht wird, verdanken wir der Tatsache, dass Schapp das Verhältnis von Handeln und Geschichten und nun ausdrücklich auch von Handeln und Geschichte ganz ähnlich bestimmt wie Lübbes Polemik gegen eine Auffassung von Geschichte 351

Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, Frankfurt am Main 1981 (1959), S. 336.

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und Geschichten als „Produktcharakter“ und Musils Verweis auf das „Sich-Verlaufen“ der Weltgeschichte im Sinne eines „durch die Gassen Streichenden“. Weil wir in unsere Geschichten verstrickt sind, können wir unsere Geschichten nicht beliebig machen, so Schapp, obschon wir natürlich in unseren Geschichten immer handeln können. Und auch wenn wir nun in der Geschichte sub specie historiae handeln, was tun zu können weder Schapp noch Lübbe oder Lübbes „Apologie des Historismus“ noch Musils Rede von einer „Geschichte ohne Autoren“ bestreiten, tun wir dies immer schon vor einem Horizont von Verstrickungen und Widerfahrnissen. Insofern geht auch diese eine Geschichte sub specie historiae niemals in Handlungen auf. Handeln gibt es nur in Geschichten und in der Geschichte, Handeln ist immer nur ein Moment des umfassenderen Phänomens des Verstricktseins in Geschichten und in Geschichte. Diese strukturanaloge Relevanz von Handlungen für Geschichten und für die Geschichte zeugt indirekt davon, dass Schapp das Charakteristikum der Unverfügbarkeit auf die Geschichte sub specie historiae ebenso bezogen wissen will wie auf die vielen einzelnen Geschichten. So gilt auch für Schapp nicht anders als für Musil und Lübbe: „Weltgeschichten kann man so wenig machen, wie man überhaupt Geschichten machen kann. Man findet sie vor und ist entweder in sie verstrickt, wie man in seine eigene Geschichte verstrickt ist, zusammen mit den anderen Mitverstrickten, oder man distanziert sich von ihr, wobei die Frage ist, was das im letzten Sinne bedeutet.“352 Ein Bewusstsein für die unhintergehbar unverfügbaren Widerfahrnisse in Geschichten ebenso wie in der Geschichte sub specie historiae bildet so für Schapp nicht anders als für Lübbe und Musil den innersten theoretischen Nukleus der Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte und in den Geschichten im Sinne und im Namen eines unhintergehbar Unverfügbaren. Auch die eine Geschichte zeichnet demnach aus, dass wir in sie verstrickt sind. Und insofern und weil wir in diese eine Geschichte verstrickt sind, ist diese Geschichte immer auch, wenn auch nicht ausschließlich, in unhintergehbarer Weise unverfügbar. Inwiefern jener theoretische Kern auch noch den Historismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts prägt, dies wollen wir unter anderem im fünften Kapitel dieser Arbeit, mit dem wir unsere ideengeschichtlichen Skizzen des zweiten Teils dieser Arbeit eröffnen werden, ausführlich erörtern, indem wir ein Bewusstsein für das unhintergehbar Unverfügbare im Sinne eines Schicksalszufälligen oder eines Schicksalskontingenten auch bei Herder, Savigny oder Schleiermacher ausmachen werden. Vor der Behandlung derartiger ideengeschichtlicher Fragestellungen empfiehlt es sich freilich, diesen begriffsgeschichtlichen ersten Teil der Arbeit damit zu beschließen, dass wir unsere Vorstellungen von Kontingenz und Zufall bezüglich der Sphäre der Geschichte noch einmal erproben. Zu diesem Zweck wollen wir unsere bisherige Argumentation mit einer aktuellen Stimme aus den Geschichtswissenschaften selbst konfrontieren und so einige Aspekte und Facetten des bislang geleisteten begriffsgeschichtlichen Präzisierungsunternehmens Revue passieren lassen. 352

Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, a.a.O., S. 204.

IV Kontingenz und Zufall in der Geschichte. Eine Auseinandersetzung mit Arnd Hoffmanns Studie Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie

Wie lassen sich Kontingenz und Zufall in der Geschichte denken? Was soll, was kann es heißen, von einer kontingenten und zufälligen Geschichte oder von historischer Kontingenz und historischem Zufall zu sprechen? Gerade im Vergleich zu jenen umfassenden und reichhaltigen literarischen, geschichtstheoretischen und phänomenologischen Versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, wie wir sie soeben im dritten Abschnitt des vorherigen Kapitels darstellten, bietet der Forschungsstand der Geschichtstheorie oder Geschichtswissenschaft ein merkwürdig blasses Bild. Das betrifft sowohl die beiden erwähnten begriffsgeschichtlichen Fragen als auch schließlich jene ideengeschichtliche Frage, welcher Autor, welches Denken, wann und in welcher Weise auch immer und mit Hilfe welcher Begrifflichkeit auch immer eine theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte formulierte, die freilich erst im zweiten, ideengeschichtlichen Teil dieser Arbeit verhandelt werden soll. Seit Reinhart Koselleck vor nunmehr vierzig Jahren seinen Aufsatz „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“1 verfasste, ist die Frage nach Zufall und Kontingenz auch und gerade in der Geschichte von der zünftigen Historie kaum noch in einer nennenswerten Weise verhandelt worden, während doch im nahezu gleichen Zeitraum zwei Philosophen, Hermann Lübbe und Wilhelm Schapp, sich der menschlichen Geschichte als Sphäre von Kontingenz und Zufall ausdrücklich zuwendeten und dabei wertvolle geschichtstheoretische Überlegungen und phänomenologische Analysen des unverfügbaren Moments einzelner Geschichten wie der Geschichte schlechthin – sub specie historiae betrachtet – formulierten, die sich als scharfsinniger Protest gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit im Namen historischer Kontingenz oder historischen Zufalls oder immerhin im Namen einer immer auch durch unverfügbare Widerfahrnisse und unverfügbares Verstrickt-Sein gekennzeichneten Geschichte deuten

1

Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ (1968), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 158–176.

326

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ließen.2 Der Geschichtsschreibung oder Geschichtswissenschaft hingegen oder jedenfalls ihrer theoretischen und methodischen Besinnung schien das Selbstverständnis der eigenen Disziplin offenkundig die Forderung nahezulegen, ja geradezu zu erzwingen, Geschichte nie anders denn als Beschreibung der historischen Wirklichkeit – was auch immer das heißen möge – zu verstehen und insofern alle Mutmaßungen über Zufall und Kontingenz in der Geschichte für unzulässig zu halten. Die Geschichte und die Geschichtsschreibung, sie kennen, so die dabei wohl zugrundeliegende Annahme, keinen Konjunktiv. Der Historiker bedarf dieser Vorstellung gemäß, um noch einmal an die Begrifflichkeit Musils zu erinnern, allein eines ausgeprägten „Wirklichkeitssinns“, für einen „Möglichkeitssinn“ hingegen findet er keine sinnvolle Verwendung. Allein die Tatsache, dass dies oder das geschehen ist, sowie die Frage, aus welchen Gründen dies oder das geschehen ist, hätten den Historiker demnach zu interessieren. Es ist dieser Befund einer geschichtstheoretischen Vernachlässigung der Themen und Begriffe von Kontingenz und Zufall durch die Geschichtswissenschaft einerseits, das Bewusstsein für die Sonderstellung von Kosellecks genanntem Aufsatz andererseits, welche am Beginn von Arnd Hoffmanns auf einer Dissertation beruhenden Studie Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte stehen und deren Entstehung wohl auch maßgeblich motiviert haben. Mit dieser Arbeit liegt – zumindest im deutschsprachigen Raum3 – zum ersten Mal wieder seit Kosellecks 1968 erstmalig publiziertem Aufsatz „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ der Versuch einer umfassenden geschichtstheoretischen Reflexion der Themen und Begriffe von Kontingenz und Zufall aus der Feder eines Historikers vor. Was können wir von Hoffmanns Arbeit lernen? Ich möchte im Folgenden die bislang ermittelten Vorstellungen von Kontingenz und Zufall bezüglich der Sphäre der Geschichte schärfen, indem ich nunmehr die jüngere der beiden genannten Stimmen aus den Geschichtswissenschaften ausführlich selbst zu Wort kommen lasse, wobei ich nicht den Gedankengang von Hoffmanns Studie im Ganzen wiedergeben werde, sondern mich auf jene Aspekte seiner Arbeit konzentriere, die mir theoretisch am bedeutsamsten erscheinen. In einem ersten Schritt möchte ich die angesprochene Diagnose einer geschichtstheoretischen Vernachlässigung der Themen und Begriffe von Kontingenz und Zufall durch die Geschichtswissenschaft dadurch in ein besonders helles Licht rücken, dass ich überblicksartig und jenseits der bereits ausführlich diskutierten Arbeiten von Lübbe und Schapp an die zeitgenössische philosophische Thematisierung von Kontingenz und Zufall erinnere, ja geradezu an die Konjunktur dieser philosophischen Thematisierung in den letzten Dekaden. In einem zweiten Schritt will ich zeigen, in welchem Maße Hoffmanns Arbeit durch die angesprochene Sensibilität 2

3

Vergleiche dazu meine Ausführungen im vorangegangenen Kapitel, S. 313–324, sowie: Willhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953. Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/ Stuttgart 1977. Mit dieser vorsichtigen Formulierung will ich dem durchaus berechtigten Vorwurf, in dieser Arbeit bliebe die Geschichtstheorie Raymond Arons unberücksichtigt, begegnen. Für eine erste, ambivalente Einschätzung der Relevanz der Zufallsthematik für Arons Geschichtstheorie vergleiche Anmerkung 267, S. 293.

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für die geschichtswissenschaftliche Sonderstellung von Kosellecks zufallstheoretischen Reflexionen geradezu zwangsläufig, so möchte man sagen, dazu gedrängt wird, ihren Ausgang bei einer kritischen Auseinandersetzung mit Kosellecks genanntem Aufsatz zu nehmen. In diesem Zusammenhang will ich auch Hoffmanns Einschätzung des Historismus ausführlich prüfen. Im Mittelpunkt des systematisch-theoretischen Teils von Hoffmanns Studie steht sodann der Versuch, im Zuge eines ausführlichen begriffsgeschichtlichen Exkurses zu einer grundsätzlichen und prinzipiellen Unterscheidung von Zufall und Kontingenz zu gelangen. Auf diesen Versuch will ich drittens eingehen. Das anspruchsvollste Kapitel innerhalb des systematisch-theoretischen Teils von Hoffmanns Arbeit widmet sich schließlich der Frage der Relevanz von kontrafaktischen Überlegungen für die Geschichtstheorie und den damit verbundenen Herausforderungen für die Geschichtsschreibung. Ich werde die diesbezüglichen Ausführungen Hoffmanns in einem vierten Schritt allerdings nur knapp skizzieren. Indes, Hoffmann interessiert nicht allein der geschichtstheoretische Umgang mit den Begriffen und den Phänomenen von Zufall und Kontingenz, sondern, wie bereits der Gesamttitel seines Werkes andeutet, auch die historiographische Praxis und deren Umgang mit Zufall und Kontingenz. Daher wendet sich Hoffmann im Anschluss an seine theoretischen Überlegungen den historischen Schriften sowie den theoretischen Stellungnahmen von Fernand Braudel und Hans-Ulrich Wehler zu. An Braudel und Wehler, also je einem herausragenden Exponenten von französischer Strukturgeschichte und Historischer Sozialwissenschaft, richtet Hoffmann die Frage, ob sich ihre historiographische Praxis tatsächlich in jenem Maße unsensibel für Zufall und Kontingenz in der Geschichte erweist, wie man dies aufgrund der geschichtstheoretischen Prämissen dieser beiden Autoren sofort zu vermuten geneigt wäre. Zu welchen Ergebnissen er im Zuge des Versuchs der Beantwortung dieser Frage gelangt, werde ich fünftens darstellen. Erstens: Die im Kontext einer erneuten philosophischen Rehabilitierung der Begriffe und Ideen von Zufall und Kontingenz in den letzten Dekaden formulierten Positionen erstrecken sich auf die unterschiedlichsten Themen und Bereiche und formulieren dabei äußerst heterogene Positionen und Thesen. Die in dieser Hinsicht prominentesten Beispiele seien, wenn auch nicht diskutiert4 , so doch zumindest benannt: Im Kontext seines Plädoyers für die Kontingenz unserer Sprache, unseres Selbstverständnisses und unserer liberalen Gemeinwesen formuliert Richard Rorty das Pathos einer Kontingenzbewältigung durch Selbsterschaffung qua Ironie und verhilft in diesem Zusammenhang dem Begriff der Kontingenz insbesondere im anglo-amerikanischen Raum zu neuer theoretischer Dignität.5 Odo Marquard plädiert nahezu zeitgleich gerade gegen eine Auffassung von Zufall oder Kontingenz als theoretische Stimuli für individuelle Selbsterschaffung, gegen eine Auffassung, wie er sie in einer typischen Weise bei Sartre formuliert findet, und für eine Apologie des Zufälligen, die sich im Namen menschlicher Endlichkeit ge4

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Zu einem Versuch, Rortys, Marquards und Lübbes „Philosophien der Kontingenz“ und Varianten von „Kontingenzbewältigungspraxis“ (Lübbe) in systematischer Weise zueinander in Beziehung zu setzen, um so ihre jeweiligen Stärken wie Schwächen zu ermitteln, vergleiche das achte und letzte Kapitel dieser Arbeit. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1992 (1989).

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rade gegen den Gedanken einer restlosen Verfügbarkeit des menschlichen Lebens richtet und im Zuge dessen zwischen zwei Formen des Zufälligen und Kontingenten differenziert, dem „Schicksalszufälligen“ oder der „Schicksalskontingenz“ einerseits, dem „Beliebigkeitszufälligem“ oder der „Beliebigkeitskontingenz“ andererseits.6 Auch Hermann Lübbe unterscheidet im Rahmen seiner Religionstheorie – wenn auch nicht in der gleichen Weise wie Marquard7 – zwischen zwei Formen des Zufälligen und Kontingenten und sucht dabei eine auf spezifische Weise verstandene Religion als die dem Menschen angemessene Form der Bewältigung des schlechthin Unverfügbaren theoretisch zu legitimieren.8 Rorty, Marquard und Lübbe, sie alle behandeln im Zuge ihrer philosophischen Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall – und es ist dabei auffallend, dass sie alle drei entweder explizit von Kontingenz und Zufall als synonymen Begriffen sprechen oder diese zumindest implizit als Synonyma verwenden9 – die so genannten letzten Fragen menschlicher Existenz, und alle drei plädieren dabei für eine spezifische „Kontingenzbewältigungspraxis“ (Lübbe), die sich in plakativer Vereinfachung als eine ironische (Rorty), eine skeptische (Marquard) oder eine religiöse (Lübbe) verstehen ließe. Einige Jahre vor der Formulierung dieser jeweiligen Plädoyers für eine bestimmte Form von Kontingenzbewältigungspraxis waren im Zuge ausschließlich moralphilosophischer Debatten im anglo-amerikanischen Raum bereits theoretische Ansätze formuliert worden, die mit Hilfe des Begriffs des „moral luck“ und mit unterschiedlichen Argumenten gegen die moralphilosophische Verdrängung des Zufalls durch einen rigiden Kantianismus und dessen Konzentration auf die moralische Legitimität allein des guten Willens protestierten, eines guten Willens, von dem Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sagt, er strahle juwelengleich, nämlich „wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen“ würde, „als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat“10 , auch wenn der Inhaber dieses Willens von der Ungnade einer „stiefmütterlichen Natur“ getroffen sei oder eine „besondere Ungunst des Schicksals“ zu erleiden habe.11 Und ganz im Sinne der im Kontext dieser Debatten formulierten moralphilosophischen Position von Bernard Williams hat auch Martha Nussbaum in ihrem Buch The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy die Auseinandersetzung mit den 6

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Erläutert wurde die theoretische Substanz dieser Unterscheidung bereits im vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit, S. 282 f. Vergleiche hierzu Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 117–139. Marquard, Odo, „Vorwort“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. xi–xvi. Vergleiche dazu S. 683–687 im letzten Kapitel dieser Arbeit. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, München 2004 (1986). Vergleiche dazu das Ende des ersten Kapitels dieser Arbeit, S. 61–63. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B 3, A 3. Hier zitiert nach Immanuel Kant, Werkausgabe. Band VII, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 19. Vergleiche hierzu Bernard Williams, „Moralischer Zufall“ (1976), in: Moralischer Zufall. Philosophische Aufsätze 1973–1980, Königstein/Taunus 1984, S. 30–50. Thomas Nagel, „Moral Luck“ (1976), in: Mortal Questions, Cambridge/Mass. 1979, S. 24–38.

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von außen einbrechenden Widerfahrnissen des Lebens, mit tragischen Wertkonflikten und mit dem Widerstreit von Vernunft und Leidenschaft oder Gefühlen, wie sie in der griechischen Tragödie sowie bei Platon und Aristoteles angesprochen und verhandelt würden, untersucht, dabei philologische Akribie und moralphilosophische Systematik auf bewundernswerte Weise kombinierend.12 Manfred Sommer wiederum hat – ganz anders als Nagel und Williams – Kants Moralphilosophie nicht für ihre Eskamotierung des „moral luck“ kritisiert, sondern gerade für ihre spezifische Affirmation des Zufalls außerordentlich gelobt. Nicht eine Verdrängung des Zufalls sei Kants Moralphilosophie eigen, so Sommer, sondern vielmehr und im Gegenteil ein ganz bestimmtes Rezept, mit dem Zufall zu leben, welches sich nicht allein auf menschliches Handeln beschränke, sondern die zufällige Existenz der Welt und die eigene zufällige Existenz in dieser Welt bewusst affirmiere, ein Rezept, welches nicht Glück als irdischen Lohn der Tugend begreife, sondern Zufriedenheit, und gerade in Abwehr des Idealismus nicht „Selber-Machen“ im Sinne von Selbsterschaffung, sondern „Ja-Sagen“13 im Sinne von Selbsterhaltung als die dem Menschen angemessene moralische Reaktion auf die Widerfahrnisse des Zufalls begreife, also getragen sei von der Akzeptanz jenes Unverfügbaren, das ich bin, insofern ich mich nicht selbst geschaffen habe, während das Autonomieideal des Idealismus alles Unverfügbare trotzig als Resultat der eigenen Intentionalität darstelle. Im Unterschied zu einer auf die Charakterisierung und Bewertung von moralischen Handlungen fixierten Moralphilosophie zeigen Kants moralphilosophische Überlegungen laut Sommer also gerade, „wie wir mit dem fertigwerden können, was wir als die Gegeninstanz unseres Handelns erleben; wie wir es also schaffen können, mit dem Zufall zu leben, mit dem, der uns trifft, und schwerer noch, mit dem, der wir selber sind.“14 Wiederum noch einmal früher als im Kontext der moralphilosophischen Reflexionen über die Begriffe von „luck“ oder „moral luck“ erfolgte im anglo-amerikanischen Sprachraum durch Vertreter der analytischen Philosophie mit durchaus ausgeprägtem philosophiegeschichtlichem Interesse, Nicholas Rescher und Gertrude Anscombe etwa, der Versuch, die theoretische Aktualität und Produktivität des Begriffs der Kontingenz bei Leibniz oder des aristotelischen Begriffs der Möglichkeit für die philosophische Disziplin der Logik nachzuweisen.15 12

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Martha Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986. Manfred Sommer, „Mit dem Zufall leben. Überlegungen zu Kants Moralphilosophie“, in: Neue Hefte für Philosophie 22 (1983), S. 111. Ebd., S. 112. Vergleiche dazu die diesbezüglich relevanten Arbeiten von Rescher und Anscombe: Nicholas Rescher, „Contingence in the Philosophy of Leibniz“, in: The Philosophical Review 61 (1952), S. 26–39. Nicholas Rescher, „An Interpretation of Aristotle’s Doctrine of Future Contingency and Excluded Middle“, in: Studies in the History of Arabic Logic, Pittsburgh 1963, S. 43–54. G. E. M. Anscombe, „Aristotle and the Sea Battle. De Interpretatione Chapter IX“, in: Mind 65 (1956), S. 1–15. Im deutschen Kontext wären natürlich bezüglich der Relevanz der aristotelischen Begriffe und Theorien der Möglichkeit für die zeitgenössische Logik vor allem die Arbeiten von Dorothea Frede zu nennen: Dorothea Frede, Aristoteles und die Seeschlacht: das Problem der Contingentia Futura in De interpretatione 9, Göttingen 1970. Dorothea Frede, „Accidental Causes in Aristotle“,

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Diesen summarischen Überblick über die in den letzten Jahrzehnten den Begriffen und Themen von Kontingenz und Zufall von Seiten der Philosophie zu Teil gewordene Auseinandersetzung abschließend, sei schließlich noch Ernst Tugendhat erwähnt, mithin der Doyen der analytischen Philosophie im deutschsprachigen Raum, der sich in seinen beiden jüngsten, unlängst erschienenen Büchern Egozentrizität und Mystik sowie Anthropologie statt Metaphysik mit den Mitteln sprachanalytischer Philosophie den so genannten letzten Fragen genähert und dabei eine Form von Kontingenzphilosophie samt eines spezifischen Plädoyers für eine bestimmte Kontingenzbewältigungspraxis entwickelt hat, die sich als mystische bezeichnen ließen.16 Diese Bezeichnung erscheint mir gerechtfertigt, insofern doch Tugendhat vor allem in Egozentrizität und Mystik Religion und Mystik gleichsam als die zwei wesentlichen Formen des praktischen und theoretischen Umgangs mit der, wie er sagt, für das menschliche Leben stets konstitutiven „Erfahrung der Kontingenz“17 präsentiert und kontrastiert – Mystik und Religion würden „das ihnen gemeinsame Problem […] auf entgegengesetzte Weise lösen“18 –, zugleich aber auch, dies lassen die Aufsätze in Anthropologie statt Metaphysik ungleich deutlicher erkennen als die Argumentation in Egozentrizität und Mystik, die Religion als, wie es nun immer wieder heißt, „intellektuell unredliche“ Form von Kontingenzbewältigung diskreditiert und gegenüber der Mystik als des intellektuell vermeintlich ungleich redlicheren Umgangs mit den Kontingenzen des menschlichen Daseins entwertet. Die Mystik begreift Tugendhat dabei als jene Form von Kontingenzbewältigung, die angesichts der für menschliche Ich-Sager konstitutiven und aufgrund der Sprache, die diese Ich-Sager verwenden, unvermeidlichen Egozentrizität dazu rät, sich gerade weniger wichtig zu nehmen, ein Bewusstsein von der Geringfügigkeit von sich und seinen eigenen Sorgen zu gewinnen, von sich gleichsam im Ganzen zurückzutreten und dadurch nicht nur die eigenen kleinen, partiellen und egoistischen Wünsche, sondern die unhintergehbare Egozentrizität schlechthin zu relativieren, ohne dass die Mystik dabei doch – und dies unterscheidet sie Tugendhat zufolge wesenhaft von der Religion – auf die Unterstützung durch eine supranaturale Dimension und einen Gott im Sinne eines personalen Wesens hofft. Eine erneute, aber eben gerade nicht eine erstmalige philosophische Reputation, um an dieses bewusst gewählte und kursiv gesetzte Attribut zu Beginn unseres Überblicks über die philosophische Thematisierung von Kontingenz und Zufall in jüngster Zeit zu erinnern, gewinnen die Begriffe und Themen von Zufall und Kontingenz dabei insofern, als sich schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum sowie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Frankreich sowie an der Wende zum 20. Jahrhundert in den USA ein durchaus stattlicher und heute kaum noch

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in: Synthesis 92 (1992), S. 39–62. Dorothea Frede, „Necessity, Chance, and ‚What Happens for the Most Part‘ in Aristotle’s Poetics“, in: Amelie Oksenberg Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s Poetics, Princeton 1992, S. 197–219. Dorothea Frede, „Aristotle on the Limits of Determinism: Accidental Causes in Metaphysics E 3“, in: Allan Gotthelf (Hg.), Aristotle on Nature and Living Things, Pittsburgh 1985, S. 207–225. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003. Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007. Ernst Tugendhat, „Über Religion“ (2006), in: Anthropologie statt Metaphysik, a.a.O., S. 194. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, a.a.O., S. 121.

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erinnerter Reichtum an zugleich ideen- und begriffsgeschichtlich äußerst materialreichen als auch philosophisch fundierten Analysen zu den Themen und Begriffen von Zufall und Kontingenz und damit zusammenhängenden philosophischen Fragestellungen, wie dem genauen Verständnis von Willensfreiheit und menschlicher Autonomie, der Reichweite des naturwissenschaftlichen Determinismus, dem Verhältnis von menschlichem Handeln, Unverfügbarkeit und Schicksal und dergleichen mehr, ausmachen lässt. Man denke nur an Autoren wie Troeltsch oder Simmel, Boutroux oder Cournot, James oder Peirce, Autoren, die auch in dieser Arbeit immer wieder mit ihren diesbezüglich relevanten Schriften zitiert wurden oder noch zitiert werden, aber etwa auch, was die deutsche Philosophie und Philosophiegeschichte angeht, an heute so vergessene Autoren wie Martha Freundlieb19 , Albrecht Becker-Freyseng20 oder August Faust21 . Zweitens: Hoffmann möchte, so gesteht und formuliert er programmatisch am Beginn seiner Untersuchung, zugleich mit Koselleck und über Koselleck hinaus denken. Seine Kritik an Kosellecks Aufsatz „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ besagt dabei im Wesentlichen zweierlei: Erstens wirft Hoffmann Koselleck vor, begrifflich und theoretisch nicht zwischen Zufall und Kontingenz unterschieden zu haben. Dazu mehr im dritten Abschnitt dieses Kapitels. Zweitens hält Hoffmanns Kosellecks Auffassung des Zufalls für ungenügend. Koselleck reduziere den Zufall auf einen gegenwartsbezogenen Perspektivbegriff, den Zufall gebe es für Koselleck nur in der ex-post-Perspektive des Historikers, nicht aber in der ex-ante-Perspektive der historischen Akteure. In der Tat bezeichnet Koselleck gleich zu Beginn seines Aufsatzes den Zufall als eine „reine Gegenwartskategorie. Weder aus dem Erwartungshorizont für die Zukunft ist er ableitbar, es sei denn als dessen plötzliche Durchbrechung; noch als Ergebnis vergangener Gründe ist er erfahrbar“22 . Insofern sei der Zufall, so behauptet Koselleck ferner, eben auch als eine „ahistorische Kategorie“23 zu qualifizieren. Zufall und Kontingenz in der Geschichte seien aber nun gerade nicht auf ex post vorgenommene Charakterisierungen eines vergangenen Geschehens zu reduzieren, so lautet Hoffmanns Gegenthese, sie seien „produktive und mitbegründende Faktoren/Begriffe bei der Konstitution von Geschichten und historischer Erfahrung, durch deren Vernachlässigung oder Auflösung

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Von Martha Freundlieb vergleiche die nur im Teildruck veröffentlichte Dissertation und einen ebenfalls dieser Dissertation zugehörenden, aber separat veröffentlichten Aufsatz: Martha Freundlieb, Studie zur Entwicklung des Kontingenzbegriffs, Bonn 1933. Martha Freundlieb, „Zur Entstehung des Terminus ‚contingens‘“, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 47 (1934), S. 432–440. Albrecht Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ‚contingens‘. Die Bedeutung von ‚contingere‘ bei Boethius und ihr Verhältnis zu den Aristotelischen Möglichkeitsbegriffen, Heidelberg 1938. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen. Zwei Bände, Heidelberg 1931/1932. Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“(1968), in: a.a.O., S. 158 f. Ebd., S. 159.

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die Geschichtswissenschaft auf ihre methodischen Kosten zurückgeworfen wird.“24 Hoffmann will sowohl den Zufall als auch die Kontingenz in der Geschichte als Phänomene retten, denen auch in der ex-ante-Perspektive der historisch Handelnden und Leidenden Relevanz zukommt und die in ebendieser Hinsicht folglich auch historiographisch berücksichtigt werden müssen. Zufall und Kontingenz in der Geschichte, so macht Hoffmann gegen Koselleck deutlich, sind nicht oder nicht nur historiographische Perspektivbegriffe, sondern sie sind immer auch ein Bestandteil historischer Wirklichkeit. An dieser Stelle seiner Argumentation hätte Hoffmann seinen durchaus plausiblen Einwand gegen Koselleck meines Erachtens sogar noch verschärfen können. Kosellecks Beschreibung des Zufalls als „reine Gegenwartskategorie“ legt nämlich den Verdacht zumindest nahe, dass es Koselleck nicht ausschließlich oder nicht vorrangig um eine temporale Qualifizierung des Zufalls, sondern um eine gleichsam ontologische Diskreditierung des Zufalls geht. Den Zufall gibt es demnach nicht, so sehr ihn die Historiker auch thematisieren. Hätte Koselleck dies tatsächlich in seinem Aufsatz sagen wollen oder gesagt, dann hätte Hoffmann gegen Koselleck unter anderem auf den Vater aller Zufallstheorien, Aristoteles, verweisen können, der sowohl in seiner Diskussion von tyche und automaton in der Physik als auch in seiner Diskussion von symbebekos in der Metaphysik darauf verwies, dass der Zufall nicht nur ein Attribut unseres Denkens über die Wirklichkeit ist, sondern einen Aspekt der Wirklichkeit selbst benennt.25 Allerdings muss unklar bleiben, inwiefern sich eine solche, von Aristoteles inspirierte Berufung auf die ontologische Dignität des Zufalls tatsächlich in einen Gegensatz zu Kosellecks Beschreibung des Zufalls als „reine Gegenwartskategorie“ begeben würde. Denn explizit diskutiert wird die Frage des gleichsam ontologischen Status der Begriffe von Zufall und Kontingenz, welche ja beispielsweise die scholastische Diskussion über die contingentia mundi so sehr prägte26 , in Kosellecks Aufsatz bedauerlicherweise nicht. Offensichtlich ist die Frage, ob der Zufall ein ex post vorgenommener Perspektivbegriff ist oder nicht vielmehr auch Züge und Merkmale der ex ante gemachten Erfahrungen und Wirklichkeiten der historisch Handelnden und Leidenden umfasst, also jene Frage, die Hoffmann in seiner Kritik an Koselleck so sehr in den Mittelpunkt rückt, für Koselleck in „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ weder von vorrangigem noch von zentralem Interesse. Wesentlich geht es Koselleck in „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ vielmehr um die Frage, wie die Historiographie der Aufklärung und die Historiographie der historischen Schule jeweils den Zufall verhandelt haben. Hoffmanns zweiter Kritikpunkt an Koselleck bezieht sich insofern allenfalls auf eine en passant formulierte Passage zu Beginn von Kosellecks Aufsatz. Das spricht inhaltlich nicht gegen diesen Kritikpunkt, rückt aber das Verhältnis dieser Kritik zu den Intentionen des kritisierten Autors zurecht. Die zentrale These von Kosellecks Aufsatz, wonach Aufklärung wie Historismus den Zufall – wenn auch aufgrund gänzlich unterschiedli-

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Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 2005, S. 14. Vergleiche dazu den dritten Abschnitt des zweiten Kapitels dieser Arbeit, S. 108–123. Vergleiche dazu das dritte Kapitel dieser Arbeit, S. 194–209.

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cher Intentionen und Argumentationen – verdrängt hätten27 , lässt Hoffmann jedenfalls in seiner Arbeit undiskutiert. Dabei böte gerade diese These Kosellecks genügend Anlass für eine inhaltliche Überprüfung, die sich wiederum auf Hoffmanns Erkenntnisinteresse durchaus hätte produktiv auswirken können. Zumindest die These, der Historismus habe Zufall und Kontingenz in der Geschichte verdrängt, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. Vielmehr lässt sich, gerade wenn man mit Koselleck gegen Koselleck zu denken beabsichtigt, dem Historismus und vor allem dem historistischen Verständnis historischer Entwicklung eine Sensibilität für Zufall und Kontingenz in der Geschichte durchaus nachweisen, wenn dies auch nur in einer bestimmten Weise: nämlich gerade nicht als Sensibilität für das, was in der Geschichte unbeschränkt verfügbar ist, sondern ausschließlich als Sensibilität für das, was in der Geschichte unhintergehbar unverfügbar ist.28 Träfe die These zu, dass das Geschichtsverständnis des Historismus – freilich nur in einer spezifischen Weise – für Kontingenz und Zufall durchaus offen ist, gewönne zudem die Vermutung an Plausibilität, dass die eingangs angedeutete Verdrängung der Zufalls- und Kontingenzthematik in den zeitgenössischen Geschichtswissenschaften durchaus auch im Zusammenhang mit einer Abkehr von der Geschichte in den Geisteswissenschaften im Allgemeinen und vom Historismus in den Geschichtswissenschaften im Besonderen zu sehen ist. Eine derartige Vermutung wiederum ließe Hoffmanns Aussage „Nach Nietzsches ‚Auftritt‘ wird die Gruppe der Bejaher des Zufalls immer größer, die der Verneiner und Skeptiker immer kleiner“29 angesichts von Nietzsches vehementer Kritik des Historismus als zwar nicht falsch, aber auch nicht als richtig erscheinen. Denn mit dem Denken Nietzsches wird am Ende des 19. Jahrhunderts durchaus, so viel ist richtig, eine Form von Sensibilität für Zufall und Kontingenz auch in der menschlichen Geschichte inauguriert, aber eben nur eine bestimmte Form, die gegen andere, Zufall und Kontingenz verdrängende Tendenzen der Ideen- und Geistesgeschichte, wie etwa einen von Nietzsches Denken maßgeblich beförderten Antihistorismus, ebenso wie gegen einen Zufall und Kontingenz in der Geschichte auf ganz spezifische Weise affirmierenden Historismus abgewogen werden müsste. Eine Einschätzung des Historismus als einer bestimmten Form intellektueller Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte, deren Begründung ich an dieser Stelle nur andeuten kann, steht nun freilich nicht nur in Widerspruch zu Kosellecks Ausführungen in „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“, sondern auch zu Hoffmanns Auffassung des Historismus, die sich immer wieder kursorisch in seine gesamte Argumentation eingestreut findet. Immer wieder, wenn auch nicht direkt im Kontext der Diskussion des Koselleck-Aufsatzes, finden sich bei Hoffmann Passagen, die den Historismus als eine bestimmte Variante der Verdrängung des Zufalls bezeich-

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Vergleiche dazu das fünfte Kapitel dieser Arbeit Historismus und Romantik: Das Verfügbare und das Unverfügbare in der Geschichte und dort insbesondere S. 349–358. Vergleiche dazu meine Charakterisierung der Zufalls- und Kontingenzsensibilität des Historismus ebenfalls im fünften Kapitel dieser Arbeit, S. 367–393. Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, a.a.O., S. 46.

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nen, nämlich als die Form einer „ideengesättigten Inkorporierung des Zufalls“30 , eine Einschätzung die sich – nebenbei bemerkt – zu Unrecht auf Friedrich Jaeger berufen zu können glaubt.31 Denn Jaeger zeigt in seinem diesbezüglich einschlägigen und von Hoffmann auch zitierten Aufsatz „Geschichtsphilosophie, Hermeneutik und Kontingenz in der Geschichte des Historismus“ doch gerade, dass und inwiefern sich der Historismus durch die „Fähigkeit, historische Kontingenz geschichtstheoretisch und historiographisch zuzulassen“32 auszeichnet und insofern als der „Versuch einer hermeneutischen Rettung von Kontingenz“33 bezeichnet werden kann. Was aber meint Hoffmann eigentlich mit dem an die Adresse des Historismus gerichteten Vorwurf einer „ideengesättigten Inkorporierung des Zufalls“? Mitunter scheint es, als deute Hoffmann den Historismus als eine Form von Geschichtsphilosophie, welche den Prozess der Geschichte als einen teleologisch gedeuteten Prozess begreift. Dieser Variante von Hoffmanns Kritik des Historismus wäre entgegenzuhalten, dass so der Unterschied zwischen dem evolutionären Weltbild des Historismus, welches historische Entwicklung gerade nicht mit historischem Fortschritt – auch nicht im hegelianischen Sinne eines Selbstverwirklichungsprozesses des Geistes – gleichsetzt, und einer teleologischen Geschichtsphilosophie ignoriert und damit hinter eine Interpretation zurückgegangen wird, die sowohl Troeltsch’ Charakterisierung des Historismus in Der Historismus und seine Probleme als auch Meineckes Historismus-Buch stark prägte. In anderen Formulierungen wiederum, welche Hoffmann im Zusammenhang seiner Kritik der angeblichen historistischen Verdrängung des Zufalls und der Kontingenz verwendet, bezieht sich Hoffmann auf die „intentionale Übertreibung des Historismus“34 , insofern der Historismus intentional handelnde Individuen oder gar die Ideen selbst zu autarken Akteuren der Geschichte erhoben hätte.35 Abgesehen davon, dass ich nicht sehen kann, wie diese beiden zugleich an die Adresse des Historismus gerichteten Vorwürfe in Übereinstimmung zu bringen sind, wäre gegen die zuletzt erwähnte Kritik in Rechnung zu stellen, dass der Historismus und sein Verständnis historischer Entwicklung sich doch nicht nur gegen ein teleologisches Verständnis von historischer Entwicklung oder eine Identifizierung von historischer Entwicklung und historischem Fortschritt wenden, sondern aufgrund der Überzeugung von einer der Geschichte immanenten Entwicklung nicht minder vehement gegen ein gleichsam formales Charakteristikum der pragmatischen Historiographie der Aufklärung protestieren, wonach alles historische Geschehen aus den intentionalen – entweder rationalen oder irrationalen – Handlungen von Akteuren ableitbar sei.36 Große Männer machen der Geschichtsauffassung des 30 31 32

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Ebd., S. 34. Vergleiche dazu ebd., S. 32. Friedrich Jaeger, „Geschichtsphilosophie, Hermeneutik und Kontingenz in der Geschichte des Historismus“, in: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs. Band 3. Die Epoche der Historisierung, Frankfurt am Main 1997, S. 46. Ebd., S. 48. Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, a.a.O., S. 97. Vergleiche dazu etwa Passagen bei Hoffmann auf S. 321 und S. 355. Vergleiche dazu auch meine Kontextualisierung des Historismus im fünften Kapitel dieser Arbeit, S. 386 f.

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Historismus zufolge die Geschichte ebenso wenig, wie dies geschichtsphilosophisch sanktionierte Gesetze einer historischen Notwendigkeit zumal teleologisch strukturierter Natur tun. Ebendies lässt sich doch unter anderem und exemplarisch von Hermann Lübbes Charakterisierung des Historismus in dessen geschichtstheoretischem Hauptwerk Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse lernen. Der Historismus lässt sich, darauf macht Lübbe im Zuge seiner Untersuchung der Wesensmerkmale der vielen Geschichten und der einen Geschichte aufmerksam, als Einsicht in die strukturelle Ähnlichkeit von Geschichte und Geschichten verstehen, und der Historismus schließt aus dieser Einsicht, dass allen Geschichten ebenso wie aller Geschichte immer auch ein unaufhebbares Moment von Unverfügbarkeit eigen ist und insofern die Geschichte niemals ausschließlich und zur Gänze durch historische Notwendigkeit oder durch vollständige praktische Verfügbarkeit, sondern immer auch durch Kontingenz und Zufall im Sinne unverfügbarer Widerfahrnisse charakterisiert ist. Der Historismus ist für Lübbe in seinem innersten theoretischen Kern eine Kultivierung jenes Bewusstseins von Unverfügbarkeit, welches Geschichten insofern als Geschichten und Geschichte insofern als Geschichte begreift, als jene Geschichten und als diese Geschichte eben niemals als Konsequenz von Handlungsintentionen zu verstehen sind, sondern eben immer auch als ein Dazwischenkommen von unhintergehbaren Widerfahrnissen, Handlungsinterferenzen und Zufällen im Sinne einer „speziellen Sorte“ dieser Handlungsinterferenzen. Sowohl gegen die Idee der unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichte als auch gegen die Idee historischer Notwendigkeit kultiviert der Historismus laut Lübbe die Einsicht in die theoretisch und praktisch nicht auflösbare Unverfügbarkeit von Geschichte und formuliert genau auf dieser theoretischen Grundlage seine Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte. Ebendies geleistet zu haben, stellt für Lübbe das herausragende methodische und geschichtstheoretische Verdienst des Historismus dar, und dieser Leistung verdankt sich, dass Lübbe das „Resultat“ seiner gesamten Argumentation in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, auch die darin formulierte theoretische Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen und im Sinne historischer Unverfügbarkeit, grundsätzlich als „Apologie des Historismus in seiner unüberholten epistemologischen und kulturellen Substanz“37 verstanden wissen will. Drittens: Wie bereits erwähnt, wirft Hoffmann Kosellecks Argumentation in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ nicht nur ein falsches Verständnis des historischen Zufalls vor, sondern auch eine mangelnde Unterscheidung von Zufall und Kontingenz. Sowohl die Geschichtstheorie als auch die historiographische Praxis müssten aber, so Hoffmann, zwischen Zufall und Kontingenz prinzipiell und grundsätzlich unterscheiden. Die Absicht einer grundsätzlichen Unterscheidung von Zufall und Kontingenz ist meines Erachtens zweifellos sehr zu begrüßen und stellt tatsächlich einen Fortschritt gegenüber Kosellecks Argumentation dar. Eine ehrenwerte Absicht freilich ist eines, die Umsetzung dieser Absicht ein anderes.

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Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, a.a.O., S. 7.

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Hoffmann unterscheidet Zufall und Kontingenz gemäß ihrer unterschiedlichen Referenzbereiche Ereignis und Struktur. Den Zufall definiert Hoffmann als eine Ereigniskategorie im Sinne einer Koinzidenz voneinander unabhängiger Handlungsketten; der Zufall ist ferner subjektiv wie objektiv, eine Kategorie der Erfahrung wie der Erkenntnis. Kontingenz bezeichnet Hoffmann hingegen als eine „Bereichsangabe“38 , mit Hilfe eines Terminus mithin, der Rüdiger Bubners Diskussion von Zufall, Kontingenz und Anders-sein-können in Geschichtsprozesse und Handlungsnormen entlehnt ist39 , und diese „Bereichsangabe“ referiert Hoffmann zufolge nun nicht auf Ereignisse, sondern auf Strukturen. Zufällig ist demnach stets ein Ereignis. Kontingent sind demnach stets Strukturen. Aber mit dieser Argumentation lässt Hoffmanns Differenzierungsversuch die Frage nach einer intrinsischen Differenz von Zufall und Kontingenz unbeantwortet; er verschiebt die Frage nach dem Unterschied von Zufall und Kontingenz vielmehr auf eine andere Ebene, auf der sich nun natürlich die Frage nach einer plausiblen Differenzierung zwischen Ereignis und Struktur stellt. Aufgrund dieser Problemverlagerung ist Hoffmann gezwungen, will er seiner Unterscheidung von Zufall und Kontingenz qua unterschiedlicher Referenzbereiche Plausibilität verleihen, erstens eine legitime Unterscheidung von Ereignis und Struktur zu gewinnen, um sodann zweitens zu zeigen, dass sich der Zufall tatsächlich immer nur auf ein Ereignis beziehen kann, nie auf eine Struktur, Kontingenz tatsächlich immer nur auf eine Struktur beziehen kann, nie auf ein Ereignis. Nun mögen beide argumentative Anforderungen mit beträchtlichem theoretischem Aufwand zu realisieren sein, aber Hoffmann leistet genau dies in seiner Arbeit nicht. Und selbst wenn die angedeuteten und sich aus Hoffmanns programmatischer Absicht der Differenzierung von Zufall und Kontingenz qua unterschiedlicher Referenzbereiche zwingend ergebenden Pflichten theoretisch zu erfüllen wären, bliebe noch die Frage bestehen, ob eine intrinsische Differenzierung von Zufall und Kontingenz überhaupt auf diesem umständlichen Weg zu gewinnen ist. Ohnehin offeriert die Begriffsgeschichte, so möchte ich meinen, einen ganz anderen und ungleich direkteren Weg, um Zufall und Kontingenz und diesmal zweifellos in intrinsischer Weise zu differenzieren. Aber dieser Weg bleibt Hoffmann verschlossen. Und dafür gibt es einen zwingenden Grund. Denn Hoffmanns begriffsgeschichtliche Skizze zu den Begriffen von Zufall und Kontingenz40 , in deren Zuge er seinen eigenen Differenzierungsversuch entwickelt und begründet, ist in zweierlei Hinsicht defizitär. Hoffmanns begriffsgeschichtliche Skizze setzt erstens erst mit der Frühen Neuzeit ein. Diese Entscheidung aber bedeutet mehr als eine legitime zeitliche Einschränkung, die zu kritisieren wohlfeil wäre; für ein Verständnis der Begriffe von Zufall und Kontingenz und den Versuch ihrer Differenzierung ist ein solches Verfahren fatal. So werden nämlich erstens die begriffsgeschichtlichen Ursprünge des ganz sicherlich ja vorneuzeitlichen 38

39

40

Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, a.a.O., S. 58. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, S. 38. Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, a.a.O., S. 19–48.

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lateinischen Terminus „contingens“ vernachlässigt. Und zweitens ignoriert Hoffmann im Zuge dieser Vernachlässigung der vorneuzeitlichen begriffsgeschichtlichen Wurzeln des Kontingenzbegriffs, dass sich der deutsche Begriff des Zufalls erst im Zuge einer Modifikation oder Spezifikation des Kontingenzbegriffs entwickelt und gleichsam aus letzterem herausschält – ganz abgesehen davon, dass die geistigen und theoretischen Wurzeln, dessen was im Deutschen „Zufall“ heißt und heißen kann, natürlich in der Antike, vor allem in der Zufallstheorie des Aristoteles, zu finden sind. Jene Vernachlässigung der vorneuzeitlichen Wurzeln des Kontingenzbegriffs und diese Entkoppelung der Begriffsgeschichte des Zufalls von der Begriffsgeschichte der Kontingenz haben nun wiederum drei schwerwiegende Konsequenzen: Denn so bleibt Hoffmann verschlossen, dass das lateinische „contingens“ im Zuge einer Latinisierung der aristotelischen Modalität der Möglichkeit entsteht, also in jedem Falle ein Mögliches bezeichnet, wie genau auch immer wiederum dieses Mögliche verstanden wird. Verschlossen bleibt Hoffmann ferner eine Einsicht, die Heinrich Schepers in mehreren Aufsätzen dargetan hat, die Einsicht nämlich, dass es beginnend mit dem 12. Jahrhundert und sich besonders wirkungsmächtig in Leibniz’ Philosophie auswirkend zu einer fundamentalen Bedeutungsverschiebung des Kontingenzbegriffs kommt. Der Begriff der Kontingenz meint nun – etwa bei Leibniz – nicht mehr ein wie auch immer bestimmtes Mögliches, sondern ein durchaus Wirkliches, wenn eben auch ein nicht notwendiges Wirkliches. Und verschlossen bleibt Hoffmann schließlich auch, dass sich für diesen Begriff der Kontingenz im Sinne eines wie auch immer genauer zu charakterisierenden nec necessarium, eines nicht notwendigen Wirklichen, nun in der Geschichte insbesondere philosophischer Begriffe – besonders prominent etwa in der Modalitätentafel von Kants Kritik der reinen Vernunft – der Terminus des Zufalls etablierte.41 All dies sind nun keine philosophiegeschichtlichen Quisquilien, die abseits von Hoffmanns Erkenntnisinteresse lägen und welche einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation vorzuwerfen ungerecht wäre. Vielmehr hätte die Berücksichtigung einer ihre zeitlichen Schwerpunkte in der skizzierten Weise anders setzenden begriffsgeschichtlichen Untersuchung Hoffmann zu dem gesuchten Unterscheidungsmerkmal zwischen den Begriffen von Zufall und Kontingenz – und in diesem Fall tatsächlich zu einem intrinsischen Merkmal der Differenz – verhelfen können. Und so wäre ihm der Versuch erspart geblieben, auf mühsame Weise die angestrebte Distinktion der Begriffe von Kontingenz und Zufall durch Differenzierung ihrer jeweiligen Referenzbereiche vornehmen zu müssen. Viertens: Zumindest die Kategorie oder der Begriff der Kontingenz im Sinne von Möglichkeit – ex ante ebenso wie ex post – haben, darauf verweist Hoffmann zurecht, ihren legitimen historiographischen Aufenthaltsort in einer Geschichtsschreibung, die sich der Kategorie der Möglichkeit nicht verweigert. In dem theoretisch überzeugendsten Kapitel seiner systematisch-theoretischen Ausführungen beschäftigt sich Hoffmann mit kontrafaktischem Denken in den Geschichtswissenschaften als einem „Reflexionsprogramm derjenigen Historiker, die den methodischen Stellenwert der Möglichkeitskategorie in

41

Zu diesen drei zuletzt genannten Punkten vergleiche meine begriffsgeschichtlichen Erörterungen und Präzsierungen im allerersten Kapitel dieses Buches.

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K  Z   G

den Mittelpunkt ihrer historischen Analysen gestellt haben.“42 Kontrafaktizität kann dabei, so vermerkt Hoffmann, einmal als „Bedingung der Möglichkeit historiographischer Darstellung“43 ausgewiesen werden: „Ob Historiker es wollen oder nicht: Sie agieren in ihren Texten implizit unter Rückgriff auf kontrafaktische Fragestellungen; sie können gar nicht anders, wenn sie die Plausibilität ihrer Geschichten einsichtig machen oder erhöhen wollen“44 . So zeigen sich in historischen Darstellungen, so konventionell und ausschließlich faktenbezogen sie sich auch immer verstehen und gerieren, sehr häufig eben sprachliche Elemente, „die – wenn auch versteckt oder unbewusst – zur Erklärung einer geschichtlichen Entwicklung vergangener Möglichkeitshorizonte“45 herangezogen werden. Zum anderen kann die Berücksichtigung des Kontrafaktischen im Sinne eines Möglichen aber auch für die Interpretation und Rekonstruktion des historischen Geschehens selbst hilfreich sein. Dabei will der Rekurs des Historikers auf kontrafaktische Überlegungen, wie Hoffmann sehr überzeugend zeigt, nicht besagen, dass der Historiker eine Vergangenheit nach seinem gusto konstruiert; der Historiker wendet vielmehr kontrafaktische Überlegungen an, weil er so „Möglichkeitshorizonte der Vergangenheit“46 auslotet, um so wiederum „Entscheidungsspielräume oder reale Alternativen zu bestimmen.“47 Die Faktizität des Vergangenen bleibt von einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung unberührt und dient als Referenzpunkt für das vergangene Mögliche. Kontrafaktische Geschichtschreibung in diesem zweiten Sinne fragt also nach historischen Alternativen, aber sie macht das vergangene Geschehen nicht ungeschehen. Sie bewahrt die Grenze zur literarischen Fiktionalität. Gegenüber einem naiven Realismus wiederum besteht der Vorteil eines historischen Denkens, welches sich auf kontrafaktische Überlegungen einlässt, Hoffmann zufolge in einem „Umdenken von Situationen, das die praktischen Überlegungen der einzelnen Akteure ernst nimmt.“48 Fünftens: Die Behandlung von Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie ist das eine. Die Behandlung des Zufalls in der historiographischen Praxis ist ein anderes. Dabei besteht kein notwendiges Bedingungsverhältnis. Eine Zufall und Kontingenz negierende Geschichtstheorie kann sich konsequent in einer entsprechenden historiographischen Praxis fortsetzen, muss dies aber nicht. Diese Überlegung leitet Hoffmann bei seiner Auseinandersetzung mit den Werken von Fernand Braudel und Hans-Ulrich Wehler, und es ist ein besonderes Verdienst seiner Arbeit, diesbezüglich Erstaunliches und Widersprüchliches zu Tage zu fördern. Hoffmann wendet sich also bewusst den Protagonisten zweier historischer Schulen zu, von denen erwartet werden dürfte, dass sie die Begriffe 42

43 44 45 46 47 48

Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, a.a.O., S. 144. Ebd., S. 146. Ebd., S. 146. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 148. Ebd., S. 150.

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von Zufall und Kontingenz gerade ignorieren und deren geschichtstheoretischen Valeur ebenso wie ihre historiographische Relevanz bestreiten. Es geht Hoffmann also in seiner Arbeit nicht um eine Bewertung der substanziellen Leistungen von Braudels und Wehlers Geschichtsschreibung. Vielmehr blickt Hoffmann zunächst auf ihre jeweiligen Geschichtstheorien einzig in der Absicht, die Frage zu beantworten, inwiefern sich ihre geschichtstheoretischen Prämissen für Zufall und Kontingenz theoretisch offen oder eben gerade theoretisch verschlossen zeigen, und sodann auf ihre historiographische Praxis einzig in der Absicht, die Frage zu beantworten, inwiefern jene geschichtstheoretischen Prämissen sich in dieser historiographischen Praxis konsequent umgesetzt finden oder eben gerade nicht. Insofern folgt Hoffmann einem Vorgehen, welches bereits Koselleck in „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ für die Geschichtsschreibung der Aufklärung am Beispiel von J. W. von Archenholtz’ Geschichte des Siebenjährigen Krieges vorexerziert hatte. Als besonders gelungen empfinde ich dabei Hoffmanns Ausführungen zu Braudel: Hoffmann bestätigt in einem ersten Schritt die Erwartung, wonach Braudels Geschichtstheorie zu einem „Verschwindungsmodell von Kontingenz und Zufall“49 neigt. Zufall und Kontingenz sind der Strukturgeschichte Anathema. In einer ausführlichen Beschäftigung mit Braudels opus magnum Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. zeigt Hoffmann aber nun überzeugend und anhand einer Fülle von Details, wie sich in Braudels Darstellung gleichsam a tergo Zufall und Kontingenz in der Geschichte einschleichen: in der Form dynastischen oder meteorologischen Zufalls etwa, in Braudels Darstellung des Verlaufs der Schlacht von Lepanto, in Braudels Verweis auf die Risiken des Informationsflusses oder auf die mit Reisen verbundenen tödlichen Gefahren im Untersuchungszeitraum seiner Studie. Hoffmann gelangt so zu dem überzeugenden Fazit: „Gerade weil Braudel seine theoretischen Syntheseforderungen historiographisch nicht einlöst, gelingt ihm ein produktiver Umgang mit Zufall und Kontingenz. Es ist ein Selbstmissverständnis der Strukturgeschichte, dass sie zu hohe theoretische Anforderungen an die Praxis der Historiographie stellt, ohne über diese Praxis nachzudenken.“50 Das Kapitel über Wehlers theoretische Konzeption von Geschichte als Historische Sozialwissenschaft und einer daraus resultierenden Geschichtsschreibung verfolgt gegenüber dem Kapitel über Braudel eine etwas anders gelagerte Argumentation und These. Zunächst zeigt Hoffmann für Wehler ebenso wie für Braudel, dass auf einer theoretischen und methodischen Ebene Zufall und Kontingenz in der Geschichte den Sozialhistoriker Wehler nicht interessieren und ihn nicht interessieren können. „Aus verschiedenen theorieimmanenten Gründen können Zufall und Kontingenz nicht in das sozialhistorische Blickfeld geraten“51 . Diesbezüglich besteht kein Unterschied zwischen Wehlers und Braudels Konzeptionen von Sozialgeschichte. Aber im Unterschied zu Braudel verfolgt Wehler diese seine methodischen und theoretischen Konzepte ungleich konsequenter. 49 50 51

Ebd., S. 218. Ebd., S. 269. Ebd., S. 297.

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Zufall und Kontingenzen schleichen sich also gerade nicht a tergo in die Praxis seiner Historiographie ein. Hoffmann konstatiert: „Theorie und Praxis der Geschichte greifen bei Hans-Ulrich Wehler kohärent ineinander. Die theoretischen Vorgaben werden im Sinn der methodischen Bezugspunkte historiographisch umgesetzt.“52 Insofern setzt Hoffmanns Kritik an Wehlers mangelhafter Thematisierung von Kontingenz und Zufall einen anderen argumentativen Schwerpunkt als seine Ausführungen zu Braudel. Denn eines ist es, wenn ein Autor im Gegensatz zu dem von ihm postulierten theoretischen und methodischen Selbstverständnis in seiner historiographischen Praxis die Phänomene von Kontingenz und Zufall in der Geschichte durchaus – wie bewusst und zureichend auch immer – berücksichtigt. Ein anderes ist es, einen Autor deshalb zu kritisieren, weil dieser über das, worüber er nach Ansicht des Interpreten sprechen sollte, gar nicht oder nur unzureichend spricht. Im zweiten Fall besteht die Gefahr, dem kritisierten Ansatz eine Fragestellung zu unterlegen, die diesem gänzlich äußerlich ist. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen sowohl zu den Verdiensten als auch zu den Mängeln von Hoffmanns Arbeit möchte ich abschließend noch einige Worte über die Fülle der von Hoffmann verarbeiteten Literatur verlieren: Hoffmanns stupende Belesenheit ist gar nicht genug zu loben. Hoffmann selbst verweist im Vorwort auf seine unabhängig von der Dissertation erfolgte, jahrelange Beschäftigung mit den Themen von Zufall und Kontingenz in der Geschichte. Diese wissenschaftliche und wohl auch persönliche Passion merkt man der Arbeit deutlich an; unter anderem spiegelt sie sich in der ungeheuren Breite der verarbeiteten Literatur beeindruckend wider. Es gibt wohl kaum einen für die Frage nach Zufall und Kontingenz in der Geschichte und die begriffsgeschichtliche Präzisierung von historischem Zufall und historischer Kontingenz verwertbaren Text, den der Autor nicht kennt. Allerdings gestatte ich mir abschließend, auf drei für eine begriffsgeschichtliche Präzisierung des Zufallsbegriffs wertvolle Texte hinzuweisen, die von Hoffmann nicht erwähnt und zitiert werden: auf Alphons Lhotzkys, wenngleich aus einer neo-scholastischen Perspektive argumentierende, so doch äußerst lehrreiche Arbeit über Thomas von Aquins Theorie des Zufalls (nicht der Kontingenz!)53 sowie auf Curt Leo von Peters Studie über Das Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie54 . Und schließlich wäre, gerade weil Hoffmann die Theoreme und Begriffe des Aristoteles als die „avanciertesten und anregendsten“55 bezüglich Sache und Begriff des Zufalls bezeichnet, ein Verweis auf Helene Weiss’ Studie Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles56 aus dem Jahre 1942 durchaus angebracht gewesen, handelt es sich doch bei dieser Studie ganz sicherlich um eine der „avanciertesten und anregendsten“ Interpretationen der aristotelischen Zufallstheorie. Auch Hoffmanns Bemerkungen zu Charles Sanders Peirces Tychismus oder wie ich zu formulieren präfe52 53

54

55

56

Ebd., S. 352. Alphons Lhotzky, „Die Lehre vom Zufall. Eine philosophisch-theologische Studie nach Thomas von Aquin“, in: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg 3 (1910), S. 1–105. Curt Leo von Peter, Das Problem des Zufalls in der griechischen Philosophie. Eine historischkritische Untersuchung, Berlin 1909. Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, a.a.O., S. 2. Helene Weiss, Kausalität und Zufall in der Philosophie des Aristoteles, Darmstadt 1967 (1942).

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rieren würde: zu Peirces zufallssensibler Kosmologie der Evolution, welche die tyche zu ihrem Recht kommen lässt, hätte für meinen Geschmack ausführlicher und anhand einer breiteren Textgrundlage erfolgen können.57 Aber diese Bemerkungen sind Marginalia, welche – es sei ausdrücklich und noch einmal wiederholt – die prinzipielle Leistung von Hoffmanns Arbeit, die Themen und Begriffe von Kontingenz und Zufall überhaupt wieder ins Bewusstsein der Geschichtswissenschaft gerückt zu haben, nicht in Frage stellen wollen.

57

Vergleiche hierzu meine Peirce gewidmeten Ausführungen im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels dieser Arbeit, S. 237–254.

Zweiter Teil: Ideengeschichtliche Skizzen

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Im ersten Teil dieser Arbeit war es mir vorrangig um begriffsgeschichtliche Präzisierungen zu tun: Zunächst darum, was es – begriffsgeschichtlich nachweisbar – hieß und was es daher plausibel heißen kann, wenn etwas als kontingent oder zufällig bezeichnet wurde (Kapitel 1 und 2). Sodann richtete sich mein Augenmerk auf die Frage, was es denn – begriffsgeschichtlich nachweisbar – sein konnte und was es daher plausibel sein kann, von dem gesagt wurde oder gesagt wird, dass es kontingent und zufällig ist, war also an den Sphären von Kontingenz und Zufall interessiert (Kapitel 3). In diesem dritten Kapitel stießen wir nun ausdrücklich auf die menschliche Geschichte als eine mögliche Sphäre von Kontingenz und Zufall, eine Vorstellung, die, so erläuterten wir im Rückgriff auf Odo Marquards Unterscheidung von „Schicksalskontingenz“ und „Beliebigkeitskontingenz“ oder „Schicksalszufälligem“ und „Beliebigkeitszufälligem“, sowohl das Verfügbare wie das Unverfügbare in der Geschichte meinen kann. Einer theoretischen Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in der Geschichte gingen wir am Ende des dritten Kapitels im Werk eines Romanciers und zweier Philosophen nach. Und die Frage nach der theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte in den Geschichtswissenschaften selbst verwies uns am Ende des ersten Teils dieser Arbeit schließlich noch auf die Studie eines Historikers (Kapitel 4). Indes, weder der theoretischen Substanz noch ideengeschichtlich nachweisbaren Formen eines Plädoyers für eine unbeschränkte Verfügbarkeit von Geschichte widmeten wir uns in den bisherigen Ausführungen. Und auch das Plädoyer für eine unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte geriet im dritten Kapitel dieser Arbeit allein insofern in den eingeschränkten Blickwinkel einer ausschließlich systematischen Betrachtung, als wir anhand dreier Autoren des 20. Jahrhunderts die theoretische Substanz der These und der Rede von einer unverfügbaren Geschichte genauer zu klären suchten, nicht aber oder nur am Rande der ideengeschichtlichen Frage nachgingen, wer denn wann und in welcher Weise und mit Hilfe welcher Begrifflichkeit jene These einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte vertreten hatte. Diese ideengeschichtliche Fragestellung nach Formen einer Thematisierung des Verfügbaren und des Unverfügbaren in der Geschichte steht nun aber im Zentrum des zweiten Teils dieser Arbeit: Wie und von wem und mit Hilfe welcher gedanklichen und terminologischen Konstruktionen wurden, so fragen die ideengeschichtlichen Skizzen dieses zweiten Teils vorrangig, die Themen und Ideen von Kontingenz und Zufall im Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und „Sattelzeit“ (Koselleck) konkretisiert, interpretiert und bewertet? Welche Relevanz wurde diesen Themen und Ideen für die menschliche Geschichte und das menschliche Leben zugeteilt? Derartigen ideengeschichtlichen Fragen will ich in der Form dreier Skizzen nachgehen, in der Form gleichsam von Fallstudien, die vorrangig und wesentlich den Zeitraum zwischen Renaissance und Beginn der Frühen Neuzeit und der von Reinhart Koselleck als „Sattelzeit“ bezeichneten historischen Periode, die sich etwa zwischen 1750 und 1850 erstreckt, gewidmet sind und von denen ich vermute, dass sie die inhaltlich und ideengeschichtlich bedeutsamsten Formen und Weisen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte wie im menschlichen Leben schlechthin in der Zeit zwischen Renaissance und Sattelzeit behandeln. Für jede dieser drei Skizzen ist mir dabei die Arbeit eines Begriffs- oder Ideenhistorikers ursprünglicher Ausgangspunkt, Leitfaden und Orientierungshilfe: Ausgehend

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von Reinhart Kosellecks Aufsätzen „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ und „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ beschäftige mich zunächst mit Historismus und Romantik als zwei Formen eines Bewusstseins für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte, mit einem historistischem Bewusstsein für das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte und einem romantischem Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in der menschlichen Geschichte und den vielen Geschichten des Lebens schlechthin (Kapitel 5). Wurden nun das historistische Bewusstsein für das Unverfügbare und das romantische Bewusstsein für das Verfügbare erstmals in der Sattelzeit formuliert oder lassen sich entsprechende theoretische Artikulationen schon früher ausmachen? Ausgehend von J. G. A. Pococks frühen Schriften beschäftige ich mich im Zuge des Versuchs einer Historisierung der im fünften Kapitel gewonnenen Erkenntnisse zunächst mit der Früh- oder Vorgeschichte des Historismus und der historistischen Sensibilität für Kontingenz auch und vor allem in der menschlichen Geschichte, mithin mit der Genese des historistischen Denkens, mit jenem Historismus avant la lettre, wie ich ihn bezeichnen möchte, der bereits in der Frühen Neuzeit, also lange vor jener Epoche des 19. Jahrhunderts, die gemeinhin als Kulminationspunkt des Historismus bezeichnet wird, wesentliche Charakteristika einer historistischen Auffassung menschlicher Geschichte formulierte. Dabei wird sich indes zeigen, dass die Kategorien von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit für das frühhistoristische Geschichtsbewusstsein irrelevant sind, während sowohl die Frage gleichsam nach den Quellen historischer Entwicklung und historischer Kontingenz als auch die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität von Geschichte und historischer Kontingenz in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses des Historismus avant la lettre rücken. Historische Kontingenz betrachtete der frühneuzeitliche Historismus als konstitutives Charakteristikum eines historischen Prozesses oder einer historischen Entwicklung, welche ihrerseits eine grundsätzliche Diskontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbürgten. Und insofern wurde historische Kontingenz auch als genuin geschichtliches Phänomen, nicht als Folge des Wirkens einer außergeschichtlichen Instanz aufgefasst (Kapitel 6). Ursprünglich motiviert von einigen von Quentin Skinner in beiden Bänden seiner Foundations of Modern Political Thought kursorisch und en passant eingestreuten Bemerkungen und Andeutungen über die Thematisierung der Fortuna in Antike, Christentum, Renaissance und frühneuzeitlichem Neostoizismus und ausgehend von Bemerkungen bezüglich des Verhältnisses oder der Dichotomie von virtus und Fortuna im Denken der Renaissance, wie sie einem bei Eugenio Garin und Paul Oskar Kristeller begegnen, widme ich mich am Ende dieses zweiten Teils und im insgesamt umfangsreichsten Kapitel dieser Arbeit schließlich den unterschiedlichen Formen der Thematisierung der Fortuna unter besonderer Berücksichtigung des Kontextes, des Inhalts und des Fortlebens des erstmals in der Renaissance formulierten Topos virtù vince fortuna. Im Zuge einer Fortunathematisierung, welche sich freilich keinesfalls ausschließlich in der Renaissance auffinden lässt, die vielmehr ihren Ausgang in der Antike nimmt und sodann in der Spätantike und im Mittelalter in einem christlichen Kontext thematisiert wird, um schließlich dann in der Frühen Neuzeit bis in die Epoche des Barock hinein eine letzte begriffliche Karriere zu erfahren, im Zuge dieser Fortunathematisierung der Renaissance werden historische Kontingenz und historischer Zufall durch die Figur und Semantik einer Fortuna auf den Begriff

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gebracht, welche vom Standpunkt einer außergeschichtlichen Instanz alles diesseitige Geschehen regierend vermeintlich alle geschichtlichen Perioden und Zeiten, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen, dominiert, wobei insbesondere die seinerzeit intensiv und ausführlich geführten Diskussionen darüber, inwiefern sich eine derart geschichtsbestimmende Macht durch menschliches Handeln bestimmen, immerhin domestizieren oder gar nicht beeinflussen lässt, einen breiten Raum in diesem vorletzten Kapitel einnehmen werden (Kapitel 7).58 Im Ergebnis wird sich im Zuge dieser drei ideengeschichtlichen Skizzen des zweiten Teils dieser Arbeit Folgendes zeigen: Erstens: Das sattelzeitliche Bewusstsein für Kontingenz und Zufall in der Geschichte wie in Geschichten wird repräsentiert durch Romantik und Historismus und lässt sich anhand der Kategorien von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit in plausibler Weise strukturell differenzieren. Zweitens: Noch vor dem sattelzeitlichen Historismus prägt das Bewusstsein für Diskontinuität, Wandel und eine geschichtsimmanent verstandene Kontingenz geschichtlicher Entwicklung bereits einen frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre. Drittens: Noch vor der sattelzeitlichen Romantik lässt sich das Bewusstsein für ein unbeschränkt verfügbares Moment in der Geschichte wie in den Geschichten des menschlichen Lebens in dem Renaissance-Topos virtù vince fortuna ausmachen. So liegt die theoretische Folgerung nahe, dass sich die unterschiedlichen, auf dem Umweg über die drei ideengeschichtlichen Skizzen des zweiten Teils dieser Arbeit rekonstruierbaren Formen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall, welche sich für den Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und Sattelzeit insgesamt nachweisen lassen, in einem dreiachsigen Koordinatensystem darstellen ließen, dessen Achsen zum einen den Grad der Sensibilität für die Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit in Geschichten oder in Geschichte, zum anderen ein Bewusstsein entweder der Kontinuität oder der Diskontinuität von Geschichte repräsentieren und schließlich auch angeben, inwiefern die Quelle von Kontingenz und Zufall in Geschichten wie in Geschichte als der Geschichte immanent oder als eine außergeschichtliche aufgefasst wird.

58

Vergleiche hierzu: Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, Cambridge 1978, S. 94–101. Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Volume 2: The Age of Reformation, Cambridge 1978, S. 278–284. Paul Oskar Kristeller, „The Moral Thought of Renaissance Humanism“ (1961), in: Renaissance Thought. Volume II, Papers on Humanism and the Arts, New York/London 1965, S. 20–68. Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947.

V Historismus und Romantik: Das Unverfügbare und das Verfügbare in der Geschichte

Sind in dem von Reinhart Koselleck als „Sattelzeit“ beschriebenen historischen Zeitraum, also grob zwischen 1750 und 1850, theoretische Positionen zu registrieren, die sich für Kontingenz und Zufall in der Geschichte, sei’s für das verfügbare Moment, sei’s für das unverfügbare Moment von Geschichte, sensibel zeigten und entsprechend thematisierten?1 Wenn dies der Fall ist: Wer waren die Urheber und Vertreter dieser Thematisierung, was genau verstanden sie unter einer kontingenten und zufälligen Geschichte, welche Begriffe verwendeten sie dabei? Oder dominierten während der Sattelzeit im Gegenteil theoretische Ansätze, welche die Notwendigkeit der Geschichte betonten und die Möglichkeit einer kontingenten und zufälligen Geschichte gerade verdrängten? Wären wir demnach, blicken wir auf das sattelzeitliche Verständnis von Geschichte, weniger mit einem Bewusstsein der Kontingenz und Zufälligkeit von Geschichte in einem wie auch immer noch zu klärenden Sinne denn mit einem Diskurs der Verdrängung ebendieses Bewusstseins konfrontiert? Einer Antwort auf diese Fragestellung möchte ich mich in diesem fünften Kapitel in drei Schritten nähern: Zunächst erinnere ich an die in Kosellecks Arbeiten selbst enthaltene Antwort auf diese Frage (1). Eine latente Ambivalenz, die ich in dieser Antwort ausmachen zu können glaube, nehme ich am Ende dieses ersten Abschnitts zum Anlass, Odo Marquards bereits im dritten Kapitel dieser Arbeit eingeführte Unterscheidung zwischen einem „Beliebigkeitszufälligen“ und einem „Schicksalszufälligen“ oder einer „Beliebigkeitskontingenz“ und einer „Schicksalskontingenz“ in Erinnerung zu rufen. Marquards Begrifflichkeit scheint mir die Janusköpfigkeit des Kontingenz- oder Zufallsbegriffs angemessen in Worte zu fassen. Dabei will ich gar nicht ausschließen, 1

Ausführungen dieses Kapitels habe ich teilweise wörtlich für einen Aufsatz verwendet, der in dem von Hans Joas und mir herausgegebenen Band Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks erschienen ist. Peter Vogt, „Kontingenz und Zufall in der Geschichte – Eine Auseinandersetzung mit Reinhart Kosellecks Deutung der Sattelzeit“, in: Hans Joas und Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main 2011, S. 514–556.

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dass bezüglich Marquards Unterscheidung noch weitere sinnvolle theoretische Nuancierungen ebenso wie terminologische Verfeinerungen vorgenommen werden könnten. Immerhin halte ich Marquards Begrifflichkeit für einen hilfreichen Ausgangspunkt, um die erwähnte Fragestellung weiterzuverfolgen. Insofern suche ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels nach sattelzeitlichen Thematisierungen des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten oder des – so könnte man vielleicht besser und weniger missverständnisanfällig sagen – Unverfügbaren in der Geschichte (2). In der Tat lässt sich, so lautet die wesentliche These dieses zweiten Abschnitts des Kapitels, eine spezifisch sattelzeitliche Thematisierung des Unverfügbaren, genauer: des Unverfügbaren in der menschlichen Geschichte ermitteln. Ich verweise diesbezüglich zunächst auf den Begriff der historischen Entwicklung, wie ihn der Historismus und vor allem ex post diverse Interpreten des Historismus im 20. Jahrhundert verstanden wissen wollten, und den in ihm enthaltenen Widerspruch sowohl gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit als auch gegen die Annahme einer unbeschränkt verfügbaren Geschichte. Sodann illustriere ich die sich im Denken des Historismus artikulierende Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte anhand einiger Bemerkungen, die sich nicht mehr nur abstrakt auf den Entwicklungsbegriff des Historismus, sondern sich auf einzelne Vertreter des Historismus beziehen und den engen Rahmen eines lediglich als historische Methode verstandenen Historismus bewusst sprengen. In der Geschichtsphilosophie bei Herder, in der historischen Rechtsschule bei Savigny, in der Theologie bei Schleiermacher, aber auch in der Malerei des „entzweiten Jahrhunderts“ (Hofmann), bei Goya ebenso wie bei Caspar David Friedrich, wollen die ideengeschichtlichen Ausführungen dieses zweiten Abschnitts einen Sinn für das unhintergehbar Unverfügbare vor allem in der menschlichen Geschichte wie schließlich auch im menschlichen Leben schlechthin nachweisen. Diese historistische Thematisierung von Kontingenz und Zufall ist aber nicht die einzige Form einer für die historische Periode der Sattelzeit ideengeschichtlich nachweisbaren Form eines Bewusstseins für eine durch Momente von Kontingenz und Zufall in konstitutiver Weise charakterisierte menschliche Geschichte. Marquards Verweis auf die Janusköpfigkeit des Kontingenz- oder Zufallsbegriffs gemäß frage ich im dritten Abschnitt dieses fünften Kapitels daher nach sattelzeitlichen Thematisierungen des Beliebigkeitszufälligen oder Beliebigkeitskontingenten oder des – so könnte man vielleicht besser und weniger missverständnisanfällig sagen – Verfügbaren in der Geschichte (3). In der Tat lässt sich, so lautet die wesentliche These dieses dritten Abschnitts des Kapitels, eine spezifisch sattelzeitliche Thematisierung des Verfügbaren, genauer: des unbeschränkt Verfügbaren in der Geschichte und in den vielen Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin ermitteln. Ich verweise diesbezüglich zunächst auf Isaiah Berlins ebenso wie auf Carl Schmitts Deutung der Romantik. Beide, Berlin wie Schmitt, verweisen – abgesehen von allen sonstigen Unterschieden ihres Verständnisses der Romantik und abgesehen auch von allen Unterschieden ihrer Bewertung derselben – darauf, dass sich im Denken der Romantik ein bestimmtes Bewusstsein für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Sinne eines Verfügbaren ausspricht, welches sich in Marquards Sinne als Aufmerksamkeit für das Beliebigkeitszufällige oder Beliebigkeitskontingente bezeichnen lässt. So wie freilich schon im Historismus eine Sensibilität für das unhinter-

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gehbar Unverfügbare des menschlichen Lebens schlechthin mitunter an die Stelle einer Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in dem Bereiche ausschließlich der menschlichen Geschichte treten kann, so changieren auch in der Romantik ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in der Geschichte und ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in den vielen Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin auf mitunter schwer zu trennende Weise. Ausgehend von Berlins und Schmitts Interpretation illustriere ich die romantische Sensibilität für das unbeschränkt Verfügbare in der menschlichen Geschichte und den vielen Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin sodann anhand einiger Bemerkungen, die den engen Rahmen eines literatur- und philosophiegeschichtlichen Epochen- oder Gattungsbegriffs bewusst sprengen. Bei Vorläufern der Romantik ebenso wie in der Literatur des Sturm und Drang, bei wichtigen Vertretern der romantischen Literatur ebenso wie in der Philosophie des frühen deutschen Idealismus soll sich ein Sinn für das unbeschränkt Verfügbare in der menschlichen Geschichte wie in den vielen Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin nachweisen lassen. Ich orientiere mich dabei an jenen Autoren, die Berlin selbst immer wieder als Protagonisten der Romantik präsentiert und hinsichtlich des spezifisch romantischen Bewusstseins für einen spezifischen Typus von Kontingenz und Zufall in den vielen Geschichten wie in der menschlichen Geschichte für entscheidend hält: J. M. R. Lenz, Ludwig Tieck, Novalis, E. T. A. Hoffmann, Friedrich Schlegel und Johann Gottlieb Fichte. Abschließend werde ich am Ende dieses Kapitels noch auf zwei Vertreter der „Hochromantik“ (Hermann August Korff) eingehen, nämlich Heinrich von Kleist und Joseph von Eichendorff, und dabei demonstrieren, wie sich bei späten Vertretern der Romantik das Pathos einer prinzipiellen Verfügbarkeit in der menschlichen Geschichte und in den vielen Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin zunehmend verbraucht. Kann die im zweiten Abschnitt dieses fünften Kapitels entwickelte These mithin als Versuch gelten, eine in Kosellecks Schriften latent enthaltene Antwort auf die Frage nach der Kontingenz- und Zufallssensibilität des Historismus aufzudecken und zu klären, so geht es im dritten Abschnitt nicht mehr um eine Inanspruchnahme von Kosellecks Deutung der Sattelzeit und der sattelzeitlichen Auffassungen von Geschichte für meine Fragestellung, sondern um eine Ergänzung dieser Deutung durch Aufmerksamkeit für eine geistige Strömung, die mit dem Historismus nicht vorschnell in eins gesetzt werden darf. (1) Dass in Kosellecks Werk eine Antwort auf die Frage nach der sattelzeitlichen Thematisierung zumindest historischer Möglichkeiten und insofern auf die Frage nach kontingenten Entwicklungen in der Geschichte aufzufinden sein dürfte, dies scheint zunächst eine selbstverständliche, nachgerade triviale Vermutung zu sein. Wer wie Koselleck in seinen Schriften immer wieder die These vertritt, dass in einer so genannten Sattelzeit eine historisch neuartige Kluft zwischen einem tradierten Erfahrungsraum und einem auf die Zukunft bezogenen Erwartungshorizont aufbricht, den wird wohl auch an irgendeiner Stelle seines Werkes die Frage umtreiben, ob die intellektuelle Verarbeitung dieser unterstellten Diskontinuität, die ja zeigt, dass zukünftige Geschichte keinesfalls als Perpetuierung von Vergangenheit oder Gegenwart gedacht werden kann, einen Diskurs über Zufall in der Geschichte oder über die Kontingenz vergangener wie zukünftiger Rea-

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litäten und Möglichkeiten in der Geschichte intensiviert, vielleicht sogar initiiert oder vielmehr hemmt oder gänzlich verhindert. Man sollte folglich meinen, dass sich Kosellecks Antwort auf die im ersten Satz dieses Kapitels formulierte Fragestellung leicht und rasch ermitteln ließe, etwa indem man die Geschichtlichen Grundbegriffe zu Rate zieht. Indes, das umfangreiche Register der Geschichtlichen Grundbegriffe enthält zwar Einträge zu dem Begriff „Zufall“, zeigt aber auch, dass Koselleck selbst in seinen zahlreichen Beiträgen für das Lexikon auf Zufall und Kontingenz in der Geschichte und die Frage ihrer theoretischen Berücksichtigung oder Verdrängung zumindest explizit niemals zu sprechen kommt. Dies wiederum muss nichts heißen: Das methodische Programm der Geschichtlichen Grundbegriffe thematisiert schließlich bewusst keine philosophischen oder geschichtstheoretischen Begriffe; es erstreckt sich dem eigenen Bekunden nach vielmehr auf politisch-soziale Begriffe, ja noch spezifischer: auf jene politischsoziale Begrifflichkeit, an der sich der sattelzeitliche Wandel zur Moderne besonders prägnant ablesen lassen soll. Außerdem müssen die Existenz oder der Mangel von Worten nicht von der Existenz oder dem Mangel entsprechender Ideen zeugen. Niemand wüsste dies besser als die Begründer der methodischen Tradition der Begriffsgeschichte im 19. oder die Protagonisten dieser Tradition im 20. Jahrhundert. So wie der Terminus „Natur“ bei Tertullian und Voltaire ganz unterschiedliches meinen kann, so bezeichnet Berkeley, wenn er von „Egoismus“ spricht, eine Vorstellung, die wir heutzutage vermutlich als Solipsismus bezeichnen würden. Insofern ist es auch nicht weiter aussagekräftig, wenn in den Indizes von Kosellecks Monographien oder Aufsatzsammlungen der Begriff „Zufall“ vergleichsweise selten und der Begriff „Kontingenz“ oder ein lateinisches Äquivalent gar nicht auftauchen. Nun wollen die bisherigen Bemerkungen in diesem ersten Abschnitt des Kapitels keinesfalls den Eindruck erwecken, Kosellecks Schriften enthielten entgegen der anfänglich geäußerten, zunächst nachgerade als Selbstverständlichkeit ausgewiesenen Vermutung doch keine Auseinandersetzung mit der Frage nach der sattelzeitlichen Thematisierung historischer Kontingenz und historischen Zufalls. Allerdings scheint Kosellecks Antwort auf diese Frage nicht so offensichtlich zu Tage zu liegen, wie man zunächst meinen sollte. Die bisherigen Ausführungen schärfen insofern das Bewusstsein dafür, dass in Kosellecks Werk die sattelzeitliche Thematisierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte nicht gleichsam automatisch mit verhandelt wird, wenn von den paradigmatischen semantischen Innovationen des sattelzeitlichen Geschichtsbegriffs die Rede ist. Wenn Koselleck etwa in den Geschichtlichen Grundbegriffen in dem Artikel „Geschichte, Historie“ über die sattelzeitliche „Verzeitlichung der Geschichte“2 und die „Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs“3 spricht, dann untersucht er die Auflösung eines Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen umspannenden Erfahrungsraums der Geschichte, welche in theoretisch höchst folgenreicher Weise die methodische Plausibilität einer Zukunftsprognosen formulierenden Geschichtsphilosophie untergräbt und somit den unterschiedlichen Varianten eines 2

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Reinhart Koselleck, „Geschichte, Historie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, S. 698. Ebd., S. 647.

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geschichtsphilosophischen Denkens, welchem gerade die Diskontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur unbestrittenen Erfahrungsgrundlage aller theoretischen Überlegungen wird, den Weg bereitet. Was dieser geschichtstheoretische Wandel aber für die Thematisierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte bedeutet, ob er diese Thematisierung fördert oder hemmt oder schließlich gar nicht beeinflusst, diese Frage wird in diesem Artikel nicht berührt. Ich wäre deshalb vorsichtig, die Betonung der sattelzeitlichen Diskrepanz von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont allein bereits als einen in Kosellecks Werk enthaltenen, vorentscheidenden Hinweis bezüglich meiner im ersten Satz dieses fünften Kapitels formulierten Fragestellung zu verstehen. Das Bewusstsein historischer Diskontinuität kann die Grundlage einer theoretischen Sensibilisierung für Kontingenz und Zufall in der Geschichte sein, muss dies aber nicht; ebenso kann es der Ausgangspunkt für neuartige, nämlich auf diesem Bewusstsein beruhende Formen geschichtsphilosophisch fundierter Verdrängung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte sein. Beließen es Kosellecks Ausführungen bei einer derart prinzipiellen Ambiguität, dann würden seine Schriften hinsichtlich der am Beginn dieses Kapitels formulierten Fragestellung uns kaum zu weiterer Klarheit verhelfen. Diese Klarheit erlangen wir gleichwohl, wenn wir berücksichtigen, dass sich Koselleck zwar nicht kontinuierlich in seinem Gesamtwerk, wohl aber in dem 1968 publizierten Aufsatz „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ die Frage nach den unterschiedlichen geschichtstheoretischen Umgangsformen mit dem nun ganz explizit benannten Phänomen des Zufalls in der Geschichte für den Zeitraum der Sattelzeit vorlegt und insofern so ausführlich wie sonst an keiner anderen Stelle seines Werkes die Frage der sattelzeitlichen Thematisierung des Zufalls in der Geschichte nun auch ganz explizit behandelt. Es empfiehlt sich daher, zunächst noch einmal an die Argumentation dieses Aufsatzes zu erinnern. Wie behandelt die Geschichtsschreibung der Sattelzeit das Phänomen eines nun expressis verbis zur Sprache kommenden Zufalls in der Geschichte? Zunächst einmal, darauf verweist Koselleck gleich zu Beginn seiner Ausführungen in „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“, ganz anders als die vorsattelzeitliche Geschichtsschreibung: Weder eine göttliche Vorsehung noch eine heidnische Göttin Fortuna, wie sie im vor allem im politischen Denken der Renaissance als Gegenbegriff zur virtù, welche die Macht der Fortuna zu beeinflussen stets aufgerufen ist, betrachtet wird, spielen in der „modernen historischen Methodik“4 Koselleck zufolge noch eine Rolle. Hinsichtlich dieser „modernen historischen Methodik“ setzt sich Koselleck nun in seinem Aufsatz zunächst mit dem Geschichtsverständnis der Aufklärung auseinander. Seine diesbezügliche These lautet, dass in der Geschichtsschreibung der Aufklärung „der Zufall theoretisch destruiert“5 werde. Zwar werde das factum brutum seiner schlichten Existenz in der aufklärerischen Historiographie durchaus zugestanden und angesprochen; aber schließlich werde der Zufall dennoch zu einem Oberflächenphänomen degradiert, welches die historisch weitaus bedeutsamere Wirkung von kausal 4

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Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ (1968), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 159. Ebd., S. 169.

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in der Geschichte wirkenden Ursachen einzuschränken niemals in der Lage sei: Keine historische Wirkung von historiographischer Relevanz ohne entsprechende Ursache; daher auch in letzter Instanz keine historische und historiographische Relevanz von Zufällen. So gilt oder soll gemäß der Geschichtsschreibung der Aufklärung gelten: Der „punktuelle Zufall enthüllt sich […] als ein Bündel von Ursachen.“6 „La fortune et le hasard sont des mots vides de sens“7 , mit diesen Worten zitiert Koselleck den jungen Friedrich, welcher zumindest hier ganz im Sinne der Aufklärung redet.8 Insofern verflüchtigt sich für die Aufklärung das Phänomen des Zufalls, sobald es dem Historiker gelungen ist, die kausal wirkenden und historiographisch allein relevanten Ursachen historischer Ereignisse zu begreifen: „Wunder, Zufälle und ihresgleichen, werden nur herbeizitiert, um den normalen Leser, der sie am ehesten erwartet, eines besseren zu belehren.“9 Insofern ist es auch kein Zufall, sondern für das Geschichtsverständnis der Aufklärung höchst kennzeichnend, dass die Bürger der von Louis-Sébastien Mercier 1771 entworfenen Utopie anno 2440 den Zufall aus ihrem Wortschatz getilgt haben werden: „[…] c’est un vieux mot dépourvu de sens et entièrement banni de notre langue.“10 So weit die These bezüglich des Geschichtsverständnisses der Aufklärung, die Koselleck in seinem Aufsatz übrigens am Beispiel von Johann Wilhelm von Archenholtz’ Geschichte des Siebenjährigen Krieges von 1791 entwickelt. Die unterschiedlichen Varianten von Archenholtz’ historiographischer Taktik, den Zufall „im Effekt zu eliminieren“11 , gelten ihm aber nur als ein besonders illustres Beispiel für eine während des gesamten 18. Jahrhunderts verbreitete Form der Zufallsdestruktion, als deren historiographische Protagonisten er weiterhin Gibbon und Montesquieu erwähnt. In der Tat lässt sich das theoretische Verfahren der soeben angedeuteten Form, den Zufall in der Geschichte zu verdrängen, Montesquieus Considérations in besonders aufschlussreicher Weise entnehmen, wenn es darin heißt, dass das zunächst zufällig erscheinende Ergebnis einer Schlacht oder eines Krieges eben niemals als ein Zufall zu verstehen sei: „Und wenn der Zufall einer Schlacht, und das heißt: eine besondere Ursache, einen Staat zugrunde gerichtet hat, so gibt es doch eine allgemeinere Ursache, die bewirkte, daß dieser Staat durch eine einzige Schlacht zugrunde gehen 6 7 8

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Ebd., S. 162. Hier zitiert nach ebd., S. 162. Die Weisheit des Alters scheint Friedrich später eines Besseren belehrt zu haben: „Je mehr man altert, desto mehr überzeugt man sich, dass seine heilige Majestät, der Zufall, gut dreiviertel der Geschäfte dieses miserablen Universums besorgt.“ Hier zitiert nach Christan Meier, „Der Zufall in Geschichte und Historie“, in: Günter Eifler, Manfred Moser und Andreas Thimm (Hg.), Zufall. Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1994 und Wintersemester 1994/95, Mainz 1995, S. 105. Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ (1968), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, a.a.O., S. 167 f. Louis-Sébastien Mercier, L’An deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fut jamais, herausgegeben von R. Trousson, Bordeaux 1971 (1771), S. 297. Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ (1968), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, a.a.O., S. 165.

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mußte. Mit einem Wort: die grundsätzliche Wendung zieht alle weiteren Ereignisse nach sich.“12 Aber nicht nur im 18. oder später dann im 19. Jahrhundert finden eine kausalitätstheoretisch fundierte Verdrängung historischen Zufalls sowie die damit verknüpfte Zuversicht, die Geschichte lasse sich nun endlich zu einer rationalen und restlos planbaren Angelegenheit machen, ihre Fürsprecher. Dies verdeutlicht exemplarisch John B. Burys Aufsatz „Cleopatra’s Nose“ aus dem Jahre 1916: Nicht anders als Archenholtz und Montesquieu gesteht auch Bury die pure Existenz des historischen Zufalls unumwunden zu, ja die Leugnung des Zufalls wird gerade einer christlich-providentiellen ebenso wie einer teleologischen Geschichtsschreibung zum Vorwurf gemacht. Die Länge von Kleopatras Nase war zweifellos purer Zufall. Ebenfalls, dass der Charme dieser Nase eine derart intensive Wirkung auf ihren Verehrer entfaltete. Aber falls es stimmt, dass diese beiden Zufälle einen Bürgerkrieg auslösten, dann konnte dies nur deshalb geschehen, so argumentiert Bury, weil die Koinzidenz dieser beiden Zufälle mit einem anderen historischen Sachverhalt, nämlich der grundsätzlichen Situation des römischen Reichs, aufgrund bestimmter nachweisbarer Gesetzmäßigkeiten unvermeidlich zu ebendiesem Bürgerkrieg führen musste. Die Existenz des Zufalls schränkt deshalb die methodologische Reichweite historischer Kausalitäten, von historiographisch nachweisbaren Ursachen und Wirkungen, nicht ein. Dass die Länge von Kleopatras Nase oder die Intensität von Marc Antons Leidenschaft als zufällige Sachverhalte zu charakterisieren sind, dies ist nicht zu leugnen. Nicht anders als Archenholtz und Montesquieu unterstellt aber auch Bury, dass die Relevanz, der Verlauf und die Konsequenzen dieser zufälligen Sachverhalte jenen kausalen Gesetzmäßigkeiten unterworfen bleiben, die zu ermitteln dem Historiker stets möglich ist. Und ebenso wie bei seinen geistigen Vorläufern im 18. Jahrhundert kulminiert auch Burys Akzeptanz des historischen Zufalls als Oberflächenphänomen einerseits, seine kausalitätstheoretisch fundierte Negation der historischen oder historiographischen Relevanz des Zufalls andererseits, in einem bemerkenswerten Zukunftsoptimismus, welcher die Irrationalität und Unberechenbarkeit der Geschichte durch den zunehmenden Fortschritt irrationalitätsresistenter Formen kollektiver Vernunft und die dadurch ermöglichte Planung und Vorhersehbarkeit des gesellschaftlichen Lebens zunehmend eingeschränkt sieht.13 12

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Charles-Louis de Secondat Montesquieu, Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, Bremen 1958 (1734), S. 160. „A survey of history seems to suggest that as time goes on contingencies will become less important in human evolution and chance have less power over the course of events. This tendency of social development to become more and more logical is due not only to the increase of experience and of men’s knowledge of the conditions under which they live, and to their larger command over nature, but also in recent times to the growth of democratic societies, the consequences being that the destinies of societies are moulded less and less by single individuals. And the growth of knowledge itself is less casual and occasional; although the element of contingency is not eliminated, the march of science is continuous, systematic, and imperturbable. It appears probable that as time advances the fates of nations will become more and more independent of accidents, whether more or less serious than the pretty face of Anne Boleyn or the shape of Cleopatra’s nose.“ John B. Bury, „Cleopatra’s Nose“ (1916), in: Selected Essays of J. B. Bury, herausgegeben von Harold Temperley, Cambridge 1930, S. 69.

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Nach diesem Verweis auf Bury, der lediglich dazu dienen sollte, die ideengeschichtliche Wirkungsmächtigkeit der aufklärerischen Variante einer Verdrängung historischen Zufalls in der Historiographie selbst auch nach dem Zeitalter der Aufklärung zu belegen, zurück zu Kosellecks prinzipieller Argumentation in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“: Nach seinen Ausführungen über die Geschichtsschreibung der Aufklärung wendet sich Koselleck dem Historismus zu. Wie behandelt dieser das Phänomen des historischen Zufalls? Liegt nicht die Vermutung nahe, dass der Historismus im Zuge seiner Revolte gegen das immer wieder als ungeschichtlich kritisierte Denken der Aufklärung und dessen Präsumtion einer zumindest theoretisch lückenlosen Kette historischer Kausalitäten auch dem Zufall wieder zu geschichtstheoretischer Dignität verhilft? Koselleck räumt dem Historismus in „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ in auffallender Weise weniger Raum ein als der Historiographie der Aufklärung. Aber seine These ist nichtsdestotrotz klar und eindeutig: „Die historische Schule des 19. Jahrhunderts hat den Zufall bis auf den letzten Rest verzehrt, und zwar [...] weniger durch eine konsequente Ausweitung des Kausalprinzips als durch die theologischen, philosophischen und ästhetischen Implikationen, die dem modernen Geschichtsbegriff innewohnten.“14 Wie ist Kosellecks Deutung des Historismus in diesem Zusammenhang zu verstehen? Den Historismus kennzeichnet laut Koselleck ein Verständnis von Geschichte als eines singulären und einmaligen Prozesses, der in der Abfolge wie auch immer verursachter und wie auch immer zu erklärender Ereignisse niemals aufgeht. In Droysens Historik heißt es in diesem Sinne symptomatisch: „Aber über den Geschichten ist die Geschichte.“15 Und in ebendiesem Sinne vermerkt auch in der Tat Wilhelm von Humboldt, dass sich im Unterschied zum Geschichtenerzähler oder zum Geschichtenerklärer die Aufgabe des „Geschichtschreibers“ gerade nicht mit „Begebenheiten“ zu beschäftigen habe, sondern mit einem Prozess jenseits dieser Begebenheiten.16 Insofern sich für den Historismus dieser singuläre und einmalige Prozess der Geschichte jenseits aller möglicherweise kausal zu bestimmenden Geschichten bewegt, insofern sich etwa für Humboldt, wie Koselleck reformuliert, die Geschichte durch „das immer Neue und nie Erfahrene“, durch „die schöpferischen Individualitäten und die inneren Kräfte“17 auszeichne, insofern lässt sich freilich die Frage, ob und inwiefern ein solcher Prozess in seinem Verlauf kausal determiniert sei oder vielmehr doch Elemente von Zufälligkeit aufweise, gar nicht mehr sinnvoll stellen. „Die innere Einheit der Geschichte und ihre Singularität entzogen sich einer kausalen Ableitung“18 . Insofern verfällt für den Historismus weniger die theoretische Möglichkeit, den Zufall in der Geschichte mittels der Dichotomie von 14

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Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ (1968), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, a.a.O., S. 170. Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, herausgegeben von Rudolf Hübner, München 1943 (1857), S. 354. Vergleiche hierzu Wilhelm von Humboldt, „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ (1822), in: Gesammelte Schriften, Band IV, Berlin 1905, S. 35–57. Reinhart Koselleck, „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ (1968), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, a.a.O., S. 172. Ebd., S. 172.

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epiphänomenalen Zufällen und kausalen Ursachen zu eliminieren, als vielmehr schon die Möglichkeit, die Frage nach der Zufälligkeit dieses einmaligen Prozesses jenseits der Geschichten sinnvoll zu stellen: „Die Geschichte in ihrer Einmaligkeit verzehrte den Zufall. Oder anders gewendet: überbietet jede Geschichte in ihrer Einmaligkeit alle herbeizitierten causae, dann verliert auch der Zufall als akzidentielle Ursache sein historisches Gewicht.“19 Und im Hinblick auf Ranke schreibt Koselleck, dieser löse die aufklärerische Antithese von Zufällen und Gründen, wie sie sich exemplarisch in der eben zitierten Formulierung Montesquieus finde, durch den Begriff der Individualität auf.20 Nicht die Ermittlung von historisch allein für relevant gehaltenen Kausalitäten und eine daraus resultierende Eliminierung des Zufalls aus der Geschichtsschreibung, sondern die geschichtstheoretische Überzeugung von der gänzlichen Bedeutungslosigkeit punktueller Begebenheiten angesichts des singulären und einmaligen Prozesses der Geschichte überhaupt und die entsprechende Überwindung eines auf Ursache und Wirkung beruhenden Geschichtsverständnisses schlechthin, sie bilden für Koselleck das argumentative Rüstzeug, kraft dessen der Historismus die notwendigen theoretischen „Bedingungen eines Zufalls gar nicht erst aufkommen“21 lässt. Während die Aufklärung den konzedierten Zufall kausalitätstheoretisch eliminiert, leugnet der Historismus angesichts der „immanente[n] Sinneinheit“22 der Geschichte schon die Möglichkeit der schlichten Existenz des Zufalls. Für Koselleck formuliert der Historismus im Zuge seiner Kritik an der Geschichtsschreibung der Aufklärung insofern und trotz seiner Kritik der Aufklärung gerade keine neuartige geschichtstheoretische Akzeptanz des Zufalls, sondern vielmehr eine neuartige Form von Zufallsverdrängung: „Der Zufall erweist sich aus einer höheren Perspektive, wie man später formulieren kann, als geschichtlich notwendig. Der Motivationsrest wird seitdem nicht mehr durch den Zufall verhüllt, sondern ein Motivationsrest wird von der Theorie der neuen Geschichte, wie sie im achtzehnten Jahrhundert langsam entwickelt wurde, gleichsam apriori ausgeschlossen.“23 Aufklärung und Historismus, so lassen sich die von Koselleck in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ gelieferten Deutungen und Interpretationen resümieren, können als die beiden gleichsam paradigmatischen, wenn auch unterschiedlichen geschichtstheoretischen Formen nachgerade einer sattelzeitlichen Verdrängung historischen Zufalls gelten: Gilt der Aufklärung die Rede vom Zufall als mangelnde Einsicht in die kausal wirkenden Ursachen der Geschichte, so bezeugt für den Historismus die Rede vom Zufall ein mangelhaftes Bewusstsein für jenen apostrophierten Prozess der 19 20 21 22 23

Ebd., S. 172. Vergleiche hierzu ebd., S. 167. Ebd., S. 175. Ebd., S. 174. Ebd., S. 173. Koselleck bezieht sich in dieser Passage und Charakterisierung des Historismus auf die zuvor konstatierte „Verhüllung“ des Zufalls bei Archenholtz.

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Geschichte, der alle punktuellen Ereignisse bedeutungslos und damit die Frage nach deren Zufälligkeit sinnlos werden lässt. In Ergänzung zu Kosellecks Lesart der historiographischen Zufallsthematisierung in Aufklärung und Historismus sei bemerkt, dass Isaiah Berlin in all jenen frühen Aufsätzen seines Werks, die sich kritisch mit dem Konzept einer „scientific history“24 auseinandersetzen, das geschichtstheoretische Denken der Aufklärung und das Geschichtsverständnis der historischen Schule ganz ähnlich wie Koselleck in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ als geschichtstheoretische Ansätze interpretiert, welche, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise und in Anlehnung an ganz unterschiedliche Idealvorstellungen von wissenschaftlicher Rationalität, den Zufall in der menschlichen Geschichte verdrängen. Die historische Schule, so insistiert Berlin nicht minder als Koselleck, lehne zwar die von der Aufklärung unterstellten Gesetzmäßigkeiten als zu mechanisch, zu grob, als nicht evolutionär genug ab; aber „dass es, kurz gesagt, eine Uhr gab, deren innerer Mechanismus zu entdeckenden Regeln gehorchte und die nicht wieder zurückgedreht werden konnte“25 , dies bezweifelten die Vertreter des Historismus keineswegs. Das Axiom historia non facit saltus, so möchte man sagen, galt Aufklärung und Historismus gleichermaßen als unbestreitbar. Freilich finden sich nun in Kosellecks Werk durchaus Passagen, welche die Eindeutigkeit seiner These bezüglich der historistischen Verdrängung des historischen Zufalls in Frage stellen: In dem 1977 erschienenen Aufsatz „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ setzt sich Koselleck kritisch mit einem Verständnis von Geschichte auseinander, welches keine oder nur geringe Grenzen für die restlose Verfügbarkeit von Geschichte anerkennt, vielmehr aufgrund seines Vertrauens in den Fortschritt und die Kapazitäten der menschlichen Vernunft die Geschichte gleichsam zur Manövriermasse einer die Zukunft planenden Vernunft stilisiert, als „eine temporalisierte Vollzugsanstalt der Moral“26 betrachten zu können glaubt, wie Koselleck nicht ohne polemische Absicht formuliert. Koselleck verweist für das 18. Jahrhundert zunächst auf Kant, der in seiner Anthropologie in pragmatischer Absicht die „Ahndung eines Schicksals, was über uns schweben mag“, als „Hirngespinst“27 abtut, auf Schelling, der zur gleichen Zeit schreibt, der Mensch habe Geschichte, „weil er seine Geschichte nicht mit – sondern selbst erst hervorbringt“28 , sowie schließlich auf Adam Weishaupt, den Führer der bayerischen Illuminaten, welcher der Überzeugung von der grenzenlosen Verfügbarkeit von Geschichte noch dadurch zusätzliche geschichtsphilosophische Dignität zu verleihen hofft, dass er die zu machende Geschichte und die zu erwartende Zukunft synchronisiert. Weishaupt, der von Koselleck als ausgenommen radikaler Protagonist der These einer prinzipiell unbeschränkten Verfügbarkeit von Geschichte, wenn auch keinesfalls als deren einziger 24

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Vergleiche hierzu meine Darstellung von Berlins Anti-Nezessarismus im dritten Kapitel dieser Arbeit, S. 298–304. Isaiah Berlin, „Wirklichkeitssinn“ (1953), in: Wirklichkeitssinn. Ideengeschichtliche Untersuchungen, Berlin 1998, S. 44. Reinhart Koselleck, „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ (1977), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, a.a.O., S. 268. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, Leipzig 1922 (1798), S. 93. F. W. J. Schelling, „Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur“, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft teutscher Gelehrten 8 (1798), S. 145.

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Vertreter begriffen wird, leugne insofern, so kritisiert Koselleck, das aller Geschichte eignende „Überschuß- und Überraschungspotential“29 . Alle historische Erfahrung lehre nämlich, so lautet Kosellecks Einwand gegen ebenjene Vorstellung von Geschichte als eine jedes „Überschuß- und Überraschungspotential“ transzendierende Manövriermasse für Zukunftsentwürfe, alle historische Erfahrung lehre, dass der Verlauf der Geschichte sich „immer wieder den Intentionen ihrer Agenten entzieht“30 , dass „menschliche Voraussicht, menschliche Pläne und ihre Durchführungen im Ablauf der Zeit immer auseinandertreten“31 ; die Geschichte, so insistiert Koselleck in „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“, könne nie in einer Weise gemacht werden, welche die „Inkommensurabilität von Absicht und Ergebnis“32 hinter sich lässt: „In der Geschichte geschieht immer mehr oder weniger als in den Vorgegebenheiten enthalten ist. Über dieses Mehr oder Weniger befinden die Menschen, ob sie wollen oder nicht. Aber die Vorgegebenheiten ändern sich deshalb noch lange nicht, und wenn sie sich ändern, dann so langsam und langfristig, dass sie sich der direkten Verfügung, der Machbarkeit, entziehen.“33 In seinem wenig bekannten Aufsatz „Liberales Geschichtsdenken“ hat Koselleck dieses Theorem, wonach sich Geschichte einer direkten Mach- oder Verfügbarkeit immer auch in unhintergehbarer Weise entzieht, in folgender Weise auf den Begriff gebracht: „Denn was durch die Menschen geschieht, machen noch lange nicht die einzelnen Menschen.“34 Kosellecks Verteidigung des „Überschuß- und Überraschungspotentials“ aller Geschichte, sein Beharren auf der Unverfügbarkeit geschichtlicher Vorgegebenheiten, scheint damit freilich auf jener Einsicht zu beruhen, wonach die Geschichte selbst jenseits aller einzelnen Geschichten einen Prozess bildet, der sich niemals in eine Kette von wie stark auch immer beeinflussbaren und wodurch auch immer verursachten einzelnen Gliedern auflösen lässt, einen Prozess, der sich niemals in die Summe seiner Vorgegebenheiten auflösen lässt und insofern bedingt, dass sich immer wieder historische Ergebnisse und ursprüngliche Pläne der historisch Handelnden in einer Disharmonie befinden, und damit exakt auf jener Einsicht, die Koselleck in dem Aufsatz „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ als ein entscheidendes Merkmal des vermeintlich den historischen Zufall doch gerade verdrängenden Historismus kennzeichnete. Was aber stimmt denn nun, so möchte man Koselleck fragen? Verdrängt der Historismus durch seine geschichtsphilosophischen Prämissen den Zufall in der Geschichte? Oder distanziert sich der Historismus von der aufklärerischen Zufallsverdrängung, indem er sich für die Grenzen einer vollständigen Verfügbarkeit von Geschichte gerade 29

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Reinhart Koselleck, „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ (1977), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, a.a.O., S. 269. Ebd., S. 270. Ebd., S. 272. Ebd., S. 276. Ebd., S. 277. Reinhart Koselleck, „Liberales Geschichtsdenken“, in: Liberalismus – nach wie vor. Grundgedanken und Zukunftsfragen. Aus Anlass des zweihundertjährigen Bestehens der Neuen Zürcher Zeitung, herausgegeben von Willy Linder, Hanno Helbling, Hugo Bütler, Zürich 1979, S. 49.

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äußerst sensibel zeigt? Oder trifft am Ende beides zu, weil sich in dem, was nur auf den ersten Blick wie eine Ambivalenz oder Unentschiedenheit in Kosellecks Argumentation erscheint, gerade ein bemerkenswerter Sinn dafür ausspricht, dass die Verwendung des Zufallsbegriffs alles andere als selbstverständlich ist, dieser Zufall also, den zu leugnen Koselleck dem Historismus einerseits unterstellt, sich auf einen spezifischen Typus historischen Zufalls bezieht, jene Einsicht in die Grenzen einer vollständigen Verfügbarkeit von Geschichte aber, die andererseits den Historismus ebenfalls prägen soll, auf ein ganz anderes Verständnis historischen Zufalls? Träfe diese letztgenannte Vermutung zu, dann müssten für den Historismus wie für jede andere ideengeschichtliche Strömung unterschiedliche Grade von Aufmerksamkeit für unterschiedliche Begriffe von Zufall ermittelt werden, bevor sich Schlussfolgerungen, die von einer Verdrängung des Zufalls oder einer Aufmerksamkeit für denselben toto caelo sprechen, theoretisch haltbar formulieren lassen. Die Berücksichtigung ebendieser unterschiedlichen theoretischen Möglichkeiten, vom Zufall in der Geschichte zu handeln, könnte dann auch die in Kosellecks Werk enthaltene Ambivalenz, die scheinbar unauflösbare Inkompatibilität zumindest der beiden für unsere theoretische Fragestellung nach Kontingenz und Zufall in der Geschichte entscheidenden Aufsätze seines Werkes, dass nämlich die Argumentation gegen die restlose Verfügbarkeit von Geschichte in „Über die Verfügbarkeit von Geschichte“ just auf jenen historistischen Einsichten beruht, die in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ für die Zufallsverdrängung des Historismus verantwortlich gemacht werden, zum Verschwinden bringen. Ich erlaube mir, diesbezüglich noch einmal an jene begriffliche Unterscheidung von Odo Marquard zu erinnern, die ich bereits zu Beginn des dritten Abschnitts des dritten Kapitels dieser Arbeit eingeführt hatte, und an meine sich an ebendieser Stelle daran anschließenden Bemerkungen zu der Frage, was es denn heißen könne, die menschliche Geschichte als Sphäre von Kontingenz und Zufall zu betrachten: Marquard differenziert, so sahen wir seinerzeit, grundsätzlich zwischen dem „Schicksalszufälligen“ oder der „Schicksalskontingenz“ einerseits, dem „Beliebigkeitszufälligen“ oder der „Beliebigkeitskontingenz“ andererseits35 , ist insofern aber offenkundig auch nicht für eine semantische Differenz zwischen Kontingenz und Zufall sensibel.36 Wie auch immer: Marquard versteht das Beliebigkeitszufällige oder Beliebigkeitskontingenz als das, was zufällig und kontingent ist, insofern es anders sein und dabei doch von uns geändert werden könnte. Dem Beliebigkeitszufälligen oder der Beliebigkeitskontingenz stellt Marquard das Schicksalszufällige oder Schicksalskontingenz gegenüber, Begriffe, welche ein

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Vergleiche als Textgrundlage für diese Distinktion: Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 117–139. Marquard, Odo, „Vorwort“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. xi–xvi. Dass ich diesbezüglich anderer Meinung bin, dürften die begriffsgeschichtlichen Präzisierungen und Distinktionen am Ende des ersten Kapitels hinreichend deutlich gemacht haben. Insofern es mir aber nunmehr um die Darstellung von Marquards Position und Begrifflichkeit geht und die Inanspruchnahme dieser Position und Begrifflichkeit für eine ideengeschichtliche Fragestellung, verzichte ich im Folgenden darauf, immer wieder auf die theoretische und semantische Differenz der Begriffe von Kontingenz oder Zufall zu verweisen.

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Geschehen oder einen Zustand umschreiben, die zufällig und kontingent sind, insofern sie auch anders sein könnten, aber eben gerade nicht von uns geändert werden können.37 Wie hätte man sich nun jenes Beliebigkeitszufällige oder Beliebigkeitskontingente und dieses Schicksalszufällige oder Schicksalskontingente phänomenologisch konkret vorzustellen und ihre Funktion und Relevanz für unser Leben schlechthin zu taxieren? Als paradigmatisches Beispiel für den menschlichen Umgang mit Beliebigkeitskontingenz oder dem Beliebigkeitszufälligen gilt Marquard, so lässt sich seinem Aufsatz „Apologie des Zufälligen“ entnehmen, die Kunst. Aber diese Bestimmung von Kunst als „Beliebigkeitsersparung durch Form“38 ist allzu offensichtlich an eine bestimmte ästhetische Theorie geknüpft, als dass sie erlauben würde, sich die Formen und die Relevanz des Beliebigkeitszufälligen oder Beliebigkeitskontingenten für unser alltägliches Leben genauer vorzustellen. Noch einmal also gefragt: Wie hätte man sich das Beliebigkeitszufällige oder Beliebigkeitskontingente phänomenologisch konkret vorzustellen und seine Rolle und Funktion in unserem Leben zu taxieren? Marquard diskutiert diese Frage, wenn ich recht sehe, nie, übergeht sie sogar immer wieder mit humoresken Bemerkungen der Art, dass er diesen Vortrag halten könne oder nicht, dass er Wurst oder Käse essen könne oder nicht, die an dieser Stelle freilich – und ich sage ungern etwas gegen Marquards Stil und Humor – nicht zweckdienlich sind. Ich kenne bezüglich der soeben gestellten Frage aber nun keine prägnantere Antwort als jene von William James in seinem Aufsatz „Das Dilemma des Determinismus“ formulierte und zugleich keinen theoretisch überzeugenderen und literarisch gelungeneren Versuch, die Existenz von Zufall und Kontingenz in der Form eines solchen Beliebigkeitszufälligen oder Beliebigkeitskontingenten gegen alle Leugnung von Zufall und Kontingenz zu verteidigen: „Was bedeutet die Aussage, dass meine Wahl, welchen Weg ich nach der Vorlesung nach Hause gehe, zweiseitig und eine Sache des Zufalls [„matter of chance“ im Original; P. V.] sei, soweit es den gegenwärtigen Augenblick betrifft? Sie besagt, dass sowohl die Divinity Avenue wie die Oxfordstraße in Frage kommen, dass aber nur eine und zwar eine so gut wie die andere gewählt werden wird. Nun bitte ich Sie, im Ernst anzunehmen, dass diese Doppelmöglichkeit meiner Wahl Wirklichkeit sei, dann weiter die unmögliche Hypothese anzunehmen, die Wahl werde zweimal nacheinander getroffen und falle jedes Mal auf eine andere Straße. Mit anderen Worten: stellen Sie sich vor, dass ich erst durch die Divinity Avenue gehe, und dann stellen Sie sich vor, die Mächte, die das Universum regieren, strichen zehn Minuten Zeit mit all ihren Inhalten aus und versetzten mich wieder an die Tür dieses Saales, gerade wie vor der getroffenen Entscheidung. Stellen Sie sich ferner vor, während alles 37

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Vergleiche zu der inhaltlichen Substanz von Marquards Distinktion meine Erläuterungen im dritten Kapitel, S. 282 f. Inwiefern sich berechtigte kritische Zweifel gerade an der terminologischen Plausibilität des Begriffs des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten entzünden mögen, habe ich in Anmerkung 247 auf S. 283 des dritten Kapitels dieser Arbeit ausführlich diskutiert, ohne dadurch freilich die theoretische Substanz von Marquards Distinktion in Frage gestellt sehen zu können. Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, a.a.O. S. 130.

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H  R: D U   V andere gleich bliebe, träfe ich eine andere Wahl und ginge durch die Oxfordstraße. Sie als passive Zuschauer sehen zu und erblicken die beiden einander ausschließenden Universen, eines, in dem ich durch die in ihm befindliche Divinity Avenue gehe, das andere mit dem gleichen Ich auf dem Wege durch die Oxfordstraße. Wenn Sie nun Deterministen sind, so glauben Sie, dass eines dieser Universen von Ewigkeit an unmöglich gewesen sei, Sie glauben, es sei unmöglich gewesen, infolge der inneren Nicht-Vernunftgemäßheit oder Zufälligkeit [„intrinsic irrationality or accidentality“ im Original; P. V.], die irgendwo in ihm beschlossen liegt. Wenn Sie aber äußerlich diese Universen anschauen, können Sie dann sagen, welches das unmögliche und zufällige, welches das vernunftgemäße und notwendige ist? Ich bezweifle, ob der eisernste Determinist unter Ihnen auch nur die leiseste Erleuchtung über diesen Punkt hat. Mit anderen Worten: Jedes der zwei Universen nach vollendeter Tatsache und einmal vorhanden würde unseren Mitteln der Beobachtung und des Verstehens genau so vernunftgemäß erscheinen wie das andere. Es würde absolut kein Kriterium geben, wonach wir das eine als notwendig und das andere als Sache des Zufalls [„matter of chance“ im Original; P. V.] erkennen könnten. Nehmen wir nun an, wir befreiten die Götter von ihrer hypothetischen Aufgabe und nähmen meine einmal getroffene Wahl als unwiderruflich getroffen. Ich gehe ein für allemal durch die Divinity Avenue. Wenn Sie nun als gute Deterministen versichern, wie es alle guten Deterministen pünktlich tun, dass nach der Natur der Dinge ich nicht durch die Oxfordstraße hätte gehen können, – hätte ich es getan, so würde das Zufall, nicht vernunftgemäß, Irrsinn, eine entsetzliche Lücke in der Natur gewesen sein [„it would have been chance, irrationality, insanity, a horrid gap in nature“ im Original; P. V.], – so möchte ich Sie schlicht darauf hinweisen, dass Ihre Behauptung das ist, was die Deutschen einen Machtspruch nennen, eine bloße Auffassung, die uns als Dogma entgegengeschleudert wird und sich auf keinen Einblick in die Einzelheiten gründet. Vor meiner Wahl schien Ihnen jede der beiden Straßen genau so natürlich wie mir. Hätte ich zufällig die Oxfordstraße genommen, so würde die Divinity Avenue in Ihrer Philosophie als die Lücke in der Natur dagestanden haben; und Sie hätten das mit dem besten deterministischen Gewissen der Welt in dieser Form vertreten.“39

Zugleich legt James in seiner theoretischen Rehabilitierung der „Sache des Zufalls“ als etwas, das auch anders sein könnte, aber dabei von unseren Handlungen beeinflusst wird, Wert auf die Feststellung, dass der im obigen Zitat deutlich artikulierte Protest gegen einen lückenlosen Determinismus im Namen des Zufalls und unter Berufung auf den Zufall nicht mit einem Plädoyer für völlige Willkürfreiheit verstanden werden darf: „‚Freier Wille‘ besagt nicht, dass alles, was physikalisch denkbar ist, auch geistig möglich ist. Er besagt nur, dass von Alternativen, die wirklich unseren Willen ansprechen, mehr als eine wirklich möglich sei. Natürlich sind die 39

William James, „Das Dilemma des Determinismus“ (1884), in: Essays über Glaube und Ethik, Gütersloh 1948, S. 152.

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Alternativen, die dergestalt unseren Willen ansprechen, weit geringer an Zahl als die physikalischen Möglichkeiten, die wir uns kalt-sachlich vorstellen können.“40 Ich denke, dass diese Ausführungen von James sehr gut verdeutlichen, wie man sich das von Marquard als Beliebigkeitszufall oder Beliebigkeitskontingenz deklarierte Verfügbare phänomenologisch konkret vorzustellen und seine Funktion und Relevanz für unser Leben zu taxieren hätte. Wie steht es nun um das Schicksalszufällige oder das Schicksalskontingente? Im Falle des von Marquard so bezeichneten Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten widerfährt uns etwas, was wir gerade nicht gewollt und gewählt haben, etwas was nicht verfügbar ist, insofern es unverfügbar ist. Als paradigmatisches Beispiel eines für das menschliche Leben wahrhaft konstitutiven Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten gelten Marquards „Apologie des Zufälligen“ Geburt und Tod. Das Schicksalszufällige oder Schicksalskontingente tritt für Marquard aber auch noch in phänomenologisch anderer Weise auf als in jenen unverfügbaren Momenten, die das menschliche Leben beginnen und zu Ende kommen lassen. Im Einzelnen handelt es sich beim Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten, so Marquard, um „natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse“41 , Krankheiten ebenso wie militärisches Schlachtenglück oder Naturgesetze oder alle Arten von Üblichkeiten, die sich unserer Verfügbarkeit entziehen, auch um die historische Vergangenheit eines Kollektivs wie eines Individuums und also ganz allgemein um jene Geschichten oder Widerfahrnisse, in denen wir nicht allein handeln, sondern „die uns zustoßen“42 , mitsamt all den sich den sich daraus ergebenden „Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen“43 , mithin um jene Geschichten oder Widerfahrnisse, in die wir im Vollzuge unseres Lebens immer schon verstrickt sind, wie Marquard in Anlehnung an Wilhelm Schapp formuliert.44 Erstaunlich finde ich in diesem Zusammenhang allein, dass Marquard, obwohl er sich in seiner phänomenologischen Konkretisierung des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten immer wieder auf Schapps Philosophie und Begriff des VerstricktSeins bezieht, anders als Schapp nicht eigens und ausdrücklich auch Liebesgeschichten als typische und für die in sie Involvierten besonders eklatante Formen der Verstrickung in ein Schicksalszufälliges oder Schicksalskontingentes erwähnt und beschreibt. Insbesondere in der Liebe und in den Liebesgeschichten zeigt sich doch, wie Ulrich Pothast bemerkt, ein unverfügbares Moment unseres Lebens. Unverfügbar nämlich ist die Liebe 40 41

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Ebd., S. 154. Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, a.a.O., S. 129. Odo Marquard, „Einwilligung in das Zufällige. Philosophie und der Abschied vom Prinzipiellen“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 4.2.1983 (Fernausgabe), S. 40. Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, a.a.O., S. 129. Vergleiche zu Schapps phänomenologischer Wesensbestimmung von Geschichten und seinem daraus resultierenden Plädoyer für die Unverfügbarkeit von Geschichten wie auch der Geschichte sub specie historiae meine Ausführungen im dritten Kapitel dieser Arbeit, S. 319–324.

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Pothast zufolge für ein unmittelbares Erkennenwollen ebenso wie für einen unmittelbar praktischen Zugriff: „In der Liebe erfahren wir ein tiefreichendes Moment von NichtBestimmbarkeit im selbstbestimmten Subjekt, ein Nicht-anders-Können, auftretend mitten im Bereich der eigenen Entscheidungen, des eigenen Verfügens über sich und das eigene Handeln.“45 Erstaunlich finde ich in diesem Zusammenhang zudem noch, dass Marquard die Relevanz und Funktion des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten für die sub specie historiae betrachtete Geschichte, wiewohl er letztere erwähnt, eigentlich nie einer eingehenden und ausführlichen Betrachtung für würdig erachtet: Dabei hätte Marquard von Schapps Phänomenologie der Geschichten, von Lübbes „Analytik und Pragmatik und Historie“ oder auch von Musils Verweis auf das „Sich-Verlaufen“ der Weltgeschichte im Sinne eines „durch die Gassen Streichenden“, wie wir sie allesamt im dritten Abschnitt des dritten Kapitels diskutiert haben, lernen können, dass sich auch die menschliche Geschichte den Vorstellungen einer Geschichte, die wir vollständig ändern und machen können, stets entzieht, insofern also auch die menschliche Geschichte sub specie historiae betrachtet in unhintergehbarer Weise unverfügbar ist. Reinhard Wittram spricht genau in diesem Sinne und angeregt von Kurt von Raumers Wort vom „Eigenwesen der Geschichte“46 davon, dass in Raumers Wort mehr liegt, „als wir fassen können“, jedenfalls aber wiederum in den Worten Wittrams dieses eine, „dass die Geschichte eine Dimension hat, die sie unserem Zugriff entzieht.“47 Doch wie auch immer es um die unhintergehbar unverfügbaren Momente von Liebesgeschichten und der sub specie historiae betrachteteten Geschichte im Rahmen von Marquards typologischer Distinktion zweier Arten von Zufall und Kontingenz bestellt sein mag: das menschliche Leben schlechthin soll jedenfalls laut Marquard kennzeichnen, dass es von einem Kontingenten und Zufälligen im Sinne eines Verfügbaren ebenso wie von einem Kontingenten und Zufälligen im Sinne eines Unverfügbaren, ja von dem Letzteren nun in ungleich höherem Maße als von dem Ersteren, geprägt ist. Diese Tatsache einer Suprematie des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten in unserem Leben wiederum veranlasst und begründet, so werden wir im letzten Kapitel dieser Arbeit ausführlich sehen, Marquards Plädoyer für eine Kontingenzbewältigungspraxis im Sinne von Skepsis als Inbegriff einer menschlichen Einwilligung in das Unverfügbare.48 In ganz ähnlicher Weise wie Marquards skeptisches Plädoyer für eine Einwilligung in das Schicksalszufällige oder Schicksalskontingente ist auch Manfred Sommers theoretische Rehabilitierung von Kants Moralphilosophie als einer auf „Zufriedenheit“ im Sinne einer auf „ein negatives Wohlgefallen mit seinem Zustand“49 abzielenden Umgangsform 45

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Ulrich Pothast, „Liebe und Unverfügbarkeit“, in: Heinrich Meier und Gerhard Neumann (Hg.), Über die Liebe. Ein Symposion, München 2000, S. 320. Vergleiche hierzu Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg/München 1953, S. 72. Reinhard Wittram, Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses, Göttingen 1958, S. 15. Vergleiche zu Marquards skeptischer Kontingenzbewältigungspraxis das letzte Kapitel dieser Arbeit, S. 676–683. So formuliert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft. Hier zitiert nach Manfred Sommer, „Identität im Übergang“ (1988), in: Identität im Übergang: Kant, Frankfurt am Main 1988, S. 64.

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mit dem Zufall, welche nicht nur zeige, wie moralische Handlungsnormen gerechtfertigt werden können, sondern auch, dass und wie wir es „schaffen können, mit dem Zufall zu leben, mit dem, der uns trifft, und, schwerer noch, mit dem, der wir selber sind“50 , getragen von einer theoretischen Sensibilität für den Zufall im Sinne eines Unverfügbaren, getragen von der Überzeugung, „dass wir im Umgang mit der Wirklichkeit, die wir vorfinden, und mit der, die wir sind, Momente der Unverfügbarkeit erleben.“51 Folglich betont Sommer ganz ähnlich wie Marquard, dass alle Bewältigung des Zufalls durch autarkes und souveränes Handeln an eine natürliche Grenze stößt, wir etwa jenes Moment des Unverfügbaren, welchem wir unsere Existenz verdanken, niemals überschreiten und eliminieren können: „Auch und vor allem dies, dass ich lebe, ist nicht Resultat meines Handelns, sondern Resultat von Ereignissen, die all meinem Handeln vorausliegen. Und, schlimm genug, die Zufälligkeit meines Anfangs schlägt auf alle meine Handlungen durch: sie wären nicht, wenn ich nicht wäre; und sie sind so zufällig, wie ich selbst zufällig bin.“52 Marquards wie auch immer zureichende phänomenologische Konkretisierung des Beliebigkeitszufälligen oder des Beliebigkeitskontingenten, seine Beschreibung des Schicksalszufälligen oder des Schicksalskontingenten, seine quantitative Gewichtung der beiden differenzierten Typen von Kontingenz und Zufall hinsichtlich der individuellen Lebenswirklichkeit und sein daraus abgeleitetes Plädoyer für Skepsis als Form von Kontingenzbewältigungspraxis, dies alles interessiert mich jedoch in diesem Kapitel ungleich weniger als die Marquards Typologie zweier Formen von Zufall oder Kontingenz zugrunde liegende analytische Differenzierung in das Kontingente oder Zufällige im Sinne eines Verfügbaren einerseits, das Kontingente oder Zufällige im Sinne eines Unverfügbaren andererseits. Die theoretische Substanz der von Marquard diagnostizierten Janusköpfigkeit des Kontingenz- und Zufallsbegriffs wurde darüber hinaus auch von anderen Autoren registriert: So verweist Hans Joas ebenfalls auf die „Zweideutigkeit“53 des Kontingenzbegriffs und darauf, dass wir mit dem Begriff der Kontingenz „Widerfahrnisse, die in unser Leben einbrechen, schreckliche und schöne gleichermaßen, aber auch die Erfahrung unserer eigenen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit und ihrer Folgen“54 bezeichnen können. Dem Begriff der Kontingenz wären demnach, darin 50

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Manfred Sommer, „Mit dem Zufall leben. Überlegungen zu Kants Moralphilosophie“, in: Neue Hefte für Philosophie 22 (1983), S. 112. Ebd., S. 101. Ebd., S. 100. In ebendiesem Sinne formuliert Sommer an anderer Stelle: „Dass wir zu existieren angefangen haben, ist nicht Resultat dessen, was wir absichtsvoll taten, sondern dessen, was all unseren Absichten unverfügbar vorausliegt und insofern kontingent ist. Zu leben: das ist ja ein Zustand, in dem wir uns ständig befinden, in den wir uns aber nicht selbst gebracht haben.“ (Ebd., S. 110) Hans Joas, „Wertevermittlung in einer fragmentierten Gesellschaft“, in: Nelson Killius u. a. (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt am Main 2002, S. 65. Hans Joas, „Glaube und Moral im Zeitalter der Kontingenz“, in: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbstranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004, S. 45.

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scheinen Marquard und Joas überein zu kommen, die Konnotation eines unverfügbaren Widerfahrnisses ebenso wie die Konnotation eines in die Wirklichkeit eingreifenden und dabei nicht-determinierten Handelns eigen. Wiederum Ernst Troeltsch machte darauf aufmerksam, dass sich ebendiese „Zweideutigkeit“ des Kontingenzbegriffs, von der Marquard wie Joas ausgehen, bereits für den vorneuzeitlichen Kontingenzbegriff nachweisen lässt. Der Begriff der Kontingenz, so führt Troeltsch in seinem 1910 erschienenen Aufsatz „Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz“ aus, erlange im Kontext der scholastischen Philosophie ungeahnte Prominenz und bezeichne dort das „Tatsächliche und Zufällige im Gegensatz zum begrifflich Notwendigen und Gesetzmäßigen“55 . Dabei bezog sich nun Troeltsch zufolge im christlichen Denken des Mittelalters der Begriff der Kontingenz sowohl – im Sinne des Aristoteles – auf eine sublunarische, unvollkommene Welt des Zufalls oder – im Sinne des Neuplatonismus – auf eine an kontingente Sinnlichkeit und Materie geknüpfte Sphäre der Unordnung als auch auf die ungebundene „Willensnatur des Schöpfergottes“56 . Die doppeldeutige Struktur des Kontingenzbegriffs, die Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, prägt die Philosophie, so gelingt Troeltsch mithin nachzuweisen, bereits zu einer Zeit, als die der Kontingenz entgegengesetzte Notwendigkeit noch gar nicht in der Weise der neuzeitlichen Naturwissenschaften aufgefasst werden konnte, nur dass nun der Begriff der Kontingenz die Zufälligkeit einer unvollkommenen und von Gott geschaffenen Sphäre dieser Welt ebenso wie das ungebundene Schöpfertum des allmächtigen Gottes, der die Welt nicht hätte schaffen müssen, bezeichnet. Wir sind ein wenig vom Thema abgekommen. Nehmen wir den Faden unserer Argumentation dort wieder auf, wo wir ihn zugunsten anderer Betrachtungen aus den Augen verloren haben: Wie auch immer all die in den vorangegangenen Passagen angesprochenen oder nur angedeuteten Fragen einer ausführlichen semantischen und begriffsgeschichtlichen Klärung und phänomenologischen Konkretisierung der Begriffe von Kontingenz und Zufall, einer Klärung des Kräfteverhältnisses von Verfügbarem und Unverfügbarem in unserem Leben und der angemessenen Reaktion auf das diagnostizierte Verhältnis von Verfügbarem und Unverfügbarem zu beantworten sind, wie auch immer sich welche Autoren dazu geäußert haben mögen, meine zentrale Fragestellung in diesem fünften Kapitel, man erinnere sich an den dieses Kapitel einleitenden Fragesatz, ist eine ideengeschichtliche, und ausschließlich darum geht es mir, diesbezüglich die heuristische Fruchtbarkeit der skizzierten und von Marquard zurecht vermerkten Janusköpfigkeit der Begriffe von Kontingenz und Zufall für eine ideengeschichtliche Untersuchung der unterschiedlichen Formen des sattelzeitlichen Verständnisses von Kontingenz und Zufall in der Geschichte theoretisch fruchtbar zu machen. Diese theoretische Fruchtbarkeit lässt sich nun dadurch unter Beweis stellen, dass sich mit Hilfe von Marquards erwähnter Begrifflichkeit noch einmal ein genaueres Verständnis von Kosellecks Einschätzung des Historismus und deren Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte gewinnen lässt: Wenn Koselleck einerseits in „Der Zu55

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Ernst Troeltsch, „Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz“ (1910), in: Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, S. 771 f. Ebd., S. 772.

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fall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ die Verdrängung des Zufalls in der Geschichte als Wesensmerkmal des Historismus ausgibt, er andererseits in „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“ für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte in einer Weise argumentiert, die ganz deutlich von jenen Einsichten zehrt, die in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ als konstitutive Merkmale des angeblich doch den Zufall verdrängenden Historismus charakterisiert werden, dann reserviert er den Begriff des Zufalls in der Geschichte offensichtlich für das Beliebigkeitszufällige und spricht dem Historismus Sensibilität für selbiges gerade ab, während er die Einsicht in das Unverfügbare von Geschichte nicht als eine bestimmte Form von Kontingenz- und Zufallssensibilität ausgeben und bezeichnen will, wie Marquard dies tut, wenn er vom Schicksalszufälligen oder vom Schicksalskontingenten spricht. Ebendieser Frage, inwiefern sich nun der Einspruch gegen die grenzenlose Verfügbarkeit von Geschichte oder – mit Marquard – die Sensibilität für das Schicksalszufällige oder das Schicksalskontingente, die Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte, tatsächlich als konstitutiv für den Historismus nachweisen lassen kann, wie dies ja schon Lübbes am Ende des dritten Kapitels dieser Arbeit erwähnte „Apologie des Historismus in seiner unüberholten epistemologischen und kulturellen Substanz“ nahelegt, dieser Frage soll im sogleich folgenden, zweiten Abschnitt dieses Kapitels nachgegangen werden.57 Dabei sei zuvor lediglich noch bemerkt, dass die Intention und das Motiv und gleichsam das durch die beschriebene Ambivalenz in Kosellecks Werk ausgelöste Verdachtsmoment ebendieser Fragestellung auch schon in Hans-Georg Gadamers Rezension jenes dritten Bandes der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, in welchem Kosellecks „Zufallsaufsatz“ ursprünglich erschienen war, latent enthalten war: „Etwas verblüffend ist“, so schreibt Gadamer, „dass er [Koselleck; P. V.] für den Historismus des 19. Jahrhunderts nur an die Geschichtstheologie (Hegels und Droysens) denkt und demzufolge diesem Historismus die völlige Verbannung des Zufalls zuschreibt.“58 Verblüffend ist dies in der Tat, und der Grund liegt eben, wie angedeutet, darin, dass Koselleck an dieser Stelle seiner Argumentation den Zufallsbegriff auf einen Typus von Zufall und Kontingenz reduziert. Verweigern wir uns aber dieser 57

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An dieser Stelle sei angemerkt, dass Marquard selbst immer wieder in seinen Schriften, wenn auch stets nur andeutungsweise und bruchstückhaft, den Geschichtsbegriff des Historismus in ebendiesem Sinne gedeutet hat, so wenn er den historischen Sinn als „Mäßigung der Geschichtsphilosophie zur Historie“ beschreibt; so wenn er den Historismus kennzeichnet durch einen Begriff von Geschichte, „der die Geschichte zunehmend als das Überraschungsfeld und Traditionsfeld der Widerfahrnisse, Zufälle, Kontingenzen“ bestimmt; so wenn er schließlich dem Historismus attestiert: „[…] der reife Historismus sieht ein: die Menschen sind in Geschichten – in viele Geschichten – verstrickt; denn wir Menschen sind mehr als unsere Leistungen unsere Zufälle, mehr als unsere Handlungen unsere Widerfahrnisse.“ Die obigen Zitate entstammen: Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt am Main 1973, S. 81. Odo Marquard, „Vernunft als Grenzreaktion. Zur Verwandlung der Vernunft durch Theodizee“ (1981), in: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 54. Odo Marquard, „Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre“ (1994), in: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, S. 157. Hans-Georg Gadamer, „Poesie heute“, in: Philosophische Rundschau 18 (1972), S. 60.

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Reduktion, so eröffnen sich neue Einsichten in das historistische Bewusstsein und Verständnis von Zufall und Kontingenz auch und vor allem in der menschlichen Geschichte. Wie aber steht es nun um die sattelzeitliche Thematisierung jener Form von Zufall und Kontingenz, die Marquard als das Beliebigkeitszufällige oder als Beliebigkeitskontingenz bezeichnet? Zwangsläufig ergibt sich aus der bisherigen Argumentation die Frage, ob durch Kosellecks Verweis auf die Zufallsverdrängung der Aufklärung in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ und die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zu diskutierende Frage nach der genauen Form der historistischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte die geschichtstheoretischen Auffassungen der Sattelzeit bereits vollständig umschrieben sind. Kosellecks Ausführungen in „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ scheinen dies in der Tat zu suggerieren. So aber könnte die Möglichkeit übersehen werden, dass jenseits der Aufklärung und anders als im Historismus in der Sattelzeit ein Verständnis von Geschichte formuliert wurde, das in einer ganz eigenständigen und genuinen Weise für Zufall und Kontingenz in der Geschichte sensibel war. Wenn nämlich in der Tat die Erfahrung einer Diskontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Zuge einer zunehmenden Beschleunigung aller Lebensbereiche die entscheidende mentalitätsgeschichtliche Erfahrung der Sattelzeit darstellt, wie dies Kosellecks Werk zeigt, dann könnte eine mögliche Verarbeitung dieser Erfahrung schließlich auch in der Überzeugung bestehen, dass einerseits Geschichte, gerade weil sich ihre Zukunft nicht in notwendiger Weise bestimmen lässt, uneingeschränkt gemacht werden kann, dass andererseits diese grenzenlose Verfügbarkeit von Geschichte wiederum alle Gesetze historischer Notwendigkeit als Chimäre entlarvt. Im Rahmen einer solchen Vorstellung operierte der Begriff der einen Geschichte über allen einzelnen Geschichten dann, wie Koselleck in den Geschichtlichen Grundbegriffen formuliert, nicht als ein transsubjektiver „Bewegungsbegriff“, der die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses unterstellt, sondern in dem Maße, wie er einen menschlicher Verfügbarkeit restlos unterworfenen Prozess bezeichnet, als ein „Aktionsbegriff“. Einer solchen Auffassung zufolge wäre die Geschichte „planbar, produzierbar, machbar.“59 Der Mensch könnte Geschichte unbeschränkt machen, gerade weil die Geschichte nicht notwendig, sondern kontingent und zufällig wäre. Und die Geschichte gehorchte keinen Gesetzen historischer Notwendigkeit, sondern wäre unbeschränkt verfügbar und in Marquards Sinne beliebigkeitskontingent oder beliebigkeitszufällig, gerade weil der Mensch sie beliebig machen und ändern könnte. Gibt es in der Sattelzeit nun eine ideengeschichtliche Strömung, die in ihrem Denken diese, theoretisch immerhin denkbare Position auch tatsächlich formulierte oder, wenn schon nicht formulierte, so doch wenigstens implizit ihrer Auffassung von Geschichte zugrunde legte? Wenn mich mein Eindruck nicht trügt, dann hat sich Koselleck dieser Frage trotz des erwähnten Hinweises auf eine Auffassung von Geschichte als „Aktionsbegriff“ niemals ausführlich gewidmet. Allerdings gibt es eine Passage in Kosellecks Beitrag zum Artikel „Geschichte, Historie“ der Geschichtlichen Grundbegriffe, die eine bestimmte Antwort auf diese Frage doch immerhin andeutet, wenn es dort heißt: 59

Reinhart Koselleck, „Geschichte, Historie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, a.a.O., S. 594.

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„Die Geschichte, die sich früher ‚ereignete‘ und in gewisser Weise mit den Menschen geschah, konnte erst als Handlungsfeld, als machbar und produzierbar erachtet werden, nachdem sie im deutschen Idealismus als Prozeß menschlicher Selbstverwirklichung entworfen worden war.“60 Freilich benennt Kosellecks Formulierung an dieser Stelle allenfalls einen terminus a quo, keinen terminus ad quem. Denn dass eine bestimmte begriffs- und ideengeschichtliche Option erst mit der Philosophie des deutschen Idealismus möglich wurde, beantwortet noch nicht die Frage, welche geistige Strömung nun tatsächlich und in welcher Weise diese Option in einer post-idealistischen Epoche ergriffen hätte. Die Geschichte des Idealismus selbst, vor allem dann die theoretische Ambition des Marxismus, den Idealismus vom Kopf auf die Füße zu stellen, sie scheinen doch vielmehr davon zu zeugen, dass und wie die These einer Produzierbarkeit von Geschichte wieder einer spezifischen Geschichtsphilosophie und einer geschichtsphilosophisch fundierten Theorie historischer Notwendigkeit einverleibt werden konnte, also gerade nicht als Indiz und Voraussetzung einer unbeschränkt verfügbaren Geschichte verstanden wurde. Aber lässt sich dann eine sattelzeitliche Thematisierung des Beliebigkeitszufälligen oder unbeschränkt Verfügbaren auch und vor allem in der menschlichen Geschichte überhaupt nachweisen? Diese Frage bleibt vorerst zurückgestellt und soll erst im übernächsten, im dritten Abschnitt dieses Kapitels thematisiert werden.61 (2) Vermutlich lässt es sich nicht vermeiden, dass jede Bezugnahme auf den Historismus zwangsläufig in eine Debatte über das Wesen oder die theoretische Quintessenz oder den den inhaltlichen Kern des Historismus mündet. Möglicherweise ist der nicht zu schlichtende Dissens in einer solchermaßen geführten Debatte wiederum aber gerade auf das Verlangen zurückzuführen, überhaupt zu einer in abstracto gültigen Definition des Historismus zu gelangen. Insofern mag es hilfreich sein, jede Diskussion über den Historismus mit der Erinnerung an einen in grundsätzlicher Weise von Robin Collingwood formulierten Gedanken zu beginnen. Wenn nämlich zutrifft, dass wir einen Gedanken oder ein Argument immer nur als Antwort auf eine Frage verstehen können, also nur verstehen können, insofern wir auch die Frage kennen, auf welche dieser Gedanke antwortet, dann wäre es naheliegend, ja sogar zwingend, zunächst einmal jene Frage zu ermitteln, auf welche der Historismus antwortet.62 60 61

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Ebd., S. 712. An dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass Marquard als „Gewährsleute“ für das Beliebigkeitszufällige „einerseits – als euphorische Variante – die Romantiker, andererseits – als depressive Variante – die von Kierkegaard kritisierten Ästhetiker mit ihrer ‚Verzweiflung der Möglichkeiten aus Mangel an Notwendigkeit‘ und Sartres Kontingenz-‚Ekel‘“ benannt hat. Die in den beiden nächsten Abschnitten folgenden Deutungen scheinen sich also sowohl auf Marquards Charakterisierung der Romantik als „euphorische Variante“ des unbeschränkt Verfügbaren in der Geschichte als auch auf die von Marquard dem Historismus unterstellte Bestimmung der Geschichte als unhintergehbar unverfügbar, „als das Überraschungsfeld und Traditionsfeld der Widerfahrnisse, Zufälle, Kontingenzen“, berufen zu können. Odo Marquard und Gerhart von Graevenitz, „Vorwort“, in: Kontingenz, herausgegeben von Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard, München 1998, S. xiv. Vergleiche hierzu Robin Collingwood, Denken. Eine Autobiographie, Stuttgart 1955.

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Unbestreitbar und trivial zugleich ist es, dass das Denken des Historismus gegen das geschichtstheoretische Denken der Aufklärung protestiert. Die eigentlich interessante Frage betrifft die Konturen und die Reichweite dieses Protestes. Dieser Protest wendet sich sicherlich, auch das ist unbestreitbar und trivial, gegen bestimmte geschichtsphilosophische Thesen der Aufklärung: etwa gegen die These, dass sich für die menschliche Geschichte, nicht anders als für die Natur, notwendige Gesetze auffinden lassen; aber natürlich auch gegen das Fortschrittsverständnis der Aufklärung, gegen die These von einer perfectibilité der Menschheit ebenso wie gegen die Ideen eines notwendigen und unbegrenzten Fortschritts. Allerdings wendet sich der Historismus nicht nur gegen die geschichtsphilosophischen Thesen der Aufklärung, sondern auch gegen ein gleichsam formales Charakteristikum ihrer Historiographie. In seinem 1936 publizierten Werk Die Entstehung des Historismus deutet Friedrich Meinecke den Historismus auch als Protestbewegung gegen jenes formale Merkmal der aufklärerischen Historiographie, welches er als „Pragmatismus“ bezeichnet. Nun ist dieser Terminus allerdings missverständlich, weil Meinecke ja nicht auf die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus Bezug nimmt; vielmehr bezeichnet Meinecke mit Pragmatismus oder besser: einer pragmatischen Historiographie eine Form von Geschichtsschreibung, welche alle Geschichte auf zweckrationale Handlungen und deren Wirkungen zurückführt und folglich „hinter allem geschichtlichen Geschehen absichtsvolle Urheber“63 wittert.64 Die pragmatische Historie der Aufklärung formuliert also, so definieren es zutreffend Jörn Rüsen und Friedrich Jaeger in ihrer überblicksartigen Darstellung der Geschichte des Historismus, „eine Geschichtstheorie, die den Prozess des historischen Wandels als ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis konzipiert.“65 Meinecke unterscheidet nun in Die Entstehung des Historismus zusätzlich zwischen einem „personalistischen“ Pragmatismus, der das bewusste Handeln einzelner Akteure in den Vordergrund stellt und in aller Geschichte „das planvolle Werk von Individuen“66 sieht, und einem „sachlichen“ Pragmatismus, der sich auf überpersönliche Kausalitäten konzentriert.67 Beiden Versionen dieses historiographischen Pragmatismus 63

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Friedrich Meinecke, „Die Entstehung des Historismus“ (1936), in: Werke. Band 3, München 1959, S. 138. Zu der Entstehung einer pragmatischen Historiographie im Laufe des 16. Jahrhunderts und ihrer Distanzierung von den humanistischen Vorstellungen, wie Geschichte zu schreiben sei, vergleiche den instruktiven Abschnitt „The emergence of historical pragmatism in the sixteenth century“ in: Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence, Princeton 1965, S. 226–235. Im Hinblick unter anderem auf Guicciardinis Geschichtsschreibung schreibt Gilbert: „[…] the interest in history had become pragmatic; history was to serve the understanding of the existing political situation and give guidance in political action. The concomitant of this pragmatic interest in history was that the writers of history were to place stress on two aspects of history which previously had been neglected, factual accuracy and causal connections.“ (ebd., S. 233). Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 22. Friedrich Meinecke, „Die Entstehung des Historismus“ (1936), in: Werke. Band 3, a.a.O., S. 60. Für die Unterscheidung zwischen personalistischem und sachlichem Pragmatismus vergleiche ebd., S. 5.

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indes soll laut Meinecke gemein sein, dass sie „utilitarische Motive oder fassliche physische Ursachen überall“68 in allem geschichtlichen Geschehen, vermuten und daher „alle wichtigen Hergänge im Staatsleben aus bewussten Motiven und Zwecken der Handelnden“69 ableiten, wie genau auch immer diese Handelnden aufzufassen sind. Die pragmatische Historiographie der Aufklärung ist zudem immer auch eine Historie mit didaktischem Anspruch. Die Darstellung der Geschichte als Aneinanderreihung zweckgerichteter Handlungen und Absichten und der von ihnen ausgelösten Konsequenzen soll auch belehren über die vernünftigen und rationalen Zwecke in der Geschichte und über die realistischen Instrumente und Mittel, die für wertvoll erachteten Zwecke zu erreichen. Wenn solchermaßen Geschichte im Ensemble allen planvollen und zweckhaften Handelns und der daraus resultierenden Folgen aufgeht, muss es für die Historiographie oder auch die Geschichtsphilosophie im Zeitalter der Aufklärung naheliegen, an die historischen Akteure die Frage zu richten, ob ihre Absichten und Zwecke die vermeintlich unbezweifelbaren normativen Grundsätze einer zeitlosen Vernunft befolgen oder ob ihr Handeln gegen diese Grundsätze verstößt und gerade dadurch Übel und Leid in der Geschichte hervorruft. Dieser Tribunalisierung von Geschichte gemäß und jener pragmatischen Historie zufolge werden etwa Kriege als unmittelbare Konsequenz der irrationalen Launen und des falschen Ehrgeizes von Herrscherhäusern, die ihre wahren Interessen verkennen, zugleich verstanden und kritisiert. Voltaires Candide oder Voltaires Beschreibung, wie die Verwüstung Europas im Siebenjährigen Krieg als Resultat der amour-propre zweier oder dreier Personen entstanden sei, sind dafür eindrückliche Exempel.70 Wenn Voltaire andererseits in enthusiastischen Tönen das friedliche Schauspiel der Londoner Börse beschreibt, dann werden die friedensstiftenden Wirkungen des doux commerce darauf zurückgeführt, dass alle Handel- und Gewerbetreibenden sich ihrer absurden und irrationalen Zwecke, sprich: Religionen, entledigt haben, sobald sie die Eingangstore der Börse passieren, und nunmehr einzig ihre rationalen Interessen und Absichten verfolgen, Ziel und Wesen der Geschichte daher nun übereinstimmen. Erich Auerbach hat die Defizite eines solchen historiographischen Verfahrens am Beispiel Voltaires anschaulich beschrieben und kritisiert: „Niemals geht er [Voltaire; P. V.] den geschichtlichen Entstehungsbedingungen der menschlichen Schicksale, der menschlichen Überzeugungen und Einrichtungen nach; das gilt sowohl für die Geschichte der Individuen wie für die der Staaten, Religionen und der menschlichen Gesellschaft überhaupt. So sinnlos, dumm und zufällig wie der Anabaptismus, das Judentum oder die Sekte der Quäker in unserem [...] Beispiel über die Londoner Börse, so sinnlos, dumm und zufällig erscheinen in Candide die Kriegszüge, Aushebungen, Religionsverfolgungen, die Anschauungen der Adligen oder der Geistlichen; und als ganz selbstverständlich unterstellt er, dass kein gescheiter Mensch an

68 69 70

Ebd., S. 384. Ebd., S. 111. Vergleiche dazu John Brumfitt, Voltaire Historian, Oxford 1958, S. 105 f.

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H  R: D U   V eine innere Ordnung der Ereignisse oder an eine innere Berechtigung der Anschauungen glaubt.“71

In jenem historiographischen Pragmatismus der Aufklärung und der aus dieser Methode resultierenden didaktischen Zweckbestimmung der Geschichte erblickt Meinecke die bis zur Entstehung des Historismus „vorwaltende Behandlungsweise geschichtlicher Wandlungen“72 , und es ist diese „Behandlungsweise“, der Meinecke nun jenen Begriff historischer Entwicklung opponiert, wie er ihn im Historismus vorfinden zu können glaubt. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, die Differenzen zwischen Meineckes Verständnis historischer Entwicklung und anderen geschichtsphilosophisch imprägnierten Auffassungen des historischen Prozesses zu beachten. Nur so lässt sich dem Trugschluss begegnen, der historistische Protest gegen die pragmatische Historiographie der Aufklärung im Namen historischer Entwicklung beraube die historischen Akteure gerade ihrer Entscheidungs- und Handlungsfreiheit und münde zwangsläufig in eine wie auch immer geartete Präsumtion historischer Notwendigkeit, negiere folglich gerade Kontingenz und Zufall in der Geschichte. Meinecke jedenfalls grenzt den Begriff der historischen Entwicklung, wie er ihn im Denken des Historismus verkörpert sieht, sowohl von dem Begriff der Vervollkommnung oder des Fortschritts als auch von dem Begriff der Entfaltung ab. Der Entwicklungsbegriff des Historismus sei zu unterscheiden „einmal von dem ihn verengernden Gedanken einer bloßen Entfaltung gegebener Keime und sodann von dem, was wir den Perfektionsgedanken der Aufklärung nennen, und was dann zum, sei es vulgären, sei es sublimierten Fortschrittsgedanken wurde.“73 Für den Entwicklungsbegriff des Historismus gebe es im Unterschied zu den Begriffen von Entfaltung und Perfektion keinen Zeit- oder Zielpunkt innerhalb der Geschichte, zu welchem die historische Entwicklung an ihr Ende gelangt, perfektioniert wäre: „Echte historische Entwicklung kann nie ‚fertig‘ sein oder werden, sie strömt weiter und bildet unberechenbar Neues – soweit es die letzten Schranken, die der menschlichen Natur gesetzt sind, erlauben.“74 Insofern attestiert der Historismus der historischen Entwicklung aber auch ein niemals nachlassendes Maß von „Spontaneität, plastischer Wandlungsfähigkeit und Unberechenbarkeit“75 . Niemals gelangt die Geschichte an ein Ende, und niemals lassen sich die Ergebnisse der immerwährenden historischen Entwicklung mit letzter Gewissheit voraussagen. Darüber hinaus ist schließlich laut Meinecke für den Entwicklungsbegriff des Historismus im Gegensatz zu den Begriffen von Entfaltung und Perfektion konstitutiv, dass er die Entwicklung der Geschichte an keine außerhalb ihrer selbst gelegenen Triebkräfte oder Agentien geknüpft sieht, sodass er vielmehr „das ge-

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72 73 74 75

Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/ Basel 1994 (1946), S. 383. Friedrich Meinecke, „Die Entstehung des Historismus“ (1936), in: Werke. Band 3, a.a.O., S. 5. Ebd., S. 5. Ebd., S. 99. Ebd., S. 5.

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schichtliche Leben lediglich als eine Auswirkung immanenter Kräfte und Gesetze“76 auffasst. Bekanntlich leitete Benedetto Croce aus dem zuletzt genannten Merkmal geradezu seine Definition des Historismus ab, ja Croce betonte dieses Merkmal in einer Einseitigkeit, welche das Besondere seiner Deutung des Historismus im Vergleich zu anderen, ebenfalls affirmativen Interpretationen des Historismus ausmacht. Die großartige Einsicht des Historismus bestehe doch gerade darin, so Croce, „che la vita e la realtà è storia e nient’altro che storia“77 . Für Croce wie für Meinecke also besteht ein wie auch immer zu gewichtendes Merkmal des Historismus und des historistischen Begriffs historischer Entwicklung gerade darin, kein Movens der Geschichte außerhalb ihrer selbst, deren marionettenhaftes Objekt die Geschichte lediglich wäre, zu kennen und zu akzeptieren. Insofern wendet sich der Historismus nicht nur gegen die Gedanken historischer Teleologie und historischer Notwendigkeit, sondern auch gegen all jene geschichtsphilosophischen Versuche, die das historische Geschehen als unmittelbares oder mittelbares Ergebnis göttlicher Vorsehung und Eingriffe kennzeichnen, wie dies etwa noch für Bossuets Geschichtsphilosophie oder auch für Hamanns Auffassung der Geschichte78 oder auch für die frühneuzeitliche Auffassung von Geschichte als Resultat des Konflikts zwischen menschlicher virtù und der zeitlos wirkenden, heidnischen Göttin Fortuna zutrifft.79 Diese drei Überlegungen – die Ablehnung der Präsumtion eines der Geschichte vorgeordneten und diese lenkenden Telos, der Gedanke einer immanenten Entwicklung der Geschichte und schließlich die Überzeugung von der unaufhebbaren „Wandlungsfähigkeit und Unberechenbarkeit“ dieser Entwicklung – diese drei Überlegungen grenzen das historistische Verständnis historischer Entwicklung aber nicht nur von konkurrierenden geschichtsphilosophischen Ansätzen und Auffassungen historischer Entwicklungsverläufe ab. Zugleich verunmöglichen sie auch jene skizzierte pragmatische Vorstellung der Historiographie der Aufklärung, welche alle Geschichte in das kausal bedingte Nebeneinander und Nacheinander von zweckrational handelnden Individuen oder überindividuellen Kollektiven aufgehen lässt. Einer solchen pragmatischen Auffassung von Geschichte hält der Historismus vor, jene immanente, anti-teleologische und unberechenbare Entwicklung der menschlichen Geschichte zu verkennen, die sich niemals, um Meineckes Vokabular zu bemühen, in das planvolle Werk absichtsvoller Urheber auflösen lässt. Während die pragmatische Historiographie insofern einerseits die Grenzen der Machbarkeit und Verfügbarkeit von Geschichte ignoriert, weil sie den Tatbestand einer historischen Entwicklung überhaupt verkennt oder leugnet, ist den geschichtsphilosophischen Ansätzen der Entfaltung oder der Perfektion andererseits eine Vorstellung von historischer Entwicklung eigen, die sich gerade nicht offen für das 76 77

78 79

Ebd., S. 59. Benedetto Croce, La storia come pensiero e come azione, Bari 1938, S. 51. Ähnliche Formulierungen finden sich bereits in Benedetto Croce, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie Tübingen 1915 (1913), etwa auf S. 96. Vergleiche hierzu meine Ausführungen auf S. 416–418 in diesem Kapitel. Vergleiche zu der Auffassung von Geschichte als Konflikt von menschlicher virtù und göttlicher Fortuna in Antike, Mittelalter, Renaissance und Früher Neuzeit das gesamte siebte Kapitel dieser Arbeit.

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unberechenbare und anti-teleologische Moment einer allein immanenten historischen Entwicklung zeigt. So liefert uns der Rekurs auf Meineckes Die Entstehung des Historismus und insbesondere Meineckes Kontextualisierung des Historismus und seine Kontrastierung mit den bestehenden geschichtsphilosophischen oder historiographischen Ansätzen seiner Zeit ein erstes Indiz dafür, dass und wie sich im Historismus und seinem Begriff der historischen Entwicklung einerseits eine Sensibilität für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte artikuliert, die sich nun aber andererseits gerade nicht zu einer Präsumtion wie auch immer gearteter historischer Notwendigkeit verengt und insofern ein Bewusstsein für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte enthält. Diese erste Einschätzung und Andeutung einer historistischen Sensibilität für Zufall und Kontingenz in der Geschichte im Sinne eines Unverfügbaren, ein Indiz freilich nur, gewonnen bislang lediglich durch den Verweis auf Meineckes Lesart des historistischen Begriffs historischer Entwicklung, gilt es nun weiter auf die Probe zu stellen. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Meineckes Kennzeichnung des Entwicklungsbegriffs des Historismus inhaltlich überaus deutlich an einen bereits von Ernst Troeltsch 1922 in Der Historismus und seine Probleme vorgenommenen Klärungsversuch anknüpft. Auch Troeltsch grenzt den Begriff historischer Entwicklung zunächst von dem Fortschrittsbegriff des 18. Jahrhunderts sowie von jeder Art teleologischer Fortschrittsgewissheit ab. Troeltschs Bestimmungen sind dabei für unsere Zwecke deshalb von besonderem Interesse, weil sie den Begriff historischer Entwicklung zusätzlich noch dem Begriff der Evolution und einer damit verbundenen Auffassung von Geschichte opponieren: Mit seiner Kritik am Evolutionsbegriff will Troeltsch den Entwicklungsbegriff des Historismus abgrenzen von dem „naturwissenschaftlichen Begriff der kausalen Zeitreihen [...] und vor allem von dem Begriff der Evolution, wie er durch Spencer technisch geworden ist und der Aggregation naturgemäß die Desaggregativen folgen lässt.“80 Einem solchen Begriff der Evolution fehle jedoch, so kritisiert Troeltsch, „gerade jener die Historie charakterisierende Gedanke einer lebendig-organischen Verschmolzenheit und einer triebhaften Sinnkontinuierlichkeit“81 . Die beiden sich in diesem Gedanken artikulierenden Momente aber seien für alle geschichtliche Entwicklung konstitutiv. Im Unterschied zum Begriff der Evolution verweist der Begriff der historischen Entwicklung, wie ihn Troeltsch verstanden wissen möchte, darauf, „dass das kontinuierliche Werden historischer Dinge, soweit es in Wahrheit kontinuierlich ist, nicht in einer Zusammenreihung abgrenzbarer Einzelvorgänge rein kausal dargestellt werden kann, sondern dass die Einzelvorgänge verschmolzen sind in einer sie durchziehenden, ineinander auflösenden und dadurch kontinuierlich machenden Werde-Einheit, die sich logisch sehr schwer beschreiben lässt, die aber zu sehen und zu fühlen das Wesen des historischen Sinnes ist.“82 80

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Ernst Troeltsch, „Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie“, in: Gesammelte Schriften. Dritter Band: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, S. 58. Ebd., S. 58. Ebd., S. 55.

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Der Evolutionsbegriff und die auf ihm beruhende kausal-genetische Methode hingegen, sie führen laut Troeltsch lediglich zu „Reihenbildungen und kausal begründeten Veränderungen“83 . Unverstanden müsse so aber nicht nur die für alle historische Entwicklung konstitutive „Werde-Einheit“ bleiben, sondern auch die diese „WerdeEinheit“ stets kennzeichnende historische Dynamik. Die Dynamik der Geschichte füge sich keinen kausal erklärbaren Ursache-Wirkungs-Ketten, da diese historische Dynamik Troeltsch zufolge immer auch auszeichnet, dass in ihr „die Handelnden auch oft durch Konsequenzen ihres eigenen Handelns überrascht und die späteren Auswirkungen den ersten Instinkten oft geradezu zu widersprechen scheinen können.“84 Diese Disparität von Absicht und Resultat legt ein Verständnis historischer Entwicklung nahe, welchem die Überzeugung von einer gänzlichen Bestimmbarkeit dieser Entwicklung durch kausale Ursachen niemals gerecht wird. Die Geschichte sei, so schreibt Troeltsch, „grundsätzlich unberechenbar und jeder Gedanke eines sie restlos umfassenden, einheitlichen Gesetzes, sei es ein naturalistisches oder ein dialektisches, wird dadurch unmöglich.“85 Nicht anders als Meineckes Kritik der pragmatischen Historiographie beruht also auch Troeltschs Kontrastierung der Begriffe Entwicklung und Evolution einerseits auf der Überzeugung, dass die Entwicklung der Geschichte nicht in einem Produkt von „Reihenbildungen und kausal begründeten Veränderungen“ aufgeht, gleichviel wie die dabei eigentlich wirkenden Ursachen zu verstehen sein sollen, sich vielmehr historische Entwicklung stets einer restlosen Kalkulation und Verfügbarkeit entzieht. Und nicht anders als in Meineckes Absetzung des Entwicklungsbegriffs von alternativen geschichtsphilosophischen Ansätzen, spricht sich andererseits auch in Troeltschs Argumentation ein Verständnis historischer Entwicklung aus, welches weder ein unveränderliches, zeitloses und außerhalb der Geschichte angesiedeltes Movens oder Telos dieser historischen Entwicklung noch unveränderliche und notwendige Gesetzmäßigkeiten dieser Entwicklung akzeptieren kann, vielmehr auf der, um mit Meinecke zu sprechen, stets möglichen Spontaneität, plastischen Wandlungsfähigkeit und Unberechenbarkeit historischer Entwicklung insistiert, dies aber nicht im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren, sondern im Sinne eines unhintergehbar Unverfügbaren tut. Diese Klärungen und Präzisierungen des historistischen Entwicklungsbegriffs und die Kontrastierung des Historismus mit dem für eine pragmatische Historiographie konstitutiven Gedanken einer willentlichen Verfügbarkeit von Geschichte, wie sie Meineckes und Troeltschs große Darstellungen des Historismus prägen, sie führen zurück zum Kern unseres Themas: Schließlich lautet die entscheidende Frage dieses zweiten Abschnitts des Kapitels, ob sich im Zeitraum der Sattelzeit eine theoretische Sensibilität für das nicht notwendige Wandelbare oder Unberechenbare in der Geschichte im Sinne eines Unverfügbaren und insofern für das, was Marquard das Schicksalszufällige oder 83

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Ernst Troeltsch, Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus, Berlin 1919, S. 97. Ernst Troeltsch, „Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie“, in: Gesammelte Schriften. Dritter Band: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, a.a.O., S. 657. Ebd., S. 50.

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Schicksalskontingenz nennt, nachweisen lässt. Der Blick auf zwei bedeutsame Interpreten des Historismus und ihr Verständnis des Begriffs der historischen Entwicklung scheint die These, dass sich tatsächlich im Entwicklungsbegriff des Historismus eine solche Sensibilität artikuliert, zunächst zu bestätigen. Allein, damit ist für unsere Belange noch nicht viel gewonnen. Denn um dem Historismus des 19. Jahrhunderts und seinem Begriff historischer Entwicklung tatsächlich eine Sensibilität für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte einerseits, eine Sensibilität für die Flexibilität historischer Entwicklung andererseits, und damit schließlich eine Sensibilität für einen bestimmten Typus von Kontingenz und Zufall, nämlich für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unhintergehbar Unverfügbaren im Sinne von Marquards Schicksalszufälligem oder Schicksalskontingentem attestieren zu können, reicht die Tatsache, dass zwei Interpreten des Historismus im frühen 20. Jahrhundert ebendies taten, selbstverständlich nicht aus. Ist nicht, so ließe sich etwa gegen die bisherigen Ausführungen einwenden, Meineckes und Troeltschs Verweis auf eine solche Sensibilität als der nur allzu leicht durchschaubare Versuch der ex post-Legitimation einer in Bedrängnis geratenen intellektuellen Tradition zu verstehen, verfehlt aber gerade den Historismus der Sattelzeit? In der Tat beabsichtigen, so viel ist sicherlich sofort zu konzedieren, Meinecke und Troeltsch 1936 bzw. 1922 nicht nur eine originalgetreue Rekonstruktion des Historismus, sondern auch ein entschiedenes Plädoyer für diesen Historismus und einen Protest gegen dessen intellektuelle Diskreditierung im Zeichen eines transdisziplinär sich ausbreitenden Anti-Historismus. Zusätzliche Nahrung erhält die soeben geäußerte Skepsis, wenn wir berücksichtigen, dass Meinecke und Troeltsch den Historismus nicht nur angesichts der intellektuellen Atmosphäre eines weit verbreiteten Anti-Historismus zu verteidigen suchten – dies allein hätte ihre starke Betonung des historistischen Bewusstseins für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte noch keinesfalls zwingend gemacht, vielmehr auch ganz andere Verteidigungsstrategien stimulieren können –, sondern sich jeweils auch mit politischen Konstellationen und Umbrüchen konfrontiert sahen, dem Aufstieg des Nationalsozialismus oder der zivilisatorischen Katastrophe des ersten Weltkriegs, die hinlänglich zu bezeugen schienen, dass in der Geschichte bislang Unerdenkliches eben doch möglich sei. Es war dieser Kontext, in dem Troeltsch wie Meinecke unter Berufung auf den Historismus und die ihm unterstellte Auffassung historischer Entwicklung die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte und das Nicht-Notwendige von Geschichte, also von Kontingenz und Zufall im Sinne eines unhintergehbar Unverfügbaren in der menschlichen Geschichte, theoretisch in Erinnerung riefen. Aber noch einmal gefragt: Inwiefern ist diese Berufung legitim? Bevor wir diese Frage in direkter Auseinandersetzung mit Vorläufern des Historismus aus dem späten 18. und Vertretern des Historismus aus dem 19. Jahrhundert zu beantworten suchen, sei in Erinnerung gerufen, dass Meinecke und Troeltsch nicht die einzigen und schon gar nicht die aktuellsten Interpretationen des Historismus der skizzierten Art, wonach sich der Historismus im Sinne einer „Predigt der Endlichkeit“ (Lübbe) für das unverfügbare Momente aller Geschichte geschichtstheoretisch sensibel zeigt, formulieren. Auf einige Interpretationen durchaus jüngeren Datums, die ebenfalls in genau diesem Sinne den Historismus verstehen wollen, sei daher an dieser Stelle verwiesen, bevor wir dann endgültig den Blickwinkel unserer Betrachtung auf die Protagonisten

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des Historismus selbst richten und mit der Diskussion von Herders geschichtsphilosophischem Entwurf Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 einsetzen lassen. Odo Marquards durchaus eindeutige Hinweise in dieser Frage, wenn auch eben immer nur angedeutet und niemals systematisch ausgearbeitet, hatten wir bereits knapp erwähnt.86 Hermann Lübbe, so hatten wir im dritten Abschnitt des dritten Kapitels ausführlich gesehen und besprochen, erachtet ebenfalls die Einsicht in die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte und eine theoretische Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte als zentrale Leistung des historistischen Geschichtsdenkens. Sowohl gegen die Idee der grenzenlosen Verfügbarkeit von Historie als auch gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit kultiviert der Historismus laut Lübbe die Einsicht in die theoretisch und praktisch nicht auflösbare Unverfügbarkeit von Geschichte und formuliert genau auf dieser theoretischen Grundlage seine Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Sinne eines Unverfügbaren. Während die Religion sich für Lübbe als eine auf die Widerfahrnisse eines individuellen Lebens bezogene „Kontingenzbewältigungspraxis“ verstehen lassen soll87 , besteht die Kontingenzerfahrungskultur des Historismus laut Lübbe in der Wahrung der Einsicht, dass es sich bei der menschlichen Geschichte weder um das Resultat vorgefertigter Pläne und Handlungsabsichten noch um die Ausfertigung historischer Gesetzmäßigkeiten handelt, dass daher Geschichte ebenso wie Geschichten stets unvermeidlich Momente der Unverfügbarkeit enthalten. Dies erkannt und formuliert zu haben, stellt für Lübbe die herausragende methodische und geschichtstheoretische Leistung des Historismus dar, und dieser Leistung verdankt sich, dass Lübbe seine gesamte Argumentation in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, gerade auch die darin formulierte theoretische Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen historischer Unverfügbarkeit, grundsätzlich als „Apologie des Historismus in seiner unüberholten epistemologischen und kulturellen Substanz“88 verstanden wissen will. In einer Passage in Religion nach der Aufklärung bringt Lübbe diese theoretische Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte oder in Geschichten im Namen historischer Unverfügbarkeit darüber hinaus begrifflich explizit mit jenem, von Meinecke und Troeltsch in ihren Deutungen des Historismus so sehr in den Vordergrund gestellten Begriff einer Entwicklung von Geschichte in Verbindung: „Erst das moderne historische Bewusstsein lässt uns Geschichten als Entwicklungen erfahren, und ineins damit die kontingente Verfassung unserer Identität als Resultat der Geschichten, die wir jeweils hinter uns haben.“89 Ganz ähnlich wie Meinecke und Troeltsch, Lübbe und Marquard, hat auch Rüdiger Bubner den Historismus als einem im Namen historischer Unverfügbarkeit formulierten Protest sowohl gegen die Idee der grenzenlosen Machbarkeit und Verfügbarkeit von 86 87

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Vergleiche hierzu Anmerkung 57 in diesem Kapitel, S. 365. Vergleiche dazu das letzte Kapitel dieser Arbeit und die dortigen Ausführungen zu Lübbes Philosophie der Kontingenz und seinem Verständnis von Religion, S. 683–687. Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 7. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln 1986, S. 70.

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Geschichte wie auch gegen die Präsumtion historischer Notwendigkeit – auf welchen geschichtsphilosophischen Prämissen diese Präsumtion dabei auch immer beruhen mag – interpretiert. Ungleich deutlicher und prägnanter zumindest als Lübbe und Marquard bettet Bubner allerdings diesen historistischen Protest in seinen Entstehungskontext ein, wobei die bereits von Meinecke und Troeltsch erwähnten und diskutierten Opponenten des Historismus erneut Erwähnung finden. Auch Bubner zufolge treibt das Plädoyer für die unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte den Historismus in seiner Geburtsstunde einerseits zu einem Protest gegen eine pragmatische Historiographie, welche Geschichte aufgehen lässt in zweckrationales Kalkül und planmäßiges Handeln einzelner Personen. Andererseits ist der Historismus Bubner zufolge aufgrund seines Protests gegen die Idee historischer Notwendigkeit noch in der Geburtswiege mit einer anderen geschichtstheoretischen Position konfrontiert: Der Historismus verweigert sich nicht nur der Idee der Machbarkeit und gänzlichen Verfügbarkeit von Geschichte in Form der pragmatischen Historiographie, sondern auch der Überzeugung historischer Notwendigkeit, wie sie ihm zu der Zeit seiner Entstehung unter anderem in Form einer providentiellen Heilsgeschichte begegnen musste, ist also auch zu verstehen als ein Protest gegen die Annahme der Notwendigkeit von Geschichte insbesondere in der Spielart einer Reduktion von Geschichte auf Heilsgeschichte, als Protest gegen ein Verständnis von Geschichte als direktes Resultat eines göttlichen Heilsplans. Geschichte ist für den Historismus weder mit einem Heilsgeschehen gleichzusetzen noch Resultat unseres Machens; Geschichte ist für den Historismus, wie Bubner in Geschichtsprozesse und Handlungsnormen schreibt, weder ein „namenlos verhängtes Geschick, das wir in unserem irdischen Tun und Treiben nur pünktlich zu exekutieren haben“90 ; noch ist sie in einer Weise in „unsere Hand gegeben, als ob wir allein Meister unserer Taten wären“91 : „Die mythisch-theologische Vorstellung einerseits, die den Gang der Welt den Göttern oder einer Vorsehung anheimgibt, und die Erwartung totaler Machbarkeit andererseits, die ein allgültiges Wissen in die Technik der Zukunftsgestaltung umsetzt, sind die zwei Extreme, zwischen denen historisches Bewusstsein sich entwickelt.“92 Daher gilt laut Bubner für den Historismus hinsichtlich des Verhältnisses von menschlichem Handeln und der Eigenart von Geschichten und Geschichte der geschichtstheoretische Grundsatz: „Die Menschen machen ihre Geschichte, aber sie haben sie nicht vollständig unter Kontrolle.“93 Diesen Grundsatz erläuternd schreibt Bubner in einer anderen Passage: „Wir müssen üben, in der Einsicht zu leben, dass Geschichte weder das demütige Erleiden nicht selbst gesetzter Gesetze ist, noch auch sich auflöst in ein rückhaltloses Durchschauen der wesentlichen Zusammenhänge, das für alle Zeiten Sicherheiten vor Überraschungen verspricht. Was die Menschen erlei90

91 92 93

Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, S. 25. Ebd., S. 25. Ebd., S. 25. Ebd., S. 25.

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den, haben sie selber gemacht, und die Verantwortung kann auf niemanden sonst abgeladen werden. Dennoch haben sie nicht ausdrücklich gewollt, was schließlich in der Welt geschieht, während das, was sie wollen und planen, anders einzutreten pflegt als vorgesehen. […] Es bleibt mithin dabei, dass die Menschen zwar ihre Geschichte machen, aber sie nicht letztlich unter Kontrolle bringen.“94 Dass man Geschichten und Geschichte zumindest nicht gänzlich machen kann, dass man in Geschichten und Geschichte zwar handeln, diese aber nicht kontrollieren kann, dass sich vielmehr Handlungen immer nur in Geschichten ereignen und ohne diese Geschichten gar nicht zu denken sind, diesen geschichten- und geschichtstheoretischen Grundsatz formulierte übrigens auch, obschon nicht im Kontext einer Kontextualisierung und Interpretation des Historismus, wie Meinecke, Troeltsch, Marquard, Lübbe und Bubner, wohl aber in seinem Erstlingsdrama, Franz Grillparzer. In seinem Stück Die Ahnfrau von 1817, welches literaturgeschichtlich in den Kontext der deutschen Schicksalsträgodie, in den Kontext von Adolf Müllners Die Schuld oder Zacharias Werners 24. Februar95 einzuordnen ist, lässt Grillparzer einen seiner Protagonisten, Jaromir, im fünften Akt angesichts der Tatsache, dass er in Unkenntnis seiner Identität seinen eigenen Vater getötet hat, verzweifelt ausrufen: Wo ist der, der sagen dürfe: So will ich’s, so sei’s gemacht! Unsere Taten sind nur Würfe In des Zufalls blinde Nacht. Ob sie frommen, ob sie töten? Wer weiß das in seinem Schlaf! Meinen Wurf will ich vertreten, Aber das nicht was er traf!96 94 95

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Ebd., S. 27. Vergleiche dazu die vorzüglichen Ausführungen von Hermann August Korff: Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte. Band IV: Hochromantik, Leipzig 1953, S. 429–442. Franz Grillparzer, Die Ahnfrau, Stuttgart 1972 (1817), S. 87. Korff kommentiert diese Passage aus Grillparzers Ahnfrau so: „[…] der Mensch denkt, aber er macht die Rechnung ohne die unberechenbare Komponente, die in der ungeheueren Verschlungenheit des Lebens steckt. Nur eine kleine Strecke weit sind unsere Handlungen übersehbar, darüber hinaus geht es ins Dunkle, und aus diesem Dunkel heraus kann uns jeden Augenblick der Zufall, das Schicksal überfallen. Jede Stunde sind wir tief gefährdet. Unser Lebensgefühl aber ist dadurch bestimmt, wie sehr wir dieses Gefährdetsein im Blute tragen. So wie es Menschen gibt, deren Gefühl davon nicht berührt ist, und deren Lebensgefühl daher jenen zuversichtlich-gläubigen Charakter hat, wie es der tiefste Zauber des jungen Goethe ist, so gibt es andere Menschen, die eine Witterung haben für die beständige Gefährdung ihrer Existenz und deren Grundgefühl die Angst ist […] Und der Sinn der Ahnfrau ist nichts anderes als die Darstellung der in solchem Lebensgefühl wurzelnden fatalistisch-düsteren Stimmung, die in diesem Falle zugleich ihre grauenhafte Berechtigung erweist, ohne dass damit über die Tatsächlichkeit eines solchen in der Schuld einer Ahnfrau wurzelnden Verhängnisses ernstlich etwas ausgesagt werden soll.“ Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-

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Dass Geschichte keinen Produktcharakter hat und Menschen die von ihnen gemachte Geschichte und die von ihnen gemachten Geschichten nicht vollständig unter Kontrolle haben, heißt freilich für keinen der auf den letzten Seiten erwähnten Interpreten des Historismus, weder für Meinecke oder Troeltsch, noch für Marquard, Lübbe oder Bubner, dass Menschen im Sinne eines geschichtstheoretischen Fatalismus oder Determinismus in der Geschichte nicht handeln würden oder nicht handeln können. Aber die in der Geschichte handelnden Menschen, und das gilt selbst für die in geschichtstheoretischen Debatten immer wieder so gern zitierten „großen Männer“, sind für ihre Handlungen stets auf einen förderlichen Kontext angewiesen, wenn anders sie nicht wirkungslos in den Annalen der Geschichte ein kärgliches Dasein fristen wollen. Zu eben einer solchen vorsichtigen Einschätzung der Reichweite und der Potenziale menschlichen Handelns in der menschlichen Geschichte, zu einer Einschätzung der menschlichen Geschichte als selbstredend von Menschen bewirkt, nicht aber eben zur Gänze von Menschen gemacht und daher auch nicht zur Gänze in der Kontrolle dieser Menschen befindlich, wie sie Meinecke, Troeltsch, Marquard, Lübbe und Bubner zufolge dem Historismus eigen ist, gelangt übrigens auch William James in seinem Aufsatz „Great Men and their Environment“. James charakterisiert in diesem, in unverkennbarer Weise bestimmten evolutionstheoretischen Positionen verpflichteten Aufsatz historisches Geschehen als Kombination von unvorhersehbaren und stets auch zufälligen Ereignissen, die sich den spontanen Handlungen und Verhaltensformen von Individuen verdanken, und den sozialen Reaktionen auf diese Ereignisse und überwindet so den in ein unerfreuliches geschichtstheoretisches Patt geratenen Stellungskrieg zwischen Indeterminismus und Determinismus – machen große Männer willentlich die Geschichte oder determinieren historische Kontexte jeden geschichtlichen Verlauf oder jedes geschichtliche Ereignis? – durch einen ganz eigenen geschichtstheoretischen Ansatz. Grundsätzlich argumentieren James’ Ausführungen in „Great Men and their Environment“, ursprünglich 1880 im Atlantic Monthly publiziert, natürlich antideterministisch: sie wenden sich also gegen Autoren wie Buckle und Taine, vor allem aber gegen Spencer, gegen dessen Geschichtsverständnis sich James immer wieder polemisch zur Wehr setzt. Gegen diese deterministischen Positionen beharrt James prinzipiell auf der Wirkungsmächtigkeit und auch Möglichkeit individuellen Handelns in der Geschichte und betrachtet diese Tatsache als ein von jeder Geschichtstheorie gleich welcher Couleur zu registrierendes factum brutum. Freilich, diese individuellen Handlungen machen niemals die gesamte Geschichte aus und können sie somit auch niemals zur Gänze erklären. Das Resultat der Geschichte ist eben nicht mit den Intentionen der handelnden Akteure gleichzusetzen. James verteidigt insofern die historische Wirkungsmächtigkeit individuellen Handelns auch und gerade von „großen Männern“; aber er formuliert deshalb keinen schrankenlosen Indeterminismus: „The fermentative influence of geniuses must be admitted as, at any rate, one factor in the changes that

romantischen Literaturgeschichte. Band IV: Hochromantik, a.a.O., S. 441 f. Die Thematik der historistischen Einsicht in das Unverfügbare der Geschichte und die Frage, inwiefern diese Einsicht für den Historismus konstitutiv ist, habe ich mittlerweile separat behandelt: Peter Vogt, „Why We Cannot Make History. Some Remarks on a Lesson from Early Historicism“, in: Journal of the Philosophy of History 4 (2010), S. 121–137.

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constitute social evolution. […] But the indeterminism is not absolute.“97 Seine theoretische Reserve gegenüber einem historischen oder historiographischen Indeterminismus begründet James mit der Überlegung, wonach jedes Ferment historischer Individualität, jeder schöpferische Versuch eines wie auch immer genialen Individuums, in die Geschichte, in die eigene oder in die der anderen, etwas Neues zu implantieren, auf einen empfänglichen und förderlichen Kontext treffen muss, um wirklich produktiv zu wirken: „A given genius may come either too early or too late. Peter the Hermit would now be sent to a lunatic asylum. John Mill in the tenth century would have lived and died unknown. Cromwell and Napoleon need their revolutions, Grant his civil war. An Ajax gets no fame in the day of telescopic-sighted rifles“98 . Folglich lautet die entscheidende geschichtstheoretische Frage für James auch gar nicht, ob große Männer Geschichte machen oder historische Prozesse und Strukturen jeden geschichtlichen Verlauf oder jedes geschichtliche Ereignis determinieren, sondern vielmehr, wie ein historisches Genie und ein historischer Kontext interagieren. Und James’ überaus deutlich von Charles Darwins Evolutionstheorie beeinflusste Antwort auf diese Frage besagt: Handlungen, seien es die eines großen Mannes oder eines einzigartigen Genies, sorgen – den zufälligen Variationen Darwins gleich – in der Geschichte für das Neue, das Schöpferische, das Unerwartete, das Kreative, stellen somit den entscheidenden Stimulus für historische Entwicklung dar, wohingegen die historischen Kontexte und historischen Umstände – Darwins „survival of the fittest“ entsprechend – aus diesem Fundus des Kreativen und Neuartigen aussieben, was sich gegenwärtig am produktivsten entfalten kann. Insofern folgt für James die menschliche Geschichte dem evolutionstheoretischen Muster von zufälliger Variation und Selektion, und die Frage, ob große Männer Geschichte machen oder historische Kontexte die Geschichte determinieren, wird von ihm als eine falsch gestellte theoretische Alternative zurückgewiesen: „[…] the social surroundings of the past and present hour exclude the possibility of accepting certain contributions from individuals; but they do not positively define what contributions shall be accepted, for in themselves they are powerless to fix what the nature of the individual offerings shall be. Thus social evolution is a resultant of the interaction of two wholly distinct factors, – the individual, deriving his peculiar gifts from the play of physiological and infra-social forces, but bearing all the power of initiative and origination in his hands; and, second, the social environment, with its power of adopting or rejecting both him and his gifts. The community stagnates without the impulse of the individual. The impulse dies away without the sympathy of the community [Hervorhebung von mir; P. V.].“99

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William James, „Great Men and their Environment“ (1880), in: The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, New York 1923 (1896), S. 230. Ebd., S. 230. Ebd., S. 231 f.

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Damit aber nun endgültig zu den Vorläufern und Vertretern des Historismus und – wie oben bereits annonciert – zunächst zu Johann Gottfried Herder: Bestätigt sich im Blick auf Herder jene Interpretation des Historismus, wie wir sie bislang im Rückgriff auf Meinecke und Troeltsch, auf Lübbe, Marquard und Bubner, vorgelegt haben? Ist dem Historismus tatsächlich und jenseits der geschichtstheoretischen Präsumtionen historischer Notwendigkeit und der grenzenlosen Verfügbarkeit von Geschichte eine Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines Unverfügbaren in der menschlichen Geschichte eigen? Weiß der Historismus darum, dass unsere Handlungen in der Geschichte, mit Grillparzer gesprochen, nur „Würfe in des Zufalls blinde Nacht“ sind, ohne doch deshalb einem geschichtstheoretischen Determinismus oder Fatalismus das Wort zu reden, welcher den „fermentative influence“ (James) einzelner Handlungen auf die Entwicklung der Geschichte in Abrede stellt. Akzeptiert der Historismus die Einsicht von Wilhelm Schapp, dass wir sowohl in unsere eigenen Geschichten wie in die Geschichten der anderen in einer Weise verstrickt sind, dass wir niemals als Autoren dieser Verstrickung zu denken sind, dass all unsere Handlungen, deren Existenz sich gar nicht leugnen lässt, doch immer nur in diesen Geschichten vorkommen und dass insofern auch die sub specie historiae betrachtete Geschichte, wenn auch nicht ausschließlich, so doch unhintergehbar unverfügbar ist? Lässt sich in den Schriften der Historisten tatsächlich die von Bubner so unübertroffen prägnant formulierte geschichtstheoretische Überzeugung, wonach die Menschen ihre Geschichte zwar machen, sie aber nicht unter Kontrolle haben, auffinden? Blicken wir zunächst auf Herders Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte im Sinne eines Unverfügbaren, für das, was Marquard das Schicksalszufällige oder das Schicksalskontingente nennt: Nun sind Worte keine Begriffe, Begriffe sind auch keine Ideen. Und doch können wir der Tatsache, dass Herder in seinem ersten großen geschichtsphilosophischen Entwurf Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 immer wieder explizit vom Schicksal spricht und diese Sensibilität für das Schicksal in der Geschichte gerade als wesentliches Gütesiegel der von ihm vertretenen Geschichtstheorie begreift, als Gütesiegel jener Auffassung nämlich, die Geschichte als Entwicklung versteht, eine erste Bestätigung der skizzierten Interpretation des Historismus entnehmen. Dabei besteht die wichtigste theoretische Konsequenz eines Verständnisses von Geschichte als Entwicklung für Herder sicherlich in einem historischen Pluralismus, der sich davor hütet, alle Formen geschichtlichen Lebens am Maßstab der Gegenwart zu messen. Die Ägypter waren die Ägypter und sind deswegen nicht an den Idealen der Griechen zu messen. Die Griechen waren die Griechen und sind deswegen nicht an den Idealen des 18. Jahrhunderts zu messen. Eine weitere Konsequenz seines Verständnisses von Geschichte als Entwicklung sieht Herder aber zweifellos auch darin, die allzu großen Hoffnungen der Aufklärung in das Vermögen der menschlichen Vernunft, die Geschichte gemäß ihren eigenen Grundsätzen zu machen und zu planen, zu dämpfen; und in ebendiesem Zusammenhang gebraucht Herder immer wieder den Begriff des Schicksals: „Zuerst muß ich zum überhohen Ruhm des Menschlichen Verstandes sagen, daß immer weniger Er, wenn ich so sagen darf, als ein blindes Schicksal, was

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die Dinge warf und lenkte, an dieser allgemeinen Weltveränderung würkte. Entweder warens so große, gleichsam hingeworfene Begebenheiten, die über alle Menschliche Kräfte und Ausssichten gingen, denen sich die Menschen meistens widersetzten, wo niemand die Folge als überlegten Plan, träumte; oder es waren kleine Zufälle, mehr Funde, als Erfindungen, Anwendungen einer Sache, die man lange gehabt, und nicht gesehen, nicht gebraucht hatte – oder gar nichts als simple Mechanik, neuer Kunstgrif, Handwerk, das die Welt änderte. [...] Alles ist großes Schicksal! von Menschen unüberdacht, ungehoft, unbewürkt – siehst du Ameise nicht, daß du auf dem großen Rade des Verhängnißes nur kriechest? Wenn wir in die Umstände des Ursprungs aller sogenannten Welterleuchtungen näher eindringen: die nehmliche Sache. Dort im Großen hier im Kleinen, Zufall, Schicksal, Gottheit!“100 Am deutlichsten lässt sich Herders prinzipieller Protest gegen den Gedanken einer Verfügbarkeit von Geschichte wohl seiner Kritik der Stürmer und Dränger entnehmen, wie ihn etwa der zweite Teil seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, die zwischen 1774 und 1778 in insgesamt drei Fassungen erschien, formuliert. In diesem zweiten Teil widmet sich Herder dem „Charakter und Genie des Menschen“ und rechnet dabei schonungslos mit jenem Genie-Kult ab, der sein Denken doch einstmals befeuert hatte, ihm aber nunmehr als blindwütiges Epigonentum erscheint. Das wahre Genie zeichnet sich für Herder nun gerade aus durch die Einsicht und Anerkennung menschlicher Begrenztheit: „Überhaupt ists Knabengeschrei, was von dem angebohrnen Enthusiasmus, der heitern, immer strömenden und sich selbst belohnenden Welle des Genies da her theoretisirt wird. Der wahre Mensch Gottes fühlt mehr seine Schwächen und Grenzen, als dass er sich im Abgrund seiner ‚positiven Kraft‘ mit Mond und Sonne bade“101 , so schreibt Herder nun in der genannten Schrift. Jochen Schmidt hat diese gleichsam antivoluntaristische Note von Herders Denken im Namen menschlicher Endlichkeit gerade auch und bereits in dieser frühen Schrift zu Recht deutlich profiliert:

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Johann Gottfried Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774), in: Sämmtliche Werke, Band 5, herausgegeben von Bernhard Suphan, Weimar 1892, S. 530 f. Der letzte Satz der zitierten Passage zeigt an, dass Herder den Begriff des Schicksals als nicht im Widerspruch zu einer göttlichen Vorsehung stehend empfindet. Vielmehr denkt er das Schicksal als ein Medium der göttlichen Vorsehung. Andere theoretischen Optionen sind natürlich denkbar, man denke nur an James’ Konzeption einer Vorsehung, die gerade nicht darin besteht, dem Menschen „fatal decrees“ entgegenzuschleudern. Vergleiche dazu meine Ausführungen am Ende des zweiten Abschnitts des dritten Kapitels, S. 275–279. Johann Gottfried Herder, „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume“ (1778), in: Sämmtliche Werke, Band 8, herausgegeben von Bernhard Suphan, Weimar 1892, S. 230.

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H  R: D U   V „Es geht ihm [Herder in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele; P. V.] nicht mehr um den titanischen Ausnahme-Menschen, nicht mehr um extreme Zustände wie Inspiration, Gefühlsrausch und künstlerische Selbstbeseligung; vielmehr um die allgemeine Verwirklichung eines in sich ausgewogenen und der Gesellschaft verantwortlichen Menschentums. Aus dieser neuen, die Klassik vorbereitenden Haltung […] erwächst nun ein großangelegter Angriff auf das Hybride, Monströse und auch Ruinöse des ‚Genies‘ – eine Philippika, die den genauen Gegensatz bildet zu den ekstatischen GenieRhapsodien um 1770.“102

Insofern Herders geschichtstheoretisches Plädoyer für die vom Menschen „unbewürkte“ Unverfügbarkeit von Geschichte und seine literaturtheoretische Stellungnahme gegen den „titanischen Ausnahme-Menschen“ sich gegen die Vorstellung und das Ideal einer unbegrenzten Verfügbarkeit von Geschichte wenden, weigert sich Herder auch, alle Geschichte zur Manövriermasse menschlicher Verfügbarkeit, „zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Regungen und Kräfte ohne Zweck, zum Chaos“103 , verkommen zu lassen. Herders geschichtstheoretische Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare wendet sich mithin auch gegen die Suggestion, das Rad der Geschichte ließe sich zurückdrehen, der Weimarer Geheimrat und Hofgelehrte etwa könnte, wenn er nur wollte, jene Welt des klassischen Altertums wieder zu neuem Leben erwecken, die er so sehr bewunderte. Ein artifizielles Verstellen der Uhr der historischen Entwicklung hat vielmehr als unmöglich zu gelten. Isaiah Berlin hat dies in einem seiner zahlreichen Herders Denken und Geschichtstheorie gewidmeten Essays, jenem, der in Vico and Herder abgedruckt ist, prägnant auf den Punkt gebracht: „Herder, of course, condemns the very wish to resurrect ancient ideals: ideals belong to the form of life which generates them, and are mere historical memories without them: values – ends – live and die with the social wholes of which they form an intrinsic part.“104 Herders Geschichtstheorie widerspricht aber nicht nur der Annahme einer prinzipiell unbegrenzten Verfügbarkeit von Geschichte, sondern auch der aufklärerischen Prognose von einem linearen und dank menschlicher Vernunftfähigkeit vermeintlich ungebrochenen historischen Fortschritt. Der Verweis auf Herder und sein Verständnis historischer Entwicklung scheint mithin zunächst die Vermutung zu bestätigen, dass sich der Entwicklungsbegriff des Historismus für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte ebenso wie für die Unhaltbarkeit einer Auffassung historischer Entwicklung im Sinne eines notwendigen und bruchlosen Fortschritts sensibel und dem unhintergehbaren Element eines Unverfügbaren in der menschlichen Geschichte gegenüber aufgeschlossen zeigt. Für eine umfassende Beantwortung der Frage, inwiefern die theoretische Offen102

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Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985, S. 146. Johann Gottfried Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774), in: Sämmtliche Werke, Band 5, herausgegeben von Bernhard Suphan, a.a.O., S. 513. Isaiah Berlin, „Herder and the Enlightenment“ (1965), in: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, London 1976, S. 212.

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heit für ebendiesen Typus von Kontingenz und Zufall in der Geschichte tatsächlich den Entwicklungsbegriff des Historismus kennzeichnet, reicht der Verweis auf Herder allein aber sicherlich nicht aus. In seinem Artikel „Entwicklung, Evolution“ in den Geschichtlichen Grundbegriffen führt Wolfgang Wieland aus, dass die Anwendung des Entwicklungsbegriffs auf politische, soziale und historische Phänomene, wie sie im deutschen Sprachraum ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu beobachten sei, stets zweierlei implizierte: eine „Kritik an Auffassungen, die den Verlauf der Geschichte als eindeutigen Fortschritt charakterisieren“105 ; und eine „Kritik an Auffassungen, die die Veränderungen in der Geschichte nur aus dem Handeln von Individuen erklären“106 . Diese These Wielands wird durch die skizzierten Interpretationen des Historismus von Meinecke und Troeltsch, von Marquard, Lübbe und Bubner, aber auch durch unsere Ausführungen über Herders Geschichtstheorie eindeutig bestätigt. Als entscheidender Autor für den Entwicklungsbegriff des Historismus und dessen Protest gegen die gänzliche Verfügbarkeit von Geschichte ebenso wie gegen die Auffassung von Geschichte als ungebrochener Fortschritt gilt Wieland indes nicht Herder, sondern Friedrich Carl von Savigny: „Die Geschichte war bei Savigny, für den die Revolution bereits zu den Voraussetzungen des Denkens gehörte, eindeutiger noch als bei Herder nicht als Raum von individuellen Handlungen und Entscheidungen, sondern als Bereich eines überindividuellen Wachsens und Vergehens bestimmt; sie hatte aber kein letztes Ziel und folgte auch keinem universellen Plan.“107 Savignys für die Entwicklung der historischen Rechtsschule konstitutive Schrift Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft von 1814 richtet sich unmittelbar gegen den von Friedrich Justus Thibaut im gleichen Jahr formulierten Aufruf Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, in dem dieser eine für alle deutschen Staaten einheitliche Kodifikation des Privatrechts forderte. Mittelbar geht es Savigny 1814 um eine nachträgliche Kritik der Einführung des Code Napoléon und der ihn fundierenden Überzeugung, „dass jedes Uebel nur auf ein abhelfendes Gesetz warte, um dann auf der Stelle zu verschwinden“108 . In letzter Instanz jedoch ist es Savigny darum zu tun, jene rechtsphilosophische Überzeugung der Aufklärung zu bestreiten, als deren Symptome ihm Thibauts Aufruf ebenso wie der von ihm kritisierte Code Napoléon lediglich gelten, die Überzeugung nämlich, Rechtssysteme könnten beliebig und ohne Berücksichtigung partikularer Rechtstraditionen geschaffen und kodifiziert werden. Savigny stellt dieser Überzeugung, wie es Wieland formuliert, die These entgegen, dass „die Entwicklung [...] des Rechts [...] nicht willentlich geplant

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Wolfgang Wieland, „Entwicklung, Evolution“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, a.a.O., S. 202. Ebd., S. 202. Ebd., S. 214. Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Berlin 1814, S. 47.

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werden“109 könne, weshalb im Bereich des Rechts den Ansprüchen einer rechtsetzenden Vernunft systematische Grenzen der Verfügbarkeit gezogen seien. Auch den geschichtsphilosophischen Optimismus der Aufklärung, wonach die Gegenwart zu keinem geringeren Ziel berufen sei „als zur wirklichen Darstellung einer absoluten Vollkommenheit“110 , sieht Savigny mit einem Rechtsverständnis liiert, wonach dieses geschichtsphilosophisch legitimierte Ziel der Geschichte in dem Maße garantiert werden könne, wie ein unterstelltes Naturrecht mittels kodifizierter Gesetzesbücher in ein allgemein verbindliches, positives Recht überführt werde. Grundlage für alle weiteren rechtsphilosophischen Überzeugungen der Aufklärung sei insofern die Annahme, „dass es ein praktisches Naturrecht oder Vernunftrecht gebe, eine ideale Gesetzgebung für alle Zeiten und alle Fälle gültig, die wir nur zu entdecken brauchten, um das positive Recht für immer zu vollenden.“111 Aber ebendiese Überzeugung hält Savigny für „bodenlose[n] Hochmut“112 und Folge der „Herrschaft einer unlebendigen Ansicht des Rechts.“113 Sie suggeriere eine Sichtweise der Rechtsgenese, die den organischen Zusammenhang zwischen der Rechtsentwicklung und der geschichtlichen Entwicklung jener Gesellschaft, für die dieses Recht gelten soll, verkennt, insofern auch verkennt, dass doch „alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende, Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d.h. dass es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch Willkühr eines Gesetzgebers.“114 Der rechtsphilosophische „Hochmut“ der Aufklärung übersieht demnach, gerade dies kritisiert Savigny, dass, was „von Menschenhänden gemacht ist“115 , niemals die Vortrefflichkeit erlangen kann, wie sie jenen tradierten Rechtsbeständen beizumessen ist, deren „Entstehung nicht ebenso sichtbar und greiflich ist“116 , die sich vielmehr der organischen Entwicklung einer intakten Rechtstradition verdanken. Die rechtsphilosophischen Ansichten der Aufklärung empfindet Savigny insofern als exakten Widerspruch zu seiner eigenen Überzeugung, wonach „der unauflösliche organische Zusammenhang der Geschlechter und Zeitalter, zwischen welchen nur Entwicklung aber nicht absolutes Ende und absoluter Anfang gedacht werden kann“117 , unhintergehbar Recht und Geschichte prägt. Auch im Bereich des Rechts hält es Savigny, so wie in allen anderen Bereichen des Lebens, für unmöglich, zu einem beliebigen Zeitpunkt „alle historische Fälle zu 109

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Wolfgang Wieland, „Entwicklung, Evolution“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, a.a.O., S. 215. Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, a.a.O., S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 24. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 43. Ebd., S. 113.

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durchschneiden und ein ganz neues Leben zu beginnen“118 . Und deshalb werde sich, mit diesen Worten resümiert Savigny seine Argumentation gegen den rechtsphilosophischen „Hochmut“ der Aufklärung, ein allgemein verbindliches Rechtssystem willentlich konstruieren zu können, deshalb werde sich „die Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart [...] auch da äußern können, wo sich die Gegenwart absichtlich der Vergangenheit entgegen setzt.“119 In Savignys rechtsphilosophischen Überzeugungen artikuliert sich mithin ein Protest gegen die Idee einer jurisprudentiellen creatio ex nihilo, welche dank der zeitlosen Vernunft eines Naturrechts und dessen entsprechender Kodifizierung „willentlich geplant“ werden können soll. Die Qualität des Rechts verdankt sich für Savigny vielmehr einer historischen Entwicklung, die sich allen Prätentionen, tradierte Rechtsbestände vor das Tribunal einer geschichtslosen Vernunft zu zerren, entzieht. Eine empirische Bestätigung für seine Zweifel gegenüber Thibauts Forderung, das Privatrecht für alle deutschen Staaten in systematischer Weise zu kodifizieren, glaubt Savigny dabei einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Preußischen Landrecht und dem Österreichischen Gesetzbuch, vor allem aber mit dem Code Napoléon entnehmen zu können. Insbesondere am Beispiel des Code zeige sich, mit welch desaströsen Folgen einer allgemein verbreiteten Rechtsunsicherheit ein juristisches Kodifizierungsbemühen stets einhergehen müsse, indem doch auf die tradierten Rechtsbestände faktisch niemals verzichtet werden könnte, diese dann aber in einem gänzlich ungeklärten Verhältnis zu den kodifizierten Rechtsbestimmungen stünden. Was aber ist zu tun, wenn der Vorschlag für ein kodifiziertes deutsches Privatrecht abzulehnen ist, die Nachwirkungen des in den einzelnen deutschen Ländern in ganz unterschiedlicher Weise durchgesetzten Code und die damit verbundene Heterogenität des deutschen Privatrechts aber gleichfalls nicht mehr ungeschehen zu machen sind? Dass Savigny sich gegen die Plausibilität und Möglichkeit einer rechtsphilosophischen tabula rasa wendet, und diese repräsentieren ihm Thibauts Vorschlag ebenso wie der Code, heißt nicht, dass er eine blinde Ergebung in die Rechtstradition der Vergangenheit fordert, zumal er selbst immer wieder betont, wie sehr das römische Recht in der deutschen Geschichte durch gemeinrechtliche Traditionen und spezifisch länderrechtliche Besonderheiten überlagert sei; ebenso wenig wie der willentliche Entwurf einer ersehnten Zukunft kann daher auch, dies hatte ja Herders Verständnis von historischer Entwicklung, exemplarisch formuliert im geschichtsphilosophischen Entwurf von 1774, in ganz ähnlicher Weise betont, eine nostalgische und reflexionslose Rückkehr zur Vergangenheit die Lösung sein, nach der Savigny sucht; denn der Stoff der bestehenden Rechtstraditionen „wird uns verderblich seyn, solange wir ihm bewusstlos dienen, wohlthätig, wenn wir ihm eine lebendig bildende Kraft entgegen setzen, durch historische Ergründung ihn unterwerfen, und so den ganzen Reichthum der vergangenen Geschlechter uns aneignen.“120

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Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113.

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Savigny widersetzt sich einer ihm artifiziell erscheinenden Einführung traditionsloser Rechtsbestimmungen, plädiert aber deshalb nicht für die stillschweigende und unkritische Verehrung tradierter Rechtsquellen, sondern vielmehr für die „strenge historische Methode der Rechtswissenschaft“121 , also die bewusste und kritische Aneignung der Tradition. Die Legitimität einer solchen Geisteshaltung erweist sich für Savigny in der Entwicklung des römischen Rechts. Dessen entscheidende Vorzüge hätten sich aus einer organischen Entwicklung ergeben, die am Herkömmlichen festhielt, „ohne sich durch dasselbe zu binden, wenn es einer neuen, volksmäßig herrschenden Ansicht nicht mehr entsprach“122 , und die daher einer Kodifizierung durch Gesetzesbücher gar nicht bedurfte. So wie Meineckes und Troeltschs erwähnte Charakterisierungen des Historismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so wie Marquards, Lübbes und Bubners skizzierte Deutungen des Historismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so wie Herders geschichtsphilosophischer Entwurf von 1774, beruft sich auch Savigny 1814 auf ein Verständnis historischer, in diesem Fall rechtshistorischer Entwicklung, um an die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte im Zeichen radikalen historischen Wandels einerseits, an die Unzulässigkeit einer Gleichsetzung von historischer Entwicklung mit historischem Fortschritt andererseits, insofern auch an die Unzulässigkeit der geschichtstheoretischen Präsumtion historischer Notwendigkeit schlechthin zu erinnern. Der Blick auf Savigny scheint damit die vorgeschlagene Deutung des Historismus, seiner Auffassung historischer Entwicklung und seiner spezifischen theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte, erneut zu bestätigen: Im Historismus und seinem Verständnis historischer Entwicklung äußert sich eine theoretische Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare von Geschichte, für das, was durchaus anders sein könnte, aber gerade nicht willentlich gemacht werden kann, und insofern für das, was Marquard das Schicksalszufällige oder Schicksalskontingenz nennt. Wieland stellt in dem bereits erwähnten Artikel der Geschichtlichen Grundbegriffe nun die bedenkenswerte These auf, dass Savignys Verwendung des Entwicklungsbegriffs und die sich darin artikulierende Sensibilität für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte und Recht als unmittelbare Folge sowohl der revolutionären historischen Ereignisse als auch der nachrevolutionären Epoche zu verstehen ist. Einerseits schien die Französische Revolution die grenzenlose Veränderbarkeit aller politisch-sozialen Zustände de facto vorgeführt zu haben123 ; dass diese Veränderungen aber andererseits durch bewusstes Planen und Organisieren derart zielgenau zu steuern seien, dass der beabsichtigte Zweck zu realisieren, ein stetiger Fortschritt dabei garantiert sei, diese Hoffnung galt Savigny als illusorisch. Auch Isaiah Berlin hat die geschichtstheoretische Überzeu121 122 123

Ebd., S. 117. Ebd., S. 32. Vergleiche dazu die Bemerkung von Richard Rorty: „Die Französische Revolution hatte gezeigt, dass sich das ganze Vokabular sozialer Beziehungen und das ganze Spektrum sozialer Institutionen beinahe über Nacht auswechseln ließ.“ Es dürfte freilich die entscheidende Frage sein, mit welchen Folgen dies geschah, mithin, ob nicht die post-revolutionäre Ära der terreur gerade die Folge jenes durchaus erfolgreichen Versuchs der Revolutionäre war, „das ganze Vokabular sozialer Beziehungen und das ganze Spektrum sozialer Institutionen beinahe über Nacht“ auszuwechseln. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989, S. 21.

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gung, wonach sich die Geschichte in letzter Instanz stets aller willentlichen Verfügung und allen Gestaltungsversuchen entzieht, als Folge und Produkt der nachrevolutionären Epoche einer geschichtsphilosophischen Desillusionierung beschrieben. In The Roots of Romanticism schreibt Berlin, „the notion of unintended consequences, the notion that although you propose, the hidden reality disposes, although you alter it, nevertheless it suddenly straightens itself and strikes you in the face“124 , dieser Begriff und die ihm korrespondierende geschichtstheoretische Vorstellung hätten im Zeitalter der terreur augenscheinliche Evidenz erlangt. In Vico and Herder betont Berlin, die nachrevolutionäre Desillusionierung über die Möglichkeiten der Planbar-, Kalkulierbar- und Verfügbarkeit von Geschichte hätte zu einem Verständnis von Geschichte geführt, welches der „crucial role played by chance“ ebenso wie der „unpredictability“ und dem „part played in history by unintended consequences“125 stets eingedenk gewesen sei. Die so geschaffene Situation ließ die, um Meineckes Terminologie erneut zu bemühen, Spontaneität, plastische Wandlungsfähigkeit und Unberechenbarkeit menschlicher Geschichte demnach sowohl im Sinne der scheinbar unbegrenzten Veränderlichkeit der Geschichte als auch im Sinne der prinzipiell unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte erfahrbar werden, und der Historismus und sein Begriff der historischen Entwicklung repräsentieren nun gerade die Verarbeitung jener Erfahrung, wonach die Geschichte zufällig und kontingent im Sinne eines Unverfügbaren ist. So konnte, wie Wieland schreibt, „‚Entwicklung‘ zum Programmwort werden, das für die Haltung des Konservativen im Angesicht der Revolution charakteristisch ist, weil es sowohl seine Reserven ihr gegenüber als auch seine Konzession an die durch sie geschaffene Situation auszudrücken vermochte.“126 Nicht anders als Herder vor der Französischen Revolution beruft sich Savigny nach der Französischen Revolution auf den Begriff historischer Entwicklung, um an die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte im Zeichen eines radikalen historischen Wandels und insofern an Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Sinne eines Unverfügbaren zu erinnern. Eine Thematisierung des unhintergehbar Unverfügbaren in der menschlichen Geschichte ist aber nicht nur dem Historismus und dessen Begriff historischer Entwicklung eigen, ob nun von den Gründervätern im 18. Jahrhundert oder den Protagonisten des Historismus im 19. Jahrhundert formuliert oder in den Interpretationen des Historismus in der ersten oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts registriert. Eine theoretische Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare findet sich in der Sattelzeit auch in Disziplinen und Gebieten des geistigen Lebens, welche, obschon durch eine bestimmte Auffassung der Geschichte geprägt, die Geschichte gar nicht zu ihrem expliziten oder ausschließlichen Gegenstand haben. Eine theoretische Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare kennzeichnet somit in der Epoche der Sattelzeit 124 125

126

Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, Princeton 1999, S. 110. Isaiah Berlin, „Herder and the Enlightenment“ (1965), in: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, a.a.O., S. 215. Wolfgang Wieland, „Entwicklung, Evolution“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, a.a.O., S. 212.

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alles im Banne des Historismus stehende Denken und Tun. Dabei wird der enge Rahmen geschichtstheoretischer Diskussion vielfach gesprengt. Das Bewusstsein für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte kann so dem Sinn für das unhintergehbar Unverfügbare des menschlichen Lebens schlechthin weichen. Überdeutlich etwa sind Friedrich Schleiermachers Theologie und ihre Definition von Religion als dem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ von einem solchen Sinn für Unverfügbarkeit geprägt. Freilich will Schleiermacher dieses Unverfügbare eben nicht mehr der menschlichen Geschichte ablesen und anhand der menschlichen Geschichte dokumentieren, sondern als ein unhintergehbares Merkmal der menschlichen Existenz schlechthin ausweisen. In seinen 1799 anonym erschienenen Reden Über die Religion ist es Schleiermacher wesentlich um die Bewahrung der geistigen Autarkie der Religion zu tun. Diesbezüglich grenzt er die Religion strikt von der Metaphysik einerseits, von der Moral andererseits ab. Zwar teile die Religion mit den beiden letzteren ihren Gegenstand, „nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm“127 , aber sie behandle doch diesen „Stoff“ ganz anders. Während die Metaphysik das Universum „klassifiziert“128 und „die Notwendigkeit des Wirklichen“129 aus diesen Klassifikationen deduziert, um so die letzten Ursachen all dessen, was ist, aufzuzeigen, entwickelt die Moral „aus der Natur des Menschen und seines Verhältnisses gegen das Universum ein System von Pflichten“130 , welches in unbezweifelbarer Weise festlegt, was sein soll. Religion aber sei etwas ganz anderes. Schleiermacher betrachtet sie als eine „eigne Provinz im Gemüte“131 , der es gar nicht darum zu tun sei, begrifflich zu erkennen oder sittlich zu handeln. Die Religion sei vielmehr zu verstehen als eine Anschauung des Universums, die ihren gefühlsmäßigen Niederschlag in Einstellungen der „Demut“132 und „Dankbarkeit“133 finde. Metaphysik und Moral gelten Schleiermacher insofern nicht nur als disziplinäre Unternehmungen, von welchen die Religion strikt zu trennen sei. Metaphysik und Moral repräsentieren ihm auch zwei bestimmte Weltverhältnisse, nämlich ein theoretisches und ein praktisches, welche sich radikal unterscheiden von jenem Weltverhältnis, wie er es als konstitutiv für die Religion erachtet. Während sich in der Metaphysik das Bestreben artikuliert, die Welt gedanklich zu bewältigen, indem Grundsätze unwiderruflicher Gewissheit und letzthinniger Notwendigkeit formuliert werden, verkörpert sich in der Moral ein praktisches Weltverhältnis, welches auf die Welt durch Handeln und zwar durch moralisch gerechtfertigtes Handeln einzuwirken gedenkt. Die Metaphysik zielt auf eine theoretisch vollständige Durchdringung der Welt, der Moral gilt die Welt als Schauplatz für Handlungen, deren moralische Legitimität sich mit letzter Gewissheit fixieren lässt. Insofern ignorieren Metaphysik und Moral aber gerade jene seelische Verfassung, welche laut Schleiermacher das Weltverhältnis eines religiöses 127

128 129 130 131 132 133

Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hamburg 1958 (1799), S. 24. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 61. Ebd., S. 61.

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„Gemüts“ kennzeichnet. Für den religiösen Menschen sei nämlich, so deutet bereits die erwähnte Charakterisierung der Religion als eines Gefühls „schlechthinniger Abhängigkeit“ an, die Schleiermacher freilich erst in seiner Glaubenslehre von 1821/1822, in Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, verwendet134 , ein ganz anderes Weltverhältnis konstitutiv. Die Religion „begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“135 Demnach geht es der Religion einerseits weder darum, die gefühlsmäßige Anschauung des Universums in eine begriffliche Systematik von letztgültiger metaphysischer Gewissheit zu verwandeln. „Suchen und Forschen nach Ursach und erster Kraft“136 , das ist ihre Sache gerade nicht. Andererseits will sie aber auch nicht „nach Grundsatz und Absicht Handeln“, „dies und jenes ausrichten“137 . Die Religion ist also nicht nur jedem metaphysischen System, sondern auch jeder „zweckmäßige[n] Tätigkeit“138 schlechthin abgeneigt, gleichviel, ob diese moralisch legitim ist oder nicht; „dass die Religion handeln soll“139 , dies gilt Schleiermacher als „dieser gänzliche Missverstand“140 : „[...] die religiösen Gefühle lähmen ihrer Natur nach die Tatkraft des Menschen, und laden ihn ein zum stillen hingegebenen Genuß; daher auch die religiösesten Menschen, denen es an andern Antrieben zum Handeln fehlte, und die nichts waren als religiös, die Welt verließen, und sich ganz der müßigen Beschauung ergaben.“141 Der religiöse Mensch schaut das Universum und seine Existenz darinnen insofern als ein unwiderruflich Unverfügbares an, welches er weder mit letzter Gewissheit theoretisch durchdringen noch praktisch so gestalten kann, wie ihm dies beliebt oder richtig erscheint. Ja, den areligiösen oder religionslosen Menschentypus, wie auch immer er zu Gott, der Idee der Unsterblichkeit, der christlichen Offenbarung oder den Lehrsätzen der Kirche stehen mag, soll laut Schleiermacher zuallererst auszeichnen, dass ihm dieses Bewusstsein der Unverfügbarkeit und die damit verbundenen Gefühle der „Demut“ und „Dankbarkeit“ versperrt bleiben:

134

135

136 137 138 139 140 141

Friedrich Schleiermacher, „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“ (1821/1822), in: Kritische Gesamtausgabe. Erste Abteilung. Schriften und Entwürfe. Band 7, herausgegeben von Hans-Joachim Birkner u. a., New York/Berlin 1980. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, a.a.O., S. 28 f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 37. Ebd., S. 84. Ebd., S. 40. Ebd., S. 40. Ebd., S. 39.

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H  R: D U   V „Wenn wir [...] das gewöhnliche Treiben der Menschen betrachten die von dieser Abhängigkeit nichts wissen, wie sie dies und das ergreifen und festhalten, um ihr Ich zu verschanzen und mit mancherlei Außenwerken zu umgeben, damit sie ihr abgesondertes Dasein nach eigner Willkür leiten mögen, und der ewige Strom der Welt ihnen nichts daran zerrütte, und wie dann notwendigerweise das Schicksal dies alles verschwemmt, und sie selbst auf tausend Arten verwundet und quält; was ist dann natürlicher als das herzlichste Mitleid mit allem Schmerz und Leiden, welches aus diesem ungleichen Streit entsteht, und mit allen Streichen, welche die furchtbare Nemesis auf allen Seiten austeilt?“142

Wie aber könnte nun gerade diese letztere Formulierung anders denn als Artikulation einer Sensibilität für das Kontingente und Zufällige des individuellen Daseins im Sinne einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit und als Plädoyer für die Einwilligung in ebendiese Unverfügbarkeit zu verstehen sein? Abschließend sei noch gewagt, meine These von einer transdisziplinären und historistischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unhintergehbar Unverfügbaren in und außerhalb der menschlichen Geschichte im Zeitraum der Sattelzeit anhand eines kurzen Exkurses über die Geschichte der Malerei zu illustrieren. Die Inspiration zu diesem Exkurs verdanke ich Werner Hofmanns Studie Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830. Zwar orientiert sich Hofmanns Argumentation vorwiegend an formalen Gesichtspunkten. Doch obschon Hofmann in seiner Studie ausschließlich im Zusammenhang mit diesen formalen Aspekten den Begriff des Historismus verwendet, halte ich es doch für möglich, seiner Studie ohne allzu große Gewaltsamkeit eine aufschlussreiche Illustration dafür zu entnehmen, dass und wie sich in der Malerei des „entzweiten Jahrhunderts“ oder der Sattelzeit, wie man auch sagen könnte, das historistische Bewusstsein einer prinzipiellen Verzeitlichung und Diskontinuität von Geschichte – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden nicht mehr durch einen einheitlichen Erfahrungsraum und einen gleichermaßen verbindlichen Erfahrungshorizont konstituiert – mit einem Sinn für das unhintergehbar Unverfügbare sowohl in der Geschichte als auch im menschlichen Leben schlechthin verknüpft. Hofmann zeigt, dass das Werk des den revolutionären und republikanischen Ideen und Idealen zunächst emphatisch verpflichteten Jacques-Louis David noch von dem Bewusstsein einer historischen Kontinuität zehrt, welche den Heroismus der französischen Revolutionäre und die heldenhaften Episoden der römischen Geschichte in ein und demselben Erfahrungsraum angesiedelt weiß. Die republikanischen Tugenden von Bürgersinn und patriotischer Opferbereitschaft sollen sich in der römischen Geschichte ebenso wie im revolutionären Geschehen der Gegenwart nachweisen lassen. Die exempla virtutis sind im Grunde zeitlos, David glaubt sie durch ein antikes Motiv ebenso wie durch eine zeitgenössische Begebenheit illustrieren zu können. In exemplarischer Weise deutlich wird dieses mit republikanischem Pathos und dem Vertrauen in die Zukunft der Geschichte gepaarte Bewusstsein historischer Kontinuität, wenn David 1801 den Kriegshelden Napoleon bei der Überquerung des Sankt-Bernhard-Passes darstellt. Eine 142

Ebd., S. 61.

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Inschrift auf einer Steinplatte am unteren Rand des Bildes „Der Erste Konsul überquert die Alpen über den Paß des Großen Sankt-Bernhard“ suggeriert, dass genau an dieser Stelle bereits die Kriegshelden Hannibal und Karl der Große vorbeigezogen seien. Die Referenz auf die historische Vergangenheit provoziert in dem Porträtisten gerade nicht das Gefühl einer unüberbrückbaren Distanz zu derselben, sondern dient dazu, der zeitgenössischen Episode besondere Dignität zu verleihen. Tugend ist Tugend, Heldenmut ist Heldenmut. Dass die Gegenwart anders und anderes sei als die Vergangenheit, die Zukunft anders sein werde als die Gegenwart, dieses Bewusstsein temporaler Distanzen, dieses Bewusstsein für die Verzeitlichung und Diskontinuität von Geschichte ist David noch gänzlich fremd. Insofern kann die Geschichte jenem Pathos der „Versittlichung“143 , dem sich Davids Kunst, wie Hofmann schreibt, verpflichtet weiß, auch keinerlei Grenzen setzen. Die Geschichte gleicht nicht einem Entwicklungsstrome, welcher niemals zweimal in der gleichen Weise zu betreten ist und insofern die Gestaltung der Zukunft im Rückgriff auf Ideale und Modelle der Vergangenheit verunmöglicht, sondern die Geschichte zeugt von der zeitlosen Kraft republikanischer Tugenden.144 Hofmann zeigt nun aber in Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830 gerade, wie sich in der Malerei des entzweiten Jahrhunderts dieser geschichtstheoretische Optimismus, gegründet auf einem Bewusstsein historischer Kontinuität, zunehmend verbraucht. Das republikanische Pathos zeitloser Tugenden weicht in der nach-revolutionären Epoche dem Bewusstsein für das in grausamer und tragischer Weise Unverfügbare in der Geschichte. Die Geschichte erscheint im Zeitalter der terreur als ein irrationales und insofern schicksalhaftes Walten, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Kunst stellt nun dar, was Georg Simmel in seinem Aufsatz „Das Problem des Schicksals“ einmal als die beiden Facetten des Schicksalsbegriffs charakterisiert hat, die „schlechthin über dem Willen“ des Einzelnen stehenden Momente des menschlichen Lebens und der menschlichen Geschichte ebenso wie deren rational unauflösbare, nichtbegreifliche Komponente, und eine solche Geschichte verweigert sich somit jeder vollständigen rationalen Durchdringung wie auch jedem Idealismus, der, wie Simmel schreibt, „alles praktische Leben in seine absolute Selbstverantwortlichkeit und grenzenlose Freiheit stellt“145 . Insbesondere die ästhetische Referenz der Malerei der Zeit auf historisch verbürgte Ausbrüche von Grausamkeit oder Irrationalität unterstreicht dieses Geschichtsbild: Goya stellt in seinen zwischen 1810 und 1820 entstandenen Radierungen „Los desastres de la guerra“ die Kriegsgreuel der Franzosen gegen den spanischen Widerstand dar. 143

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Werner Hofmann, Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995, S. 222. Vergleiche hierzu auch die folgende Bemerkung von J. G. A. Pocock über den Mangel des Bewusstseins geschichtlicher Zeiten und Differenzen in der Kunst des 18. Jahrhunderts: „Classical figures might be presented as frozen and unmoving statuary in order to idealise what was immortal about their virtues, and this might remain dominant artistic mode until the time of David.“ J. G. A. Pocock, „Comment“, in: John Eadie (Hg.), Classical Traditions in Early America, Ann Arbor 1977, S. 258. Georg Simmel, „Das Problem des Schicksals“ (1913), in: Gesamtausgabe, Band 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Band I, herausgegeben von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt am Main 2001, S. 484.

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Géricaults 1819 ausgestelltes Gemälde „Das Floß der Medusa“ – laut Hofmann sowohl ein „Manifest gegen Jacques-Louis David und die Herrschaft seiner Schule“146 als auch eines der „Schlüsselbilder des Jahrhunderts“147 – spielt mit seiner Darstellung von verzweifelt nach Rettung suchenden Schiffbrüchigen ebenfalls auf eine tatsächlich dokumentierte Katastrophe an. Delacroix schildert 1824 das von den Türken an der griechischen Bevölkerung begangene „Massaker von Chios“. Nicht ein zuversichtlicher und optimistischer, sondern ein demaskierender Blick fällt in der Malerei der nachrevolutionären Epoche auf die Geschichte. Die Nachtseiten des Menschen, die „Schiffbrüche“, die tragischen und grausamen Dimensionen der menschlichen Geschichte, sie treten in der Malerei des „entzweiten Jahrhunderts“ nun deutlicher hervor: „Für solche Katastrophen und Kehrseiten der Geschichte“ aber, so Hofmann, „liefert der von David und seinen Schülern geprägte Typ des affirmativ-monofokalen Historienbildes keine Leitfiguren mehr.“148 Offensichtlich prägt die Auffassung von einer Geschichte, welche sowohl das Streben nach einer rationalen Lenkung und Planung der menschlichen Geschichte als auch die Hoffnung auf unbegrenzten Fortschritt in die Schranken weist, nun auch die Malerei. Die von Goya dargestellten „Menschen und ihre Gegenbilder, die sie als Monstren in sich tragen, sind von Ängsten, Zwängen und Trieben gezeichnet, die keine politische Maßnahme, keine Beglückungsideologie zu bannen vermag.“149 Der Traum von einer Vernunft in der Geschichte wird Goya zur Farce. „El sueño de la razón produce monstruos“, so lautet der Titel eines der 1799 von Goya erstellten Caprichos. Vor allem bei Goya ist die Einsicht in die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte, anders als bei Savigny oder Herder, von einem zutiefst pessimistischen Entsetzen vor der Geschichte, nicht von einem Vertrauen in die historische Entwicklung geprägt. Die Besinnung auf die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte paart sich mit einem Schrecken vor der Unentrinnbarkeit dieser Geschichte. Goyas Darstellungen liefern, so Hofmann, „Chiffren der Vergeblichkeit und Unentrinnbarkeit“150 in einer unverfügbaren Geschichte. Die ästhetische Sensibilität für das Unverfügbare referiert in der Malerei des entzweiten Jahrhunderts aber nicht nur auf die menschliche Geschichte. Diese Sensibilität kann, so wie wir dies schon für Schleiermachers Religionstheorie nachgewiesen hatten, den engen Rahmen geschichtstheoretischer Diskussionen sprengen. Ein Bewusstsein für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte, von welchen Einstellungen und Gefühlen auch immer begleitet, geht dann in einen Sinn für das Unverfügbare des menschlichen Lebens schlechthin über, welcher sich von ganz anderen Stimmungen und Motiven getragen weiß. In den Darstellungen eines Caspar David Friedrich etwa wird nicht die Geschichte zu einer Chiffre der „Vergeblichkeit und Unentrinnbarkeit“, sondern die Natur zu einer Chiffre Gottes, die Anschauung jenes riesenhaften und gewaltigen Meeres etwa, dem sich in einem von Friedrichs berühmtesten Gemälden ein einsamer Mönch gegenüber sieht, zu einem „Behältnis der subjektiven Religiosi146 147 148 149 150

Werner Hofmann, Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830, a.a.O., S. 566. Ebd., S. 586. Ebd., S. 511. Ebd., S. 563. Ebd., S. 562.

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tät“151 . Im Medium der Malerei soll uns die Anschauung des unendlichen Kosmos, ganz so wie in Schleiermachers Theologie, an das Unverfügbare unseres menschlichen Lebens schlechthin erinnern, dies aber wiederum nicht eine Stimmung existentieller Verzweiflung befördern, sondern die andachtsvolle Demut angesichts der Majestät Gottes stimulieren. Es sei an dieser Stelle noch vermerkt, dass Werner Busch in seiner Deutung der Kunst von Caspar David Friedrich ganz energisch auf die angedeutete geistige Nähe von Friedrich und Schleiermacher hingewiesen und diese ausführlich charakterisiert hat. Das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit sieht Busch eben gerade auch in jenen Darstellungen wie der des einsam das Meer betrachtenden Mönchs verwirklicht, die er geradezu als „anti-faustisch“ bezeichnet: „Der Mönch […] mag faustische Anwandlungen der Selbstüberhebung haben, doch das Bild will uns zeigen, wie eitel und töricht ein solches Unterfangen ist; von Gott kann der Mensch nur demütig eine Ahnung gewinnen, ihm bleiben allein der Glaube und die Hoffnung auf Gnade. Friedrich markiert eine antifaustische Position.“152 Angesichts einer im wahrsten Sinne des Wortes bis in ihre letzten Verästelungen wahrgenommenen Natur ehrt Friedrichs „anti-faustische Position“ zugleich die Allmacht Gottes, wie er auch die dieser Allmacht gegenüber gebotene Demut künstlerisch darstellt. Der ästhetische Verweis auf die Majestät einer menschlichen Kräften stets überlegenen Natur ist es, welcher den Zugang zu einer die Natur transzendierenden Sphäre eröffnen soll. (3) Die Geschichtstheorie des Historismus und vor allem ihr Verständnis historischer Entwicklung, so lautete die zentrale These des zweiten Abschnitts dieses Kapitels, sensibilisiert für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte. Die Geschichtstheorie des Historismus sensibilisiert demnach für das, was im Anschluss an Marquard als das Schicksalszufällige oder als Schicksalskontingenz bezeichnet werden kann, und sie tut dies naturgemäß für die Sphäre der menschlichen Geschichte. Dabei kann jedoch, wie wir soeben am Ende des zweiten Abschnitts des Kapitels sahen, an die Stelle eines solchen im Banne des Historismus stehenden Sinns für das Schicksalszufällige oder für Schicksalskontingenz im Sinne eines Unverfügbaren, welcher sich vorrangig auf die menschliche Geschichte bezieht, auch ein Sinn für das unhintergehbar Unverfügbare des menschlichen Lebens schlechthin treten. Diese These lässt nun zwangsläufig die bereits am Beginn dieses Kapitels wie am Ende des dritten Kapitels sporadisch aufgeworfene Frage153 immer dringlicher werden, ob sich im Zeitraum der Sattelzeit nicht auch ein Gespür und ein Plädoyer für das finden lassen, was Marquard das Beliebigkeitszufällige oder Beliebkeitskontingenz nennt, ein Plädoyer auch und vor allem für das unbeschränkt Verfügbare in der menschlichen 151 152 153

Ebd., S. 417. Werner Busch, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, S. 64. Vergleiche hierzu meine Ausführungen in diesem Kapitel auf S. 348 f. und im dritten Kapitel, S. 282–285.

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Geschichte, insofern und gerade weil diese Geschichte von uns Menschen unbeschränkt gemacht werden kann. Damit kehre ich zu der im Laufe dieser Arbeit bereits mehrfach registrierten Janusköpfigkeit der Begriffe von Kontingenz und Zufall zurück154 , wobei ich deren semantische Binnendifferenzen, wie sie sich den Präzisierungen und Distinktionen der ersten beiden Kapitel dieser Arbeit verdanken, im Kontext dieser ideengeschichtlichen Skizzen übergehe.155 Insofern widme ich mich nun im dritten Abschnitt dieses Kapitels einer Frage, die ich im dritten Kapitel bewusst unberücksichtigt gelassen habe.156 Lässt sich, so wird demnach im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu fragen sein, in der historischen Epoche der Sattelzeit und jenseits der skizzierten historistischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Namen und im Sinne eines Unverfügbaren und auch jenseits der von Koselleck so klar und deutlich registrierten und so zutreffend interpretierten Zufallsverdrängung im Sinne der Aufklärung157 , also jenseits jener beiden Geschichtstheorien, wie sie in Kosellecks „Der Zufall als Motivationsrest der Geschichtsschreibung“ behandelt werden, nicht noch eine weitere Auffassung von menschlicher Geschichte registrieren, jene nämlich, die ebenso wie der Historismus wider die Präsumtion historischer Notwendigkeit auf einer Auffassung von Geschichte beharrt, welche sich für Kontingenz und Zufall auch und vor allem in der menschlichen Geschichte theoretisch sensibel zeigt, diese Sensibilität jedoch nunmehr im Sinne und im Namen eines prinzipiell Verfügbaren artikuliert, insofern und gerade weil die Geschichte nun als in unbegrenzter Weise verfügbar präsentiert wird? Meine Antwort auf diese Frage wird – wie sowohl am Beginn dieses Kapitels als auch im dritten Abschnitt des dritten Kapitels dieser Arbeit bereits angedeutet – lauten, dass es die Romantik war, die in der Epoche der Sattelzeit eben eine solche Auffassung von Geschichte formulierte oder, wenn nicht ausdrücklich formulierte, so doch zumindest implizierte und insofern für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte im Sinne eines Verfügbaren plädierte. Bevor diese Antwort sowohl im Rückgriff auf existierende Interpretationen der Romantik wie auch auf der Romantik unbestreitbar zuzurechnende Autoren begründet werden kann und illustriert werden soll – im Zuge ebenjenes Verfahrens also, welches mutatis mutandis schon die im zweiten Abschnitt des Kapitels formulierte These von einer historistischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte im Sinne eines Unverfügbaren zu begründen half –, wirft freilich bereits die mit der angedeuteten These zwingend verbundene Kontrastierung von Romantik und Historismus ernstliche theoretische Schwierigkeiten auf. Schließlich verweist ein Historiker des Historismus, auf den sich unsere Interpretation und Charakterisierung des Historismus bislang selbst berief, Friedrich Meinecke, dezidiert – bereits in Weltbürgertum und Nationalstaat – auf die romantischen Wurzeln

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Vergleiche hierzu meine Ausführungen in diesem Kapitel auf S. 358–364 und im dritten Kapitel, S. 282–288. Zu den Gründen für diese theoretische Großzügigkeit vergleiche das dritte Kapitel dieser Arbeit, S. 193 f. und 280. Vergleiche hierzu meinen eigenen Hinweis auf das entsprechende Desiderat im dritten Abschnitt des dritten Kapitels, S. 283 f. Vergleiche hierzu meine Darstellung von Kosellecks Thesen auf S. 349–358 in diesem Kapitel.

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des Historismus. Georg von Below tut dies ebenso.158 Lassen sich andererseits nicht auch historistische Wurzeln der Romantik ausmachen? Isaiah Berlin jedenfalls erblickt in Denkern wie Vico und Herder und ihrem ausgeprägtem historischen Sinn für den irreduziblen Pluralismus geschichtlicher Lebensformen Wegbereiter für die Romantik, ohne sie dabei doch schon der Romantik zurechnen zu wollen. Trotz oder gerade wegen dieser naheliegenden Einwände halte ich eine strikte Unterscheidung der ideengeschichtlichen Phänomene von Romantik und Historismus und insbesondere ihres Verständnisses von Kontingenz und Zufall für unerlässlich. Zur Begründung dieser Ansicht will ich zunächst eine begriffliche Bestimmung in Erinnerung rufen, die Ernst Troeltsch in jenem Kapitel von Der Historismus und seine Probleme vorgenommen hat, in dem er sich nicht – wie im Rest dieses großen Werkes – mit dem Historismus gleichsam als einer transdisziplinären Weltanschauung befasst, einer Weltanschauung, die davon ausgeht, dass alles, was ist, geschichtlich geworden ist, sondern sich mit der historischen Schule im engeren Sinne einer spezifischen Richtung der Geschichtsschreibung auseinandersetzt: In dem Kapitel „Die Organologie der deutschen historischen Schule“ bemerkt Troeltsch, der Begriff der „historischen Schule“ weise auf eine geistige Strömung hin, die von zwei anderen „Schulen“ strikt zu trennen sei. Anlässlich der Erwähnung des Begriffs der „historischen Schule“ dächten viele, so Troeltsch, „an die Romantik und ihre Nachwirkungen in der Historie im allgemeinen“159 ; „andere wieder werfen sie bei dem heutigen Abstand der Zeiten gerne mit der Hegelschen Schule zusammen“160 . Beiden Mutmaßungen sei indes, so Troeltsch, zu widersprechen. Keine der drei genannten Richtungen dürfe ihrer theoretischen Eigenständigkeit beraubt werden. Die geistige Trennlinie, die zentrale theoretische Differenz zwischen Historismus und Romantik glaubt Troeltsch dabei folgendermaßen auf den Begriff bringen zu können: „Die Schlegels, Novalis und die Frühromantiker sind etwas ganz anderes als die Spätromantiker und vor allem als die der historischen Einzel- und Realforschung zugewandten Historiker, die der Romantik in der Hauptsache zwar entspringen, aber den universalhistorischen, Weltentwicklung und universale Bilderfülle suchenden Geist der von Philosophie und Poesie gleich trunkenen Anfänger durchaus nicht teilen.“161 Im Kontext seiner Differenzierung von Romantik und Historismus bezieht sich Troeltsch übrigens interessanterweise ausdrücklich auf Carl Schmitts Politische Romantik – eines der „bedeutendsten“ Bücher „für das Verständnis der Romantik“162 , wie Troeltsch in Der Historismus und seine Probleme schreibt – sowie auf Siegbert Elkuß’ Fragment gebliebene Dissertation Zur Beurteilung der Romantik und zur Kritik ihrer Erforschung, 158

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Georg von Below, Die deutsche Geschichtsschreibung von den Freiheitskriegen bis zu unseren Tagen, Leipzig 1916. Ernst Troeltsch, „Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie“, in: Gesammelte Schriften. Dritter Band: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, a.a.O., S. 278. Ebd., S. 278. Ebd., S. 278 f. Ebd., S. 286.

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eine Schrift, auf die sich wiederum Schmitt in seinem Romantik-Buch mehrmals und in maßgeblicher Weise bezogen hatte.163 Die unüberbrückbare theoretische Differenz zwischen Romantik und Historismus ergibt sich dabei für Troeltsch aus den beiden seiner Ansicht nach für den Historismus konstitutiven theoretischen Prämissen „der organischen Gemeinschaftsidee und der historischen Entwicklungsidee“164 . Diese beiden Prämissen, so beeilt sich Troeltsch sogleich hinzuzufügen, seien zwar ohne das geistige Erbe der Romantik nicht möglich gewesen, hätten aber schlussendlich dazu geführt, dass der Historismus und sein Verständnis von Geschichte und geschichtlicher Entwicklung den „ursprünglich schrankenlosen, poetisierenden Subjektivismus und Relativismus“165 der Romantik hinter sich gelassen hätten. Während der intellektuelle Ausgangspunkt der Frühromantik „in einem äußersten, ästhetisch mit sich und den Dingen spielenden Subjektivismus und in einem in alles sich versetzen könnenden, individualistischen Anarchismus“166 bestanden habe, habe sich die historische Schule von einem solchen Subjektivismus gerade gelöst, indem sie sowohl die historische Entwicklung als unwiderruflicher Notwendigkeit entzogen gedacht als auch die in dieser Entwicklung sich formierenden Einheiten als organische Gebilde, nicht als beliebig veränderliche Aggregate willentlicher Handlungen von Individuen, beschrieben habe. In ganz ähnlicher Manier wie in seinem Alterswerk Der Historismus und seine Probleme von 1922 hatte Troeltsch bereits einige Jahre zuvor, 1913, in seiner Studie „Die Restaurationsepoche am Anfang des 19. Jahrhunderts“ den Konflikt zwischen Historismus und Romantik charakterisiert, seinerzeit aber im Unterschied zu seinen Ausführungen in Der Historismus und seine Probleme nicht mehr nur einfach die Antipoden eines geistigen Konflikts typologisch und ideengeschichtlich skizziert, sondern diesen Konflikt und seine Genese in einen ganz bestimmten sozialen und politischen Kontext eingebettet. Troeltsch stellt die Genese des Historismus – übrigens ganz ähnlich wie die weiter oben in diesem Kapitel zitierten Bemerkungen von Wolfgang Wieland bezüglich des Kontexts von Savignys Rechtsdenken – nunmehr in den Zusammenhang des Zeitalters der Restauration und deutet diese Genese als „Reaktion gegen den Individualismus des 18. Jahrhunderts“167 , dessen „auflösende und zersetzende Wirkung“168 er sowohl in einem „regellosen und haltlosen Subjektivismus“ als auch in der „französischen Revolution und dem Napoleonismus“169 erblickt. Troeltsch deutet somit den Historismus als ein auf die destabilisierenden Konsequenzen der Französischen Revolution reagierendes ebenso wie als ein „der inneren Krisis der Romantik und ihres Umschlages in ihr

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Vergleiche hierzu auch meine Ausführungen auf S. 411 f. in diesem Kapitel. Ernst Troeltsch, „Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie“, in: Gesammelte Schriften. Dritter Band: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, a.a.O., S. 285. Ebd. Ebd. Ernst Troeltsch, „Die Restaurationsepoche am Anfang des 19. Jahrhunderts“ (1913), in: Gesammelte Schriften. Vierter Band: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, S. 613. Ebd., S. 594. Ebd., S. 590.

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eigenes Gegenteil“170 entstammendes ideengeschichtliches Phänomen. Der doppelte Widerspruch gegen Romantik und Revolution soll es mithin Troeltsch zufolge sein, welcher in der „Restaurationsepoche am Anfang des 19. Jahrhunderts“ in ein Verständnis von Geschichte mündet, welches jedweden Glaubens an deren grenzenlose Verfügbarkeit, ob nun durch eine geschichtsphilosophische Nobilitierung zusätzlich legitimiert oder nicht, enträt, vielmehr an die, wenn auch nicht ausschließliche, so doch immer unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte erinnert. In einer formal zunächst verblüffend ähnlich verfahrenden, in einer entscheidenden Hinsicht natürlich aber auch gänzlich andersartigen Argumentation hat auch Carl Schmitt in seinem Buch über die Politische Romantik ein im Nachhall der Französischen Revolution sich artikulierendes und Verbreitung findendes „historisches Empfinden“, wie Schmitt sich immer wieder ausdrückt, in den Kontext der doppelten Distanzierung von Revolution und Romantik gestellt. Das Empfinden für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte lässt sich laut Schmitt als „Korrektiv der revolutionären Schrankenlosigkeit“171 ebenso verstehen wie als Reaktion auf jenen Verlust des Wirklichkeitssinns, welchen Schmitt, wie wir im weiteren Verlauf des Kapitels noch sehen werden, der Romantik im Ganzen in Rechnung stellt.172 Freilich, als der entscheidende Träger jenes historischen Sinns und als ideengeschichtlicher Platzhalter für dieses genuine historische Bewusstsein, dessen theoretische Quintessenz Schmitt nicht anders als Troeltsch im Widerstand gegen den Gedanken einer grenzenlosen Verfügbarkeit und im Sinn für die unhintergehbare Unverfügbarkeit von Geschichte erblickt, gilt Schmitt in Politische Romantik, und darin besteht nun die fundamentale Differenz seiner Argumentation zu derjenigen von Troeltsch, nicht der Historismus, auf den Schmitt in seinem Romantik-Buch auch weiters gar nicht eingeht173 , sondern das gegenrevolutionäre Denken eines Bonald, eines de Maistre oder eines Donoso Cortés. So wie es für Troeltsch, freilich auch – wie wir im vorangegangenen Abschnitt dieses Kapitels sahen – für Meinecke, Marquard, Lübbe und Bubner, den Historismus auszeichnen soll, dass er sich der Vorstellung einer prinzipiellen Verfügbarkeit von Geschichte verweigert, so will Schmitt die „Ablehnung des Gedankens, Recht und Staat wären Dinge, die aus planmäßiger Tätigkeit der einzelnen Menschen entstehen“174 , als entscheidendes Moment eines gegenrevolutionären Geschichtsverständnisses verstanden wissen. Der Romantik hingegen spricht Schmitt nicht anders als Troeltsch ebendieses 170 171 172 173

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Ebd., S. 592. Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1998 (1919), S. 71. Vergleiche zu Schmitts Deutung und Kritik der Romantik meine Ausführungen auf Seite 410–416. In seiner Hamlet-Studie ging Schmitt übrigens nach dem zweiten Weltkrieg explizit und in kritischer Absicht auf den Historismus ein. Er versteht ihn nun als antiquarische und typisch deutsche Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Er spricht von den „grotesken Missverständnissen“ des Historismus und deutet – bezogen auf das Theater – jede anti-historistische Inszenierung als legitime Reaktion auf die philiströsen Konventionen des Historismus: „Wo die Geschichte nur als das Vergangene und das Gewesene aufgefasst wird, nicht mehr als Gegenwart und Wirklichkeit, ist der Protest gegen das antiquarische Kostüm sinnvoll und muss man den Hamlet im Frack spielen.“ Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart 1985 (1956), S. 53 f. Carl Schmitt, Politische Romantik, a.a.O., S. 114.

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genuine historische Empfinden ab. Nur konsequent ist es daher, wenn Schmitt gegen Meineckes und von Belows These einer Geburt des Historismus aus dem Geiste der Romantik klar Stellung bezieht: „In den Selbstbespiegelungen der Romantiker liegt so wenig eine Selbstbeobachtung wie in ihrer Gemeinschaftsphilosophie ein politischer Gedanke oder in ihren geschichtlichen Konstruktionen ein historischer Sinn. In allem, in ihren Tagebüchern, ihren Briefen, ihren Gesprächen, in ihrer Geselligkeit und ihrer Beschäftigung mit der Geschichte sind sie in Wahrheit immer mit sich selbst beschäftigt, und es ist fast komisch, dass sehr ernste Historiker die Romantik für die Begründerin historischen Sinnes halten“175 . Die Kontrastierung der Romantik mit einem von welcher ideengeschichtlichen Strömung auch immer artikulierten historischen Sinn, wie Troeltsch und Schmitt sie vornehmen, sowie die jeweiligen Versuche der historischen Kontextualisierung dieses Kontrastes liefern eine erste Charakterisierung der Romantik allenfalls ex negativo, über deren theoretische Plausibilität zudem noch gar kein Urteil getroffen ist. Es mag ja zutreffen, wie Schmitt und Troeltsch gleichermaßen behaupten, dass die Romantik die Idee oder den Gedanken einer unverfügbaren Geschichte übersieht und es ihr deshalb jeglichen historischen Sinns ermangelt. Aber dies lässt die Beantwortung der folgenden drei Fragen doch um so dringlicher werden: Wie wäre das ideengeschichtliche Phänomen der Romantik in einem positiven Sinne zu kennzeichnen? Inwiefern ist der Romantik dabei, wenn sie sich doch angeblich für die Dimension der menschlichen Geschichte überhaupt nicht zu interessieren scheint, dennoch ein bestimmtes Verständnis von Geschichte eigen? Und in welchem Sinne schließlich zeigt sich dieses Verständnis theoretisch sensibel für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte wie in den Geschichten des menschlichen Lebens? Indes, so mag eingewendet werden, ist nicht bereits die erste dieser drei zuletzt zitierten Fragen methodisch unverzeihlich naiv, stellen sich nicht bereits ihr unüberwindliche Hindernisse ganz prinzipieller Art in den Weg? Arthur Lovejoy, der amerikanische Begründer der „history of ideas“, welcher sich in seinen ideengeschichtlichen Arbeiten lebenslang intensiv mit der Frage nach dem wesensmäßigen Kern oder der geistigen Quintessenz der Romantik beschäftigte, gelangte jedenfalls am Ende all seiner theoretischen Bemühungen zu einer ernüchternden und resignierenden Feststellung: „Romanticism’ has no generally understood meaning and has therefore come to be useless as a verbal symbol“176 – nur um sich sodann in seinen Schriften eben doch und ganz im Sinne der von ihm entwickelten Methode der „history of ideas“ weiterhin darum zu bemühen, romantische „Elementarideen“ zu benennen. Lovejoys Resignation mag ihre guten Gründe haben. Sie erinnert uns jedenfalls daran, dass jeder direkte Zugriff auf ein unterstelltes Phänomen der Romantik ohne Berücksichtigung der Fülle und des Reichtums existierender Deutungen der Romantik, wie sie sich von den literaturgeschichtlichen Ein-

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Ebd., S. 85. Arthur Lovejoy, „The Meaning of Romanticism for the Historian of Ideas“, in: Journal of the History of Ideas 2 (1941), S. 258.

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ordnungsversuchen in der Zeit des Vormärz, genannt seien Heine, Gervinus, Hettner177 , bis zu den gegenwärtigen, philosophisch ambitionierten Interpretationen eines Manfred Frank erstrecken, für die Romantik noch anmaßender erscheinen muss als für den Historismus.178 Allerdings erweisen sich dabei keinesfalls alle Deutungen der Romantik in gleicher Weise anschlussfähig für den Versuch, die zweite und die dritte der soeben gestellten Fragen zu beantworten. Während der im vorangegangenen Abschnitt des Kapitels vorgenommene Versuch, ein historistisches Bewusstsein für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unhintergehbar Unverfügbaren auch und vor allem in der menschlichen Geschichte zu ermitteln, nicht unbedingt transdisziplinär hätte verfahren müssen, nicht unbedingt etwa auf Schleiermachers Reden oder die Kunst und Malerei des „entzweiten Jahrhunderts“ hätte eingehen müssen, vermag sich meine theoretische Ambition, das romantische Verständnis von Geschichte oder zumindest die der Romantik immanente Auffassung von Geschichte aufzuklären, ausschließlich und von vornherein nur an jene Interpretationen zu halten, welche die Romantik als jenes umfassende und transdisziplinäre ideengeschichtliche Phänomen in den Blick nehmen, welches sich auf alle Gebiete des geistigen Lebens und ebendeshalb auch auf die romantische Auffassung von Geschichte erstreckt. Als nicht weiter hilfreich für diesen Versuch präsentieren sich hingegen jene Lesarten der Romantik, welche diese ausschließlich und einzig als ein literarisches oder philosophisches oder ästhetisches oder politisches Phänomen betrachten und daher allein die Literatur oder die Philosophie oder die Ästhetik der Romantik oder ihre politischen Lehren und Funktionen behandeln und interpretieren. Insofern darf an die folgenden Ausführungen auch kein Anspruch oder Maßstab herangetragen werden, den diese gar nicht teilen: Es geht auf den folgenden Seiten nicht um eine vollständige Deutung der Romantik schlechthin, schon gar nicht um eine umfassende Interpretation eines unterstellten Wesens der Romantik, wie auch immer dieses zu verstehen wäre, sondern vorrangig um die Ermittlung der explizit formulierten oder zumindest impliziten romantischen Auffassung von Geschichte, insbesondere um die Frage, ob und in welchem Sinne dieser Auffassung eine Sensibilität für Zufall und Kontingenz in der Geschichte eigen ist. Für diesen Zweck, und ich wiederhole: allein für diesen Zweck, scheiden aber nun all jene Interpretationen, welche zu welcher Zeit auch immer einzig oder vorrangig die Ästhetik der Romantik diskutieren und diese dann verteidigen, wie dies etwa Karl Heinz Bohrer tut, wenn er insbesondere die deutsche Spätromantik als Vorläufer der modernen Avantgarde begreift179 , oder ablehnen, wofür exemplarisch Goethes Verdikt der Romantik als des „Kranken“ steht, aus. Als ebenso unzureichend für den Zweck 177

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Vergleiche hierzu: Heinrich Heine, „Die romantische Schule“ (1835), in: Sämtliche Schriften. Band III, herausgegeben von Klaus Briegleb, Frankfurt am Main 1971. Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen, Leipzig 1844. Hermann Hettner, Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Göthe und Schiller, Braunschweig 1850. Von Manfred Frank sind vor allem die beiden Werke zu nennen: Manfred Frank, Unendliche Annäherung: Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1997. Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt am Main 1989. Vergleiche dazu die beiden Arbeiten: Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt am Main 1989.

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meiner Fragestellung erweisen sich aber auch all jene Interpretationen, welche die Romantik ausschließlich oder vorrangig als eine politische Kategorie deuten. Insbesondere in Frankreich wurde die Romantik ja immer wieder als Quelle und Auftakt des modernen Zeitalters und Inbegriff revolutionärer Gesinnung begriffen. In diesem Sinne wurde sie von Michelet gelobt, während sie, wobei dieselbe Interpretation zugrunde gelegt wurde, von Seillière und dem gesamten Strang gegenrevolutionären Denkens verworfen wurde. In Deutschland wiederum wurde die Romantik während des 19. Jahrhunderts häufig als Wegbereiterin einer gegen die Französischen Revolution gerichteten politischen Restauration beschrieben. Im Kontext einer solchen Deutung wurde sie von den deutschen Liberalen des Vormärz, etwa von Arnold Ruge oder von David Friedrich Strauß, verdammt, während Gegner der Französischen Revolution wie Adam Müller gerade aufgrund einer solchen Deutung in ihr den bewahrenswerten politischen Antipoden der Französischen Revolution sahen. Im 20. Jahrhundert wirkte sich eine vorrangig politisch motivierte Sichtweise der Romantik vor allem hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von Moderne und Romantik aus: Die Romantik wurde nun einerseits als Geburtshelferin eines gegen die Moderne gerichteten Irrationalismus und Sonderwegs gekennzeichnet, eine Bewertung, die sich in kritischer Absicht exemplarisch bei Georg Lukács ebenso wie in Thomas Manns Doktor Faustus formuliert findet. Andererseits zollt Manfred Frank, der sich nicht nur der Philosophie und Ästhetik der Frühromantik, sondern auch dem politischen Denken der Romantik gewidmet hat, letzterem sein ausdrückliches Lob, weil es weder – in seiner späten Phase – als reaktionär noch – in seiner frühen Phase – als revolutionär im Sinne des Jakobinismus eingestuft werden dürfe. Vielmehr erblickt Frank in den politischen Vorstellungen der Frühromantik einen erklärten politischen Affekt gegen das Bürgertum, „dem die Frühromantiker zuerst die Attribute des ‚Biedermännischen‘, ‚Teutschgesinnten‘, ‚Philiströsen‘ oder ‚Spießigen‘ angehängt haben“180 , und er will diesen anti-bourgeoisen Affekt als einen anarchistisch gesinnten Protest gegen das mechanische Räderwerk der terreur verstanden wissen. Darüber hinaus ist der Name von Manfred Frank aber natürlich zentral für das gegenwärtig zu neuem Leben erwachte Interesse der Philosophie oder der Philosophiegeschichte an der Romantik. Hinsichtlich des Ensembles der kaum noch zu überblickenden Interpretationen der philosophischen Romantik oder der romantischen Philosophie, vor allem der frühromantischen Philosophie, will ich an dieser Stelle, ohne damit diese Forschungsliteratur insgesamt angemessen würdigen zu können, nur dies erwähnen, dass nämlich Manfred Frank jenen Gedanken, welcher gemäß seinen eigenen Worten darin besteht, dem Ich nicht mehr zuzutrauen, „seinen Einheitsgrund aus eigenen Mitteln zur Transparenz zu bringen“, dass Manfred Frank jenen Gedanken, welchen als erster

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Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt am Main 1989 (1987). Manfred Frank, „Wie reaktionär war eigentlich die Frühromantik“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 7 (1997), S. 145. Vergleiche zu Franks Auseinandersetzung mit den politischen Dimensionen der Romantik auch Manfred Frank, „Anti-bourgeoise Anarchie und Revolutions-Kritik. Von der zwiespältigen Haltung der Frühromantik zur Französischen Revolution“, in: Henning Krauß (Hg.), Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt am Main 1989, S. 221–244.

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wohl Dieter Henrich als grundlegend zunächst für Fichtes Spätphilosophie und später dann für Jacobis Philosophie beschrieben hatte181 , im Anschluss an diese Arbeiten von Henrich nun erstens für die Philosophie der Frühromantik insgesamt als konstitutiv ausweist und zweitens die frühromantische Ästhetik als Konsequenz und Höhepunkt dieses konstitutiven Moments der frühromantischen Philosophie interpretiert: „Für die Romantik ist das Ich – und die ihm vorgeblich eigene Selbstdurchsichtigkeit – kein philosophisches Prinzip mehr; es erschließt die in ihm waltende Einheit als eine ihm selbst transzendente Voraussetzung, von der es sich […] abhängig fühlt. Das schließt ein, dass sich das Ich nicht mehr zutraut, seinen Einheitsgrund aus eigenen Mitteln zur Transparenz zu bringen. Auf diese Weise wird ihm seine eigene Selbstvermittlung ‚unvordenklich‘; sie kann nur geleistet werden, wenn ein Symbol ins Mittel tritt, das seinen Seinsgrund mit dem Selbstbewusstsein vermittelt – und das ist die Kunstanschauung.“182 Von all diesen hier nur äußerst grob angedeuteten Interpretationsvarianten, welche sich allein auf eine ästhetische oder literaturgeschichtliche, auf eine politische oder modernisierungstheoretische und zuletzt allein auf eine philosophische Kategorie konzentrieren, heben sich nun sowohl Isaiah Berlins als auch Carl Schmitts Interpretationen der Romantik, auf welche ich mich im Folgenden für den gesamten weiteren Fortgang der Argumentation stützen werde, allein schon durch ihren methodischen Zugang wohltuend ab. Unbeschadet der Frage nach den möglichen Grenzen und Defiziten von Berlins und Schmitts Verständnis der Romantik und unbeschadet auch der Frage nach den Unterschieden ihrer jeweiligen Deutung ist es just dieser methodische Ansatz, welcher die daraus resultierenden Deutungen der Romantik für meinen vorrangigen Untersuchungszweck, eine Klärung der romantischen Auffassung von Geschichte, besonders produktiv werden lässt. Beide, Schmitt wie Berlin, gehen nämlich davon aus, dass die Romantik angemessen nur verstanden werden kann, wenn sie als eine umfassende ideengeschichtliche „Weltanschauung“183 in den Blick gerät, die sich auf Ästhetik, Literatur, Philosophie und Politik nicht minder erstreckt als auf ein bestimmtes Verständnis von Geschichte. Blicken wir daher zunächst – analog zu dem im zweiten Abschnitt dieses Kapitels angewendeten Verfahren – auf Berlins und Schmitts Deutungsversuche, bevor wir schließlich im Blick auf einzelne Vertreter der Romantik diese Deutungen insbesondere der romantischen Auffassung menschlicher Geschichte belegen und verdeutlichen wollen.

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Vergleiche dazu meine Ausführungen zu Henrichs Deutung von Fichte auf den S. 439–440 und von Jacobi in Anmerkung 287, S. 433 f. Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, a.a.O., S. 127. Den Begriff der „Weltanschauung“ will ich hier im Sinne Diltheys verstanden wissen. Dilthey meinte im Begriff der „Weltanschauung“ das Ensemble aus einer bestimmten Auffassung der Wirklichkeit, einer sich daraus ergebenden Präsumtion eines bestimmten Sinns dieser Welt und unseres Daseins in dieser Welt und schließlich einer darauf beruhenden Ausbildung höchster Lebensideale, oberster Grundsätze der praktischen Lebensführung, bezeichnen zu können. Vergleiche hierzu Wilhelm Dilthey, „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen“ (1911), in: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften, Band VIII, Stuttgart/Göttingen 1960, S. 75–121.

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Die von mir vorgeschlagene Lesart sowohl von Carl Schmitts Studie über die Politische Romantik als auch von Isaiah Berlins zahlreichen Studien über die – wenn man so will – ideengeschichtlichen Konflikte der historischen Periode der Sattelzeit besagt, dass beide Autoren ein auf bestimmte Weise zu verstehendes Kreativitätsethos und ebenso eine spezifische Form theoretischer Sensibilität für Kontingenz und Zufall auch und gerade in der menschlichen Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Deutung der Romantik stellen.184 Dabei übersehe ich nicht die Tatsache, dass Berlin und Schmitt die Romantik vollkommen unterschiedlich bewerten. Während Schmitt die Romantik vor allem deshalb leidenschaftlich kritisiert, weil er sie als die aus der Subjektivierung einer occasionalistischen Theologie resultierende Mediatisierung aller äußeren Wirklichkeit und insofern als Ignoranz gegenüber der Widerständigkeit aller Wirklichkeit, auch aller historischen Wirklichkeit, betrachtet, ist Berlins Einstellung der Romantik gegenüber ungleich ambivalenter. In dem Maße, wie sich die Romantik als Einspruch gegen das geschichtstheoretische Modell einer „historical inevitability“ ebenso wie als ein im Namen des Pluralismus formulierter Einspruch gegen den normativen Monismus der Aufklärung verstehen lässt, bringt Berlin ihr durchaus Sympathie entgegen. Freilich wendet sich auch Berlin, wie wir noch sehen werden, mitunter scharf gegen die Romantik. Ferner will ich keinesfalls behaupten, dass Berlin und Schmitt das romantische Kreativitätsethos und den romantischen Sinn für Kontingenz und Zufall auch und gerade in der menschlichen Geschichte in identischer Weise verstehen. Die Unterschiede ihrer Interpretationsversuche werden im Folgenden also keinesfalls unberücksichtigt bleiben. Aber immerhin bemerken beide, Schmitt wie Berlin, und ebendies macht ihre Deutungen für mein Thema so wertvoll, dass der romantischen Auffassung von menschlicher Geschichte eine ganz spezifische Sensibilität für Kontingenz und Zufall in ebendieser menschlichen Geschichte zu eigen ist, ein Bewusstsein dafür nämlich, dass die menschliche Geschichte weder notwendig noch unverfügbar ist, vielmehr gerade aufgrund der menschlichen Kreativität stets und unbeschränkt verfügbar ist. Insofern lässt sich gerade im Anschluss an Schmitts und Berlins Interpretation der Romantik ein Plädoyer für das, was Marquard das Beliebigkeitszufällige oder Beliebigkeitskontingenz nennt, eine theoretische Rehabilitierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte im Sinne eines Verfügbaren, lässt sich ein Plädoyer für das unbeschränkt Verfügbare in der menschlichen Geschichte als konstitutives Merkmal der Romantik belegen. Auch die menschliche Geschichte kann demnach, und diese Annahme wird sich für eine ganze Reihe von Protagonisten und Vertretern der Romantik in der Tat als zutreffend erweisen, auch die menschliche Geschichte kann demnach als schöpferischer Kreativität unbeschränkt verfügbar und als durch keine Grenzen der Verfügbarkeit eingeschränkt aufgefasst werden. So wie freilich schon im Historismus eine Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare des menschlichen Lebens schlechthin mitunter an die Stelle einer Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in dem Bereiche ausschließlich der menschlichen Geschichte tritt, so changieren auch in der Romantik ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in der Geschichte und ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare des 184

Vergleiche dazu auch Peter Vogt, Pragmatismus und Faschismus. Kreativität und Kontingenz in der Moderne, Weilerswist 2001, S. 268–281.

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menschlichen Lebens schlechthin auf mitunter schwer zu trennende Weise, wird also das Verfügbare nicht nur in der einen Geschichte, sondern auch das Verfügbare in den vielen Geschichten betont. Berlins und Schmitts Interpretation der Romantik eint aber nicht nur eine Aufmerksamkeit für das, was ich als Kreativitätsethos ebenso wie als Kontingenz- und Zufallssensibilität der Romantik bezeichnen möchte. Auch das formale Vorgehen ihrer jeweiligen Interpretationen, in dessen Zuge sich diese Aufmerksamkeit zu erkennen gibt, weist verblüffende Ähnlichkeiten auf: Beide Autoren gehen erstens von einer bestimmten Sichtweise der ästhetischen Überzeugungen und Ideale der Romantik aus. Zweitens verweisen sowohl Berlin als auch Schmitt darauf, dass die Romantik ausgehend von einer bestimmten ästhetischen Konzeption ein bestimmtes Ethos menschlicher Kreativität formuliert. Berlin tut dies, indem er aufdeckt, inwiefern die Romantik den wesentlichen normativen Überzeugungen der Aufklärung widerspricht und dieser Widerspruch wiederum zu einer enormen Aufwertung menschlicher Kreativität als Medium individueller Selbstverwirklichung führt. Schmitt tut dies, indem er die romantische Heroisierung menschlicher Kreativität in den umfassenden ideengeschichtlichen Kontext einer Subjektivierung des Occasionalismus einbettet. Und schließlich verweisen beide, Berlin wie Schmitt, in einem dritten Schritt darauf, dass das romantische Kreativitätsethos, wie auch immer es nun präzise zu verstehen sein mag, auch eine theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren impliziert. Wie konkretisieren und füllen Berlin und Schmitt nun diese drei formalen Schritte ihres jeweiligen Interpretationsansatzes? Erstens: Was tut ein Künstler? Für Berlin beantwortet die Romantik diese Frage in folgender Weise: Der Künstler sucht nicht nach etwas, was sich in einer Sphäre außerhalb seiner selbst befindet, nur um es dann abzubilden. Der Künstler kopiert nicht. Der Künstler strebt vielmehr nach Ausdruck, nach einem schöpferischen Ausdruck seiner selbst. Kunst ist nicht als „Spiegel“ externer Objekte, sondern vielmehr als „Lampe“ der individuellen Erleuchtung zu begreifen.185 Das höchste Ziel dieses die romantische Kunst definierenden Expressivismus kann folglich nicht in einer naturgetreuen Darstellung bestehen, auch nicht darin, die Natur in ihrer Perfektion abzubilden. Insofern betrachten es die Romantiker als unsinnig, wie Winckelmann von einer edlen Einfalt und stillen Größe auszugehen, die ein für alle Zeiten gültiges ästhetisches Ideal formuliert. Die ästhetische Maxime „ut pictura poiesis“ verkennt in den Augen jener expressivistischen Ästhetik, wie sie die Romantik charakterisiert, das Wesen der Kunst und des schöpferischen Prozesses, welcher zum Kunstwerk führt. Der romantische Künstler ist kein Kopist, sondern ein Schöpfer. „Du bist doch kein gemeiner Kopist, sondern ein Poet“, diese mahnenden Worte richtet der greise Maler Frenhofer in Balzacs Erzählung Das unbekannte Meisterwerk an seine beiden jüngeren Bewunderer. Im Medium der Kunst trachtet der Künstler, wie ihn die Romantik auffasst, danach, sich kraft einer schöpferischen Tätigkeit in unverwechselbarer Weise auszudrücken. Dabei kann und darf sich der Künstler an keine 185

Vergleiche hierzu die sich der englischen romantischen Poetik und Literaturtheorie widmende Abhandlung von M. H. Abrams: M. H. Abrams, Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition der Kritik, München 1978 (1953).

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vorgefertigte Regeln halten. So verriete er nur das in ihm schlummernde schöpferische Potenzial. Für den schöpferischen Ausdruck im Medium der Kunst kann es keine Regeln geben. Alles, worauf es ankommt, ist die Kreativität des Künstlers. Dieses expressivistische Fundament ihres Kunstverständnisses, wie es Berlin in seinen Schriften immer wieder erhellt hat, will die Romantik aber nun gerade nicht auf die Sphäre des Ästhetischen beschränkt wissen. Im Gegenteil. Insofern die Romantik eine bestimmte ästhetische Konzeption vielmehr auf alle Lebensbereiche ausweitet, spricht Berlin in einem Notat zu seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen The Roots of Romanticism, welche gleichsam die Summe seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Romantik darstellen, sogar von „a kind of tyranny of art over life, which in some sense is the essence of the romantic movement“186 . Ähnlich, wenn vielleicht im Tonfall auch etwas weniger brüsk, hat es Berlin in allen seinen Texten über die Romantik formuliert. Am Ende seines Aufsatzes „Die Apotheose des romantischen Willens. Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ schreibt er, dass man, welche vorteilhaften Einsichten auch immer der Romantik zugebilligt werden mögen – etwa die Einsicht in die Pluralität menschlicher Ziele und Lebensformen –, der romantischen Bewegung durchaus den „monströsen Irrglauben“, „das Leben sei ein Kunstwerk oder könne dazu gemacht werden“187 , zur Last legen könne. Wäre man nun dazu aufgerufen, diese romantische Aufhebung der Grenzen von Leben und Kunst, diese romantische „tyranny of art over life“, zu belegen und zu illustrieren, ließe sich eine ganze Reihe von Texten anführen. Welche Passagen genau Berlin anlässlich seiner zuletzt zitierten Formulierung im Sinne haben mag, muss freilich in dem Maße ungeklärt bleiben, als Berlin versäumt deutlich zu machen, auf welchen Autor oder welches Werk er seine These von einer romantischen „tyranny of art over life“ konkret bezogen wissen will. Ich will pars pro toto nur das berühmte Athenäums-Fragment 116 in Erinnerung rufen, worin von einer „progressiven Universalpoesie“ die Rede ist, welche die Grenzen von Poesie, Leben und Gesellschaft aufhebt: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Verbindung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen.“188

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Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, a.a.O., S. xi. Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1995, S. 295 f. Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Zweiter Band. Erste Abteilung. Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), herausgegeben von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1967, S. 182.

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Novalis spricht einmal in einem ganz ähnlichen Sinne davon, die Welt sei zu romantisieren: „Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“189 . Dass Novalis mit diesen fragmentarischen Bemerkungen nicht weniger intendiert als die gleichsam synchron verfahrende Ästhetisierung des Lebens und die Vitalisierung aller Kunst, dass Kunst für die Romantik, so könnte man sagen, keine Sache des Museums ist, sondern eine Frage der Lebensgestaltung werden soll, diesen Kern der romantischen Ästhetik hat auch Frederick Beisers Deutung des zitierten Novalis-Fragments betont: „To romanticize the world meant to make our lives into a novel or poem, so that they would regain the meaning, mystery, and magic, they had lost in the fragmented world. We are all artists deep within ourselves, the young romantics fervently believed, and the goal of the romantic program is to awaken that talent slumbering within ourselves so that each of us makes his life into a beautiful whole. Hence it was a central goal of the young romantics to break down those barriers between art and life that had confined art to books, concert halls, and museums, and that had made the world a very ugly place.“190 Ästhetische Fragen sind demnach der Romantik keine kontemplative Subdisziplin unseres Alltags und sind auch nicht in ein in seiner Bedeutung begrenztes Department unseres Denkens und Fühlens abzustellen, sondern stellen jene prima philosophia dar, die ins Herz jeder praktischen Lebensführung zielt. Um zu Berlins Interpretation der Romantik zurückzukehren: So wie für die Kunst gilt, dass sie ihr höchstes Ziel verfehlt, wenn sie unter Befolgung vorgefertigter Regeln lediglich imitiert, was vorhanden ist, vielmehr dieses Ziel nur erreicht, indem sie schöpferisch tätig ist und dabei alle vorgegebenen Regeln sprengt, so will die Romantik gemäß Berlins Interpretation auch die Frage, wie wir unser Leben zu führen haben, nicht dadurch beantworten, dass sie auf vermeintlich vorgängig existierende Antworten innerhalb einer unveränderlichen normativen Rangordnung verweist, die lediglich gefunden und entdeckt werden müssen. Nicht nur die Kunst, für das Leben insgesamt beansprucht die Romantik, dass die Selbstverwirklichung jedes Individuums stets schöpferische Kreativität voraussetzt. Es ist dieser Gedanke, der gleichsam die zweite Stufe von Berlins Interpretation der Romantik bildet. Das Ideal eines gelungenen Daseins lässt sich nicht 189

190

Novalis, Schriften. Zweiter Band. Das philosophische Werk I, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Darmstadt 1981, S. 545. Frederick Beiser, The Romantic Imperative. The Concept of Early German Romanticism, Cambridge/Mass. 2003, S. 19.

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durch kontemplative Reflexion finden, sondern muss durch schöpferische Kreativität überhaupt erst geschaffen werden. Dieser grundsätzliche normative Paradigmenwechsel, wie ihn Berlin der Romantik unterstellen zu können glaubt, führt aber nicht nur allgemein zu einer normativen Aufwertung schöpferischer Kreativität, sondern ganz konkret auch zu einer ungeheuren Aufwertung des menschlichen Willens, jene eigenen schöpferischen Potenziale durch- und umzusetzen. Dass der Mensch sich einzig durch schöpferischen Ausdruck verwirklichen kann, heißt dann auch, dass der Mensch nur wahrhaft Mensch ist, wenn er sich in seinen willentlichen Anstrengungen, sich zu verwirklichen, durch nichts irre machen und einschränken lässt. Für die Romantik ist es, so schreibt Berlin einmal, „die oberste Berufung des Menschen, sich selbst und seine Welt nach seinem unbeugsamen Willen zu formen.“191 Insofern formuliert die Romantik nicht nur ein bestimmtes Ideal individueller Selbstverwirklichung und von Kreativität als Medium dieser Selbstverwirklichung, sondern weist auch einer ganzen Reihe konkreter Tugenden und Verhaltensweisen einen ungeahnten Stellenwert zu. Im Anschluss an eine bestimmte Auffassung der künstlerischen Tätigkeit und zugleich mit dem romantischen Ideal von Selbstverwirklichung und dem romantischen Kreativitätsethos entsteht im Zeitalter der Romantik somit auch, wie Berlin schreibt, „a new cluster of virtues“192 . Im Zentrum dieses romantischen „cluster of virtues“ steht, wie Berlin in The Roots of Romanticism zu wiederholen nicht müde wird, jener „indomitable will“, der sich durch keinerlei Gebote oder Vorstellungen außerhalb seiner selbst beschränken lässt. Es ist daher auch keine Quisquilie, sondern für Berlins Deutung der Romantik höchst symptomatisch, dass er im Titel eines für seine Sichtweise der Romantik zentralen Aufsatzes, die Romantik als „Apotheose“ des menschlichen Willens beschreibt. Folglich widerspricht Berlin auch unermüdlich jener immer wieder zu hörenden Ansicht, die Romantik sei als eine geistige Bewegung zu verstehen, die das Gefühl gegen die Vernunft rehabilitiert habe. Nein, die Romantiker waren, so Berlin, „nicht Vorkämpfer des Gefühls gegen die Vernunft, sie waren die Verfechter einer anderen Kraft des menschlichen Geistes, aus der alles Leben und Handeln, Heldentum und Opferbereitschaft, Edelmut und Idealismus sowohl im individuellen wie im kollektiven Dasein entspringt – sie waren Protagonisten des stolzen, unbezwinglichen, ungebundenen menschlichen Willens [Hervorhebung von mir; P. V.].“193 Mit dieser romantischen Apotheose des menschlichen Willens mussten nicht, konnten aber potenziell durchaus ein bestimmter Genie-Kult und gar eine „Geniereligion“ (Edgar Zilsel) verbunden sein. Und sie waren dies tatsächlich immer dann, so lautet 191

192 193

Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 284. Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, a.a.O., S. 139. Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 270.

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Berlins ideengeschichtlicher Befund, wenn die Realisierung dieser heroischen „Kraft des menschlichen Geistes“ als nur einigen wenigen Auserwählten vorbehalten wahrgenommen wurde und diese selbst ernannte Elite wiederum die Zurücksetzung der vermeintlich weniger Heldenhaften für geboten hielt. Napoleon etwa, so schreibt Berlin in dem Aufsatz „Die Revolution der Romantik. Eine Krise in der neuzeitlichen Geistesgeschichte“, Napoleon „wurde von seinen romantischen Bewunderern dargestellt, als machte er mit Menschen das, was Beethoven mit Klängen oder Shakespeare mit Wörtern machte. Menschen sind entweder mit schöpferischen Kräften gesegnet oder nicht, und wenn sie es nicht sind, wenn sie ‚schlafen‘ oder ‚passiv‘ sind, dann müssen sie den Zielen der Schöpfer dienen und ihre Erfüllung darin finden, von diesen geformt zu werden“194 . Immerhin gesteht Berlin zu, dass die romantische Apotheose des menschlichen Willens in unterschiedlicher Intensität formuliert werden kann. So differenziert Berlin in The Roots of Romanticism zwischen einer Variante der Romantik, die er als „restrained“ bezeichnet, und einer anderen, die er mit dem Attribut „unbridled“ versieht. Diese Kategorien ergeben sich für Berlin aus dem unterschiedlichen Maße, in welchem ein glorifiziertes Willensvermögen an eine willensunabhängige Vernunft noch geknüpft bleibt oder als von dieser vollkommen emanzipiert vorgestellt wird. Aber wie auch immer diese graduell variierenden Typen von Romantik zu gewichten sind, eines bleibt laut Berlins Deutung allen Varianten der Romantik eigen: die Ansicht, dass sich ohne eine Willensstärke, welche der menschlichen Kreativität gegen alle Widerstände zum Durchbruch verhilft, der Mensch niemals selbst verwirklichen kann, sondern eine willenlose Marionette, ein Spielball vorgegebener Regeln und Gesetzmäßigkeiten bleibt und er daher seinem eigenen Wesen nicht, jedenfalls nicht in der dem Menschen eigentlich gebotenen Weise, zum Durchbruch verhilft. Diese seine Aufmerksamkeit für die romantische Glorifizierung einer schöpferischen Kreativität in Kunst und Leben sowie für das romantische Pathos der menschlichen Willensstärke bettet Berlin nun in einer ganz genuinen Weise in den Kontext seines gesamten ideengeschichtlichen Werkes und seiner gesamten Anschauung der abendländischen Ideengeschichte ein. Er deutet nämlich die romantische Verherrlichung schöpferischer Kreativität und Willensstärke nicht als beliebige Formulierung irgendeines normativen Ideals unter vielen anderen, sondern als zwingende und konkrete theoretische Konsequenz eines ganz grundsätzlichen, nämlich des seiner Ansicht nach entscheidenden normativen Paradigmenwechsels der abendländischen oder zumindest der neuzeitlichen Ideengeschichte. Die drei laut Berlin zentralen normativen Prämissen der Aufklärung, vielleicht sogar des abendländischen Denkens insgesamt, – die Vorstellung, alle normativen Fragen lassen sich beantworten; die Vorstellung, alle normativen Fragen lassen sich endgültig beantworten, weil wir prinzipiell über die für eine solche Beantwortung notwendige Methode verfügen; die Vorstellung, diese normativen Antworten, da sie wahr sind, mündeten prinzipiell in einen Konsens; 194

Isaiah Berlin, „Die Revolution der Romantik. Eine Krise in der neuzeitlichen Geistesgeschichte“ (1960), in: Wirklichkeitssinn. Ideengeschichtliche Untersuchungen, Berlin 1998, S. 322 f.

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Tragik und unversöhnliche Konflikte seien insofern keine unvermeidbaren Bestandteile normativer Diskurse –, diese drei normativen Prämissen werden laut Berlin von der Romantik, ihrem Ideal menschlicher Selbstverwirklichung, ihrem Kreativitätsethos und ihrer Apotheose des menschlichen Willens, allesamt in Frage gestellt. Wenn das höchste Ziel des Menschen darin besteht, seine genuinen Potenziale zu verwirklichen, und diese normative Überzeugung ist Berlin zufolge konstitutiv für die Romantik, dann kann es keine universal gültige Lebensform geben, der alle Menschen sich lediglich anzunähern hätten, noch eine universal gültige Methode, mit deren Hilfe diese Lebensform festzustellen wäre. Und ebenfalls nicht auszuschließen ist, dass die stets mannigfaltigen und unterschiedlichen Versuche individueller Selbstverwirklichung sich in jenen tragischen Konflikten verfangen, die das Ideal einer perfekten Lebensform für alle nicht nur de facto unwahrscheinlich, sondern bereits auf einer begrifflichen Ebene inkohärent werden lassen. So bringt die Romantik in den Augen Berlins das Ideal einer perfekten Lebensform, die für alle Menschen zu allen Zeiten gleichermaßen gültig ist, zum Einsturz: „[...] the whole notion of the perfect life collapses“195 . Ich komme zum dritten Schritt von Berlins Interpretation der Romantik: Zweifellos ging es Berlin in seinen ideengeschichtlichen Arbeiten und aufgrund seines eigenen vorrangigen Erkenntnisinteresses, die geistigen Vorläufer und die theoretischen Implikationen eines normativen Pluralismus zu bestimmen, dessen Formulierung ihm als der entscheidende Paradigmenwechsel der abendländischen oder neuzeitlichen Ideengeschichte gilt, vor allem um den Nachweis, dass die Romantik einen bestimmten Protest gegen die für die Aufklärung charakteristischen normativen Ideale formuliert. Aber nicht ignoriert werden darf, dass Berlins Deutung der Romantik neben ihrer Darstellung eines expressivistischen Verständnisses von Kunst und ihrer Betonung des romantischen Ideals von menschlicher Selbstverwirklichung und von menschlicher Kreativität als Medium individueller Selbstverwirklichung, welches sich mit den normativen Idealen der Aufklärung nicht mehr verträgt, samt einer sich daraus ergebenden Verherrlichung des menschlichen Willens, schließlich auf einem weiteren Standbein beruht, wonach sich die Romantik eben in einer spezifischen Weise für Kontingenz und Zufall gerade auch in der historischen Wirklichkeit aufmerksam zeigt. So wie es für die Romantik gemäß Berlins Deutung keinen normativen Kosmos gibt, dem sich alle Menschen als praktisch Handelnde nur anzunähern bräuchten, um ein für allemal zu wissen, wie sie zu leben hätten, so gibt es für die Romantik auch keine historischen Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten, denen sich die Menschen als in der Geschichte Handelnde anpassen müssten oder anpassen sollten. Insofern führt die Romantik in geschichtstheoretischer Hinsicht einen „Angriff auf die Systembauer, auf die Verfasser der großen historischen Libretti“196 durch, auf jene Denker, welche stabile historische Strukturen, Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten unterstellen und sich für die Möglichkeit von Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte unempfänglich zeigen. Berlin zufolge zeichnet die Romantik in ganz allgemeiner Hinsicht ein Bewusstsein für die „unpredictability 195 196

Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, a.a.O., S. 65. Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 294.

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of all human activities“197 aus, ein Bewusstsein dafür, dass mithin auch die Geschichte keinen Gesetzen historischer Notwendigkeit unterliegt, und dieses Bewusstsein attestiert Berlin in all seinen Arbeiten der Romantik so eindeutig wie keinem zweiten Phänomen der Ideengeschichte. Ebenso wie dies für einen normativen Pluralismus zutreffen soll, so erblickt Berlin auch für eine sich gegen den Gedanken historischer Unvermeidbarkeit aussprechende Auffassung von menschlicher Geschichte198 im Denken der Romantik den entscheidenden ideengeschichtlichen Wegbereiter. So findet Berlins Interpretation der Romantik schließlich ihren Abschluss und ihr Fazit in der These, dass das Denken der Romantik um eine bestimmte Auffassung menschlicher Kreativität ebenso kreist wie es eine bestimmte Form theoretischer Sensibilität für Kontingenz und Zufälligkeit in der menschlichen Geschichte formuliert: „These two elements – the free untrammelled will and the denial of the fact that there is a nature of things, the attempt to blow up and explode the very notion of a stable structure of anything – are the deepest and in a sense the most insane elements in this extremely valuable and important movement.“199 Kontingenz- und Zufallssensibilität sowie Kreativitätsethos sind für Berlin im Denken der Romantik allerdings nicht nur lose miteinander koaliert, sondern intrinsisch und aus systematisch zwingenden Gründen miteinander verschränkt: Eben weil Kreativität nicht nur bestimmendes Merkmal des künstlerischen Ausdrucks, sondern unhintergehbares Medium menschlicher Selbstverwirklichung ist und sich insofern in allen Lebensbereichen findet, bleibt alles menschliche Handeln und Geschehen den Folgen dieser menschlichen Kreativität stets ausgesetzt. Die menschliche Kreativität verbürgt so immer auch Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte, und zugleich verunmöglicht sie, dass für die menschliche Geschichte die „großen historischen Libretti“ in überzeugender Weise verfasst werden können. Auch die menschliche Geschichte könnte stets anders sein, so suggeriert und unterstellt die Romantik laut Berlin, gerade weil die Kreativität des Menschen diese Geschichte stets in anderer Weise gestalten könnte. Das Gespür dafür, dass „nothing can be taken for granted“200 , die Überzeugung von der „transformability of everything into everything“201 , sie sind Berlin zufolge konstitutiv nicht nur für die romantische Vorstellung von Kunst, das romantische Ideal schöpferischer Kreativität und eines uneingeschränkten menschlichen Willens, sondern prägen unverkennbar auch die romantische Auffassung menschlicher Geschichte. Und wiederum umgekehrt: Nur in einer solchermaßen kontingenten und zufälligen historischen Wirklichkeit erscheint es plausibel, der menschlichen Kreativität ebenjene unbegrenzten Möglichkeiten schöpferischen Ausdrucks zu attestieren, von welchen sich die Romantik überzeugt zeigt. Die Romantiker, so fasst Berlin sein Verständnis der romantischen Auffassung menschlicher Geschichte zusammen, 197 198

199 200 201

Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, a.a.O., S. 147. Vergleiche zu Berlins Skizzierung und Kritik einer Geschichtstheorie, die auf dem Gedanken der „historical inevitability“ beruht, die Passagen im dritten Abschnitt des dritten Kapitels, S. 298–304. Isaiah Berlin, The Roots of Romanticism, a.a.O., S. 117. Ebd., S. 135. Ebd., S. 115.

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H  R: D U   V „produce a sense of the absolutely unbarred universe, of the wall-less universe, and of perpetual change, perpetual transformation, out of which someone with a powerful will can mould, if only temporarily, anything he pleases. That is the central doctrine of the romantic movement [Hervorhebung von mir; P. V.].“202

Damit lässt sich aber nun auch die Frage nach den genuinen theoretischen Konturen der romantischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte beantworten: Insofern alles stets auch anders sein könnte, gerade weil die Kreativität des Menschen alles stets in unbeschränkter Weise anders gestalten könnte, ist auch die menschliche Geschichte in ebenjenem Sinne als kontingent und zufällig zu bezeichnen, in welchem Marquard von Beliebigkeitskontingenz oder vom Beliebigkeitszufälligen spricht, als kontingent und zufällig im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren. Sie, die menschliche Geschichte, könnte stets auch anders sein, insofern und weil der Mensch sie stets und unumschränkt anders machen könnte. Die romantische Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte wendet sich insofern nicht nur – so wie dies ja auch für den Historismus zutrifft – gegen die geschichtsphilosophische Präsumtion historischer Notwendigkeit. Zugleich verweigert sich die Romantik – im Unterschied zum Historismus – dem Gedanken einer Grenze der Verfügbarkeit von Geschichte, unterstellt vielmehr im Gegenteil eine menschlicher Kreativität und menschlicher Willensstärke restlos verfügbare Geschichte. Wie Isaiah Berlins Interpretation der Romantik nimmt auch diejenige von Carl Schmitt ihren Ausgang bei einer Untersuchung des Selbstverständnisses des romantischen Künstlers. Zwar geht Schmitt im Unterschied zu Berlin auf das romantischexpressivistische Ausdrucksmodell von Kunst überhaupt nicht explizit ein. Gleichwohl behauptet er wie Berlin, dass sich der romantische Künstler als ein Schöpfer sieht, der sich nicht an vorgefertigte Regeln halten darf, will er seiner künstlerischen Kreativität keinen Abbruch tun. Die Romantik betrachtet den Künstler, so formuliert es Schmitt, als einen Schöpfer, dem schlichtweg alles zum Anlass und Auslöser seiner Kreativität werden kann und werden soll. Wahrhafte künstlerische Kreativität zeichne demnach aus, dass sie durch nichts zu zügeln sei. „Das geniale Subjekt, das ein Kunstwerk produziert, wird mit Gott, der die Welt schafft, identifiziert“203 , so bringt Schmitt gleichsam die romantische Sakralisierung des künstlerischen Schaffens auf den Punkt. Bereits mit dieser romantischen Verherrlichung des schaffenden Künstlers und einer ungehemmten künstlerischen Kreativität sieht Schmitt eine bestimmte theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall auf intrinsische Weise verknüpft, ohne dass er nun für die Begründung dieses Zusammenhangs auf die romantische Auffassung von Selbstverwirklichung, Kreativität und Willenskraft einzugehen für nötig hielte. Denn bereits und gerade in der schöpferischen Tätigkeit des Künstlers gilt dem Romantiker, so Schmitt, „die gewöhnliche Realität der Kausalzusammenhänge überwunden, der Künstler kann, ohne sich in den Mechanismus der Kausalität zu begeben, eine Schöpferkraft betätigen.“204 202 203 204

Ebd., S. 116. Carl Schmitt, Politische Romantik, a.a.O., S. 109. Ebd., S. 110.

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Im nächsten, im zweiten Schritt seiner Interpretation verweist Schmitt, ebenso wie Berlin, darauf, dass die Romantik die potenziell unbeschränkte Kreativität des Künstlers in allen Lebensbereichen realisiert wissen will, die Grenzen zwischen Kunst und Leben einebnen, die sie trennenden Schranken zum Einsturz bringen will. Schmitt spricht diesbezüglich von einer „Ausdehnung des Ästhetischen“205 oder einer „Expansion des Ästhetischen“206 , wobei er ebenso wenig wie Berlin seine konkreten Belege für die der Romantik unterstellte Würdigung der praktischen Relevanz von Kunst ausweist. Mit Hilfe dieser Annahme einer romantischen „Expansion des Ästhetischen“ sucht Schmitt übrigens auch zu erklären, dass sich die Romantiker mit ganz unterschiedlichen politischen Parteien und Visionen arrangieren konnten, mit Napoleon ebenso wie mit der Französischen Revolution, mit den politischen Vorstellungen des Vormärz ebenso wie mit jenen Metternichs, solange diese sich nur als Vehikel für die Ausübung schöpferischer Kreativität verstehen ließen. Alles konnte den Romantikern zum Gegenstand politischer Bewunderung werden, solange es nur diese eine Bedingung erfüllte: „Ob monarchische oder demokratische, konservative oder revolutionäre Gedanken romantisiert werden, ist für das Wesen des Romantischen gleich, sie bedeuten nur occasionelle Anknüpfungspunkte für die romantische Produktivität des schöpferischen Ich.“207 Zugleich ist mit der „Expansion des Ästhetischen“ in den Bereich politischer Ideale oder noch umfassenderer Ideale der Lebensgestaltung auch ein bestimmter normativer Anspruch formuliert: Schöpferisch tätig zu sein, wird für die Romantik unbedingte Voraussetzung eines gelungenen Lebens. Das Individuum wird der Romantik, so formuliert es Schmitt, zum „Dombaumeister an der Kathedrale seiner Persönlichkeit“208 . Freilich konzediert Schmitt im weiteren Verlauf seiner Argumentation in Politische Romantik den Unterschied zwischen einem aktivischen Strang der Romantik, der sich Fichte verpflichtet wisse, insofern er die Welt tatsächlich als „schöpferische Tat des Ich“209 begreife, und einem passivisch gesinnten Strang der Romantik, der nicht auf die Wirklichkeit einwirken, sondern Stimmungen erzeugen wolle, die sich wiederum gar nicht auf die Widerständigkeit jener Wirklichkeit einließen, sondern vielmehr jede Facette der Wirklichkeit als Stimulans für die Erzeugung aller nur erdenklichen Attitüden, Erlebnisse, Phantasien und Gefühle benützten. Diesem zweiten Strang der Romantik, den Schmitt anders als Berlin für den ideengeschichtlich bedeutsameren und wirkungsmächtigeren hält, wird die gesamte Wirklichkeit zum Gegenstand und Anreiz für die Ausübung der eigenen ästhetischen Bedürfnisse. Beiden Strängen der Romantik ist laut Schmitt immerhin gemein, dass sie die Wirklichkeit den eigenen Idealen gemäß zu instrumentalisieren trachten. In beiden Fällen wird der Romantik nach einer Formulierung des bereits er-

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

17. 16 bzw. S. 166. 167. 21. 100.

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wähnten Siegbert Elkuß die Wirklichkeit zu einem geistigen Mittel, die „Souveränität des Ichs“210 zu steigern.211 So wie Berlin entfaltet auch Schmitt seine Sichtweise der Romantik vor einem weite Perspektiven und Kontexte umgreifenden ideengeschichtlichen Horizont: Die bislang im Mittelpunkt seiner Interpretation stehenden Merkmale der Romantik, ein bestimmtes ästhetisches Selbstverständnis des Künstlers sowie ein bestimmtes, sich aus der Expansion dieses Selbstverständnisses ergebendes Ethos der Kreativität, gleichviel, ob dieses mehr in einem aktiven oder mehr in einem passiven Sinne gedeutet wird, jedenfalls eine Mediatisierung der äußeren Wirklichkeit als uneingeschränktes Vehikel ebendieser Kreativität, diese Merkmale will Schmitt als Subjektivierung jener Philosophie und Theologie des Occasionalismus verstanden wissen, wie sie Malebranche im 17. Jahrhundert vorgestellt hatte: Für Malebranche war Gott die Ursache für alles Geschehen dieser Welt, und die Welt wiederum war occasio für Gottes Allmacht, „bloßer Anlass seiner alleinigen Wirksamkeit.“212 Insofern nun aber die Romantik laut Schmitt das schöpferisch tätige Subjekt an die Stelle Gottes setzt und alles Geschehen in der Welt als occasio für die unbeugsame Kreativität eines schöpferischen Individuums bestimmt, soll sie sich gerade als Subjektivierung dieses Occasionalismus begreifen lassen: „Die Romantik ist“, schreibt Schmitt, „subjektivierter Occasionalismus, d.h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität.“213 In Novalis’ Wort, wonach dem Romantiker die ganze Welt zum „Anfang eines unendlichen Romans“214 wird, erblickt Schmitt die paradigmatische Formulierung für solchermaßen subjektivierten Occasionalismus: „Wahre Realität hat also nur, was vom Subjekt zum Gegenstand seines schöpferischen Interesses gemacht wird. Das Subjekt ist durch eine einfache Umkehrung Schöpfer der Welt geworden.“215 Die romantische Mediatisierung der äußeren Wirklichkeit und die romantische Verherrlichung des schöpferischen Individuums – in der Kunst wie in allen anderen Lebensbereichen – sowie das diesen Vorstellungen zugrunde liegende ideengeschichtliche 210

211

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Siegbert Elkuß, Zur Beurteilung der Romantik und zur Kritik ihrer Erforschung, München/Berlin 1918, S. 81. Gerade an dieser Mediatisierung der äußeren Wirklichkeit entzündet sich Schmitts scharfe Kritik der Romantik. Der Vorwurf der romantischen Weltlosigkeit prägt übrigens auch noch Hannah Arendts Kritik des modernen Intellektuellen, wie sie sich in ihrem Totalitarismus-Buch findet. Denn den modernen Intellektuellen soll für Arendt ebenfalls auszeichnen, dass er alles zum Anlass nimmt und nehmen kann, sich etwas einfallen zu lassen, und eine derartige Mentalität deutet auch Arendt als Konsequenz der ideengeschichtlichen Innovationen der Romantik. In Bezug auf die Romantiker schreibt sie: „Was diese ersten modernen Intellektuellen in Wahrheit verbreiteten, war aber nun ganz und gar nicht diese oder jene Meinung und Ideologie, sondern die spezifische Mentalität der modernen und besonders der modernen deutschen Gelehrten, die ja inzwischen mehr als einmal bewiesen haben, dass es keine mögliche Ideologie gibt, die sie nicht zu beweisen imstande sind, oder richtiger, zu der ihnen nicht etwas einfallen kann.“ Vergleiche hierzu Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986 (1951), S. 370. Carl Schmitt, Politische Romantik, a.a.O., S. 18. Ebd., S. 19. Vergleiche dazu Anmerkung 218 auf S. 413 f. dieses Kapitels. Carl Schmitt, Politische Romantik, a.a.O., S. 104.

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Fundament eines subjektivierten Occasionalismus schließen aber nun laut Schmitt drittens, und damit berührt endlich auch seine Interpretation die Frage und das Thema der romantischen Auffassung von Geschichte, den Gedanken wie auch immer verstandener Notwendigkeiten in der menschlichen Geschichte prinzipiell aus; alles wird „in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar“216 , wenn die Möglichkeiten der schöpferischen Tätigkeit als unbegrenzt gedacht werden, die Welt lediglich als Vehikel für diese schöpferische Tätigkeit betrachtet wird: „Die romantische Haltung wird am klarsten durch einen eigenartigen Begriff bezeichnet, den der occasio. Man kann ihn mit Vorstellungen wie Anlaß, Gelegenheit, vielleicht auch Zufall umschreiben. Aber seine eigentliche Bedeutung erhält er durch einen Gegensatz: er verneint den Begriff der causa, das heißt, den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit, dann aber auch jede Bindung an eine Norm. Er ist ein auflösender Begriff, denn alles, was dem Leben und Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt – sei es die mechanische Berechenbarkeit des Ursächlichen, sei es ein zweckhafter oder ein normativer Zusammenhang –, ist mit der Vorstellung des bloß Occasionellen unvereinbar. Wo das Gelegentliche und das Zufällige zum Prinzip wird, entsteht eine große Überlegenheit über solche Bindungen.“217 Schmitts These bezüglich der romantischen Auffassung menschlicher Geschichte ist also diese: Statt an eine notwendige Wirklichkeit oder an eine Wirklichkeit ursächlicher Wirkungszusammenhänge oder zumindest zurechenbarer Konsequenzen oder gar an eine jeder individuellen Kreativität unverfügbare Dimension in der menschlichen Geschichte zu glauben, feiert die Romantik eine Welt unbegrenzter occasiones als Bühne für die Präsentation individueller Kreativität, welche keinerlei fremden Regeln unterliegt, lediglich den eigenen schöpferischen Impulsen und Präferenzen zu gehorchen hat, und folgert daraus, dass schließlich alles „Leben und Geschehen“ schlechthin und insofern auch die menschliche Geschichte kontingent und zufällig im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren sind. Ebenso wie bei Berlin stehen somit auch in Schmitts Interpretation romantisches Kreativitätsethos und romantische Kontingenz- und Zufallssensibilität nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind intrinsisch miteinander verschränkt. Das romantische Ethos unbeschränkter Kreativität und eine Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren in aller äußeren Wirklichkeit und in der historischen Wirklichkeit bedingen sich wechselseitig. Dieser systematische Zusammenhang wird für Schmitt in paradigmatischer Weise deutlich, halte man sich Novalis’ soeben angedeutetes Wort von der Möglichkeit, alles zum Anfang eines unendlichen Romans werden zu lassen, stets also den eigenen Lebensroman fortschreiben zu können, in seiner Gänze vor Augen. Vollständig heißt es bei Novalis nämlich: „Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Wer viel Geist hat macht viel aus seinem Leben – Jede Be-

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Ebd., S. 19. Ebd., S. 18.

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H  R: D U   V kanntschaft, jeder Vorfall wäre für den durchaus Geistigen – erstes Glied einer unendlichen Reihe – Anfang eines unendlichen Romans.“218

In ähnlicher Weise findet sich dieser Gedanke übrigens auch in einem anderem Fragment des Novalis formuliert: „Nichts ist romantischer, als was man gewöhnlich Welt und Schicksal nennt – Wir leben in einem colossalen (im Großen und Kleinen) Roman.“219 In ebendiesem Sinne deklamiert Heinrich im Gespräch mit Sylvester im Heinrich von Ofterdingen: „Ich weiß nur so viel, dass für mich die Fabel Gesamtwerkzeug meiner gegenwärtigen Welt ist. Selbst das Gewissen, diese Sinn und Welten erzeugende Macht, dieser Keim aller Persönlichkeit, erscheint mir wie der Geist des Weltgedichts, wie der Zufall der ewigen, romantischen Zusammenkunft des unendlich veränderlichen Gesamtlebens.“220 Die „Zufälle unseres Lebens“, das, was man gemeinhin „Welt und Schicksal“ nennt, sie sind Novalis also Voraussetzung dafür, das Leben zum „Anfang eines Romans“ werden zu lassen. Und umgekehrt erblickt ein Leben im Sinne eines Romans in diesen Zufällen ausschließlich das beliebig verfügbare Material für diesen Roman. Schmitt kommentiert diesen Gedanken und diese Ausdrucksweise des Novalis, alle „Zufälle unseres Lebens“ zum „Anfang eines unendlichen Romans“ werden zu lassen, folgendermaßen: „Dieses Fragment gibt die eigentliche Formel des Romantischen. [...] Die äußere Welt und die historische Wirklichkeit ist für die romantische Leistung nur insofern von Interesse, als sie, um jenen Ausdruck des Novalis zu gebrauchen, Anfang eines Romans sein kann: das gegebene Faktum wird nicht in einem politischen, historischen, rechtlichen oder moralischen Zusammenhang sachlich betrachtet, sondern ist Gegenstand ästhetischgefühlsmäßigen Interesses, etwas, woran der romantische Enthusiasmus sich entzündet [Hervorhebung von mir; P. V.].“221 Der Mensch kann sich nur in einer Welt und in einer Geschichte verwirklichen, die von Zufall und Kontingenz gekennzeichnet sind, und die „äußere Welt und die historische Wirklichkeit“ sind insofern und deshalb von Zufall und Kontingenz gekennzeichnet, weil der Mensch oder doch zumindest der Künstler sie beliebig zu formen und über sie zu verfügen stets in der Lage ist: in diesen beiden Thesen summiert sich für Schmitt das Denken der Romantik sowie ihre theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte wie in den vielen Geschichten des Lebens schlechthin im Sinne eines Verfügbaren. Für das Gebiet der Geschichtstheorie im engeren Sinne hat nun diese systematische und prinzipielle Verschränkung von Kreativitätsethos und theoretischer Sensibilität für 218

219

220 221

Novalis, Schriften. Zweiter Band. Das philosophische Werk I, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, a.a.O., S. 437 f. Novalis, Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Darmstadt 1983, S. 434. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1965, S. 171. Carl Schmitt, Politische Romantik, a.a.O., S. 92 f.

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Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren, wie sie sowohl Berlin als auch Schmitt der Romantik unterstellen, zwei weitreichende theoretische Konsequenzen: Erstens impliziert sie einen Protest gegen die theoretische Plausibilität von Kategorien wie causa und telos und widerspricht darauf basierenden Modellen des Geschichtsverlaufs. Jede Präsumtion einer historischen Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit wird unhaltbar, wenn die historische Wirklichkeit als occasio für das schöpferisch tätige Individuum verstanden werden kann. Menschliche Kreativität verunmöglicht jeden Gedanken einer historischen Notwendigkeit und verbürgt die Existenz von Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte. Aber dieses Bewusstsein für Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte äußert sich in der Romantik, und darin besteht die zweite Konsequenz, in ganz anderer Weise als im Historismus: Der Widerspruch gegen die Idee historischer Notwendigkeit paart sich nicht mit einem Sinn für die Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichte, weist gerade nicht den Weg zu einer theoretischen Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in der Geschichte. Vielmehr basiert das romantische Bewusstsein für Kontingenz und Zufall in der Geschichte auf der Annahme einer restlosen Verfügbarkeit von Geschichte, sensibilisiert daher nicht für das Unverfügbare in der Geschichte, für das, was Marquard das Schicksalszufällige oder Schicksalskontingenz nennt, sondern für jenen Typus von Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte, den Marquard als das Beliebigkeitszufällige oder als Beliebigkeitskontingenz bezeichnet. So wie dabei im Historismus eine Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare des menschlichen Lebens schlechthin mitunter an die Stelle einer Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in dem Bereiche ausschließlich der menschlichen Geschichte treten kann, so changieren auch in der Romantik ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in der Geschichte und ein Bewusstsein für das unbeschränkt Verfügbare in den Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin auf mitunter schwer zu trennende Weise. So sind für die Romantik Geschichten wie Geschichte als kontingent und zufällig im Sinne eines Verfügbaren zu bezeichnen, gerade weil die Kreativität des Menschen prinzipiell und uneingeschränkt alles stets in anderer Weise gestalten und machen könnte. Die romantische Sensibilität für das unbeschränkt Verfügbare in den vielen Geschichten und in der einen menschlichen Geschichte wendet sich insofern nicht nur – so wie dies ja auch für den Historismus zutrifft – gegen die geschichtsphilosophische Präsumtion historischer Notwendigkeit. Zugleich verweigert sich die Romantik – im Unterschied zum Historismus – dem Gedanken einer unhintergehbaren Grenze der Verfügbarkeit von Geschichten und Geschichte, unterstellt vielmehr im Gegenteil eine menschlicher Kreativität restlos verfügbare Geschichte und die uneingeschränkte Verfügbarkeit von Geschichten. So viel zu Berlins und Schmitts Interpretation der Romantik: Ebenso wie am Ende des zweiten Abschnitts dieser Kapitels stellt sich natürlich nun auch für den dritten Abschnitt die Frage, für welchen Autor oder Protagonisten der Romantik im Einzelnen sich die unterstellte intrinsische Verschränkung von Kreativitätsethos und Sensibilität für Kontingenz und Zufall in den vielen Geschichten eines menschlichen Lebens so wie auch in der menschlichen Geschichte im Besonderen nachweisen können lassen soll. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, gibt ein wesentliches Desiderat zumindest von Schmitts Interpretation und Kritik der Romantik zu erkennen: Schmitt stellt in der Einleitung seiner Politischen Romantik die These auf, Adam Müller und Fried-

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rich Schlegel seien die beiden wichtigsten Vertreter der Romantik in Deutschland. Auf Friedrich Schlegel indes geht er im Fortgang seiner weiteren Ausführungen überhaupt nicht ein. Mit Müller wiederum setzt sich Schmitt lediglich in der Form einer verbitterten und höchst subjektiven Invektive auseinander. Unabhängig davon hatte Schmitt in nicht besonders aufschlussreicher Weise in seinem nachträglich verfassten Vorwort von 1924 Nietzsche, Byron und Baudelaire als die „drei Hohepriester“222 der Romantik bezeichnet, also im Grunde keinen einzigen jener Namen erwähnt, die heute in jeder Diskussion als konstitutiv für die Romantik erachtet werden. Abgesehen von diesen Namen ließen die bisherigen Ausführungen deutlich werden, dass sich Schmitt an einer der systematisch bedeutsamsten Stellen seiner Deutung der Romantik besonders ausdrücklich auf Novalis bezieht. Aber auch diese Tatsache hat Schmitt nicht zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Novalis’ Texten veranlassen können. Um die romantische Verschränkung von Kreativitätsethos und theoretischem Bewusstsein für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren konkret für einzelne Autoren nachweisen und belegen zu können, bleiben Schmitts Äußerungen zu einzelnen Vertretern der Romantik viel zu fragmentarisch. Deshalb wendet sich der nunmehr anstehende Versuch, die romantische Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren in der menschlichen Geschichte wie in den menschlichen Geschichten ausführlich zu illustrieren, zunächst noch einmal an Isaiah Berlins skizzierte Interpretation der Romantik und orientiert sich zumindest anfänglich vorrangig an jenen Autoren, die Berlin selbst immer wieder als Protagonisten der Romantik präsentiert und hinsichtlich des spezifisch romantischen Bewusstseins für einen spezifischen Typus von Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte für entscheidend hält, an bestimmten Autoren des Sturm und Drang, wie J. M. R. Lenz, an literarischen Protagonisten der Romantik, wie Ludwig Tieck, E. T. A. Hoffmann, Friedrich Schlegel oder Novalis, oder auch an Johann Gottlieb Fichte. Darüber hinaus werde ich ganz zu Ende dieses Kapitels abschließend noch auf zwei Vertreter der „Hochromantik“ (Hermann August Korff) eingehen, nämlich auf Heinrich von Kleist und Joseph von Eichendorff, die freilich in Berlins Deutung der Romantik keinerlei Erwähnung finden, und anhand ihrer Werke und Äußerungen demonstrieren, wie sich bei späten Vertretern der Romantik das Pathos eines prinzipiell verfügbaren Zufalls oder einer prinzipiell verfügbaren Kontingenz in der menschlichen Geschichte wie in den Geschichten des menschlichen Lebens zunehmend verbraucht. Einen entscheidenden Vorläufer für die spezifisch romantische Form von Kontingenz- und Zufallssensibilität erblickt Berlin in Johann Georg Hamann. Hamann, nicht Vico oder Herder, die in anderen Hinsichten für Berlins Sichtweise des ideengeschichtlichen Konflikts zwischen Aufklärung und Romantik zweifellos von größerer Bedeutung sind, Hamann also gilt Berlin als ein entscheidender ideengeschichtlicher Wegbereiter jenes Protestes gegen den Glauben an Notwendigkeiten welcher Art auch immer und als Inaugurator jener Form theoretischer Sensibilität für Kontingenz und Zufall, wie sie später die Romantik vertreten sollte. Dabei ist es bemerkenswert, dass Berlin in seinem Hamann-Buch Der Magus in Norden Hamanns Form von Kontingenz- und Zufallssensibilität ausdrücklich von den Vorläufern und 222

Ebd., S. 21.

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Exponenten des Historismus abgrenzt: „Hamann ist kein Historist, er glaubt nicht an Entwicklung, ist zumindest nicht an einer solchen interessiert.“223 Die Unterscheidung, die Berlin hier vornimmt, hat weitreichende theoretische Folgen: Denn inwiefern, so lässt sich fragen, hat Hamann Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte betont, wenn er dies nicht im Sinne des Historismus getan haben soll? Berlin konturiert Hamanns grundsätzliche Kontingenz- und Zufallssensibilität zunächst dadurch, dass er an Hamanns Einspruch gegen Lessings Kontrastierung von zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten erinnert. Lessing hatte diese Dichotomie, der „garstige breite Graben“, den er selbst, Lessing, nicht überwinden könne, „sooft und ernstlich“224 er auch den Sprung versuche, zu einer theoretischen Geringschätzung aller zufälligen und kontingenten Geschichte und der auf sie bezogenen, zeitbedingten Erkenntnisse veranlasst. Hamann widerspricht aber bereits Lessings Gegenüberstellung von einer kontingenten und deswegen gering zu schätzenden Geschichte und einer allgemein gültigen, weil geschichtslosen Vernunft. Für Hamann ist vielmehr alles kontingent. Alles könnte auch anders sein. Ja, die Unterstellung von historischen Notwendigkeiten erachtet Hamann gemäß Berlins Interpretation geradezu als eine Beleidigung von Gottes Schöpfung: „Vor allem der Idee der Notwendigkeit [...] gilt Hamanns Kampf. [...] Es bedarf keiner Brücke zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten, weil die Gesetze der Welt, in der der Mensch lebt, so kontingent sind wie die ‚Fakten‘ darin. Alles, was ist, könnte auch anders sein, wenn Gott es so gewollt hätte, und kann noch immer anders werden. [...] Hamann verwirft gerade die Vorstellung einer Wesenheit, aus der grundsätzlich notwendige Charakteristika oder – noch verrückter – eine notwendige Vergangenheit und Zukunft deduziert werden könnten.“225 Weil und insofern alle Geschichte kontingent ist, kann der Mensch aber auch in dieser Geschichte schöpferisch tätig sein. Und andererseits verblassen, so deutet Berlin das Denken Hamanns, vor dem schöpferischen Genie alle historischen Notwendigkeiten: „Die Natur [...] ist [...] eine Gleichung mit zumindest einer Unbekannten, und wir können diese Unbekannte nur im Handeln ergründen, nicht in der Kontemplation nach Regeln.“226 Wie zutreffend Berlins Interpretation von Hamanns Verständnis der menschlichen Geschichte auch sein mag, mit Hamann wird ganz offenkundig und allenfalls das Werk eines Vorläufers oder Wegbereiters der Romantik verhandelt. Denn mag es auch zutreffend sein, dass sich in Hamanns Werk eine bestimmte theoretische Sensibilität für die Kontingenz der menschlichen Geschichte artikuliert, so gilt es doch festzuhalten, dass Hamann im Gegensatz zur Romantik, wie sie Berlin oder Schmitt verstanden wissen 223

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Isaiah Berlin, Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus, Berlin 1995, S. 158. Gotthold Ephraim Lessing, „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ (1777), in: Gesammelte Werke, Band 8, herausgegeben von Paul Rilla, Berlin 1956, S. 14. Isaiah Berlin, Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus, a.a.O., S. 73 f. Ebd., S. 136.

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möchten, die Kontingenz der Welt nicht aus der Kreativität des Menschen, sondern aus der Kreativität des Schöpfergottes ableitet, er also die These einer contingentia mundi mit der Lehre einer göttlichen creatio ex nihilo verknüpft. Und gerade auch die Kontingenz bezüglich der Dimension der menschlichen Geschichte bringt Hamann nicht, zumindest nicht vorrangig, mit der menschlichen Kreativität in jener Weise in Verbindung, wie sie im Anschluss an Berlin und Schmitt als ein wesentliches theoretisches Standbein der Romantik aufgefasst werden sollte. Vielmehr führt Hamann sowohl die Faktizität der Welt schlechthin als auch ihre geschichtliche Verfassung unmittelbar auf Gottes Wirken zurück. Selbst ein menschliches Genie, welches alle Ketten der Notwendigkeit zu sprengen vermöchte, artikuliert Hamann zufolge lediglich einen durch göttliche Gnade zuteil gewordenen Genius. Insofern formuliert Hamann weder den historistischen Gedanken einer immanenten und antiteleologischen und unberechenbaren und daher stets und unhintergehbar auch, wenn auch nicht ausschließlich unverfügbaren Entwicklung der menschlichen Geschichte noch die romantische Vorstellung einer grenzenlosen Verfügbarkeit der Geschichte. Vielmehr beruht sein Protest gegen die Präsumtion und Idee historischer Notwendigkeit auf der theoretischen Verpflichtung gegenüber dem Kontingenzbegriff der christlichen Schöpfungstheologie.227 Jene spezifisch romantische Sensibilität für das Verfügbare in der menschlichen Geschichte, die an die Stelle göttlicher Allmacht ein bestimmtes Ethos menschlicher Kreativität setzt und insofern eine Sensibilität für das unbeschränkt Verfügbare in der Geschichte, welche sich schließlich auch auf die Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin beziehen kann, lässt sich nun in der Tat für die Epoche der Sattelzeit und anders als bei Hamann anhand einer ganzen Reihe von Autoren verdeutlichen: Bereits die Literatur des Sturm und Drang, insbesondere der Genie-Begriff dieser Literatur, lässt sich als eine bestimmte Form der Verarbeitung von Kreativitätsethos und Kontingenzsensibilität deuten. Schließlich lässt sich mit dem Befund, welchen Jochen Schmidt in seiner Untersuchung über Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945 bezüglich Goethes Hymnen aus seiner Sturm und Drang-Periode, insbesondere über des „Wandrers Sturmlied“, 1772 entstanden, formuliert, die literatur- und kulturhistorische Bewegung des Sturm und Drang ganz allgemein trefflich umschreiben: „Der von genialer Kraft Erfüllte besiegt alle Anfechtungen der Welt.“228 Anfechtungen, die es zu akzeptieren gälte, Unverfügbares, in das einzuwilligen wäre, solche Vorstellungen können gerade von dem Autonomieideal des Sturm und Drang nicht akzeptiert werden: „Das Genie soll ganz autonom sein. Jedwede Abhängigkeit von außen wird als schwächliche Heteronomie abgelehnt.“229 Nirgendwo findet sich diese Grundsatzerklärung zugunsten einer prinzipiell schrankenlosen menschlichen Autonomie offenkundiger formuliert und prominenter präsent als in Goethes „Prometheus“. In diesem Sinne deutet Schmidt Goethes literarische Verarbeitung des Prometheus-Mythos als Inbegriff einer durch 227

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Vergleiche zum Kontingenzbegriff der christlichen Schöpfungstheologie meine Ausführungen im ersten Abschnitt des dritten Kapitels dieser Arbeit, S. 194–208. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, a.a.O., S. 228. Ebd., S. 242.

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menschliche Genialität verbürgten Autonomieerklärung und „Selbstermächtigung des modernen Menschen“: „Die Ausbildung der Genie-Idee in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehört einer allgemeineren Bewusstseinsentwicklung an, die zu einem innerweltlichen Verständnis des menschlichen Daseins und zur Selbstermächtigung des modernen Menschen tendiert. Der ganz aus sich heraus schaffende autonome Künstler Prometheus ist Exponent einer Menschheit, die sozial, politisch und geistig nach Selbstbestimmung strebt. Das Autonomie-Konzept signalisiert die Loslösung von überkommenen Autoritäten. Es gilt der Emanzipation aus nicht mehr plausiblen Abhängigkeiten – von poetischen Regeln und literarischen Vorbildern wie von ständischen Grenzen und religiösen Fixierungen. Diese Loslösung, die als Lossagung vom gültigen Gottesbild in Goethes Prometheus-Ode ihre größte Sprengkraft erreicht, konnte als kritisch-negativer Vorgang nicht stattfinden, ohne dass man sich auf eine neue, plausiblere Autorität berief. Dem neuen Selbstbewusstsein entsprechend wurde sie dem auf seine eigene Produktivkraft vertrauenden Genie zugesprochen.“230 In dieser Hinsicht typisch, wenngleich auch in ein hedonistisches Extrem gesteigert231 , verfährt Heinses Roman Ardinghello und die glückseeligen Inseln von 1787, diese „Freigeisterei der Leidenschaft“232 , wie Hermann August Korff dieses Werk einmal charakterisiert hat. Heinses Roman verdeutlicht die Figur des allen historischen und natürlichen Gewalten strotzenden individuellen Willens, der sich durch keinerlei Präsumtion von das Leben einzwängenden Regeln oder Notwendigkeiten beeindrucken lässt. „Jedes Wesen darf von Natur um sich greifen, so viel es Macht hat“, heißt es bei Heinse. Aufrufe zur Disziplinierung oder Zügelung der Leidenschaften werden hingegen als Ausdruck „barbarischer Gesetzgebung“233 disqualifiziert. Dass in der Literatur des Sturm und Drang jenes Kreativitätsethos oder dieser Geniekult – wie später in der Romantik – durchaus mit einer spezifischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall im menschlichen Leben wie in der menschlichen Geschichte theoretisch vermengt sein können, zeigt ein Blick auf Jakob Michael Reinhold Lenz. Seinem kurzen Text über den Götz von Berlichingen ist in einer, wie ich finde, unüberbietbaren Weise sowohl ein spezifisches Kreativitätsethos wie ein Protest gegen jedwede das menschliche Leben einengende oder die menschliche Geschichte vermeintlich dirigierende Notwendigkeit eigen, und insofern gibt sich in seinen Ausführungen durchaus schon jenes romantische Plädoyer für das unbeschränkt Verfügbare in der Geschichte und in den Geschichten zu erkennen, wie es von Berlin 230 231

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Ebd., S. 264. Vergleiche dazu die Äußerung von Jochen Schmidt: „Heinse feiert das autonome Individuum im Zeichen eines zum Höchsten gesteigerten Genusslebens, während bislang das Genie primär schaffend und werkorientiert vorgestellt worden war. Unverhüllter als sonst tritt daher bei ihm das egozentrische Element der Genie-Ideologie hervor.“ (ebd., S. 319) Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte. III. Teil Romantik: Frühromantik, Leipzig 1940, S. 207. Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseeligen Inseln, Leipzig 1911 (1787), S. 155 bzw. S. 111.

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und Schmitt als ein die Romantik in grundsätzlicher Weise prägendes Moment betont wird, und wie wir es anhand einer ganzen Reihe von Autoren noch nachweisen werden: „[...] es entsteht eine Lücke in der Republik wo wir hineinpassen – unsere Freunde, Verwandte, Gönner setzen an und stoßen und treiben – bis wir wenn’s noch so ordentlich geht abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen – das ist, meine Herren! ohne Ruhm zu melden unsere Biographie – und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglichkünstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser oder schlimmer hineinpasst. [...] Ha er muß in was Besserm stecken, der Reiz des Lebens: denn ein Ball anderer zu sein, ist ein trauriger niederdrückender Gedanke, eine ewige Sklaverei, eine nur künstlichere, eine vernünftige aber eben um dessentwillen desto elendere Tierschaft. Was lernen wir hieraus? [...] Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfündeln, daß wir dadurch allein Gott ähnlich werden, der unaufhörlich handelt und unaufhörlich an seinen Werken sich ergötzt: das lernen wir daraus, daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei, daß die allein unserm Körper mit allen seinen Sinnlichkeiten und Empfindungen das wahre Leben, die wahre Konsistenz den wahren Wert gebe, daß ohne denselben all unser Genuß all unsere Empfindungen, all unser Wissen doch nur ein Leiden, doch nur ein aufgeschobener Tod sind. Das lernen wir daraus, daß diese unsere handelnde Kraft nicht eher ruhe, nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz zu handeln: Guter Gott Platz zu handeln und wenn es ein Chaos wäre das da geschaffen, wüste und leer, aber Freiheit wohnte nur da und wir könnten dir nachahmend drüber brüten, bis was herauskäme – Seligkeit! Seligkeit! Göttergefühl das!“234 Es ist, dies lässt sich dieser längeren Passage unschwer entnehmen, die Sorge um die Möglichkeit kreativen Handelns angesichts der Unterstellung eines vollends determinierten Universums, welche Lenz in derartige Rage treibt. Wenn nämlich die „Helvetiusse“235 , wie es bei Lenz mit unverkennbarer Geringschätzung heißt, und ihre Vorstellung von Geschichte und Natur tatsächlich Recht behielten, dann wären wir tatsächlich nur ein „Ball der Umstände“236 . Das aber will Lenz niemals zugeben. Der Mensch könne durch sein Handeln und seine Kreativität die Welt in eine bestimmte Richtung lenken – „das soll keine Deklamation sein, Ihr Herren, wenn Ihr Gefühl Ihnen nicht sagt, daß ich recht habe, so verwünscht ich alle Rednerkünste, die Sie auf meine Partei neigten, ohne Sie überzeugt zu haben“237 –, und weil und insofern er dies könne, seien diese Welt und ihre Geschichte eben keine große Maschine unvermeidbarer „Weltbegebenheiten“, vielmehr kontingent und zufällig im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren.

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Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über Götz von Berlichingen“, in: Werke, Stuttgart 1992, S. 403 f. Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über die Natur unsers Geistes“, in: Werke, a.a.O., S. 448. Ebd., S. 447. Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über Götz von Berlichingen“, in: Werke, a.a.O., S. 403.

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Den im Namen individueller Kreativität formulierten Widerstand gegen eine unwiderruflich notwendige oder unveränderlich unverfügbare Ordnung der Welt und der Geschichte, der sich das Individuum allenfalls unterwerfen könne, insofern eben auch eine bestimmte Verschränkung eines Kreativitätsethos mit einer auf spezifische Weise verstandenen Affirmation des Verfügbaren in Leben und Geschichte, sie lassen sich, um nun auf die Frühromantik und die Literatur zu sprechen kommen, auch dem literarischen Schaffen von Ludwig Tieck entnehmen. Jedenfalls hat Berlin Tiecks Werk genau so verstehen wollen: „Die Theaterstücke und Romane der deutschen Frühromantik sind von dem Bestreben erfüllt, die Vorstellung von einer stabilen, intelligiblen Realitätsstruktur, die von gelassenen Beobachtern beschrieben, klassifiziert, zerlegt und vorausgesagt werden kann, als Trugbild und Täuschung zu entlarven, als einen Vorhang äußerer Erscheinungen, der jene schützen soll, die nicht empfänglich oder nicht mutig genug sind, sich der Wahrheit des erschreckenden Chaos hinter der falschen Ordnung des bürgerlichen Daseins zu stellen.“238 Bei Novalis heißt es einmal in ebendiesem Sinne, „die ganze Poësie beruht auf thätiger Idéenassociation – auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallsproduktion“239 . Und an anderer Stelle schreibt Novalis in ebendiesem Sinne: „Das Mährchen ist gleichsam der Canon der Poësie – alles poëtische muß mährchenhaft seyn. Der Dichter betet den Zufall an [Hervorhebung von mir; P. V.].“240 Auch für Tieck gibt es keine Regeln und keine Regelmäßigkeit, dies gilt für die Welt ebenso wie für das Theater, und der Grund dafür ist, dass der Mensch über eine schöpferische Kreativität verfügt, die sich durch keine Vorschriften zügeln lässt, ja die erst in dem Maße ihren Ansprüchen gerecht wird, wie sie sich allen Regeln widersetzt. Und umgekehrt: Weil der Mensch über diese unbeschränkte schöpferische Kreativität verfügt, weil nicht nur gemäß Novalis’ soeben zitiertem programmatischen Aufruf zu einem „Rendezvous mit dem Zufall“ (Marcel Duchamp), sondern nun eben auch in Tiecks Theaterstücken, wie es Berlin formuliert, der „Wille [...] nach Belieben schalten und

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Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 290. Novalis, Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, a.a.O., S. 451. Ebd., S. 449. Wenn der Dichter, wie Novalis fordert, den Zufall anzubeten hat, liegt die Folgerung nahe, die romantische Behandlung des Zufalls als das Programm einer Kontingenzsteigerung, nicht mehr im eigentlichen Sinne als Kontingenzbewältigung zu begreifen. Der Literaturwissenschaftler Peter Schnyder umschreibt dieses Programm zutreffend so: „Nicht in einer Verweigerung des occasionalistischen Spiels, als welches das Weltgeschehen erscheint, sondern in einer reflektierten Steigerung dieses Hasardspiels liegt demnach die ‚Hoffnung‘ der heraufkommenden Moderne.“ Peter Schnyder, Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glückspiels 1650–1850, Göttingen 2009, S. 284.

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walten“241 kann, kann es auch keine Regeln und keine Regelmäßigkeit geben – auf der Bühne ebenso wenig wie in der Welt. Insofern zeichnet Tiecks Literatur eine theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren in der Welt schlechthin wie in der menschlichen Geschichte aus. Ein wahrhaft kreatives Individuum kann Tieck zufolge keine Grenzen der Verfügbarkeit akzeptieren. Daher und in ebendiesem Sinne gilt für die Welt schlechthin und für die Geschichte, in der sich dieses Individuum vorfindet: sie sind kontingent und zufällig. „So beherrscht mein äußrer Sinn die physische, mein innerer Sinn die moralische Welt. Alles unterwirft sich meiner Willkür, jede Erscheinung, jede Handlung kann ich nennen, wie es mir gefällt; die lebendige und leblose Welt hängt an den Ketten, die mein Geist regiert, mein ganzes Leben ist nur ein Traum, dessen mancherlei Gestalten sich nach meinem Willen formen. Ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen Natur, diesem Gesetz gehorcht alles.“242 Wer spricht diese pathetischen Worte, wer deklariert solchermaßen seine Omnipotenz? Es ist, wen wundert es, William Lovell, der Protagonist von Tiecks gleichnamigem, 1795 und 1796 erschienenen Briefroman, der in dieser Formulierung sein Selbstverständnis als eines durch keine Schranken welcher Art auch immer zähmbaren Genies hinlänglich zu erkennen gibt: „Frei stehe der kühnere Mensch, ohne Stangen und Latten die ihn umgeben, in der hohen Natur da, aus Baumwipfeln und Morgenroth ziehe er seine Philosophie, und schreite wie ein Riese über die Zwerge hinweg, die gleich Ameisen zwischen seinen Füßen kriechen und sich mit kläglicher Emsigkeit mit Sandkörnern schleppen, um den gewaltigen Bau aufzuführen, den ein einziger Fußtritt aus seinen Wurzeln hebt.“243 Dabei, so hat Peter Schnyder demonstriert, artikuliert sich Lovells Auseinandersetzung mit dem Zufall besonders deutlich im seinem Hang zum Glücksspiel, so wenn Lovell von sich selbst behauptet: „Und sollt’ ich den letzten Pfennig wagen und verlieren, so muss ich weiter spielen und entweder nichts übrig behalten, oder meinen Verlust wieder gewinnen! Rund ist das Rad der Glücksgöttin und sie ist blind. Ich will es mit dem Zufalle und mit allen Teufeln aufnehmen.“244

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Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 291. Ludwig Tieck, Schriften. Sechster und Siebter Band. William Lovell, Berlin 1828, S. 353 f. Ludwig Tieck, William Lovell, herausgegeben von Walter Münz, Stuttgart 1986 (1795/1796), S. 199. Hier zitiert nach Peter Schnyder, Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glückspiels 1650– 1850, a.a.O., S. 304 f.

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Spielerische Souveränität im Umgang mit dem Zufall prägt auch Tiecks Drama Die verkehrte Welt von 1798: Schauspieler maßen sich Rollen an, für die sie nicht vorgesehen sind; Zuschauer betreten die Bühne, wie es ihnen gefällt; kein Saalordner und kein Regisseur vermögen sie daran zu hindern; Schauspieler wiederum nehmen im Publikum Platz. Scaramuz, der eigentlich für die Rolle des Narren vorgesehen ist, besteigt in Die verkehrte Welt den Thron des verbannten Apollo und beherrscht das Land nach seinem Belieben. Besonders ausgeprägt findet sich Tiecks theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren, sein Empfinden einer Absenz jeder unverfügbaren Ordnung – sei’s nun in der Natur, in der menschlichen Geschichte oder auf der Bühne des Theaters – schließlich in einem Dialog des Stücks Prinz Zerbino oder Die Reise nach dem guten Geschmack von 1799, welche in unserem Zusammenhang deshalb von besonderem Interesse ist, weil die Figur des „Hanswurst“, dem Leser durch ihre in der ersten Szene des ersten Akts formulierte Polemik gegen die Wirklichkeit („Es gibt gar keine Wirklichkeit“, I, 1) sowie die in einer anderen Szene formulierte Skepsis an der unbezweifelbaren Universalität der Tugend („Wenn ich nun einwürfe, daß ich diesen Trieb, diesen Stachel zur Tugend, nicht in mir fühlte“, II, 2) hinlänglich bekannt, weil dieser Hanswurst in seiner Ablehnung jedweder Unverfügbarkeit oder Notwendigkeit ausdrücklich auch den Begriff des Schicksals theoretisch entkräftet, als sein König angesichts der Reise seines Sohnes, der Reise des Prinzen Zerbino nach dem guten Geschmack, verzweifelt ausruft (III, 8): König: Ach! wie gesagt: wer weiß, was uns bevorsteht! Ein unerbittlich Schicksal lenket uns. Hanswurst: Soll ich mal sprechen, wie’s um’s Herz mir ist? König: Nie anders, wenn die Götter uns beschützen. Hanswurst: So mein’ ich denn, es ist sowohl nicht Schicksal Als Eigensinn des Dichters, wie er sich Benannt, der so sein ganzes Stück verwandelt, Und keinen Menschen bei gesundem Sinne läßt. König: Ach, Freund! was rührst du da für eine Saite! Wie traurig werd’ ich, wenn ich erst bedenke, Daß wir nun vollends gar nicht existieren. Der Idealist ist schon ein elend Wesen, Doch ist er anzunehmen stets genötigt, Daß sein Dasein doch etwas Wahres sei; Doch wir, wir sind noch weniger als Luft, Geburten einer fremden Phantasie, Die sie nach eigensinn’ger Willkür lenkt. Und freilich kann dann keiner von uns wissen,

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H  R: D U   V Was jener Federkiel uns noch bescheert. O jammervoll Geschick dramat’scher Rollen!245

Insofern in dieser Passage der Begriff des Schicksals im Sinne eines vermeintlich Unverfügbaren als Reifizierung ästhetischer Subjektivität dekonstruiert wird, rät Tieck zu ebenjenem spielerischen Umgang mit den stets als unbegrenzt verfügbar unterstellten Widerfahrnissen und Schicksalsschlägen eines Lebens, der uns auch noch in Friedrich Schlegels Lucinde begegnen wird. Schicksal ist nicht anders denn als poetische Fiktion vorzustellen. Ebenso, will dies zugleich besagen, ist die Bewältigung jenes Schicksals durch ästhetische Imagination stets möglich. Ein Jägersmann richtet im Prinz Zerbino in der Höhle des Zauberers Polykomikus in diesem Sinne folgende Worte an die Zuschauer: Habt ihr’s schon je versucht, den Scherz, als Ernst Zu treiben, Ernst als Spaß nur zu behandeln? Mit Leiden Und Freuden Gleich lieblich zu spielen Und Schmerzen Im Scherzen So leise zu fühlen, Ist wen’gen beschieden. Sie wählen zum Frieden Das eine von beiden, Sind nicht zu beneiden: Ach, gar zu bescheiden Sind doch ihre Freuden Und kaum von Leiden Zu unterscheiden. –246 Kontingenz und Zufall als das Unerwartete und Unberechenbare, als das aller Voraussicht, Routine und Normalität Widersprechende, sie dürften auch jedem Leser der Werke E. T. A. Hoffmanns vertraut sein. In dieser Hinsicht ist Hoffmann ein typischer Vertreter der Romantik. „Das Leben ist geheimnisvoll und viel geheimnisvoller als wir ahnen: das ist die Grundüberzeugung der Romantik. Wir leben nicht nur in einer natürlichen, sondern zugleich in einer romantischen Welt, und diese ist die tiefere und wahrere.“247 Ich will die Pointe meiner Ausführungen über die Kontingenz- und Zufallssensibilität in Hoffmanns Werk zunächst an dem Beginn von Hoffmanns 1817 erschienener Erzählung Das öde Haus verdeutlichen: Lelio eröffnet am Beginn dieser Erzählung das Gespräch mit seinen Freunden mit der Feststellung, „dass die wirklichen Erscheinungen im Leben oft viel wunderbarer sich gestalteten als alles, was die regste Phantasie zu erfinden 245

246 247

Ludwig Tieck, Schriften. Zehnter Band. Prinz Zerbino oder Die Reise nach dem guten Geschmack, Berlin 1828, S. 147 f. Ebd., S. 95 f. Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte. III. Teil Romantik: Frühromantik, a. a. O., S. 626.

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trachte.“248 Auch und gerade die menschliche Geschichte, so fährt Lelio fort, gebe davon hinlänglichen Beweis, weshalb „die so genannten historischen Romane, worin der Verfasser in seinem müßigen Gehirn bei ärmlichem Feuer ausgebrütete Kindereien den Taten der ewigen, im Universum waltenden Macht beizugesellen sich unterfängt, so abgeschmackt und widerlich sind.“249 Theodor freilich, der im Anschluss an diese Bemerkungen das Wort ergreift, sucht Lelios Bemerkungen zu korrigieren oder doch immerhin zu präzisieren. Unterschieden werden müsse zwischen dem Wunderlichen und dem Wunderbaren. Es sei nämlich so, „dass wunderlich alle Äußerungen der Erkenntnis und des Begehrens genannt werden, die sich durch keinen vernünftigen Grund rechtfertigen lassen, wunderbar aber dasjenige heißt, was man für unmöglich, für unbegreiflich hält, was die bekannten Kräfte der Natur zu übersteigen, oder wie ich hinzufüge, ihrem gewöhnlichen Gange entgegen zu sein scheint. Daraus wirst du entnehmen, dass du vorhin rücksichts meiner angeblichen Sehergabe das Wunderliche mit dem Wunderbaren verwechseltest. Aber gewiss ist es, dass das anscheinend Wunderliche aus dem Wunderbaren sprosst und dass wir nur oft den wunderbaren Stamm nicht sehen, aus dem die wunderlichen Zweige mit Blättern und Blüten hervorsprossen.“250 Hoffmann unterscheidet, so lassen sich diese Passagen deuten, gleichsam zwischen einer immanenten und einer transzendenten Form von Kontingenz, zwischen einer, wenn man so will, diesseitigen Kontingenz, die Hoffmann als das Wunderliche bezeichnet und welche ihren Sitz in unserer alltäglichen Erfahrung, Natur, sozialen und historischen Welt hat, ohne diese dabei doch zu überschreiten, und einer jenseitigen Kontingenz, die Hoffmann als das Wunderbare bezeichnet und welche die diesseitig erfahrbare Natur und Welt transzendiert, um so noch auf eine ganz andere Sphäre und Quelle von Kontingenz zu verweisen. Wie auch immer: Die Aufklärung und ihre Auffassung von Natur und Geschichte hätten, darin sind sich Lelio und Theodor immerhin einig, sowohl das Wunderliche wie das Wunderbare, beiderlei Varianten konkret erfahrbarer Kontingenz, gleichsam weggespült. Hoffmanns Urteil über eine derart vernunftgläubige und kontingenzblinde Aufklärung steht außer Zweifel: Sie liegt für jeden Leser Hoffmanns, etwa in der Erzählung Klein Zaches genannt Zinnober, deutlich auf der Hand: „Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen- und Abendlied zweistimmig absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen lassen“251 248

249 250 251

E.T.A. Hoffmann, „Das öde Haus“ (1817), in: Der Sandmann/Das öde Haus, Hamburg 2006, S. 36. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. E.T.A. Hoffmann, „Klein-Zaches genannt Zinnober“ (1819), in: Meistererzählungen, Zürich 1963, S. 454.

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, mit diesen Worten fasst der Herrscher Paphnutius das praktische Programm der Aufklärung zusammen. Die Feen hingegen, die „ein gefährliches Gewerbe mit dem Wunderbaren“ betreiben und sich nicht scheuen, „unter dem Namen Poesie ein heimliches Gift zu verbreiten, das die Leute ganz unfähig macht zum Dienste in der Aufklärung“252 , werden von Paphnutius und seinem Minister Andres einem Umerziehungsprogramm unterworfen oder gar des Landes verwiesen. Ein kultivierter Staat, ein aufgeklärtes Gemeinwesen, könne sich schlichtweg keine Wesen bieten lassen, die mit „vorgespannten Tauben, Schwänen, ja sogar geflügelten Pferden“253 , durch die Lüfte zögen, denn es lohne nicht der Mühe, so diese Sachwalter der Aufklärung, „einen gescheiten Akzisetarif zu entwerfen und einzuführen, wenn es Leute im Staate gibt, die imstande sind, jedem leichtsinnigen Bürger unversteuerte Waren in den Schornstein zu werfen“254 . Nicht nur der ironische Tonfall der zitierten Passagen, sondern auch der weitere Verlauf von Hoffmanns Erzählung, die von wunderlichen Begebenheiten und märchenhaften Episoden nur so überquillt, diskreditiert nun freilich die Plausibilität dieses aufklärerischen Programms. Wie anders aber soll sich der Mensch in einer Welt, welche sich den gedanklichen Flachheiten der Aufklärung widersetzt, wie anders soll sich der Mensch in einer wunderlichen Welt alltäglicher Kontingenz, die wiederum aus der Sphäre eines transzendenten Wunderbaren „sprossen“ mag, verhalten? Berlin deutet Hoffmanns Werk als Beschreibung einer Welt, „in der der Wille außer Kontrolle geraten ist und die wirkliche Welt sich als Phantasmagorie darstellt.“255 Die Auflösung aller Ordnung ist ins Absurde gesteigert: „Hoffmann trieb den Krieg gegen die objektive Welt, gegen die Idee der Objektivität schlechthin, bis an die äußersten Grenzen“256 . Inwiefern dieser „Krieg gegen die objektive Welt“ ein gewisses Kreativitätsethos mit einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren verschränkt, dies lässt sich dem Beginn von Hoffmanns Erzählung Rat Krespel von 1817 besonders prägnant entnehmen. Rat Krespel, einer der „allerwunderlichsten Menschen“257 , die dem Erzähler jemals vorgekommen sind, baut sein Haus nicht nach einer vorgegebenen Architektur oder planmäßig entworfenen Skizze; vielmehr lässt er seiner individuellen Kreativität freien Lauf: „Mit irgendeinem Baumeister hatte er nicht gesprochen, an irgendeinen Riß nicht gedacht.“258 Zunächst werden Wände so lange und in einer Manier emporgezogen, wie es Krespel beliebt; danach werden Türen in den Bau eingefügt, ebenfalls ganz wie es Krespels Intuition befiehlt; die unterschiedlichen Größen der Fenster, die Krespel dabei anordnet, widersprechen allen Gesetzen der Statik, jeder Systematik oder sonstigen architektonischen Regel, auch sie stehen ganz in Krespels Belieben. So entsteht ein Haus ganz im Vollzug idiosynkratischer Launen; nur ein solches Haus nämlich, ein Haus, das 252 253 254 255

256 257 258

Ebd., S. 455. Ebd., S. 455. Ebd., S. 456. Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 291. Ebd., S. 291. E.T.A. Hoffmann, „Rat Krespel“ (1817), in: Meistererzählungen, a.a.O., S. 51. Ebd., S. 52.

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vollständig Ausdruck individueller Kreativität ist, vermag keine keine Zwänge mehr auf den in ihm Wohnenden auszuüben oder ihm Notwendigkeiten aufzuerlegen: „So wurden die Schwierigkeiten, die die abenteuerliche Art zu bauen herbeiführen mußte, überwunden, und in kurzer Zeit stand ein völlig eingerichtetes Haus da, welches von der Außenseite den tollsten Anblick gewährte, da kein Fenster dem andern gleich war und so weiter, dessen innere Einrichtung aber eine ganz eigene Wohlbehaglichkeit erregte.“259 Umgekehrt garantiert die Absenz jedweder das Individuum einschränkenden Notwendigkeiten oder Regelmäßigkeiten oder gar von Unverfügbarkeiten, welche willentlichen Strebungen und launenhaften Phantasmen entzogen wären, die Möglichkeit, das Leben in unbeschränkter Weise autonom zu gestalten und als Experimentierfeld der eigenen schöpferischen Kreativität zu betrachten. Insofern charakterisiert Jochen Schmidt zu Beginn des zweiten Bandes seiner Studie zur Geschichte des Genie-Gedankens Hoffmanns Genie-Auffassung am Beispiel des Ritter Gluck zurecht mit den folgenden Worten „Die surrealistische Struktur seiner [Hoffmanns; P. V.] Dichtung, die ihm immer wieder die Bezeichnung ‚Gespenster-Hoffmann‘ eingetragen hat, gründet letztlich in der Lehre vom autonomen Genie, das allein aus der Kraft seiner Phantasie schafft. Das Genie ist nun vollends entfesselt als in der Welt ihrer eigenen Projektion hausende Subjektivität. Indem der Erzähler seine Erzählungen nach diesem ‚genialen‘ Prinzip strukturiert und es in erzählerische Methode umsetzt, entfernt er sich denkbar weit vom Prinzip der Naturnachahmung.“260 Was das Denken von Friedrich Schlegel angeht, so beschränke ich mich im Folgenden auf den 1799 erschienenen Roman Lucinde, über den Schiller einst abschätzig schrieb, man glaube hier „ein Gemengsel aus Woldemar, aus Sternbald, und aus einem frechen französischen Roman zu lesen“261 . Am Ende seines Romans lässt Schlegel den Protagonisten Julius seine „Weltanschauung“ in einem Brief an seine Frau Lucinde zusammenfassen; dieser schreibt, „nur dadurch wird der Mensch zu einem und ganz er selbst wenn er sich auch als Mittelpunkt des Ganzen und Geist der Welt anschaut und dichtet.“262 Dieses Ideal, gleichsam poetisch zu leben, lasse sich auch durch etwaige Unverfügbarkeiten nicht einschränken. Im Gegenteil: Die Unberechenbarkeit der Welt, die Tatsache, dass diese Welt prinzipiell den eigenen Gestaltungsabsichten verfügbar ist, verbürge gerade die Möglichkeit, dieses Ideal tatsächlich zu realisieren. Schon zu Beginn des Romans richtet Julius in einer „dithyrambischen Fantasie“ an Lucinde die rhetorisch 259 260

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Ebd., S. 54 f. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Band 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, Darmstadt 1985, S. 18. Hier zitiert nach Rudolf Haym, Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870, S. 577. Friedrich Schlegel, Lucinde. Ein Roman, herausgegeben von Karl Konrad Polheim, Stuttgart 1963 (1799), S. 104.

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gemeinte Frage: „Warum sollten wir nicht die herbeste Laune des Zufalls für schönen Witz und ausgelassene Willkühr nehmen, da wir unsterblich sind wie die Liebe?“263 In einer unübertrefflich deutlichen Weise wird in dieser Formulierung die romantische Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren mit dem romantischen Ethos individueller Kreativität als Medium individueller Selbstverwirklichung verschränkt. Es war nun gerade Schlegels zuletzt zitierte Formulierung, die Sören Kierkegaards Spott und Kritik erregte und dazu führte, des Letzteren Argwohn gegen die Romantik nur noch zu intensivieren. Die herbeste Laune des Zufalls für schönen Witz und ausgelassene Willkühr nehmen? „Man kann sich [...] nicht gut des Lächelns erwehren“, so schreibt Kierkegaard angesichts einer solchen Maxime der Lebensführung, „wenn eine so zarte und schwachgebaute Liebesverbindung sich einbilden möchte, daß sie den Stürmen des Lebens zu trotzen vermöge, wenn sie sich einbilden möchte, so viel Kraft zu haben, daß sie ‚herbeste Laune des Zufalls für schönen Witz und ausgelassene Willkühr‘ nehmen könnte; denn diese Liebe ist doch gar nicht in der wirklichen Welt zu Hause, sondern in einer eingebildeten, in welcher die Liebenden selbst über Stürme und Orkane Gebieter sind.“264 Als zentrales Defizit der romantischen Liebesbeziehung zwischen Julius und Lucinde, wie Schlegel sie idealisiert, aber auch grundsätzlich jener „nachfichtischen Ironie“, wie sie Kierkegaard zufolge den inhaltlichen Kern der Romantik bildet, wird also – nicht anders als bei Schmitt – der Verlust der Wirklichkeit kritisiert. Dieser Wirklichkeitsverlust der Romantik, so macht Kierkegaard schließlich in den sich nicht mehr direkt auf Schlegel beziehenden, sondern allgemeinen Abschnitten seiner 1841 erschienenen, ursprünglich als Dissertation verfassten Schrift Über den Begriff der Ironie deutlich, äußert sich auch und vor allem in einer Ignoranz der historischen Wirklichkeit. Die Romantik und der romantische Begriff der Ironie, so kritisiert Kierkegaard, sie müssen die Wirklichkeit verfehlen, weil sie die Wirklichkeit der historischen Welt ignorieren; und insofern ignorieren sie auch die Widerständigkeit und Unverfügbarkeit einer Vergangenheit, die jene „ausgelassene Willkühr“ und jenen „schönen Witz“ gerade verunmöglicht, gleichviel, ob es um die Gestaltung einer Liebesbeziehung oder eine diplomatische Krise, um die vielen Geschichten oder eine Geschichte geht. Die Vergangenheit biete sich, so schreibt Kierkegaard, immer als eine unverfügbare „Gabe“ dar. Und insofern mit diesem Begriff der Gabe „das Verhältnis des Individuums zu seiner Vergangenheit ausgedrückt“ werde, insofern gelte: „Diese Vergangenheit beansprucht nun Giltigkeit dem Individuum gegenüber, sie will nicht übersehen oder ignoriert werden. Für die Ironie dagegen ist eigentlich keine Vergangenheit geblieben.“265 Insofern die Romantik diese „Gabe“ einer unverfügbaren Vergangenheit in den vielen Geschichten wie in der einen Geschichte übersieht, muss sie nicht nur das von Julius und Lucinde exempla263 264

265

Ebd., S. 17 Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Frankfurt am Main 1976 (1841), S. 296. Ebd., S. 273.

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risch formulierte Lebensideal verfehlen, sondern auch die Realität und Widerständigkeit einer geschichtsprägenden Vergangenheit verkennen, die sich einer willentlichen Verfügbarkeit stets entzieht; und so verfällt das romantische Verständnis der historischen Wirklichkeit, so lautet Kierkegaards Vorwurf, in das „ewige Geschwätz, daß nun erst die Weltgeschichte anheben werde, so als ob sie nun pünktlich um vier Uhr oder jedenfalls vor fünf Uhr anheben werde.“266 Ganz im Sinne dieser ironischen und für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte unempfänglichen Vorstellungswelt der Romantik schreibt Clemens von Brentano 1810 an Runge, er strebe das gänzliche Vergessen der Geschichte an und zwar zugunsten der „heiligeren Geschichte meines Innern“267 . Umgekehrt zeigen die brieflichen Äußerungen des Historikers Friedrich Carl von Savigny – seine historistische Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare in der menschlichen Geschichte wurde im zweiten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich behandelt – gegenüber der Günderrode, wie sie Bohrer in seiner Untersuchung über den romantischen Brief mitteilt und analysiert, dass es gerade die menschliche Geschichte ist, welche Savigny gegen die Geschichtslosigkeit der ästhetischen und romantischen Subjektivität im Namen einer prinzipiellen Verfügbarkeit des individuellen Daseins wie aller äußeren Wirklichkeit, wie sie zumindest gemäß Savignys Wahrnehmung die Günderrode verkörpert, in Anschlag bringt.268 Damit schließlich zu Novalis, auf dessen Vorstellung, alle Zufälligkeiten und Widerfahrnisse eines Lebens ließen sich in den Anfang eines unendlichen Romans verwandeln, wir im Zusammenhang unserer Rekonstruktion von Schmitts Interpretation der Romantik bereits zu sprechen kamen269 , dessen Vorstellung, der Dichter bete den Zufall an und alles dichterische Schaffen beruhe „auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallsproduktion“270 , wir bereits im Zusammenhang unserer Ausführungen zu Tieck erwähnten, und dessen Forderung, die Welt müsse romantisiert werden, wir bereits im Zuge einer Konkretisierung von Berlins Thesen einer spezifisch romantischen „tyranny of art over life“ erwähnten.271 Grundsätzlich und deutlicher noch als der zitierten Bemerkung, wonach alle Zufälle unseres Lebens zum Anfang eines unendlichen Romans zu machen seien, lässt sich eine theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren Novalis’ Begriff und Konzept eines „magischen Idealismus“ entnehmen. Hardenberg selbst verwendet ja bekanntlich diese Begrifflichkeit zur Kennzeichnung seines Denkens und charakterisiert die geistigen Ressourcen und Fähigkeiten eines „magischen Idealisten“, so etwa auch im Allgemeinen Brouillon, in einer ganz bestimmten Weise: „Wenn ihr die Gedanken nicht mittelbar (und zufällig) vernehmbar machen könnt, so macht doch umgekehrt die äußern Dinge unmittelbar (und willkührlich) vernehmbar – welches eben so viel ist, als wenn ihr die Gedanken nicht zu 266 267

268 269 270 271

Ebd., S. 274. Hier zitiert nach Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, a.a.O., S. 115. Vergleiche hierzu den von Bohrer mitgeteilten und zitierten Brief in: ebd., S. 81. Vergleiche hierzu S. 413 f. in diesem Kapitel. Vergleiche Anmerkung 239, S. 421 in diesem Kapitel. Vergleiche hierzu S. 404 f. in diesem Kapitel.

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H  R: D U   V äußern Dingen machen könnt, so macht die äußern Dinge zu Gedanken. Könnt ihr einen Gedanken nicht zur selbstständigen, sich von euch absondernden – und nun auch fremd – d[as] h[eißt] äußerlich vorkommenden Seele machen, so verfahrt umgekehrt mit den äußerlichen Dingen – und verwandelt sie in Gedanken. Beyde Operationen sind idealistisch. Wer sie beyde vollkommen in seiner Gewalt hat ist der magische Idealist.“272

In ebendiesem Sinne heißt es in einem von Novalis’ Fragmenten auch: „Alles Unwillkührliche soll in ein willkührliches verwandelt werden“273 . In diesen Worten finden sich die romantische Sensibilität für Kontingenz und Zufall und das romantische Verständnis von Kontingenz und Zufall als des unbeschränkt Verfügbaren in einer kaum zu steigernden Radikalität ausgesprochen. Die Aufforderung, alles vermeintlich „Unwillkührliche“ zu dekonstruieren und als ein der eigenen Kreativität verfügbares Objekt der eigenen Lebensgestaltung und insofern als „willkührlich“ zu betrachten, dieser Anspruch, alles Heteronome in eine autonome Setzung zu verwandeln, dieser Anspruch findet sich zudem stets dann in Novalis’ Schriften besonders aufschlussreich und eindrücklich artikuliert, da diese Position des magischen Idealismus explizit mit einer Dekonstruktion des antiken Begriff des fatum, einer Kritik des Gedankens eines unverfügbaren Schicksals verknüpft wird, welche uns noch einmal an die oben erwähnten Worte von Tiecks „Hanswurst“ in Prinz Zerbino erinnern lässt, „es ist sowohl nicht Schicksal/ Als Eigensinn des Dichters, wie er sich/ Benannt, der so sein ganzes Stück verwandelt,/ Und keinen Menschen bei gesundem Sinne läßt“274 . Bei Novalis heißt es: „Das Fatum, das uns drückt, ist die Trägheit unsers Geistes. Durch Erweiterung und Bildung unserer Thätigkeit werden wir uns selbst in das Fatum verwandeln. [Hervorhebung von mir; P. V. ] Alles scheint auf uns herein zu strömen, weil wir nicht heraus strömen. Wir sind negativ, weil wir wollen – je positiver wir werden, desto negativer wird die Welt um uns her – bis am Ende keine Welt mehr seyn wird – sondern wir alles in Allem sind. Gott will Götter.“275 Dabei gelten Hermann August Korff ein aktivistischer ebenso wie ein passivischer Versuch, ein unverfügbares fatum in „Erweiterung und Bildung unserer Thätigkeit“ zu verwandeln, als die beiden Seiten ein und derselben Medaille des „magischen Idealismus“, als die beiden Facetten ein und derselben occasionalistischen Mentalität der Romantik, wie man im Anschluss an Schmitt formulieren könnte: „Es ist dem magischen Idealisten letztlich gleichgültig, ob die Überwindung der Welt praktisch oder theoretisch, faktisch oder fiktiv erfolgt: auf dem Wege der philosophischen Durchdringung oder auf dem Wege willensmäßiger Ver272

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Novalis, Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, a.a.O., S. 301. Novalis, Schriften. Zweiter Band. Das philosophische Werk I, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, a.a.O., S. 589. Vergleiche Anmerkung 245 auf S. 423 f. in diesem Kapitel. Ebd., S. 583 f.

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wandlung. Denn auf beide Weisen wird die Welt verwandelt, und auf beide Weisen wird sie romantisiert.“276 Dieser Kritik des fatum, der Zurückweisung der Ansicht, es könne im menschlichen Leben etwas Unverfügbares und in ebendiesem Sinne Schicksal geben, ihr entnimmt Novalis insofern geschichts- und geschichtentheoretische Konsequenzen, als er nun ausdrücklich den „Produktcharakter“ (Lübbe) der vielen Geschichten ebenso wie der einen Geschichte betont: „Eine Geschichte ist ein eigentümliches Produkt des Willens und des Verstandes – ohne deren Zutun gibt es keine Geschichte – durch sie kann aber alles zur Geschichte, zum Beispiel, zum Bilde eines Gesetzes werden.“277 Diese Auffassung von Geschichten und Geschichte als Resultat unseres Willens, ebendiese Geschichten und Geschichte zu machen, motiviert Novalis schließlich dazu, eine bestimmte historische Zukunftsvision mit einer religiösen Rhetorik in einer Weise zu kombinieren, welche nicht nur die hypertrophen Züge der Romantik zu erkennen gibt – die zitierte Phrase „Gott will Götter“ dürfte diese bereits hinlänglich verdeutlicht haben –, sondern vor allem auch den im Namen einer prinzipiellen Verfügbarkeit von Geschichte formulierten Widerstand der Romantik gegen eine Einwilligung in die für uns Menschen konstitutive „schlechthinnige Abhängigkeit“ (Schleiermacher), die romantische Emphase des seine Geschichte gleichsam selbst in die Hand nehmenden Menschen deutlich zu erkennen gibt: „Alles was von Gott praedicirt wird enthält die Menschliche Zukunftslehre. Jede Maschine, die jetzt vom Großen Perpetuo mobili lebt, soll selbst Perpetuum mobile – jeder Mensch, der jetzt von Gott und d[urch] Gott lebt, soll selbst Gott werden.“278 Wie sind, zu dieser Frage regen die vorangegangenen Zitate des Novalis, welche das romantische Pathos einer prinzipiell verfügbaren Geschichte in geradezu ungeheuerlicher Offensivität und Offenherzigkeit zu erkennen geben, nachgerade von selbst an, wie sind die ideen- und geistesgeschichtlichen Wurzeln und die romantischen Quellen dieses magischen Idealismus zu beschreiben? Bezüglich der Beantwortung dieser Frage gilt es zunächst einen die Forschungsliteratur prägenden, grundsätzlichen Dissens zu konstatieren: So wendet sich Manfred Frank immer wieder strikt und schon in einem seiner frühesten Aufsätze eindeutig gegen die gängige Lesart und konventionelle These einer frühromantischen Rezeption und Radikalisierung des Fichteschen Idealismus insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis von Fichte und Novalis: „Hardenbergs Verhältnis zu Fichte wird gelegentlich als das einer schülerhaften Nachfolge, die den Meister nur durch Vergrößerung der in seinem System angelegten Fehler ins Phantastische übertrifft, darge-

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Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte. III. Teil: Romantik. Frühromantik, a.a.O., S. 267 f. Novalis, Sämtliche Werke. Vierter Band, herausgegeben von Ernst Kamnitzer, München 1924, S. 128. Novalis, Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, a.a.O., S. 297.

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stellt. Davon kann keine Rede sein.“279 Zu Beginn ebendieses Aufsatzes schreibt Frank, Exponent jener Deutung der Romantik, welche ganz grundsätzlich die Unterschiede zwischen Romantik und Frühromantik einerseits und Philosophie des deutschen Idealismus andererseits stark profiliert280 , allerdings und in einem offensichtlich ungeklärten Widerspruch zu seiner Ablehnung der These eines idealistischen oder Fichteschen Einflusses auf die Romantik im Allgemeinen und auf Novalis im Besonderen auch, die Frühromantik habe von Fichtes „praktischen Idealismus des absolut tätigen, sich selbst und die Welt unbedingt setzenden und begründenden Ichs“281 zusätzlich noch die Vernunft, das „letzte Bedingende“282 abgestreift. „Das absolut mächtige Ich war nicht mehr das absolut vernünftige Prinzip, sondern das Vermögen, das Können schlechthin“283 . Wäre der magische Idealismus mithin also doch als eine wie auch immer zu verstehende Transformation von gedanklichen Elementen zu verwerten, die in Fichtes „Produktionsidealismus“ (M. Frank) erstmals ihren paradigmatischen Ausdruck erhielten? Wäre mithin Fichte doch als der „eigentliche Vater der Romantik“284 zu bezeichnen, wie Isaiah Berlin in markantem Gegensatz zur Position Franks den geistigen Zusammenhang zwischen Fichte und Romantik charakterisieren zu können glaubt? Jedenfalls wurde der magische Idealismus des Novalis in der Forschungsliteratur durchaus häufig – pace Frank – als Beleg für Fichtes Einfluss auf die Gedankenwelt eines Novalis, eines Schlegel oder auf andere romantische Autoren diagnostiziert. So diagnostiziert Frederick Beiser für die Gedankenwelt der Frühromantik, dass diese sich gerade unter dem Einfluss von Fichtes Idealismus von der Überzeugung leiten lasse, „that we live in a

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Manfred Frank, „Die Philosophie des sogenannten ‚magischen Idealismus‘“, in: Euphorion 63 (1969), S. 91. Vergleiche etwa Manfred Franks Äußerung im Nachwort zu seiner Dissertation: „Ich schlage im Gegenzug zur communis opinio vor, zwischen dem Idealismus und der Frühromantik scharf zu unterscheiden. Als idealistisch bezeichne ich die – zumal durch Hegel verbindlich gemachte – Überzeugung, Bewusstsein sei ein selbstgenügsames Phänomen, das auch noch die Voraussetzungen seines Bestandes aus eigenen Mitteln sich verständlich zu machen vermöge. Dagegen ist die Frühromantik überzeugt, dass Selbstsein einem transzendenten Grunde sich verdankt, der sich nicht in die Immanenz des Bewusstseins auflösen lasse. So wird der Grund von Selbstsein zu einem unausdeutbaren Rätsel. Dies Rätsel kann nicht mehr (allein) von der Reflexion bearbeitet werden. Darum vollendet sich die Philosophie in der und als Kunst. Denn in der Kunst ist uns ein Gebilde gegeben, dessen Sinnfülle von keinem möglichen Gedanken erschöpft wird.“ Ich will dahingestellt sein lassen, ob nicht gerade Franks These die zumindest im deutschen Sprachraum sich behauptende communis opinio formuliert. Manfred Frank, „Nachwort“ (1990), in: Das Problem ‚Zeit‘ in der deutschen Romantik. Zeitbewusstsein und Bewusstsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, Paderborn/München/Wien/Zürich 1990 (1972), S. 501. Manfred Frank, „Die Philosophie des sogenannten ‚magischen Idealismus‘“, in: a.a.O., S. 88. Ebd., S. 88. Ebd., S. 88. Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 282.

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world of our own creation, that we have the power to create the Kingdom of God on earth through our own efforts.“285 Nun, wie auch immer das Verhältnis von Idealismus und Romantik, von Idealismus und Frühromantik im Allgemeinen, von Fichte und Novalis, von Fichte und Schlegel im Besonderen, zu bestimmen ist, inwiefern Fichtes Idealismus romantisch, inwiefern die Romantik im Sinne des Idealismus oder Fichtes denkt, uns hat doch vor allem das Phänomen jener spezifisch romantischen Verschränkung einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unhintergehbar Unverfügbaren mit einem Ethos individueller Kreativität als Medium individueller Selbstverwirklichung, wie es vor allem Isaiah Berlins und Carl Schmitts Interpretationsansätze betonen, zu interessieren und deshalb auch die Frage, ob sich eine derartige theoretische Verschränkung nun eben auch bei jenem Autor finden lässt, den Berlin – ob zu Recht oder zu Unrecht – als den eigentlichen „Vater der Romantik“ bezeichnet. Geht also auch und gerade Fichtes Philosophie in ebenjenem Sinne von einer unhintergehbaren Verfügbarkeit von Geschichte oder auch von den vielen Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin aus, wie wir sie auf den vergangenen Seiten als konstitutiv für die romantische Sensibilität für Kontingenz und Zufall ausgewiesen hatten? Als einen für die Klärung dieser Frage besonders ertragreichen Text und eine diesbezüglich besonders aufschlussreiche Illustration verweise ich auf Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen, einen programmatisch gehaltenen Essay, in welchem Fichte die Grundsätze seiner Philosophie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen versucht. Der konkrete Anlass dieser Schrift ist dabei ein ganz spezifischer und zunächst für jede Interpretation unbedingt zu berücksichtigen. Fichte reagierte mit der Schrift auf einen Vorwurf, den Jacobi 1799 in einem Sendschreiben an Fichte erhoben hatte. Jacobi hatte seinerzeit gegen Fichtes Philosophie den Vorwurf des Nihilismus und des Atheismus formuliert.286 Gegen Fichtes subjektphilosophischen Idealismus ging Jacobis Denken davon aus, so hat es Dieter Henrich reformuliert, dass allem Subjektbezug immer schon ein diesem Subjekt Unverfügbares zugrunde liege, folglich ein Ich, dem dazumal schrankenlose Autonomie attestiert wird, niemals Grund der Philosophie sein könne: „Jacobi suchte zu zeigen, dass schon in dem Wissen von sich, das für jedes erkennende Wesen die erste und eine gänzlich dem Zweifel entrückte Gewissheit hat, ein Wissen vom übernatürlich Unbedingten gelegen ist.“287 Jacobi stand mit seiner Kritik an 285

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Frederick Beiser, The Romantic Imperative. The Concept of Early German Romanticism, a.a.O., S. 180. Vergleiche hierzu Friedrich Heinrich Jacobi, „Jacobi an Fichte“ (1799), in: Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Dritter Band, herausgegeben von Friedrich Roth und Friedrich Köppen, Darmstadt 1968, S. 3–57. Dieter Henrich, „Der Ursprung der Doppelphilosophie“, in: Dieter Henrich (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Präsident der Akademie, Philosoph, Theoretiker der Sprache. Vorträge auf einer Gedenkveranstaltung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 250 Jahre nach seiner Geburt, München 1993, S. 24. In ähnlicher Weise hat Henrich den Kern von Jacobis Philosophie auch in dem Aufsatzband Konstellationen resümiert: „Unsere Vorstellung des Bedingten aber, ohne die wir nach Jacobis Meinung von einem Bedingten gar nicht sprechen könnten, setzt begrifflich und real das Unbedingte schon voraus. Sie ist niemals aus dem Bedingten selbst zu gewinnen – etwa durch eine

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der Subjektzentriertheit von Fichtes Idealismus im Übrigen seinerzeit nicht allein. So bezog sich etwa auch Jean Paul in seiner Abhandlung Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana ausdrücklich auf Jacobi, als er sich gegen Fichtes Idealismus wandte.288 Gegen derart explizit formulierte oder implizit angedeutete Kritik, die schließlich in dem Vorwurf gipfelte, die Autarkie des Ichs bis in das Extrem einer atheistischen Leugnung Gottes getrieben zu haben, richtete sich nun Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen von 1800: Fichte geht am Beginn dieser Schrift davon aus, dass sich die Malaise eines taedium vitae nur bannen lässt, wenn sich die Unmöglichkeit eines kreativen Eingreifens in das Getriebe der Welt, wie sie ein universeller Determinismus nahe legt, zwingend widerlegen lässt. Wie aber soll dies geschehen? Fichte glaubt die Unterstellung einer alle Handlungsfreiheit des Individuums auslöschenden „Kette der strengen Naturnotwendigkeit“289 , der zufolge alles, „was ich je bin und werde“, „schlechthin notwendig“290 ist, der zufolge alles in dieser Welt notwendig ist, wie es ist, jedes Sandkörnchen sich notwendig dort befindet, wo es sich befindet, befände es sich an einer anderen Stelle, dann wäre notwendigerweise auch der ganze Kosmos anders, Fichte glaubt eine solche Unterstellung in Die Bestimmung des Menschen zunächst nur dadurch bestreiten zu können, dass er die unbeschränkte epistemische Autorität des Ichs zwingend nachweist. In einem ausführlichen Dialog zwischen zwei imaginären Gesprächspartnern reformuliert Fichte im zweiten Teil seiner Schrift die bereits in der Wissenschaftslehre ausführlich ausgearbeitete erkenntnistheoretische Position, welche uns schon im Zuge der Beschäftigung mit Novalis’ magischem Idealismus unbestreitbar begegnet war, wonach alles Nicht-Ich ausschließlich als Setzung des Ichs zu denken ist: „[...] alles, was du außer dir erblickst, bist immer du selbst.“291 Nicht so sehr die eigentliche Begründung die-

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Steigerung. Denn die Kette der Bedingungen führt immer nur zu wiederum Bedingtem, auch wenn sie ohne Ende immer weiter verfolgt wird. Vom Unbedingten aber haben wir und müssen wir haben eine vom Bedingten separierte vorgängige Gewissheit, die uns die Möglichkeit, das Bedingte zu denken, überhaupt erst schafft. Daraus folgt nun, wiederum rein aufgrund der Begriffsoperation Jacobis, dass das Unbedingte auch übernatürlich sein müsse – und zwar deshalb, weil das Vermittelte, das in Begründungen zu Beherrschende, die ‚Natur‘ ausmacht. Also muss das Unbedingte ‚über der Natur‘ sein. Im übrigen lässt sich nach Jacobi zeigen, dass wir schon in der Selbstgewissheit ein wirkliches und schlechtweg erstes Wissen von diesem übernatürlich Unbedingten in der Tat besitzen. Und das setzt Vertrautheit mit dem Unbedingten voraus. In das einfache und in seiner Weise unmittelbare Wissen von uns selbst ist also ein unmittelbares Wissen des Unbedingten immer schon eingegangen.“ Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991, S. 238 f. Jean Paul kritisiert in dieser Schrift, so hat es Jochen Schmidt reformuliert, Fichtes Idealismus „als ruinöse Absolutsetzung des Ichs: als eine Theorie weltloser Pseudogenialität. Ähnlich begründet Jean Paul seine Kampfansage an Friedrich Schlegel. In der auf den ‚Titan‘ beinahe unmittelbar folgenden ‚Vorschule der Ästhetik‘ rechnet er Schlegel zu den ‚poetischen Nihilisten‘, die dem eigenen Ich verfallen und die Lebenswirklichkeit verachten.“ Vergleiche hierzu Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, a.a.O., S. 430 f. Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 2000 (1800), S. 15. Ebd., S. 19. Ebd., S. 66.

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ser Position, die uns an des Novalis Formulierung, unter dem „Schleier der Göttin zu Saïs“ sehe man – „Wunder des Wunders“ – immer nur „sich selbst“292 , erinnert, hat uns indes zu interessieren, als vielmehr die Konsequenz, die Fichte ihr für die Frage nach Realität und Relevanz kreativer Äußerungen und autonomer Handlungen entnehmen zu können glaubt. Aus der Tatsache, dass der menschlichen Erkenntnis keine unabhängige Außenwelt vorgegeben ist, diese vielmehr stets als Resultat eines seine Vorstellungen setzenden Ichs zu verstehen sei, glaubt Fichte auf eine unbeschränkte Autonomie des menschlichen Handelns und menschlicher Kreativität schließen zu können. Die Überzeugung, „daß das Bewußtsein eines Dings außer uns absolut nichts weiter ist, als das Produkt unsers eignen Vorstellungs-Vermögens“293 , einzig sie, so scheint es zunächst, vermag Fichtes Argumentation zufolge den an der vermeintlichen Unmöglichkeit kreativer Schöpfungen und Impulse Verzweifelnden von seinen Ängsten zu befreien und ihn über die unbeschränkten Möglichkeiten seiner individuellen Autonomie in einer nicht deterministisch vorgeprägten Welt zu belehren: „Und mit dieser Einsicht, Sterblicher, sei frei, und auf ewig erlöset von der Furcht, die dich erniedrigte und quälte. Du wirst nun nicht länger vor einer Notwendigkeit zittern, die nur in deinem Denken ist, nicht länger fürchten von Dingen unterdrückt zu werden, die deine eignen Produkte sind, nicht länger dich, das Denkende, mit dem aus dir selbst hervorgehenden Gedachten, in Eine Klasse stellen. Solange du glauben konntest, daß ein solches System der Dinge, wie du es dir beschrieben, unabhängig von dir außer dir wirklich existiere, und daß du selbst ein Glied in der Kette dieses Systems sein möchtest, war diese Furcht gegründet. Jetzt, nachdem du eingesehen hast, daß alles dies nur in dir selbst und durch dich selbst ist, wirst du ohne Zweifel nicht vor dem dich fürchten, was du für dein eignes Geschöpf erkannt hast.“294 Ganz ähnlich wie Novalis scheint Fichte zunächst aus einer erkenntnistheoretischen Position jene theoretische Konsequenz zu ziehen, aufgrund derer wir in diesem Kapitel von einem romantischen Pathos für das unbeschränkt Verfügbare in Geschichte und in Geschichten sprechen zu können glaubten. In dem Maße, wie sich auch eine vermeintlich unverfügbare Welt außerhalb des Ichs dekonstruieren lässt, will Fichte keinerlei die menschliche Autonomie einschränkende Grenzen der Verfügbarkeit von Geschichten und Geschichte akzeptieren. Und eben weil der Mensch über die Geschichte und die Geschichten in unbegrenzter Weise verfügen kann, hat keine „Kette der strengen Naturnotwendigkeit“ Bestand. Indes, zwingt eine derartige, nämlich epstemische Fundierung der Möglichkeit willentlichen, kreativen und autonomen Handelns in Geschichten und Geschichte Fichte nicht in das Gehäuse des Solipsismus? Fichte selbst erweist sich in Die Bestimmung des Menschen – womöglich veranlasst durch Jacobis erwähnte Vorwürfe – als hellhörig gegenüber dieser möglichen theoretischen Schwäche seines bisherigen Argumentations292

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Novalis, Schriften. Zweiter Band. Das philosophische Werk I, herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, a.a.O., S. 584. Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, a.a.O., S. 77. Ebd., S. 78.

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gangs. Beraubt nicht, diese Frage legt er nun selbst der bislang von ihm favorisierten These vor, beraubt nicht eine lediglich erkenntnistheoretische Fundierung alle Form selbstbestimmter Kreativität gerade der Möglichkeit eines praktischen Vollzugs dieser Kreativität. Am Ende seiner erkenntnistheoretischen Ausführungen schreibt Fichte in Die Bestimmung des Menschen: „Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eignen. Es ist kein Sein. [...] Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum“295 . Indes, wenn sich alle Realität in einen Traum verwandelt, sind dann nicht auch die kreativen Leistungen des Menschen nur Träumerei? Fichte gerät im Zuge seines Versuchs, die Existenz, die Kreativität und die Produktivität des menschlichen Handelns erkenntnistheoretisch zu fundieren, offenkundig in eine Aporie. Fichte selbst scheint dies zu Beginn des dritten Teils seiner Schrift zu spüren: „[...] meine Vorstellungen sollen etwas bedeuten, und wenn meinem gesamten Wissen nichts außer dem Wissen entspricht, so finde ich mich um mein ganzes Leben betrogen.“296 Abrupt ändert Fichte daher nun das Verfahren seiner Argumentation, deren grundsätzliches Ziel freilich unverändert beibehalten wird. Fichte verwirft den bisher beschrittenen Lösungsweg, nicht aber die angestrebte Ambition. Vielmehr versucht er die Frage nach der Existenz und den Möglichkeiten menschlicher Kreativität in einem Universum des „unaufhörlichen Wechsels“ nunmehr in einer ganz anderen Weise zu beantworten. Seine These lautet jetzt, dass der Mensch nicht durch Denken, sondern einzig durch Handeln sich der Möglichkeit des kreativen Handelns in dieser Welt in plausibler Weise versichern kann. Im Handeln kann der Mensch gar nicht umhin, an die Wirklichkeit der Willensfreiheit zu glauben und dies als Beleg für ein nicht vollständig determiniertes Universum zu werten. Im Handeln, so folgert Fichte, nicht aber im Denken, besteht daher die eigentliche Bestimmung des Menschen in der Welt. Im Handeln zeigt sich, wer und wie wir sind: „Nicht bloßes Wissen, sondern nach deinem Wissen Tun ist deine Bestimmung. [...] Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten deiner selbst, oder zum Brüten über andächtigen Empfindungen, – nein, zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Wert.“297 Diese Bezugnahme auf eine sich in Tun und Handeln äußernde Willensfreiheit des Menschen und der Rekurs auf eine dieser Willensfreiheit entspringende kreative Praxis als Indikator und Garant für ein nicht-determiniertes Universum sollen nun gegenüber der zunächst in Die Bestimmung des Menschen vorgeschlagenen epistemischen Argumentationsstrategie auszeichnen, dass sie sich gerade nicht in den skizzierten Aporien verfängt. 295 296 297

Ebd., S. 83. Ebd., S. 87. Ebd., S. 87 f. Fichtes Vorlesungen über die „Bestimmung des Gelehrten“ enden mit der plakativen Aufforderung: „Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind.“ Vergleiche dazu Johann Gottlieb Fichte, „Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten“ (1794), in: Sämmtliche Werke. Sechster Band, herausgegeben von I. H. Fichte, Berlin 1845, S. 345.

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Denn im Handeln, anders als im Denken, gelangt der Mensch dahin, die Realität einer von ihm unabhängigen Außenwelt zwingend annehmen zu müssen, nicht als epistemologisches Apriori freilich, wohl aber als zwingendes Postulat der Möglichkeit sittlichen Verhaltens. Der von keinem menschlichen Wesen in Zweifel zu ziehende Glaube an bestimmte Rechte und Pflichten, dessen wir uns in unserem Gewissen unmittelbar gewahr werden, den wir, um im sentimentalischen Jargon der Zeit zu bleiben, in unserer Brust immer schon fühlen, belegt für Fichte immer schon die Unmöglichkeit, die Existenz einer Außenwelt in Zweifel zu ziehen: „Also nicht die Einwirkung vermeinter Dinge außer uns, welche ja für uns, und für welche wir ja nur insofern sind, inwiefern wir schon von ihnen wissen; ebenso wenig ein leeres Bilden durch unsere Einbildungskraft und unser Denken, deren Produkte ja wirklich als solche Produkte, als leere Bilder, erscheinen würden – nicht diese sind es, sondern der notwendige Glaube an unsere Freiheit, und Kraft, an unser wirkliches Handeln, und an bestimmte Gesetze des menschlichen Handelns ist es, welcher alles Bewußtsein einer außer uns vorhandenen Realität begründet [...]. Wir sind genötigt anzunehmen, daß wir überhaupt handeln, und daß wir auf eine gewisse Weise handeln sollen; wir sind genötigt, eine gewisse Sphäre des Handelns anzunehmen; diese Sphäre ist die wirklich und in der Tat vorhandene Welt, so wie wir sie antreffen; und umgekehrt – diese Welt ist absolut nichts anderes, als jene Sphäre, und erstreckt auf keine Weise sich über sie hinaus. Von jenem Bedürfnisse des Handelns geht das Bewusstsein der wirklichen Welt aus, nicht umgekehrt vom Bewusstsein der Welt das Bedürfnis des Handelns; dieses ist das erste, nicht jenes, jenes ist das abgeleitete. Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft.“298 Auf die in der Stimme meines Gewissens immer schon artikulierten Handlungsaufforderungen zu hören und diesen „redlich und unbefangen ohne Furcht und Klügelei zu gehorchen, dies ist meine einzige Bestimmung, dies der ganze Zweck meines Daseins“299 ; dass die Erfüllung dieser Bestimmung möglich ist, dies spricht für Fichte wiederum dafür, dass wir nicht in einer Welt der Notwendigkeit leben, welche den Menschen in ein unerschütterliches Gehäuse des Determinismus sperrt. Wie genau Fichte dieses Handeln gemäß der Stimme des Gewissens denkt – geschichtsphilosophisch nobilitiert, pietistisch gezähmt oder voluntaristisch-heroisch entschränkt – darüber mag Unklarheit herrschen, zumal nach der Lektüre von Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen. Dass aber der eigenen Kreativität Ausdruck zu verleihen der eigentlichen Bestimmung des Menschen entspricht, dass der Mensch erst, indem er handelt, wahrhaft frei und wahrhaft er selbst ist, dass er erst, indem er handelt, keinerlei historischen oder natürlichen Notwendigkeiten Untertan ist, dass es demnach des Menschen „oberste Berufung“ ist, wie Berlin wiederum Fichtes Denken interpretiert, „sich selbst und seine

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Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, a.a.O., S. 102. Ebd., S. 98.

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Welt nach seinem unbeugsamen Willen zu formen“300 , diese Form einer Verschränkung eines spezifischen Kreativitätethos mit einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren dürfte als wesentliches Merkmal von Fichtes Argumentation in Die Bestimmung des Menschen immerhin deutlich geworden sein. Dass Fichtes idealistische oder romantische Version von Kontingenz- und Zufallssensibilität dabei keine Grenzen der Verfügbarkeit, keine unhintergehbare Unverfügbarkeit auch und gerade eines individuellen Lebensvollzugs anerkennt, sondern vielmehr die restlose Verfügbarkeit von Geschichte wie von Geschichten unterstellt, mithin nicht davon ausgeht, dass wir in Geschichte und Geschichten immer schon in unverfügbarer Weise verstrickt sind, vielmehr das Pathos formuliert, dass Geschichte und Geschichten zur Gänze gemacht und vollends kontrolliert werden können, dies zeigt sich exemplarisch auch in Fichtes System der Sittenlehre von 1798, wenn es dort heißt: „Wer bin ich eigentlich, d.i. was für ein Individuum? Und welches ist der Grund dafür, dass ich der bin? Ich antworte: ich bin von dem Augenblicke an, da ich zum Bewusstseyn gekommen, derjenige, zu welchem ich mich mit Freiheit mache, und bin es darum, weil ich mich dazu mache.“301 Ein womöglich noch treffenderes Beispiel für Fichtes romantisches Pathos eines unbeschränkt Verfügbaren in Geschichten und Geschichte sei außerdem noch erwähnt: In seiner Wissenschaftslehre von 1794 bemerkt Fichte einmal beiläufig, jedoch, wenn man sich dies einmal nur klar macht, im Grunde in einer ganz ungeheuerlichen Weise: „Leiden und Thätigkeit im Ich sind eins und ebendasselbe, denn Leiden ist bloß ein geringeres Quantum der Tätigkeit“302 . Sogar auf die Thematik des menschlichen Leids glaubt Fichte die uns aus der Schrift Die Bestimmung des Menschen bereits hinlänglich bekannte These, dass und wie wir seien, sei allein Resultat unseres Handelns, applizieren zu können. In dieser Formulierung Fichtes könnte man daher so etwas wie die theoretische Quintessenz und den geistigen Kulminationspunkt der romantischen Verschränkung von Kreativitätsethos und theoretischer Sensibilität für Kontingenz und Zufall in Geschichten und Geschichte im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren erblicken.303 Selbst 300

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Isaiah Berlin, „Die Apotheose des romantischen Willens: Die Revolte gegen den Mythos einer idealen Welt“ (1975), in: Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, a.a.O., S. 284. Johann Gottlieb Fichte, „System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre“ (1798), in: Sämmtliche Werke. Vierter Band, herausgegeben von I. H. Fichte, Berlin 1845, S. 222. Johann Gottlieb Fichte, „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ (1794), Sämmtliche Werke. Erster Band, herausgegeben von I. H. Fichte, Berlin 1845, S. 145. Interessanterweise hat Manfred Frank Fichtes Philosophie gerade auch im Zusammenhang der soeben erwähnten Passage aus Fichtes Wissenschaftslehre verteidigt: „Warum ist das Gefühl des Leidens nicht – wie bei Kant – wenigstens genetisch ursprünglicher als das Bewusstsein der ‚Selbsttätigkeit‘? Weil – gemäß Prämisse – Kenntnis unserer Aktivität ja die Primärerfahrung unseres unmittelbaren Selbstbewusstseins ist. Sie ist das einzige, das ich als Evidenz voraussetzen muss. Von ihr, nicht vom Leiden muß ich also ausgehen. Und dann ergibt sich ziemlich logisch, dass ich das Leiden – dessen Erfahrung ich ja nicht etwa leugnen, sondern nur erklären will – aus

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Leid und Leiden als graduell gehemmte Formen des Handelns stoßen nicht an eine Grenze praktischer Verfügbarkeit. Anders als der Historismus, für den sich das Phänomen historischer Entwicklung unbeschränkter Verfügbarkeit ebenso wie der Präsumtion zwingender Notwendigkeit entzieht, anders als Savigny, welchem die aktuelle Rechtssituation die Maxime in Erinnerung ruft, dass das Recht nicht gemacht werden kann, anders als Schleiermachers theologisch belehrte Einwilligung in unsere „schlechthinnige Abhängigkeit“, anders als Caspar David Friedrichs Blick auf eine unverfügbare Natur, welche von der Majestät einer Macht zeugt, die größer ist als das Vermögen unseres kleinen Ichs, anders als all diese Exempla und Positionen einer historistischen Einwilligung in das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte, formuliert die Romantik ein Ethos menschlicher Kreativität und eine theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall, welche eine prinzipielle Verfügbarkeit von Geschichten und Geschichte für menschliche Kreativität voraussetzen. Die unbegrenzte Kreativität des Menschen beraubt alles Geschehen seines unverfügbaren Charakters. Und so lässt sich schließlich sogar, wie Fichte in der zuletzt zitierten Formulierung andeutet, das Widerfahrnis eines Leids als Resultat menschlichen Handelns oder die Aufhebung dieses Widerfahrnisses als praktisch verfügbar charakterisieren, gelingt es, wie Schiller 1801 formuliert, „das wirkliche Leiden in eine erhabene Rührung aufzulösen“304 und durch eine dem Menschen stets mögliche Kreativität alle unverfügbaren Widerfahrnisse ihrer potenziellen Bösartigkeit zu berauben und in ein Produkt menschlichen Handelns zu verwandeln. Einem solchermaßen von Empfindungen des Erhabenen gestärkten Geist würde, wie Schiller zudem noch bemerkt, das „relativ Große außer ihm [...] der Spiegel, worin er das absolut Große in ihm selbst erblickt.“305 Unsere lediglich und exemplarisch in Auseinandersetzung mit der Schrift Die Bestimmung des Menschen entwickelte Deutung von Fichtes Denken als Inbegriff und Exempel der romantischen Verschränkung eines Ethos von Kreativität und einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in Geschichten wie in Geschichte im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren schlägt, dies sei abschließend konzediert, eine ganz andere Sichtweise von Fichtes Philosophie vor als die von Dieter Henrich vorgeschlagene Interpretation, welche Fichtes „ursprüngliche Einsicht“ gerade darin sehen will, dass sie gegen eine Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins Stellung bezieht und im Zuge dessen für ein dem Selbstbewusstsein vorausliegendes Unverfügbares aufmerksam ist. Ich sehe in Henrichs Interpretation von Fichtes Philosophie aber aufgrund der zeitlichen Entwicklung von Fichtes Denken keinen unüberwindlichen Widerspruch zu meiner Deutung von Fichtes Thesen in Die Bestimmung des Menschen, die zudem und punktuell auch noch auf vor 1800 verfasste Schriften Fichtes Bezug nahm. Zwar wendet sich Henrich in seiner Fichte-Interpretation ganz prinzipiell gegen jede Variante einer seiner Meinung

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dem Tun verständlich machen muss.“ Manfred Frank, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, a.a.O. , S. 144. Friedrich Schiller, „Über das Erhabene“ (1801), in: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie, Stuttgart 1995, S. 97. Ebd., S. 92.

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nach völlig ungerechtfertigten Verunglimpfung von Fichtes Philosophie, welche dessen Denken als ein Denken versteht, welches „Selbstsein und Selbstmacht identifiziert.“306 Aber selbst Henrich, der sich in seiner Schrift Fichtes ursprüngliche Einsicht ausschließlich auf die unterschiedlichen Fassungen von Fichtes Wissenschaftslehre bezieht, sieht jene grundlegende Einsicht, auf die seine Interpretation aufmerksam machen will, endgültig erst mit der Fassung der Wissenschaftslehre von 1801 formuliert und entwickelt, jene Einsicht nämlich, wonach „Selbstsein […] Manifestation Gottes“307 ist. Diese reife Position von 1801, wie sehr auch immer Keime von ihr in früheren Werken oder Fassungen der Wissenschaftslehre bereits enthalten sein mögen, diese Position, welche Henrich ganz zu Recht, so wie dies ja auch für den Kontext von Die Bestimmung des Menschen sicherlich zutrifft, als Reaktion auf den Atheismusstreit und den gegen Fichte erhobenen Atheismusvorwurf deutet, lässt sich laut Henrich so umschreiben: „Das Selbstbewusstsein ist Manifestation, die Manifestation seiner selbst aber nur die Erscheinung eines Grundes, der für alles Erkennen unausdenkbar ist. Nach der Lehre von 1798 manifestiert es das Gesetz der intelligiblen Welt, nach der von 1801 Gottes Leben. So konnte Fichte an den Gedanken von 1798 anknüpfen, als neue Erfahrungen und weitere Gründe ihn veranlassten, die Wissenschaftslehre im ganzen umzugestalten.“308 Henrichs Interpretation lässt sich also entnehmen, dass Fichte auf den intrinsischen Zusammenhang von Selbstbewusstsein und einem diesem Selbstbewusstsein vorausgehenden Absoluten erst nach dem Erscheinen von Die Bestimmung des Menschen ausdrücklich verweist, sodass zwischen Henrichs Interpretation des späten Fichte und der von mir vorgeschlagenen Deutung von Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen sowie von davor verfassten Schriften nicht eo ipso ein zwingender Widerspruch bestehen muss. Wie sich das romantische Pathos eines prinzipiell verfügbaren Zufalls und einer prinzipiell verfügbaren Kontingenz in der menschlichen Geschichte wie in den Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin sattelzeitlich zunehmend verbraucht, will ich abschließend an zwei Autoren demonstrieren, die Hermann August Korff im vierten Band seines opus magnum über den Geist der Goethezeit als Protagonisten der „Hochromantik“ charakterisiert hat und die ganz zweifellos in jeder Erörterung der romantischen Literatur und der in ihr aufzufindenden theoretischen Sensibilität für auf spezifische Weise zu verstehende Kontingenzen und Zufälligkeiten ihren Platz zu finden haben: Heinrich von Kleist und Joseph von Eichendorff. Mit Eichendorffs religiös motivierter Einwilligung in die segensreichen Wirkungen des Unverfügbaren und Kleists pessimistischem Entsetzen vor dem rätselhaften Schlund des Unverfügbaren, dem durch eigene Leistung niemals zu entkommen ist, hat sich freilich noch im Kontext der „Hochromantik“ die bislang skizzierte, spezifisch romantische Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren schon wieder verbraucht.

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Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt am Main 1967 (1966), S. 8. Ebd., S. 39. Ebd., S. 48.

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In einer für das Thema dieses Kapitels, die Frage der sattelzeitlichen Formen von Kontingenz- und Zufallssensibilität, außerordentlich bedeutsamen und aufschlussreichen brieflichen Äußerung, auf die Karl Heinz Bohrer in seiner Studie Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität aufmerksam macht, schreibt Kleist im Juli 1801 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge: „Und dann – ist es denn auch so gewiß, dass ich meinem Abgrund entgegen eile? Wer kann die Wendungen des Schicksals erraten? Gibt es eine Nacht, die ewig dauert? So wie eine unbegreifliche Fügung mich schnell unglücklich machte, kann nicht eine ebenso unbegreifliche Fügung mich ebenso schnell glücklich machen?“309 Und weiter und nur scheinbar von dem durch dergleichen Fragen angerissenen Thema ablenkend, heißt es nun im gleichen Brief: „Jetzt muss ich Dir doch auch etwas von meiner Reise schreiben. – Weißt du wohl, dass dein Freund einmal dem Tode recht nahe war? Erschrick nicht, bloß nahe, und noch steht er mit allen seinen Füßen im Leben […] Fünf Meilen, vor diesem Orte, in Butzbach, einem kleinen Städtchen, hielten wir an einem Morgen, vor einem Wirtshause an, den Pferden Heu vorzulegen, wobei Johann ihnen die Zügel abnahm und wir beide sorglos sitzen blieben. Während Johann in dem Hause war, kommt ein Zug von Steineseln hinter uns her, und einer von ihnen erhebt ein so grässliches Geschrei, dass wir selbst, wenn wir nicht so vernünftig wären, scheu geworden wären. Unsere Pferde aber, die das Unglück haben, keine Vernunft zu besitzen, hoben sich kerzengerade in die Höhe, und gingen dann spornstreichs mit uns über das Steinpflaster durch. Ich griff nach der Leine – aber die Zügel lagen den Pferden, aufgelöset, über der Brust, und ehe wir Zeit hatten, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug unser leichter Wagen um, und wir stürzten – Also an ein Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es geschlossen gewesen wäre, darum hätte ich gelebt? Das wäre die Absicht des Schöpfers gewesen bei diesem dunkeln, rätselhaften irdischen Leben? Das hätte ich darin lernen und tun sollen, und weiter nichts –? Doch, noch war es nicht geschlossen. Wozu der Himmel es mir gefristet hat, wer kann es wissen? – Kurz wir standen beide, frisch und gesund von dem Steinpflaster auf, und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, die Räder zu oberst, ein Rad war ganz zertrümmert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen. Das kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden; dann ging es weiter – wohin? Gott weiß es.“310 Bohrer erblickt in dieser fundamentalen spezifischen Erfahrung von Kontingenz und Zufall, wie sie Kleist hier schildert, zunächst einmal eine bewusste theoretische Affirmation von Kontingenz und Zufall. Für Kleist kann kein Zweifel sein, so Bohrer, „das 309

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Vergleiche hierzu Heinrich von Kleist, „Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21.7.1801“, in: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band, herausgegeben von Helmut Sembdner, München 2001, S. 668. Ebd., S. 669.

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Menschenleben ist dem Zufall unterworfen, eines Esels Schrei ist folgenreicher als seine eigene mögliche Bestimmung“311 , und Bohrer deutet nun Kleists gesamtes Werk als literarische Reaktion und Reflexion auf diese Erfahrung und theoretische Affirmation von Kontingenzen und Zufällen, welche für das menschliche Leben in unhintergehbarer Weise konstitutiv sind. Interessiert man sich weiter für den genauen literarischen Ort von Kleists grundsätzlicher theoretischer Sensibilität für die Kontingenzen und Zufälle eines menschlichen Lebens, findet man sich wohl vor allem auf Kleists Novellistik verwiesen:312 Das beweist vorweg allein ein formales Indiz, nämlich die in allen Novellen anzutreffende, überaus häufige Verwendung des Attributs „zufällig“ oder ständig wiederkehrende Formulierungen, wie „es fand sich“ oder „es traf sich“, welche eine die Erzählung vorantreibende Sukzession von unerwarteten Ereignissen und unberechenbaren Handlungen dem Leser auch ausdrücklich als ein zufälliges und kontingentes Geschehen kenntlich machen.313 „Alle seine Novellen“, schreibt Hermann August Korff im vierten Band von Geist der Goethezeit über die inhaltliche Substanz von Kleists Erzählungen, „haben die furchtbarsten Voraussetzungen. Die ganze Welt scheint in ihnen aus den Fugen zu sein. Alle Mauern sind gefallen, von denen das geordnete Leben des Menschen eingehegt und gesichert zu sein pflegt.“314 Nicht nur bebt in Kleists Erzählung Das Erdbeben von Chili buchstäblich die Erde; für alle Erzählungen Kleists lässt sich konstatieren, dass in ihnen die vermeintlich sicheren Fundamente menschlichen Daseins, „die Grundfesten der Ordnung und Gesittung“ beben; „alle wilden Elemente sind entfesselt.“315 Diese 311 312

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Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, a.a.O., S. 95. Trotz der zentralen Rolle der Novellistik für Kleists Kontingenz- und Zufallssensibilität darf freilich nicht vergessen werden, dass Kleist auch in seinen literaturtheoretischen Reflexionen Zufall und Kontingenz durchaus thematisiert. Insbesondere ein in der Geschichte waltender Zufall war ihm, dem Anhänger der Französischen Revolution, in einer Weise vertraut, dass selbst die begrüßte politische Tendenz oder Position nicht als automatisches Resultat eherner historischer Notwendigkeiten oder einer praktisch werdenden Vernunft, denn vielmehr als Resultat eines Zufalls gesehen werden musste, wie die berühmte Passage in Kleists Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ andeutet. Angesichts der sich erst allmählich verfertigenden Rhetorik Mirabeaus gegen den königlichen Zeremonienmeister, welche eben gerade keinem vorgefertigten Plan Folge leistet, schreibt Kleist über die historischen Ursachen der Französischen Revolution: „Vielleicht, dass es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“ Heinrich von Kleist, „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band, herausgegeben von Helmut Sembdner, a.a.O , S. 321. Zu der typisch Kleistschen Formel des „es traf sich, dass…“ bemerkt der amerikanische Germanist David Wellberry: „Sätze, die mit dieser Formel anheben, zeitigen narrative Prozesse, ohne selber funktional aufzugehen in einer narrativen Ordnung. Sie markieren mit anderen Worten die Verwurzelung des Narrativen in einem Feld des Kontingenten, das sich nicht narrativ aneignen lässt und ohne das es kein Narratives gäbe.“ David Wellberry, „Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus“, in: Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, herausgegeben von Klaus Hempfer, Stuttgart 1992, S. 168. Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte. IV. Teil: Hochromantik, a.a.O., S. 86. Ebd., S. 86.

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Erschütterung jeder die Unsicherheiten und Ungewissheiten des menschlichen Lebens einhegenden Ordnung ergibt sich für Kleist aus kontingenten und zufälligen Begebenheiten, die nicht hätten eintreten müssen, nun aber, da sie eingetreten sind, das Geschehen der Erzählung in einer noch wenige Seiten zuvor undenkbaren Weise beeinflussen. So ist es Zufall, dass sich dem Michael Kohlhaas, als er zum achtzehnten Mal vom Brandenburgischen ins Sächsische passieren möchte, ein Schlagbaum entgegenstellt, der nun ein Geschehen in Gang setzt, welches in der Tat „die Grundfesten der Ordnung und Gesittung“ ins Wanken bringt. Wie genauerhin Kleist im Rahmen seiner Novellen den das menschliche Leben erschütternden Zufall und die dem Menschen begegnende Kontingenz verstanden wissen will, dies sondiert Ernst Nef in einem Kapitel seiner literaturgeschichtlichen Untersuchung Der Zufall in der Erzählkunst aber nicht anhand des Michael Kohlhaas, sondern am Beispiel von Kleists 1811 entstandener Erzählung Der Findling: Der Zufall sei, diese These hinsichtlich der Funktion und Relevanz der für Kleists Erzählungen charakteristischen Kontingenz- und Zufallssensibilität sucht Nef zu begründen, der Zufall sei bei Kleist zunächst einmal ganz anderes als Ausdruck unserer Unkenntnis der ein Geschehen bestimmenden Ursachen, anderes als ein „asylum ignorantiae“ (Spinoza) oder ein „testimonium paupertatis“ (Windelband), und insofern keine zähmbare oder verfügbare Instanz, vielmehr rational unzugängliche, omnipräsente, dabei aber stets alltägliche und im Grunde unhintergehbar unverfügbare „Manifestation eines weltlichen Chaos, und das Versagen menschlichen Begreifens in dieser Beschaffenheit der Welt begründet: ein Stück durch nichts bewältigter Welt bricht im Zufall über den Menschen herein.“316 Zufälle und die durch sie ausgelösten Handlungsketten bereiten dabei in Kleist Erzählungen stets oder zumindest in der überwältigenden Mehrheit ihres Auftretens den von ihnen Betroffenen ein schlimmes, jedenfalls ein unverfügbares Ende, während im Gegensatz hierzu die wenigen, zufällig eintretenden glücklichen Fügungen von Kleist stets als „Wunder“ deklariert werden. In Kleists Erzählung Der Findling ist diese pessimistische und, wie wir nunmehr sagen können, mit der genuin romantischen Form von Kontingenz- und Zufallssensibilität unvereinbare Einschätzung der unbeschränkten Verfügbarkeit von Zufall und Kontingenz deutlich artikuliert. Schon die ersten wenigen Seiten der Erzählung illustrieren dies: Es ist Zufall, dass in Ragusa die Pest ausbricht. Es ist Zufall, dass sich der römische Güterhändler Antonio Piachi wegen geschäftlicher Belange auf dem Wege nach Ragusa befindet. Es trifft sich zufällig, dass dem Piachi und seinem Sohn Paolo auf einer Geschäftsreise nach Ragusa ein Junge namens Nicolo begegnet, es ist ebenfalls eine zufällige Regung, dass das Mitleid des Piachi dazu führt, diesen zu sich in den Wagen zu nehmen, und Zufall ist es auch, dass alle drei von polizeilicher Gewalt entdeckt und nach Ragusa zurückgeschickt werden. Zufällig findet es sich schließlich auch, dass der ursprünglich kranke Nicolo gesundet, während der leibliche Sohn Paolo verstirbt. Eine schier nicht enden wollende Kette von Zufällen treibt, so sehen wir, Kleists Novelle bereits auf den allerersten Seiten und in einigen wenigen Sätzen und Absätzen voran und sodann das Geschehen der Erzählung insgesamt und zwar in eine für den Leser dieser kurzen Erzählung niemals vorhersehbare Richtung: 316

Ernst Nef, Der Zufall in der Erzählkunst, Bern/München 1970, S. 27.

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H  R: D U   V „So kann von einer ‚allmählichen Verfertigung‘ der Novellenhandlung und Personen gesprochen werden in eben dem Sinne, den Kleist für die ‚allmähliche Verfertigung der Gedanken‘ beansprucht, dass nämlich das schließlich Verfertigte sich nicht entfaltet hat, sondern überhaupt erst entstanden ist im Dialog, in der Kette der Situationen.“317

Und nur sehr selten wirkt sich dabei in Kleists Erzählungen, so wiederum Nef, „ein Zufall nicht als Verhängnis aus“318 . Indes, mag es auch zutreffen, dass bei Kleist der Zufall als ein im Grunde unlösbares Rätsel erscheint, als ein alltäglich erfahrbarer Aspekt jenes unerklärlichen Abyssus, über welchen der Mensch niemals verfügen kann, in den er vielmehr hoffnungslos geworfen ist und aus dem sich emporzuretten ihm weder durch eigene Kräfte noch durch die Unterstützung einer äußeren Macht gelingen kann, so provoziert doch jeder Zufall durchaus auch eine Reaktion von Seiten der Akteure, welche die Novellenhandlung ihrerseits vorantreibt. Insofern entkommt der Mensch zwar niemals den unverfügbaren Widerfahrnissen des Zufalls, aber er kann in seltenen Fällen doch, anstatt in ohnmächtigem Entsetzen „über die Zufälligkeit der Welt, die […] Vernichtung bedeutet“319 , zu erstarren, die zerstörerischen Impulse des Zufalls durch sein Handeln gleichsam kompensieren: „Durch sein Handeln fängt der Mensch in der konkreten Situation die Zufälligkeit des Geschehens ab. Die grundsätzliche Vormacht des Zufalls ist damit nicht gebrochen, doch für einen Augenblick außer Kraft gesetzt, indem das einzelne Ereignis nachträglich seiner Herrschaft entzogen wird. […] Allmähliche Verfertigung der Einheit der Welt als wechselseitige Determination von Ereigniskette und -person: das ist die Grundfigur Kleistscher Novellen. Es ist die Figur der Situation, in der der Mensch versucht, Kontinuität in einer von Zufällen beherrschten Welt herzustellen, indem er durch ausdeutendes Handeln die Ereignisse einordnet und zugleich sich selber festlegen lässt auf eine nicht mehr auflösbare Einheit von Schicksal und Sein.“320 Auch die Literatur Joseph von Eichendorffs räumt dem zufälligen und kontingenten Geschehen in der Zeit der „Hochromantik“ breiten literarischen Raum ein. Die Rede eines der drei Studenten, der Eichendorffs Taugenichts gegen Ende der Novelle begegnet und mit der jener sein recht eigentlich zielloses Herumvagabundieren in dieser Welt und seine Art des Reisens rechtfertigt, lässt sich Eichendorffs Sympathie für auf bestimmte Weise gedeutete Kontingenzen und Zufälle deutlich entnehmen: „[…] ich möchte gar nicht so reisen: Pferde und Kaffee und frischüberzogene Betten, und Nachtbetten und Stiefelknecht vorausbestellt. Das ist just das 317

318 319

320

Hans-Peter Herrmann, „Zufall und Ich. Zum Begriff der Situation in den Novellen Heinrich von Kleists“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 11 (1961), S. 82. Ernst Nef, Der Zufall in der Erzählkunst, a.a.O., S. 24. Hans-Peter Herrmann, „Zufall und Ich. Zum Begriff der Situation in den Novellen Heinrich von Kleists“, in: a.a.O., S. 86. Ebd., S. 78 bzw. 82.

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Schönste, wenn wir so frühmorgens heraustreten, und die Zugvögel hoch über uns fortziehn, dass wir gar nicht wissen, welcher Schornstein heut für uns raucht, und gar nicht voraussehen, was uns bis zum Abend noch für ein besonderes Glück begegnen kann.“321 Alles könnte auch anders sein. Aber diese Kontingenz ist darum doch für Eichendorff ebenso wenig verfügbar, gar unbeschränkt verfügbar, wie für Kleist. Vielmehr ist diese Kontingenz auch für Eichendorff unhintergehbar unverfügbar. Freilich, anders als in Kleists Novellen, die von einem Unverfügbaren handeln, welches als rätselhaftes und unerklärliches tremendum gefasst wird, sorgt das Unverfügbare in Eichendorffs Werken nicht für ein pessimistisches Entsetzen vor der gähnenden Sinnleere eines unverfügbaren Daseins im Sinne der erschrockenen Frage: „Also an ein Eselsgeschrei hing ein Menschenleben?“322 , sondern motiviert die religiös gestützte Hoffnung, dass mit uns letzthin alles zum Besten bestellt ist. In deutlichem Gegensatz zu Kleists Novellistik vertrauen die immer wieder den vermeintlich richtigen Pfad verfehlenden, den rechten Zeitpunkt verschlafenden, die ohne feste Intention eine Reise antretenden Figuren Eichendorffs auf eine unverfügbare Fügung, welche die ihnen widerfahrenden Zufälle und Kontingenzen in eine ihnen angemessene Richtung lenkt. Die wohlmeinende Weisheit und die List eines unverfügbaren Zufalls zeigen sich freilich weder dem Leser noch Eichendorffs Akteuren in eventu, sondern einzig post festum. Das ändert jedoch nichts daran, dass Eichendorff seinen Helden einen unverfügbaren, aber hinsichtlich seiner Folgen für ein individuelles Lebensschicksal stets wohlmeinenden Zufall angedeihen lässt. Über die Quelle derartiger, stets ein „happy end“ verbürgenden Unverfügbarkeiten in den vielen Geschichten und der einen Geschichte kann für Eichendorff gar kein Zweifel sein. Im letzten Kapitel von Dichter und ihre Gesellen heißt es in einer für Eichendorffs religiöse Einbettung unverfügbarer Zufälle und Kontingenzen ganz charakteristischen Weise: „So hatte also […] ein jeder vor lauter Klugheit die möglichst größte Konfusion angerichtet, der liebe Gott aber unversehens alles wieder gescheiter gemacht.“323 Die Taten jenes Gottes, welcher alle unverfügbaren Widerfahrnisse letztlich zum Guten richtet, können wir freilich niemals im Voraus erkennen und verstehen, und wir können daher auch nicht mit ihnen rechnen und kalkulieren, wir können uns ihnen nur im Akt des Glaubens anvertrauen und, ist die zeitliche Dimension der Zukunft betroffen, mit einer Einstellung der Hoffnung überlassen: „Zuversicht, nicht Einsicht, gibt den Figuren Eichendorffs ihr Gefühl der Sicherheit – einer Sicherheit demnach, die ihren Anker im Glauben, nicht im Wissen hat.“324 Der stets glückliche Ausgang von Eichendorffs Erzählungen, so schreibt Nef, „entlarvt jede Unsicherheit angesichts des Ungewissen als unnötige Angst. Wie sich alles fügt, wird im Zufall verschwiegen; dass sich alles fügt zur Bewahrung und nach Maßen der Figuren zeigt der Gang der Handlungen im 321 322 323

324

Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, Stuttgart 1992 (1826), S. 84. Vergleiche Anmerkung 310 auf S. 441 in diesem Kapitel. Joseph von Eichendorff, „Dichter und ihre Gesellen“ (1834), in: Ausgewählte Werke. Band 4, herausgegeben von Hans Neunzig, München 1987, S. 256. Ernst Nef, Der Zufall in der Erzählkunst, a.a.O., S. 36.

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H  R: D U   V Rückblick. Das Unglück der Figuren, die ihr Schicksal selber in die Hand nehmen wollen, stellt die schlimmen Folgen des Versuchs, zu erfahren, woher sich zuträgt, was geschieht, um dies Geschehen dann in den Griff zu bekommen, dar.“325

Besonders deutlich wird Eichendorffs religiös fundierte Interpretation einer sich in Zufällen und Kontingenzen artikulierenden, unhintergehbaren Unverfügbarkeit, die dem, welcher sich ihr im Glauben auf die göttliche Fürsorge in einer Haltung der Hoffnung bezüglich der Zukunft, des Vertrauens bezüglich der Gegenwart und der Dankbarkeit bezüglich der Vergangenheit zu überlassen wagt, zum Guten gereicht, auch in Eichendorffs Erzählung Ahnung und Gegenwart. Der junge Graf Friedrich lässt sich in allen Momenten und Episoden seiner Reise und bei dem ständigen Wandel seiner Reiseziele doch niemals von unbeirrbaren Vorsätzen und strikten Plänen und Intentionen leiten, vielmehr, wie Lothar Pikulik reformuliert, „vom vagen Fernweh, von Ahnungen und plötzlichen Eingebungen, Zufällen und unerwarteten Begegnungen lenken.“326 Angesichts des guten Endes, zu welchem ihm diese Sorgenfreiheit und Unbekümmertheit auch gegenüber den Wirrungen des Zufalls letztlich gereicht, zeigt sich Friedrich in Ahnung und Gegenwart beim Anblick des zum Abschluss seines Studentenlebens ursprünglich gefertigten Reise- und zugleich auch Karriereplans, der ja dann überhaupt nicht realisiert wurde, und im Rückblick auf die ganz anders verlaufene, tatsächlich erfolgte Reise zutiefst dankbar: „So erinnerte sich auch Friedrich, daß er ein Empfehlungsschreiben an den hiesigen Minister P., den er von einsichtsvollen Männern als ein Wunder von tüchtiger Tätigkeit rühmen gehört, bei sich habe. Er zog es hervor und überlas bei dieser Gelegenheit wieder einmal den weitläufigen Reiseplan, den er bei seinem Auszuge von der Universität sorgfältig in seine Schreibtafel aufgezeichnet hatte. Es rührte ihn, wie da alle Wege so genau vorausbestimmt waren, und wie nachher alles anders gekommen war, wie das innere Leben überall durchdringt und, sich an keine vorberechneten Pläne kehrend, gleich einem Baume aus freier, geheimnisvoller Werkstatt seine Äste nach allen Richtungen hinstreckt und treibt, und erst als Ganzes einen Plan und Ordnung erweist.“327 In diesem Zusammenhang mag es sich verlohnen, noch einmal an Eichendorffs Taugenichts zu erinnern, der zu Beginn der Erzählung auf die entsprechende Nachfrage eines vorbeifahrenden Reisewagens dreist eine vorsätzlich gefasste Intention in Form eines definitiven Reiseziels vortäuscht, von der doch realiter gar keine Rede sein kann: „Wohin wandert Er denn schon so früh am Morgen?“ wird der Taugenichts nämlich gleich zu Beginn der Erzählung gefragt. „Da schämte ich mich, dass ich das selber nicht wusste, 325 326

327

Ebd., S. 36. Lothar Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs, Frankfurt am Main 1979, S. 397. Joseph von Eichendorff, „Ahnung und Gegenwart“ (1815), in: Ausgewählte Werke. Band 3, herausgegeben von Hans Neunzig, München 1987, S. 144.

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und sagte dreist: ‚Nach W.‘.“328 Aber dass der Taugenichts schon zu Beginn der Erzählung eine Reise nach Wien beabsichtigen würde, dies ist ja gar nicht der Fall. Nur dass nun eben solche Freiheit von vorgefassten Intentionen, Absichten und Zwecken dem Taugenichts gerade nicht zum Mangel gerät, sondern zum Guten gereicht, wie sich den letzten Worten von Eichendorffs Erzählung unschwer entnehmen lässt: „[…] und es war alles, alles gut!“329 Die unhintergehbare Unverfügbarkeit der Zufälle und Kontingenzen, wie sie unsere vielen Lebensgeschichten prägen, motiviert Eichendorff anders als Kleist nicht zu einem pessimistischen Entsetzen vor den grauenhaften Resultaten unverfügbarer Widerfahrnisse, sondern zu dem religiös fundierten Aufruf einer Einwilligung in das Unverfügbare. Eichendorffs Figuren, so lässt sich abschließend feststellen, „machen sich gar keine Sorgen darüber, dass sie über das Geschehen, an dem sie teilhaben, weder theoretische noch praktische Verfügungsgewalt besitzen. Sie setzen sich gerne Unvorhergesehenem aus (so fürchten sie sich auch nicht, wenn sie sich verirrt haben). Ihr nicht sträflicher Leichtsinn (sie fahren ja gut damit) lässt sie nie darnach trachten, das Heft des Schicksals selbst in die Hand zu bekommen. […] Eichendorffs Figuren tun gut daran, sich dem was ohne ihre Einsicht mit ihnen geschieht, auszuliefern. Das Maß ihres Glücks richtet sich geradezu nach dem Maß ihrer Bereitschaft zum Verzicht auf eigene Pläne, nach dem Maß ihrer Willfährigkeit gegenüber dem Unvorhergesehenen“330 . Unser Versuch, die von Schmitts und Berlins Interpretationen der Romantik ausgehende These, dass eine bestimmte theoretische Sensibilität für Kontingenz und Zufall im Sinne eines unbeschränkt Verfügbaren in den vielen Geschichten und in der einen Geschichte für die Romantik konstitutiv ist, zu belegen, ist an ein Ende gelangt. Zu Ende gekommen ist damit aber auch der grundsätzliche Versuch, zwei unterschiedliche Formen sattelzeitlicher Sensibilität für Kontingenz und Zufall, nämlich für das unhintergehbar Unverfügbare und das unbeschränkt Verfügbare in den vielen Geschichten und in der einen Geschichte, voneinander zu sondern. Historismus wie Romantik insistieren, so lässt sich am Ende dieses Kapitels resümieren, auf Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte. Aber sie tun dies in unterschiedlicher Weise: der Historismus, indem er im Namen eines unhintergehbar Unverfügbaren auch und vor allem in der menschlichen Geschichte sowohl an die Grenzen der Verfügbarkeit erinnert als auch der Präsumtion historischer Notwendigkeit widerspricht; die Romantik, indem sie ihre Vorstellung von Kontingenz und Zufall mit einem bestimmten Ethos kreativen Handelns verschränkt und insofern im Namen eines unbeschränkt Verfügbaren in der Geschichte und in den vielen Geschichten eines menschlichen Lebens sowohl der Präsumtion historischer Notwendigkeit als auch der Präsumtion einer unhintergehbaren Unverfügbarkeit von Geschichte und von Geschichten widerspricht.

328 329 330

Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, Stuttgart 1992 (1826), S. 6. Ebd., S. 101. Ernst Nef, Der Zufall in der Erzählkunst, a.a.O., S. 33 f.

VI Diskontinuität, Wandel und Kontingenz in der Geschichte: J. G. A. Pocock und die Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit

Die im vorangegangenen Kapitel entwickelte und formulierte These, dass sich im Historismus eine sattelzeitliche Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte und in der Romantik eine sattelzeitliche Sensibilität für das unbeschränkt Verfügbare in der einen Geschichte und den vielen Geschichten nachweisen und belegen lässt, lädt zu einer Historisierung ein. Diese Historisierung kann naturgemäß in zwei Richtungen blicken. Sie kann gewissermaßen vor- wie zurückschreiten. Blickt sie nicht in die Zeit nach der Sattelzeit, kümmert sich also nicht um jeweilige Fortsetzungen und Spätformen historistischer und romantischer Sensibilität für Kontingenz und Zufall, sondern blickt in die Zeit vor der Sattelzeit, und genau das wollen wir in den beiden folgenden Kapiteln dieser Arbeit auch tun, hat sie sich einem gemeinhin als Frühe Neuzeit bezeichneten historischen Zeitraum zu widmen und die Frage nach der theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall oder nach den unterschiedlichen Versionen einer solchen Sensibilität für die gleichsam vorsattelzeitliche Periode zu stellen. Gab es in der Frühen Neuzeit, so dürfte dann unter anderem zu fragen sein, Frühformen oder Vorgänger der historistischen Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte? Gab es in der Frühen Neuzeit Frühformen oder Vorgänger der romantischen Sensibilität für das unbeschränkt Verfügbare in der menschlichen Geschichte wie im menschlichen Leben schlechthin? Gibt es schließlich noch andere heuristische Kriterien, kraft deren sich die frühneuzeitliche Thematisierung von Kontingenz und Zufall strukturell differenzieren lässt? Welche zusätzlichen besonderen Merkmale – jenseits der Kategorien von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit – zeichnen also die frühneuzeitliche Sensibilität für Kontingenz oder auch für Zufall aus?1 Allgemeiner und abstrakter formuliert lautet die zentrale Frage dieses 1

Für die Ausführungen dieses sechsten Kapitels schlage ich nun tatsächlich – im Unterschied zu den beiden anderen ideengeschichtlichen Skizzen dieser Arbeit in Kapitel 5 und 7 – vor, sich terminologisch zu beschränken und ausschließlich von Kontingenz und nicht von Zufall zu sprechen. Denn sowohl Pococks Interpretation des frühneuzeitlichen Geschichtsdenkens als auch die historischen Quellen, welche wir mit Hilfe von Pococks Interpretation befragen werden, geben allein

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und des folgenden Kapitels also: In welcher Weise, mit welchen Begriffen und mit Hilfe welcher theoretischen Vorstellungen wurde in der Frühen Neuzeit Geschichte, genauer: der Verlauf der Geschichte gedacht, und inwiefern lässt sich dabei, wenn vielleicht auch kein ausformulierter und systematischer theoretischer Entwurf, so doch immerhin eine implizite Ahnung dessen registrieren, dass Geschichte immer auch, wenn nicht allein und ausschließlich, durch Momente von Kontingenz charakterisiert ist? Nun kann ich im Folgenden das unüberschaubare Gelände des Geschichtsdenkens der Frühen Neuzeit insgesamt oder auch nur die spezifische Frage, inwiefern im frühneuzeitlichen Geschichtsdenken Vorstellungen von Kontingenz oder genauer: von historischer Kontingenz thematisiert werden, noch nicht einmal ansatzweise ohne kundige Orientierungshilfe betreten und ich will dies auch gar nicht tun. Daher werde ich mich zunächst dem Werk eines diesbezüglich sehr kundigen Wegbegleiters widmen, dieses Werk intensiv dazu befragen, inwiefern es wegweisende Lösungsansätze oder Erkenntnisse für die mich interessierende Problematik und Fragestellung enthält, und erst danach und im Rückgriff auf die so gewonnene theoretische Hilfeleistung die Plausibilität dieser Lösungsansätze und Erkenntnisse anhand des zwangsläufig immer nur selektiv zu Rate ziehenden historischen Materials zu belegen versuchen. Ich wiederhole insofern mutatis mutandis das Verfahren des vorangegangenen Kapitels. Erwiesen sich nun im vorherigen Kapitel Reinhart Kosellecks Schriften als ein idealer theoretischer Ausgangspunkt, um die Frage nach der theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte für die historische Periode der Sattelzeit in Angriff zu nehmen, so kenne ich nun für den Versuch, sich durch das Dickicht des frühneuzeitlichen Geschichtsdenkens zu schlagen mit dem erklärten Ziel, theoretische Klarheit bezüglich der mich interessierenden Thematik zu gewinnen, keinen kundigeren Ratgeber als das Werk des britischen Historikers J. G. A. Pocock. Denn nicht nur ist Pocock zweifellos einer der bedeutendsten Spezialisten für das politische, historische und juristische Denken der Frühen Neuzeit, sondern diese Spezialisierung ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in Pococks Werk thematisch eindeutig und primär orientiert an der Frage nach den frühneuzeitlich nachweisbaren Formen, Geschichte und historische Zeit und damit auch den Verlauf von Geschichte und historischer Zeit zu durchdenken, und kommt insofern auf die mich interessierende Problematik und Fragestellung so deutlich zu sprechen wie das Werk keines anderen Frühneuzeithistorikers.2 Insofern initiieren die folgenden Ausführungen dieses Kapitels auch ein inhaltliches Gespräch zwischen

2

ein Bewusstsein für das nicht notwendige Mögliche in der Geschichte und in einem so definierten Sinne ein Bewusstsein für Kontingenz in der Geschichte zu erkennen, nicht aber ein Bewusstsein für das nicht notwendige Wirkliche und in einem so definierten Sinne eben kein Bewusstsein für Zufall in der Geschichte. Vergleiche zu den semantischen und theoretischen Binnendifferenzen der Ideen und Begriffe von Kontingenz und Zufall insgesamt das Ende des ersten Kapitels dieser Arbeit, S. 64–66. Dies gilt zumindest, wie im Folgenden deutlich werden wird, für Pococks Schriften bis etwa 1975. Nach der Publikation seines wohl bekanntesten Werkes The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition lässt sich in Pococks Werk eine zunehmende Verlagerung von Forschungsinteressen sowohl in zeitlicher als auch in thematischer Hinsicht beobachten, sodass der „späte“ Pocock für meine Fragestellung in weitaus geringerem Maße anschlussfähig ist.

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Kosellecks Thesen bezüglich der sattelzeitlichen Sensibilität für Kontingenz und Zufall und Pococks Thesen bezüglich der frühneuzeitlichen Sensibilität für Kontingenz in der Geschichte und wollen die theoretische Fruchtbarkeit eines solchen imaginären Dialogs für die mich interessierende Frage nach den Formen und Versionen der Thematisierung historischer Kontingenz und historischen Zufalls im Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und Sattelzeit erkunden.3 Lassen wir dabei noch einmal rasch die Ergebnisse des vorherigen Kapitels Revue passieren, bevor wir dann das genauere Vorgehen dieses Kapitels vorstellen und präsentieren: Für die historische Periode der Sattelzeit ließen sich zwei Versionen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall diagnostizieren, die ich, inspiriert durch Odo Marquards Terminologie des Schicksalszufälligen oder der Schicksalskontingenz und des Beliebigkeitszufälligen oder der Beliebigkeitskontingenz, als das Bewusstsein eines unhintergehbar Unverfügbaren auch und vor allem in der menschlichen Geschichte und als das Pathos einer prinzipiell und unbeschränkt verfügbaren Geschichte wie prinzipiell und unbeschränkt verfügbarer Geschichten schlechthin bezeichnete.4 Verknüpften diese beiden Versionen eines sattelzeitlichen Bewusstseins für Kontingenz und Zufall offenkundig die Affirmation von Kontingenz und Zufall in der Geschichte in geradezu konträrer Weise mit der Behauptung der Verfügbarkeit oder eben gerade Unverfügbarkeit von Geschichte, so wird sich im Zuge einer von den Arbeiten Pococks ihren Ausgang nehmenden Beschäftigung mit dem Geschichtsdenken der Frühen Neuzeit im Folgenden einerseits zeigen lassen, dass die Kategorien von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit für das frühhistoristische Geschichtsbewusstsein irrelevant sind, während andererseits die Frage gleichsam nach den Quellen historischer Entwicklung sowie die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität von Geschichte und historischer Kontingenz in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses frühneuzeitlichen Geschichtsdenkens rücken und dem Interpreten zu verstehen geben, dass die frühneuzeitliche Affirmation von Kontingenz und Zufall in der Geschichte sowohl mit der Vorstellung einer prinzipiellen Kontinuität von Geschichte als auch mit einer theoretischen Sensibilität für die Diskontinuität von Geschichte liiert sein konnte: Im ersten Fall wurden historische Kontingenz und historischer Zufall durch die Figur und Semantik einer Fortuna auf den Begriff gebracht, welche vom Standpunkt einer außergeschichtlichen Instanz alles diesseitige Geschehen regierend vermeintlich alle geschichtlichen Perioden und Zeiten gleichermaßen, also Vergangenheit, Gegenwart 3

4

Auf einer methodischen Ebene hat dieser Dialog tatsächlich stattgefunden, wenn auch mit einem äußerst unglücklichen Resultat. Pocock wendet sich anlässlich einer am Deutschen Historischen Institut in Washington 1992 veranstalteten Konferenz gegen Kosellecks begriffsgeschichtliche Methode mit exakt jenen Argumenten, welche die Begriffsgeschichte einer puren Wortgeschichte entgegenhält, und verfehlt daher den Kern von Kosellecks methodischen Bestimmungen der Begriffsgeschichte. Vergleiche hierzu J. G. A. Pocock, „Concepts and Discourses: A Difference in Culture? Comment on a Paper by Melvin Richter“, in: Hartmut Lehmann und Melvin Richter (Hg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts: New Studies on Begriffsgeschichte, Washington 1996, S. 47–59. Reinhart Koselleck, „A Response to Comments on the Geschichtliche Grundbegriffe“, in: ebd., S. 59–71. Vergleiche dazu insbesondere S. 364–366 im fünften Kapitel dieser Arbeit.

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und Zukunft, bestimmte. Diese theoretische Möglichkeit, Kontingenz und Zufall in der Geschichte zu thematisieren und anschaulich zu machen, welche sich zwar auch und vor allem, wenn auch nicht ausschließlich in der Frühen Neuzeit auffinden lässt, die vielmehr ihren Ausgang in der Antike nimmt und sodann in der Spätantike und im Mittelalter in einem christlichen Kontext thematisiert wird, um schließlich dann in der Frühen Neuzeit bis in die Epoche des Barock hinein eine letzte begriffliche Karriere zu erfahren, sie wird uns im siebten und ausführlichsten Kapitel dieser Arbeit noch eingehend beschäftigen und in diesem sechsten Kapitel der Arbeit nur im Sinne eines Kontrastmittels zur deutlicheren Konturierung der zweiten frühneuzeitlichen Variante, Kontingenz in der Geschichte theoretisch zu verhandeln, zur Sprache kommen.5 In diesem zweiten Fall wiederum wurde historische Kontingenz als konstitutives Charakteristikum eines historischen Prozesses oder einer historischen Entwicklung gedacht, welche eine grundsätzliche Diskontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbürgten. Und insofern wurde historische Kontingenz auch als genuin geschichtliches Phänomen, nicht als Folge des Wirkens einer außergeschichtlichen Instanz gedacht. So liegt die theoretische Folgerung nahe, dass sich die unterschiedlichen, auf dem Umweg über die drei ideengeschichtlichen Skizzen im zweiten Teil dieser Arbeit nachweisbaren Formen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte, welche sich für den Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und Sattelzeit insgesamt nachweisen lassen, in einem dreiachsigen Koordinatensystem darstellen lassen, dessen Achsen zum einen den Grad der Sensibilität für die Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit in der Geschichte, zum anderen ein Bewusstsein entweder der Kontinuität oder der Diskontinuität von Geschichte repräsentieren und schließlich auch angeben, inwiefern die Quelle jener Kontingenz oder dieses Zufalls als der Geschichte immanent oder als außergeschichtlich aufgefasst wird. Die folgenden Ausführungen dieses Kapitels konzentrieren sich freilich nicht auf diese hier nur anzudeutende theoretische Möglichkeit einer systematischen Kategorisierung ideengeschichtlich nachweisbarer Formen des Verständnisses von Zufall und Kontingenz in der Geschichte, sondern allein auf die in den Eingangspassagen des Kapitels skizzierte Thematik und Fragestellung, die ich noch einmal wiederhole: In welcher Weise, mit welchen Begriffen und mit welchen Vorstellungen wurde in der Frühen Neuzeit Geschichte, genauer: der Verlauf der Geschichte, gedacht? Und inwiefern lässt sich dabei, wenn auch kein ausformulierter und systematischer theoretischer Entwurf, so doch immerhin eine implizite Ahnung dessen registrieren, dass Geschichte immer auch, wenn nicht allein und ausschließlich, durch Momente von Kontingenz charakterisiert ist? Damit zu dem genauen und weiteren Vorgehen in diesem Kapitel: Entsprechend meiner erwähnten theoretischen Verpflichtung gegenüber Pococks Arbeiten über das Geschichtsdenken der Frühen Neuzeit widme ich mich im ersten Abschnitt des Kapitels zunächst einer ausführlichen Rekonstruktion dessen, was ich für die inhaltliche idée directrice von Pococks gesamten Œuvre halte und ich als Pococks Suche nach Zeitanschauungen oder – zeitlich und thematisch eingeschränkt – als Pococks Suche 5

Vergleiche dazu das siebte Kapitel dieser Arbeit Virtù vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos.

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nach den Zeitanschauungen des politischen, historischen und juristischen Denkens der Frühen Neuzeit bezeichnen möchte (1).6 Sodann folgt im zweiten Abschnitt des Kapitels ein bewusst schematischer, um historische Konkretisierung und Illustration nur in geringem Maße oder allenfalls im Sinne illustrativer Zwecke bemühter Überblick über jene einzelnen zeitanschaulichen Bestandteile oder Modelle, welche im Ganzen das Ensemble der in Pococks Zeitanschauungstypologie enthaltenen Typen bilden.7 Auf jene Typen und diese Typologie in ihrer Gänze zumindest einzugehen, ist deshalb unverzichtbar, weil erst so die spezifischen Konturen und charakteristischen Umrisse jener gleichsam historischen Zeitanschauung, wie ich sie nennen möchte, sichtbar werden, die in der Frühen Neuzeit zum ersten Mal die Bühne des Geschichtsdenkens betritt und welche Pocock durch ihr Bewusstsein historischer Diskontinuität, ihr Verständnis von immanenter historischer Entwicklung und der steten Wandelbarkeit dieser immanenten historischen Entwicklung und insofern durch ihre Einsicht in die geschichtsimmanente Kontingenz historischer Entwicklung deutlich von allen anderen in dieser Typologie enthaltenen Varianten, Geschichte und geschichtliche Zeit zu denken, abgrenzen zu können glaubt. So schließt denn auch der zweite Abschnitt dieses Kapitels mit einer ausschließlich systematischen und abstrakten Beschreibung der konstitutiven Merkmale und Charakteristika einer solchen, in der Frühen Neuzeit erstmals formulierten historischen Zeitanschauung, wobei ich auf die Behandlung der Frage, welcher Autor wann und wo eine solche historische Zeitanschauung formulierte, zunächst und in diesem Stadium des Kapitels noch ganz bewusst verzichte (2). Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit charakterisiert aber nicht nur die Sensibilität für die frühneuzeitliche Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung, die sich durch ihr Bewusstsein historischer Diskontinuität, ihre Sensibilität für immanente historische Entwicklung und den Wandel und die Kontingenz dieser Entwicklung deutlich von allen gleichsam unhistorischen Typen von Pococks Zeitanschauungstypologie abgrenzen lässt, sondern auch das Bewusstsein für die zwar nicht frühneuzeitlich entstandene, wohl aber frühneuzeitlich deutlich zu registrierende Existenz einer Zeitanschauung, die ich – venia verbo sit – als fortunadominiert 6

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Eine solche idée directrice erschließt sich freilich nur, wenn neben den beiden großen Monographien Pococks vor dem Erscheinen der einzelnen Bände von Barbarism and Religion seit 1999, nämlich The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition von 1975 und The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century von 1957, der theoretische Stellenwert jener zwei umfangreichen Aufsätze aus den 60er-Jahren berücksichtigt wird, welcher die genauen inhaltlichen Bestandteile und methodischen Charakteristika von Pococks Zeitanschauungstypologie in einem systematischen Sinne klarer zu erkennen gibt als die genannten Monographien. Gemeint sind die beiden Aufsätze: J. G. A. Pocock, „‚The Onely Politician‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“, in: Historical Studies: Australia and New Zealand 12 (1966), S. 265–296. J. G. A. Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: Comparative Studies in Society and History 4 (1962), S. 209–246. In einem 2004 verfassten Text, welchen ich dann zugunsten der hier vorliegenden Arbeit zurückgestellt habe, versuche ich zu zeigen, dass Pococks Zeitanschauungstypologie auf insgesamt sechs derartige Typen oder Modelle verweist. Vergleiche hierzu Peter Vogt, „J. G. A. Pocock und die Suche nach den Zeitanschauungen des politischen und historischen Denkens“, unveröffentlichtes Manuskript, München 2004, 124 Seiten.

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bezeichnen möchte. Diese – man möge mir den weiteren Gebrauch dieses schrecklichen Ausdrucks nachsehen – fortunadominierte Zeitanschauung zeichnet nun ebenso wie die historische Zeitanschauung und im Unterschied zu allen anderen in Pococks Zeitanschauungstypologie enthaltenen Typen oder Modellen ein Gespür für die Relevanz von historischer Kontingenz oder – im Falle der fortunadominierten Zeitanschauung – für die Relevanz von Kontingenz und Zufall in der Geschichte aus. Gleichwohl lässt sich das Verständnis von Geschichte als von der Willkür und den Launen einer Fortuna dominiert sowohl bezüglich seines genauen Verständnisses von Kontingenz oder Zufall in der Geschichte als auch aufgrund seines mangelhaften Bewusstseins historischer Diskontinuität von einer historischen Zeitanschauung in einem systematischen Sinne klar und deutlich abgrenzen. Dies soll im dritten Abschnitt des Kapitels geschehen, wenn auch nur in einer möglichst abstrakten und systematischen Weise und nur um der strukturellen Vollständigkeit meiner Argumentation willen. Eine ausführliche und historisch materialreiche Behandlung und ideengeschichtliche Konkretisierung soll eine Konzeption von menschlicher Geschichte als Resultat der Launen Fortunas erst im siebten und nächsten Kapitel dieser Arbeit erfahren. Fortunadominierte Zeitanschauung und historische Zeitanschauung präsentieren sich so im Ausgang einer Rekonstruktion von Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit am Ende dieses dritten Abschnitts des Kapitels als die beiden, freilich höchst unterschiedlichen zeitanschaulichen Optionen, die das Geschichtsdenken der Frühen Neuzeit ergreifen kann, wenn der Befund von Kontingenz und Zufall in der Geschichte nicht mehr zu bestreiten ist (3). Die verbleibenden Ausführungen dieses sechsten Kapitels befassen sich sodann allein mit einer in der Frühen Neuzeit zu beobachtenden historischen Zeitanschauung: Wer formulierte in der Wahrnehmung Pococks wann, wo und in welcher Weise eine solche historische Zeitanschauung, so wird zunächst im vierten Abschnitt des Kapitels zu fragen sein? Inwiefern kommen dabei Vorstellungen von historischer Kontingenz zur Sprache und welche Begriffe werden dabei verwendet? Verbürgt diese historische Kontingenz gemäß einer historischen Zeitanschauung die Diskontinuität oder die Kontinuität des historischen Prozesses, wird diese historische Kontingenz gemäß einer historischen Zeitanschauung als verfügbar oder unverfügbar gedacht? Für die Beantwortung solcher Fragen nach den historisch nachweislichen Artikulationen einer historischen Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit und nach den dabei zugrunde gelegten Charakteristika und Merkmalen historischer Kontingenz enthalten Pococks gesamte Schriften insgesamt drei Hinweise, die freilich sowohl hinsichtlich ihrer gleichsam geographischen Abkunft als auch hinsichtlich ihrer historischen Datierung äußerst heterogen sind: Pocock verweist erstens in seinem Werk immer wieder auf die geschichtstheoretischen Überlegungen von James Harrington, vor allem auf die geschichtstheoretischen Passagen von Harringtons 1656 erschienener Schrift The Commonwealth of Oceana; er verweist ferner auf eine im Laufe des 17. Jahrhunderts in England von mehreren Autoren und Rechtsgelehrten formulierte, historiographische Beschäftigung mit den feudalrechtlichen Relikten und Elementen und insofern den kontinentaleuropäischen Ursprüngen des englischen „common law“; und er verweist schließlich drittens auf einen am Ende des 16. Jahrhunderts vor allem in Frankreich formulierten „legal humanism“, dessen theoretische Substanz Pocock vor allem anhand einer Beschäftigung mit Jacques Cujas und François Hotman rekonstruiert, der sich

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freilich Pocock zufolge seinerzeit auch für eine ganze Reihe nicht-französischer Autoren nachweisen lässt. All diese Versionen und Protagonisten einer historischen Zeitanschauung zeichnet laut Pocock aus, dass sie im Zuge einer Beschäftigung mit der Geschichte des Rechts die Kontingenz und Diskontinuität der Geschichte, vor allem natürlich jene von ihnen als evident empfundene Kontingenz und Diskontinuität der Rechtsgeschichte, als Resultat einer sich mannigfaltigen Einflüssen und unterschiedlichen Traditionen verdankenden historischen Entwicklung begreifen und insofern historisch-immanent erklären wollen. Für Pocock verdankt sich die Formulierung einer historischen Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit wesentlich dem Geist einer theoretischen Sensibilität für die Pluralität rechtlicher Traditionen und einer daraus resultierenden komparatistisch verfahrenden Rechtsgeschichte. So geben sich nun aber ein Bewusstsein historischer Diskontinuität, immanenter historischer Entwicklung und immanenten historischen Wandels und schließlich der geschichtsimmanenten Kontingenz in der Geschichte durchaus schon vor der Sattelzeit, nicht erst in dieser zu erkennen, nämlich in der historischen Zeitanschauung der Frühen Neuzeit, wie sie Pocock vor allem in einer komparatistisch verfahrenden Rechtsgeschichte am Werk sieht (4). Pococks These bezüglich der frühneuzeitlichen Genese und Herkunft dieser historischen Zeitanschauung enthält ferner einige nicht unerhebliche theoretische Konsequenzen hinsichtlich der konventionellen Datierung, Lokalisierung und Deutung der Entstehung und Entwicklung des genuin historischen Bewusstseins des Historismus, die im fünften Abschnitt dieses Kapitels nicht unerwähnt bleiben sollen. Pococks These bezüglich der frühneuzeitlichen Genese und Herkunft einer historischen Zeitanschauung zwingt nämlich zu einer veränderten Bestimmung des Geburtsortes, der Geburtszeit und der Geburtsumstände dessen, was als genuin historisches Bewusstsein bezeichnet werden kann. Ein genuin historisches Bewusstsein und eine für dieses Bewusstsein konstitutive Sensibilität für die Diskontinuität, Wandelbarkeit und Kontingenz der Geschichte können im Anschluss an Pococks Untersuchungen nicht mehr in der Manier Meineckes und Troeltschs als ein postaufklärerisches oder doch zumindest postcartesianisches Phänomen interpretiert und schon gar nicht in der Manier Meineckes als ein deutscher „Sonderweg“ oder als ein Inbegriff einer vermeintlichen „deutschen Bewegung“, wie das zweite Buch von Meineckes Die Entstehung des Historismus betitelt ist, deklariert werden. Vielmehr fördert Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit das Phänomen eines, wie ich es formulieren möchte, frühneuzeitlichen gesamteuropäischen Historismus avant la lettre zutage, und dieser verdankt sich weniger „changes in philosophical thought“8 als vielmehr dem Geist einer komparatistisch verfahrenden Rechtsgeschichte (5). Abschließen möchte ich die sich wesentlich Pococks Arbeiten verdankenden Thesen und Rekonstruktionen dieses Kapitels schließlich durch eine Art von indirekter Bestätigung. In seinem Buch Vico and Herder hat Isaiah Berlin ausführlich die Fragen nach den geistigen Vorläufern und Wegbereitern von Vicos Geschichtsdenken, welches wiederum bekanntlich für ihn den ersten ideengeschichtlich nachweislichen Versuch eines genuin historischen Denkens und den entscheidenden 8

Vergleiche zu Pococks Beschreibung der Geburtsumstände dieses frühneuzeitlichen gesamteuropäischen Historismus avant la lettre Anmerkung 120 auf S. 498 in diesem Kapitel und die diese Anmerkung einrahmenden Passagen.

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ideengeschichtlichen Auftakt für die Genese des Historismus darstellt, behandelt. Auch Berlin ist dabei auf ebenjenes Phänomen einer komparatistisch und genuin historisch verfahrenden Rechtsgeschichte in den Schriften der französischen „legal humanists“ am Ende des 16. Jahrhunderts gestoßen, welches in Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit ebenfalls breiten Raum einnimmt. Es gibt, was die Genese eines genuin historischen Denkens angeht, eine bezeichnende, bislang aber unbeachtet gebliebene Schnittmenge der ideengeschichtlichen Arbeiten von Pocock und Berlin und insofern auch eine interessante theoretische Schnittmenge zwischen dem frühneuzeitlichen „legal humanism“ und Vicos Geschichtsdenken (6). (1) Die bislang in diesem Kapitel ohne ausführliche Definition, Präzisierung und Bestimmung verwendete Redeweise von einer Suche nach Zeitanschauungen, die sich angeblich als die idée directrice von Pococks gesamtem Werk rekonstruieren können lassen soll, erweckt zunächst einmal und dies auch ganz bewusst Assoziationen an Wilhelm Diltheys Begriff der Weltanschauung oder seine Lehre von den Weltanschauungen.9 Wie auch immer es um die Legitimität solcher Assoziationen bestellt sein mag, und in methodischer Hinsicht werden wir theoretische Schnittmengen und Parallelen zwischen Dilthey und Pocock sogleich noch etwas eingehender erörtern, ganz eindeutig besteht zwischen Diltheys Suche nach Weltanschauungen und Pococks Suche nach Zeitanschauungen zunächst einmal die gravierende und bislang noch gar nicht eingestandene Differenz, dass Dilthey den Begriff der Weltanschauung explizit verwendet, ihn sodann auch auf eine ganz bestimmte Weise definiert, während sich bei Pocock der Terminus der Zeitanschauung oder ein entsprechendes englisches Äquivalent, diese zudem präzise definiert und stetig und unablässig verwendet, überhaupt nicht finden. Wenn aber Pocock den Begriff der Zeitanschauung oder ein vergleichbares terminologisches Äquivalent nicht oder doch zumindest nicht durchgängig und stringent verwendet – allenfalls die Rede von einer bestimmten „past-relationship“ findet sich in seinen diesbezüglich relevanten Schriften wieder –, inwiefern lässt sich dann sein gesamtes Werk dennoch als Suche nach Zeitanschauungen interpretieren und rekonstruieren? Welche Belege und Hinweise für eine solche Deutung enthalten seine Schriften? 9

Ich habe den Versuch einer systematischen Darstellung von Diltheys Weltanschauungstypologie und wiederum ihres Einflusses auf jenes subdisziplinäre Pflänzchen der Historie, welches am besten als Geistesgeschichte – im Unterschied zu „history of ideas“, Begriffsgeschichte, Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte oder auch „intellectual history“ à la Cambridge – bezeichnet werden sollte, in einem längeren, noch unpublizierten Manuskript zusammengefasst und mich dabei auf verschiedene Texte von Dilthey bezogen. Der substanzielle Gehalt von Diltheys Begriff und Lehre der „Weltanschauung“ findet sich aber in Band VIII seiner Gesammelten Schriften und dort in besonders kondensierter und einprägsamer Weise in seiner Abhandlung Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, die erstmals 1911 publiziert wurde. Vergleiche hierzu: Wilhelm Dilthey, „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen“ (1911), in: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften, Band VIII, Stuttgart/Göttingen 1960, S. 75–121. Vergleiche hierzu Peter Vogt, „Die deutsche Tradition der Geistgeschichte und die Suche nach Zeitgeist und Weltanschauungen“, unveröffentlichtes Manuskript, München 2004, 114 Seiten.

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Das Vokabular oder die wesentlichen Sprachen des politischen Denkens, welche zu ermitteln für Pocock ganz offenkundig die zentrale Aufgabe der politischen Ideengeschichte oder der Geschichte des politischen Denkens ausmacht10 , jenes Vokabular oder diese Sprachen, sie seien, so schreibt Pocock, wenn auch nicht ausschließlich, so doch „always and necessarily“11 mit der Frage der Legitimation einer bestimmten politischen Handlung oder Gesellschaft befasst. Alles politische und insofern immer auch zwingend nach Legitimation seiner selbst strebende Handeln bewegt sich Pocock zufolge aber niemals in einem zeit- und geschichtslosen Raum, sondern ist stets in einen bestimmten zeitlichen und historischen Kontext eingebettet. Dieser Befund wiederum bedeutet Pocock mehr als die triviale Tatsache, dass dieses politisches Handeln, wie jedes andere Handeln auch, zwangsläufig in einem bestimmten Augenblick ausgeübt wird; Pocock will vielmehr auf die theoretisch ungleich folgenreichere Tatsache verweisen, dass dieses politische Handeln und damit auch jede Gesellschaft sich zu jener Zeit, in der sie auftreten, implizit oder explizit in ein theoretisches Verhältnis setzen müssen, zu jener Zeit in einer bestimmten Weise Stellung nehmen müssen, weil sie sich nur so als legitim in der Zeit ausweisen können. Ein bestimmtes politisches Handeln und eine bestimmte Gesellschaft bedürfen also Pocock zufolge stets einer bestimmten Auffassung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um sich im Rahmen dieser Auffassung sowohl Aufklärung über den eigenen Standort in der Geschichte zu verschaffen als sich sodann auch eine für legitim gehaltene Rolle oder Funktion innerhalb des historischen Geschehens zuschreiben zu können. Ohne Referenz auf die Geschichte, auf die geschichtliche Zeit und auf den eigenen Standort innerhalb dieser geschichtlichen Zeit können hingegen kein politisches Denken und Handeln und auch keine Gesellschaft Legitimität im Strom des historischen Geschehens für sich beanspruchen. Denn auch die Gegenwart ist nicht eo ipso legitim oder galt in der Geschichte des menschlichen Denkens durchaus häufig nicht als eo ipso legitim, sondern gewinnt oder gewann theoretische Legitimität nur dadurch, dass sie sich als legitim in der historischen Zeit – etwa, um die beiden denkbar extremsten Fälle und schärfsten Kontraste zu nennen, als Fortsetzung einer legitimen Vergangenheit oder als Vorbote einer legitimen Zukunft – auswies oder ausweisen kann. Der Erforschung ebendieser unterschiedlicher Formen der Bezugnahmen auf historische Zeit und der sich daraus ergebenden Legitimationsstrategien gilt nun meiner Interpretation zufolge gerade die vorrangige theoretische Aufmerksamkeit von Pococks Denken, und insofern glaube ich dieses in der Tat als Suche nach Zeitanschauungen bezeichnen zu dürfen, auch wenn sich der Terminus Zeitanschauung oder ein exaktes englisches Synonym bei Pocock wörtlich so gar nicht finden.

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11

Pocock hat diese seine grundsätzliche Auffassung von der Aufgabe der politischen Ideengeschichte oder der Geschichte des politischen Denkens in seinem Werk immer wieder begründet. Das kann hier nicht im Detail nachgewiesen werden. Vergleiche exemplarisch J. G. A. Pocock, „Languages and their Implications: The Transformation of the Study of Political Thought“, in: Politics, Language, and Time. Essays on Political Thought and History, Chicago 1971, S. 3–42. J. G. A. Pocock, „‚The Onely Politician‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“, in: a.a.O., S. 267.

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Immerhin kommen jene ausdrücklichen Selbstcharakterisierungen seines Werkes oder Denkens, die sich in Pococks Schriften durchaus finden, und dabei insbesondere die Selbstbeschreibung der dieses Werk oder Denken fundierenden Motive und Intentionen dem, was ich als Suche nach Zeitanschauungen bezeichnen zu können glaube, zwar nicht expressis verbis, wohl aber inhaltlich durchaus nahe: Zu Beginn seines opus magnum, dem 1975 erschienenen The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, beschreibt Pocock die prinzipielle Absicht des Buches als den Versuch, unterschiedliche „modes of thought“ zu ermitteln, „which were explicitly concerned with problems of political particularity, with what was intellectually possible when the particular political society was viewed as existing in time, when the particular contingency or event was viewed as arising in time, and when the particular society was viewed as a structure for absorbing and responding to the challenges posed by such events and as consisting, institutionally and historically, of the traces of such responses made in past time.“12 In ganz ähnlicher Weise hatte Pocock bereits 1968 in dem Aufsatz „Civic Humanism and its Role in Anglo-American Thought“ das grundsätzliche Erkenntnisinteresse all seiner Arbeiten beschrieben als „an enquiry into the way in which political societies generate concepts of their existence in time, and encounter problems which necessitate increases in historical awareness and critical ability, as a result of their efforts to legitimise and understand their existence as continuous political structures.“13 Pococks wohl präziseste Beschreibung seiner grundsätzlichen theoretischen Ambitionen findet sich aber in einem eigens für eine 1967 erschienene Edition von The Ancient Constitution and the Feudal Law verfassten Vorwort. Dort umschreibt Pocock das historiographische „Genre“, welchem er eben auch sein 1957 ursprünglich erschienenes Werk zugerechnet wissen will, übrigens Resultat einer 1952 bei Herbert Butterfield eingereichten Dissertation, folgendermaßen: „This genre may be described as attempting to unite the study of political and historical thought of past societies by observing the extent to which both arise from awareness of the society’s continuity in time as legal and institutional structure. Thought of this kind varies with the institutional structure of each society, with its modes of becoming aware of that structure and of time as the dimension of continuity and contingency in which it exists, and with the character of the challenges to which systems of ideas based on this awareness are forced to respond [Hervorhebung von mir; P. V.].“14 12

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J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975, S. 9. J. G. A. Pocock, „Civic Humanism and its Role in Anglo-American Thought“ (1968), in: Politics, Language, and Time. Essays in Political Thought and History, a.a.O., S. 80. J. G. A. Pocock, „Foreword“ (1966), in: The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, New York 1967 (1957), S. xi.

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Mit dergleichen Zitaten und Selbstcharakterisierungen dürfte nun aber hinlänglich belegt sein, dass und in welchem Sinne Pocock selbst seine historische Schriften in der Tat und auch ganz unabhängig von ihrer Terminologie gleichsam als eine Suche nach Zeitanschauungen begreift und verstanden wissen will. Was ferner das genaue methodische Verfahren eines solchen Unternehmens betrifft, so sei wenigstens en passant noch angemerkt, dass meine bewusste sprachliche Anlehnung an Diltheys Unternehmen einer Weltanschauungslehre gerade diesbezüglich durchaus ihr gutes Recht hat. Zwischen Pococks Suche nach Zeitanschauungen und Diltheys Suche nach Weltanschauungen bestehen nämlich in der Tat gravierende methodische Ähnlichkeiten, die an dieser Stelle lediglich aufgezählt werden sollen. Erstens: Ebenso wie Dilthey für den Bereich von Weltanschauungen, so geht auch Pocock von einer irreduziblen Pluralität von Zeitanschauungen aus. Die Pluralität von Zeitanschauungen ist also niemals die Vorgeschichte für die Entfaltung der einen letztgültigen Zeitanschauung. Vielmehr lassen sich in jeder Gesellschaft synchron zumeist mehrere und durchaus unterschiedliche intellektuelle Versuche nachweisen, das Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der Geschichte in einer bestimmten Weise zu durchdenken und dadurch die eigenen Überzeugungen als legitim zu rechtfertigen. Irreduzible Pluralität von Zeit- oder Weltanschauungen besagt freilich andererseits weder für Dilthey noch für Pocock unendliche Vielfalt. Die intellektuelle Problematik und Ausgangssituation, auf die jede Zeitanschauung reagiert, lässt nicht beliebig viele und auch nicht nur eine, wohl aber stets mehrere Antworten zu. Zweitens: Ebenso wie Diltheys Weltanschauungslehre geht auch Pococks Suche nach Zeitanschauungen davon aus, dass sich Zeitanschauungen transepochal und transdisziplinär nachweisen lassen. Eine bestimmte Zeitanschauung kann sich in unterschiedlichen Regionen des geistigen und kulturellen Lebens und in unterschiedlichen Epochen entfalten. „Patterns of language and thought“, und damit auch Zeitanschauungen, „patterns of language and thought outlive the authors who utter them in specific texts, and reappear in successive texts and contexts“15 , so schreibt Pocock einmal in einer in dieser Hinsicht aussagekräftigen Weise. Drittens: Ebenso wie Dilthey die den ausformulierten philosophischen Systemen, Lehren und Meinungen zugrunde liegenden und sich jenseits einer „Anarchie der Systeme“ bewegenden Weltanschauungen erforschen möchte, so geht es auch Pocock im Zuge seines Unternehmens einer Suche nach Zeitanschauungen um die explizit ausformulierten Systemen oder Theorien oder Lehren gleichsam vorausliegenden Anschauungen und Vorstellungen. Pocock wie Dilthey bemühen sich insofern um die historische Rekonstruktion von Denkweisen, welche allen ausformulierten System- und Theoriegebäuden zu Grunde liegen, sich durch eine einseitige Beschäftigung mit Letzteren aber niemals erschließen lassen. Nach diesen möglicherweise abwegig erscheinenden, nichtsdestotrotz notwendigen theoretischen und methodologischen Präliminarien hängt die weitere Beantwortung der am Ende des ersten Absatzes dieses Kapitels expressis verbis formulierten Fragestellung meiner Ausführungen nun aber weniger von der methodologischen Raffinesse oder den möglichen intellektuellen Wahlverwandtschaften zwischen Pocock oder einem anderen Autor ab, als vielmehr davon, welche Zeitanschauungen denn Pococks diesbezüg15

J. G. A. Pocock, „The Machiavellian Moment Revisited: A Study in History and Ideology“, in: Journal of Modern History 53 (1981), S. 52.

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liche Befragung der Geschichte des Denkens eigentlich insgesamt ermitteln zu können glaubt.16 Beschränkt sich das Erkenntnisinteresse dabei vorrangig oder ausschließlich auf das Geschichtsverständnis der Frühen Neuzeit und vor allem auf eine frühneuzeitliche Sensibilität für Kontingenz und Zufall, dann haben wir uns freilich im Rahmen dieses Kapitels vor allem auf jene zwei Zeitanschauungen zu konzentrieren, die Pocock zufolge sowohl frühneuzeitlich nachweisbar als auch als kontingenz- und zufallssensibel zu charakterisieren sind: eine historische und eine fortunadominierte Zeitanschauung. Immerhin offeriert Pococks Zeitanschauungstypologie aber eine Reihe weiterer zeitanschaulicher Typen oder Modelle, welche nun für die Frühe Neuzeit entweder nicht nachzuweisen sind oder für unsere Fragestellung und Thematik keine Relevanz haben, die nun aber insofern im nächsten Abschnitt dieses Kapitels zur Sprache kommen sollen, als sie ein unverzichtbares hermeneutisches Kontrastmittel für das soeben benannte Erkenntnisinteresse bilden, als sich gerade erst durch ihre Berücksichtigung die spezifischen Konturen und theoretischen Umrisse sowohl einer historischen als auch einer fortunadominierten Zeitanschauung umfassend verstehen lassen. (2) Ist der Begriff einer historischen Zeitanschauung, eines genuin historischen Verständnisses der „past-relationship“, wie Pocock selbst zu formulieren immer wieder bevorzugt, eines genuin historischen Verständnisses der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ist ein solcher Begriff nicht tautologisch oder zumindest doch trivial? Sahen wir nicht soeben, dass Pococks eigener Charakterisierung der für sein Werk konstitutiven Ideen zufolge jede Zeitanschauung per definitionem auf die historische Zeit referiert und daher doch wohl jede Zeitanschauung als geschichtlich, wenn vielleicht auch in unterschiedlicher Weise als geschichtlich gelten kann und ebenso zu bezeichnen wäre? Ist eine genuin historische Auffassung historischer Zeit mithin nicht ein zeitloses Merkmal und Element aller geistigen Auseinandersetzung mit der Geschichte? Dass Pocock all diese Fragen verneinen würde, wenn sie ihm gestellt würden, und tatsächlich verneint, insofern er sie sich selbst vorlegt, was genau Pocock also mit einer genuin historischen „past-relationship“ meint, worin er die differentia specifica einer solchermaßen historischen Zeitanschauung sieht, dies alles erschließt sich uns erst, wenn wir zumindest kursorisch auf jene Typen oder Modelle von Pococks Zeitanschauungstypologie eingehen, denen Pocock ein genuin historisches Bewusstsein gerade abspricht, die er insofern tatsächlich als gleichsam unhistorische Konzeptionalisierungen historischer Zeit von einer historischen Zeitanschauung geschieden wissen möchte. Im Anschluss vor allem an die Thesen von Felix Jacoby17 und Moses Finley18 erblickt Pocock in dem für die idée directrice seines Werkes konstitutiven Aufsatz „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“ von 1962 in der antiken griechischen Historiographie eine Zeitanschauung, welche die Gegenwart zu einer unbefragten „großen Tradition“ von Epen und anderen Narrativen, denen ihrerseits zeitlose Relevanz und Geltung zugeschrieben wird, in Beziehung setzt, nicht aber zu einer entweder bereits 16 17 18

Vergleiche dazu Anmerkung 7 auf S. 452 dieses Kapitels. Vergleiche hierzu Felix Jacoby, Atthis: the Local Chronicles of Ancient Athens, Oxford 1949. Vergleiche hierzu M. I. Finley, The Greek Historians, London 1959. M. I. Finley, „Myth, Memory and History“, in: History and Theory 4 (1965), S. 281–302.

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erforschten oder auch erst noch zu erforschenden Vergangenheit in ein historisches Verhältnis; „specialised forms of thought about the past and its relation with the present“19 , welche zudem einem Interesse an der historischen Vergangenheit um ihrer selbst willen entsprungen wären, an einer historischen Vergangenheit, zu der sich sodann die Gegenwart in ein historisches Verhältnis setzen könnte und müsste, sie lassen sich Pocock zufolge in der griechischen Historiographie eben gerade nicht auffinden – „Athenian historiography did not evolve into a study of the past at all“20 –, sondern lediglich die Bezugnahme auf eine in epischen und anderen Erzählungen geronnene, mythische Tradition von zeitloser Relevanz und Geltung. Für eine derartige Zeitanschauung stellt sich folglich auch die, wie wir sehen werden, für jede andere Zeitanschauung konstitutive Frage nach dem Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart der Geschichte, also etwa die Frage nach historischer Kontinuität oder Diskontinuität zwischen jener Vergangenheit und dieser Gegenwart, gar nicht. Und folglich stellt sich ebenso wenig die Frage, wie eine Vergangenheit, die prinzipiell anders wäre oder zumindest anders sein könnte als die Gegenwart, überhaupt verstanden werden könnte. Die griechische oder, wie Pocock in The Ancient Constitution and the Feudal Law schreibt, die antike Historiographie insgesamt, „did not quite reach the point of postulating that there existed, in the past of their own civilization, tracts of time in which the thoughts and actions of men had been so remote in character from those of the present as to be intelligible only if the entire world in which they have occurred were resurrected, described in detail and used to interpret them. […] The Greeks and Romans were not conscious, as medieval and modern Europeans have alike been conscious, of an organized civilization existing in their immediate past and affecting the whole range of their life through the survival of its institutions, its ideas, its material remains and its documents.“21 Jene Zeitanschauung, wie sie sich in der griechischen oder der antiken Geschichtsschreibung schlechthin äußert, ließe sich insofern, so folgert Pocock in „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, angemessen als mythische Zeitanschauung bezeichnen. Eine gänzlich andere Form geschichtlichen Bewusstseins, aber gleichwohl ebenfalls noch im theoretischen Vorhof einer historischen Zeitanschauung verharrend, treffen wir Pocock zufolge an, wenn zwar im Unterschied zu einer mythischen Zeitanschauung durchaus das Verhältnis von Gegenwart und historischer Vergangenheit reflektiert wird, dieses Verhältnis aber als das einer lückenlosen und ungebrochenen Kontinuität verstanden wird. Einer solchen Zeitanschauung spürt Pocock in seinem Werk im Sinne der erwähnten transepochalen Ansprüche seiner Methodik an ganz unterschiedlichen Orten und in ganz unterschiedlichen Epochen der Ideengeschichte nach. In paradigmatischer 19 20 21

J. G. A. Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: a.a.O., S. 220. Ebd., S. 221. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, Cambridge 1987 (1957), S. 1 f. Alle Zitate aus diesem Werk entstammen im Folgenden allein dieser Ausgabe.

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Weise repräsentiert sieht Pocock jene Zeitanschauung, die er selbst in seinem Werk zumeist als „traditional“ bezeichnet, für die mir im Deutschen die Kennzeichnung als „traditionalistisch“ jedoch angemessener erscheint, in jener rechtstheoretischen Doktrin der „Ancient Constitution“ formuliert, auf die er in seinen Schriften immer wieder zu sprechen kommt, vor allem aber natürlich in seinem frühen Werk The Ancient Constitution and the Feudal Law. Die von einer bestimmten Deutung der Legitimität und Seniorität des englischen „common law“ ihren Ausgang nehmende Doktrin der „Ancient Constitution“ findet Pocock in den Schriften einiger der größten englischen Rechtsgelehrten des frühen 17. Jahrhunderts formuliert, vor allem aber bei Sir Edward Coke. Was besagt Pocock zufolge diese Doktrin der „Ancient Constitution“? Das englische „common law“ wird von einem Autor wie Coke, und darin besteht zugleich die Quintessenz der Doktrin der „Ancient Constitution“ , einerseits als „custom“, also als fester Bestandteil der englischen Gebräuche, Sitten und Gewohnheiten definiert, der sich keinerlei externen, etwa kontinentaleuropäischen Einflüssen verdankt; andererseits werden ebendiese Rechtsgewohnheiten als „immemorial“ charakterisiert; ihre historischen Anfänge sollen gleichsam vor aller Geschichte liegen und sich jeder historischen Datierung entziehen. Und deshalb können nun für die Vertreter der Doktrin der „Ancient Constitution“ die vermeintlich seit gleichsam unvordenklichen Zeiten bestehenden Gewohnheiten und Bräuche des englischen Rechtslebens auch nicht als ein Phänomen betrachtet werden, welches aufgrund bestimmter historischer Ereignisse und Einflüsse zu einer bestimmten Zeit entstanden ist, wenn auch nicht hätte entstehen müssen, und insofern auch nicht als ein historisches und gar als ein historisch kontingentes Phänomen betrachtet werden, welches sich folglich nur historisch erklären lässt. Uns haben an dieser Stelle weder die Details dieser Doktrin der „Ancient Constitution“ noch ihre Protagonisten in der englischen Rechtslehre des 17. Jahrhunderts, wie sie uns Pocock in seinen Schriften immer wieder präsentiert, eingehender zu interessieren. Relevant ist die Doktrin der „Ancient Constitution“ für unseren Zweck der Präzisierung einer historischen und einer fortunadominierten Zeitanschauung durch ein hermeneutisches Kontrastmittel vielmehr insofern, als ihr Pocock in paradigmatischer Weise jene traditionalistische Zeitanschauung entnehmen zu können glaubt, welche im Unterschied zu der erwähnten mythischen Zeitanschauung, wie sie die griechische Historiographie prägt, das Verhältnis von Gegenwart und historischer Vergangenheit zwar durchaus reflektiert, aber dennoch nicht in historischer Weise deutet. Nicht die Auflösung einer historischen Vergangenheit in Mythen von zeitloser Relevanz und die Bestimmung der Gegenwart im Blick allein auf diese, ein sich daraus ergebender Mangel jeglicher Reflexion bezüglich der Relation zwischen Gegenwart und historischer Vergangenheit und ein daraus resultierendes Unverständnis gegenüber der Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität der Geschichte schlechthin prägen eine traditionalistische Zeitanschauung, sondern die unterstellte Allgegenwärtigkeit und Unvergänglichkeit einer historischen Vergangenheit, deren lückenlose und ungebrochene Kontinuität mit der Gegenwart apostrophiert wird, deren Singularität und differentia specifica gegenüber der Gegenwart somit entschieden bestritten werden. Ein wie rudimentär auch immer ausgeprägtes Bewusstsein für die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, von vergangenem und gegenwärtigem Recht, ist der Doktrin der „Ancient Constitution“, dem Paradebeispiel für eine traditionalistische Zeitanschauung in Pococks Schriften,

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nicht eigen. Gänzlich unbeeinflusst von dem Gedanken, dass die Vergangenheit von der Gegenwart unüberbrückbar verschieden sein könnte, halten die Protagonisten jener Sichtweise des englischen Rechts, wonach das englische „common law“ seit ewigen Zeiten unveränderlich die Praxis der englischen Rechtssprechung bestimmt, demnach an zeitanschaulichen Grundsätzen fest, die Pocock so zusammenfasst: „The law was timeless; its principles were the same in all ages; the past was a storehouse, not of mere examples, but of authoritative precedents. […] What the constitution was it had always been and to define its past was to define its true nature in the present.“22 Angesichts einer derartigen Unterstellung einer lückenlosen Kontinuität von vergangenem und gegenwärtigen Recht, von Vergangenheit und Gegenwart schlechthin, können Gedanken über eine der Geschichte immanente historische Entwicklung, die für Wandel, Diskontinuität oder gar Kontingenz dieser Entwicklung verantwortlich ist, noch nicht einmal im Keime entstehen. Alle Fragen nach dem historischen Werden und Vergehen bestimmter rechtlicher Begriffe und Vorstellungen müssen an Autoren abprallen, welche das englische „common law“ eben gerade nicht als ein historisches Phänomen begreifen, als ein Phänomen, welches in einem bestimmten Augenblick und an einem bestimmten Ort in der Geschichte, also hic et nunc entstanden ist, wenn auch nicht hätte entstehen müssen, welches sich daher nur historisch erklären lässt. So könnte man zusammenfassend formulieren, dass die traditionalistische Zeitanschauung im Unterschied zu der mythischen Zeitanschauung zwar von der menschlichen Geschichte, verstanden als Relation von historischer Vergangenheit und Gegenwart, durchaus handelt, dies aber im Grunde in einer ganz und gar ungeschichtlichen Weise, weil für Entwicklung, Diskontinuität, Wandel und Kontingenz in dieser Geschichte völlig blinden Weise tut. Das Geschehen der Geschichte wird vielmehr als eine immer gleiche, unveränderliche und von einer ununterbrochenen Kontinuität geprägte Folge von Ereignissen konzipiert und dargestellt. Inwiefern sich insbesondere dieses Bewusstsein einer ungebrochenen historischen Kontinuität auf die Ausbildung eines genuin historischen Bewusstseins oder einer genuin historischen Zeitanschauung als hemmend auswirken musste, hat Ulrich Muhlack in seinem opus magnum über die Geschichtswissenschaft im Zeitalter von Humanismus und Aufklärung am Beispiel der erst nach der Erosion eines solchen Bewusstseins einer lückenlosen historischen Kontinuität einsetzenden Geburt und Genese der klassischen Philologie verdeutlicht: „Vom Hellenismus bis zur Scholastik herrscht gegenüber der Welt, deren Zeugnisse Gegenstand dieser [philologischen; P. V.] Bemühungen sind, das Bewusstsein einer ungebrochenen Kontinuität, das die Vorstellung eines Zeitabstandes und damit das Bedürfnis historischer Authentizität gar nicht aufkommen lassen kann; die ‚Kunst‘, ‚zu verstehen, zu erklären und wiederherzustellen‘, tritt hinter der unvermittelten Geltung und damit Aneignung 22

J. G. A. Pocock, „Robert Brady, 1627–1700. A Cambridge Historian of the Restoration“, in: Cambridge Historical Journal 10 (1951), S. 186.

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der Zeugnisse zurück. Die hellenistischen und römischen Grammatiker bewegen sich in dem gleichen kulturellen Horizont wie die Texte, denen sie ihre Gelehrsamkeit zuwenden. In hohem Maße trifft das auch noch für die byzantinischen Philologen zu. Aber auch im Mittelalter gibt es eine wie selbstverständliche Tradierung antiker Bildung; den scholastischen Aristoteles-Exegeten ist die Lehre des griechischen Philosophen ein unmittelbarer Bestandteil ihres Denkens, kein Gegenstand, der zunächst aus einer versunkenen Vergangenheit hervorgeholt werden muss. Die Verfremdung oder Verfälschung der antiken Tradition im heterogenen Kontext der nachantiken Kultur ist ein humanistisches, kein scholastisch-mittelalterliches Problem.“23 Die traditionalistische Zeitanschauung, ihre Sichtweise des Verhältnisses von historischer Vergangenheit und Gegenwart, ihre Affirmation einer lückenlosen Kontinuität der Geschichte, sie stellt innerhalb von Pococks Zeitanschauungstypologie nun den entscheidenden Kontrapunkt dar für die Formulierung jener historischen Zeitanschauung, welche gerade von der Unmöglichkeit, eine derart ungebrochene Kontinuität zwischen historischer Vergangenheit und aktueller Gegenwart gedanklich zu unterstellen und historisch nachzuweisen, ihren Ausgang nimmt, welche vielmehr Diskontinuität für ein unbestreitbares und konstitutives Charakteristikum historischer Entwicklung hält und deswegen aus theoretischen Gründen gezwungen ist, die Frage zu erörtern, wie sich aus einer bestimmten Vergangenheit eine Gegenwart entwickeln konnte, die ganz anders ist als die Vergangenheit, eine Gegenwart, die demnach niemals als Perpetuierung der Vergangenheit verstanden werden kann, welche insofern gezwungen ist, die Frage historischer Entwicklung und damit schließlich auch die Frage nach Wandel und Kontingenz dieser Entwicklung zu behandeln, welche demnach von jener traditionalistischen Zeitanschauung, wie sie Pocock anhand einer bestimmten Deutung und Lesart des englischen „common law“ idealtypisch charakterisiert, und wie sie Muhlack für gerade noch nicht historisch-kritisch verfahrende philologische Rekonstruktionen kenntlich macht, strikt zu unterscheiden ist, wie schließlich auch Paul Joachimsen sehr anschaulich verdeutlicht: Zwischen einem Rekurs auf die Geschichte im Sinne der skizzierten traditionalistischen Zeitanschauung und dem Empfinden, im Banne historischer Entwicklung, historischen Wandels, historischer Diskontinuität und insofern schließlich auch historischer Kontingenz zu stehen, ist, so schreibt Joachimsen, „derselbe Unterschied wie zwischen den Frangipani und den Colonna, die an den Titusbogen und in das Augustusgrabmal in Rom ihre zinnenbewehrten Trutzburgen bauen, und den Florentinern Brunelleschi und Donatello, die 1403 in Rom die antiken Trümmer und Gebäudereste mit dem Eifer von Schatzgräbern durchwühlen und ausmessen, um den stilo antico wieder zu entdecken und mit ihm die gotische Barbarei zu erschlagen.“24 23

24

Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Zur Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 351. Paul Joachimsen, „Renaissance, Humanismus, Reformation“ (1925), in: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation; zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken, herausgegeben von Notker Hammerstein, Aalen 1970, S. 131.

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Doch wir wollen ob dieser eminenten theoretischen Differenzen noch nicht zu jener abstrakten Kennzeichnung der historischen Zeitanschauung voranschreiten, die allerdings den zweiten Abschnitt dieses sechsten Kapitels beschließen wird. Im Kontext einer theoretischen und historischen Konstellation, in welcher die Annahme einer lückenlosen Kontinuität von historischer Vergangenheit und Gegenwart ihre intellektuelle und kulturelle Wirkungsmächtigkeit verloren hat und kaum noch glaubwürdig erscheint, glaubt Pocock durchaus noch ein weiteres zeitanschauliches Modell ausmachen zu können, dem ebenfalls, so wie der traditionalistischen Zeitanschauung, obschon mit gänzlich anderen theoretischen Mittel operierend, jene gleichsam ungeschichtliche Sichtweise des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart nachzuweisen ist, welche sich gegenüber dem Phänomen einer aller Geschichte innewohnenden Entwicklung, die immer auch durch Wandel, Kontingenz und Diskontinuität gekennzeichnet ist, als immun erweist. Den Typus einer nicht traditionalistisch verfahrenden, wohl aber weiterhin traditionalistische Ziele avisierenden Zeitanschauung konkret vorzustellen, welche die spezifischen theoretischen Konturen und Umrisse sowohl der historischen als auch der fortunadominierten Zeitanschauung endgültig deutlich werden lässt, diese Aufgabe erfüllen Pococks Schriften, wenn auch nur in skizzenhafter oder bruchstückhafter Weise, vor allem anhand des mittelalterlichen Rechtsdenkens oder besser: anhand einer bestimmten Phase des mittelalterlichen Rechtsdenkens: Eine etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts formulierte Rechtsanschauung kann in ihrem eigenen, so überaus deutlich christlich geprägten Kontext die Gültigkeit des römischen, also eines paganen Rechtssystems nicht mehr auf der Basis eines Bewusstseins ungebrochener Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart unterstellen, so wie dies für die sogenannten „Glossatoren“ noch zutreffen mochte, welche die von ihnen entdeckten Rechtsdokumente und Rechtsquellen ja lediglich, daher auch ihr Name, mit Hilfe von Randbemerkungen auf einen der aktuellen Rechtssituation angepassten Stand der Dinge zu bringen versuchten. Ein Bewusstsein rechtshistorischer Diskontinuität existierte noch für diese Glossatoren ebenso wenig wie ein Bewusstsein für die ganz unterschiedlichen historischen Kontexte von Rechtsquellen, welches die Existenz eines epochenübergreifenden römischen Rechts leichthin als Illusion hätten enttarnen können. Hingegen war den sogenannten „Post-Glossatoren“ oder „Kommentatoren“ die Präsumtion einer antike Ursprünge, byzantinische Rechtskodizes und aktuelle Rechtspraktiken umspannenden rechtlichen und rechtsgeschichtlichen Kontinuität, welche in der um 1250 erstellten glossa ordinaria des Rechtsgelehrten Accursius ihren Abschluss und Höhepunkt fand, fragwürdig geworden. Als die berühmtesten Vertreter dieser Post-Glossatoren dürfen Bartolus de Saxoferrato und sein Schüler Baldus de Ubaldis gelten: „Nemo jurista nisi bartolista“25 , so hieß es seinerzeit an den italienischen Hochschulen des Mittelalters, wie der Rechtshistoriker Paul Koschaker in Erinnerung ruft, hieß es nun im Kontext eines mos italicus, im Kontext einer scholastischen oder scholastisch geprägten Lehre des römischen Rechts.26 Für die scholastische Rechtslehre 25 26

Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München 1953 (1947), S. 104. Dieser rechtshistorische und rechtsdidaktische Ansatz eines „mos italicus“ basierte auf einem im Laufe der ganzen mittelalterlichen Rechtsgeschichte von Bologneser Juristen geschaffenem Textkompendium, dem sogenannten Corpus iuris civilis, welcher neben den Pandectae oder Digesta

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der Post-Glossatoren oder Kommentatoren ließ sich die christliche Gegenwart ganz offenkundig nicht mehr als ungebrochene Fortsetzung der griechisch-römischen Welt, und handle es sich auch um deren Rechtsquellen, verstehen. Daher konnte in ihren Augen auch das juristische Denken jener Zeit nicht mehr wie selbstverständlich an das Rechtsverständnis und die überlieferten Gesetzestexte der Antike anschließen, sondern musste diese antiken Quellen durch umfangreiche Kommentierungen und Umdeutungen dem zeitgenössischen Kontext und den aktuellen Rechtssituationen anpassen. Wie aber ließ sich eine derartige Aktualisierung von Bestimmungen des Corpus iuris im Angesicht der Rechtsverhältnisse der eigenen Zeit bewerkstelligen? Dadurch, so lautete die Antwort einer scholastisch geprägten Rechtslehre, dass die prima facie nicht mehr zu leugnenden Unterschiede zwischen antikem und gegenwärtigem Recht, die nicht mehr zu leugnenden Diskontinuitäten zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgrund der Präsumtion von zeitlos gültigen philosophischen oder rechtlichen Prinzipien als irrelevant oder als in ihrer Relevanz theoretisch minimierbar betrachtet wurden. Nur dank dieser theoretischen Prämisse konnte es plausibel erscheinen, die tradierten römischen Rechtsquellen und Gesetzestexte auch nach dem Ableben ihres nicht zu verkennenden, ursprünglichen Entstehungskontextes, nach dem Untergang Roms oder doch zumindest der römischen Republik, noch für gültig zu erachten: „Universal principles of reason and morality were alleged, by whose aid the essential doctrines of jurisprudence could be distilled from Roman practice and rephrased in forms suited to medieval conditions“27 , mit diesen Worten bringt Pocock die theoretische Quintessenz dieser Rechtstheorie auf den Punkt. Eine mit dieser Annahme verknüpfte Zeitanschauung reagiert auf die kulturelle und geistige Unmöglichkeit der Präsumtion historischer Kontinuität nicht dadurch, dass sie historische Diskontinuität anerkennt und nach der Geschichte immanenten Gründen für Wandel und Diskontinuität der Geschichte sucht, sondern indem sie sich theoretisch verlässt auf „rational principles which made past and present one“28 . Bartolus de Saxoferrato etwa, auf den Pocock in diesem Zusammenhang immer wieder verweist, versuchte „to adapt the Roman text to the world he himself lived in by applying Roman principles and definitions to contemporary phenomena“29 . Auch das Anliegen der neo-bartolistischen Rechtsschule, deren „central concept […] that of discovering the fundamental principles of all systems of law“30 war, bestand Pocock zufolge darin, „to restore the unity of past and present“31 . Das spätmittelalterliche Rechtsdenken, wie es sich in der Lehre des mos italicus artikuliert, so fasst Julian Franklin in seiner Arbeit über die „SixteenthCentury Revolution in Law and History“ zusammen, „enabled medieval jurists to

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30 31

auch noch alle anderen Teile der Justinianischen Gesetzgebung, soweit sie damals bekannt waren, umfasste und der zunächst durch die Arbeit der Glossatoren, welche die Bologneser Edition des Corpus laufend kommentierten, und im Spätmittelalter durch die Arbeit der Post-Glossatoren erweitert und ausgearbeitet wurde. J. G. A. Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: a.a.O., S. 226. Ebd., S. 229. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 9. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23.

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reshape the Corpus Juris to the needs of medieval Europe while still maintaining its traditional authority.“32 Bezüglich der intellektuellen Motive für die Formulierung und Entwicklung ebenjener Zeitanschauung, welche die prinzipielle Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die Diskontinuität historischer Entwicklung zwar registriert, diese aber aufgrund zeitlos gültiger Grundsätze und Prinzipien theoretisch überwinden will, äußert Pocock folgende mentalitätsgeschichtliche Vermutung: „It seems that an appeal to universals may regularly be made where continuous traditions break down.“33 Indes, im Vergleich zu der Ausführlichkeit und Genauigkeit, mit welcher Pocock seinen Lesern die Doktrin der „Ancient Constitution“ als Prototyp einer traditionalistischen Zeitanschauung präsentiert, bleiben seine Ausführungen über die dem mittelalterlichen Rechtsdenken eigene Zeitanschauung ebenso wie der durchaus auch denkbare Verweis auf andere Formen und Typen eines zeitanschaulichen Denkens, welches ein Bewusstsein historischer Diskontinuität durch Rekurs auf zeitlose Universalien überwindet, fragmentarisch und skizzenhaft. Dabei ließe sich dieses Defizit leicht beheben: Prägnanter und weitaus anschaulicher, als dies Pococks zudem lediglich fragmentarisch ausgearbeiteter Verweis auf das mittelalterliche Rechtsdenken der Post-Glossatoren vermag, lässt sich der theoretische Kern einer Zeitanschauung, welche durch einen Rekurs auf zeitlose Universalien die prinzipielle oder wesensmäßige Identität von Vergangenheit und Gegenwart, die sie doch als ein historisches Faktum nicht unterstellen kann, gedanklich zu retten versucht und deren entscheidende theoretische Konsequenz daher in einer „conflation of the life of antiquity with the life of the contemporary world“34 besteht, meiner Meinung nach illustrieren, wenn man das Gebiet der spätmittelalterlichen Rechtstheorie verlässt und auf das Gebiet der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst blickt. Pocock selbst hat die Ergiebigkeit dieser Spur vermutlich gleich zu Beginn von The Ancient Constitution and the Feudal Law und im unmittelbaren Anschluss an die soeben zitierte Rede von einer „conflation of the life of antiquity with the life of the contemporary world“ gewittert, ohne sie indes dann im weiteren Verlauf seines Buches verfolgt zu haben, wenn er über die mittelalterliche und frühneuzeitliche Kunst schreibt: „Hector and Alexander were knights; Christ’s trial before Pilate was imagined as taking place according to the forms of feudal law; and, on a more serious and practical level of scholarship, the terminology of Roman law was unhesitatingly applied to the governance of medieval Europe.“35 So wie eine spätmittelalterliche Rechtstheorie das römische Recht kraft der Prämisse zeitlos gültiger Prinzipien und Grundsätze auf die aktuelle Rechtssituation des Mittelalters überträgt und dadurch historische Diskontinuität überwinden zu können glaubt, so konnten sich seinerzeit auch antike oder christliche Motive in einer von mittelalter32

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Julian Franklin, Jean Bodin and the Sixteenth-Century Revolution in Law and History, New York/ London 1963, S. 14. J. G. A. Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: a.a.O., S. 229. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 3. Ebd., S. 3.

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lichen Kontexten geprägten Weise ästhetisch dargestellt finden und dadurch historische Diskontinuitäten gleichsam ästhetisch zum Verschwinden gebracht werden. Wo und wie geschieht dies? Es ist bemerkenswert, dass Koselleck der von Pocock selbst nur gewitterten, niemals aber verfolgten kunsttheoretischen oder kunstgeschichtlichen Spur sowie den gleichsam zeitanschaulichen Parallelen zwischen einer Darstellung antiker oder christlicher Helden als mittelalterliche Ritter, welche historische Diskontinuität ästhetisch zum Verschwinden bringt, zu der rechtstheoretischen Überbrückung historischer Diskontinuität mit Hilfe der Präsumtion zeitloser Prinzipien der juristischen Vernunft deutlich energischer nachgegangen ist als Pocock selbst. Dem Thema einer „conflation of the life of antiquity with the life of the contemporary world“ widmet sich nämlich Kosellecks 1968 entstandener Aufsatz „Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit“ und die dort enthaltene Diskussion der 1529 entstandenen Darstellung der Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer. Altdorfer stellt auf diesem, heute in der Alten Pinakothek zu München sich befindenden Gemälde die Schlacht von Issus 333 v. Chr. dar, den Kampf zwischen den Persern und ihrem Anführer Darius und Alexander dem Großen. Koselleck macht dabei auf einen folgenreichen Anachronismus in Altdorfers Darstellung aufmerksam: „Die meisten Perser gleichen vom Fuß bis zum Turban den Türken“36 , so beobachtet Koselleck, jenen Türken also, die im Jahr der Entstehung des Bildes Wien belagerten, während andererseits die Darstellung des Alexanders deutlich der seinerzeit, also zu Beginn des 16. Jahrhunderts herrschenden Vorstellung des Ritterideals verpflichtet ist. Jene „conflation of the life of antiquity with the life of the contemporary world“, die Pocock anhand der rechtstheoretischen Schule der Post-Glossatoren lediglich andeutet und Koselleck am Beispiel von Altdorfers „Alexanderschlacht“ beschreibt, hat wiederum Erwin Panofsky in seiner Studie Die Renaissancen der europäischen Kunst einer grundsätzlich kunsthistorischen Reflexion unterzogen und als „Disjunktionsprinzip“ bezeichnet. Dieses Disjunktionsprinzip gilt Panofsky als ein wesentliches Charakteristikum der mittelalterlichen und hochmittelalterlichen Kunst, welches sich erst im Zeitalter der Hochrenaissance langsam aufzulösen beginnt: „Seit dem 11. und 12. Jahrhundert verwandelte die mittelalterliche Kunst sich die klassische Antike durch Zerlegung an“37 ; was jene mittelalterliche Kunst dabei nun „zerlegt“, das sind antike Form und antiker Inhalt; die mittelalterliche Kunst behält demnach entweder antike Form bei Negation der antiken Bedeutung bei oder antike Bedeutung bei Negation der antiken Form; und erst die Kunst der späten Renaissance erweist sich Panofsky zufolge in der Lage, eine grundsätzliche historische Diskontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit anzuerkennen, war in der Lage, wie Panofsky es an einer Stelle formuliert, Cäsar zu geben, was Cäsars ist.38 Die Kunst noch des Hochmittelalters hingegen zeichnet laut Panofsky „eine grundlegende Unfähigkeit aus, das zu leisten, was wir ‚historische‘ Unterschiede

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Reinhart Koselleck, „Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit“ (1968). in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 18. Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt am Main 1979 (1960), S. 103. Vergleiche hierzu ebd., S. 103.

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nennen“39 . Panofskys Nachweis des sich erst in der späten Renaissance auflösenden Disjunktionsprinzips der mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Kunst und Kosellecks Rekurs auf die historische Indifferenz eines Gemäldes aus dem frühen 16. Jahrhundert erweisen sich mithin in zeitlicher Hinsicht durchaus nicht als deckungsgleich. Dennoch lohnt es sich für meine Zwecke, ein wenig bei dem theoretischen Gehalt von Panofskys Disjunktionsprinzip zu verweilen, insofern dieses Disjunktionsprinzip die theoretische Grundlage jener Zeitanschauung, welche mit den Worten Pococks in einer „conflation of the life of antiquity with the life of the contemporary world“ mündet, sehr schön verdeutlicht, obschon es dies nun für die Kunstgeschichte tut und damit für eine kulturelle Sphäre, welche gar nicht im Mittelpunkt von Pococks Suche nach den Zeitanschauungen des historischen, politischen und juristischen Denkens der Frühen Neuzeit steht. Was genau meint Panofsky eigentlich mit seinem Disjunktionsprinzip? Dieses Prinzip umfasst – wenn man so formulieren darf – zweierlei ästhetische Schachzüge, zweierlei Formen einer anachronistischen und artifiziellen Modernisierung, welche eine grundsätzliche Differenz und Diskontinuität der Zeiten unterläuft. Panofskys Blick auf die Kunst des hohen und späten Mittelalters, die er auch mit vielleicht etwas missverständlichen Termini als Protohumanismus und Protorenaissance bezeichnet, bestätigt erstens grundsätzlich jenen Schachzug, den Koselleck noch für den späten Zeitpunkt von Altdorfers Darstellung nachweisen zu können glaubt. Antike Vorstellungen ebenso wie antike Persönlichkeiten werden „in einer Weise verbildlicht, die völlig unabhängig ist von den antiken Bildquellen.“40 Platon und Aristoteles, Seneca und Sokrates, die vier Elemente oder die sieben freien Künste oder eben auch Alexander und Darius, sie wurden so dargestellt, „wie der Künstler es von Leben und Kunst seiner Zeit her gewohnt war“41 . Den anderen der beiden Schachzüge des Disjunktionsprinzips sieht Panofsky in jener interpretatio Christiana verwirklicht, welche die antike Form zwar beibehält, dieser aber eine völlig neue Bedeutung verleiht. Phaedra wurde wie die antike Phaedra dargestellt, meinte aber nun die Jungfrau Maria. Fassen wir zusammen: Neben seinen Hinweisen auf eine mythische und eine traditionalistische Zeitanschauung verweist Pococks Zeitanschauungstypologie grundsätzlich, wie bruchstückhaft auch immer ihre diesbezüglichen Konkretisierungen bezüglich der mittelalterlichen Rechtsgeschichte bleiben mögen, auf eine Zeitanschauung, welche die Präsumtion einer lückenlosen historischen Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wie sie eine traditionalistische Zeitanschauung noch unbefragt unterstellen zu können glaubt, bezweifelt oder jedenfalls nicht mehr annehmen kann, daraufhin gleichwohl nicht zu einer Affirmation historischer Diskontinuität gelangt und sich auch nicht um eine entsprechende Suche nach genuin historischen Erklärungen für eine der historischen Entwicklung offenkundig eigene Diskontinuität, Wandelbarkeit und Kontingenz dieser Entwicklung bemüht. Vielmehr ließe sich von einer rationalistischen Zeitanschauung42 sprechen, insofern der theoretische Kern dieser Zeitanschauung, sei’s auf ästheti39 40 41 42

Ebd., S. 109. Ebd., S. 89. Ebd., S. 89. Pocock selbst spricht diesbezüglich von „rationalism“. Vergleiche dazu J. G. A. Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: a.a.O., S. 217.

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schem, sei’s auf juristischem oder rechtstheoretischem Gebiet, in letzter Instanz darin besteht, angesichts der Evidenz einer im Sinne eines historischen Faktums nicht mehr zu bestreitenden historischen Diskontinuität die Präsumtion einer Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart dadurch zu retten, dass ein partikulares historisches Ereignis nur als historische Illustration zeitloser Prinzipien und Grundsätze, nicht aber in seiner Partikularität und aufgrund der ihm eigenen Dignität – das bloße historische Ereignis gilt vielmehr als irrational und bedeutungslos – wahrgenommen wird. Keinesfalls hinsichtlich der verwendeten theoretischen Mittel, wohl aber hinsichtlich des Ergebnisses oder der Ambition, eine prinzipielle historische Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart zu behaupten und zu bewahren, weiß sich diese rationalistische Zeitanschauung daher einig mit der traditionalistischen Zeitanschauung. Auch die rationalistische Zeitanschauung erweist sich als blind für historische Diskontinuität, aber nicht deshalb, weil sie das zeitanschauliche factum brutum historischer Diskontinuität ignoriert, sondern deshalb, weil sie durch den Rekurs auf zeitlose Prinzipien und Universalien die durchaus registrierte Differenz von Vergangenheit und Gegenwart letztlich für theoretisch gegenstandslos betrachtet: „[…] the use of universal principles may be an efficacious means of bridging the gap between past and present where a simple statement of direct continuity does not suffice; and carried to extremes, it involves denial that such a gap exists at all.“43 Damit ist unsere möglichst abstrakt und systematisch gehaltene Darstellung all jener Typen oder Varianten von Zeitanschauungen abgeschlossen, die nun gemeinsam das gesuchte und bereits mehrfach erwähnte hermeneutische Kontrastmittel bilden, welches uns Pococks Zeitanschauungstypologie an die Hand gibt, um nun am Ende dieses Abschnitts dieses Kapitels die genuinen Konturen und spezifischen Umrisse einer historischen Zeitanschauung zu erkennen, jedenfalls weitaus deutlicher zu erkennen, als dies ohne die Kenntnisnahme der bislang erwähnten Zeitanschauungen möglich wäre: Inwiefern also unterscheidet sich Pocock zufolge eine historische Zeitanschauung von den drei skizzierten, durchaus unterschiedlichen, aber doch stets im Grunde ohne historischen Sinn argumentierenden, weil für eine immanente historische Entwicklung und deren Diskontinuität, deren Wandel und deren Kontingenz unaufgeschlossenen, zeitanschaulichen Modellen? Ich möchte diese Frage nach dem systematischen Kern einer historischen Zeitanschauung ganz bewusst noch am Ende dieses zweiten Abschnitts erörtern, bevor ich dann im dritten Abschnitt dieses Kapitels knapp auf die Differenz zwischen historischer und fortunadominierter Zeitanschauung eingehe und im vierten Abschnitt schließlich ausführlich auf jene konkreten Vertreter und Versionen einer historischen Zeitanschauung zu sprechen komme, für die Pococks Werk aufmerksam macht, also die Frage behandle, welche Denker oder welche intellektuelle Strömung oder welche geistige Tradition Pocock zufolge den nunmehr hinlänglich beschriebenen theoretischen Kern einer historischen Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit tatsächlich auch formulierten. Die erste differentia specifica einer historischen Zeitanschauung besteht darin, so Pocock, dass sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eigenständige historische Zei43

Ebd., S. 226.

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ten deutet, also etwa die Gegenwart nicht als kontinuierliche Vorstufe einer neuen Zeit oder als epigonalen Ausläufer einer alten Zeit betrachtet. Die erste differentia specifica einer historischen Zeitanschauung besteht also in der theoretischen Sensibilität für historische Diskontinuität. Die Gegenwart ist der historischen Zeitanschauung etwas anderes als die Fortschreibung der Vergangenheit, und die Vergangenheit ist ihr etwas anderes als Vorstufe der Gegenwart. Die Gegenwart ist der historischen Zeitanschauung etwas anderes als die Vorstufe der Zukunft, und die Zukunft ist ihr etwas anderes als Fortschreibung der Gegenwart. Die Gegenwart ist vielmehr – wie Vergangenheit und Zukunft auch – eine Epoche sui generis. Aus dieser theoretischen Sensibilität für historische Diskontinuität ergibt sich laut Pocock zweitens, geht es um die angemessene Erkenntnis ebenjener Vergangenheit, für die historische Zeitanschauung die methodische Pflicht, die Vergangenheit mit den Augen der Vergangenheit zu sehen, also sowohl in dem ihr eigenen Kontext wie auch um ihrer selbst willen zu betrachten. Wer dieses methodische Gebot missachtet, wer die Vergangenheit vielmehr unmittelbar für die Gegenwart in Anspruch nehmen will, indem er etwa angesichts durchaus wahrgenommener historischer Diskontinuität die Existenz zeitloser Prinzipien suggeriert, welchen eine geistige Überwindung oder ästhetische Eskamotierung dieser Diskontinuität stets möglich ist, der bewirkt hingegen jene rechtstheoretischen oder kunstgeschichtlichen Antinomien und Anachronismen, wie sie die Vertreter einer historischen Zeitanschauung stets kritisieren und im Bereich der Rechtsgeschichte etwa jener Tradierung der römischen Rechtsquellen zum Vorwurf machen, welche gerade nicht das römische Recht vor dem Hintergrund seines genuinen Entstehungskontextes zu verstehen sucht, sondern vielmehr dessen Gehalt entstellt, indem sie es der Gegenwart und der gegenwärtigen Rechtslage anpasst. Ein theoretisches Bewusstsein für die Relevanz historischer Diskontinuität und die Differenz historischer Kontexte, welche beachtet werden müssen, wenn die historische Vergangenheit verstanden sein will, und die gerade nicht durch zeit- und geschichtslose Prinzipien überwunden oder zum Verschwinden gebracht werden können, sie lässt nun wiederum drittens für den theoretischen Kern und den substanziellen Gehalt einer historischen Zeitanschauung die Frage dringlich werden, wie sich die Vergangenheit in eine ganz andersartige Gegenwart wandeln kann. Historische Zeit ist, so hatte es Pocock in seinem 1966 verfassten Vorwort für The Ancient Constitution and the Feudal Law formuliert, stets durch zweierlei, durch die „dimension of continuity and contingency [Hervorhebung von mir; P. V.]“44 , gekennzeichnet. Dieser historische Wandel oder jene historische Entwicklung, welche Vergangenheit und Gegenwart voneinander trennt, sie waren niemals notwendig, berechenbar, vorhersehbar, sondern stets kontingent in ebenjenem Sinne eines nicht notwendigen Möglichen, welches sich gerade nicht hätte ereignen müssen, wenngleich es offensichtlich auch nicht unmöglich war. Der stete Wandel und die unaufhörliche Entwicklung von Geschichte zeugen den Vertretern einer historischen Zeitanschauung insofern drittens davon, dass der Verlauf der historischen Entwicklung niemals a priori und unwiderruflich feststeht: Die Geschichte wandelt sich beständig, und diesem Wandlungsprozess ist immer ein Moment von Kontingenz eigen, die Realisierung von Möglichkeiten, welche nicht vorhersehbar waren, und die Verhin44

Vergleiche oben Anmerkung 14 auf S. 457 in diesem Kapitel.

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derung von Möglichkeiten, deren Existenz als unwiderruflich postuliert wurde und daher vorhersehbar erschien, sodass der Verlauf der Geschichte niemals notwendigen Gesetzmäßigkeiten oder unwiderruflichen Regelmäßigkeiten welcher Art auch immer folgt. Für die Erklärung des nicht weiter für bestreitbar gehaltenen Phänomens historischen Wandels und historischer Entwicklung und damit auch für die Erklärung historischer Kontingenz bezieht sich eine historische Zeitanschauung gemäß Pococks Charakterisierung, darin besteht ein viertes Merkmal ihres theoretischen Kerns und ihres substanziellen Gehalts, allein auf der Geschichte immanente Ursachen, also auf genuin historische Ursachen. Einer historischen Zeitanschauung ist daher nicht nur eine theoretische Sensibilität für Entwicklung, Wandel und Kontingenz in der Geschichte eigen, sondern auch eine durchgängige Immanentisierung von Geschichte. Für die Erklärung geschichtlichen Wandels wollen sich die Vertreter einer historischen Zeitanschauung ganz bewusst nicht mehr auf eine außergeschichtliche Instanz beziehen. Diese Immanentisierung von Geschichte, wie sie für die historische Zeitanschauung konstitutiv ist, wendet sich in der Frühen Neuzeit vor allem gegen zwei andere Geschichtsauffassungen oder Zeitanschauungen: zum einen, wie wir sogleich im dritten Abschnitt dieses Kapitels sehen und besprechen werden, gegen eine fortunadominierte Geschichtsauffassung oder Zeitanschauung, zudem aber auch, diese theoretische Opposition darf in diesem Zusammenhang zumindest nicht unerwähnt bleiben, gegen jede Version einer christlichen Heilsgeschichte. Die Idee, dass die menschliche Geschichte sich aufspalten lässt in Heilsgeschichte und Profangeschichte, ist mit einer durchgängigen Immanentisierung der Geschichte, wie sie eine historische Zeitanschauung vorstellt, nicht zu vereinbaren. Für das genuine historische Bewusstsein der historischen Zeitanschauung der Frühen Neuzeit gilt vielmehr, so charakterisiert es Ulrich Muhlack, „dass der Zweck der Geschichte nicht außerhalb, sondern innerhalb der Geschichte ist. Die Geschichte soll der Geschichte, die historische Erkenntnis der historischen Erkenntnis dienen. Die Geschichte trägt ihre Bestimmung in sich selbst; die Historie bekommt die einzige Aufgabe, Geschichte zu treiben. Die Geschichte wird Selbstzweck, die historische Erkenntnis autonom.“45 Die sich von Augustinus bis Bossuet erstreckende geschichtstheoretische Segmentierung der Geschichte in Heilsgeschichte und Profangeschichte weicht der Vorstellung von der einen menschlichen Geschichte; es kommt zu einer, um einen von Ulrich Muhlack immer wieder gebrauchten Terminus wiederaufzunehmen, „Verabsolutierung der profanen Geschichte“46 , wobei es einerlei ist, ob die Dualität von Heils- und Profangeschichte formal noch gewahrt bleibt, inhaltlich aber allein Letztere thematisiert und diese als eine autarke Sphäre gedeutet wird, oder tatsächlich und bewusst nur noch von einer Geschichte die Rede ist.47 45

46 47

Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Zur Vorgeschichte des Historismus, a.a.O., S. 419. Ebd., S. 94. Vergleiche zu diesen unterschiedlichen Optionen eines frühneuzeitlichen Geschichtsbewusstseins, welches sich gegen eine Auffassung von Geschichte als Heilsgeschichte wendet, die instruktive Studie von Adalbert Klempt.

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So nimmt die Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit, dies gibt die soeben vorgenommene, lediglich abstrakte Darstellung der vier konstitutiven Merkmale einer historischen Zeitanschauung, wie wir sie allein den Konturen und Umrissen von Pococks Zeitanschauungstypologie entnehmen können, hinreichend zu erkennen, ihren theoretischen Ausgang bei einem Bewusstsein historischer Diskontinuität, welches theoretische Evidenz gewinnt, sobald die Annnahme einer ungebrochenen historischen Kontinuität, wie sie die traditionalistische Zeitanschauung formuliert, ebenso wenig mehr theoretische Glaubwürdigkeit beanspruchen kann wie die Unterstellung von aller Geschichte übergeordneten und insofern zeitlosen Prinzipien und Universalien, wie sie etwa die Zeitanschauung oder das Geschichtsverständnis scholastischer Rechtstheoretiker formulieren oder sie sich dem „Disjunktionsprinzip“ (Panofsky) der mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Malerei entnehmen lässt: „[…] historical explanation can arise only where there is some awareness of discontinuity“48 . Dieses Bewusstsein historischer Diskontinuität wiederum ist Voraussetzung und Fundament einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Wandel in der Geschichte sowie schließlich für die Formulierung genuin historisch verfahrender Versuche, diese Kontingenz in der Geschichte eben weder heilsgeschichtlich aufzulösen noch im Rückgriff auf die außergeschichtliche Instanz der Fortuna zu erklären, sondern vielmehr historische Kontingenz als ein immanentes Merkmal des historischen Prozesses selbst zu begreifen. Nun ist die bislang allein schematisch skizzierte historische Zeitanschauung, welche sich durch das Bewusstsein historischer Diskontinuität und eine theoretische Affirmation historischer Kontingenz zu dem Versuch einer genuin historischen Erklärung historischen Wandels und historischer Entwicklung gedrängt sieht, ohne doch dabei historische Kontingenz zu eskamotieren, welche im Gegenteil historische Kontingenz als immanenten Bestandteil eines historischen Prozesses betrachtet, nun ist eine derartige historische Zeitanschauung innerhalb von Pococks Zeitanschauungstypologie nicht die einzige, frühneuzeitlich zur Verfügung stehende theoretische Variante für die Thematisierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte. Vielmehr ist, diese womöglich unglückliche Terminologie wurde am Beginn des Kapitels bereits eingeführt, eine fortunadominierte Zeitanschauung als die zweite mögliche Variante einer frühneuzeitlichen Sensibilität für Kontingenz in der Geschichte zu betrachten. Historische oder fortunadominierte Zeitanschauung? So scheint die klare theoretische Alternative zu lauten, die sich frühneuzeitlich stellt, wenn über die Kontingenz der Geschichte räsonniert wird. Bevor wir im vierten Abschnitt des Kapitels an Pococks Werk die Frage richten werden, wer, wann, wo und in welcher Weise eine historische Zeitanschauung formuliert hat, für deren Beantwortung uns Pocock bislang allenfalls einige äußerst ungesicherte Hinweise und Indizien geliefert hat, und bevor wir uns im gesamten siebten Kapitel ausschließlich der Fortunathematisierung – und zwar von der Antike bis in die Zeit des Barock hinein – widmen wollen, seien daher im folgenden dritten Abschnitt dieses Kapitels die Grundzüge einer fortunadominierten Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit in ebenjener abstrakten und schematischen Weise skizziert, der wir bislang auch mutatis

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Adalbert Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1960. J. G. A. Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: a.a.O., S. 237.

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mutandis bezüglich der historischen Zeitanschauung gefolgt sind, und freilich insofern auch die entscheidenden und erheblichen Differenzen zwischen historischer und fortunadominierter Zeitanschauung. (3) In dem frühen Aufsatz „‚The Onely Politican‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“ erweitert Pocock seine Zeitanschauungstypologie, wie wir sie bislang kennen gelernt haben, in einer Hinsicht, die für unsere Fragestellung, eben die Frage, wie in der Frühen Neuzeit der Verlauf der Geschichte gedacht wird, ob dabei – ich rufe die am Ende des allerersten Absatzes dieses Kapitels formulierte, zentrale Fragestellung dieses Kapitels in Erinnerung – Kontingenz in der Geschichte bejaht oder ausgeschlossen wird, höchst folgenreich ist. Pocock kommt nämlich im genannten Aufsatz am Beispiel Machiavellis auf eine in der Zeit der Renaissance formulierte Zeitanschauung zu sprechen, welche Geschichte und geschichtliche Zeit in das Drama einer von einer wie auch immer konzipierten Fortuna zu allen Zeiten gleichermaßen gelenkten Welt auflöst und welche insofern als fortunadominiert bezeichnet werden kann. Nun ist freilich diese fortunadominierte Zeitanschauung keine Spezialität der Frühen Neuzeit oder der Renaissance, auch keine Spezialität Machiavellis. Ihre Existenz ist zwar für die Frühe Neuzeit in besonders auffälliger Weise zu belegen, ihre Geburtsstunde aber fällt – im Unterschied zu der historischen Zeitanschauung – gerade nicht auf die Frühe Neuzeit. Der Rekurs auf die Fortuna, um so die Kontingenzen und – wie man in diesem Falle wieder zurecht sagen kann – die Zufälle in der menschlichen Geschichte oder ihre Relevanz für das menschliche Leben schlechthin verständlich zu machen, dieser Rekurs hat seine eigene, äußerst reichhaltige Geschichte. In der römischen Antike, in der Spätantike, im christlichen Mittelalter, in der Renaissance, in der Frühen Neuzeit bis in das Zeitalter des Barock hinein, in all diesen Phasen und Epochen der Ideengeschichte wurden das menschliche Leben schlechthin und die menschliche Geschichte, so werden wir im siebten Kapitel noch ausführlich sehen, als von der Fortuna bestimmt aufgefasst, wobei der Wirkungsgrad ebendieser Fortuna gegenüber den menschlichen Möglichkeiten des Einwirkens auf diese Fortuna, also die Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit dieser Fortuna, wiederum höchst unterschiedlich aufgefasst werden konnte. Diese äußerst umfangreiche Geschichte soll jedoch nicht in diesem Kapitel, auch nicht in diesem Abschnitt des Kapitels, sondern erst in der ideengeschichtlichen Skizze des nächsten Kapitels dieser Arbeit erzählt werden.49 Selbst einzelne Protagonisten der fortunadominierten Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit, sowohl Machiavelli als auch jene Autoren, die Pocock in The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition neben Machiavelli als die entscheidenden Repräsentanten einer fortunadominierten Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit vorstellt, nämlich Francesco Guicciardini und Donato Giannotti, sollen uns in diesem Kapitel allein in dem Maße und insofern interessieren, als sich ihren Schriften theoretischer Kern und substanzieller Gehalt einer fortunadominierten Zeitanschauung entnehmen lassen. Ich will vielmehr die Aufmerksamkeit des Lesers in diesem dritten Abschnitt des Kapitels allein auf die für die gesamte Argumentationsdramaturgie dieser Arbeit höchst bedeutsame Tatsache lenken, dass diese fortunadominierte Zeitanschauung in der Systematik von Pococks Zeitanschauungstypologie 49

Vergleiche hierzu das gesamte siebte Kapitel dieser Arbeit.

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weder einer mythischen noch einer traditionalistischen noch einer rationalistischen Zeitanschauung gleicht, sie dies aber keinesfalls in die Arme der am Ende des vorherigen Abschnitts des Kapitels bereits in abstracto skizzierten, freilich im vierten Abschnitt des Kapitels erst noch in concreto vorzustellenden historischen Zeitanschauung treibt. Insofern wollen die folgenden Ausführungen dieses Abschnitts ebenfalls nur höchst abstrakt und allein in systematischer Absicht sowohl theoretische Substanz und Kern der fortunadominierten Zeitanschauung als auch die grundsätzliche Differenz zwischen historischer und fortunadominierter Zeitanschauung benennen. Ebenso wie die historische Zeitanschauung suggeriert auch die fortunadominierte Zeitanschauung eine wechselhafte, stets veränderliche und wandelbare und insofern kontingente Welt der Geschichte. Eine fortunadominierte und eine historische Zeitanschauung, beide Auffassungen historischer Zeit, so betont Pocock in The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, sehen geschichtliche Zeit „as the dimension of contingent happenings“50 ; eine fortunadominierte und eine historische Zeitanschauung, beide, so schreibt Pocock an anderer Stelle, „emphasized the changeability of human insititutions“51 . Damit sind der inhaltlichen Gemeinsamkeiten aber schon genug, denn die historische Zeitanschauung deutet, wie wir am Ende des zweiten Abschnitts bereits systematisch verdeutlichten, wenn auch noch nicht konkret belegten und illustrierten, die Kontingenz und Wandelbarkeit der Geschichte als ein der historischen Entwicklung immanentes Charakteristikum, nicht als Folge des Wirkens einer unwandelbaren und gleichsam außergeschichtlichen Instanz; die historische Zeitanschauung deutet Kontingenz und Wandelbarkeit der Geschichte als ein genuin historisches Phänomen, als ein immanentes Merkmal aller Geschichte, und betrachtet deshalb, wie Pocock im Zusammenhang des vorherigen Zitats schreibt, „the context of this [der soeben erwähnten „changeability of human institutions“; P. V.] not as the existential void over which Fortune ruled, but as a kind of secular nature, co-terminous with the whole range of human activities.“52 Die historische Zeitanschauung begreift die Kontingenz und stete Wandelbarkeit der historischen Welt als ein spezifisches Merkmal historischer Entwicklung und nicht als Folge der irrationalen und unberechenbaren Launen einer aller Geschichte gleichsam vor- oder übergeordneten Instanz der Fortuna: „[…] there is a profound difference between an historicism which presents history as a secular flux ruled by fortune, and one which presents it as a secular process and transformation“53 , so bringt Pocock selbst diese erste wesentliche theoretische Differenz zwischen historischer und fortunadominierter Zeitanschauung hinsichtlich gleichsam der Quelle historischer Kontingenz auf den Punkt.

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52 53

J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, a.a.O., S. 3. J. G. A. Pocock, „‚The Onely Politician‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“, in: a.a.O., S. 281. Ebd., S. 281. J. G. A. Pocock, „Machiavelli and Guicciardini: Ancients and Moderns“, in: Canadian Journal of Political and Social Theory 2 (1978), S. 107.

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Ferner, und dies ist der zweite wesentliche Unterschied zwischen historischer und fortunadominierter Zeitanschauung, betont eine historische Zeitanschauung nicht nur in einer bestimmten Weise die Kontingenz historischer Entwicklung, die Tatsache also, dass all dieses, welches historisch ist, nicht notwendig ist, und all jenes, welches historisch nicht ist, nicht notwendig nicht ist, und dass sich mithin alles, was historisch ist, nur historisch erklären lässt, sondern auch die Diskontinuität des historischen Prozesses. Hingegen betrachtet die fortunadominierte Auffassung der menschlichen Geschichte diese Geschichte in ihren tiefsten Gesetzmäßigkeiten, und sei’s auch das Gesetz ihrer steten Wandelbarkeit und sei’s auch die für alle Geschichte konstitutive, stete Möglichkeit kontingenter Widerfahrnisse und zufälliger Einschübe, als ein Kontinuum. Göttin Fortuna und ihr historische Kontingenz und auch historischen Zufall verwaltendes Regiment lenken und leiten die Geschichte, dies lässt sich für die Fortunaauffassung von Machiavelli besonders prägnant verdeutlichen, immer und überall, sind in der Vergangenheit nicht anders wirksam als in der Gegenwart. Dabei ergibt sich für Machiavelli die Zeitlosigkeit der Fortuna und ihre Immunität gegen allen historischen Wandel, den sie doch andererseits gerade garantiert und verwaltet, aus den zeitlosen Grundsätzen der menschlichen Natur und den unveränderlich gültigen Lehren der antiken Verfassungstheorie. Die Gegenwart wird demnach grundsätzlich in genau derselben Weise wie die Vergangenheit oder die Zukunft als von den Launen der Fortuna dominiert betrachtet, von den Launen jener zeitlosen „volubil creatura“54 , jener irrationalen und unveränderlichen Instanz, „sanza pietà, sanza legge o ragione“55 , wie sie Machiavelli in seinem Giovan Battista Soderini gewidmeten Gedicht über die Fortuna charakterisiert.56 Insofern zeigt sich Machiavellis fortunadominierte Auffassung von Geschichte im Unterschied zu einer historischen Zeitanschauung gerade nicht sensibel für die Diskontinuität von Geschichte und für die jeweilige differentia specifica von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Machiavellis fortunadominierte Zeitanschauung sieht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerade nicht durch unüberbrückbare Differenzen geschieden, sondern vielmehr als temporale Modi zeitloser Grundsätze des Politischen, die sich wiederum aus anthropologisch konstanten Grundzügen menschlicher Leidenschaften und Strebungen ergeben. Allein aufgrund dieser von einer historischen Zeitanschauung grundsätzlich zu scheidenden Weise, menschliche Geschichte zu denken, glaubt Machiavelli auch seine Discorsi nach dem Grundsatz strukturieren zu können, dass die Vergangenheit unmittelbar als entscheidende Lehrmeisterin für das gegenwärtige Leben zu gebrauchen sei. Hingegen können eine historische Zeitanschauung und das für sie konstitutive Bewusstsein historischer Diskontinuität den Topos historia magistra vitae niemals akzeptieren;57 doch ebendieser Topos entspricht exakt dem Geist einer fortunadominierten 54

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Niccolò Machiavelli, „Di fortuna. A Giovan Battista Soderini“, in: Dirk Hoeges, Niccolò Machiavelli: Dichter – Poeta. Mit sämtlichen Gedichten deutsch/italienisch, Frankfurt am Main 2006, S. 114. Ebd., S. 115. Zu Machiavellis Gedicht über die Fortuna und das Verhältnis der darin formulierten Auffassung der Fortuna zu der Fortunathematisierung in seinem restlichen Werk vergleiche S. 583–586 im siebten Kapitel dieser Arbeit. Locus classicus für diesen Topos ist natürlich ein Aufsatz von Reinhart Koselleck: Reinhart Koselleck, „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter

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Zeitanschauung, welche explizit oder stillschweigend von der Präsumtion einer ungebrochenen Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart zehrt. Es kann daher nicht verwundern, sondern ist theoretisch höchst konsequent, wenn Machiavelli in seinen 1531 veröffentlichten Discorsi schreibt: „Kluge Männer pflegen nicht unbedacht und nicht ohne Grund zu sagen, wer die Zukunft voraussehen wolle, müsse auf die Vergangenheit blicken, denn alle Dinge auf Erden haben jederzeit Ähnlichkeit mit den vergangenen gehabt. Das kommt daher, dass sie von Menschen vollbracht werden, die immer die gleichen Leidenschaften besitzen und besaßen; mithin muss das Ergebnis auch immer das gleiche sein.“58 Machiavellis Auffassung von Geschichte kennzeichnet, so lautet Isaiah Berlins Urteil angesichts dieses überaus deutlich formulierten Bekenntnisses zur Vergangenheit als Lehrmeisterin für die Gegenwart, „kaum historisches Gespür: Die Menschen sind überall und immer dieselben; was den Alten nützlich war, ihre Regeln in der Medizin, der Kriegsführung und Staatskunst, wird sicherlich auch für die Modernen gut sein.“59 Machiavellis fortunadominierte Zeitanschauung beharrt insofern auf der Existenz von Kontingenz und Zufall in der Geschichte als Resultat des Wirkens einer Fortuna und auf der bruchlosen Kontinuität der Geschichte. Machiavelli begreift die Geschichte zwar als einen Prozess, den, insofern er der Fortuna untersteht, Kontingenz oder Zufall kennzeichnen, nicht aber als einen einzigartigen, irreversiblen und diskontinuierlichen historischen Prozess, der allein durch immanente historische Ursachen befördert wird und erklärt werden kann, sondern im Grunde als den Schauplatz eines immer gleichen und unveränderlichen Geschehens, welches durch zeitlose Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten einer außergeschichtlichen Instanz, nämlich durch die unveränderlichen Launen und Präferenzen eines Wesens namens Fortuna strukturiert ist. „Was einmal getan worden ist“, so interpretiert Berlin Machiavellis Geschichtsbild weiter, „kann wiederholt werden. Machiavelli glaubt nicht an eine Unumkehrbarkeit des geschichtlichen Prozesses oder an die Einmaligkeit seiner einzelnen Phasen.“60 Und auch hinsichtlich des geschichtlichen Bewusstseins der italienischen Renaissance schlechthin fühlt sich Berlin zu folgendem Urteil berechtigt: „Die Renaissance hat sich nicht historisch begriffen. Machiavelli hat zeitlose, allgemeingültige Wahrheiten über das gesellschaftliche Verhalten gesucht – und glaubte sie gefunden zu haben. Es dient weder ihm noch der Wahrheit, die unhistorischen Annahmen zu leugnen oder zu ignorieren, die er mit allen seinen Zeitgenossen und Vorgängern teilte.“61

58

59

60 61

Geschichte“ (1967), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 38–67. Niccolò Machiavelli, Discorsi, übersetzt von Friedrich Oppeln-Bronikowski, herausgegeben von Horst Günther, Frankfurt am Main 2000, S. 419. Isaiah Berlin, „Die Originalität Machiavellis“ (1972), in: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1994, S. 107. Ebd., S. 114. Ebd., S. 99.

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Machiavellis Auffassung von Geschichte und geschichtlicher Zeit, so resümiert wiederum Pocock, „continued to be fortuna-dominated and cyclical, a matter of finite quantities of energy, rarely mobilized, inclined to be self-destructive and moving toward total entropy until some unpredictable force should mobilize them again.“62 Insofern begreift Pocock die zentrale inhaltliche Differenz zwischen jener historischen Zeitanschauung und einer fortunadominierten Zeitanschauung, wie sie in diesem Abschnitt anhand des Denkens Machiavellis exemplarisch vorgestellt wird, im Kern als Trennlinie „between a philosophy which cannot, and a philosophy which can, construct secular explanations of secular happenings; […] What the modern mind can do is construct explanations of Fortune’s proceedings, and in so doing transform her into History; and here Machiavelli did more to ask the questions than to provide the answers.“63 Ulrich Muhlack hat in Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung im Zuge seiner Diskussion der Fortunaauffassung des italienischen Humanismus und der historistischen Innovation einer grundsätzlichen Immanentisierung von Geschichte ebenfalls Historismus und Fortunatheorie als die beiden frühneuzeitlichen Varianten einer geschichtstheoretischen Thematisierung von Kontingenz und Zufall in der Geschichte kontrastiert, zugleich aber die theoretische Pointe der Entwicklung hin zu einem reifen Historismus als eine bestimmte Wendung in der Geschichte des „Fortunaproblems“ interpretiert, nämlich als „eine Entdeckung des Zufälligen als der wahren Realität, aber jetzt im Zeichen eines bis zur letzten Konsequenz ausgeführten Immanenzgedankens, durch den sich der Historismus qualititativ von seiner humanistischen und aufklärerischen Vorgeschichte unterscheidet. Die […] Interpretationskonzepte Humboldts und Droysens lassen sich, bei allen Bestimmungen, die ihre Abhängigkeit von der in der Aufklärungshistorie gipfelnden Tradition der bewegenden Kräfte der Geschichte zu erkennen geben, hauptsächlich aus dem Bestreben verständlich machen, der Immanenz dieser wahren Realität gerecht zu werden: mit der Trennung von Ursache und Ereignis zugleich auch die Irrationalität des Zufalls aufzuheben, dergestalt, dass keine Erscheinung der Realität mehr aus der historischen Erkenntnis herausfällt und damit kein neues Fortunaproblem entstehen kann.“64 Um Bestätigung dafür zu finden und zugleich noch schärfer zu profilieren, dass sich zu Beginn der Frühen Neuzeit historische und fortunadominierte Zeitanschauung tatsächlich als die beiden Varianten eines Geschichtsdenkens gegenüberstehen, welche sich für Kontingenz und eben auch – im Fall der fortunadominierten Zeitanschauung – Zufall in 62

63

64

J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, a.a.O., S. 218. J. G. A. Pocock, „‚The Onely Politician‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“, in: a.a.O., S. 280. Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Zur Vorgeschichte des Historismus, a.a.O., S. 338 f.

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der Geschichte theoretisch offen zeigen, hätte Pocock freilich nicht nur die Autoren der italienischen Renaissance als Repräsentanten einer fortunadominierten Zeitanschauung und jene Vordenker und Protagonisten einer historischen Zeitanschauung, auf die wir im nächsten Abschnitt dieses Kapitels sogleich noch zu sprechen kommen, separat und unabhängig voneinander betrachten sollen, sondern sich auch die Frage vorlegen müssen, inwiefern das Plädoyer für die eine oder andere Variante einer frühneuzeitlichen und zugleich kontingenz- oder zufallssensiblen Zeitanschauung ihr theoretisches Profil eben gerade dadurch gewinnt, dass sie die konkurrierende theoretische Option explizit auf Distanz hält. Ein diesbezüglich aussagekräftiger Hinweis, mit dem ich diesen dritten Abschnitt des Kapitels beschließen werde, findet sich in George Hupperts Buch The Idea of Perfect History: Historical Erudition and Historical Philosophy in Renaissance France.65 Im Zuge seiner Diskussion von Pasquiers Recherches de la France, an denen Étienne Pasquier Jahrzehnte lang und während seines ganzen Lebens gearbeitet hatte und die 1560 zum ersten Mal erschienen, macht Huppert auf jene Passagen aufmerksam, mit denen Pasquier das erste Kapitel des zweiten Buches eröffnet und in denen er sich die Frage vorlegt, wie es heißt, „Lequel des deux, de la Fortune, ou du Conseil, a plus ouvré à la manutention de ce Royaume de France“. Die ungebrochene Existenz und Jahrhunderte währende Kontinuität und Prosperität des französischen Königreichs scheint Pasquier zufolge auf einen ersten Blick tatsächlich für eine wohlwollende Fortuna zu sprechen, ja er setzt nun sogar Fortuna, diese theoretische Amalgamierung wird uns im siebten Kapitel dieser Arbeit noch öfter begegnen, mit der göttlichen Providenz gleich: „[…] je nomme […] la fortune […] les mystères de Dieu qui ne se peuvent descouvrir par nostre prudence humaine.“66 Allein, die Pointe von Pasquiers genuin historischem Ansatz besteht doch gerade darin, einer solchen, sich auf das Medium der Fortuna berufenden, letztlich aber providentiellen Erklärung der historischen Zeitläufte und des historischen Schicksals Frankreichs gerade zu widersprechen, handelt es sich doch dabei gerade um keine genuine historische Vorgehensweise, sondern um einen explanatorischen Rekurs auf eine wie auch immer beschaffene außergeschichtliche Instanz. Vielmehr und in letzter Instanz sind es also stets, dies scheint Pasquier unbestreitbar, die kluge „Politik“, der besonnene „conseil“, der Geschichte immanente Ursachen mithin, ist es nicht die Fortuna, nicht die providentia, sondern allein das profane Handeln von Menschen in einer allein immanenten Prozessen gehorchenden und also nur unter Bezugnahme auf diese immanenten Prozesse erklärbaren Geschichte, welche das Schicksal von „Franco-Gallia“ (Hotman) in jene glücklichen Bahnen gelenkt hat, die Pasquier zufrieden registriert.67 Während eine historische Zeitanschauung die Fortuna in Geschichte „transformiert“, wie es Pocock formuliert, oder das „Fortunaproblem“ endgültig auflöst, wie es bei Muhlack heißt, und insofern historische Phänomene als Ausdruck und Resultat einer stets wandelbaren und insofern kontingenten historischen Entwicklung begreift, die nun freilich auch von einer der Geschichte eigenen Diskontinuität zeugt, nicht von 65

66 67

George Huppert, The Idea of Perfect History: Historical Erudition and Historical Philosophy in Renaissance France, Urbana 1970. Étienne Pasquier, Les Recherches de la France, Paris 1607, S. 55. Vergleiche dazu S. 54–57 der zitierten Ausgabe von Pasquiers Les Recherches de la France.

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einer kontinuierlichen Wiederkehr zeitloser Grundsätze, begreift eine fortunadominierte Zeitanschauung die Fortuna als höchste außergeschichtliche Lenkungsinstanz aller Geschichte, einer Geschichte, die aufgrund dieser unvermeidlichen Eingriffe und dieses stets zu gewährenden Gebarens der Fortuna zwar als kontingent und zufällig zu charakterisieren ist, die dabei aber und im Unterschied zu einer historischen Zeitanschauung nicht als diskontinuierlich, sondern als kontinuierlich vorgestellt wird, insofern bestimmte unveränderliche Grundsätze und Regeln, in diesem Fall: Grundsätze und Regeln des Verhaltens der Fortuna, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stets in der gleichen Weise beeinflussen. In einem systematischen Sinne lassen sich eine historische und eine fortunadominierte Zeitanschauung daher sowohl anhand ihrer Konzeption historischer Kontingenz oder historischen Zufalls als auch anhand ihrer Stellung zu der Frage historischer Kontinuität oder Diskontinuität unterscheiden. Insofern können die beiden skizzierten theoretischen Differenzen zwischen historischer und fortunadominierter Zeitanschauung eben in der Tat, wie Pocock schreibt, „be arranged around two dominant notions, that of continuity and that of contingency.“68 Die Möglichkeit dieses „Arrangements“ soll nun im nächsten Abschnitt dieses Kapitels anhand der von Pocock diskutierten Vertreter und Versionen einer historischen Zeitanschauung weiter bestätigt und konkret illustriert werden. (4) Wer hat Pocock zufolge in der Frühen Neuzeit und in welcher Weise eine historische Zeitanschauung vertreten und dabei sowohl die Wandelbarkeit und Diskontinuität geschichtlicher Entwicklung als auch die geschichtsimmanente Kontingenz in dieser historischen Entwicklung thematisiert? Und inwiefern spiegeln sich in diesen unterschiedlichen Varianten einer frühneuzeitlich formulierten historischen Zeitanschauung alle oder doch zumindest einige jener am Ende des zweiten Abschnitts dieses Kapitels in abstrakter Manier bereits benannten und aus allein systematischen Gründen bereits eingeführten Merkmale einer historischen Zeitanschauung wider? In Pococks Schriften finden sich, wenn mich mein Eindruck nicht trügt, insgesamt drei Antworten auf diese Frage, so hatte ich in den einleitenden Bemerkungen dieses sechsten Kapitels bereits erwähnt: Ein erster Verweis Pococks auf einen Vertreter einer historischen Zeitanschauung bezieht sich auf James Harrington, einen englischen Autor, der in seinem Hauptwerk The Commonwealth of Oceana von 1656 die politische Legitimität der englischen Republik und damit jener Gegenwart und Gesellschaftsform, in der er und für die er mit all seinen politischen Sympathien schrieb, durch eine umfassende Geschichtstheorie zu stützen versuchte, einen gleichsam universalgeschichtlichen Entwurf, der sich von der römischen Republik und ihrem Verfall über das „gotische Mittelalter“ bis in die Gegenwart der englischen Republik erstreckte.69 Der Hinweis auf Harrington ist dabei für eine 68

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J. G. A. Pocock, „Modes of Political and Historical Time in Early Eighteenth-Century England“, in: Ronald Rosbottom (Hg.), Studies in Eighteenth-Century Culture, Volume 5, Madison 1976, S. 88. Harrington spielt für Pococks Werk grundsätzlich eine herausragende Rolle, dies aber weniger aufgrund seiner geschichtstheoretischen Überlegungen als vielmehr deshalb, weil er für Pococks Konstruktion eines transatlantischen Schicksals des Republikanismus – gewissermaßen „fra Toscana e Stati Uniti“ und sich gleichsam von Florenz über die einzige englische Republik bis zu

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Illustration und Konkretisierung dessen, was Pocock mit einer historischen Zeitanschauung meint, besonders aufschlussreich – und deshalb beginnen wir den vierten Abschnitt dieses Kapitels auch mit diesem Hinweis –, weil Pocock in dem frühen Aufsatz „‚The Onely Politican‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“ Harringtons Auffassung von Geschichte den skizzierten Vorstellungen Machiavellis über die Prägekraft der Fortuna für die menschliche Geschichte unmittelbar und ganz direkt kontrastiert und im Zuge dieser Kontrastierung seine These von den systematischen Unterschieden einer historischen und einer fortunadominierten Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit, wie sie im vorherigen Abschnitt des Kapitels bereits diskutiert wurden, überhaupt erst entwickelt um zum ersten Mal formuliert. Das geschichtstheoretische Spezifikum von Harringtons Schriften und von all jenen Autoren, die in dem Aufsatz „‚The Onely Politican‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“ und in Anlehnung an Felix Raabs posthum publizierte Dissertation70 auch übergreifend als Vertreter eines „englischen Machiavellismus“ bezeichnet werden, erblickt Pocock darin, politische Phänomene und Prozesse historischen Wandels vor allem im Rückgriff auf juristische und ökonomische Strukturen des Landbesitzes und der militärischen Organisation sowie auf historische Veränderungen dieser Strukturen zu erklären. Historischer Wandel wird also genuin historisch, weil durch die Bezugnahme auf der Geschichte selbst innewohnende Ursachen erklärt, nicht durch Verweis auf eine außergeschichtliche Instanz. Die Beschäftigung mit der Geschichte immanenten Strukturen rechtlicher, sozialer und militärischer Natur fördert für Harrington weder das willkürliche und irrationale Treiben einer apostrophierten Fortuna noch einen göttlichen Heilsplan zutage, sondern einen genuinen historischen Prozess, der sich vom Zeitalter der „ancient prudence“, von der Zeit der römischen Republik, über die Epoche der „modern prudence“ und der „Gothic balance“, über das Mittelalter, bis zur Gegenwart des englischen „Commonwealth“ erstreckt, einen historischen Prozess, der gerade nicht durch die zeit- und geschichtslosen Konstanten einer politischen Psychologie oder Verfassungslehre zu erklären, sondern für Harrington gleichsam strukturgeschichtlich, nämlich als Resultat spezifischer historischer Strukturen zu verstehen ist. Welche Ursachen glaubt Harrington diesbezüglich geltend machen zu müssen? Harrington gründet seinen Versuch, jenes republikanische Gemeinwesen, wie er es in seiner Gegenwart in England erblickt, zu legitimieren und seine Genese zu erklären, auf zwei historische Phänomene: Er verweist erstens auf den Wandel der Strukturen militärischer Organisation, vor allem auf das Verschwinden von Söldnerheeren; zweitens erklärt er wiederum diese Entwicklung durch den Verweis auf eine Veränderung der ökonomischen und juristischen Strukturen des Landbesitzes, die Ablösung feudaler Besitzverhältnisse durch eine post-feudale Ordnung, welche es seiner Meinung nach ökonomisch

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den Baumwollplantagen von Virginia bewegend – unverzichtbar ist. Im Folgenden wird freilich nur Harringtons Geschichtstheorie, nicht hingegen sein politischer Republikanismus und dessen Interpretation durch Pocock thematisiert. Die obige Formulierung entlehne ich Anna Maria Martellone und Elizabetta Vezzosi (Hg.), Fra Toscana e Stati Uniti: il Discorso Politico nell’Età della Costituzione Americana, Florenz 1989. Felix Raab, The English Face of Machiavelli. A Changing Interpretation, 1500–1700, London 1964.

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unmöglich werden lässt, ein Söldnerheer dauerhaft wirtschaftlich zu unterhalten. Die große Sorge, die noch Machiavelli umtrieb und ihn an der dauerhaften Möglichkeit einer stabilen Republik zweifeln ließ, die Angst vor marodierenden Söldnerheeren, gegen welche sich die Bürger einer Republik nur ungenügend verteidigen könnten, diese Sorge erscheint Harrington für die eigene Gegenwart als unbegründet und obsolet und zwar deshalb, weil er sie unter Bedingungen einer post-feudalen Aufteilung des Landbesitzes ihrer ökonomischen Grundlage beraubt sieht. Harrington bettet mithin, so viel dürfte deutlich geworden sein, seine Zeitdiagnose ebenso wie sein politisches Plädoyer für die Republik ein in eine „general theory of feudalism or an interpretation of history based on its rise and fall“71 . Die Genese und den Verfall feudaler Landbesitz- und Rechtsverhältnisse begreift er als den heuristisch entscheidenden Schlüssel für eine Strukturierung der gesamten abendländischen Geschichte, und einen derartigen universalgeschichtlichen Strukturierungsversuch unternimmt er eben vor allem in jenen „The Second Part of the Preliminaries“ überschriebenen, auf nur wenige Seiten gedrängten geschichtstheoretischen Passagen von The Commonwealth of Oceana72 , über welche Pocock in The Ancient Constitution and the Feudal Law schreibt: „The ‚Second Part of the Preliminaries‘ to Oceana is a connected, logical and consistent history of the transformations of political authority in Europe from the Roman republic to the English civil wars. […] A regular series of causes and effects connects the Gracchi with Cromwell […].“73 Wie auch immer der substanzielle Gehalt von Harringtons Deutung des Aufstiegs und des Verfalls des Feudalismus im Einzelnen zu bewerten ist, unbestreitbar ist, dass Harringtons Auffassung von Geschichte den historischen Prozess, und insofern ist sie charakteristisch für die historische Zeitanschauung, nicht nur als Resultat von der Geschichte immanenten Ursachen, sondern auch als einen diskontinuierlichen Prozess begreift – die Gegenwart ist Harrington anderes als die Perpetuierung der Vergangenheit – und freilich insofern auch als einen Prozess, der sich als stets wandelbar und veränderlich und in diesem Sinne als kontingent erweist. Dieser diskontinuierliche historische Wandel lässt sich post festum zwar historisch, das heißt durch den Rekurs auf der Geschichte immanente Ursachen plausibel erklären, aber sein zukünftiger Verlauf ist doch deshalb niemals endgültig zu prognostizieren. Was ist und sein wird, ist und wird dies doch nicht notwendig sein. Historischer Wandel folgt nicht den notwendigen Regieanweisungen einer außergeschichtlichen Instanz, sondern ist ein Prozess, welcher nur historisch zu erklären ist und insofern niemals im Voraus zu bestimmen oder vorherzusehen ist. Insofern handelt es sich bei aller historischen Entwicklung eben nicht nur um einen diskontinuierlichen, sondern auch um einen kontingenten Prozess. Dieser kontingente Prozess der Geschichte ist nun aber nicht als das gegenwärtige 71

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J. G. A. Pocock, „Historical Introduction“, in: J. G. A. Pocock (Hg.), The Political Works of James Harrington, Cambridge 1977, S. 45. Vergleiche hierzu James Harrington, „The Commonwealth of Oceana“ (1656), in: J. G. A. Pocock (Hg.), The Political Works of James Harrington, a.a.O., S. 188–207. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 143 f.

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Resultat der zeitlosen Dichotomie von Fortuna und menschlicher virtù oder als der Effekt der Regieanweisungen eines göttlichen Heilsplans zu deuten. Vielmehr bemüht sich Harringtons Geschichtstheorie darum, wie Pocock formuliert, einen „long-term process of historical change“74 historisch aufzuklären, eine „macrocosmic historical explanation“75 für den Verlauf der abendländischen Geschichte und damit auch für das historische Schicksal des Republikanismus zu liefern, welche sich für Diskontinuität, Wandelbarkeit und Kontingenz in der Geschichte offen zeigt, ja diese als konstitutive Merkmale der Geschichte beschreibt, nicht aber Wandelbarkeit und Kontingenz in der Geschichte als Resultat des Wirkens einer zeitlosen Fortuna begreift. Mithin bestätigt sich am Beispiel Harringtons, wie Pocock schreibt, die Annahme einer „essential difference between Florentine and English Machiavellianism“76 : „Because they [die Vertreter des englischen Machiavellismus; P. V.] could explain more they need fear Fortune less“77 ; und in einer anderen Passage seines Aufsatzes „‚The Onely Politician‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“ schreibt Pocock bezüglich der Charakterisierung dieses „englischen Machiavellismus“: „English Machiavellism is never a response to the naked dictatorship of Fortune; it is a complex humanist response to what could be recognised and diagnosed, partly by humanist and partly by other means, as a complex historical situation.“78 Harrington und die an ihn anschließenden „Neo-Harringtonians“79 an der Wende zum 18. Jahrhundert, sie waren gerade nicht gezwungen, und insofern unterscheidet sich die von ihnen formulierte Zeitanschauung fundamental von einer fortunadominierten Zeitanschauung, „to enter into Machiavelli’s Fortune-dominated world or see human experience as nakedly as he had seen it; on the contrary, they helped bring about the emergence of new modes of conceiving and explaining social phenomena – modes to which he [Machiavelli; P. V.] had no access.“80 74

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77 78 79

80

J. G. A. Pocock. „Post-Puritan England and the Problem of the Enlightenment“, in: Perez Zagorin (Hg.), Culture and Politics: From Puritanism to the Enlightenment, Berkeley/Los Angeles 1980, S. 106. J. G. A. Pocock, „Historical Introduction“, in: J. G. A. Pocock (ed.), The Political Works of James Harrington, a.a.O., S. 5. J. G. A. Pocock, „‚The Onely Politician‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“, in: a.a.O., S. 281. Ebd., S. 282. Ebd., S. 284. Dieser Terminus und die Beschäftigung mit den „Neo-Harringtonians“ sind zentral für Poocks Werk, vor allem für seine Interpretation der englischen Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts als wesentlich von der Dichotomie von „virtue“ und „commerce“ bestimmt. Pocock verwendet den Begriff der „Neo-Harringtonians“ in seinem Werk erstmals 1965 in dem Aufsatz „Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the Eighteenth Century“: „The men who carried out this transformation of Harrington I shall call neo-Harringtonians.“ J. G. A. Pocock, „Machiavelli, Harrington and English Political Ideologies in the Eighteenth Century“ (1965), in: Politics, Language, and Time. Essays in Political Thought and History, a.a.O., S. 115. J. G. A. Pocock, „‚The Onely Politician‘: Machiavelli, Harrington and Felix Raab“, in: a.a.O., S. 279.

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Damit zu einem zweiten Hinweis zum Zwecke der Konkretisierung jener historischen Zeitanschauung, welche für Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit von zentraler Bedeutung ist. In einer nicht minder exemplarischen Weise als den Schriften Harringtons in der Mitte des 17. Jahrhunderts glaubt Pocock eine historische Zeitanschauung den Schriften jener englischen Rechtsgelehrten und Autoren entnehmen zu können, welche in der Mitte und gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf den feudalrechtlichen Zügen und Elementen des englischen „common law“ und damit zugleich auch auf dessen kontinentaleuropäischen Ursprüngen beharrten und sich insofern gegen die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in England formulierte Doktrin einer „Ancient Constitution“ wendeten, welche wir bereits im zweiten Abschnitt dieses Kapitels diskutiert hatten.81 In diesem Sinne ist die These der Geburt einer historischen Zeitanschauung und eines damit verbundenen genuin historischen Denkens aus dem Geiste einer Sensibilität für die feudalrechtlichen Relikte und kontinentaleuropäischen Ursprünge des englischen „common law“ das große Thema von Pococks erster großer Monographie The Ancient Constitution and the Feudal Law aus dem Jahre 1957. Pocock untersucht in diesem Buch die Frage, wie die rechtstheoretische Doktrin einer „Ancient Constitution“ und die ihr eigene zeitanschauliche Präsumtion, welche wir im zweiten Abschnitt des Kapitels als paradigmatische Artikulation einer als traditionalistisch einzustufenden Zeitanschauung auf den Begriff gebracht hatten, also die Präsumtion einer lückenlosen historischen Kontinuität, einer Auffassung der Gegenwart als Perpetuierung der Vergangenheit, wie diese Doktrin im Laufe des 17. Jahrhunderts in England im Zuge einer bestimmten „discovery of feudalism“82 theoretisch zunehmend in Frage gestellt und bezweifelt wurde. Die beiden wichtigsten Gewährsmänner für die Bestätigung dieser seiner These sind ihm dabei Henry Spelman und Robert Brady, letzterer „the first true disciple of Spelman’s feudal interpretation“83 , wie ihn Pocock einmal auch charakterisiert. Inwiefern aber findet sich in Spelmans und Bradys Schriften jene historische Zeitanschauung formuliert, deren konstitutive Merkmale wir in abstrakter Manier und deren konkrete Charakteristika wir bereits in den Schriften Harringtons ausfindig machen konnten. Pococks Auseinandersetzung mit Spelmans und Bradys Schriften betont zunächst deren kontextsensibles methodisches Vorgehen: Bradys und Spelmans rechtsgeschichtliche und rechtstheoretische Untersuchungen sind laut Pocock von der Überzeugung getragen, dass jeder Versuch, das Recht einer bestimmten Epoche zu verstehen, also etwa auch das Recht einer bestimmten Vergangenheit, nur überzeugen kann, wenn dabei der gesamte soziale und politische Kontext ebendieser Epoche berücksichtigt wird. Entsprechend ist für Brady wie Spelman das englische „common law“ nur in seinem originären historischen Entstehungskontext, nicht als Perpetuierung einer unterstellten „Ancient Constitution“, sondern ausschließlich „on its own principles“84 angemessen zu verste81 82

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Vergleiche hierzu S. 460–463 in diesem Kapitel. Kapitel 4 von The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century ist überschrieben mit „The Discovery of Feudalism: French and Scottish Historians“. Der Titel von Kapitel 5 lautet „The Discovery of Feudalism: Sir Henry Spelman“. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 107. J. G. A. Pocock, „Robert Brady, 1627–1700. A Cambridge Historian of the Restoration“, in: a.a.O., S. 192.

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hen. Die zu berücksichtigenden Kontexte einer bestimmten vergangenen Periode der Rechtsgeschichte sind freilich aufgrund der Diskontinuität und des steten Wandels historischer Entwicklung niemals, so unterstellen Brady und Spelman nun weiterhin, mit den Kontexten einer gegenwärtigen Rechtssituation identisch. So habe etwa der Entstehungskontext des „common law“, und das waren für Spelman und Brady feudale Rechts- und Besitzverhältnisse, mit den gegenwärtigen post-feudalen Land- und Besitzstrukturen und insofern mit dem gegenwärtigen Kontext einer Anwendung des „common law“ nicht mehr viel gemein. Eine bestimmte vergangene historische Epoche kann also immer nur in ihrem eigenen Kontext und „on its own principles“ verständlich gemacht werden; insofern dieser Kontext der Vergangenheit aber dem Kontext der Gegenwart nicht gleicht, von ihm vielmehr prinzipiell verschieden ist, halten Brady wie Spelman jede Deduktion von der Gegenwart auf die Vergangenheit oder von der Vergangenheit auf die Gegenwart für geschichtstheoretisch unzulässig, weil die konstitutive Diskontinuität und Wandelbarkeit des historischen Prozesses nicht beachtend: „[…] since feudal society is intelligible only in its own terms, all argument from the past direct to the present is illegitimate.“85 Blickt man unter Beachtung dieser gleichsam hermeneutischen Maxime auf den Kontext einer vergangenen Periode der englischen Rechtsgeschichte, dann zeigt sich nun, so glauben Bradys und Spelmans rechtsgeschichtliche Untersuchungen nachweisen zu können, dass die englische Rechtsgeschichte keinesfalls durch historische Kontinuität charakterisiert ist. Vielmehr ist für beide Autoren, Brady wie Spelman, eine rechtsgeschichtliche Entwicklung zu konstatieren, die sich aus unterschiedlichen Quellen, Einflüssen und Traditionen speist und deren einzelne Entwicklungsstufen als historische Epochen sui generis in einem insgesamt diskontinuierlichen Prozess zu betrachten sind. Insofern kann auch jener aktuelle Rechtszustand, in dessen Gegenwart Brady und Spelman leben und schreiben, nicht als Fortsetzung einer seit unvordenklichen Zeiten bestehenden Rechtstradition gelten, sondern nur als Resultante der komplexen Interaktionen von aus verschiedenen Zeiten und Kontexten stammenden Rechtstraditionen, gleichsam als eine rechtsgeschichtliche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verständlich gemacht werden. Inhaltlich beziehen sich sowohl Bradys und Spelmans Kontextualismus als auch ihre theoretische Sensibilität für die historische Diskontinuität und den steten Wandel der englischen Rechtsgeschichte, dies wurde bereits angedeutet, auf das Phänomen feudaler Rechtsverhältnisse, genauer: auf das Phänomen eines ursprünglich kontinentaleuropäischen Feudalrechts, welchem auf das englische „common law“ in einer konstitutiven Weise eingewirkt zu haben unterstellt wird. Gemäß den skizzierten methodischen Geboten müssen Spelman und Brady die Berücksichtigung und Kenntnis dieser feudalrechtlichen Elemente und Ursprünge der englischen Rechtsordnung für das Verständnis des „common law“ als unverzichtbar gelten. Es sind somit eine rechtsgeschichtliche „discovery of feudalism“, die Entdeckung der Tatsache, dass das englische „common law“ nur unter Berücksichtigung dieses feudalrechtlichen Entstehungskontexts zu begreifen ist, sowie das theoretische Bewusstsein dafür, dass das gegenwärtige Recht unter postfeudalen Verhältnissen offensichtlich nicht als lückenlose Perpetuierung einer sich einem ganz anderen Kontext verdankenden Rechtsordnung begriffen werden kann, vielmehr als 85

Ebd., S. 199.

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Resultat eines komplexen Prozesses und eines steten historischen Wandels zu verstehen ist, im Zuge dessen sich der ursprüngliche Entstehungskontext des englischen „common law“ verflüchtigt hat, welche Spelman und Brady veranlassen, die monolithische und zeitlose Doktrin der „Ancient Constitution“, gleichsam das Paradox einer geschichtslosen Rechtsgeschichte, in Frage zu stellen und für das englische Recht zu unterstellen, dass dieses sich eben nur historisch aufklären und erklären lasse. Pocock spricht in diesem Zusammenhang von Spelman und Brady als den beiden entscheidenden Vertretern einer „feudalization of the past“86 , deren jeweilige theoretische Unternehmungen ihren Ausgang von einer theoretischen Sensibilität für die methodische Relevanz historischer Kontexte genommen hätten, die sodann getragen seien von einem Bewusstsein der Diskontinuität und des Wandels historischer Entwicklung und die schließlich zu der rechtsgeschichtlichen Ambition führten, alles Recht als Resultat eines historischen Entwicklungsprozesses zu deuten. Es ist nicht zu leugnen, dass sich die Argumentationen von Brady und Spelman in methodischer wie in inhaltlicher Hinsicht zunächst im gleichsam beschränkten Kontext einer ausschließlich rechtsgeschichtlichen Debatte über die historischen oder vermeintlich unhistorischen, weil vermeintlich vor dem Beginn jeder historischen Zeit liegenden Ursprünge der englischen Rechtsordnung, im beschränkten Kontext einer Debatte über die kontinentaleuropäischen Quellen oder vielmehr ausschließlich insularen Bestandteile des englischen „common law“ bewegen. Allerdings attestiert Pocock in The Ancient Constitution and the Feudal Law Bradys und Spelmans rechtsgeschichtlicher „discovery of feudalism“ weitreichende historiographische Konsequenzen, nämlich jene „feudal revolution in English historiography“87 bewirkt zu haben, welche die Geschichte Englands überhaupt, nicht nur die Geschichte des englischen „common law“, am Leitfaden des Aufstiegs und Verfalls des Feudalismus strukturiert, dadurch wiederum unweigerlich für Diskontinuität und steten Wandel als unhintergehbare Merkmale aller historischen Entwicklung, nicht nur einer rechtstheoretischen, sensibilisiert wird und insofern die Rechtsgeschichte als entscheidenden Schlüssel für die Bekräftigung der Ansicht einer unhintergehbaren Geschichtlichkeit aller im weitesten Sinne sozialen Phänomene benützt, als Fundament für die Formulierung eines „developmental view of reality“88 schlechthin, damit aber auch eine „seventeenth-century revolution in English historiography“89 im Ganzen bewirkt. Mit seiner These von der Genese einer historischen Zeitanschauung und eines genuin historischen Bewusstseins aus dem Geiste einer rechtsgeschichtlichen Sensibilität für die feudalrechtlichen Ursprünge und Bestandteile des englischen „common law“ knüpft Pocock übrigens an Überlegungen an, die Frederic William Maitland bereits in seiner 1888 gehaltenen Vorlesung „Why the History of English Law Is Not Written“ entwickelt hatte. Maitland stellte darin zunächst die These auf, die Fülle und Reichhaltigkeit 86 87

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Ebd., S. 200. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 119. J. G. A., Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: a.a.O., S. 222. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 102.

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rechtsgeschichtlicher Materialien und Archive in England kontrastiere in unzumutbarer Weise mit dem Mangel einer genuin historischen Durchdringung dieses Stoffes. Woran liegt das? Maitland führt im wesentlichen zwei Gründe an: Erstens verweist er auf die ausschließliche Konzentration der englischen Juristen auf das englische Rechtssystem, den damit einhergehenden, völligen Mangel einer komparatistischen Perspektive, der schließlich im Zuge einer solchen déformation professionelle zu einer Unfähigkeit zu einer genuin historischen Betrachtungsweise oder zu einem gänzlichen Desinteresse an einer solchen führe: „History involves comparison and the English lawyer who knew nothing and cared nothing for any system but his own hardly came in sight of the idea of legal history. […] One of the causes why so little has been done for our medieval law is I feel sure our very complete and traditionally consecrated ignorance of French and German law. English lawyers have for the last six centuries exaggerated the uniqueness of our legal history by overrating and antedating the triumphs of Roman law upon the continent. I know just enough to say this with confidence, that there are great masses of medieval law very comparable with our own“90 . Als exemplarischen Vertreter eines solchen rechtsgeschichtlichen Isolationismus, welcher jede komparatistische Vorgehensweise auf Abstand hält, verweist Maitland dabei in „Why the History of English Law Is Not Written“ auf die Schriften ebenjenes Edward Coke, welchen ja auch Pocock, wie wir sahen, ganz in diesem Sinne interpretiert und darüber hinaus als paradigmatischen englischen Repräsentanten einer traditionalistischen Zeitanschauung kenntlich gemacht hatte. Als theoretisch entscheidenden Stimulus hingegen für die Förderung einer komparatistischen und genuin historischen Sichtweise der englischen Rechtsgeschichte betrachtet Maitland – so wie Pocock – die Aufmerksamkeit für das europäische und englische Feudalrecht; und in diesem Zusammenhang erwähnt er – so wie Pocock – ausdrücklich Spelmans Werk als einen „very early essay in comparative jurisprudence“91 . Als zweiten Grund dafür, weshalb „the history of English law is not written“, verweist Maitland darauf, dass alle Untersuchungen der englischen Rechtsgeschichte aus der Feder von Juristen stets in Gefahr stünden, die für die Historie zwingend gebotene „logic of evidence“92 mit der für den Juristen allein entscheidenden „logic of authority“93 zu vermengen. Die Versuchung oder der ungeschriebene Zwang, historische Untersuchungen in den Dienst einer zeitgenössischen und parteilichen Sache zu stellen und mit einer entsprechenden Geltungskraft auszustatten, sei dabei vor allem in jenen Ländern oder im Kontext jener juristischen Traditionen besonders groß, in denen eine rechtshistorische Kontinuität tatsächlich vorhanden sei oder zumindest unterstellt werde, deren Rechts90

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Frederic William Maitland, „Why the History of English Law Is Not Written“ (1888), in: H. A. L. Fisher (Hg.), The Collected Papers of Frederic William Maitland, Volume 1, Cambridge 1911, S. 488 f. Ebd., S. 489. Ebd., S. 491. Ebd., S. 491.

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geschichte jedenfalls tatsächlich durch keinerlei revolutionäre Brüche gekennzeichnet sei, sodass alle historische Referenzen immer auch als Referenzen auf einen aktuell verhandelten juristischen Sachverhalt verstanden oder doch zumindest in dieser Weise missverstanden werden könnten: „I make no doubt that it is easier for a Frenchman or a German to study medieval law than it is for an Englishman; he has not before his mind the fear that he is saying what is not ‚practically sound,‘ that he may seem to be unsettling the law or usurping the functions of a judge. […] I do not ask for ‚the gulph of a great revolution‘; but it is to the interest of the middle ages themselves that they be not brought into court any more.“94 Damit komme ich zu dem dritten der angekündigten Hinweise für die Zwecke der konkreten Darstellung einer historischen Zeitanschauung, wie sie sich Pococks Werk entnehmen lässt. Auch bezüglich dieses Hinweises haben wir erneut und vor allem die Frage zu erörtern, inwiefern sich in ihm die bereits am Ende des zweiten Abschnitts des zweiten Kapitels in abstrakter Manier benannten und seinerzeit allein aus systematischen Gründen skizzierten Merkmale und Charakteristika einer historischen Zeitanschauung zum Teil oder zur Gänze wiederfinden lassen: In den Mittelpunkt seines Aufsatzes „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, der uns im Hinblick auf ein angemessenes Verständnis von Pococks Suche nach Zeitanschauungen im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits wertvolle Dienste leistete, rückt Pocock weder Harringtons Geschichtstheorie noch die rechtstheoretische Kritik der Doktrin der „Ancient Constitution“, sondern die rechtshistorischen Abhandlungen eines „legal humanism“, dessen Entstehung Pocock auf das letzte Drittel des 16. Jahrhunderts datiert und der nun keinesfalls eine englische Spezialität ist, sondern sich seinerzeit in Europa insgesamt entwickelte, Pocock zufolge aber besonders in Frankreich. Warum in Frankreich? Weil dort seinerzeit, so lautet Pococks Antwort auf diese Frage, die Konflikte und die Widersprüche zwischen einer Vielfalt unterschiedlicher Rechtstraditionen besonders virulent waren, es deswegen besonders nahe liegend erscheinen musste, alles Recht als Resultat einer historischen Entwicklung zu deuten, nicht als Ausdruck zeitloser Grundsätze der Vernunft, nicht als Ausdruck göttlicher Prinzipien und auch nicht als Resultat eines seit unvordenklichen Zeiten unverändert bestehenden Gewohnheitsrechts. So wie Pocock in The Ancient Constitution and the Feudal Law für das begrenzte Gebiet der englischen Rechtsgeschichte die These von der Geburt und der Existenz eines genuin historischen Denkens und einer historischen Zeitanschauung aus dem Geiste einer komparatistischen Sensibilität für die feudalrechtlichen Relikte und kontinentaleuropäischen Ursprünge des englischen „common law“ untersucht, so geht es ihm also in „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“ angesichts des französischen „legal humanism“ auf einer geographisch noch einmal weiter gefassten und inhaltlich gleichsam übergeordneten Ebene um den Nachweis, dass sich ein genuin historisches Denken und eine historische Zeitanschauung keinesfalls allein in England und auch nicht zunächst in England, sondern zuallererst im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts in Frankreich und sodann auch in anderen europäischen 94

Ebd., S. 492 f.

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Ländern entwickelte und zwar im Zuge einer theoretischen Sensibilität sowohl für die Komplexität der jeweils eigenen Rechtssituation als auch für die Pluralität der für diese jeweilige Situation konstitutiven Rechtstraditionen, wie genau im Einzelnen diese auch immer zu bestimmen sein mochten, sowie schließlich im Zuge einer dieser Sensibilität entspringenden rechtsgeschichtlichen Komparatistik. Pococks grundsätzliche These bezüglich der frühneuzeitlichen Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung konstatiert mithin die Geburt des historischen Denkens und einer historischen Zeitanschauung im Sinne eines gesamteuropäischen Phänomens aus dem Geiste einer theoretischen Sensibilität für die Pluralität rechtlicher Traditionen und einer daraus resultierenden rechtsgeschichtlichen Komparatistik. Auf dieser grundsätzlichen These beruht aber nicht nur die Argumentation des Aufsatzes „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, sondern auch jene Skizze der Genese einer historischen Zeitanschauung im Kontext eines „french prelude to modern historiography“95 , wie sie Pocock im ersten Kapitel seiner Arbeit über The Ancient Constitution and the Feudal Law formuliert: „It is suggested therefore that law did much to determine the character of sixteenth-century historical thought in the various countries of Europe.“96 Anhand der französischen Rechtsgeschichte, wie sie im späten 16. Jahrhundert formuliert wurde, glaubt Pocock seine grundsätzliche These bezüglich der frühneuzeitlichen Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung als eines gesamteuropäischen Phänomens, welches sich einer theoretischen Sensibilität für die Pluralität rechtlicher Traditionen und einer daraus resultierenden rechtsgeschichtlichen Komparatistik verdankt, besonders gut illustrieren und bestätigen zu können. Die erhebliche Vielfalt von Rechtstraditionen, mit denen die „legal humanists“ in der Frühen Neuzeit in Frankreich konfrontiert waren – lokale Gebräuche, coutumes, das römische Zivilrecht, die königliche Rechtssprechung Frankreichs, das kanonische Recht der Kirche –, die unbestreitbare Pluralität rechtlicher Traditionen, sie verdeutlichten Pocock zufolge seinerzeit so deutlich wie in keinem anderen europäischen Land, dass alles gegenwärtige Recht als historisch geworden im Sinne des erwähnten „developmental view of reality“ (Pocock) zu begreifen sei. Wenn aber die Pluralität aktueller Rechtsbestände stets als Resultat eines der Geschichte immanenten Entwicklungsprozesses zu verstehen ist, dann wird angesichts der unbestreitbaren Pluralität von dazumal aus unterschiedlichen Zeiten stammenden Rechtstraditionen die Frage nach der historischen Genese des gegenwärtigen Rechts und den Spezifika dieser Genese unabwendbar. Die Anfänge der historischen Zeitanschauung datiert Pocock also bereits 1957 ebenso wie in dem späteren Aufsatz „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, die Anfänge jener historischen Zeitanschauung, welche prinzipiell, besonders eindringlich aber auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte, das schlichte Modell einer imitatio der Antike nicht mehr zulässt, vielmehr im Zuge des Bemühens um die Authentizität von Rechtsquellen und sogar entgegen dem ursprünglichen humanistischen Verständnis von Geschichte als exempla virtutis zu der Einsicht gelangt – Pocock spricht in diesem Zusammenhang 95

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Die Überschrift des ersten Kapitels von The Ancient Constitution and the Feudal Law lautet „Introductory: the French Prelude to Modern Historiography“. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 29.

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vom „paradox of humanism“97 –, dass die Vergangenheit anderes ist als Vorstufe einer Gegenwart, welche diese Vergangenheit imitieren könne, dass Geschichte folglich diskontinuierlich und wandelbar ist und dass folglich diese Vergangenheit in ihrer eigenen Dignität studiert zu werden verdient und in ihrem eigenen Kontext gelesen werden muss, dass schließlich dieser Entstehungskontext aber in der Gegenwart nicht mehr existiert und auch nicht artifiziell wiederhergestellt werden kann: „They had begun to study“, so schreibt Pocock über die französischen „legal humanists“ des 16. Jahrhunderts, und er verweist in diesem konkreten Zusammenhang in The Ancient Constitution and the Feudal Law in seiner Skizzierung des „French prelude to Modern Historiography“ etwa auf Werke wie François Hotmans Antitribonian (1567), Jean Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566) und François Baudouins De institutione historiae universae et eius cum jurisprudentia conjunctione (1561)98 , „they had begun to study the past on principles which assumed its unlikeness to the present […]; and in the name of historical interpretation, the relevance of the past to the present was apparently being denied.“99 Wie illustriert und konkretisiert Pocock aber nun anhand dieser Autoren eigentlich seine These von der frühneuzeitlichen Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung aus dem Geiste einer theoretischen Sensibilität für die Pluralität rechtlicher Traditionen und einer daraus resultierenden rechtsgeschichtlichen Komparatistik auf dem Gebiete des „legal humanism“? Gleichsam den theoretischen Auftakt und eine philologische Vorstufe für die Formulierung einer historischen Zeitanschauung im Kontext des frühneuzeitlichen „legal humanism“ in Frankreich bildeten die 1508 publizierten Annotationes in Pandectas von Guillaume Budé, welche laut Julian Franklin „a major break with the premises and method of mos italicus“100 darstellen. In einer textkritischen Auseinandersetzung mit der vorliegenden Fassung der Digesten gelangte Budé zu der Auffassung, dass „verba multa non trivialis, sed antiquae ac probae monetae in alienum usum ignorantia temporum translata esse“, und seine philologische Präzisierung der Digesten wollte nun angesichts dieses ernüchternden Befunds dem Ziel dienen, „ut Pandectae emendatius atque intelligentius legerentur.“101 Diese korrigierte und „intelligentere“ Lektüre der römischen 97 98

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Ebd., S. 5. Baudouins genanntes Werk De Institutione historiae universae et eius cum jurisprudentia conjunctione macht ja bereits im Titel deutlich, wie sehr Rechtslehre und Rechtshistorie für Baudouin theoretisch und methodisch miteinander verknüpft sind. Auch Anthony Grafton hat die von Baudouin veranstaltete „marriage of history and jurisprudence“ betont, und Isaiah Berlin attestiert Baudouin eine rechtstheoretische Position, wonach „all history and all jurisprudence should ideally be united in one single great volume. Law and history are one and indivisible.“ Vergleiche hierzu Antony Grafton, What was History? The art of history in early modern Europe, Cambridge 2007, S. 70. Isaiah Berlin, „The Philosophical Ideas of Giambattista Vico“ (1960), in: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, London 1976, S. 130 f. J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the 17th Century, a.a.O., S. 10 f. Julian Franklin, Jean Bodin and the Sixteenth-Century Revolution in the Methodology of Law and History, a.a.O., S. 23. Hier zitiert nach Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Zur Vorgeschichte des Historismus, a.a.O., S. 371.

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Rechtsquellen sollte auszeichnen, dass sie für den Kontext des römischen Rechts sensibel und von der Einsicht getragen sei, dass aufgrund der Diskontinuität und Wandelbarkeit geschichtlicher Entwicklung, der Entstehungskontext der zu interpretierenden Rechtsbestände niemals mit dem Kontext der aktuell vorzunehmenden Rechtsinterpretation gleichzusetzen sei. Die „Accursiani“ hingegen, wie sie Budé bezeichnet, also jene mittelalterlichen Glossatoren, deren rechtstheoretische Überzeugungen und deren gleichsam rationalistische Zeitanschauung wir im zweiten Abschnitt dieses Kapitels bereits charakterisiert hatten, sie werden von Budé als Repräsentanten einer gänzlich ungeschichtlichen Rechtsgeschichte und Zeitanschauung diskreditiert, ja karikiert, da sie sklavisch davon ausgingen, dass die gegenwärtige Interpretation des Corpus Iuris aufgrund einer prinzipiellen Kontinuität der Geschichte allein einer kasuistischen Analyse von nur scheinbaren und doch stets logisch auflösbaren Widersprüchen und Antinomien bedürfe, nicht aber auf eine für die Diskontinuität und den Wandel der Rechtsgeschichte sensible Kontextualisierung angewiesen sei.102 François Baudouin, dessen Werk und wissenschaftlichen Schaffen eng mit der Universität von Bourges verknüpft ist, mit jener Universität also, von welcher Julian Franklin im Zuge seiner Untersuchung über „the sixteenth-century Revolution in Law and History“ feststellt, dass sie jener intellektuelle Ort war, an dem „juridical humanism was to find its numerous and most brilliant exponents“103 , Baudouin formuliert in seiner bereits genannten, 1561 publizierten Schrift De institutione historiae universae et eius cum iurisprudentia coniunctione, die ja bereits im Titel die Verknüpfung von Jurisprudenz und Historie zu einer geschichtlich verfahrenden Rechtswissenschaft zum Programm erhebt, die kontextualistische Methode am Beispiel des Rechts und die Diskontinuität der Rechtsentwicklung folgendermaßen:

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Die Karikierung einer scholastischen Rechtsgeschichte ganz in diesem Sinne findet sich auch in Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, so etwa wenn bei Rabelais von Tribonian, diesem „gewissenlosen, ruchlosen und barbarischen Mann“ die Rede ist, der „die Gesetze zu kleinen Fetzen und Lumpen zerschnitten“ hat, „wie sie jetzt in Gebrauch sind, indem er das übrige, was erst das gesamte Recht ausmacht, beseitigte und unterdrückte“ (S. 468 f.). Über Accursius, Baldus, Bartolus und andere „Schafsköpfe, die ganz und gar nichts von den Pandekten verstanden haben“ (S. 228), äußert sich Pantagruel folgendermaßen: „Es ist ausgemacht, dass sie weder Griechisch noch ordentlich Lateinisch verstanden und bloß in der barbarischen gotischen Sprache zu Hause waren. Nun stammen aber alle Gesetze ursprünglich von den Griechen her, wie Ulpian l. posteriori de origine juris dies bezeugt, und in allen finden sich griechische Ausdrücke und Wörter; später sind sie lateinisch abgefasst worden, und zwar in einem so eleganten und vorzüglichen Latein, wie man es selbst bei Sallust, Varro, Cicero, Seneca, Titus Livius und Quintilian nicht findet. Wie hätten nun diese alten Dickschädel den Text der Gesetze verstehen sollen, sie, die niemals ein gutes lateinisches Buch unter die Nase bekommen haben, was man aus ihrem eigenen Stil ersieht, der mehr an einen Essenkehrer, einen Koch oder Küchenjungen als an einen Rechtsgelehrten erinnert?“ (S. 228) Vergleiche hierzu François Rabelais, Gargantua und Pantagruel, herausgegeben und übersetzt von Horst und Edith Heintze, Frankfurt am Main/Leipzig 2003. Julian Franklin, Jean Bodin and the Sixteenth-Century Revolution in Law and History, a.a.O., S. 26.

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„Corpus illud Iuris (ut appelatur) quod Iustinianus nobis reliquit, conflatum est ex ea legum Romanarum varietate, quae annis mille et trecentis iactata est abs Romulo usque ad Iustinianum. Neque modo alia esse dicitur Iurisprudentia vetus, alia nova, alia media: sed et quotannis prope est mutata. harumque legum ea est conditio, ut etiam lex sit, posteriorem derogare priori. Quod igitur fieret, nisi si ex historia, temporum ordinem observemus, et aliquam veluti Chronologiam legum tenamus?“104 Pocock verweist in seiner Diskussion des „legal humanism“ in „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“ und in The Ancient Constitution and the Feudal Law und also für die Bestätigung seiner These, dieser „legal humanism“ habe frühneuzeitlich zum ersten Mal eine auf bestimmte Weise zu charakterisierende historische Zeitanschauung formuliert, freilich weniger auf Baudouin und gar nicht auf Budé, sondern wesentlich auf Jacques Cujas, jenen Cujas, welcher 1555 Nachfolger von Baudouin an der Universität von Bourges wurde und der die bartolistischen Rechtsgelehrten verächtlich als „verbosi in re facili, in difficili muti, in angusta diffusi“105 abgetan hatte, auf jenen Cujas, dessen Schriften sich auf das seinerzeit übliche Studium des Rechts in einer Weise auswirkten, dass Pierre Mesnard Cujas’ intellektuelle Wirkungsmächtigkeit auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte im Rückblick mit den Worten würdigte: „L’histoire du droit était née“106 . Und schließlich diskutiert Pocock das Werk von François Hotman, welcher ebenfalls in Bourges lehrte, als er 1567 seinen Anti-Tribonian verfasste, und der, ebenso wie Cujas dies tat, von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen römischem Recht und der zeitgenössischen Rechtslage in Frankreich ausging, mithin mit der Diskontinuität und dem Wandel einer rechtshistorischen Entwicklung konfrontiert war, und der eben deshalb die überlieferten Gesetzestexte des römischen Zivilrechts als unbrauchbar für die Rechtskonflikte der Gegenwart einstufte; „c’est vne pure mocquerie de dire qu’il faille lire les liures de Iustinian pour cognoitre l’histoire. Car tout à rebours il est force de sçauoir l’histoire pour les entendre“107 , so heißt es in einem programmatischen Sinne in Hotmans Antitribonian. Warum Antitribonian? Weil die große methodische Sünde von Tribonian, dem Herausgeber von Justinians Rechtskodizes, in den Augen Hotmans darin besteht, die klassischen Rechtsquellen der römischen Rechtsgeschichte an die zeit104

105 106

107

François Baudouin, „De institutione historiae universae et eius cum iurisprudentia coniunctione“ (1561), in: Johannes Wolf, Artis historicae penus, vol. I, Basel 1579, S. 677. Grafton übersetzt folgendermaßen: „The so-called Corpus iuris that Justinian left to us was assembled from the whole vast range of Roman laws thrown up in the 1.300 years that separated Justinian from Romulus. Not only do they say that old, new, and middle jurisprudence differed from one another, but jurisprudence changed almost every year, and the condition of these laws is such, by law, that a later law invalidates an earlier one. What would happen then, if we do not use history to observe the order of times, and establish something like a chronology of the laws.“ Vergleiche dazu Antony Grafton, What was History? The art of history in early modern Europe, a.a.O., S. 73 Hier zitiert nach Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, a.a.O., S. 109. Pierre Mesnard, „La Place de Cujas dans la querelle de l’humanisme juridique“, in: Revue historque de droit français et étranger 28 (1950), S. 534. François Hotman, Antitribonian ou Discours d’un grand et renommé jurisconsulte de nostre temps, sur l’estude des loix, Nachdruck der Ausgabe von 1603, Saint-Étienne 1980, S. 21.

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genössische Rechtssituation Byzanz’ im sechsten Jahrhundert nach Christus angepasst und dadurch historisch höchst widersinnige Anachronismen und Antinomien provoziert zu haben. Hotman freilich plädiert nicht für eine vorrangig antiquarisch motivierte Beschäftigung mit der Vergangenheit, welche sich für die Vergangenheit des Rechts und die historische Entwicklung des Rechts um ihrer selbst willen interessiert; ebenso wie Cujas von einem Bewusstsein der Diskontinuität der Rechtsgeschichte und einer theoretischen Sensibilität für die Relevanz rechtsgeschichtlicher Kontexte ausgehend, formuliert Hotman gerade im Unterschied zu Cujas ein den Kontext der eigenen Gegenwart erheblich favorisierendes Plädoyer für den Gebrauch der aktuellen französischen Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, während ihn das Studium eines vergangenen Rechtssystems, etwa des römischen Rechts, gar nicht weiter interessiert, entspringe dieses doch einem der gegenwärtigen Rechtssituation ohnehin gänzlich unvergleichlichen Kontext: „Que l’estat de la Republique Romaine est fort different de celuy de France, & neantmoins ne se peut apprendre par les liures de Iustinian“108 , so lautet die Überschrift des dritten Kapitels von Hotmans Antitribonian. Aber welch unterschiedliche praktische Folgerungen auch immer Cujas’ und Hotmans Rechts- und Geschichtsauffassung, wie sie Pococks Interpretation vorstellt, aus dem ihnen gemeinsamen Bewusstsein der Diskontinuität des historischen Entwicklung des Rechts gezogen haben mögen, beide gelangen zu diesen Folgerungen jedenfalls durch eine rechtsgeschichtliche Perspektive, welche die zeitgenössische Relevanz des aus einer vergangenen Zeit stammenden römischen Zivilrechts für das Frankreich ihrer Zeit sowohl durch den Hinweis auf die grundsätzliche Differenz von gegenwärtigen Rechtsproblemen und überlieferter Rechtstradition als auch durch den Hinweis auf einheimische und lokale Rechtskontexte, welche neben dem römischen Recht existierten und existieren, in Frage stellt. Beide, Cujas wie Hotman, werden durch ihr Bewusstsein für die dazumal aus unterschiedlichen zeitlichen Schichten stammenden Rechtstraditionen, die im Frankreich ihrer Zeit gleichsam im Sinne einer rechtsgeschichtlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nachweisbar sind, ferner dazu gezwungen, sich die Frage nach den historischen Ursachen für die Diskontinuität der französischen und europäischen Rechtsgeschichte vorzulegen, und stoßen insofern auf das ihnen unbestreitbare Phänomen einer historischen Entwicklung allen Rechts, welches dessen Diskontinuität und so offensichtlich auch dessen Wandel verbürgt, welches mithin nie als Artikulation zeitlos gültiger juristischer Prinzipien und Grundsätze interpretiert werden darf. So wie wir dies schon für Spelmans und Bradys Sichtweise des englischen „common law“ diagnostizierten und für Harringtons Geschichtstheorie und Zeitanschauung ebenfalls nachweisen konnten, so kann auch für einen lediglich anhand einiger Beispiele vorgestellten und anhand einiger Belege vorgeführten „legal humanism“ und seine Sichtweise des Rechts eine Kombination aus kontextualistischer Methode und theoretischer Sensibilität für historische Diskontinuität mithin als konstitutiv gelten. Jedes historische Phänomen kann aus Sicht des „legal humanism“ nur in seinem Kontext verstanden werden. Der Kontext des Rechts aber ist nicht immer der gleiche. Er unterscheidet sich je nach Zeit und Ort. Das Recht der Vergangenheit kann daher nicht automatisch für 108

Ebd., S. 12.

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den ganz anderen Kontext der Gegenwart Geltung beanspruchen. Das bestehende Recht kann nicht als Perpetuierung eines vergangenen Rechts, sondern muss als Ausdruck einer historischen Entwicklung verstanden werden, in deren Zuge sich das vergangene Recht wandelte und zu dem gegenwärtigen Recht erst entwickelte. Wie Hotman in seinem Antitribonian schreibt: „[…] les anciens ont souvent dit que les loix se changent souvent selon les saisons et mutations de mœurs et conditions d’un peuple.“109 Eine kontextualistische Methode und ein Gespür für historische Diskontinuität stehen somit am Ausgangspunkt nicht nur von Bradys und Spelmans Zurückweisung der Doktrin der „Ancient Constitution“, sondern auch jenes „legal humanism“ der Frühen Neuzeit, welcher das Recht durch seine geschichtliche Entwicklung erklären will. Donald Kelley fasst in seinem Überblick über die Genese der französischen Philologie, Rechtsgeschichte und Historiographie im Laufe des 16. Jahrhunderts diese gleichsam entwicklungsgeschichtliche Sichtweise des Rechts, wie sie seinerzeit eben eine ganze Reihe von humanistischen Rechtsgelehrten einte, so zusammen: „[…] laws had to be understood not as an expression of abstract reason or conscious imitation but as a gradual development from specific custom.“110 Kelley kontrastiert diese historisch-genetische Auffassung des Rechts aber nicht nur mit einem vernunft- oder naturrechtlichen Verständnis des Rechts, sondern auch mit einem, welches das profane Recht als Ausdruck einer göttlichen Gesetzgebung versteht: „[…] laws were not a gift of God or a product of reason but an outgrowth of custom.“111 Dass eine frühneuzeitlich sich entwickelnde, genuin geschichtliche Sichtweise des Rechts und der Rechtsgeschichte wesentlich von den Schriften der französischen „legal humanists“ inspiriert war, ist aber nicht nur von Donald Kelley, sondern von einer Reihe von Kommentatoren immer wieder ausdrücklich gewürdigt worden. Für die „legal humanists“ war das römische Recht, so kommentiert etwa Paul Koschaker, „nichts anderes als eine Manifestation römisch-antiken Geistes, keine Sammlung von Geboten und Verboten, die unmittelbare Geltung beanspruchten und daher im Sinne der Gegenwart ausgelegt werden konnten und mussten, sondern ein Zeugnis römisch-antiken Denkens, dessen wahren Sinn es zu erforschen galt, und zwar mit allen verfügbaren Mitteln und ohne Rücksicht auf seinen praktischen Wert für die Gegenwart.“112 Anthony Grafton wiederum schreibt in seinem Buch What was History? The art of history in early modern Europe über die Rechtsgelehrten des „legal humanism“: „These men had insisted that the Roman Corpus iuris was not a timeless body of principles that could be applied to any modern situation, but a product of history in its own right – a compilation of legislation and jurists’ opinions drawn from many centuries of Roman history, which Tribonian had ruthlessly excerpted and reorganized.“113 109 110

111 112 113

Ebd., S. 12. Donald Kelley, Foundations of Modern Historical Scholarship. Language, Law, and History in the French Renaissance, New York/London 1970, S. 191. Ebd., S. 289. Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, a.a.O., S. 106. Antony Grafton, What was History? The art of history in early modern Europe, a.a.O., S. 69.

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Ulrich Muhlack schließlich attestiert der humanistischen Rechtsgeschichte des späten 16. Jahrhunderts, erstmalig eine „Historisierung des Rechts“ initiiert zu haben: „Sie [die humanistische Rechtsgeschichte; P. V.] lehrt […] das römische Recht als in einer bestimmten Zeit geschaffenes, gewachsenes, verändertes historisches Phänomen verstehen, und sie bereitet damit zugleich die Erkenntnis der jeweils historisch bedingten Vielfalt anderer Rechtsverhältnisse vor, die sich endlich zur Erkenntnis der historischen Dimension allen Rechts erweitert. Sie leitet also einen sich steigernden oder sich verstärkenden Prozess der Historisierung des Rechts ein.“114 Anhand von drei Verweisen auf rechtsgeschichtliche und rechtstheoretische Positionen des 16. und 17. Jahrhunderts, am Beispiel von Harringtons Erklärung der Genese und der normativen Fundierung des Republikanismus mittels einer Geschichtstheorie, welche die gesamte abendländische Geschichte am Leitfaden des Aufstiegs und Verfalls des Feudalismus strukturieren will, am Beispiel von Spelmans und Bradys „Entdeckung“ der feudalrechtlichen und damit der kontinentaleuropäischen Ursprünge und Bestandteile des englischen „common law“ und schließlich anhand eines „legal humanism“, welcher im späten 16. Jahrhundert in Europa vor allem in Frankreich entsteht, glaubt Pocock wesentliche und konstitutive Merkmale einer historischen Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit stets und immer wieder aufs Neue bestätigen zu können: erstens das Bewusstsein, dass jedes historische Phänomen nur unter Berücksichtigung seines spezifisch historischen Kontexts verstanden werden kann; zweitens die theoretische Sensibilität für historische Diskontinuität, die Sensibilität dafür, dass zumal auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte die Gegenwart nicht als Perpetuierung der Vergangenheit verstanden werden darf, die Geschichte vielmehr durch Diskontinuität geprägt ist; drittens das Bestreben, historische Phänomene, etwa auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte, nicht durch Bezugnahme auf eine außergeschichtliche Instanz, sondern als Resultat von der Geschichte immanenten Ursachen und Gründen, mithin als Ergebnis einer genuin historischen und historisch erklärbaren Entwicklung aufzufassen; sowie schließlich viertens die Einsicht in den unaufhörlichen Wandel historischer Entwicklung, deren Ziele und Resultate daher niemals vorhergesagt und bestimmt werden können, welche keinen vermeintlichen Gesetzen der Notwendigkeit Folge leistet, sondern prinzipiell kontingent ist, sodass also das, was ist, und das, was nicht ist, Resultat einer komplexen und diskontinuierlichen und wandelbaren Entwicklung in der Rechtsgeschichte ist, nicht aber notwendig ist oder nicht ist, sodass das Bestehende niemals als prinzipiell immerwährend und das NichtBestehende als prinzipiell unmöglich zu qualifizieren sind. Vielmehr gilt im Sinne dieses vierten Merkmals einer historischen Zeitanschauung auch für den „legal humanism“, wie Bodin einmal prägnant und präzise resümiert: „Eccè Leges, mores, verba, facta, humana omnia, varia, fluxa, caduca, postremo mortalia“115 . Diese Worte Bodins, wie sie von Anthony Grafton in What was History? The art of history in early modern Europe 114

115

Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Zur Vorgeschichte des Historismus, a.a.O., S. 227 f. Hier zitiert nach Antony Grafton, What was History? The art of history in early modern Europe, a.a.O., S. 178.

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überliefert werden, bringen in pathetischer Weise die Überzeugung von einer grundsätzlichen Vergänglichkeit in der Geschichte und damit auch von einer grundsätzlichen Kontingenz in der Geschichte, in diesem Fall von einer grundsätzlichen Kontingenz in der Rechtsgeschichte, prägnant auf den Punkt. Baudouin postuliert in De institutione historiae universae et eius cum iurisprudentia coniunctione in ähnlicher Weise die Veränderlichkeit und Vergänglichkeit der menschlichen Geschichte, die niemals mit den ehernen Gesetzmäßigkeiten der Astronomie zu vergleichen sei: „[…] sic cum historiam volvimus, non minus terrae varium et volubilem motum, quam caeli stabilem ac constantem (ut ita dicam) statum agnoscere cogimur: verumque esse experimur, quod Plato et Aristoteles dixerunt, naturales quoque esse Rerum publicarum conversiones.“116 (5) Pococks Beschreibung der Genese und der inhaltlichen Substanz einer historischen Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit und seine Illustration dieser historischen Zeitanschauung vor allem anhand der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte zwingt zu einer erheblichen Revision einer konventionellen oder doch zumindest sehr verbreiteten Deutung der Genese eines genuin historischen Denkens. Und dies in dreierlei Hinsicht, nämlich hinsichtlich des Geburtsortes, der Geburtszeit und hinsichtlich der Geburtsumstände dessen, was als historische Zeitanschauung oder als genuin historisches Denken oder Bewusstsein bezeichnet werden kann: Eine erste Konsequenz von Pococks Diskussion der frühneuzeitlichen Genese und der inhaltlichen Substanz einer historischen Zeitanschauung besteht darin, dass sich eine vom Bewusstsein der Relevanz historischer Kontexte sowie vom Bewusstsein historischer Diskontinuität und historischer Kontingenz getragene Suche nach immanenten geschichtlichen Erklärungen eines historischen Prozesses, dass sich ein derartiges historisches Bewusstsein oder eine derartige historische Zeitanschauung weit früher nachweisen lassen, als es gleichsam konventionelle und der grundsätzlichen Dichotomie von Aufklärung und Historismus verpflichtete Darstellungen zu Entstehung und Geschichte des Historismus, wie etwa diejenigen von Meinecke und Troeltsch, deren große Werke zur Entwicklung des Historismus sich in dieser Hinsicht durchaus einig sind, vermuten lassen: Es gibt nämlich, so zeigt sich im Anschluss an die Arbeiten von Pocock, einen Historismus, der nicht erst in Folge des Protests gegen die als unhistorisch gescholtenen theoretischen Prämissen der Aufklärung entsteht, die ihrerseits womöglich als Ergebnis der Geringschätzung historischer Erkenntnis im Denken des Descartes zu interpretieren sind, sondern dessen erstmaliger Auftritt in der Ideengeschichte und in der Geschichte des historischen Denkens um 116

François Baudouin, „De institutione historiae universae et eius cum iurisprudentia coniunctione“ (1561), in: Johannes Wolf, Artis historicae penus, vol. I, a.a.O., S. 601. Grafton übersetzt folgendermaßen: „[…] so when we turn over the pages of history, we are forced to recognize that the motion of the earth is just as varied and full of changes as the state of the heavens is stable and constant, so to speak, and we learn that Plato and Aristotle spoke the truth: there are also natural changes in states.“ Vergleiche dazu Antony Grafton, What was History? The art of history in early modern Europe, a.a.O., S. 71.

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rund zwei Jahrhunderte vorzuverlegen ist. Datiert eine konventionelle Sichtweise, und in dieser Hinsicht sind sich Meineckes und Troeltschs Deutung des Historismus durchaus einig, die Geburtsstunde des Historismus stets auf ein postaufklärerisches und postcartesianisches Zeitalter, so fällt nun in Pococks Argumentation dieses Ereignis auf das späte 16. Jahrhundert. Es gibt gemäß dieser Sichtweise nicht nur einen postaufklärerischen und postcartesianischen, sondern auch einen präaufklärerischen und präcartesianischen Historismus, es gibt gleichsam, wie man sagen könnte, einen frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre. Nun kann Pocock für diese Neudatierung der Geburtsstunde eines genuin historischen Bewusstseins oder einer genuin historischen Zeitanschauung und auch für den Protest gegen eine Dichotomisierung von Aufklärung und Historismus, welche Letzteren nur als postaufklärerisches oder postcartesianisches Phänomen in der Geschichte des historischen Denkens in den Blick zu nehmen erlaubt, zwar durchaus kein intellektuelles Urheberrecht beanspruchen, und er tut dies auch nicht. In einer Doppelrezension von George Hupperts The Idea of Perfect History und Donald Kelleys Foundations of Modern Historical Scholarship stellt er in diesem Sinne klar: „In our youth we were all told that historical-mindedness did not really exist before Niebuhr and Savigny, but for a good thirty years a succession of scholars have been uncovering the reality of historical thought in the eighteenth, seventeenth, and sixteenth centuries.“117 Aber immerhin: Pocock hat doch in seinen frühen Arbeiten so systematisch und aufschlussreich wie kaum ein zweiter Autor die Frage nach den theoretischen und gleichsam zeitanschaulichen Bedingungen der Genese eines solchen historischen Bewusstseins in der Zeit vor der Aufklärung behandelt und beantwortet. Pococks Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Geburt und Existenz einer historischen Zeitanschauung insbesondere im Kontext der Rechtstheorie und Rechtsgeschichte zwingen aber nicht nur zu einer veränderten Datierung der Geburtsstunde eines genuin historischen Denkens, sondern, dies ist die zweite Hinsicht der angesprochenen Revision, auch zu einer neuen Interpretation des Geburtsorts historischen Denkens. Pococks Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit fördert nicht nur das Phänomen eines, wie ich es formulieren möchte, frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre zutage, sondern auch den gesamteuropäischen Entstehungskontext dieses frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre. Ein wesentliches Charakteristikum zumindest von Friedrich Meineckes äußerst einflussreicher Darstellung der Entstehung des Historismus besteht hingegen gerade darin, den Historismus nicht nur als postaufklärerisches und postcartesianisches Phänomen, sondern gleichsam auch als einen deutschen „Sonderweg“ der Geistes- und Ideengeschichte, als „deutsche Bewegung“, wie das zweite Buch von Meineckes Die Entstehung des Historismus überschrieben ist, zu interpretieren. „Historismus gilt nur zu schnell und zu leicht als deutscher Historismus“, so hat Tho117

J. G. A. Pocock, „Rezension von George Huppert, The Idea of Perfect History: Historical Erudition and Historical Philosophy in Renaissance France und Donald R. Kelley, Foundations of Modern Historical Scholarship: Language, Law and History in the French Renaissance“, in: History and Theory 11 (1972), S. 89.

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mas Nipperdey einmal die Revisionsbedürftigkeit eines Verständnisses von Historismus als einer „deutschen Bewegung“ (Meinecke) zutreffend resümiert. Denn gegen diese „germanozentrische Betrachtungsweise“ sei „der durchschlagende Einwand geltend zu machen, dass der Historismus die gesamte wissenschaftliche Welt […] durchdrungen hat.“118 Ganz im Sinne dieses Einwands Nipperdeys gegen Meinecke fördert Pococks Darstellung eines frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre, wie man ihn bezeichnen könnte, zu Tage, dass ebendieser Historismus avant la lettre als ein gesamteuropäisches Phänomen zu betrachten sei, wie die Verweise auf Harrington, Brady, Spelman, Cujas, Hotman, Baudouin und auf eine ganze Reihe anderer Autoren zu Genüge verdeutlichen. Dieser präaufklärerische und präcartesianische und sich nicht nur im nationalen Kontext eines Sonderwegs entwickelnde, sondern sich in ganz Europa ausbildende, frühneuzeitliche Historismus avant la lettre gibt seine theoretischen Konturen Pocock zufolge insbesondere dann deutlich zu erkennen, wenn das Gebiet der Historiographie im engeren Sinne verlassen und das genuin historische Bewusstsein etwa in der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte einbezogen wird. Nicht nur die Geburtszeit und der Geburtsort, auch die Umstände der Geburt des frühneuzeitlichen und gesamteuropäischen Historismus avant la lettre, der frühneuzeitlichen Geburt und gesamteuropäischen Existenz einer historischen Zeitanschauung, sind mithin in Pococks Darstellung andere als diejenigen in vergleichsweise konventionellen Geschichten des Historismus. Während nämlich eine solche konventionelle Sichtweise die Genese und die Intention des Historismus vorrangig als Abwehr der theoretischen und philosophischen Prämissen der Aufklärung und insbesondere einer am Fortschrittsparadigma orientierten Geschichtsphilosophie deutet, erblickt Pocock gerade nicht in der Geschichtsphilosophie oder in der Historiographie im Allgemeinen, sondern in der Rechtsgeschichte jene geistige Region, welche aufgrund des rechtsgeschichtlichen Bewusstseins historischer Diskontinuität und der methodischen Einsicht in die unhintergehbare Relevanz historischer Kontexte erstmals die Idee einer alle Geschichte eigenen und ihr immanenten historischen Entwicklung, die sich zudem durch ihre stete Wandelbarkeit und ihre unvermeidliche Kontingenz auszeichnen soll, formuliert. Im Zuge eines rechtsgeschichtlichen „criticism of tradition“119 , so ließe sich mit Pocock fortfahren, entsteht in der Frühen Neuzeit erstmalig das Bewusstsein für die Komplexität der europäischen Rechtsordnung, für die Pluralität der dabei kritisierten und rekonstruierten Traditionen und so schließlich auch ein Bewusstsein für die diskontinuierliche Entwicklung dieser Rechtsordnung und insofern dafür, dass zumindest auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte die Gegenwart nicht als Fortschreibung der Vergangenheit und die Vergangenheit nicht als Vorstufe der Gegenwart gedacht werden können. Die Pluralität von ungleichzeitigen und dennoch synchron existierenden Rechtstraditionen erzwingt auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte ein komparatistisches Verfahren und eine Suche nach genuin historischen Erklärungsmustern für historischen Wandel und historische Entwicklungen, denen doch niemals eine historische Kontingenz eskamotierende historische Notwendigkeit zugebilligt 118

119

Thomas Nipperdey, „Historismus und Historismuskritik heute. Bemerkungen zur Diskussion“ (1975), in: Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 65. J. G. A. Pocock, „Time, Institutions and Action; An Essay on Traditions and their Understanding“ (1968), in: Politics, Language, and Time. Essays in Political Thought and History, a.a.O., S. 253.

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werden kann. Eine derartig verfahrende Rechtsgeschichte verkörpert für Pocock in exemplarischer Weise den Kern einer historischen Zeitanschauung oder eines genuin historischen Denkens: „It seems that problems in the history of laws and institutions, involving the conscious attempt to reconstruct them in the context of a unique past society, were being discussed, intermittently and in limited fields, but persistently and systematically, as much as two centuries before the era of historicist revolution, which we are accustomed to think alone made such endeavours conceivable. There is no need to attack the concept of the historicist revolution or to decry its importance; it was certainly at this era that it became possible to attempt the historical approach to every department of human life and to human experience as a whole; but a new dimension has been added to the problem and it seems that our conception of the state of historiography before the historicist revolution, and of the roots of that revolution in the period preceding it, may require some revision. In particular, we must look again at the widespread assumptions that until the Enlightenment there was no historiography other than humanist narrative, and that the origins of historicism are to be found in changes in philosophical thought rather than in the work of practising historians.“120 Die These von einem frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre, von der Geburt jener historischen Zeitanschauung aus dem Geiste einer rechtsgeschichtlichen Komparatistik, welche sich erstmalig gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Frankreich, später in ganz Europa nachweisen können lassen soll, diese These Pococks bezüglich Geburtszeit, Geburtsort und Geburtsumständen der Entstehung eines genuin historischen Bewusstseins, sie durchzieht übrigens wie ein roter Faden auch das Werk des amerikanischen Historikers Donald Kelley. Auch Kelley schreibt in seiner Studie Foundations of Modern Historical Scholarship. Language, Law, and History in the French Renaissance bezüglich der Geburtsstunde eines genuin historischen Denkens: „[…] historical thought was not simply anti-Cartesian but to a large extent pre-Cartesian, and had its roots in the rich soil of Renaissance scholarship.“121 Und im gleichen Werk bezeichnet Kelley ebenso wie Pocock den französischen „legal humanism“ als „culmination of the first stage of European historicism [Hervorhebung von mir; P. V.].“122 Kelley beschreibt damit den Geburtsort und die Geburtsstunde des Historismus in ganz ähnlicher Weise wie Pocock. Und ebenso wie Pocock interpretiert auch Kelley diesen frühneuzeitlichen Historismus avant la lettre als Resultat einer komparatistisch verfahrenden Rechtsgeschichte. Auch für Kelley liegen die Geburtsumstände des Historismus avant la lettre also weniger „in changes in philosophical thought rather than in the work of practising historians.“ (Pocock)

120 121

122

J. G. A. Pocock, „The Origins of Study of the Past: A Comparative Approach“, in: a.a.O., S. 245. Donald Kelley, Foundations of Modern Historical Scholarship. Language, Law, and History in the French Renaissance, a.a.O., S. 7. Ebd., S. 15.

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(6) So sehr Isaiah Berlins ideengeschichtliche Studien über das Denken der Gegenaufklärung, über die deutsche und europäische Romantik, über die Anfänge eines historischen Denkens bei Vico oder Herder, über all jene ideengeschichtlichen Strömungen also, die dem geläufigen Strom der europäischen Aufklärung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts widerstreben, einer grundsätzlichen Prämisse von Friedrich Meineckes Arbeit über Die Entstehung des Historismus verpflichtet zu sein scheinen, nämlich der prinzipiellen und starren Kontrastierung einer vermeintlich vor allem französischen Denkern und naturrechtlichen Denkfiguren verpflichten Aufklärung mit einer gegen diese vermeintlich geschichtslose Aufklärung gerichteten Denkweise, wie sie angeblich vor allem in Deutschland im Zuge der Reaktion auf Aufklärung und Französische Revolution entstanden sei, so sehr Berlin also im Banne von Meineckes Historismus-Buch zu stehen scheint, in einer Hinsicht bricht Berlin doch radikal mit Meineckes theoretischem Erbe bezüglich der Entstehungsgeschichte einer genuin historischen Denkweise. Dieser Bruch betrifft die Einschätzung der ideengeschichtlichen Relevanz Giambattista Vicos. In Meineckes Die Entstehung des Historismus wird Vico bekanntlich äußerst lieblos und nur auf wenigen Seiten abgehandelt. In Berlins Schriften hingegen, insbesondere und vor all allen anderen Arbeiten, die diesbezüglich zu nennen wären, in dem Essay „The Philosophical Ideas of Giambattista Vico“, erhält Vico einen Ehrenplatz innerhalb der neuzeitlichen Ideengeschichte hinsichtlich der Entwicklung und Förderung der Fermente jenes genuin historischen Denkens, welches dann im frühen 19. Jahrhundert sowohl nach Berlins wie nach Meineckes Überzeugung seine unübertroffene geistige und kulturelle Blüte entfaltet. Vico wird von Berlin gleichsam als erster, weil noch weit vor Herder schreibender Gründervater des historischen Denkens präsentiert. Meinecke hingegen kann und will Vico eine derartige Relevanz für eine Denkweise, die er ja wesentlich als „deutsche Bewegung“ fasst und als deren drei entscheidende Protagonisten er Möser, Herder und Goethe begreift, offensichtlich nicht zugestehen. Die hermeneutische Ungerechtigkeit gerade dieser Facette von Meineckes Auffassung des Historismus ist wohl unbestreitbar. Diesbezüglich gilt, was schon Golo Mann an Meineckes Behandlung der Geschichtsphilosophie der französischen Aufklärung als kritikwürdig aufgefallen war: „Es ist nicht proportioniert, der französischen, englischen und italienischen Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts einen Band zu widmen und dann der ‚deutschen Bewegung‘: Möser, Herder, Goethe und Ranke einen weitern vollen Band; es ist nicht gerecht, Voltaire und Montesquieu als Vorläufer von Justus Möser zu behandeln.“123 Vico ist es also, dem Berlin den Ehrentitel des „true founder of the German Historical School in his rejection of natural law and emphasis on human plasticity“124 zuerkennt. Allein, war Vico, so lässt sich nun fragen und muss gefragt werden, ein intellektueller Solitär, der die seine Schriften auszeichnende Kombination einer genialen Vorahnung 123

124

Golo Mann, „Friedrich Meinecke. ‚Die Enstehung des Historismus‘“(1938), in: Zeiten und Figuren. Schriften aus vier Jahrzehnten, Frankfurt am Main 1979, S. 13. Isaiah Berlin, „The Philosophical Ideals of Giambattista Vico“(1960), in: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, a.a.O., S. 88.

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genuin historischen Denkens mit oftmals gänzlich verwirrenden und verworrenen konkreten Thesen – etwa zur Entwicklung der menschlichen Spezies überhaupt – in seiner neapolitanischen Gelehrtenstube und fernab von den Salons der europäischen Geisteswelt ganz für sich allein pflegte? Oder profitierte Vico seinerseits von geistigen Wegbereitern und Vorläufern? Weniger die Frage, ob Vico tatsächlich als der entscheidende Gründervater des Historismus zu interpretieren ist, wie dies Berlin suggeriert, interessiert uns folglich am Schluss dieses Kapitels, sondern vielmehr die Tatsache, dass Berlin im zweiten Teil des genannten Aufsatzes ausdrücklich und ausführlich die Frage nach den „sources“, nach den geistigen Quellen und intellektuellen Wurzeln von Vicos Auffassung von Geschichte behandelt, dabei auf das Phänomen eines „legal humanism“ zu sprechen kommt und in diesem „legal humanism“, so wie Pocock und Kelley, die frühesten Anfänge eines genuin historischen Bewusstseins erblickt. Im Zuge einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der kaum noch zu übersehenden Vielfalt existierender Vico-Interpretationen, welche immer wieder zu Kontroversen bezüglich der Frage nach den intellektuellen Wurzeln von Vicos Denken geführt haben, formuliert Berlin zunächst ganz grundsätzlich, Vico habe sich – jenseits seiner waghalsigen geschichtsphilosophischen Konstruktionen und unabhängig von der sein Werk natürlich ebenfalls prägenden Implikationen bezüglich der methodologischen Differenzen von Geistes- und Naturwissenschaften, unabhängig von allen erkenntnistheoretischen Ambitionen schlechthin –, Vico habe sich bezüglich des konkreten historischen Materials, welches er als ihm zur historischen Deutung aufgegeben betrachtet habe, vor allem als Rechtshistoriker verstanden: „The history of early modern jurisprudence lay closer [näher als all jene geistigen Quellen und Einflüsse, welche von anderen Vico-Interpreten hinsichtlich der Frage nach den geistigen Wurzeln und Quellen von Vicos Historismus geltend gemacht wurden; P. V.] to Vico’s dominant interest. Here it may be, the longsought-for clue may at last be found“125 , schreibt Berlin. Berlin spielt mit dieser Bemerkung auf jenen hermeneutischen Schlüssel an, welcher die Antwort auf die Frage zu finden hilft, ob Vicos Historismus tatsächlich als Schöpfung eines kreativen Genius aus dem ideengeschichtlichen Nichts zu verstehen ist oder ob Vico eben doch bestimmte intellektuelle Traditionen, wie sie ihm vor seiner Zeit oder zu seiner Zeit begegnet sind, theoretisch rezipierte. Im Zusammenhang dieser Frage stößt Berlin justament auf jene rechtsgeschichtliche Methode und komparativ verfahrende Rechtsgeschichte, auf die auch Pocock im Zuge seiner Suche nach den Zeitanschauungen der Frühen Neuzeit gestoßen war. Besonders interessant dabei ist, dass Berlin die geistige Nähe seiner Deutung der geistigen Vorläufer und Wegbereiter von Vicos Geschichtsdenken zu Pococks Sichtweise der Geburt und Genese eines genuin historischen Denkens durchaus registriert. Denn bezüglich der Referenzen und Belege für seine These einer Geburt von Vicos Historismus aus dem Geiste einer frühneuzeitlichen rechtsgeschichtlichen Komparatistik schreibt Berlin: „My main source of information on this subject is The Ancient Constitution and the Feudal Law by J. G. A. Pocock, especially the introductory chapter. This seems to me much the most original and illuminating, as well as the best 125

Ebd., S. 125.

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written, treatment of this topic to be found anywhere at present. Professor Pocock mentions Vico in passing, but does not seek to connect his doctrines specifically with the startling implications of the controversies which he describes and analyses.“126 Berlins Diskussion vor allem von Pococks und Kelleys Arbeiten zur Rechtsgeschichte und Rechtsschule des mos gallicus, die sich am Ende seines Vico-Essays in Vico and Herder auf rund zwanzig Seiten erstreckt, ist dementsprechend immer wieder von der Ambition getragen, die theoretischen Schnittmengen zwischen Vico, wie er ihn versteht, und der von Pocock und Kelley untersuchten Schule des „legal humanism“ zu unterstreichen und die „similarity of approach, both basic and in detail, between the historical jurists, especially Hotman and Baudouin, and Vico“127 zu diagnostizieren. Worin besteht diese Schnittmenge zwischen Vico und einer frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte? Berlin beantwortet diese Frage in der folgenden Weise: Die Intention einer genuin historischen Interpretation des römischen Rechts durch eine komparatistisch verfahrende Rechtsgeschichte, wie sie für den „legal humanism“ am Ende des 16. Jahrhunderts konstitutiv ist, verlangt aus methodischen Gründen immer schon ebenjene beiden methodischen Ingredienzen, die im Herzen von Vicos Historismus zu Hause sind: Die frühneuzeitliche Historisierung des Rechts hätte nämlich erstens, so schreibt Berlin, das methodische Bewusstsein gefördert, dass historische Phänomene nur in ihrem je eigenen Kontext verstanden werden können: „In the first place, the very process of faithful reconstruction of any form of human communication requires a correct understanding of the meaning of what is said. This, in its turn, entails knowledge of the character and intentions of those whose language is being studied, and especially of the social structure within which such communication takes place – the milieu, the period, and above all the specific conventions which govern both words and lives within it, for it is only in the context of a particular society, at a particular period in its development, that the significance and use of the terms used – legal, moral, religious, literary can be understood. […] It is by adhering to this principle [dieses Prinzip einer kontextsensiblen Methode; P. V.] that Budé and Cujas, Alciato and Le Douaren and their disciples succeeded in purging the texts of Roman law from the distortions and blunders of mediaeval ‚barbarians‘ – Bartolists and Accursians; indeed it was only by using such methods that the unhistorical lumping together of Roman texts of different dates by Justinian’s editor Tribonian – the bête noire of the new school of French jurists – could be exposed, and the chronology and therefore significance and relationships of the texts properly established.“128 Wenn historische Phänomene freilich zuallererst nur in ihrem je spezifischen Kontext verstanden werden können, dann stößt eine solchermaßen kontextsensible Untersuchung 126 127 128

Ebd., S. 126. Ebd., S. 131. Ebd., S. 127 bzw. 131.

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zweitens stets auf den Befund und das Phänomen, dass ebendiese Kontexte anderes sind als Vorläufer des zeitgenössischen Kontextes, vielmehr eine grundsätzliche historische Diskontinuität die historische Entwicklung kennzeichnet. Die Konsequenz wiederum dieser Affirmation historischer Diskontinuität besteht darin, so behauptet die frühneuzeitliche Rechtsgeschichte nicht minder als später Vico, zumindest wie ihn Berlin deutet, dass kein historisches Phänomen an einem zeitlosen Maßstab oder gar am Maßstab unserer eigenen Kultur gemessen werden kann. Eine komparatistisch verfahrende, eine auch philologisch belehrte Rechtsgeschichte, wie sie im Konflikt zwischen mos gallicus und mos italicus formuliert wird, verhilft mithin jenen zwei Ideen, die sowohl für die Geburt und Existenz jener historischen Zeitanschauung, wie sie Pococks Schriften ermitteln, als auch für Vicos geistige Entwicklung, wie sie Berlins Interpretation skizziert, von zentraler Bedeutung sind, zu ideengeschichtlicher Wirkungsmächtigkeit: einem methodischen Kontextualismus und einem daraus resultierenden Bewusstsein historischer Diskontinuität samt eines normativen Pluralismus, der sich weigert, individuelle Rechtstraditionen an einem universalen und zeitlosen Ideal zu messen.

VII Virtù vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos

Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen; Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen; Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht, So ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht. Andreas Gryphius, Betrachtung der Zeit Hinsichtlich der Frage nach dem Kontingenz- und Zufallsbewusstsein der Sattelzeit führte mich die Behandlung von Historismus und Romantik im Anschluss an Arbeiten Reinhart Kosellecks zu zwei unterschiedlichen Formen theoretischer Sensibilität für Kontingenz und Zufall, einer historistischen Sensibilität für das unhintergehbar Unverfügbare auch und vor allem in der menschlichen Geschichte und dem romantischen Pathos einer prinzipiell verfügbaren Geschichte und prinzipiell verfügbarer Geschichten. Es ist mithin die analytische Kategorie von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, welche uns erlaubt, die sattelzeitlichen Formen einer theoretischen Sensibilität für Kontingenz und Zufall strukturell zu differenzieren. Der Versuch, diese beiden Typen sattelzeitlicher Kontingenz- und Zufallssensibilität ihrerseits zu historisieren und ihrer Vorgeschichte in der Frühen Neuzeit nachzugehen, ließ mich wiederum im Anschluss an die Arbeiten von J. G. A. Pocock für zwei Arten eines frühneuzeitlichen Verständnisses von Geschichte und historischer Zeit aufmerksam werden, die sich als fortunadominierte und als historische Zeitanschauung bezeichnen lassen. Bei jener fortunadominierten Zeitanschauung und dieser historischen Zeitanschauung handelt es sich um die beiden zentralen, freilich höchst unterschiedlichen zeitanschaulichen Optionen, die in der Frühen Neuzeit ergriffen werden können, wenn der Befund von Kontingenz oder auch Zufall in der Geschichte wie im menschlichen Leben schlechthin nicht mehr zu bestreiten ist. Man könnte in Abwandlung eines Wortes Erich Auerbachs, freilich in einem gänzlich anderen thematischen und zeitlichen Zusammenhang geäußert, von dem Unterschied zwischen einer Auffassung, für die „der Glückswechsel fast immer die Form eines von außen in einen bestimmten Bezirk hineinbrechenden […] Schicksals“ hat, und einer Auffassung, welche die „innergeschichtliche Anschauung der Schicksalswendungen“1 1

Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/ Basel 1994 (1946), S. 32 bzw. 33.

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in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt, sprechen. Insofern für die erstgenannte Auffassung gleichsam die Quelle von Kontingenz und Zufall außerhalb der Geschichte liegt, ist die Geschichte freilich, und das wäre ein zweites Differenzierungsmerkmal, kontinuierlich, nämlich immer und überall und in gleichem Maße von Kontingenz und Zufall geprägt, während die zweitgenannte Auffassung die Affirmation von Kontingenz und Zufall mit einem Bewusstsein historischer Diskontinuität theoretisch korreliert. Dabei widmete sich das letzte Kapitel nahezu auschließlich jenem ideengeschichtlichen Phänomen, welches im Anschluss an die Arbeiten von Pocock als das gesamteuropäische Phänomen eines sich durch eine theoretische Sensibilität für Diskontinuität, immanente Entwicklung, Wandel in der Geschichte und geschichtsimmanente Kontingenz historischer Entwicklung auszeichnenden Historismus avant la lettre zu beschreiben ist, und behandelte eine fortunadominierte Zeitanschauung allein insofern, als dies einer abstrakten Konturierung der systematisch entscheidenden Differenzen zwischen einer historischen und einer fortunadominierten Zeitanschauung dienlich war. Ein Verständnis von Geschichte als von der Willkür und den Launen einer Fortuna dominiert ließ sich dabei sowohl bezüglich seines genauen Verständnisses von Kontingenz und Zufall in der Geschichte und vor allem der Quellen jener Kontingenz und dieses Zufalls als auch aufgrund seines mangelhaften Bewusstseins historischer Diskontinuität von einer historischen Zeitanschauung in einem systematischen Sinne klar und deutlich abgrenzen. Wie aber ist es nun tatsächlich um die Genese und den genauen Inhalt jener fortunadominierten Zeitanschauung bestellt, von der im Zuge der Rekonstruktion von Pococks Zeitanschauungstypologie bislang noch keinesfalls in einer konkreten Weise die Rede war, sondern allein in der abstrakten Weise einer zweiten theoretischen Option, welche einer frühneuzeitlichen Sensibilität für Kontingenz und Zufall in der Geschichte wie im Leben prinzipiell offen stand? Welche spezifischen Charakteristika – jenseits der Frage von Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte und der Frage gleichsam nach den Quellen historischer Kontingenz – zeichnen in der Frühen Neuzeit jenes Kontingenz- und Zufallsbewusstsein aus, welches im Anschluss an Pococks Arbeiten als fortunadominierte Zeitanschauung bezeichnet werden könnte? Lassen sich im Rahmen einer Beschäftigung mit der Fortunathematisierung in der Zeit von Renaissance bis Sattelzeit Vorformen und Frühformen der sattelzeitlichen Sensibilitäten für das Verfügbare wie das Unverfügbare in Geschichte wie in Geschichten erkennen? Zwei der zweifellos bedeutendsten Historiker der Epoche der Renaissance, Eugenio Garin und Paul Oskar Kristeller, verweisen in ihren Schriften auf den zentralen Stellenwert, welche die Gestalt der Fortuna, wie auch immer sie konkret gedacht, konzipiert und vorgestellt wird, im Denken der italienischen Renaissance und des RenaissanceHumanismus grundsätzlich einnimmt. Mit Hilfe der Fortuna beschreiben die Humanisten der Renaissance, so formuliert es Kristeller, „the general situation in which human beings find themselves“, „the chief forces determining this situation“ und „the place men and his world occupy within the larger universe“2 . Freilich liefert die Bezugnahme auf die Fortuna allein all jenen in der Renaissance lebenden und schreibenden Autoren, auf die sich Garin wie Kristeller als Gewährsmänner für ihre These von der konstitutiven 2

Paul Oskar Kristeller, „The Moral Thought of Renaissance Humanism“ (1961), in: Renaissance Thought. Volume II, Papers on Humanism and the Arts, New York/London 1965, S. 57.

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Rolle der Fortuna für das Welt- und Geschichtsbild der Renaissance beziehen, niemals eine vollständige Kennzeichnung der conditio humana. Schließlich wird die Fortuna im Zeitalter der Renaissance, zumindest im quattrocento, gerade nicht als unverfügares fatum begriffen, sondern als Sinnbild für jene zugleich zufälligen und dennoch objektiven Situationen und Kontexte, denen sich menschliche Handlungen und Fähigkeiten stets ausgesetzt wissen, die freilich auch ebendiesen Handlungen und Fähigkeiten – in den Traktaten der Zeiten zumeist durch den lateinischen Terminus virtus oder den vernakularen Begriff der virtù bezeichnet – verfügbar sind. Erst die Dichotomie von Fortuna und virtù ist es demnach, die Garin wie Kristeller zufolge die theoretische Grundlage für das Weltbild und die Weltanschauung, das Menschenbild und die Geschichtsanschauung des Humanismus und der Renaissance zu erkennen gibt, wobei es ein weiteres Spezifikum der auf dieser Dichotomie basierenden Sichtweise ist, dass dieser virtù, wie beide Autoren betonen, zumindest in der frühen Renaissance ein „Sieg“ über die Unbilden der Fortuna zumeist zugetraut wird, sich die Fortuna der virtù gegenüber als prinzipiell und unbeschränkt gefügig erweist. In diesem Sinne konnte Garin in seiner 1947 zunächst auf deutsch erschienenen Studie Der italienische Humanismus gerade den sich im Topos virtù vince fortuna artikulierenden Gedanken, den Gedanken also, dass jene noch näher zu bestimmenden Merkmale oder Fertigkeiten des Menschen, die im Begriff der virtù gefasst werden, das Treiben der Fortuna besiegen oder, wenn nicht endgültig besiegen, so doch zumindest beeinflussen können, als das „typische Renaissance-Motiv“3 , als das für die Auffassung der menschlichen Geschichte und des menschlichen Lebens in der Renaissance schlechthin konstitutive Merkmal bezeichnen. Ein Verständnis des Topos virtù vince fortuna erweist sich insofern aber auch, und so lautet in der Tat auch die Prämisse, welche die folgenden Ausführungen strukturiert, als der entscheidende Schlüssel für ein Verständnis jener fortunadominierten Zeitanschauung in der Frühen Neuzeit, die die Quelle historischer Kontingenz außerhalb der Geschichte situiert, welche die Kontinuität in der Geschichte gerade durch diese außerhistorische Quelle historischer Kontingenz garantiert sieht und die schließlich eine praktische Verfügbarkeit dieser historischen Kontingenz programmatisch unterstellt. Freilich klären weder Garins noch Kristellers erwähnte Thesen, wonach Renaissance und Renaissance-Humanismus zentral davon geprägt seien, der menschlichen virtù die Möglichkeit eines „Sieges“ über die Instanz der Fortuna zu attestieren, in irgendeiner Weise, wie seinerzeit jene virtù und diese Fortuna je für sich aufgefasst wurden. Ja, selbst die Rede von einem Sieg der virtù über die Fortuna lässt sich in theoretisch höchst unterschiedlicher Weise verstehen. Und tatsächlich wurde diese Rede im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance auch höchst unterschiedlich verstanden, wie die folgende Bemerkung von Kristeller schön illustriert: „In his extremely influential treatise on the remedies of good and bad fortune Petrach opposes reason to the passions in good Stoic manner and exhorts his readers to overcome through virtue the hold that good and bad fortune alike have on our minds. Salutati also opposes virtue and wisdom to fate and fortune. The recurrent theme in Alberti’s moral writings is the victory of virtue 3

Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947, S. 64.

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V  : Z I  T over fortune, and Ficino restates the same view, adding a Neoplatonic note by basing moral virtue on the life of contemplation. After having described the power of fortune, Machiavelli also insists that the prudent statesman is able to overcome, or at least to modify, the power of fortune. Guillaume Budé teaches his readers to despise the external circumstances of life, which fortune may give or take away.“4

Ob die Fortuna durch tugendhaftes Handeln, wie auch immer dieses beschrieben wird, in die Knie gezwungen werden soll, ob sie lediglich eingedämmt werden kann, ob vor dem Hintergrund neoplatonischer Überzeugungen oder belehrt durch die antike Stoa einzig mit einem Rückzug in die Kontemplation auf die Wechselfälle der Fortuna zu reagieren ist, um so deren unvermeidliche Herrschaft gleichsam ins Leere laufen zu lassen, dies macht in der Tat keinen geringen Unterschied. Kurzum: Was dem Zeitalter von Humanismus und Renaissance der Topos virtù vince fortuna war, das versteht sich trotz oder gerade wegen der diesbezüglichen Ausführungen von Garin und Kristeller nicht von selbst. Diesbezügliche Aufklärung lässt sich einzig durch eine ideengeschichtliche Kontextualisierung dieses Topos gewinnen. Und eine derartige ideengeschichtliche Kontextualisierung jenes Topos und dieser Fortuna ist demnach auch die Aufgabe dieses siebten Kapitels dieser Arbeit, weil sich einzig so wiederum Aufschluss erhalten lässt bezüglich der, folgen wir Pococks Zeitanschauungstypologie, zweiten Variante, Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte wie im menschlichen Leben schlechthin zu denken.5 Schließlich handelt es sich ja, wenn im 15. oder frühen 16. Jahrhundert von der Fortuna die Rede ist oder der Topos virtù vince fortuna programmatisch formuliert 4

5

Paul Oskar Kristeller, „The Moral Thought of Renaissance Humanism“ (1961), in: Renaissance Thought. Volume II, Papers on Humanism and the Arts, a.a.O., S. 60. Ich greife dabei natürlich im Folgenden auf die drei wohl bedeutsamsten Studien hinsichtlich einer ideen- und begriffsgeschichtlichen Kontextualisierung der Fortuna zurück, die Arbeiten von Vincent Cioffari, Alfred Doren und H. R. Patch. Hingegen war es mir nicht mehr möglich, die ausgesprochen materialreiche Studie von Florence Buttay-Jutier zu berücksichtigen. Für den Hinweis auf diese Studie danke ich Clarisse Roche. Ein mittlerweile in Planung befindlicher Aufsatz will dieses Defizit beheben. Vergleiche hierzu: Florence Buttay-Jutier, Fortuna. Usages politiques d’une allegorie morale à la Renaissance, Paris 2008. Vincent Cioffari, Fortune and Fate from Democritus to St. Thomas Aquinas, New York 1935. H. R. Patch, „The Tradition of the Goddess Fortuna in Roman Literature and in the Transitional Period“, in: Smith College Studies in Modern Languages 3 (1922), S. 131–177. H. R. Patch, „The Tradition of the Goddess Fortuna in Medieval Philosophy and Literature“, in: Smith College Studies in Modern Languages 3 (1922), S. 178–235. H. R. Patch, The Goddess Fortuna in Medieval Literature, Cambridge 1927. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 2 (1922/23), S. 71–151. Übrigens hat Aby Warburg auf Dorens Vortrag unmittelbar in Form eines Briefes an Doren und eines Nachtrags reagiert, die kürzlich ediert wurden. Vergleiche hierzu Aby Warburg, „Per monstra ad sphaeram“. Sternglaube und Bilddeutung, herausgegeben von Davide Stimili unter Mitarbeit von Claudia Wedepohl, Hamburg 2008, S. 31–36.

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wird, keinesfalls um begriffs- oder ideengeschichtliche Innovationen der Renaissance. Schon das vernakulare virtù verweist auf einen lateinischen Vorgängerbegriff, die virtus. Und ohne Erinnerung an die zahlreichen und unterschiedlichen Auffassungen der Fortuna, welche spätestens seit der römischen Antike und auch im Kontext eines christlichen Weltbildes sowohl in der Spätantike als auch im Mittelalter literarischen und bildhaften Ausdruck fanden, wird sich der Topos virtù vince fortuna, wie er das Denken der Renaissance und des Humanismus prägte, niemals verstehen lassen. Infolgedessen wende ich mich in diesem Kapitel in einem ersten Abschnitt zunächst der römischen Auffassung der Fortuna zu, der Auffassung der Fortuna als einer Göttin, welche in einer ganz bestimmten Weise charakterisiert wird und deren Beeinflussung durch die menschliche virtus für plausibel und realistisch gehalten wird. Aber nicht nur die entscheidenden Merkmale und Wesenseigenschaften der römischen Fortuna möchte ich in diesem ersten Abschnitt des Kapitels präsentieren und beschreiben, sondern auch die zwei römischen Varianten einer, wie man in Abwandlung eines Terminus von Lübbe sagen könnte, Fortunabewältigungspraxis, die ciceronische Strategie einer gleichsam direkt ansetzenden Fortunabeeinflussung qua fortitudo und die stoische Strategie der Fortunavermeidung qua prudentia (1). Sodann blicke ich im zweiten Abschnitt des Kapitels auf eine spätantike annihiliatio fortunae im Denken des Augustinus ebenso wie auf eine stoische und christliche Motive kombinierende und sich über Jahrhunderte hinweg bis in die Frühe Neuzeit hinein als äußerst wirkungsmächtig erweisende Versöhnung von Fortuna und göttlicher Vorsehung, von Fortuna und providentia, im Denken des Boethius, deren immense kultur- und geistesgeschichtliche Bedeutung auch jenseits der Spätantike allein schon durch die Tatsache des Fortwirkens boethianischer Motive in der scholastischen Theologie sowie bei Dante und Petrarca hinreichend deutlich wird (2). Vor diesem in den ersten beiden Abschnitten des Kapitels ausgemessenen ideengeschichtlichen Horizont erweist sich die omnipräsente Bezugnahme auf virtus oder virtù und Fortuna im Denken des quattrocento, also zu der Zeit der kulturellen, geistigen und politischen Blüte der Renaissance, eben gerade nicht als eine unerwartete Absonderlichkeit oder verblüffende ideengeschichtliche Schöpfung aus dem Nichts. Vor allem Quentin Skinner hat in seinen Schriften immer wieder energisch unterstrichen, dass der Topos virtù vince fortuna, wie ihn der Humanismus und ganz allgemein das Denken der Renaissance formulieren, einerseits sowohl als Protest gegen eine augustinische annihiliatio fortunae wie auch als Abwehr jener christlichen Inanspruchnahme der Fortuna als ancilla dei, wie sie in der Spätantike exemplarisch von Boethius formuliert wurde, verstanden werden müssen. Andererseits lässt sich Skinner zufolge die Auffassung des Verhältnisses von virtù und Fortuna im Denken der italienischen Renaissance auch als Versuch begreifen, an das klassisch-römische, insofern vorchristliche Verständnis dieses Verhältnisses wieder anzuschließen. Ciceronische und stoische Variante der Fortunabewältigungspraxis, wie sie im ersten Abschnitt des Kapitels beschrieben werden, können somit durchaus als Vorläufer und geistige Wegbereiter des Renaissance-Topos virtù vince fortuna angesehen werden (3). Die in diesem siebten Kapitel beabsichtigte Kontextualisierung des Topos virtù vince fortuna sowie die damit verbundene Historisierung der fortunadominierten Zeitanschauung und damit einer der beiden Varianten einer frühneuzeitlichen Thematisierung von Kontingenz und Zufall in der menschlichen Geschichte wie im Leben schlechthin gelangt in der Beschäftigung mit dem Denken des quattro-

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cento noch nicht an ihr Ende. Mit der Rückkehr der Medici nach Florenz 1512 und spätestens mit dem Ende des republikanischen Experiments in allen italienischen Stadtstaaten seit 1530 macht sich eine weitaus vorsichtigere oder defensivere Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen menschlicher virtù und Fortuna zunehmend bemerkbar. Dafür stehen die beiden größten politischen Theoretiker und Historiker, die Florenz im 16. Jahrhundert hervorgebracht hat, Niccolò Machiavelli und Francesco Guicciardini, denen der vierte Abschnitt dieses Kapitels gilt. Unverkennbar sind der Fortunathematisierung der späten Renaissance unverwechselbare und genuine theoretische Züge eigen. Nicht mehr eine dauerhafte Dominanz der Fortuna, ein wie auch immer begriffener, endgültiger Sieg der virtù über die Fortuna wird nunmehr für möglich gehalten und erstrebt. Vielmehr geht etwa Machiavelli in all seinen Schriften davon aus, dass die Fortuna zwar gezähmt und im Sinne des eigenen Interesses gesteuert, niemals aber in unbeschränkter und beliebiger Weise verfügbar oder beeinflussbar ist und endgültig bezwungen werden kann. Doch nicht nur hinsichtlich der Einschätzung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna, auch was die genauere inhaltliche Bestimmung des einen Pols dieser Dichotomie, nämlich die virtù, angeht, unterscheidet sich Machiavelli von seinen humanistischen Vorgängern aus der Zeit des quattrocento. Schließlich gerät mit dem in Guicciardinis späten Werken formulierten Pessimismus bezüglich der menschlichen Möglichkeiten, auf die Fortuna überhaupt – in welcher Weise auch immer – einzuwirken, mit der Behauptung einer Omnipotenz der Fortuna, welche doch dabei stets in säkularer Weise als autarke Instanz gedacht bleibt, die Geschichte des Topos virtù vince fortuna nicht nur an ihr chronologisches Ende; dieser Topos hat sich bei Guicciardini auch inhaltlich erschöpft und inauguriert nun auch für die Periode der Post-Renaissance, für die Frühe Neuzeit im eigentlichen Sinne, eine Sichtweise der Fortuna, die sich mit dem Topos virtù vince fortuna endgültig als unverträglich erweist (4). Dieser Befund darf nun aber nicht zu dem gänzlichen Missverständnis verführen, dass die Fortuna zugleich und unmittelbar mit dem Ende der Renaissance ihrer ideen- und begriffsgeschichtlichen Existenzgrundlage und Wirkungsmächtigkeit beraubt worden wäre. Vielmehr überlebt die Fortuna die Renaissance und existiert durchaus in der Frühen Neuzeit fort und zwar jenseits des Topos virtù vince fortuna und justament in ebenjener ambivalenten Weise, die schon für die Fortunathematisierung der Spätrenaissance charakteristisch war. Einerseits nämlich geht nun – so wie dies schon bei Guicciardini der Fall ist – das Vertrauen in die gänzliche Verfügbarkeit oder Beeinflussbarkeit oder auch nur Zähmung der Fortuna durch virtù ausdrücklich und immer stärker und schließlich vollständig verloren, oder diese grundsätzlichen, wenn auch graduell unterschiedlichen Formen der Affirmation der prinzipiellen Möglichkeit, auf die Fortuna praktisch einzuwirken, werden gar nicht mehr thematisiert. Nur steht diese Mentalität in der Frühen Neuzeit – anders als in der Spätrenaissance – stets mit der Tatsache in Zusammenhang, dass die boethianische Lösung einer in eine göttliche Vorsehung eingebetteten und als deren Werkzeug agierenden Fortuna nun – gegen Ende des 16. und im Laufe des 17. Jahrhunderts – wieder neu rezipiert und reformuliert oder auch – wie wir am Beispiel des Neostoizismus sehen werden – modifiziert wird. Die unhintergehbare praktische Unverfügbarkeit der Fortuna wird nunmehr also nicht mehr – wie im Falle Guicciardinis – in säkularer Weise interpretiert, also als Resultat einer autark agierenden Instanz begriffen, sondern erneut – wie im Falle von Boethius – als konstitutives Charakteristikum einer in eine

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göttliche Ordnung und Vorsehung eingebetteten Fortuna. Die genuine Ambivalenz der Fortunathematisierung der Post-Renaissance und der Frühen Neuzeit erhellt andererseits gerade aus der Tatsache, dass der Topos virtù vince fortuna, dessen Kontexte und Geschichte wir bislang verfolgt hatten und den wir soeben voreilig schon für verstorben erklärt hatten, zwar im späten 16. Jahrhundert in die Krise gerät, freilich auch noch einzelne Fürsprecher findet, Fürsprecher, die diesen Topos modifizieren oder gar radikalisieren, jedenfalls aber die grundsätzliche Möglichkeit eines praktischen Einwirkens auf die Fortuna durch menschliches Handeln voraussetzen. An Autoren wie Baltasar Gracián, Christopher Marlowe und Daniel Caspar von Lohenstein und ihrem entweder pathetischen und völlig eindeutigen oder auch ihrem wiederum halbherzigen und in spezifischer Weise ambivalenten Bekenntnis zu dem Topos virtù vince fortuna wird sich dies ausführlich zeigen lassen. Grundsätzlich möchte ich die Fortunathematisierung der PostRenaissance und der Frühen Neuzeit, wie sie eben in facettenreicher und nicht immer leicht zu systematisierender Weise zwischen dem Vertrauen in ein wie auch immer zu bewerkstelligendes, wie auch immer auf Dauer zu stellendes Einwirken auf die Fortuna einerseits, Zweifel und Skepsis gegenüber dieser Möglichkeit im Kontext einer Einbettung der Fortuna in eine göttliche Providenz andererseits changiert, im weiteren Verlauf dieses Kapitels anhand von vier ideengeschichtlichen Phänomenen verdeutlichen: Nachdem ich einige grundsätzliche Überlegungen zur politik-, religions-, vor allem aber auch zur kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Situation Europas im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert vorstelle (5), die für die Frage nach den historischen Gründen einer Fortunathematisierung auch nach der Ära der republikanischen Stadtstaaten von Bedeutung sind, wende ich mich vor dem Hintergrund einer so skizzierten Situation dem holländischen und französischen Neostoizismus in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu (6), der dramatischen Literatur des „Elizabethan Age“ (7), der spanischen Literatur des siglo de oro von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (8) und schließlich dem Zeitalter und der Literatur des deutschen Barock (9). (1) Die zentrale Bedeutung, welche der Fortuna und dem dieser Fortuna gewidmeten religiösen Kult in der Alltagskultur der römischen Antike zukam, und zwar in der republikanischen Zeit ebenso wie zu Beginn des Kaisertums, lässt sich exemplarisch an der großen Zahl der seinerzeit über die ganze Stadt verteilten Tempel und Kultstätten entnehmen, welche einer wie auch immer verstandenen Fortuna geweiht waren.6 Aber auch außerhalb der Stadtmauern Roms wurden der Fortuna seinerzeit Tempel errichtet und geweiht. Die beiden wichtigsten Fortunakulte außerhalb Roms waren zweifellos jene im antiken Präneste und in Antium. Beide finden sich in der römischen Literatur verewigt: Cicero rühmt in seiner Schrift De divinatione die Schönheit des Fortunatempels zu Präneste und berichtet, bereits Karneades hätte gesagt, „nirgends habe er eine glück-

6

Aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema der kultischen und religiösen Rolle der Fortuna in der römischen Antike sei auf die Studie von H. R. Patch verwiesen: H. R. Patch, „The Tradition of the Goddess Fortuna in Roman Literature and in the Transitional Period“, in: a.a.O., S. 131–177.

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lichere Fortuna gesehen als in Praeneste [meine Übersetzung; P. V.].“7 Horaz preist im ersten Buch seiner Carmina in c. I,35 – von Kajanto als „a prayer for the welfare of Augustus, who was about to invade Britain, as well as of the Roman armies sent to the East“8 bezeichnet – die Fortuna von Antium als Beherrscherin der Meere; er erblickt in der Fortuna eine Göttin von außerordentlicher Relevanz für Gedeih und Verderb eines menschlichen Lebens, eine Göttin, die jederzeit jeden Beliebigen, wie es heißt, aus dem Staub erheben und in die Höhe führen könne, ebenso freilich auch den stolzen Triumph in einen Leichenzug zu verwandeln in der Lage sei: O Göttin, die im lieblichen Antium Gebietet, machtvoll Sterbliche bald vom Staub      Erhebt und bald in Leichenzüge           Stolzer Triumphe Gepräng verwandelt:9 Jene Ode wiederum, welche dieser ehrfürchtigen Beschwörung der Fortuna von Antium unmittelbar vorausgeht, also Horaz’ c. I, 34, wird von Werner Jaeger mit den Worten kommentiert: „Auf den Gedanken, dass doch Fortuna es ist, die alles menschliche Geschick lenkt und regiert, gravitirt alles hin. Nicht, dass Jupiter ein gerechtes oder gewaltsames Regiment führt, hat ja der Donnerschlag dem Dichter gesagt, sondern dass keiner in Sicherheit lebt, wo er auch stehe, weil es einen deus gibt, der valet ima summis mutare“10 . 7

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Marcus Tullius Cicero, Über die Wahrsagung. De divinatione. Lateinisch – deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 215. Im Original lautet die Passage: „[…] nusquam se fortunatiorem quam Praeneste vidisse Fortunam.“ (ebd., S. 214) Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, Berlin 1981, S. 541. Horaz, Sämtliche Werke, lateinisch und deutsch, herausgegeben von Hans Färber bzw. übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne, München/Zürich 1985, S. 58 bzw. 59. Im lateinischen Original lautet der Beginn der Ode An Fortuna: O diva, gratum quae regis Antium, praesens vel imo tollere de gradu      mortale corpus vel superbos           vertere funeribus trumphos: Werner Jaeger, „Horaz C. I 34“, in: Hermes 48 (1913), S. 442. Jaeger bezieht sich dabei auf folgende Passage: …valet ima summis mutare et insignem attenuat deus obscura promens; hinc apicem rapax      Fortuna cum stridore acuto           Sustulit, hic posuisse gaudet. Die deutsche Übersetzung der erwähnten Fassung lautet: …Ja, Hohes vermag in Niedres Der Gott zu wandeln, Glänzende stürzt er, zieht

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Als Objekt kultisch-religiöser Verehrung tritt die Fortuna in der römischen Antike dabei stets als eine spezifische auf, als die Fortuna der Frauen wie der Männer, als Fortuna eines bestimmten Ortes oder eines bestimmten Geschlechts, als die Fortuna eines bestimmten Standes oder eines bestimmten Berufs, als die Fortuna des Kaisers oder als die Fortuna des Feldherrn, was auch stets durch das entsprechende Epitheton zum Ausdruck gebracht wird: „Im Kultus tritt Fortuna unter den mannigfaltigsten Beinamen auf, je nachdem man sie als die bald günstige bald ungünstig gesinnte, bald dauerndes bald vorübergehendes Glück spendende, als die trügerische Göttin u.s.w. betrachtet und dies in verschiedenen Beinamen zum Ausdruck bringt; oder ihr Verhältnis als Schutzgöttin des ganzen Volkes, des männlichen und weiblichen Bestandteiles der Bevölkerung, einzelner Stände, Korporationen, einzelner Personen, ja selbst Örtlichkeiten und schließlich auch des Kaiserhauses in besonderen Benennungen hervorhebt.“11 Iiro Kajanto registriert insgesamt neunzig Epitheta der römischen Fortuna und schreibt bezüglich dieser vielfältigen Möglichkeiten und Formen der Verwendung, die römische Fortuna „could manifest itself in many ways, as a guardian spirit of a single people, of a single individual, of a single locality, and even of a single day or a single event. All these different aspects of Fortuna’s power were signified by the epithets attached to her name.“12 Eindringlicher als solcherart tabellarischer Übersicht oder auch als der zitierten literarischen Verewigung von der Fortuna geweihten Kultanlagen lässt sich die außerordentliche und ganz lebenspraktische Bedeutung der Fortuna für die Kultur und den Alltag der Römer einer Schilderung der von Plinius dem Älteren im ersten nachchristlichen Jahrhundert verfassten Naturalis historia entnehmen. Darin heißt es: „[…] in der ganzen Welt nämlich und an allen Orten und zu allen Stunden und von den Stimmen aller wird allein die Fortuna angerufen und benannt, allein angeklagt und beschuldigt, allein bedacht, allein gelobt, allein bezichtigt und unter Vorwürfen verehrt, als veränderlich, von vielen als flüchtig, aber auch als blind betrachtet, als unbeständig, unsicher, wechselreich und eine Gönne-

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Vor, was in Nacht lag; schwirrenden Flügelschlags      Reißt dem Fortuna seine Krone           Lachend herunter und reicht sie jenem. Vergleiche hierzu Horaz, Sämtliche Werke, lateinisch und deutsch, herausgegeben von Hans Färber bzw. übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne, a.a.O., S. 58 bzw. 59. R. Peter, „Artikel: Fortuna“, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Erster Band, zweite Abteilung, herausgegeben von Wilhelm Roscher, Leipzig 1886–1924, Sp. 1511. Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 509.

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V  : Z I  T rin Unwürdiger. Ihr wird aller Verlust, aller Gewinn zugeschrieben und in der Gesamtabrechnung der Sterblichen führt sie allein die beiden Seiten; so sehr sind wir dem Schicksal unterworfen, dass die Fortuna selbst als eine Gottheit gilt, wodurch doch die Gottheit als ungewiß erwiesen wird [meine Übersetzung; P. V.].“13

Die kulturelle Omnipräsenz der Fortuna in den religiösen Kulten Roms sowie im Alltagsleben der Stadt ebenso wie ihre gleichsam funktionale Flexibilität, wie sie sich in ihren zahlreichen Epitheta widerspiegelt, lässt sich angesichts einer solchen Passage für das erste nachchristliche Jahrhundert wohl kaum bestreiten. Doch mag ein solcher Befund auch für die vorkaiserliche Zeit zutreffen: „It would be difficult to overestimate the importance of Fortuna in the religious life of ancient Rome. Even before the syncretistic period of the Empire, she was worshipped under a variety of cult names. The fortune of the harvest, the fortune of the sea, the fortune of mothers – whenever life becomes uncertain fortune was worshipped. The symbols denoted success and uncertainty together.“14 Die kulturelle Omnipräsenz der Fortuna enthüllt sich aber nicht nur der Sensibilität für die Formen kultisch-religiöser Verehrung und nicht nur dem Blick auf das Alltagsleben der frühen Kaiserzeit wie der republikanischen Zeit, sondern lässt sich für ebendiesen Zeitraum auch in der literarischen, philosophischen oder historiographischen Hochkultur nachweisen. Wir erwähnten bereits Horaz. An Seneca und Cicero ließe sich sich dies für den Bereich der römischen Philosophie ebenfalls ausführlich belegen:15 „Vitam regit fortuna, non sapientia“, diesen Satz des Theophrast zitiert Cicero in seinen Tusculanae 13

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C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Lateinisch – deutsch, Liber II. Kosmologie, herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, o. O. 1974, S. 27. Das Original lautet: „toto quippe mundo et omnibus locis omnibusque horis omnium vocibus Fortuna sola invocatur ac nominatur, una accusatur, rea una agitur, una cogitatur, sola laudatur, sola arguitur et cum conviciis colitur, volucris volubilisque a plerisque vero et caeca existimata, vaga, inconstans, incerta, varia indignorumque fautrix. huic omnia expensa, huic feruntur accepta, et in tota ratione mortalium sola utramque paginam facit, adeoque obnoxii sumus sorti, ut ipsa pro deo sit qua deus probatur incertus.“ (ebd., S. 26) In der Encylopedia of Religion and Ethics findet sich folgende Kommentierung dieser Stelle: Was Plinius mit seiner Schilderung der Fortuna zeige, dies, „as the context shows, is the dismal superstition which attributed all the changes and accidents of life to Chance, whether vaguely conceived and invoked as a deity or regarded as an unintelligible something about which no one had the inclination to reason – a superstition which excludes human endeavour, and indeed human sense of duty generally, and which may be, far more than we should guess, without this remarkable passage, accountable for the want of ‚grit‘ and vitality in all classes under the Roman Empire.“ W. Warde Fowler, „Artikel: Fortune (Roman)“, in: James Hastings (Hg.), Encyclopaedia of Religion and Ethics, Volume 6, Edinburgh 1913, S. 103. Thomas Flanagan, „The Concept of Fortuna in Machiavelli“, in: Anthony Parel (Hg.), The Political Calculus, Essays on Niccolò Machiavelli’s Philosophy, Toronto 1972, S. 130. Einen ausgezeichneten Nachweis der großen Bedeutung der Dichotomie von virtus und Fortuna für die Schriften eines Cicero sowie eines Seneca lässt sich der Arbeit von Klaus Heitmann entnehmen.

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Disputationes.16 Aber nicht deshalb, weil er dieser Sentenz zustimmt. Er beeilt sich vielmehr hinzuzufügen, dass „von keinem Philosophen etwas Schlafferes gesagt worden sei“17 . Freilich, das Kräfteverhältnis von fortuna und sapientia, wie es Theophrast beschreibt und akzeptiert, kann in den Augen Ciceros gleichsam als eine Art Diagnose der herrschenden Stimmung der Zeit gelten, gibt eine seinerzeit durchaus verbreitete und vielfach gängige, pessimistische Auffassung der Potenziale menschlicher Weisheit im Wettstreit mit den Fortuna geschuldeten Widerfahrnissen des menschlichen Lebens angemessen wider, auch wenn Ciceros eigene Ausführungen im fünften Buch der Tusculanane Disputationes gerade als Versuch verstanden werden können, die Ansicht des Theophrast zu widerlegen und anstatt dessen gleichsam die Überlegenheit der sapientia über die fortuna nachzuweisen: „semper igitur sapiens beatus est.“18 Der Weise und zwar der Weise im Sinne des Tugendhaften, derjenige, der in seinem Leben den Maximen der virtus Folge leistet, davon gibt sich die Moralistik Ciceros überzeugt, der wird immer und ungehindert glücklich sein, für dessen Leben trifft in der Tat zu: virtù vince fortuna, vor dessen Tugendhaftigkeit wird, wie es in den Tusculanae Disputationes heißt, die Fortuna stets und notwendigerweise weichen, „Fortuna ipsa cedat necesse est.“19 Auf die von Cicero vorgeschlagene Form der Fortunabewältigungspraxis werde ich später noch ausführlich eingehen. Dass ich bereits in diesem frühen Stadium des Kapitels eine Passage aus den Tusculanae Disputationes zur Sprache gebracht habe, hatte allein den Grund zu zeigen, dass sich Cicero im Zuge seiner Diskussion von Theophrasts Sentenz „vitam regit fortuna, non sapientia“ zu dem Eingeständnis gezwungen sieht, dass die Annahme einer unbedingten Suprematie der Fortuna über alle Weisheit oder Tugend alles andere als eine marginale Position innerhalb des römischen Denken und der römische Kultur seiner Zeit darstellt, denn „durch solche Worte lassen sich die Unkundigen gewinnen, und wegen Sätzen dieser Art gibt es eine Menge solcher Leute“20 . Nun lässt sich – wie gesagt – die Bedeutung der Fortuna nicht nur für die römische Alltags-, Kultur- und Religionsgeschichte nachweisen, sondern auch ihre intellektuelle Präsenz in den schriftlichen Zeugnissen des römischen Geisteslebens einer schier unendlichen Fülle von Belegen und Dokumenten entnehmen. Weil ich diese Fülle auch nicht annähernd erschöpfend behandeln kann, ich andererseits aber auch nicht darauf verzichten möchte zu zeigen, in welch umfassender Weise die unterschiedlichsten Formen der römischen Kultur und Literatur und Geisteswelt von einer Thematisierung der

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Vergleiche hierzu Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln/Graz 1958, S. 17 f. Vergleiche dazu meine Plutarch gewidmeten Ausführungen im zweiten Kapitel der Arbeit, S. 177– 179. Marcus Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, Stuttgart 1997, S. 400 bzw. 401. Im Original heißt es in der zuletzt zitierten Passage: „ab ullo philosopho quicquam dictum esse languidius.“ (ebd., S. 400) Ebd., S. 416. Ebd., S. 440. Ebd., S. 403. Im Original lautet die Passage: „Atqui his capiuntur imperiti, et propter huius modi sententias istorum hominum est multitudo.“ (ebd., S. 402)

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Fortuna und des menschlichen Umgangs mit dieser geprägt sind, vielmehr die entscheidenden theoretischen Konsequenzen dieser Thematisierung erkunden möchte, blicke ich zumindest kursorisch noch auf drei Passagen und Autoren, die nun nicht der römischen Literatur oder Philosophie, sondern allesamt der römischen Geschichtsschreibung entstammen und die Omnipräsenz der Fortuna in schriftlichen Zeugnissen der vorkaiserlichen wie der kaiserlichen Zeit auf, wie ich finde, sehr eindringliche Weise illustrieren. Das soll keinesfalls heißen, in Literatur oder Philosophie sei die Fortuna seinerzeit weniger thematisiert worden. Aber die drei gewählten historiographischen Beispiele, Ausführungen von Livius, Julius Cäsar und Sueton, scheinen mir für meinen Zweck, auch die Omnipräsenz der Fortuna in den Texten der Zeit zu belegen und zu illustrieren, besonders gut geeignet. Die sich an eine solche Sammlung von Belegen zwangsläufig anschließende Frage, welche Wesensmerkmale und Charakterzüge der Fortuna sich derartigen Thematisierungen entnehmen lassen, und der Versuch, diese Frage zu beantworten, sie werden freilich dann den engen Rahmen historiographischer Schriften überschreiten. Im XXX. Buch seiner Römischen Geschichte schildert der römische Historiker Livius den dramatischen Moment der Unterredung zwischen Hannibal und Scipio, in welchem der Erstgenannte dem römischen Heerführer endgültig die Aufgabe der Truppen Karthagos anbietet, dabei den designierten Sieger aber auch ermahnt, die launische Macht der Fortuna in der Geschichte nicht zu vergessen, selbst wenn diese Macht ihm momentan offenkundig wohlgesonnen erscheine. Denn, so führt Hannibal aus, „gerade dem größten Glück kann man am wenigsten trauen“21 , und diese Einsicht gelte gerade und besonders auf dem Schlachtfeld, denn „nirgendwo weniger als im Krieg entspricht der Ausgang der Erwartung.“22 Aufgrund dieser seiner Überzeugung richtet Hannibal Aug’ in Aug’ folgende Worte an Scipio: „Nicht leicht bedenkt einer, den das Glück niemals getäuscht hat [im Original heißt es an dieser Stelle „quem fortuna numquam decepit“; P. V.], die Unberechenbarkeit des Zufalls [im Original „incerta casuum“; P. V.]. […] Falls du auch alle anderen vergessen wolltest, ich bin ein hinreichender Beweis für alle Schicksalsfügungen: nachdem ich eben noch mein Lager zwischen dem Anio und eurer Stadt aufgeschlagen hatte, die Mauern von Rom angriff und fast schon erstieg, siehst du mich jetzt hier, zweier Brüder beraubt, sehr tapferer Männer und hochberühmter Feldherren, vor den Mauern meiner eingeschlossenen Vaterstadt darum bitten, dass das, womit ich eure Stadt geschreckt habe, meiner erspart bleibe.“23 21

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Titus Livius, Römische Geschichte, Buch XXVII–XXX, lateinisch und deutsch, herausgegeben von Hans Jürgen Hillen, München/Zürich 1997, S. 549. Im Original lautet die Passage: „Maximae cuique fortunae minime credendum est.“ (ebd., S. 548) Ebd., S. 549. Ebd., S. 547 f. Vergleiche dazu übrigens auch folgende Stellen bei Polybios, in denen er Hannibal dem Scipio gegenüber folgende Worte in den Mund legt: „[…] denn ich habe im Laufe des Krieges erfahren, wie wetterwendisch die Tyche ist und wie sie in einem Augenblick die Waage des Glücks nach der anderen Seite ausschlagen lässt, ihr Spiel mit uns treibend wie mit unmündigen Kindern“.

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Scipio indes weist die von Hannibal ausgesprochene Mahnung brüsk zurück: „Was mich angeht“, so führt er aus, „so bin ich mir der menschlichen Schwachheit bewusst, bedenke die Macht des Schicksals [im Original „vim fortunae“; P. V.] und weiß, dass alles, was wir tun, tausend Zufällen [im Original „mille casibus“; P. V.] unterworfen ist.“24 Sodann verweigert sich Scipio dem ihm von Hannibal angebotenen Friedensschluss. Und so blättert Livius vor dem Leser schließlich die letzen Seiten des Konflikts zwischen Rom und Karthago auf; es kommt zu einer letzten entscheidenden Schlacht, die Römer vernichten die Karthager endgültig, und Livius beschließt Buch XXX seiner Römischen Geschichte mit einer Schilderung der Friedensverhandlungen vor dem römischen Senat. Dabei lehnt sich Hasdrubal, der Führer der karthagischen Delegation, an jene Argumentation Hannibals an, die dem Leser aus des Letzteren direkter Unterredung mit Scipio bereits bekannt ist: „Nur selten werden den Menschen zugleich rechtes Glück [„bonam fortunam“ im Original; P. V.] und rechter Verstand gegeben. Das römische Volk sei dadurch unbesieglich, dass es im Glück [„in secundis rebus“ im Original; P. V.] nicht vergesse, seinen Verstand zu gebrauchen und zu überlegen“25 . Livius’ Geschichtsschreibung, deshalb wurde hier auf sie verwiesen, zeugt besonders eindringlich von der kulturellen Wirkungsmächtigkeit der Fortuna im Rom des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Denn wenn ausgerechnet die Fortuna und keine andere Instanz von den besiegten Feinden des römischen Volkes angerufen wird, um die Sieger, das heißt die Römer, um Milde und Nachsichtigkeit zu bitten, dann war den Bittstellern ganz sicherlich bewusst, dass sie sich den Siegern gegenüber auf eine Instanz von allerhöchster Würde und moralischer Legitimität beriefen. Ein zweites Beispiel sei genannt, um die Omnipräsenz der Fortuna in der römischen Geschichtsschreibung zu verdeutlichen. Auch dieses Beispiel entstammt so wie das vorherige dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, auch dieses Beispiel reflektiert ein historisches Ereignis oder spiegelt doch zumindest die historiographische Verarbeitung eines historisches Ereignisses wider. Darüber hinaus bestätigt das Beispiel erneut, wie häufig sich das Nachdenken über Fortuna den Unbilden eines Kriegsgeschehens verdankte.26 Indes stehen nun nicht die Punischen Kriege im Mittelpunkt des Geschehens, die Re-

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Und kurz darauf charakterisiert Scipio seine eigene geistige Haltung mit folgenden Worten: „Die Macht der Tyche bedenke er so sehr wie nur irgend jemand sonst und sei nach Kräften bemüht, der Unsicherheit aller menschlichen Dinge eingedenk zu bleiben.“ Ich zitiere nach Polybios, Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, Zürich/Stuttgart 1963, S. 861 f. bzw. 863. Titus Livius, Römische Geschichte, Buch XXVII–XXX, lateinisch und deutsch herausgegeben von Hans Jürgen Hillen, a.a.O., S. 553. Ebd., S. 587. Was wiederum dazu geführt hat, die Rede vom Zufall als Symptom einer Verlierermentalität zu diskreditieren. Vergleiche dazu Anmerkung 113 im zweiten Kapitel dieser Arbeit, S. 106 f. Wiederum das Motiv, dass nichts so sehr dem Wirken des Zufalls unterliege wie der Krieg, findet sich in paradigmatischer Weise bei Carl von Clausewitz formuliert, wenn er einen intrinsischen Zusammenhang von Zufall und Kriegsgeschehen konstatiert: „Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine so nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse.“ Carl von Clausewitz, Vom Kriege, herausgegeben von Werner Hahlweg, Bonn 1991, S. 234.

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de ist vielmehr von Caesars De bello gallico und dem dort geschilderten, legendären Zenturionenwettstreit.27 Dort, im fünften Buch, wird die Rivalität zweier Zenturionen geschildert, die schon seit Längerem einen Wettstreit darüber austragen, wer denn nun der Tapfere von beiden sei. Angesichts der aktuellen gallischen Belagerung ihrer Lagerstätte springen beide Zenturionen aus dem Schutze ihres Walls hinaus, dorthin, wo ein gerade stattfindender Kampf am heftigsten tobt, um so ein für allemal auszufechten, wer von beiden der Mutigere sei: Die folgenden Geschehnisse sind nun von einer ganzen Akkumulation von Zufällen gekennzeichnet. Erst bleibt dem einen, Titus Pullo, im Handgemenge das Schwert zufällig in der Scheide stecken. Daraufhin befreit ihn der andere, Lucius Vorenus. Doch Letzterer, der es nun im Nahkampf mit einer Übermacht von Gegnern zu tun hat, stolpert aufgrund einer Vertiefung des Bodens. Jetzt eilt ihm wiederum Titus Pullo zu Hilfe, und gemeinsam kehren sie schließlich, nachdem sie mehrere Gallier getötet haben, „unversehrt und ruhmbedeckt“28 , wie es im Text heißt, in ihr Lager zurück. Der Abschnitt endet schließlich mit den Worten: „So trieb die Fortuna bei diesem Kampf und Wettstreit der beiden ihr Spiel, dass jeder seinem Rivalen zu Hilfe kam und ihn rettete und nicht zu entscheiden war, wer den anderen an Tapferkeit übertraf [meine Übersetzung; P. V.].“29 An einer anderen Stelle des Gallischen Krieges wird Cäsar, das Kriegsgeschehen in Gallien insgesamt kommentierend, lakonisch

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Vergleiche grundsätzlich zu diesem Certamen Centurionum Gerhard Maurach, „Caesar, BG 5,43 f.: Der Zenturionenwettstreit“, in: Gymnasium 89 (1982), S. 468–478. Dass Cäsar Fortuna ganz besonders verehrte, schildert Cassius Dio in seiner Römischen Geschichte: „Später dann, als Caesar der Fortuna opferte, entkam der Stier, ehe er noch verwundet wurde, floh aus der Stadt und erreichte einen See, den er durchschwamm. Daraufhin fasste Caesar noch stärkeren Mut und beschleunigte die Vorbereitungen“ Cassius Dio, Römische Geschichte, Band II, Bücher 36–43, übersetzt von Otto Veh, München/ Zürich 1985, S. 286. Bezüglich der Frage, inwiefern Cäsars Verehrung der Fortuna Resultat einer bewussten und strategischen Legendenbildung und ihrer Tradierung oder tatsächlich historisch zutreffend ist, vergleiche die Diskussion von Iiro Kajanto unter ausdrücklicher Einbeziehung der diesbezüglich maßgeblichen Literatur: „The majority of modern scholars have in fact rejected Caesar’s saying as a legend. They hold that Caesar was a rationalist and that his writings do not reveal any belief in good luck or personal fortuna peculiarly his own.“ Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 537. Vergleiche zu Cäsars Einschätzung der Fortuna allgemein auch den instruktiven Aufsatz: W. Warde Fowler, „Caesar’s Conception of Fortuna“, in: The Classical Review 17 (1903), S. 153–156. Gaius Iulius Caesar, Der Gallische Krieg, Lateinisch-deutsch, herausgegeben von Otto Schönberger, München/Zürich 1999, S. 241. Ebd., S. 241. Im Original lautet die Passage: „sic fortuna in contentione et certamine utrumque versavit, ut alter alteri inimicus auxilio salutique esset neque diiudicari posset, uter utri virtute anteferendus videretur.“ (ebd., S. 240)

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feststellen, „wieviel im Krieg von der Fortuna abhängt und wie viele Zufälle sie bringt [meine Übersetzung; P. V.].“30 Ein drittes Zeugnis für die intellektuelle und geistige Omnipräsenz der Fortuna, welche sich der römischen Geschichtsschreibung entnehmen lässt und hier lediglich noch erwähnt sei, nun freilich aus kaiserlicher Zeit, findet sich in einer Passage aus Suetons Schilderung der Vita des Kaisers Galba. Sueton berichtet, dieser habe „ein mit Perlen und Edelsteinen besetztes Halsband von seinen Kleinodien beiseite gelegt, um das Schmuckstück seiner Fortuna in Tusculum umzulegen. Plötzlich muss er wohl gemeint haben, das Schmuckstück sei eher eines erhabeneren Platzes würdig, also weihte er es der Kapitolinischen Venus. In der folgenden Nacht erschien ihm Fortuna im Traum, und es war ihm, als beklage sie sich darüber, dass man sie des Geschenkes beraubt habe, das für sie bestimmt gewesen sei. Auch schien es so, als drohe sie damit, jetzt auch ihm das zu entreißen, was sie ihm gegeben habe. Das versetzte ihn in Angst und Schrecken; also verließ er gleich bei Tagesanbruch das Haus und eilte nach Tusculum, um durch ein Sühneopfer das Geträumte abzuwenden; er hatte Leute vorausgeschickt, die alles für das Opfer herrichten sollten. Er fand aber nichts vor als erkaltete Asche auf dem Altar und daneben einen alten Mann in einem schwarzen Gewand, der in einem Gefäß aus Glas Weihrauch und in einem Becher aus Ton ungemischten Wein hielt.“31 So lässt sich nach den bisherigen Ausführungen die kulturelle Omnipräsenz der Fortuna in der alltäglichen religösen und kultischen Verehrung wie auch die geistige und intellektuelle Omnipräsenz der Fortuna in schriftlichen Zeugnissen am Beispiel der Literatur und der historiographischen Literatur sowohl in den ersten Jahrhunderten vor Christus als auch in den ersten Jahrhunderten nach Christus für die römische Antike prägnant illustrieren. Wie genau nun seinerzeit die Fortuna aufgefasst wurde, wie ihr Wesen und wie ihre Charakterzüge gesehen wurden, das ist mit den bisherigen Verweisen freilich noch keinesfalls geklärt. Was also war diese seinerzeit offensichtlich in religiöser und kultischer Hinsicht, in der Alltagskultur, aber auch, wie sich anhand der römischen Geschichtsschreibung in dreifacher und exemplarischer Weise belegen ließ, in der literarischen Hochkultur omnipräsente Fortuna den Römern? Welche Funktionen oder charakterlichen Merkmale, welche Eigenschaften oder Wesenszüge wurden ihr einhergehend mit den skizzierten und zitierten Bekräftigungen und Bestätigungen ihrer Existenz und grundsätzlichen Bedeutung für das menschliche Leben sowohl gegen Ende der Republik als dann auch zu 30

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Ebd., S. 299. Im Original lautet die Passage: „quantum in bello fortuna possit et quantos adferat casus.“ (ebd., S. 298) An einer anderen Stelle heißt es: „Doch kommt es im ganzen Leben, besonders aber im Krieg, sehr viel auf die Fortuna an [meine Übersetzung; P.V.].“ (ebd., S. 293) Im Original lautet die Passage: „multum cum in omnibus rebus, tum in re militari potest fortuna.“ (ebd., S. 292) Sueton, Die Kaiserviten – De vita Caesarum, Berühmte Männer – De viris illustribus, lateinischdeutsch, herausgegeben und übersetzt von Hans Martinet, München/Zürich 1998, S. 763.

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Beginn der frühen Kaiserzeit im Kontext des römischen Polytheismus zugeschrieben? Perpetuiert die römische Fortuna Merkmale der Tyche des klassischen Griechentums oder der hellenistischen Tyche, wie wir sie im zweiten Kapitel dieser Arbeit erwähnten und diskutierten? Wird sie der hellenistischen Tyche gleich als Göttin, aber eben gerade als eine autarke Göttin und als eine Göttin des Zufalls begriffen, die für unser alltägliches Tun und Leiden zudem von höchster Relevanz ist, deren Wirken sich durch keine theoretische Einsicht begreifbar machen lässt, die unseren alltäglichen Bemühungen wohlgesonnen und milde gegenübertritt, die sich ferner durch menschliches Handeln beeinflussen oder – im Gegenteil – gerade nicht beeinflussen lässt?32 Die Fortuna stellte, so viel wird aus den bisherigen Ausführungen deutlich ersichtlich, für die Römer zunächst einmal ein Objekt kultischer und religiöser Verehrung dar. Wie aber stellte man sich dieses Objekt kultischer und religiöser Verehrung weiter konkret vor? Die Fortuna wurde in der römischen Kultur und Religion und Literatur zweifellos als eine Göttin gedacht. Angesichts der ihrem Kult geweihten Anlagen und Tempel kann kein Zweifel bestehen, dass die Fortuna den Römern mehr und anderes war als eine Allegorie oder ein Symbol oder ein lediglich rhetorischer Topos. Insofern knüpft die römische Fortuna offenkundig an die griechische Tyche an, die ja ebenfalls sowohl in der Zeit des klassischen Griechentums als auch in hellenistischer Zeit als Göttin verstanden wurde.33 Wie aber wird diese Göttin Fortuna verstanden? Die Göttin Fortuna ist den Römern zumindest seit der frühen Kaiserzeit die Göttin des Zufalls: „That she was the goddess of chance at the time of the early Empire, all the authorities happily agree“34 , schreibt Patch. Aber zu einer solchen Göttin des Zufalls hatte sich die Fortuna wohl schon gegen Ende der republikanischen Ära ausgebildet. Auf dieser grundsätzlichsten Ebene der römischen Auffassung der Göttin Fortuna spiegeln sich ganz sicherlich die Einflüsse der hellenistischen Tyche wider. Wir sahen ja im zweiten Kapitel, dass etwa die Komödien Menanders, um hier nur den exemplarischen Ausdruck für das Verständnis der Göttin Tyche im Zeitalter des Hellenismus zu erwähnen, die Tyche ausdrücklich – wie schon die Tradition vor ihm – als Göttin verstanden wissen wollten, dass diese Göttin Tyche aber in den Stücken des Menander – und dies nun ganz entgegen der Auffassungen der Göttin Tyche, wie sie vorhellenistisches Denken und klassische Kultur dominierten – sowohl als autark beschrieben wurde, insofern sie nicht mehr in den Kosmos der olympischen Götterwelt eingebettet war, wie auch als Verkörperung des Zufalls, insofern ihr Wirken eben keiner anderen Direktive unterstand als ebendieser Willkür des Zufalls. Kurzum: In den Komödien des Menander wurde die Göttin Tyche, wie auch immer ihre charakterlichen Merkmale im Einzelnen sodann zu beschreiben waren, als autarke Göttin des Zufalls betrachtet. Dieses hellenistische Verständnis der Tyche als Göttin des Zufalls, wie es Menander exemplarisch formuliert, prägt und bestimmt nun aber auch die römi-

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Vergleiche zu den wesentlichen charakterlichen Merkmalen der Tyche und der Frage, ob das Verhältnis zwischen der „klassischen“ Tyche und der Tyche der hellenistischen Epoche durch Kontinuität oder Diskontinuität gekennzeichnet ist, das gesamte zweite Kapitel dieser Arbeit. Vergleiche dazu S. 90–94 und 162–164 des zweiten Kapitels dieser Arbeit. H. R. Patch, „The Tradition of the Goddess Fortuna in Roman Literature and in the Transitional Period“, in: a.a.O., S. 141.

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sche Auffassung der Fortuna. Auch den Römern ist die Fortuna zunächst einmal und zuallererst Göttin des Zufalls.35 Wie lassen sich nun aber die einzelnen charakterlichen Merkmale und Züge dieser Fortuna, dieser Göttin des Zufalls, wie sie römische Kultur und Denken prägt, weiterhin bestimmen? Abgesehen von ihrem autarken göttlichen Status, den die Fortuna der Römer mit der Tyche des Hellenismus teilt; abgesehen auch davon, dass die Fortuna der Römer mit der Tyche des hellenistischen Zeitalters eint, dass sie wesentlich und allererst den Zufall verkörpert, lautet ein erstes entscheidendes Wesensmerkmal der römischen Fortuna, dass sie eben als diese autarke Göttin des Zufalls in höchstem Maße irrational, willkürlich, launisch, unberechenbar ist, also ganz so verfährt, wie es sich für den Zufall gleichsam ex officio gehört, nämlich zufällig. Die Göttin Fortuna handelt, so besagt dieses erste charakterliche Merkmal, stets einer undurchschaubaren Laune gemäß; sie folgt keinen erkennbaren Regeln oder Gesetzmäßigkeiten; sie handelt ihrer Laune und Willkür gemäß, also unstet und unberechenbar; mit einem spielerischen Lächeln entzieht sie sich daher immer auch allen menschlichen Bemühungen um ein theoretisches Verständnis ihres Wirkens. Fortuna, die Göttin des Zufalls, entscheidet einer theoretisch unzugänglichen Laune gemäß über Glück oder Unglück einer Handlung oder eines ganzen Lebens, entscheidet, um der Tradition ihrer kultischen Verehrung ein geradezu klassisches Beispiel zu entnehmen, in gänzlich unberechenbarer Weise über den Ausgang einer Seereise.36 Diese Launenhaftigkeit und theoretische Unzugänglichkeit der Fortuna hat zur Folge, dass das menschliche Handeln und Leben in all seinen Winkelzügen stets von einer Instanz durchwirkt bleibt, die für das menschliche Leben ein Moment des Unerwarteten, Überraschenden und Unvorhersehbaren bereit hält. „Fortuna must have been, for the early Latins, the deity presiding over the incalculable element in human life“37 , heißt es in diesem Sinne im Fortunaartikel der Encyclopaedia of Religion and Ethics.

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Vergleiche zu dieser Kontinuitätsthese von hellenistischer Tyche und römischer Fortuna auch die Bemerkungen von Matheson und Herzog-Hauser in der Anmerkung 298 auf S. 183 im zweiten Kapitel dieser Arbeit. Die genau konträre These vertritt Kajanto, insofern er die hellenistische Tyche und die römische Fortuna, zumindest was sie als Objekte kultischer Verehrung betrifft, strikt unterscheidet: „Fortuna, such as she appears in Roman religious life, was not the personification of blind chance. She remained primarily the goddess of luck, the bringer of good fortune.“ Diese prinzipielle Differenz verunmöglicht es laut Kajanto, hellenistische Tyche und römische Fortuna durch eine simple Kontinuitätsthese historisch zu verbinden: „This is why one cannot simply equate Roman fortuna and Greek tyche.“ Vergleiche hierzu Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 517 bzw. 530. Was die literarische Verarbeitung der Fortuna betrifft, gesteht Kajanto freilich durchaus Kontinuitäten zwischen Tyche und Fortuna zu. Auch bezüglich der ikonographischen Details von Fortuna und Tyche konstatiert Kajanto Kontinuität. Vergleiche dazu später noch Anmerkung 62, S. 527 in diesem Kapitel. Vergleiche dazu Horaz’ in Anmerkung 9 auf S. 510 zitierte Passage aus c. I, 35. W. Warde Fowler, „Artikel: Fortune (Roman)“, in: James Hastings (Hg.), Encyclopaedia of Religion and Ethics, Volume 6, a.a.O., S. 98.

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Die Auffassung der Fortuna nicht nur als abstrakte, wenn auch als autarke göttliche Verkörperung des Zufalls, sondern auch als eine in ganz konkreter Weise willkürlich und unberechenbar handelnde und sich daher aller theoretischen Kalkulation und Berechnung ihres Wirkens entziehende Instanz, die keinem Gesetz oder besser: einzig dem Gesetz des Zufalls folgt, nicht konstant operiert, sondern lediglich „constans in levitate“38 ist, wie es bei Ovid heißt, diese Auffassung der Fortuna lässt sich in der Philosophie, in der Geschichtsschreibung und in der Literatur des römischen Altertums vielfach belegen. Sie spiegelt sich in einer Reihe geradezu klassischer Epitheta wider, die der Fortuna immer wieder zugeschrieben werden. In den Fragmenta des Pacuvius, um in diesem Zusammenhang bereits auf das zweite Jahrhundert vor Christus zu verweisen, wird die Fortuna etwa als „incerta“ und „instabilis“, in einer anderen Passage als „insana“, „caeca“ und „bruta“ beschrieben: „Fortunam insanam esse et caecam et brutam perhibent philosophi saxoque instare eam globoso praedicant volubilem.“39 Von der Fülle der Belege, in welchen die Fortuna in diesem Sinne, also als willkürlich und unberechenbar gekennzeichnet wird, seien zudem aus der republikanischen Spätphase und dem frühen Kaisertum folgende Beispiele erwähnt. Cicero spricht in seiner Rede Für Annius Milo ebenfalls von der „vaga volubilisque fortuna“40 . In De natura deorum spricht er von der Fortuna als einer Gestalt, „die doch den Wechsel liebt und die Beständigkeit verabscheut.“41 Seneca spricht in der Medea von einer „rapida Fortuna ac levis“42 . Sallust charakterisiert die Fortuna in De coniuratione Catilinae als allmächtig und dabei doch stets willkürlich verfahrend: „Gewiß ist die Fortuna [meine Übersetzung; P. V.] in jedem Bereich eine beherrschende Macht: mehr nach Laune als nach dem wirklichen Wert rückt sie alle Geschehnisse ins Licht oder ins Dunkel.“43 In Horaz’ c. III, 29 wird die These von der unvorhersehbaren Willkür und Wankelmütigkeit der Fortuna in lyrische Form gegossen: Fortuna freut des grausamen Handelns sich Und nimmer rastend spielt sie ihr höhnisch Spiel:

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Vergleiche hierzu Anmerkung 45 auf Seite 521 dieses Kapitels. Hier zitiert nach Corpus Omnium Veterum Poetarum Latinorum, Tomus II, London 1721, v. 159– 161. Marcus Tullius Cicero, Rede für Titus Annius Milo. Mit dem Kommentar des Asconius, Lateinisch und Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Marion Giebel, Stuttgart 1972, S. 100. Marcus Tullius Cicero, De natura deorum. Über das Wesen der Götter. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 1995, S. 155. Im lateinischen Original spricht Cicero von einer Fortuna, „quae amica varietati constantiam respuit.“ (ebd., S. 154) Lucius Annaeus Seneca, Medea, Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Bruno Häuptli, Stuttgart 1993, S. 24. Sallust, Werke. Lateinisch und deutsch, von Werner Eisenhut und Josef Lindauer, München/Zürich 1985, S. 17. Im lateinischen Original lautet die Passage: „Sed profecto fortuna in omni re dominatur; ea res cunctas ex lubidine magis quam ex vero celebrat obscuratque.“ (ebd., S. 16)

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     Heut mir geneigt, dem andern morgen,           Wechselt sie stets mit den eitlen Ehren.44 Ovid schreibt aus seinem Exil am Schwarzen Meer: Ziellos schweift sie umher, die wandelbare Fortuna;      nirgends verharrt sie: kein Ort hält auf die Dauer sie fest. Heiter schreitet sie jetzt und jetzt mit bedrohlicher Miene,      bleibt sich in einem nur gleich: in der Veränderlichkeit.45 Und in den Epistulae Ex Ponto reflektiert Ovid das Los der Verbannung mit den Worten „sic ego Fortunae telis confixus iniquis“, er betrachtet sich also als „durchbohrt von den bösen Geschossen“ der Fortuna, um kurz die Fortuna mit den Worten zu charakterisieren, dass diese sich derzeit seine Vernichtung angelegen sein lasse („est illi curae me perdere“) und ihm ständig zu schaden gewillt sei („constans et bene certa nocet“), während sie einstmals durchaus sanftmütig gewesen sei („solebat esse levis“).46 Alle genannten Autoren beschreiben die Fortuna mithin zunächst einmal als wankelmütig, launisch und unberechenbar. Und es ist ebendieses Wesensmerkmal, welches dafür sorgt, dass sich das Wirken der Fortuna durch keinerlei Prognose oder anderweitige Kalkulation vorhersehen oder berechnen und dadurch durch keinerlei theoretische Einsicht gleichsam entschärfen und zugänglich machen lässt. Die Fortuna ist unberechenbar, und deshalb ist sie theoretisch unzugänglich.47 44

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Horaz, Sämtliche Werke, lateinisch und deutsch, herausgegeben von Hans Färber bzw. übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne, a.a.O., S. 168 bzw. 169. Im Original lautet die Passage: Fortuna saevo laeta negotio et ludum insolentem ludere pertinax      transmutat incertos honores           nunc mihi nunc alii benigna. Publius Ovidius Naso, Briefe aus der Verbannung. Tristia – Epistulae Ex Ponto. Lateinisch und deutsch, übertragen von Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, München/ Zürich 1995, S. 264 bzw. 265. Im Original lautet die Passage: passibus ambiguis Fortuna volubilis errat      et manet in nullo certa tenaxque loco, sed modo laeta venit, vultus modo sumit acerbos,      et tantum constans in levitate sua est. Der Formulierung Ovids, wonach die einzige Konstanz der Fortuna in ihrer Unbeständigkeit bestehe, verdankt übrigens Klaus Reicherts Studie über die Fortuna im elisabethanischen Zeitalter und in der elisabethanischen Tragödie, insbesondere in Shakespeares Kaufmann von Venedig, Titel wie Leitfaden ihrer Interpretation. Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels, Frankfurt am Main 1985. Vergleiche dazu Publius Ovidius Naso, Briefe aus der Verbannung. Tristia – Epistulae Ex Ponto. Lateinisch und deutsch, übertragen von Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, a.a.O., S. 390 bzw. 391. Für die Wirkungsmächtigkeit dieser Charakterisierung der Fortuna als unberechenbar vergleiche den berühmten Auftakt von Carl Orffs Vertonung der mittelalterlichen Carmina Burana, die bekanntlich mit einer direkten Anrede der Fortuna einsetzt:

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Besonders aufschlussreich präsentiert Ciceros Traktat De divinatione diese Skizzierung des ersten charakterlichen Merkmals der Fortuna, der römischen Göttin des Zufalls. In dieser Schrift betont und begründet Cicero ausdrücklich die theoretische Unmöglichkeit, die zufälligen Aspekte des Lebens, also all jene Aspekte, die dem Reich der Fortuna unterstehen, vorherzusagen. Im zweiten Buch dieser Schrift, in welchem er eine kritische Replik auf das im ersten Buch von seinem Bruder Quintus formulierte Plädoyer für die Existenz der divinatio im Sinne der Möglichkeit, zufällige Dinge vorherzusagen, formuliert, erblickt er das konstitutive Merkmal des Zufalls, wie er dem Reich der Fortuna untersteht, gerade darin, dass dieser sich jeder Vorhersehbarkeit und Prognose entzieht. Und für einen derart theoretisch unzugänglichen Zufall verwendet er nun die Termini fors, casus und fortuna in synonymer Weise: „Eben dann nämlich sprechen wir doch von ‚fors‘, von ‚fortuna‘ oder ‚casus‘, wenn etwas so eingetreten ist, so herausgekommen ist, dass es wohl auch anders hätte eintreten und herauskommen können. Wie sollte es also möglich sein, das vorauszuahnen und vorauszusagen, was planlos geschieht, infolge eines blinden Waltens und der Unbeständigkeit der Fortuna [meine Übersetzung; P. V.].“48 Zufälliges Geschehen lässt sich nicht prognostizieren – weder mittels einer divinatio noch durch eine andere Methode. Diese Unmöglichkeit, das zukünftige Walten des Zufalls mittels der Fähigkeit der divinatio vorherzusagen, spricht aber laut Cicero nicht gegen die Existenz des Zufalls, sondern allein für die Unmöglichkeit der divinatio. Die aufgrund seiner prinzipiellen These, dass sich das zukünftige Walten des Zufalls nicht vorhersagen lasse, ebenso mögliche Schlussfolgerung, dass es eben deshalb den Zufall gerade nicht geben kann, da sich – kraft welcher Methode oder Überzeugung auch immer – alles Zukünftige zumindest prinzipiell theoretisch vorhersagen lasse, weist er

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O fortuna velut luna statu variabilis, semper crescis aut decrescis; vita detestabilis nunc obdurat et tunc curat ludo mentis aciem, egestatem, potestatem dissolvit ut glaciem. Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hrsg. von Bendedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987. Marcus Tullius Cicero, De divinatione. Über die Wahrsagung, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, a.a.O., S. 147. Im Original lautet das Zitat: „quid est enim aliud fors, quid fortuna, quid casus, quid eventus, nisi cum sic aliquid cecidit, sic evenit, ut vel aliter cadere atque evenire potuerit? quo modo ergo id, quod temere fit caeco casu et volubilitate fortunae, praesentiri et praedici potest?“ (ebd., S. 146.)

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ausdrücklich zurück.49 Denn den Zufall gibt es, fortuna est, diese ontologische Dignität ist für Cicero ebenso wenig zu bestreiten wie für Aristoteles.50 Und bezüglich dieses Zufalls – das ist und bleibt Ciceros These – kann es keine Gewissheit oder Vorhersage geben: „Denn wenn das, was eintreten wird, so oder anders eintreten kann, liegt fast alle Macht beim Zufall; was aber dem Zufall unterworfen ist, kann nicht gewiß sein.“51 Und deshalb kann es bezüglich des Zufalls auch keine divinatio, keine auf die Zukunft bezogene Vorhersage zufälliger Ereignisse durch die Befragung oder das Urteil der Götter geben: „Denn nichts ist der Berechnung und der Regelmäßigkeit so sehr entgegengesetzt wie der Zufall, so dass es, wie mir scheint, nicht einmal für Gott zutrifft, dass er weiß, was einfach so hereinbrechen und was zufällig sein wird. Weiß er es nämlich, so wird es unbedingt eintreffen; wird es aber unbedingt eintreffen, so gibt es keinen Zufall; es gibt aber einen Zufall: also gibt es keine Vorahnung zufälliger Dinge.“52 Während Schicksal, fatum, den Römern Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit ist, die sich einsehen und erkennen und vorhersagen lässt, legt die Fortuna gerade keine Gesetzmäßigkeit an den Tag. Welches Verhalten sich Fortuna angelegen sein lässt, das lässt sich niemals vorhersagen. Das römische Denken unterscheidet also deutlich zwischen Fortuna und fatum.53 Besonders in den philosophischen Schriften des römischen Alter49

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Aufschlussreich und illustrativ ist in dieser Hinsicht eine Passage in Leibniz’ Theodizee, in der sich Leibniz mit Ciceros Rede von der Fortuna in De Divinatione auseinandersetzt. Cicero, so schreibt Leibniz, bemerke zu Recht, dass, wenn das Zukünftige gewiss sei, Fortuna keine Rolle spielen könne. Aber Cicero formuliere darob eine falsche These, nämlich die, dass, da die Existenz der Fortuna unbezweifelbar sei, die Zukunft nicht vorhergesagt werden könne. Er hätte indes aus seiner richtigen Prämisse auch eine andere Schlussfolgerung ziehen sollen und können: „Il devait conclure plutôt que, les événements étant prédéterminés et prévus, il n’y a point de fortune.“ G. W. Leibniz, „Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“ (1710), in: Philosophische Schriften. Band 2.2., herausgegeben und übersetzt von Herbert Herring, Frankfurt am Main 1996. Vergleiche dazu Anmerkung 135 auf S. 117 im zweiten Kapitel dieser Arbeit. Marcus Tullius Cicero, De divinatione. Über die Wahrsagung, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, a.a.O., Ebd., S. 155. Im lateinischen Original lautet die Passage: „si enim id, quod eventurum est, vel hoc vel illo modo potest evenire, fortuna valet plurimum; quae autem fortuita sunt, certa esse non possunt.“ (ebd., S. 154) Die Leugnung der divinatio bedeutet für Cicero freilich nicht Leugnung der Götter. Im Gegensatz zu den Thesen der Stoiker besteht für Cicero keine zwingende Verbindung zwischen der These der Möglichkeit der divinatio und der Behauptung der Existenz von Göttern. Ebd., S. 151. Im lateinischen Original lautet das Zitat: „nihil est tam contrarium rationi et constantiae quam fortuna, ut mihi ne in deum quidem cadere videatur, ut sciat, quid casu et fortuito futurum sit. si enim scit, certe illud eveniet; sin certe eveniet, nulla fortuna est; est autem fortuna; rerum igitur fortuitarum nulla praesensio est.“ (ebd., S. 150) Exemplarisch lässt sich die römische Differenzierung von fatum und Fortuna dem Disput zwischen Lucilius Balbus und Cotta im zweiten und dritten Buch von Ciceros De natura deorum entnehmen. Während Cotta auf die Unbilden der Fortuna verweist, um die stoische Überzeugung von einer

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tums wird eine strikte Unterscheidung von fatum und Fortuna formuliert.54 Der erste

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lückenlosen göttlichen Vorsehung oder einem lückenlosen fatum zurückzuweisen – „ein Tag würde nicht ausreichen, wollte ich die Guten aufzählen, denen es schlecht erging, und desgleichen, wollte ich die Schlechten nennen, die hervorragend lebten“ –, verweist der Stoiker Lucilius Balbus gerade auf die Unmöglichkeit des Zufalls, um seine These von einer göttlichen Vorsehung zu erhärten: „Muss ich mich nicht wundern, dass jemand die Überzeugung vertritt, bestimmte feste, unteilbare Atome bewegten sich durch ihre Schwerkraft und unser so herrlich ausgestattetes, wunderbares Weltall entstehe durch den zufälligen Zusammenprall [„concursione fortuita“ im Original; P.V.] dieser Körper? Wenn jemand das für möglich hält, verstehe ich nicht, wieso er nicht gleichfalls denkt, es könnten sich – wenn man die zahllosen Formen der 21 Buchstaben, seien sie golden oder sonst wie, irgendwo zusammenwürfe – aus diesen auf die Erde geschütteten Buchstaben die Annalen des Ennius ergeben, so dass man sie nacheinander lesen könnte. Vermutlich vermag jedoch nicht einmal bei einem einzigen Vers der Zufall [„fortuna“ im Original; P.V.] so viel zustande zu bringen.“ Vergleiche hierzu Marcus Tullius Cicero, De natura deorum. Über das Wesen der Götter. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, a.a.O., S. 353 bzw. 201. Vergleiche zu der römischen Unterscheidung zwischen Fortuna und fatum auch die im Folgenden zitierten Kommentare: In der Römischen Mythologie von Preller und Jordan heißt es hierzu: „Schicksal und Glück sind eigentlich verschiedene Begriffe; auch deutet Manches darauf, dass man sich in Italien dieses Unterschiedes wohl bewusst war. Dennoch musste für gewöhnlich die Anbetung der Fors oder Fortuna sowohl dem einen als dem andern Bedürfnisse des menschlichen Gemüthes entsprechen, außer und neben den eigentlichen Cultusgöttern eine dämonische Macht von unbestimmter, ja unendlicher Tragweite zu verehren, welche bald in günstigen bald in ungünstigen Fügungen als die Quelle alles Unverhofften und Unberechenbaren im Verlaufe des menschlichen Lebens angesehen werden konnte.“ Ludwig Preller und Heinrich Jordan, Römische Mythologie, Zweiter Band, Berlin 1883, S. 179. Vergleiche dazu auch R. Peter, der sich in seinem Fortuna-Artikel im „Roscher“ auf die zitierte Passage von Preller und Jordan beruft: „Aber während Fatum die Verkörperung des starren, unabänderlichen Verhängnisses ist […], ist Fortuna ein göttliches Wesen, welches bald in günstigen, bald in ungünstigen Fügungen als die Quelle alles Unverhofften und Unberechenbaren angesehen wurde“ R. Peter, „Artikel: Fortuna“, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Erster Band, zweite Abteilung, herausgegeben von Wilhelm Roscher, a.a.O., Sp. 1503. In dem Dictionnaire des Antiquités Grecques et Romaines heißt es, Fortuna bedeutete den Römern einen „influence capricieuse et mobile, quelquefois funeste, le plus souvent favorable, qui se manifeste dans la vie des individus et des nations et qui, sans apparence de règle soit logique soit morale, dispense le succès ou inflige le revers. Elle se distingue du Fatum en ce que celui-ci est l’expression d’une loi devant qui s’incline la raison sans se l’expliquer toujours; Tyche-Fortuna représente surtout les derogations à cette loi, l’imprévu plein d’incohérence et même d’injustice des existences humaines, qui peut défier toute raison et révolter le sens moral.“ J. A. Hild, „Artikel: Fortuna“, in: Dictionnaire des Antiquités Grecques et Romaines, Band 2,2, herausgegeben von Charles Daremberg und Edmond Saglio, Paris 1896, S. 1264. Vergleiche zu dem Unterschied von Fortuna und fatum auch Georg Pfligersdorffer, „Fatum und Fortuna. Ein Versuch zu einem Thema frühkaiserzeitlicher Weltanschauung“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 2 (1961), S. 1–30. Exemplarisch sei eine Formulierung Ciceros aus der Schrift De fato genannt, in der natürliche Ursachen und Zufallsgeschehen einerseits, das fatum andererseits, deutlich kontrastiert werden: „Ich frage also, und diese Frage wird weit reichen: Wenn es für das Fatum kein Wort, keine Vorstellung davon, keinen damit verbundenen Sinn gäbe, sondern das meiste oder auch alles von ungefähr, aufs

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charakterliche Wesenszug der römischen Fortuna, der autarken Göttin des Zufalls, dürfte damit hinreichend benannt und ausreichend illustriert sein: die Fortuna zeichnet, wie sich dies für eine den Zufall verkörpernde Göttin geziemt, Unberechenbarkeit und Willkürlichkeit aus; und dies wiederum bedingt, dass sich die Fortuna jedem theoretischen Raisonnement entzieht. Die Fortuna aber war den Römern immer mehr als lediglich Göttin des Zufalls, deren Wirken und Handeln unberechenbar ist und die sich insofern theoretischen Kalkulationen, Prognosen und Vorhersagen welcher Art auch immer entzieht; sie war den Römern immer auch, und dies verbindet sie erneut und ebenfalls mit der Göttin Tyche der klassischen wie der hellenistischen Zeit, der Tyche Pindars wie Menanders, eine wohlmeinende und Gaben bereithaltende Göttin; und deswegen war das menschliche Leben nicht nur ausschließlich mit der Willkür, Unberechenbarkeit und Launenhaftigkeit einer den Zufall verwaltenden Göttin konfrontiert, sondern es profitierte auch von den Gaben, welche die Fortuna in ihrer Wohlgesonnenheit verteilte. Die Launenhaftigkeit der römischen Göttin Fortuna, die Undurchschaubarkeit ihrer Direktiven, sie implizieren für römisches Denken und römische Kultur gerade nicht, dass die Fortuna dem Menschen aus prinzipiellen Gründen oder notwendig übel mitspielt oder bösartig gesinnt ist; vielmehr gilt für die römische Fortuna ebenso wie für die Tyche Pindars oder Menanders, dass sie dem Menschen gegenüber zumindest potenziell und temporär wohlgesonnen sein kann. So spricht die römische Antike der Göttin Fortuna durchaus freundliche Züge zu. Dies wird deutlich, wenn man noch einmal auf die Fortuna als Objekt kultischer oder religiöser Verehrung blickt: Die Epitheta der kultisch verehrten Fortuna machen in ihrer übergroßen Mehrheit deutlich, dass die Fortuna als „benevolent power“55 wahrgenommen wurde. Diese Auffassung von einer wohlwollenden Göttin Fortuna findet Kajanto zufolge indes ihre Parallele in schriftlichen Zeugnissen, etwa in der frühen römischen Literatur, so wenn schon Plautus in seiner Komödie Aulularia von einer „Bona Fortuna“ spricht.56 Quentin Skinner beschreibt die römische Fortuna daher als eine „good god-

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Geratewohl, zufällig geschähe, würde es sich dann anders abspielen, als es sich jetzt abspielt? Was hat es also für einen Sinn, das Fatum ins Spiel zu bringen, wo doch ohne Fatum die Erklärung für alle Vorgänge aus der Natur oder dem Zufall gewonnen werden könnte?“ Vergleiche hierzu Marcus Tullius Cicero, Über das Schicksal, De Fato, lateinisch – deutsch, herausgegeben und übersetzt von Karl Bayer, München/Zürich 2000, S. 15. Im lateinischen Original lautet die Passage: „Quaero igitur – atque hoc late patebit –: si fati omnino nullum nomen, nulla natura, nulla vis esset, et forte temere casu aut pleraque fieren taut omnia, num aliter, ac nunc eveniunt, evenirent?“ (ebd., S. 14) Vergleiche auch folgende Äußerung Ciceros in De divinatione: „Wahrhaftig für alte Weiber bestimmt und voller Aberglauben ist allein schon der Begriff ‚Schicksal‘.“ Marcus Tullius Cicero, De divinatione. Über die Wahrsagung, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin, a.a.O., S. 151. Im Original lautet die Passage: „anile sane et plenum superstitionis fati nomen ipsum“ (ebd., S. 150.) Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 516. Plautus, Aulularia. Goldtopf-Komödie, Lateinisch/Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Herbert Rädle, Stuttgart 1978, S. 14.

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dess, bona dea, and a potential ally whose attention it is well worth trying to attract.“57 So wie Skinner bezeichnet auch Alfred Doren in seinem ausführlichen Überblick über „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, auf den ich mich in späteren Abschnitten des Kapitels noch häufiger beziehen werde, die Fortuna des römischen Kultus und des römischen Denkens als „die freundliche anthropomorphe Göttin des glücklichen, aber unberechenbaren Zufalls, der man sich mit Opfer und Gebet gläubig nahen, die man durch Kult und Anruf sich günstig stimmen konnte; die ähnlich, wie der Kairos, der richtig und keck erfasste Augenblick, im Wettkampf der Agora wie des Lebens ihren Schützlingen den Sieg zu gewähren wusste.“58 An anderer Stelle spricht Doren von der römischen Auffassung der Göttin Fortuna als „einer zwar wankelmütigen, aber doch im ganzen den Menschen freundlich im Diesseits geleitenden lebensbejahenden Wunschgöttin“59 . Zwar gescholten und angeklagt, wenn sie sich den Forderungen und Wünschen des Menschen entsagt, wird doch in der römischen Zeit niemals bestritten, dass die Göttin Fortuna dem Menschen, wenn auch nicht ausschließlich, so doch immerhin potenziell eine Fülle von irdischen Gaben und Belohnungen bereithält. Dieses zweite Charakteristikum der Göttin Fortuna, ihre zumindest potenzielle Wohlgesonnenheit gegenüber dem Menschen, zeigt sich zudem und besonders prägnant, wenn man die Relikte des religiösen Kultus oder auch die literarischen Quellen verlässt, vielmehr auf die künstlerischen Darstellungen der Zeit blickt und sich für die Ikonologie der Fortuna aufmerksam zeigt: Die Fortuna wurde im römischen Altertum – auf Marmorbildwerken und Reliefs ebenso wie auf unzähligen Münzen – stets als weibliche Figur dargestellt und stets mit dreierlei Symbolen oder Attributen ausgestattet: neben einem Füllhorn, welches Fortuna in der Linken hält, lassen sich sowohl das Steuerruder eines Schiffs, welches Fortuna in der rechten Hand hält, als auch zumeist ein Rad oder eine Kugel ausmachen. Das Füllhorn aber, das cornu copiae, enthielt traditionellerweise stets Obst und Getreide und symbolisierte damit für jeden Betrachter einer Fortunadarstellung in ganz offenkundiger Weise jene beiden Formen der Nahrung, die für den Menschen unverzichtbar sind. Auch das Schiffsruder zeugt wohl kaum von einer pessimistischen oder fatalistischen Beschwörung der ewigen Wiederkehr des Immergleichen, da doch jedes Schiff sich zumindest fortbewegt, wenn auch diese Fortbewegung nicht zwingend Gutes verspricht. Einzig das Rad deutet an, dass der Mensch von der Willkürlichkeit und Launenhaftigkeit der Fortuna immer wieder aufs Neue in die Abgründe des Daseins gezogen werden und die Fortuna wohl kaum zur Gänze oder zumindest nicht ausschließlich als eine dem Menschen wohlgesonnene Kraft verstanden werden kann. Es ist insofern von erheblicher Aussagekraft, wenn eine spätere Zeit in ihren künstlerischen Darstellungen von diesen drei die Fortuna in der römischen Zeit

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Quentin Skinner, Machiavelli, Oxford 1981, S. 25. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 73. Vergleiche hierzu auch K. Hampe, „Zur Auffassung der Fortuna im Mittelalter“, in: Archiv für Kulturgeschichte 17 (1926), S. 21. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 84.

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stets charakterisierenden ikonologischen Attributen nur noch eines betont, nämlich das Rad.60 Die Ikonologie der Fortuna, der sich entnehmen lässt, dass die Fortuna von den Römern immer auch als wohlgesonnen gedacht wurde, verdeutlicht die Kontinuität von römischer Fortuna und zumindest der Tyche der hellenistischen Zeit. Kajanto selbst sieht sich ja – und dies trotz seiner These einer Diskontinuität von römischer Fortuna und hellenistischer Tyche als Objekten kultischer Verehrung61 – gezwungen, hinsichtlich der ikonologischen Details der Darstellung von hellenistischer Tyche und römischer Fortuna durchaus eine Kontinuität zu konzedieren: „Fortuna was represented as a standing woman, with a rudder in her right, a cornucopia in her left hand. […] These attributes correspond to the representations of Greek Tyche. The rudder and the cornucopia were standard attributes of the Greek goddess as well.“62 Ebenso wie die Fortuna im Sinne einer autarken Göttin des Zufalls das charakterliche Merkmal ihrer Unberechenbarkeit und ihre daraus resultierende theoretische Unzugänglichkeit von der Tyche Pindars wie von der Tyche Menanders erbt, so vermacht die griechische Tyche der römischen Fortuna auch das wesensmäßige Charakteristikum, dem Streben und den Mühen der Menschen zumindest potenziell als bona fortuna wohlgesonnen zu begegnen. Wenn demnach, um damit wieder auf die beiden bislang erwähnten Charakteristika der autarken Göttin des Zufalls, wie sie die Römer sahen, zurückzukommen, wenn demnach für die römische Philosophie, Kunst und Literatur die Fortuna aufgrund ihrer Willkür und Unberechenbarkeit und einer daraus resultierenden theoretischen Unzugänglichkeit von einem notwendigen und gesetzmäßigen fatum zu unterscheiden ist, wenn daher die Fortuna auch keiner theoretischen Prognose oder Berechnung, und sei’s die Methode der divinatio, zugänglich ist, wenn ferner diese unberechenbare Fortuna den Ansinnen der Menschen zumindest neutral, ja potenziell wohlgesonnen ist – in den üblichen und häufig gebrauchten Begriffen von der prospera fortuna und der adversa fortuna zeigt sich ja überdeutlich, dass Glück und Unglück nicht zwei unterschiedlichen Wesen oder Göttern zugerechnet, sondern als Effekte einer doppelgesichtigen oder ja60

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Vergleiche hierzu die Bemerkung von Michael Schilling: „Das Attribut, das die mittelalterliche Fortuna kennzeichnet, ist fast ausschließlich das […] Rad. Während die rota Fortunae in der Antike als Zeichen der Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit der Göttin verstanden wurde, wird sie im Mittelalter vorwiegend auf den Menschen und sein Leben bezogen, dessen Auf und Ab mit der Drehung des Rades veranschaulicht wird. Demgemäß zeigen die mittelalterlichen Darstellungen der rota Fortunae nicht, wie es der antiken Vorstellung entsprochen hätte, die Schicksalsgöttin, sondern Menschen auf dem Rad.“ Michael Schilling, „Rota Fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Texten“, in: Wolfgang Harms und L. Peter Johnson (Hg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975, S. 297. Siehe dazu oben Anmerkung 35 auf Seite 519 dieses Kapitels. Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 518 f.

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nusgestaltigen Fortuna gedacht sind –, wenn also zumindest potenziell die Fortuna für den Menschen eine Fülle von wertvollen Gaben bereithält, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wie ein angemessener Umgang mit einer derart charakterisierten Fortuna zu denken ist, ob und wie es dem Menschen gelingen kann, einerseits die Wohltaten der Fortuna auf sich zu lenken, andererseits ihren Unbilden zu entgehen. Auch für die römische Fortuna stellt sich somit jene Frage, welche in der Auseinandersetzung mit der griechischen Tyche bereits vor und während des Hellenismus gestellt wurde und etwa von Pindar, Demosthenes oder auch noch Menander dahin gehend beantwortet wurde, dass die Tyche nicht nur als theoretisch unzugänglich, sondern auch als praktisch unverfügbar zu gelten habe, während sich wiederum in der Geschichtsschreibung des Hellenismus oder früher noch bei Thukydides zugleich auch Zeugnisse einer optimistischeren Einschätzung der Möglichkeiten eines grundsätzlichen Einwirkens auf die Tyche fanden.63 Und in der Tat: Während für die Römer das fatum unvermeidlich ist, ineluctabile, nichts ist, was jemals durch menschlichen Einfluss ausgeschaltet werden könnte, kann die Fortuna, und darin besteht nun ihre dritte wesentliche Eigenschaft, gemäß der römischen Auffassung durch menschliches Handeln beeinflusst werden.64 In dieser Hinsicht eignet der römischen Charakterisierung der Göttin Fortuna auch weiter gar keine Ambivalenz. Insofern ist sie in dieser Hinsicht wesentlich eindeutiger als die griechische Göttin Tyche, für die sich bezüglich der Frage ihrer praktischen Verfügbarkeit nicht in gleichem Maße ein einheitliches Bild ermitteln ließ. In dieser einen Hinsicht, aber auch nur in dieser einen, lässt sich die bislang so sehr aufdrängende These einer Kontinuität von römischer Fortuna und hellenistischer oder sogar klassischer Tyche nicht halten, ist das Verhältnis von römischer Fortuna und hellenistischer oder klassischer Tyche vielmehr durch Diskontinuität gekennzeichnet. Denn zahllos sind die schriftlichen Zeugnisse der Römer, in denen die Fortuna stets und eindeutig als durch menschliches Handeln und menschliche Leistung beeinflussbar geschildert wird. Es ist diese Beeinflussbarkeit oder Verfügbarkeit der Fortuna, welche grundsätzlich garantiert, dass der Mensch als Bezwinger der Fortuna und so gleichsam als Herr seines Schicksals reüssieren kann. Prinzipiell gilt, so konstatiert Sallust in seiner Schrift über die Catilinarische Veschwörung, dass sich zugleich mit den Sitten auch die Fortuna ändert: „fortuna simul cum moribus inmutatur.“65 Je stärker die Sitten, desto schwächer die Fortuna; je schwächer die Sitten, desto mächtiger die Fortuna. Und deswegen kann der Mensch dank eines tugendhaften Verhaltens, welches freilich in durchaus unterschiedlicher Weise konkretisiert wird, die Macht der Fortuna gleichsam beherrschen und besiegen. Ebendieser Topos findet sich in unterschiedlicher Form in der lateinischen Literatur immer wieder formuliert. Ganz in diesem Sinne schreibt Sallust auch zu Beginn der Epistulae ad Caesarem, dass „fabrum esse suae quemque fortunae“66 . Und die Unbestreitbarkeit dieser Lebensmaxime zeigt sich für Sallust auch darin, dass er die zuletzt genannte Schrift damit beginnen lässt, jede anderslautende Ansicht zurückzuweisen: 63 64

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Vergleiche dazu S. 104–108 und S. 174–183 des zweiten Kapitels dieser Arbeit. Vergleiche dazu grundsätzlich Georg Pfligersdorffer, „Fatum und Fortuna. Ein Versuch zu einem Thema frühkaiserzeitlicher Weltanschauung“, in: a.a.O., S. 1–30. Sallust, Werke. Lateinisch und deutsch, von Werner Eisenhut und Josef Lindauer, a.a.O., S. 8. Ebd., S. 318.

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„Früher galt es als sicher, dass Kronen und Reiche Geschenke der Fortuna seien, genau so wie alles andere, was von den Menschen heiß begehrt wird. Denn häufig befanden sie sich wie nach Laune vergeben in den Händen Unwürdiger, und keinem blieben sie ungeschmälert erhalten [meine Übersetzung; P. V.].“67 Doch diese ehedem geltende Ansicht hält Sallust für falsch; denn wie gesagt: fabrum esse suae quemque fortunae. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, sein Glück gleichsam zu fabrizieren. Jeder ist seines Glückes Schmied oder – um an dieser Stelle mit Goethe zu sprechen: Kein Mensch will bloß dem Glück was danken Und ob’s ihm Alles auch beschied Nein, jeder hegt gern den Gedanken Ich selbst war meines Glückes Schmied.68 Bezüglich der sich naturgemäß an diesen Topos und an diese römische These einer prinzipiellen praktischen Beeinflussbarkeit oder Verfügbarkeit der Fortuna anschließenden Frage, wodurch und mit Hilfe welcher charakterlichen Eigenschaften die Fortuna beeinflusst werden kann, entwickelt sich nun im römischen Denken freilich eine klare Alternative, die im Folgenden dargestellt werden soll, auch wenn dabei niemals vergessen werden darf, und wir werden darauf zurückkommen, dass es sich um alternative Ausgestaltungen der grundsätzlichen These einer praktischen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna handelt, die Alternative zwischen der ciceronischen Strategie einer gleichsam direkt ansetzenden Fortunabeeinflussung qua fortitudo und der stoischen Strategie der Fortunavermeidung qua prudentia. So taucht nun einerseits und besonders prominent der Topos auf, dass die Fortuna durch Tapferkeit, durch fortitudo, demnach durch eine der vier antiken Kardinaltugenden ganz direkt beeinflusst werden kann. Die Fortuna, so formuliert diese Variante der Fortunabewältigungspraxis weiterhin, stehe stets auf Seiten der Tapferen, ein Gedanke, der sich einer Fülle von Formulierungen bei verschiedenen Autoren zu unterschiedlichen Zeiten entnehmen lässt: „Fortis Fortuna adiuvat“ (Terenz, Phormio I,4,26), „Audentes fortuna iuvat“ (Vergil, Aeneis I,10,284), „Fortuna fortes metuit, ignavos premit“, so lauten einige dieser Formulierungen.69 In den Annalen des Ennius heißt es in ebendiesem Sinne und vielleicht am präzisesten formuliert: „fortibus est fortuna viris data.“70 Livius zeigt sich in seiner bereits mehrfach zitierten Römischen Geschichte überzeugt,

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Ebd., S. 319. Im Original lautet die Passage: „Pro vero antea optinebat regna atque imperia fortunam dono dare, item alia, quae per mortaleis avide cupiuntur, quia et apud indignos saepe erant quasi per libidinem data neque cuiquam incorrupta permanserant.“ (ebd., S. 318) Hier zitiert nach Nicholas Rescher, Glück. Die Chancen des Zufalls, Berlin 1996 (1995), S. 172. Vergleiche hierzu die ausführliche Zusammenstellung bei H. R. Patch, „The Tradition of the Goddess Fortuna in Roman Literature and in the Transitional Period“, in: a.a.O., S. 148. Hier zitiert nach Quintus Ennius, I Frammenti degli Annali, herausgegeben und übersetzt von Raffaele Argenio, o. O. 1968, S. 82.

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dass „eventus docuit fortes fortunam iuvare.“71 Diese Beschwörung von Tapferkeit als die angemessenste menschliche Umgangsweise mit den Tücken der Fortuna, als die angemessenste Methode, um auf die Fortuna einzuwirken und sie im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen und quasi zu besiegen, predigt aber keinen Verstoß gegen tradierte Sitten oder auch nur eine Ignoranz moralischer Vorschriften. Tapferkeit, fortitudo, wird vielmehr als Inbegriff von Tugend, ja als der Gipfel der Tugendhaftigkeit gesehen, wie exemplarisch folgende Passage aus Ciceros Tusculanae Disputationes verdeutlicht: „Und überlege, da alle richtigen Verhaltensweisen der Seele Tugenden [„virtutes“ im Original; P. V.] genannt werden, ob nicht dies der unpassende Name für alle ist, sondern alle nach der benannt sind, die allein aus den übrigen hervorragte. Der Begriff Tugend nämlich ist abgeleitet vom ‚Mann‘ [„appellata est enim ex viro virtus“ im Original; P. V.]; dem Mann aber besonders zu eigen ist die Tapferkeit [„fortitudo“ im Original; P. V.], die zwei sehr bedeutende Leistungen mit sich bringt: die Verachtung von Tod und Schmerz. Wir müssen diese also erfüllen, wenn wir an der Tugend teilhaben oder besser, wenn wir Männer sein wollen, weil ja die Tugend ihren Namen von den Männern hergeleitet hat.“72 Standhaftigkeit oder Tapferkeit des Geistes im Angesicht der adversa fortuna ist nicht als vernunftloses oder tugendfreies Vermögen zu begreifen. Tapferkeit ist höchste Tugend, Tugend zeigt sich in Tapferkeit, Vernunft assistiert der Tapferkeit, Tapferkeit bedarf – „denn es gibt keine Tapferkeit ohne Vernunft“73 , wie Cicero ausdrücklich konstatiert – der Vernunft: „Denn dem Tapferen hilft nicht nur das Glück, wie es in einem alten Sprichwort heißt, sondern noch viel mehr die Vernunft, die gleichsam durch bestimmte Vorschriften die Kraft der Tapferkeit stärkt.“74 Die Tapferkeit ist mithin nicht ein vernunftloses oder tugendfreies Ideal der menschlichen Auseinandersetzung mit der Fortuna, sie ist vielmehr jene zugleich vernünftige und tugendhafte geistige Haltung, mit deren Hilfe sich die Unbilden der Fortuna einzig beeinflussen und bezwingen lassen. Denn, so heißt es bei Cicero, in jenen Situationen, da das Schicksal mit all seinen Härten zuschlägt, gilt: „Als erste wird die Tapferkeit helfen.“75 Im zweiten Buch der Tusculanae Disputationes verdeutlicht Cicero den männlichen und tapferen und insofern gerade in exemplarischer Weise tugendhaften Umgang mit den 71

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Titus Livius, Römische Geschichte, Buch VII–X, lateinisch und deutsch, herausgegeben von Hans Jürgen Hillen, München/Zürich 1994, S. 190. Marcus Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum, übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, a.a.O., S. 193. Ebd., S. 345. Im lateinischen Original lautet die Passage: „Neque enim est ulla fortitudo, quae rationis est expers.“ (ebd., S. 344) Ebd., S. 161. Im lateinischen Original lautet die Passage: „fortis enim non modo fortuna adiuvat, ut est in vetere proverbio, sed multo magis ratio, quae quibusdam quasi praeceptis confirmat vim fortitudinis.“ (ebd., S. 159) Ebd., S. 253. Im Original: „iam tibi aderit princes fortitudo“ (ebd., S. 252)

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Unbilden der Fortuna am Beispiel der Bewältigung des Schmerzes: Seine immer wieder in unterschiedlichsten Formulierungen entwickelte Maxime für den Umgang mit dem Schmerz bringt er dabei so auf den Begriff: „Hüte dich vor allem Schändlichen, Schlaffen, Unmännlichen.“76 Umgekehrt können die Unbilden einer adversa fortuna, etwa der Schmerz oder auch der Kummer, dem Tapferen nichts anhaben. „So ergibt sich, dass Kummer und Tapferkeit nicht miteinander zu vereinbaren sind“77 , heißt es im dritten Buch der Tusculanae Disputationes, welches dem richtigen Umgang mit dem Kummer gewidmet ist. An anderer Stelle fasst Cicero den angemessen Umgang mit den Schattenseiten der Fortuna zusammen, indem er Pacuvius zitiert: „Man darf sich über das Unglück beklagen, aber nicht jammern. Das ist die Pflicht eines Mannes, das Weinen gehört zum Wesen der Frau.“78 Dabei bezweifelt Cicero keinen Augenblick, dass alle menschlichen Lebensbezüge immer wieder in unberechenbarer und doch höchst relevanter Weise den Launen der Fortuna unterworfen sind, sich die Fortuna keinesfalls nur im Schmerz ausspricht. Der wahrhaft standhafte und tapfere Mann zeichnet sich aber nun gerade dadurch aus, dass er sich den „stimulos doloris“ ebenso als überlegen erweist wie den „fulmina fortunae“79 . Er weiß, dass zwar die „Störungen des Körpers“ ohne eigene Schuld eintreten mögen, die Störungen der Seele aber niemals.80 Deswegen liegt es, folgen wir Cicero, stets in den Händen des Menschen, durch Tapferkeit und die sich in dieser Tapferkeit artikulierende Tugend und Vernunft den Schmerz zu überwinden und zu besiegen.81 Die Tapferkeit und die sich in dieser Geisteshaltung artikulierende Tugend und Vernunft, sie sind mächtiger als die willkürlichen Launen und die Unberechenbarkeit der Fortuna, so lautet der Tenor des gesamten fünften Buches der Tusculanae Disputationes. Würde diese Möglichkeit der Beeinflussung der Fortuna dank des geistig-seelischen Ensembles der Attitüden und Haltungen von fortitudo, virtus und ratio hingegen geleugnet, ginge man davon aus, dass auch die Tugend „den verschiedenen und ungewissen Schicksalsschlägen unterworfen“82 sei, könnten wir uns im Hinblick auf ein glückliches Leben nicht auf die „Verläßlichkeit der Tugend“83 , auf die „virtutis fiducia“ stützen, dann bliebe uns in der Tat nichts mehr zu tun übrig, dann müssten wir in der Tat, so konstatiert 76

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Ebd., S. 201. Im Original: „‚cave turpe quicquam, languidum, non virile.‘“ (ebd., S. 200) Ebd., S. 231. Im Original heißt es: „ita fit ut fortitudini aegritudo repugnet.“ (ebd., S. 230) Ebd., S. 199. Im Original lautet die Passage bei Pacuvius: „Conqueri fortunam adversam, non lamentari decet: Id viri est officium, fletus muliebri ingenio additus.“ Ich zitiere nach Corpus Omnium Veterum Poetarum Latinorum, Tomus II, a.a.O., v. 263–264. Marcus Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum, übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, a.a.O., S. 212. Vergleich dazu die etwa die Passage: „sed corporum offensiones sine culpa accidere possunt, animorum non item.“ (ebd., S. 326) „ergo est in potestate est abicere dolorem“ (ebd., S. 278), so heißt es bei Cicero. Ebd., S. 379. Im Original heißt es: „subiecta sub varios incertosque casus famula fortunae“ (ebd., S. 378) Ebd., S. 379.

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Cicero resignierend, „zu Gebeten an die Götter unsere Zuflucht nehmen“84 . Aber wie schon die Diskreditierung solcher Gebete als Ausflucht zu erkennen gibt, will Cicero eine solche Einschätzung des Kräfteverhältnisses von menschlichem Vermögen einerseits, Fortuna andererseits, nicht zugeben: „Denn wenn es überhaupt eine Tugend gibt […], dann hat sie alles, was einem Menschen widerfahren kann, unter sich, schaut darauf herab und verachtet die menschlichen Schicksalsschläge“85 . Ciceros Auffassung der Fortuna ist mithin in konstitutiver Weise von der Dichotomie von virtus im Sinne von fortitudo einerseits, Fortuna andererseits geprägt, billigt dabei aber virtus im Sinne von fortitudo stets die Suprematie zu und lässt sich mithin und explizit, so viel dürfte bereits jetzt klar geworden sein und muss freilich im dritten Abschnitt dieses Kapitels noch ausführlich belegt werden, tatsächlich als Frühform und Vorläuferin jenes „typischen RenaissanceMotivs“86 deuten, welches Garins Interpretation des Renaissance-Humanismus so sehr betont: virtù vince fortuna. So viel zu Ciceros Lehren und Empfehlungen für den Umgang mit der Fortuna, die ja, wie wir sagten, nur eine Version oder konkrete Ausgestaltung der für die römische Fortunathematisierung konstitutiven These einer prinzipiellen praktischen Beinflussbarkeit der Fortuna darstellen. Ich erwähnte bereits, dass sich im römischen Denken aber noch eine andere Form der Fortunabewältigungspraxis formuliert findet, noch eine andere Version der These einer prinzipiellen praktischen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna entwickelt wird, nämlich eine, die weniger die fortitudo des Tapferen und insofern Tugendhaften, als vielmehr die prudentia des Weisen und insofern Tugendhaften als die angemessenste Rezeptur gegen die Unbilden einer adversa fortuna preist und in den Mittelpunkt ihrer Therapievorschläge rückt. Während der Tapfere im Sinne Ciceros durch die Disziplinierung bestimmter Affekte und die Erzeugung bestimmter Attitüden, etwa in der Konfrontation mit Tod, Schmerz oder Kummer, die Fortuna gleichsam überwinden und besiegen kann, zeichnet es den Weisen im Sinne einer stoischen Weltanschauung aus, dass er die Fortuna gleichsam umgeht oder die Begegnung mit ihr vermeidet, weniger auf die Fortuna in einem ganz direkten Sinne qua fortitudo abzielt, als sich vielmehr dem Einfluss der Fortuna entzieht, es kraft seiner prudentia vermeidet, der Fortuna ausgesetzt zu sein und sich ihr gerade dadurch als überlegen erweist. W. R. Newell umschreibt diese stoische Strategie einer Fortunavermeidungspraxis qua prudentia so: „The goal is not to subdue fortune in the service of desire, but to transcend desire – desire being the chief way in which fortune undermines us. Thus one can minimize the reverses of fortune, not by trying to master the world, but precisely by resisting the passion to master it.“87

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Ebd., S. 379 f. Ebd., S. 381. „illa enim, si modo est ulla virtus […], omnia, quamquae cadere in hominem possunt, subter se habet eaque despiciens casus contemnit humanos“ (ebd., S. 380), heißt es im Original. Vergleiche dazu Anmerkung 3 auf S. 505 in diesem Kapitel. W. R. Newell, „How Original is Machiavelli?: A Consideration of Skinner’s Interpretation of Virtue and Fortune“, in: Political Theory 15 (1987), S. 624.

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Nutzen und Kosten des Wirkens der Fortuna werden durch diese stoische Variante der Fortunabewältigungspraxis, eine Fortunavermeidungspraxis qua prudentia, wie man sagen könnte, gewissermaßen externalisiert, sodass die einzig wahrhaft geltenden, nämlich inneren Güter von dieser Fortuna unbehelligt bleiben, während für Cicero, wie wir sahen, der Tapfere und seine fortitudo ganz direkt auf die Fortuna einwirken, die externen und internen Unbilden der Fortuna gleichermaßen übertrumpfen: „Wenn für Seneca ‚sapientia‘ und ‚prudentia‘ geeignete Waffen gegen Fortunas Unbill sind, so sind es ‚virtus‘, ‚fortitudo, aber auch ‚ratio‘ und ‚diligentia‘ bei Cicero.“88 In Senecas Epistulae Morales heißt es in diesem Sinne, „sapiens quidem vincit virtute fortunam“89 . Und schon lange vor Seneca schrieb Plautus in seiner Komödie Trinummus: „nam sapiens quidem pol ipsus fingit fortunam sibi“90 . Die Differenz zwischen stoischer und ciceronischer Form der Fortunabewältigunspraxis, zwischen ciceronischer Fortunabeeinflussung qua fortitudo und stoischer Fortunavermeidung qua prudentia lässt sich präzise dem zweiten Buch der Tusculanae Disputationes entnehmen, welches dem Phänomen und der Verarbeitung des Schmerzes gewidmet ist: Cicero fordert in diesem Buch zu einer männlich-tapferen Bezwingung des Schmerzes auf, gerade weil dieser Schmerz unbezweifelbar existiert. Hingegen kritisiert Cicero die Stoa gerade dafür, dass sie durch „nichtssagende Schlussfolgerungen“ zu begründen versuche, warum der „Schmerz kein Übel sei“91 . Der Schmerz gilt Cicero nicht als ein Phantom, dessen Schleier der Weise nur zu heben bräuchte, um ein darunter liegendes Vakuum zu gewahren, welches Unbilden zu verursachen niemals in der Lage wäre, sondern der Schmerz ist für Cicero unleugbares factum brutum des menschlichen Lebens, eben deshalb aber auch ein durchaus satisfaktionsfähiger Kontrahent für menschliche fortitudo im Sinne des höchsten Ausdrucks von virtus: „Der Schmerz sticht, oder er mag dich sogar durchbohren: Wenn du nackt bist, biete ihm die Kehle; wenn du aber mit den Waffen des Volcanus versehen bist, das heißt mit der Tapferkeit, leiste Widerstand; denn wenn du es nicht so machst, wird dich diese Hüterin deiner Würde [gemeint ist die fortitudo; P. V.] verlassen und preisgeben.“92

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Ehrengard Meyer-Landrut, Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, München/Berlin 1997, S. 20. Lucius Annaeus Seneca, Ad Lucilium. Epistulae Morales, herausgegeben von L. D. Reynolds, Oxford 1965, S. 216. Plautus, Comoediae, Tomus II, herausgegeben von W. M. Lindsay, Oxford 1963, (ohne Seitenangabe). Marcus Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum, übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, a.a.O., S. 177. Im Original ist von „ratiunculas“ (ebd., S. 176) die Rede. Ebd. S. 181 f. Im Original lautet die Passage: „pungit dolor, vel fodiat sane: si nudus est, da iugulum; sin tectus Volcaniis armis, id est fortitudine, resiste; haec enim te, nisi ita facies, custos dignitatis relinquet et deseret.“ (ebd., S. 180 f.)

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Der Kampf zwischen Tapferkeit und Schmerz ist für Cicero mithin alles andere als ein geistig-seelisches Schattenboxen, und dieser Kampf führt – so oder so – zu einem eindeutigen Ergebnis: „Man muß also die Tapferkeit preisgeben oder den Schmerz begraben“93 , heißt es im zweiten Buch der Tusculanae Disputationes. An diese ciceronische Auffassung des menschlichen Schmerzes und insbesondere der Bewältigung des menschlichen Schmerzes schließt im Übrigen noch der Renaissance-Humanist Leonardo Bruni überaus deutlich an, wenn er in seiner kurzen Schrift Isagogicon moralis disciplinae, 1421/1424 entstanden, gegen das stoische Rezept einer Externalisierung aller Güter oder Übel der Fortuna einwendet: „Corporis autem et fortunae commoda negant esse bona, contraque illorum incommoda negant mala esse.“94 Die Güter oder Übel der Fortuna sind für Cicero wie für Bruni real und lassen sich durch keinen geistig-seelischen Akt sublimieren. Gerade deshalb bedarf es ihrer Beeinflussung durch den direkten Eingriff eines tapferen und entschlossenen Handelns. Die Stoa hingegen formuliert eine radikale Externalisierung aller Güter oder Übel der Fortuna und eine radikale Privilegierung der subjektiven Innerlichkeit. Güter oder Übel, die einmal externalisiert und damit in ihrer Bedeutung marginalisiert sind, können die niemals zu stürmende Zitadelle der subjektiven Innerlichkeit nicht mehr beeinflussen. Diese Art von stoischer Fortunavermeidungspraxis lässt sich prägnant dem Ende von Senecas Schrift De providentia entnehmen: Keine Waffe ist der Fortuna gegeben, so schreibt Seneca dort, mit der sie die innere Seelenstärke des stoischen Weisen zerschlagen, die feste Burg der stoischen ataraxia oder tranquillitas animi erobern könne. Was versteht Seneca unter dieser inneren Gemütsruhe? Max Pohlenz schreibt hierzu: „Seneca verstand darunter die Freiheit von Sorgen und Aufregungen, die dem Menschen als Frucht seiner unerschütterlich festen sittlichen Haltung zuteil wird. Sie entspricht der griechischen ‚Ataraxie‘, dem Terminus, der schon lange in der Stoa statt des vielgegriffenen Wortes ‚Apathie‘ zur Bezeichnung des idealen Seelenzustandes üblich geworden war“95 . In der Innerlichkeit findet sich demnach alles Gute und Wertvolle eines Lebens, und in dieses Reich der Innerlichkeit gewährt der stoische Weise weder einer bona fortuna noch einer mala fortuna Zutritt. Der stoische Weise erweist sich der Fortuna quasi indirekt und dadurch als überlegen, dass er die Tücken ebendieser Fortuna für gering achtet: „Effugere ista non potes, contemnere potes“, heißt in Senecas Briefen (ep. 37,3).96 Ger93

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Ebd., S. 181. Im Original lautet die Passage: „amittenda igitur fortitudo est aut sepeliendus dolor.“ (ebd., S. 180) Leonardo Bruni, „Isagocicon moralis disciplinae“, in: Hans Baron (Hg.), Leonardo Bruni Aretino. Humanistisch-Philosophische Schriften mit einer Chronologie seiner Werke und Briefe, Leipzig 1928, S. 26. Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1947, S. 309. Zu gleichlautenden oder zumindest ähnlichen Empfehlungen im Werk Senecas vergleiche den Aufsatz von Gerda Busch: Gerda Busch, „Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca“, in: Antike und Abendland 10 (1961), S. 131–154. Busch resümiert ihre Untersuchung von Senecas Variante der Fortunabewältigungspraxis so: „Es zeigt sich also, dass die stoischen Werte sämtlich von der fortuna unabhängig sind. Weder die virtus – als das höchste Gut – noch die Ruhe des Gemütes oder die wahre Glückseligkeit dürfen

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da Busch fasst Senecas „beständiges Ringen um die Entmachtung der Fortuna“97 im Geiste der stoischen Philosophie so zusammen: „Zwar sind wir alle an die fortuna gekoppelt […], aber kraft des geistigen Sieges sind wir frei von ihr.“98 Auf dem Grunde der stoischen Variante der These einer prinzipiell möglichen praktischen Beeinflussung der Fortuna findet sich eine andere Dichotomie als in der ciceronischen Variante. Die Fortuna konkurriert nicht mit einer virtus im Sinne von fortitudo. Vielmehr stehen sich, so interpretiert Arvast Nordh die stoische Fortunaauffassung und die für sie konstitutiven Komponenten, gegenüber einerseits „the blind incalculable sweep of irrational impulses and fickle incidents, on the other a solid world of its own, built up by the mind and the moral forces by its own laws and standards and unshaken by the stormy chaos of the fortuna.“99 Auch der stoische Umgang mit der Fortuna, die stoische Fortunavermeidung durch prudentielle Privilegierung der subjektiven Innerlichkeit, die Empfehlung, dass nicht in der direkten Konfrontation, sondern in einem Akt der intellektuellen oder geistigen Distanzierung sich die menschliche Überlegenheit über die Unbilden der Fortuna bewährt – „nam sapiens quidem pol ipsus fingit fortunam sibi“, hieß es, wie wir sahen, bei Plautus –, lässt sich, so wie schon die ciceronische Version der Fortunabewältigungspraxis und deren römische Frühformen und Wegbereiter – erinnert sei an das oben zitierte audentes fortuna iuvat aus Vergils Aeneis oder Terenz’ fortis fortuna adiuvat –, bei einer ganzen Reihe von Autoren auffinden. Nicht aktivisch-direkte Beeinflussung der Fortuna qua fortitudo, sondern intellektuelle Distanzierung von den korrumpierenden Effekten der prospera fortuna wie von den Unbilden der adversa fortuna lautet gemäß dieser Sichtweise die Maxime, welche die angemessene menschliche Reaktion auf die Fortuna auf den Begriff bringt. Horaz schreibt in c. III, 29 unmittelbar an die weiter oben dieser Ode bereits entnommenen Passagen: Wohl, wenn sie treu bleibt: hebt sie die Fittiche Zur Flucht, entsag’ ich ihren Geschenken gern,      Ich hülle mich in meinen Wert und           Wähl’ ohne Mitgift die brave Armut.100 Die Exilschriften Ovids geben ebenfalls diese Einschätzung der Fortuna wie auch den stoischen Glauben an die Suprematie des menschlichen Geistes über die Macht der For-

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einer so launischen Macht etwas zu danken haben. Dass trotzdem die Gedanken fast ständig um fortuna kreisen, beweist nur, dass die Popularphilosophie nicht umhin kann, das gefundene ethische System am letztmöglichen Maßstab zu prüfen.“ (S. 144) Ebd., S. 154. Ebd., S. 152. Arvast Nordh, „Virtus and Fortuna in Florus“, in: Eranos 50 (1952), S. 111. Horaz, Sämtliche Werke, lateinisch und deutsch, herausgegeben von Hans Färber bzw. übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne, a.a.O., S. 170 bzw. 171. Das lateinische Original lautet: laudo manentem: si celeres quatit pinnas, resigno quae dedit et mea      virtute me involve probamque           pauperiem sine dote quaero.

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tuna zu erkennen. In den Tristia schreibt Ovid an seine Frau, dass, mag die Fortuna ihm auch vieles versagen, er durch sein Talent für die Dichtkunst, durch sein ingenium, dafür Sorge tragen werde, dass Sie, seine Gattin, die Unbilden der Fortuna überleben werde: Mag die Fortuna [meine Übersetzung; P.V:] auch dem Verfasser gar vieles versagen,      du wirst zu strahlendem Ruhm kommen durch meinen                                                              Gesang: wahrlich, solang man mich liest, wird mit mir dein Lob auch                                                              gelesen;101 Wie auch immer nun die skizzierte Alternative und Ambivalenz des römischen Denkens zwischen ciceronischer Fortunabeeinflussung qua fortitudo und stoischer Fortunavermeidung qua prudentia zu gewichten wäre102 , ob im römischen Denken mehr die direkte Einwirkung auf die Fortuna qua fortitudo im geschilderten ciceronischen Sinne oder mehr die Umgehung oder Vermeidung der Fortuna qua prudentia im stoischen Sinne intellektuelle und kulturelle Dominanz beanspruchen konnte, beide Varianten dieses römischen Rezepts für den menschlichen Umgang mit der Fortuna setzen, daran muss unbedingt erinnert sein, die ganz grundsätzliche Möglichkeit einer praktischen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna durch ein wie auch immer aufzufassendes menschliches Vermögen voraus. Gerade nicht jene praktische Unverfügbarkeit der Fortuna, wie sie sich im zweiten Kapitel dieser Arbeit für weite Phasen der griechischen Thematisierung der Tyche als konstitutiv erwies, wird durch das römische Denken suggeriert, sondern die These einer praktischen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna wird formuliert und freilich dabei unterschiedlich ausgestaltet. Insofern lassen sich ciceronische Fortunadomestizierung und stoische Fortunavermeidung durchaus als Varianten des einen Topos virtus vincit fortunam und insofern gleichermaßen als Frühformen und Wegbereiter eben jenes von Garin hervorgehobenen Renaissance-Topos virtù vince fortuna begreifen. Es handelt sich bei der geschilderten Kontrastierung von Senecas und Ciceros Rezept der Fortunabewältigung mithin gerade nicht um eine Alternative von sich wechselseitig ausschließenden Gliedern, sondern vielmehr um sich ergänzende Facetten ein und derselben These einer prinzipiellen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit 101

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Publius Ovidius Naso, Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae Ex Ponto, lateinisch und deutsch, übertragen von Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg, a.a.O., S. 284 bzw. 285. Das lateinische Original lautet: Detrahat auctori multum fortuna licebit,      tu tamen ingenio clara ferere meo; dumque legar, mecum pariter tua fama legetur, […]. Diese Ambivalenz hat Eduard Mayer im stoischen Begriff der Tugend selbst angelegt gefunden, wenn er schreibt, der Begriff der Tugend umfasse für die Stoa „alle Kräfte, die dem einzelnen Selbständigkeit und Unabhängigkeit geben gegenüber der Außenwelt und den Wechselfällen des Schicksals. Hier vollzieht sich auch schon die Verbindung intellektualistischer und voluntaristischer Auffassung der Tugend“ Eduard Mayer, Machiavellis Geschichtsauffassung und sein Begriff virtù. Studien zu seiner Historik, Berlin/München 1912, S. 16.

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der Fortuna, die für das römische Denken durchgängig konstitutiv ist: „Einsicht und Kraft müssen sich verbinden, wenn der Mensch widrigem Schicksal standhalten will: weise sein kann nur, wer auch Stärke besitzt, ‚kräftig sich zeigen‘ kann man nicht ohne Weisheit.“103 Am Beispiel Senecas hat Gerda Busch diese letztliche Assimilierung von Tapferkeit und Weisheit, von fortitudo und prudentia, im Begriff der virtus als des einen probaten remedium gegen die Unbilden der Fortuna, als des einen probaten Mediums der Fortunabewältigungspraxis, so auf den Begriff gebracht: „[…] virtus eignet dem Tapferen wie dem Weisen. In dieser doppelten Bedeutung tritt der Virtus-Begriff bei Seneca klar hervor. Virtus ist einerseits mannhafte Triebkraft, andererseits tüchtiges Denken; tapferes Handeln (oder sich Bewähren) einerseits, gutes und richtiges Erkennen andererseits. […] jede Eigenschaft, die den Namen virtus verdient, beruht auf einem Wissen und jede brauchbare Einsicht ist eben ein Mittel zur männlichen Selbstbehauptung.“104 Alle Tugenden, welchen auch immer dabei der höchste Ehrenplatz zukommen mag, kulminieren somit für das römische Denken insgesamt im Idealbild jenes vir virtutis, wie ihn Cicero in seinen Tusculanae Disputationes beschrieben hat, jener Person, deren Äußerungen steter Ausdruck der einen virtus sind. Und es ist dieser vir virtutis, mag nun mehr seine Klugheit oder seine Tapferkeit in den Vordergrund gestellt werden, an dem die Kräfte der Fortuna stets wirkungslos abprallen, welcher somit die These einer prinzipiellen praktischen Verfügbarkeit und Beeinflussbarkeit der Fortuna belegt und illustriert. Diesbezüglich, bezüglich der grundsätzlichen Akzeptanz des Topos, wonach die Fortuna durch menschliche Leistungen und Vermögen und eben durch Tugend als höchste Form dieser Leistungen und Vermögen zu beeinflussen ist, bezüglich der grundsätzlichen Auffassung einer prinzipiellen praktischen Verfügbarkeit und Beeinflussbarkeit der Fortuna ist gar kein Unterschied zwischen Stoa und Cicero.105 In Ciceros De natura deorum heißt es in diesem Sinne und interessanterweise im Vortrag des Stoikers Balbus: „Für tüchtige Männer jedoch nimmt alles stets einen glücklichen Verlauf, jedenfalls wenn die Philosophen unserer Tage und auch Sokrates, die größte philosophische Autorität, die segensreichen Möglichkeiten der Tugend zutreffend dargestellt haben.“106

103 104 105

106

Gerda Busch, „Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca“, in: a.a.O., S. 137. Ebd., S. 147 f. Vergleiche hierzu Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 534. Marcus Tullius Cicero, De natura deorum. Über das Wesen der Götter. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, a.a.O., S. 275. Im lateinischen Original heißt es bei Cicero: „Magnis autem viris prosperae semper omnes res, siquidem satis a nostris et a principe philosophiae Socrate dictum est de ubertatibus virtutis et copiis.“ (ebd., S. 274)

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Dass für „tüchtige“ oder tugendhafte Männer, wie auch immer dies zu verstehen sein mag, „alles stets einen glücklichen Verlauf“ nimmt, dass also die Fortuna prinzipiell praktisch beeinflussbar und verfügbar ist, dieser Ansicht ist auch Seneca. In seinem Dialog De Constantia Sapientis formuliert Seneca die letztendliche lebenspraktische Empfehlung, in welche beide Varianten der Fortunabewältigungspraxis, die stoische wie die ciceronische münden, so: „nihil eripit fortuna, nisi quod dedit: virtutem autem non dat“107 . Wem eben dies gelingt, die Fortuna kraft einer wie auch immer konkretisierten virtus zu bewältigen, der hat, wie Seneca in De providentia bilanziert, die höchste menschliche Bestimmung erfüllt. Nichts Höheres und Edleres kann es geben als einen „vir fortis cum fortuna mala compositus“108 , als einen tapferen Mann, der mit den Übeln der Fortuna konfrontiert ist und diese Konfrontation – wie auch immer ihm dies gelingen mag – siegreich besteht. „Ich sehe nicht“, so schreibt Seneca in derselben Schrift, „was Jupiter auf Erden Schöneres finden könnte, falls er sein Augenmerk darauf richten wollte, als Cato zu sehen, wie er, obwohl seine Partei schon öfter geschlagen war, nichtsdestoweniger zwischen den Trümmern des Staates aufrecht stand.“109 Wie auch immer die virtus also von den beiden skizzierten Versionen römischer Fortunabewältigungspraxis konkretisiert wird, kein Zweifel kommt dem römischen Denken, dass einer ganz bestimmten Form der Mühe, Anstrengung und des praktischen Einwirkens die Fortuna prinzipiell praktisch verfügbar ist, und dass der Lohn dieser Mühe und Anstrengung 107

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Lucius Annaeus Seneca, Dialogorum Libri Duodecim, herausgegeben von L. D. Reynolds, Oxford, 1977, S. 22. Diese Formulierung Senecas sowie die Tatsache, dass sich bei ihm der Begriff der Fortuna „perhaps more numerous and worked out in more detail than in any major Roman writer“ findet, steht natürlich in offenkundigem Kontrast zu der stoischen Doktrin eines lückenlosen fatums. „It is, however, futile to expect excessive consistency in a writer like Seneca, who was not so much an original thinker as a disseminator of Stoic doctrines. A writer of this type has to make concessions to popular taste and even to popular ideas. Moreover, Seneca was a rhetorical author anxious to adorn his style with all kind of devices. Fortuna, with all her well-known symbols and characteristics, was a figure that could be turned to use to give the exposition of philosophical doctrines vividness and descriptive power.“ Iiro Kajanto, „Fortuna“, in: Haase, Wolfgang und Hildegard Temporini (Hg.) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Band II, 17,1, a.a.O., S. 541 bzw. 542 f. Gerda Busch hingegen vertritt die These einer durchgängigen Konsistenz von Senecas Fortunaauffassung und der von dieser anempfohlenen praktischen Bewältigungsstrategie: „Mit einem Schwanken der Denkungsart oder einer Wandlung, die sich etwa aus der (ja nicht durchweg bekannten) Chronologie der Werke ablesen ließe, hat dies offensichtlich nichts zu tun […] Seneca räumt da, wo er die alten Anschauungen von des Glückes blinder Gewalt vorträgt oder vortragen lässt, solcher Meinung nur deshalb Platz ein, um sie schließlich als einen Wahn zu bekämpfen […] Immer geht es um die Frage: wie können wir uns der fortuna überlegen erweisen?“ Gerda Busch, „Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca“, in: a.a.O., S. 144 f. Lucius Annaeus Seneca, De otio/Über die Muße. De Providentia/Über die Vorsehung. Lateinisch/ Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Gerhard Krüger, Stuttgart 1996, S. 32. Ebd., S. 33 f. Im Original lautet die Passage: „Non video, inquam, quid habeat, in terris Iuppiter pulchrius, si eo convertere animum velit, qua mut spectet Catonem iam partibus non semel fractis stantem nihilo minus inter ruinas publicas rerum.“ (S. 32 f.)

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in Ehre, Ruhm und einem das höchste Gut erlangenden Leben besteht. In diesem Sinne äußert Cicero im zweiten Buch der Tusculanae Disputationes die Meinung, dass die sich in der Auseinandersetzung mit der Fortuna bewährende virtus das summum bonum des menschlichen Lebens sei: „Ich will aber sagen, dass das für den Menschen bei weitem das beste ist, was selbst an sich erstrebenswert ist, was von der Tugend ausgeht oder in der Tugend selbst liegt, was von sich aus lobenswert ist, und was ich eher das einzige als nicht das höchste Gut nennen möchte.“110 Die aufschlußreichste und zugleich prägnantesteste Kontrastierung von virtus und Fortuna sowie die These einer zumindest potenziellen praktischen Verfügbar- und Beeinflussbarkeit der Fortuna, wie sie sowohl der ciceronischen als auch der stoischen Version einer Fortunabewältigungspraxis theoretische Voraussetzung ist, findet sich meines Erachtens aber weder bei Seneca noch bei Cicero, sondern gleich am Beginn von Sallusts Schrift über den Bellum Iugurthinum. Ich zitiere eine längere Passage aus diesem Werk: „Zu Unrecht beklagt sich das Menschengeschlecht über seine Natur, dass sie schwach und von kurzer Dauer sei und mehr vom bloßen Zufall als von der eigenen Kraft [„quam virtute“ im Original; P. V.] gelenkt werde. Denn wenn man die Gegenrechnung macht, dürfte man finden, dass es nichts anderes Größeres und Vortrefflicheres gibt und dass unserer Natur eher der Leistungswille abgeht als Kraft und Dauer. Die Führung und Herrschaft im Menschenleben hat aber der Geist. Wenn dieser auf der Bahn der Tüchtigkeit [„via virtutis“ im Original; P. V.] zum Ruhm fortschreiten will, hat er auch Kraft, Stärke und Klarheit in vollem Maße und braucht die Gunst des Glückes [„fortuna“ im Original; P. V.] nicht; denn dieses vermag ja niemandem Rechtlichkeit, Leistungswillen und andere gute Eigenschaften zu geben oder zu entreißen. Wenn der Mensch aber, verstrickt in verkehrte Leidenschaften, nach dem flüchtigen Genuß schädlicher Lust bis zur Trägheit und zu körperlichen Vergnügungen abgesunken ist und wenn infolge der Untätigkeit Kräfte, Zeit und Geistesgaben zerronnen sind, dann klagt man die Schwäche unserer Natur an; jeder schiebt trotz eigener Verantwortung seine Schuld auf die Verhältnisse. Wenn sich die Menschen aber um das Gute ebensosehr sorgen wollten, wie sie eifrig wesensfremde, nutzlose und häufig sogar gefährliche und schädliche Dinge erstreben, würden sie weniger vom Zufall beherrscht werden als vielmehr ihn beherrschen und zu solcher Größe gelangen, dass sie aus Sterblichen durch ihren Nachruhm unsterblich würden.“111

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Marcus Tullius Cicero, Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum, übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, a.a.O., S. 195 f. Im Original lautet die Passage: „volo autem dicere illud homini longe optumum esse, quod ipsum sit optandum per se, a virtute profectum vel in ipsa virtute situm, sua sponte laudabile, quod idem citius dixerim solum quam non summum bonum.“ (ebd., S. 194 f.) Sallust, Werke. Lateinisch und deutsch, von Werner Eisenhut und Josef Lindauer, a.a.O., S. 99.

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Fassen wir die bisherige Charakterisierung der römischen Fortuna zusammen: Drei Merkmale bestimmen das römische Bild der Göttin Fortuna, der autarken Göttin des Zufalls, und des menschlichen Umgangs mit dieser. Die Fortuna ist erstens eine launische, willkürliche und unberechenbare Macht, die sich ebendeshalb jeder theoretischen Zugänglichkeit entzieht. Keine Prognose, keine Vorhersage, keine divinatio, kann das Wirken der Fortuna im Voraus bestimmen. Zweitens kann diese theoretisch unzugängliche Macht der Fortuna dem Menschen aber durchaus wohlgesonnen sein, ja sie hält zumindest potenziell für den Menschen eine Fülle von irdischen Wohltaten und Gaben bereit. Im Unterschied zum fatum schließlich spannt die römische Fortuna den Menschen nicht als willenloses Glied in eine Kette der Notwendigkeit und sie beraubt ihn auch nicht jedweden Spielraums für sein eigenes praktisches Tun und Verhalten. Die Fortuna wird insofern drittens als beeinflussbar, als praktisch verfügbar gedacht, auch wenn die genauen Ausgestaltungen dieser These einer prinzipiellen praktischen Verfügbar- und Beeinflussbarkeit der Fortuna variieren mögen. Gerade dieses drittgenannte Merkmal unterscheidet die römische Fortuna von den meisten Auffassungen der Tyche der klassischen wie der hellenistischen Epoche, wie wir sie bislang kennen gelernt hatten.112 Ihre Begünstigungen und Wohltaten können aufgrund ihrer Willkürlichkeit und Unberechenbarkeit zwar nicht erzwungen und auch niemals sicher prognostiziert werden, aber der vir virtutis, so argumentiert das römische Denken, hat doch alles dem Menschen Mögliche dafür unternommen und deshalb alle Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite, dass sich ihm die Fortuna als gewogen zeigen und verfügbar erweisen wird. Denn die Fortuna, so lautet die letztendliche lebenspraktische Empfehlung, in welche die römische Auffassung einer prinzipiellen praktischen Verfügbar- und Beeinflussbarkeit der Fortuna mündet, belohnt den vir virtutis, jenen Menschen, der alle virtutes, vor allem aber die Tugend der Tapferkeit einerseits, die Tugend der Klugheit andererseits, in sich vereinigt: „Für tüchtige Männer jedoch nimmt alles stets einen glücklichen Verlauf“113 , so heißt es, wie erwähnt, in Ciceros De natura deorum. Die Antwort auf die Frage, welchen Umgang der Mensch mit der Fortuna pflegen solle, beantworten alle römischen Denker, die sich mit der Fortuna auseinander setzen, daher laut Skinner stets so: „The key question these writers accordingly raise is this: how can we persuade Fortune to look in our direction, to pour out the gifts from her cornucopia on us rather than on others? The answer is that, although Fortune is a goddess, she is still a woman; and since she is a woman, she is most of all attracted by the vir, the man of true manliness. One quality she especially likes to reward is thus held to be manly courage. Livy, for example, several times cites the adage that ‚Fortune favours the brave.‘ But the quality she admires most of all is virtus, the eponymous attribute of the truly manly man. The idea underlying this belief is most clearly set out in Cicero’s Tusculan Disputations, in which he lays it down that the criterion for being a real man, a vir, is the 112 113

Vergleiche dazu die S. 89–108 und S. 160–183 im zweiten Kapitel dieser Arbeit. Vergleiche die vorhin zitierte Bemerkung des Stoikers Balbus in Anmerkung 53, S. 523 f. in diesem Kapitel.

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possession of virtus, in the highest degree. The implications of the argument are extensively explored in Livy’s History, in which the successes won by the Romans are almost always explained in terms of the fact that Fortune likes to follow and even wait upon virtus, and generally smiles on those who exhibit it.“114 Wenn das römische Alltagsleben in kultureller wie in religiöser Hinsicht vom Andenken der Göttin Fortuna geprägt ist, wenn römische Geschichtsschreibung, Philosophie und Literatur diese Göttin Fortuna stets in einer ganz bestimmten Weise charakterisieren, dieser Charakterisierung wiederum stets eine Dichotomie von virtus und Fortuna zugrunde liegt, wenn das römische Denken ferner im Ideal des vir virtutis – wie auch immer diese virtus konkretisiert wird, ob mehr im stoischen oder mehr im ciceronischen Sinn – das probate Mittel erblickt, um die potenziellen Wohltaten der zwar theoretisch unberechenbaren, praktisch aber prinzipiell verfügbaren und beeinflussbaren Fortuna auf sich zu lenken und ihre Unbilden abzuwenden, dann liegt für das in diesem Kapitel beabsichtigte Vorhaben einer ideengeschichtlichen Kontextualisierung des von Eugenio Garin erstmals registrierten und als das „typische Renaissance-Motiv“115 beschriebenen Topos virtù vince fortuna und die damit verbundene Frage nach Genese und Substanz der fortunadominierten Zeitanschauung der Frühen Neuzeit die Frage nahe, wie sich jene Auffassung der Fortuna und im Besonderen die Auffassung des Verhältnisses von virtù und Fortuna, wie sie das Zeitalter der Renaissance und des Humanismus im Topos virtù vince fortuna auf den Begriff bringen, zu den entsprechenden Ansichten der römischen Antike verhält? Ist der Topos virtù vince fortuna eine Wiederaufnahme des zunächst einmal ja gar nicht so unähnlich lautenden Topos audentes fortuna iuvat und insofern nur die Übertragung lateinischen Gedankenguts in die Sprache einer anderen Zeit? Oder lässt sich eine markante Bedeutungsverschiebung registrieren? Bevor wir uns derartigen Frage sinnvoll im dritten Abschnitt dieses Kapitels zuwenden können, müssen wir uns jedoch im folgenden zweiten Abschnitt zunächst mit dem Fortleben einer wie auch immer konzipierten Fortuna nach dem Niedergang ihres paganen Entstehungskontextes beschäftigen. (2) Die Vermutung wäre naheliegend, dass die römische Göttin Fortuna im Zeitalter der endgültigen kulturellen und religiösen Durchsetzung des christlichen Monotheismus, der doch wohl keine Götter neben dem einen Gott zulassen kann, verdrängt wurde oder in Vergessenheit geriet. Indes, das Gegenteil trifft zu: Die Fortuna ist in der Kultur und im Denken des christlichen Mittelalters von der Zeit der frühen Kirchenväter bis zur Epoche der Renaissance nicht minder präsent als im römischen Altertum. Alfred Doren beginnt seine Überblicksdarstellung der „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“ mit der Feststellung der kulturellen Omnipräsenz der Fortuna auch und gerade im Mittelalter. An den „Schauseiten mittelalterlicher Kathedralen“116 , in „weltabgelegen Schlössern“117 114 115 116 117

Quentin Skinner, Machiavelli, a.a.O., S. 25 f. Vergleiche dazu Anmerkung 3 auf S. 505 dieses Kapitels. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 71. Ebd., S. 72.

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ebenso wie in einer Fülle literarischer Quellen und alltagsgeschichtlicher Gegenstände sei die Fortuna auch nach der Antike noch zu entdecken. Wie aber, so fragt Doren, angesichts dieses Befundes weiter, kommt „Saul unter die Propheten“118 , „wie das Symbol eines heidnisch-antikischen Götter- und Fabelwesens in den christlichen Bilder- und Vorstellungskreis“119 ? Ja, wie eigentlich? Den Schriften der frühen Kirchenväter und Kirchenlehrer lässt sich die eindeutige Ablehnung der Fortuna in christlichem Geiste ganz deutlich entnehmen. Denn diese frühen patristischen Schriften geben ganz apodiktisch die Position einer, wie Patch es formuliert, „annihilation of Fortuna“120 zu erkennen. Stellvertretend für viele andere Autoren und Stimmen sei Laktanz’ Bemerkung in De falsa sapientia philosophorum genannt: „Fortuna ergo per se nihil est.“121 Grundsätzlich lässt sich für die Zeit der frühen Kirchenväter konstatieren, dass diese in Folge ihrer schöpfungstheologischen These von einer von Gott aus dem Nichts geschaffenen Welt vor allem den Atomismus Epikurs wegen dessen Prämisse rügten, die Entstehung der Welt sei auf den Zufall zurückzuführen, und dieser epikuräischen Affirmation des Zufalls strikt widersprachen. Die schöpfungstheologischen Lehren einer contingentia mundi und einer creatio ex nihilo werden vielmehr in einer Weise gedeutet, welche die Leugnung des Zufalls in der Welt – gleichviel, ob von casus, accidens oder fortuna die Rede ist – zwingend nahe legt, insofern doch die Schaffung der Welt von Gott bezweckt, folglich zufallsfrei durch die göttliche Vorsehung eingerichtet ist. In Werken voller Weisheit, Vernunft, Wohlgeordnetheit und Harmonie kann es prinzipiell keinen Zufall geben.122 Am wirkungsmächtigsten für die spätantik-christliche annihilatio fortunae und weiterhin für die christliche Annihilation jedes Zufallsbegriffs schlechthin dürften aber zweifellos die Schriften des Augustinus gewesen sein: In seiner Schrift Retractationum Libri Duo gesteht Augustinus ein und bereut es ostentativ, in seiner heidnischen Jugend, etwa in seinen Schriften über und gegen die Akademiker, den Begriff der Fortuna überhaupt im Munde geführt zu haben, wo er doch gemäß eigenem Dafürhalten und 118 119 120

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Ebd., S. 72. Ebd., S. 72. H. R. Patch, „The Tradition of the Goddess Fortuna in Roman Literature and in the Transitional Period“, in: a.a.O., S. 180. Laktanz, De falsa sapientia philosophorum, in: Patrologiae Cursus Completus. Tomus VI, herausgegeben von J.-P. Migne, Paris 1844, S. 440. Wetz illustriert diese Zufallsverdrängung unter den Auspizien einer schöpfungstheologischen Kontingenzaffirmation bezüglich der frühen Patristik für Basilius den Großen, Laktanz, Origenes, Dionysios den Großen und Athanasius den Großen. Vergleiche hierzu Franz Josef Wetz, „Kontingenz der Welt – Ein Anachronismus?“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 84–86. Die argumentative Substanz der kirchenväterlichen Zufallsverdrängung, insofern sie auf die Geordnetheit und Zweckmäßigkeit des von Gott geschaffenen Kosmos verweist, lässt sich prägnant durch jenen antiken Topos verdeutlichen, der in der Diskussion um den Epikuräismus immer wieder zitiert wurde. Denn ohne Anachronismus lässt sich formulieren, dass die kirchenväterliche Annihilation des Zufalls, insofern und wenn sie kosmologisch argumentiert, mit demselben Gedanken operiert wie des Stoikers Lucilius Balbus Widerlegung der epikuräischen These von der kosmologischen Relevanz des Zufalls im zweiten Buch Ciceros De natura deorum, die wir in Anmerkung 53 dieses Kapitels bereits erwähnt hatten.

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nunmehr nicht mehr bestrittener Überzeugung nicht anders als Gott hätte sagen dürfen. Ihm missfalle heutzutage, so bekennt Augustinus nunmehr reumütig, in seinen frühen Schriften allzu oft von der Fortuna gesprochen zu haben. Auch wenn er den Begriff fortuna schon seinerzeit niemals als Bezeichnung für eine Göttin hatte verstanden wissen wollen, sondern mit diesem Begriff „bloß einen zufälligen Vorfall im Bereich unsres Leibes oder in der Umwelt, der sich gut oder schlecht auswirkt“123 , benennen wollte. Auch wenn er seinerzeit schon, und nun zitiert er seine eigene Schrift Contra Academicos, auch wenn er seinerzeit die Fortuna auf eine in ihrem Wirken sich äußernde Ursache, die den Menschen lediglich unbekannt sei, hatte zurückgeführt wissen wollen. Auch wenn es dem religiösen Menschen, wie Augustinus nun in den Retraktationen bemerkt, nicht prinzipiell verboten sei, Begriffe wie forte, forsan, forsitan, fortasse und fortuito im Munde zu führen, solange diese auf die göttlichen Vorsehung bezogen blieben.124 Auch wenn er, Augustinus, immer schon ein heidnisches Verständnis der Fortuna zurückgewiesen habe, bleibe ihm doch ein theoretisches Bedauern über seine mangelnde Einsicht in die Zusammenhänge von göttlicher Ordnung und Zufall unvermeidlich: „[…] trotzdem reut es mich, von der Fortuna gesprochen zu haben, da ich sehe, wie die Menschen in höchst bedauernswerter Gewohnheit dort, wo gesagt werden sollte: das hat Gott gewollt, sagen: die Fortuna hat dies gewollt [meine Übersetzung; P. V.].“125 Ausführlicher behandelt Augustinus die heidnische Göttin Fortuna darüber hinaus in De Civitate Dei. In den ersten zehn Büchern von De Civitate Dei widmet sich Augustinus angesichts des seinerzeit nach der Plünderung Roms durch die Westgoten 410 nach Christus immer wieder geäußerten Vorwurfs, der christliche Glauben sei es gewesen, der das einstmals stolze und mächtige römische Reich ruiniert habe, einer ausführlichen Kritik des römischen Polytheismus. Wie konnte es denn sein, so wendet Augustinus gegen diese neuheidnische Kritik der politischen Unzuverlässigkeit des christlichen Glaubens ein, wie konnte es denn sein, dass Rom bereits vor der weltgeschichtlich entscheidenden Zäsur, der Geburt Jesu Christi, durchaus schon all jene militärischen Niederlagen, politischen Konflikte und sittlichen Verfallserscheinungen erleiden musste, wie sie im zweiten und dritten Buch von De Civitate Dei ausführlich geschildert werden: „Wo waren denn diese Götter, die man um armseligen und trügerischen Erdenglückes willen meint verehren zu sollen, als die Römer, denen sie ihre

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Aurelius Augustinus, Die Retractationen in zwei Büchern. Retractationum Libri Duo, übersetzt von Carl Johann Perl, Paderborn 1976, S. 7. Im Original: „sed fortuitum rerum eventum vel in corporis nostri vel in externis bonis aut malis.“ (ebd., S. 6) „quod tamen totum ad divinam revocandum est providentiam.“ (ebd., S. 6) Ebd., S. 7. Im lateinischen Original lautet die Passage: „verum tamen paenitet me sic illic nominasse fortunam, cum videam homines habere in pessima consuetudine, ubi dici debet: hoc deus voluit, dicere: haec voluit fortuna.“ (ebd., S. 6)

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V  : Z I  T Verehrung mit verlogener Arglist schmackhaft zu machen wussten, von so viel Unglück heimgesucht wurden?“126

Mehr die geistigen Grundlagen als die realpolitischen Implikationen des römischen Polytheismus attackiert Augustinus sodann vor allem im vierten Buch von De Civitate Dei. Augustinus’ Kritik des Polytheismus behandelt dabei unweigerlich auch die Göttin Fortuna, jene Göttin, „die, wie man sagt, nicht nach vernünftigem Plane, sondern, wie es gerade kommt, jedem ihre Gaben spendet“127 . Eine solche Göttin Fortuna zu apostrophieren, dies gilt Augustinus als mit dem christlichen Glauben völlig unvereinbar. Denn es sei Häresie, einen weiteren Gott neben dem einen Gott anzunehmen und dadurch die Güte und Weisheit der göttlichen Vorsehung zu relativieren: „Nein, Gott, der Urheber und Spender alles Glücks [„felicitatis“ im Original; P. V.], er, der einzig Wahre, ist es, der die irdischen Reiche Guten und Bösen verleiht, aber nicht willkürlich und gleichsam zufällig. Denn er ist Gott, nicht Schicksal [im Original ist an dieser Stelle gerade von fortuna die Rede, nicht von fatum!; P. V.], und handelt nach einer uns zwar verborgenen, ihm aber klar vor Augen liegenden Ordnung der Dinge und Zeiten. Aber dieser Ordnung der Zeiten ist er nicht unterworfen und zu Dienst verpflichtet, sondern regiert sie als Herr und verfügt darüber als Lenker.“128 Gottes Providenz ist weder zufällig, wie die Rede von der Fortuna impliziert, noch von seinem Willen unabhängig, wie die Rede von einem Schicksal, der Begriff des fatum suggerieren könnte. Der eine Gott und seine providentia wirken ohne Umwege über Fortuna oder fatum direkt auf die Welt ein, in einer Weise, die uns zwar verborgen ist und an der wir mitunter verzweifeln mögen, an deren Weisheit und Güte im Hinblick auf das für den Gläubigen allein zählende ewige Leben aber kein Zweifel sein kann. Folglich sei auch die Größe des römischen Weltreiches ebenso wenig auf die Fortuna oder ein fatum zurückzuführen, wie die Plünderung Roms durch die Westgoten auf die mangelnde Verehrung der heidnischen Göttinnen oder Instanzen: „Die Ursache der Größe des römischen Reiches ist weder Zufall noch Schicksal [„nec fortuita…nec fatalis“, so lautet die originale Formulierung; P. V.], wie diese Worte von denen verstanden werden, die zufällig nennen, was überhaupt keine oder wenigstens keine in einer vernünftigen Ordnung begründeten Ursachen hat, und schicksalhaft, was ohne Gottes und der Menschen Willen in notwendigem Ablauf der Dinge sich ereignet. Vielmehr werden unfraglich durch göttliche Vorsehung die menschlichen Reiche gegründet.“129 Augustinus wendet sich jedoch nicht nur gegen die antike Präsumtion der Fortuna; auch die Einschätzung der virtus als einer Kraft oder gar ebenfalls als einer Göttin, welche auf die unterstellte Fortuna praktisch einwirken könne, ist für Augustinus abzulehnen 126

127 128 129

Aurelius Augustinus, De Civitate Dei (Vom Gottesstaat). Buch 1 bis 10, übertragen von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 1997 (1977), S. 142. Ebd., S. 322. Ebd., S. 216 f. Ebd., S. 219.

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und dies vor allem aufgrund der ihm als irrig erscheinenden Vorstellung, die menschlichen Kräfte und Fähigkeiten könnten der göttlichen providentia oder der Fortuna, wenn es diese Göttin denn gäbe, jemals ihren eigenen Willen aufzwingen. Was der Mensch ist, ist er nur dank göttlicher Gnade, nicht aufgrund seiner eigenen Fähigkeiten, welche Tugenden darunter auch immer verstanden werden mögen, und des eigenmächtigen Vertrauens auf diese. Ebenso wenig wie die Fortuna kann auch Virtus für den Christen eine Gottheit darstellen. Virtus und Fortuna sind für Augustinus keine Göttinnen. Tugend und Glückseligkeit sind vielmehr Gaben des einen Gottes. Und daher bitte man Gott um diese Gaben, so fordert Augustinus, „und verlasse die schadenbringende Menge falscher Götter, denen die gedankenlose Menge törichter Menschen nachläuft, die sich aus Gottes Gaben Götter machen und ihn, dessen Gaben sie sind, durch Verstocktheit hochmütigen Sinnes beleidigen. Denn wenn man das Glück [Augustinus spricht in dieser Passage von „felicitas“ im Sinne von Glückseligkeit; P. V.] als Göttin verehrt, aber den Gott, der das Glück schenkt, verlässt, kann man dem Unglück ebenso wenig entgehen, wie dem Hunger entgeht, wer ein gemaltes Brot beleckt, statt wahres Brot von einem, der es hat, zu erbitten.“130 Diese Aufforderung richtet Augustinus übrigens nicht nur an seine Zeitgenossen und an all jene Ungläubigen unter ihnen, welche die heidnischen Götter für die einstige Größe und Macht des römischen Reiches verantwortlich machen und das Verbot ihrer Verehrung oder den Verlust ihrer kulturellen Akzeptanz umgekehrt für den Niedergang Roms. Augustinus’ Kritik richtet sich also nicht nur an ein kulturelles Massenphänomen. Im Kontext seiner Kritik der Fortuna wendet sich Augustinus interessanterweise auch explizit gegen Cicero, wobei er sich auf dessen Schrift De natura deorum bezieht und sowohl die skeptische Position Ciceros alias Cottas als auch die stoische Position, wie sie Cicero im zweiten Buch dieser Schrift Lucilius Balbus in den Mund legt, kritisiert.131 Die Christen verehrten nicht Himmel und Erde, gleichviel welchen theoretischen Spielraum jede Form einer Naturreligion der menschlichen Willensfreiheit noch belässt oder wie sie das Verhältnis von Mensch und göttlichen Wesen denkt – ebendies sind wesentliche Streitpunkte zwischen Balbus und Cotta –, sondern den „Schöpfer des Himmels und der Erde“132 . Der heidnischen Göttin Fortuna begegnet Augustinus so mit einer annihilatio fortunae, die sich auf eine göttliche providentia und deren direktes Wirken in dieser Welt beruft, die daher der Fortuna keinerlei, auch keine instrumentelle Rolle bei der Erfüllung dieser göttlichen Vorsehung zubilligen kann. Die Überzeugung, dank eigener virtus jene Fortuna übertrumpfen und gleichsam besiegen zu können, welche in der römischen Antike, wie wir sahen, sowohl in einer ciceronischen wie in einer stoischen Variante als prinzipiell verfügbar und beeinflussbar gedacht wird, gilt Augustinus folglich als unerhörte Selbstüberhebung des Menschen. Dieser römischen Überzeugung stellt er die

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Ebd., S. 203. Vergleiche dazu meine Bemerkungen in Anmerkung 53 auf S. 523 f. in diesem Kapitel. Ebd., S. 211.

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Auffassung von der menschlichen virtus als einer Gabe Gottes entgegen. Den Göttinnen des paganen Polytheismus stellt Augustinus, wie Doren resümiert, „die echte Liebe des Christengottes gegenüber, der irdische Macht wohl den Guten wie den Bösen verleihe, aber nicht ohne Grund und zufällig, sondern nach einer der menschlichen Blindheit zwar verborgenen, ihm selbst aber klaren, ewig in sich ruhenden Ordnung der Dinge und der Zeiten“133 . Vincent Cioffari gibt diese augustinische Form der theoretischen Eliminierung von Fortuna und Zufall in folgenden Worten wider: „Providence controls all. It extends over all things, and all things (order and causality) are subject to it […] All things are regulated and all things are administered by it – omnia, et animalia et corporalia, in genere suo et in ordine suo divinae providentiae legibus subdita administrantur (De Ag. Chr. ch. viii, 9). It is inconceivable that God, who provided for everything in the Universe, from the most sublime to the meanest creature, should wish that any part of it escape the rule of Providence […] In this order [der göttlichen Ordnung; P. V.] there is no room for the causeless – for Chance or Fortune.“134 Wäre mit Augustinus die theoretische Entwicklung des Christentums zum Stillstand gekommen, ließe sich die kulturelle und intellektuelle Omnipräsenz der Fortuna im römischen Altertum wie in der Renaissance zugleich lediglich als eine sprunghafte Überwindung dieser christlichen annihilatio fortunae begreifen. Aber Augustinus repräsentiert keinesfalls zur Gänze das christliche Denken. Gerade in der Spätantike hat die Spannung zwischen christlichem Gedankengut und klassisch-römischen Motiven etwa in der Form stoischer Philosophie unerwartete argumentative Blüten getrieben. Deshalb treffen wir in jener Zeit, ja gerade in jener Zeit, eben auch christliche Autoren an, die bezüglich einer wie auch immer konzipierten Fortuna ganz andere Standpunkte vertreten als Augustinus. Beispielhaft findet sich der spätantike Versuch, göttliche providentia und Fortuna auszusöhnen, in der Schrift De Consolatione Philosophiae des Boethius formuliert, die um den Zeitraum seiner Verurteilung zum Tode 524 nach Christus verfasst wurde. Bei dieser Schrift handelt es sich, darin ist sich die Forschung einig, zweifellos um das Werk eines getauften Christen135 ; aber es handelt es sich bei dieser Schrift eben auch um das Werk eines Angehörigen des römischen Hochadels, der, seiner politischen Ämter beraubt und auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartend, in der literarischen Fiktion diese Situation nachbildet und nun über Unglück und Elend des menschlichen 133 134 135

Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 76. Vincent Cioffari, Fortune and Fate from Democritus to St. Thomas Aquinas, a.a.O., S. 78 f. Vergleiche dazu die Bemerkung von Jerold Frakes: „The vast, polemical body of secondary literature concerning Boethius’ Christianity need not be summarized here. Modern scholarship has determined that Boethius was the author of the Christian theological tractates associated with his name and that he was a Christian.“ Jerold Frakes, The Fate of Fortune in the Early Middle Ages. The Boethian Tradition, Leiden 1988, S. 54.

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Daseins räsonniert. An seinem armseligen Aufenthaltsort136 erhält Boethius Besuch von der „Philosophie“, und diese allegorische Gestalt der Philosophie entwickelt nun eben in dialogischer Auseinandersetzung mit Boethius und mit dem Ziel, diesen über sein Elend hinweg zu trösten, eine raffinierte Versöhnung von göttlicher Vorsehung und Fortuna. Allein dieser Skizzierung der prinzipiellen Argumentationsstruktur von De Consolatione Philosophiae lässt sich bereits ein bedeutender Unterschied zur Position des Augustinus entnehmen: denn für Boethius ist es die Philosophie, die schließlich „trösten“ wird, nicht der gnädige Gott, der für Augustinus allein die menschliche Seele ihrem Heil zuführen kann.137 Zu Beginn des Dialogs diagnostiziert die gleichsam therapeutisch vorgehende Allegorie der Philosophie bei dem Patienten eine Verbitterung und Empörung über das im Vergleich zum kontinuierlichen und stetigen Lauf der Gestirne und Jahreszeiten erstaunlich wandelbare Regiment der Fortuna: „Zuletzt ist dein Schmerz gegen das Schicksal [„adversam fortunam“ lautet der originale Wortlaut; P. V.] heiß entbrannt, du hast geklagt, dass der Lohn nicht gerecht dem Verdienst zugewogen werde“138 . Wie kann nun eine derartige „Krankheit“, wie philosophia formuliert, wie kann jene Verbitterung angesichts einer adversa fortuna geheilt werden? Bezüglich dieser Frage formieren sich die Argumentationsfiguren der Philosophie gleichsam zu einer Kaskade von Therapeutika, deren Dosierung hinsichtlich ihrer schmerzlindernden Wirkung sich sukzessive erhöht. Zunächst ermahnt die philosophia den Boethius, des entscheidenden Charakterzugs der Fortuna stets eingedenk zu sein, nämlich ihrer Wankelmütigkeit und Unberechenbarkeit. Dieses Wesensmerkmal sei entweder gänzlich und prinzipiell zu akzeptieren, nicht nur in guten, sondern auch in schlechten Zeiten. Oder man müsse sich den Launen der Fortuna grundsätzlich verweigern, weder die „Drohungen der Fortuna [meine Übersetzung; P. V.]“ für „furchtbar“ noch ihr „Schmeicheln“ für „begehrenswert“139 halten. 136

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Boethius’ Text selbst spricht nicht von einem Gefängnis, einem Kerker oder einer Zelle. Sein augenblicklicher Aufenthaltsort wird lediglich der reichhaltigen Bibliothek seines ehemaligen Hauses kontrastiert. Außerdem erfahren wir noch, dass sich Boethius derzeit in einer Entfernung „von etwa fünfhundert Meilen“ von Ravenna befindet. Berühmt ist eine mittelalterliche Darstellung aus dem 13. Jahrhundert, die aufgrund dieser Informationen den Boethius in eine Gefängniszelle in der Stadt Pavia versetzt hatte. Vergleiche dazu die treffende Bemerkung von Konrad Burdach: „Bekanntlich hat der katholische Christ Boethius, der mehrere theologische Abhandlungen verfasste, zwei über die Trinität, eine andere wider die Häresie des Monophysitismus, in seiner ‚Consolatio‘ als Gefangener, Marter und Tod vor Augen, kein Wort für den Erlöser Christus, enthält sich auch jedes ausdrücklichen Hinweises auf Bibel und Kirchendogma. Die ältere protestantische Kirchengeschichtswissenschaft hat deshalb, ihr Begründer Gottfried Arnold voran, mehrfach die ihm zugeschriebenen christlichdogmatischen Schriften für untergeschoben erklärt, wohl gar sein Christentum geleugnet. Jetzt ist man, namentlich seit den Nachweisen Useners, auf Grund vertiefter historischer Erkenntnis allgemein von dieser Auffassung abgekommen.“ Konrad Burdach, „Die humanistischen Wirkungen der Trostschrift des Boethius im Mittelalter und in der Renaissance“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1933), S. 549. Boethius, Trost der Philosophie, herausgegeben und übersetzt von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 31. Ebd., S. 45.

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Nicht akzeptabel hingegen sei die Lobpreisung der Fortuna in guten, hingegen ihre Verurteilung in schlechten Zeiten: „Du meinst, das Glück habe sich dir gegenüber gewandelt [„Tu fortunam putas erga te esse mutatam“ heißt es im Original; P. V.]: du irrst! Dies sind immer seine Sitten, dies ist seine Natur. Es hat vielmehr gerade in seiner Veränderlichkeit dir gegenüber seine ihm eigentümliche Beständigkeit bewahrt. So war es, als es schmeichelte, als es vor dir mit den Lockungen falscher Glückseligkeit gaukelte. Du hast das zweideutige Antlitz der blinden Gottheit nun entdeckt; während sie sich andern noch verhüllt, ist sie dir völlig bekannt geworden. Wenn du sie billigst, so halte dich an ihren Charakter und klage nicht. Wenn du ihre Treulosigkeit verabscheust, so verschmähe und verwirf ihr verderbliches Spiel. […] und gerade die Veränderlichkeit nach beiden Seiten macht weder die Drohungen des Glücks furchtbar, noch sein Schmeicheln begehrenswert [„eademque alterutro mutabilitas nec formidandas fortunae minas nec exoptandas facit esse blanditias“ im Original; P. V.]. Schließlich musst du mit Gleichmut ertragen, was innerhalb des Bereiches des Glückes [„intra fortunae aream“ im Original; P. V.] geschieht, wenn du einmal deinen Nacken seinem Joche unterworfen hast.“140 Diese ihre Argumentation unterstreicht die trostspendende philosophia zusätzlich, indem sie nun auch direkt die Fortuna auftreten lässt oder zumindest porträtiert, wobei unklar bleibt, um welche Art von Wesen es sich eigentlich bei der nun das Wort ergreifenden Fortuna handeln soll. Jedenfalls weist nun auch die in Boethius’ Schrift selbst zu Wort kommende Fortuna mit einem uns bereits durch die Argumentationsfiguren der philosophia hinlänglich bekannten Einwand die Klage des Menschen über ihre Unbeständigkeit und Wankelmütigkeit zurück: „Uns aber soll an eine Beständigkeit, die unserem Wesen fremd ist, die unersättliche Begier der Menschen binden? Dies ist unsere Macht, dies unterbrochene Spiel spielen wir, wir drehen das Rad in kreisendem Schwunge, wir freuen uns, das Tiefste mit dem Höchsten, das Höchste mit dem Tiefsten zu tauschen. Steige aufwärts, wenn es dir gefällt, aber unter der Bedingung, dass du es nicht für ein Unrecht hältst, herabzusteigen, wenn es die Regel meines Spiels fordert.“141 Allerdings weist die philosophia ihrerseits diese Argumentation der fortuna ausdrücklich als „Linderung für den störrischen Schmerz, der sich gegen die Heilung sträubt“, aus, noch nicht aber, so wird dem Boethius zu verstehen gegeben, als eine endgültige Heilung versprechende „Arznei deiner Krankheit“142 . Nach dieser ersten schmerzlindernden Beigabe, welche dazu auffordert, die Unbeständigkeit der Fortuna entweder gänzlich zu akzeptieren oder zu kritisieren, nicht aber gemäß der Situation des Urteilenden, sondern unabhängig davon einzuschätzen, entwi140 141 142

Ebd., S. 45. Ebd., S. 49. Ebd., S. 53.

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ckelt die philosophia in ihren weiteren Ausführungen eine Reihe von zusätzlichen, noch stärker dosierten Therapeutika gegen die Klagen des Boethius. Die bislang aufgestellte Alternative, die Launen der Fortuna entweder gänzlich zu akzeptieren oder gänzlich abzulehnen, ist nämlich für die philosophia und schließlich auch für den „Patienten“ Boethius eindeutig zu entscheiden. Die von der Fortuna dem Menschen zugeteilten Güter sind für die Erlangung wahrer Glückseligkeit irrelevant: „Und um zu erkennen, dass in diesen zufälligen Dingen [„in fortuitis rebus“ im Original; P. V.] die Seligkeit nicht bestehen könne, schließe so: Wenn die Glückseligkeit [„beatitudo“] das höchste Gut einer vernunftbegabten Natur ist, und nichts ein höchstes Gut ist, das dir irgendwie entrissen werden kann, da ja das, was nie geraubt werden kann, alles übertrifft, so ist es klar, dass die Unbeständigkeit des Glückes [„fortunae instabilitas“ im Orignal; P. V.] nicht den Anspruch erheben kann, Seligkeit zu verschaffen.“143 Und an anderer Stelle heißt es im Sinne dieser Argumentation von den Gütern der Fortuna, dass in ihnen „offenbar nichts Erstrebenswertes, nichts von ursprünglicher Vortrefflichkeit wohnt, das sich weder den Guten immer vereint, noch diejenigen gut macht, denen es verbunden ist.“144 Ein weiteres, gleichsam das dritte fomentum ergibt sich schließlich aus der von der philosophia vertretenen Überzeugung, von den läuternden Wirkungen der unberechenbaren Fortuna. „Ich glaube nämlich, dass den Menschen ein widriges Geschick mehr als ein günstiges nützt [„adversam quam prosperam prodesse fortunam“ lautet die Passage im Original; P. V.]. Dieses lügt nämlich immer unter dem Scheine der Glückseligkeit, während es zu schmeicheln scheint; jenes ist immer wahr, da es in seiner Veränderung seine Unstetheit zeigt; dieses täuscht, jenes belehrt. Dieses bindet die Seelen der Genießenden mit dem Scheine lügnerischer Güter, jenes löst sie durch die Einsicht in die Gebrechlichkeit jener Glückseligkeit. Daher siehst du dieses windig, fließend, immer seiner selbst unkundig, jenes nüchtern, gerüstet und klug gerade durch Übung in der Widerwärtigkeit. Endlich zieht das Günstige durch Schmeicheln vom Pfade des wahren Guten ab, das Widrige dagegen zieht meistens mit seinen Widerhaken zu den wahren Gütern zurück.“145 Nach der Aufzählung dieser drei für eine Behandlung des leidenden Patienten zunächst sinnvollen fomenta, welche dessen Schmerzen freilich allenfalls lindern können, schreitet die Argumentation der philosophia zu den eigentlichen remedia voran. Auch derer sind mehrere: Das gesamte dritte Buch der Consolatio des Boethius etwa könnte 143 144 145

Ebd., S. 61 f. Ebd., S. 77. Ebd., S. 87. Cioffari kommentiert dieses fomentum der philosophia so: „Fortune is always favorable. For fortune is either remunerative or educative or corrective, and therefore always good and just.“ Vincent Cioffari, Fortune and Fate from Democritus to St. Thomas Aquinas, a.a.O., S. 88.

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als ein Traktat über das Wesen der wahren Glückseligkeit bezeichnet werden. Aus welchen Gründen auch immer zuzugeben sein mag, dass ein widriges Glück gar nicht in der Weise zu betrauern ist, wie dies dem einzelnen Individuum auf den ersten Blick unvermeidlich erscheinen mag, wichtiger noch ist der philosophia die Einsicht, dass ohnehin die wahre Glückseligkeit, das summum bonum, nicht „in diesen sterblichen und hinfälligen Dingen“146 zu finden ist, sondern nur durch die Schau Gottes, durch die „divinitatis adeptione“147 , wie sich Boethius ausdrückt, erreicht werden kann. Mit der Verinnerlichung dieser Einsicht wären aber auch zwei der drei Krankheiten, welche die philosophia gleich zu Beginn ihres Gesprächs mit dem leidenden Patienten diagnostiziert hatte, kuriert. Letzterer nämlich leide, so hieß es gleich zu Beginn des Dialogs, erstens an einer Vergessenheit seiner selbst, insofern er sich „schmerzlich als verbannt und der eignen Güter beraubt“148 sehe. Zweitens sei ihm aber auch das Wissen um den „Endzweck der Dinge [„finis rerum“; P. V.]“149 verloren gegangen, weswegen er irrigerweise „nichtswürdige Schurken für mächtig und glücklich“150 halte. Dank der bisherigen argumentativen Rezeptur hält die philosophia diese beiden Krankheiten tatsächlich für kuriert. Bleibt noch eine dritte Krankheit zu heilen, deren Ursache darin besteht, vergessen zu haben, „mit welchen Mitteln die Welt regiert wird“151 und fälschlicherweise zu meinen, dass die „Wechselfälle des Glücks ohne Lenker umherwogen [„fortunarum vices aestimas sine rectore fluitare“; P. V.]“152 . Warum gilt diese Annahme dem Boethius für falsch? Von welchem Steuer oder Steuermann wird die vermeintlich doch so unberechenbare Fortuna gelenkt? Es ist diese, gleichsam providenztheologische Frage, die den christlichen Glauben unseres Autors – wie orthodox oder heterodox auch immer formuliert – oder zumindest die Vertrautheit unseres Autors mit der christlichen Tradition zu erkennen gibt. Ließen sich die bisherigen Ausführungen ohne grobe Missverständnisse noch als Kombination von der stoischen Moralistik verpflichteten Lebensmaximen und einer platonisch-sokratischen Bestimmung des summum bonum deuten, so macht die weitere Argumentation des Boethius hinreichend deutlich, inwiefern er mit ebendiesen antiken Wurzeln nun seine persönlichen Glaubensüberzeugungen als Christ zu vereinen sucht. Auf deus kommt der Autor der Consolatio-Schrift nämlich nun explizit, wenn auch erstmalig, zu sprechen, und es ist dieser Gott mit seinem „Steuerruder der Güte [„bonitatis clavo“; P. V.]“153 , durch den „die Weltmaschine fest und unzerstört erhalten wird [„mundana machina stabilis atque incorrupta servatur“; P. V.].“154 Entfalteten die bisher dem Boethius von der philosophia empfohlenen und dargereichten Arzneien oder Linderungsmittel vergleichsweise umgehend und ohne größeren 146

147 148 149 150 151 152 153 154

Boethius, Trost der Philosophie, herausgegeben und übersetzt von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon, a.a.O., S. 127. Ebd., S. 137. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 155. Ebd., S. 155.

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Protest des „Patienten“ ihre Wirkung, so ist die Legimität der soeben geschilderten Auffassung der göttlichen Vorsehung eben gerade angesichts des doch so ungerecht erscheinenden Wirkens der Fortuna freilich ungleich umstrittener. Die zuletzt dargereichte These der philosophia, Gott lenke durch sein „Steuerruder der Güte“ die Welt, sieht der Gesprächspartner der philosophia daher auch durch das Übel der Welt schlechthin und insbesondere durch die Ungerechtigkeit der Welt unbestreitbar in Frage gestellt: „Aber dies ist eben die höchste Ursache unseres Kummers, dass, während doch ein guter Lenker der Welt existiert, das Böse überhaupt sein kann und auch unbestraft hingeht. Wie sehr man schon hierüber sich verwundern muss, das siehst du doch selbst. Aber hiermit verbindet sich noch etwas Wichtigeres. Denn während die Schlechtigkeit herrscht und blüht, entbehrt die Tugend nicht nur der Belohnung, sondern wird auch von den Frevlern mit Füßen getreten und büßt an ihrer Stelle Untaten mit dem Tode. Dass dies im Reiche des allwissenden und allmächtigen und nur das Gute wollenden Gottes geschieht, darüber kann sich niemand genug wundern und beklagen.“155 Das gesamte vierte Buch der Consolatio-Schrift ist nun eine Abhandlung über die intellektuelle Plausibilität der Skepsis und des Zweifels an der Güte der göttlichen Vorsehung. Diese Skepsis entkräftet die philosophia dadurch, dass sie zunächst das Gute als das wahrhaft Mächtige und das Schlechte als das wahrhaft Schwache bezeichnet. Da aber nur die Guten das Gute erreichen, die Schlechten aber durchaus nicht, so kann kein Zweifel sein, „dass die Guten mächtig sind, die Bösen aber schwach.“156 Das Böse und die Bösen sind um ihrer selbst willen mehr zu bedauern, als dass ihre Existenz von den Guten zu beklagen ist. Denn einer eingehenden Betrachtung des Übels und der Lebensweise der Bösen zeigt sich doch, „dass nur die Weisen tun können, was sie wollen, die Bösen hingegen zwar verüben, was ihnen beliebt, aber das, was sie wünschen, nicht erfüllen können. Denn sie tun Beliebiges, indem sie glauben, durch das, woran sie sich ergötzen, jenes Gut, das sie ersehnen, erreichen zu können; aber sie erreichen es keineswegs, weil zur Glückseligkeit Übeltaten nicht gelangen.“157 Nun mag es zutreffen oder auch nicht, dass die wahrhaft Mächtigen dieser Erde die Guten sind, die Bösen hingegen nur scheinbar mächtig und glückselig, weil sie das summum bonum des Lebens doch stets verfehlen. Aber dieses Argument verteidigt weniger die Güte der göttlichen Vorsehung als die unbedingte Ratsamkeit eines guten Lebens. Die von Boethius referierten Zweifel des Dialogpartners der philosophia an der Güte der göttlichen Vorsehung können so nicht entkräftet werden. Selbst wenn die Bösen schwach sind und die Guten stark, stellt sich doch weiterhin die Frage, warum auf dieser Welt dennoch die Guten so oft leiden, die Bösen aber in einer dem Guten Hohn sprechenden Weise belohnt werden. Entspräche es der Güte der göttlichen Vorsehung nicht ungleich mehr, dass sie die Bösen bestrafte und die Guten belohnte? Widerspricht die offensicht155 156 157

Ebd., S. 165. Ebd., S. 173. Ebd., S. 179.

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liche Irrationalität und Ungerechtigkeit der Glücksverteilung nicht der Existenz eines gerechten Gottes und einer gütigen Providenz? Entspräche es nicht dem Wesen eines gütigen und gerechten Lenkers des Weltgeschehens, an dessen Existenz weder die philosophia noch ihr auf Vollstreckung seines Todesurteils wartender Gesprächspartner in ihrem Dialog irgendeinen Zweifel aufkommen lassen, direkt oder wie vermittelt auch immer dafür zu sorgen, dass die Guten durch günstige und glückliche Umstände begünstigt werden oder doch zumindest die Schlechten nicht von günstigen Zufällen belohnt werden? Im Sinne dieses Einwands richtet Boethius an die bisherige providenztheologische Argumentation der philosophia die Frage: „[…] warum die Strafen der Verbrecher die Guten bedrücken, die Bösen die Belohnungen der Guten an sich reißen, darüber wundere ich mich sehr und wünsche von dir zu wissen, welches der Grund dieser ungerechten Verwirrung ist. Ich würde mich weniger wundern, wenn ich glaubte, dass alles durch beliebigen Zufall [„fortuitis casibus“ heißt es im Original; P. V.] durcheinandergemischt werde. Jetzt häuft sich mein Erstaunen, weil Gott der Leiter ist; wenn er oft den Guten das Angenehme, den Schlechten das Rauhe und dann wieder im Gegenteil den Guten das Harte, den Schlechten das Erwünschte zugesteht, woran sieht man dann, dass er sich vom beliebigen Zufall unterscheidet?“158 Erst die Antwort der philosophia auf diesen Einwand gibt nun zu guter Letzt die christlichen Überzeugungen des Autors der Consolatio-Schrift umfassend zu erkennen. Dieser Einwand resultiert nämlich, so behauptet die philosophia, aus einer mangelhaften Kenntnis der göttlichen Vorsehung. „Denn es ist für den Menschen nicht schicklich, die gesamten Triebfedern des göttlichen Werkes mit dem Geiste erfassen oder mit Worten entwickeln zu wollen.“159 Gott ist im Besitz eines Wissens, über das der Mensch nicht verfügt und nicht verfügen kann, dessen sichtbare Konsequenzen er deshalb auch nicht beurteilen oder abwägen kann. Dieses Wissen leitet Gott bei der Gestaltung jener „Schicksalsordnung“, die gleichsam als Vermittlungsinstanz für die Realisierung der göttlichen Vorsehung sorgt. Wenn Gott „von der hohen Warte der Vorsehung herunterschaut, erkennt er, was zu einem jeden passt, und was er passend weiß, das misst er ihm zu. Hier vollzieht sich jenes staunenswerte Wunder der Schicksalsordnung [„fatalis ordinis insigne miraculum“ heißt es im Original; P. V.], dass vom Wissenden getan wird, worüber die Unwissenden bestürzt sind.“160 Erst mit diesem Argument hat jene christliche Inanspruchnahme der Fortuna, jene Kombination von antiker Philosophie und christlicher Religion, wie sie Boethius in De Consolatione Philosophiae der philosophia in den Mund legt, ihre eigentliche providenztheologische Pointe erreicht. Erscheint die Fortuna am Beginn der Diskussion über die Güte der göttlichen Vorsehung dem klagenden Menschen zunächst als 158 159 160

Ebd., S. 201. Ebd., S. 217. Ebd., S. 211.

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ungerechte Tyrannin, die vor allem Gottes Gerechtigkeitssinn Hohn zu sprechen scheint und zu konterkarieren droht, so gibt sie sich schließlich dem Gläubigen, so lautet die abschließende Pointe der Argumentation des Boethius, als ancilla Dei, als Werkzeug Gottes für die Erfüllung seiner Vorsehung zu erkennen. Und diese Vorsehung ist und bleibt gütig, auch wenn sie sich dabei des auf den ersten Blick so ungerecht und willkürlich erscheinenden Werkzeugs der Fortuna bedient. Wer diese providenztheologische Arbeitsteilung von providentia und Fortuna einmal eingesehen habe, der könne endgültig keinen Grund mehr zur Klage gegen die Fortuna oder eine ungerechte göttliche Vorsehung anführen: „So kommt es, dass, obwohl ihr [die an der Güte der göttlichen Vorsehung zweifelnden Menschen; P. V.] diese Ordnung ganz und gar nicht zu ergründen vermögt und euch alles verwirrt und unordentlich erscheint, dennoch ihr Maß alles zum Guten lenkt und anordnet.“161 In einer anderen Passage heißt es in ebendiesem Sinne: „So kommt es, dass man nirgends etwas Schlechtes auffinden kann, wenn man auf die ordnende Vorsehung blickt, während es auf der Erde zu überwuchern scheint.“162 Nach all diesen intellektuellen Darreichungen konfrontiert die philosophia den trostbedürftigen Boethius abschließend mit jener rätselhaften Frage, deren Beantwortung zugleich als Indiz für die endgültige Genesung des verzweifelnden Patienten zu werten wäre: „Siehst du also jetzt, wohin alles, was wir gesagt haben, hinaus will? Wohin denn? sagte ich. Dass jedes Geschick [„omnem…fortunam“ im Originaltext; P. V.], sagte sie, ganz und gar gut ist.“163 Was auf den ersten Blick für das einzelne Leben wie die blanke Willkür einer autarken Instanz namens Fortuna, sei sie als Allegorie oder Symbol oder tatsächlich als göttliche Konkurrenz zu dem einen Gott gedacht, was einer darüber hinaus gehenden Perspektive immerhin noch als beklagenswerte Ungerechtigkeit der göttlichen Vorsehung erscheint, ist in respectu Dei und jener providenztheologischen Pointe gemäß, welche die Consolatio-Schrift des Boethius abschließend nahelegt, Werkzeug einer ganz und gar gütigen göttlichen Vorsehung. Fortuna ist für Boethius, wie Frakes schreibt, „God’s representative in the affairs of men.“164 Dieses letztendliche providenztheologische Fundament, auf welchem die Argumentation des Boethius beruht, lässt sich mit Quentin Skinner zurecht als „equation between fortune and providence“165 bezeichnen; an anderer Stelle spricht Skinner von Boethius’ „reconciliation of Fortune with providence“166 . Doren urteilt ähnlich. Bei Boethius, so schreibt er, wird die Fortuna „Fügung, wird ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung; ihre Gaben aber werden zum Prüfstein umgedeutet, an dem die menschliche Seele sich wetzen und erproben muss, um sich als tauglich zu erweisen zum Bürgerrecht im Gottes161 162 163 164

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Ebd., S. 209. Ebd., S. 217. Ebd., S. 221. Jerold Frakes, The Fate of Fortune in the Early Middle Ages. The Boethian Tradition, a.a.O., S. 63. Quentin Skinner, Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, Cambridge 1978, S. 96. Quentin Skinner, Machiavelli, a.a.O., S. 27.

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V  : Z I  T reich; so dass sie launenhaft und willkürlich nur dem noch erscheinen mag, der die christliche Heilsbotschaft noch nicht im Tiefsten seiner Seele verankert hat.“167

Boethius’ Inanspruchnahme einer heidnischen Göttin für ein christliches Weltbild stellt insofern nicht die Existenz der heidnischen Göttin Fortuna in Frage, wie sich dies für die Schriften des Augustinus nachweisen lässt. Boethius akzeptiert vielmehr die Existenz der Fortuna, wobei unklar bleibt, ob sie ihm eine göttliche Instanz oder lediglich eine Allegorie oder ein Symbol ist. Freilich, die Fortuna des Boethius, selbst wenn dieser sie als Göttin gelten ließe, hat nicht mehr viel mit ihren römischen Wurzeln gemein. Die Fortuna ist für Boethius nicht mehr autarke Instanz im Kontext einer polytheistischen Weltanschauung, sondern Gehilfin der göttlichen Vorsehung, ancilla Dei. Diese theologisch approbierte Gehilfin aber zeichnen zwangsläufig andere Charakteristika und Merkmale aus als diejenigen, welche sich der unberechenbaren und launischen, theoretisch unzugänglichen, aber auch potenziell wohlgesonnenen, vor allem aber praktisch beeinflussbaren und verfügbaren bona dea der römischen Welt nachweisen ließen. So ist eine Gehilfin Gottes nicht mehr in der Lage, über die Zuweisung ihrer willkürlichen Launenhaftigkeit und ihrer kapriziösen Unberechenbarkeit autark zu entscheiden. Boethius versteht die Fortuna ferner, dies ließ sich den bisherigen Ausführungen unschwer entnehmen, nicht als die wohlgesonnene oder gütige Bundesgenossin des Menschen und seiner irdischen Bemühungen. „She is no longer seen as a potential friend, but simply as a pitiless force; her symbol is no longer the cornucopia, but rather the wheel of change“168 , so charakterisiert Skinner einen weiteren Wesensunterschied zwischen römischantiker und boethianischer Fortuna. Von einer Göttin, deren Wohlgesonnenheit gemäß der skizzierten römischen Auffassung zumindest prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann, wandelt sich die Fortuna zu einer dem Menschen stets übel mitspielenden Instanz, deren Tyrannei sich allein aus der Perspektive des christlichen Glaubens an die göttliche Vorsehung auflösen lässt und in Güte verwandelt. Auch andere Kommentatoren haben diese Facette des spätestens mit der Spätantike einsetzenden und sodann rasch Verbreitung findenden Bedeutungswandels der Fortuna registriert: „In Rome she had been a beguiling figure whose cornucopia was a promise of abundance. Bona Dea she was called – the ‚good goddess.‘ But after Boethius she is a much more sombre figure; almost all of her colourful imagery has been lost. Only the wheel remains, which Fortuna grimly turns. Men rise and fall inexorably in the medieval conception; there is little if any room for maneuver against her. In this fashion, as a symbol of the transitoriness of earthly glory, Fortuna and the wheel appear throughout Europe during the middle Ages.“169 Doren zufolge sind dieser gänzlich veränderten Auffassung der Fortuna, dem Wandel von einer „bona dea“ zu einer „much more sombre figure“ (Flanagan), einer Auffassung, 167 168 169

Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 84. Quentin Skinner, Machiavelli, a.a.O., S. 26. Thomas Flanagan, „The Concept of Fortuna in Machiavelli“, in: Anthony Parel (Hg.), The Political Calculus, Essays on Niccolò Machiavelli’s Philosophy, a.a.O., S. 131 f.

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die mit Boethius’ providenztheologischer Mediatisierung der Fortuna einsetzt, deutlich nachweisbare ikonologische Konsequenzen eigen: „Boethius ist nun sicher eine der stärksten und tragfähigsten Brücken gewesen, über die der geistige Weg aus der Antike in die neue Welt des Mittelalters hinüberführt. Indem die antike Göttin des launischen Ungefährs den schmalen ihr gelassenen Weg von Ufer zu Ufer passieren will, wird sie gleichsam nur gegen einen kräftigen Zoll hinübergelassen […] Alle freundlichen Hüllen ihres antikischen Wesens, alle Symbole, die sie als Helferin der armen, suchenden und kämpfenden, sehnenden und hoffenden Menschen mit sich geführt hatte, Füllhorn und Kugel, Steuerruder und Schiffsprora, muß sie diesseits der Grenze als verbotenes Gut zurücklassen; mit ihren Flügeln fällt alles flatternde und abenteuerliche, alles frohe, junge, leuchtende, grazile, alles, was hinausweist in eine ungewisse Ferne, ins launenhafte, rosenrot lockende Ungefähr, von ihr ab; von allen ihren Begleitsymbolen nimmt sie nur eines mit in ihr neues Reich, weil nur dieses einer Deutung vom neuen Geiste aus sich darbietet: die mittelalterliche Fortuna ist die Fortuna mit dem Rad.“170 Selbstverständlich kann der angemessene Umgang des Menschen mit einer derartigen Fortuna im Unterschied zur römischen Affirmation der grundsätzlichen Möglichkeit, in praktischer Weise auf die Fortuna einzuwirken, nicht mehr darin bestehen, durch eigenes Zutun und Handeln eine prinzipiell verfügbare Fortuna gemäß den eigenen Intentionen zu beeinflussen, möglichst viele der Gaben aus ihrem Füllhorn zu ergattern, sondern einzig darin, ihrem praktisch unverfügbaren und zunächst tyrannisch erscheinenden Walten mit Gleichmut und im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung zu begegnen. Eine ancilla Dei lässt sich nicht durch menschliches Handeln beeinflussen, wie die ungerechte Verteilung der diesseitigen Gaben und Geschenke, Bürden und Unbilden der Fortuna nachdrücklich unter Beweis stellt. Die spätantike Fortuna des Boethius ist somit nicht mehr durch energisches Handeln im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen und entsprechend verfügbar. Boethius’ Auffassung der Fortuna „is based in denying the key assumption [des römischen Verständnisses der Fortuna; P. V.] that Fortune is open to being influenced“171 , so kommentiert Skinner diese Facette einer mit Boethius einsetzenden Neubeschreibung der Fortuna. Insofern verflüchtigt sich seit der Spätantike nicht nur die römische Charakterisierung der Fortuna als autarke Göttin des Zufalls, welche in ihren Launen und Wirkungen unberechenbar und doch den irdischen Bemühungen des Menschen zumindest potenziell wohlgesonnen ist, wenn dies auch nicht in verlässlicher Weise. Auch der mit dieser Charakterisierung intrinsisch verbundene, an den Menschen gerichtete und von der Unterstellung einer Dichotomie von virtus und Fortuna seinen Ausgang nehmende Appell, mittels der menschlichen virtus die Fortuna, wenn nicht endgültig zu besiegen, so doch immerhin im eigenen Sinne zu beeinflussen, auch die Überzeugung einer prinzipiellen praktischen Verfügbar- und Beeinflussbarkeit 170

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Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 79 f. Vergleiche dazu auch die Bemerkung von Michael Schilling in Anmerkung 60 auf Seite 527 in diesem Kapitel. Quentin Skinner, Machiavelli, a.a.O., S. 26.

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der Fortuna ist immer schwächer zu vernehmen. Mit und seit Boethius’ spätantiker Charakterisierung der Fortuna wird die Fortuna nicht nur theoretisch wie ikonologisch ihrer Autarkie, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer theoretischen Unzugänglichkeit und ihrer Wohlgesonnenheit beraubt, es ändert sich auch die Auffassung von der Leistungsfähigkeit der menschlichen virtus in der Auseinandersetzung mit dieser Fortuna. Die Fortuna als ancilla dei, als Hilfsmittel der göttlichen Vorsehung, legt eine „very carelessness and lack of concern for human merit in the disposition of her rewards“172 an den Tag; sie gemahnt uns Menschen daran, von dem Vertrauen auf die Möglichkeit einer aktiven Beeinflussung und praktischen Verfügbarkeit der Fortuna durch die Leistung der virtus Abstand zu nehmen, indem sie uns dabei hilft, „to direct our footsteps away from the paths of glory, encouraging us to look beyond our earthly prison in order to seek our heavenly home.“173 Nicht die Praxis des vir virtutis, sondern das philosophisch belehrte Vertrauen auf die Weisheit und Güte der göttlichen Vorsehung stellt die angemessene Reaktion des Menschen auf eine derartige, spätantike Konzeption der Fortuna dar. J. G. A. Pocock deutet Boethius’ Auffassung der Fortuna und die mit dieser Auffassung dem Menschen gestellte Aufgabe daher so: „Philosophy and faith, then, are to replace (or reconstitute) virtus as the response to fortuna; where a pagan and civic virtue found in Fortune the raw material for glorious deeds in war and statesmanship, and fame after death, the Boethian Christian regards it as a test, the occasion which demands and should evoke a life redeemed by philosophic faith and freed from the bitterness of death.“174 Für Boethius war, so bewertet ein anderer Interpret die unmittelbaren lebenspraktischen Konsequenzen der mit der Spätantike einsetzenden Auffassung der Fortuna, „jeder irdische Glückswechsel auf die unerforschliche Weisheit der göttlichen Vorsehung zurückzuführen“175 ; und dies führte zu der Geisteshaltung einer „demütigen Ergebung in das vorherbestimmte Schicksal“ und „einer Einsicht in die läuternde Wirkung des Unglücks.“176 Gewiss, Boethius’ Auffassung der Fortuna war keine auf die spätantike Welt begrenzte Erscheinung, hat sie doch auf die nachfolgenden Jahrhunderte eine ungeheure ideengeschichtliche Wirkung entfaltet, ja eine wesentlich größere als die augustinische Lösung einer gänzlichen annihilatio fortunae. Im Folgenden, und noch bevor ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels auf die Epoche der italienischen Renaissance im engeren Sinne sowie den Renaissance-Topos virtù vince fortuna, wie er in unterschiedlicher Weise vor allem im quattrocento und cinquecento formuliert, ausgebildet und interpretiert wurde, eingehe, sei diese post-antike Fortexistenz der boethianischen Lösung des

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175 176

Ebd., S. 26. Ebd., S. 26. J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975, S. 40. K. Hampe, „Zur Auffassung der Fortuna im Mittelalter“, in: a.a.O., S. 25. Ebd., S. 25.

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Fortunaproblems sowohl für die scholastische Theologie als auch für Dantes Göttliche Komödie177 als auch für Petrarcas Schrift De remediis utriusque fortunae bezeugt.178 Die scholastischen Theorien des Zufalls knüpfen insofern an die boethianische Lösung des Fortunaproblems an, als nun der Zufall – und zwar in Form der beiden Termini casus oder fortuna –, obschon seine schlichte Existenz konzediert wird, als Instrument der göttlichen Vorsehung zugleich doch mediatisiert wird. Die nahe liegende Vermutung, das scholastische Bekenntnis zur schöpfungstheologischen Affirmation der contingentia mundi179 schließe eo ipso jedwede Form der Thematisierung des Zufalls – sei’s 177

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179

Boethius’ Einfluss auf Dante wurde zuletzt von Karlheinz Stierle ausdrücklich betont. Vergleiche hierzu Karlheinz Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermeneutische Erkundungen in Dantes ‚Commedia‘, München 2007, S. 104 f. Ich übergehe in diesem Text eine ganzheitliche und umfassende Darstellung der mittelalterlichen Behandlung der Fortuna, sei’s in literarischer Form, sei’s in bildlicher Darstellung, ein Thema, welches Gegenstand eines eigenständigen Aufsatzes zu sein hätte. Vergleiche hierzu neben den bereits zitierten Arbeiten von Cioffari, Doren, Frakes, Hampe, Meyer-Landrut, Schilling und Patch, denen sich zahlreiche Hinweise auf die Fortuna des Mittelalters entnehmen lassen, die folgende Fachliteratur aus dem Bereich der Mediävistik in alphabetischer Reihenfolge, wobei ich Untersuchungen zu den mittelalterlichen Wurzeln des Fortuna-Bildes des elisabethanischen Dramas bei der Diskussion des Letzteren im siebten Abschnitt dieses Kapitels zur Sprache bringe. Helmut de Boor, „Fortuna in mittelhochdeutscher Dichtung, insbesondere in der ‚Crône‘ des Heinrich vor dem Türlin“, in: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung/ Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter 2 (1975), S. 311–328. Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, Stuttgart 1970. Ernst Kitzinger, „World Map and Fortune’s Wheel. A Medieval Mosaic Floor in Turin“, in: The Art of Byzantium and the Medieval West: Selected Studies, Bloomington/London 1976, S. 344– 356. Irmgard Meiners, „Rota Fortunae. Mitteilungen aus cgm 312“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache 93 (1971), S. 399–414. Karl Josef Höltgen, „König Arthur und Fortuna“, in: Anglia 75 (1975), S. 35–54. Alan Nelson, „Mechanical Wheels of Fortune, 1100–1547“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 43 (1980), S. 227–233. F. P. Pickering, Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter, Berlin 1966. F. P. Pickering, Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit, Berlin 1967. David Robinson, „The Wheel of Fortune“, in: Classical Philology 41 (1946), S. 207–216. Willy Sanders, Glück. Zur Herkunft und Bedeutung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs, Köln/ Graz 1965. Michael Schilling, Imagines Mundi. Metaphorische Darstellungen der Welt in der Emblematik, Frankfurt am Main/Bern/Cirencester 1979, S. 118–128. Marianne Skowronek, Fortuna und Frau Welt. Zwei allegorische Doppelgängerinnen des Mittelalters, Berlin 1964. Hans Walther, „Rota Fortunae im lateinischen Verssprichwort des Mittelalters“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 1 (1964), 48–58. K. Weinhold, „Glücksrad und Lebensrad“, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Phil.-hist. Classe, Berlin 1892, S. 3–27. Rudolf Wittkower, Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln 1984. Vergleiche dazu das dritte Kapitel dieser Arbeit, S. 194–208.

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des casus, sei’s der fortuna – in der von Gott geschaffenen Welt im Sinne der augustinischen annihilatio fortunae aus, trifft also durchaus nicht zu. Denn über casus und fortuna handelt die scholastische Theologie ausführlich, und sie kann dies tun, weil die schöpfungstheologische These von der Kontingenz der Welt zwar mit der Annahme einer göttlichen providentia, nicht aber mit einem rigiden und lückenlosen Determinismus vereinbar ist: „For the only way by which necessity releases its hold and makes way for a contingent regularity, is in consequence of the admission of exceptional or rare occurrences in which occurrences the power of Chance is shown.“180 Freilich sowohl die schöpfungstheologische These von der contingentia mundi als auch providenztheologische Überzeugungen legen für die Scholastik ein ganz bestimmtes Verständnis des Zufalls nahe und schließen ein anderes wiederum aus. Den Zufall ‚sic et simpliciter‘ will Thomas durchaus zugeben. Was dem Menschen als Zufall erscheint, mag de facto so vorkommen. Die Existenz des Zufalls soll also keinesfalls bestritten werden; doch autark ist dieser Zufall nicht. Denn in respectu Dei gilt: Nihil fit casu in mondo.181 Was Zufall ist und dem Menschen als autarker Zufall erschei-

180

181

Vincent Cioffari, Fortune and Fate from Democritus to St. Thomas Aquinas, a.a.O., S. 104. Vergleiche zu diesem Motiv der scholastischen Zufallsthematisierung und insofern zum aristotelischen Erbe der Scholastik auch die Bemerkung von August Faust: „So wird der Aristotelische Zufallsbegriff mit Hilfe der Unterscheidung von Substanz und Akzidenz aufrechterhalten und gegen jeden astrologischen Fatalismus verteidigt.“ August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, Zweiter Teil: Christliche Philosophie, Heidelberg 1932, S. 227. Vergleiche zu diesem Motiv der scholastischen Zufallsthematisierung auch die Bemerkung von Klaus Jacobi bezüglich Thomas’ Kritik eines durchgängigen Determinismus: „Eine Welt, in der es sowohl Notwendigkeit als auch Kontingenz gibt, scheint reicher als eine durchgängig determinierte Welt und insofern auch der Größe des Weltschöpfers angemessener.“ Klaus Jacobi, „Kontingente Naturgeschehnisse“, in: Studia Mediewistyczne 18 (1977), S. 8. David Bartholomew hat auf die Kapitel LXXIV („Quod divina providentia non excludit fortunam et casum“) und LXXII („Quomodo dicitur aliquis bene fortunatus, et quomodo adiuvatur homo ex superioribus causis“) in Liber III von Thomas’ Summa Contra Gentiles als die zentralen Stellen von Thomas’ Diskussion des Verhältnisses von Zufall und göttlicher Providenz verwiesen und schreibt diesbezüglich: „He [Thomas von Aquin; P.V.] claims to have proved in Chapter LXXII that it would be inconsistent with Divine Providence if all things happened of necessity. Consequently, it would also be inconsistent with divine providence if there were no luck or chance in the world.“ An anderer Stelle schreibt Bartholomew: „Now it would be inconsistent with divine providence if all things happened of necessity, as we proved above. Therefore it would also be inconsistent with divine providence if there were no luck or chance in the world.“ Vergleiche hierzu Thomas von Aquin, Opera Omnia, Band 14. Summa contra gentiles. Liber Tertius, Rom 1926, S. 214 bzw. S. 218. David Bartholomew, The God of Chance, London 1984, S. 110 bzw. 124. Vergleiche dazu auch die Bemerkung von Cioffari bezüglich Thomas’ Thematisierung der Fortuna: „Fortune exists indeed, but only secundum quid. That is, the fortuitous may be in relation to us and also in relation to the action of the celestial bodies, and even in relation to the custodian angels but not in relation to God. […] Chance, therefore may be carried all the way up to, but not into the Divinity.“ Vincent Cioffari, Fortune and Fate from Democritus to St. Thomas Aquinas, a.a.O., S. 106.

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nen mag, ist und bleibt doch stets in eine göttliche Ordnung und Vorsehung eingebettet. Johannes Seifen charakterisiert daher Thomas’ Zufallstheorie zutreffend so: „Auch Thomas von Aquin, der sich zunächst einmal noch vorbehaltlos der aristotelischen Ansicht über den Zufall anschließt und ihm Wirklichkeitsstatus zuerkennt, bettet das Phänomen schließlich doch auch wieder in die Wiege der allumfassenden Vorsehung. So wird der Zufall, wie auch das Übel, zwar nicht direkt eliminiert, aber das Vertrauen und der Glaube an die unumschränkte Herrschaft nehmen der (angenommenen) Gefährdung des Menschen durch den Zufall den gefährlichen Stachel.“182 August Faust bringt die Pointe der thomistischen Thematisierung des Zufalls, die schlichte Faktizität des Zufalls zu affirmieren, dessen Autarkie aber in respectu Dei gerade zu bestreiten, so auf den Punkt: „Gott macht also nicht etwa jeden Zufall zur Notwendigkeit; sondern er bestimmt, dass alle wahren Zufälle notwendigerweise zufällig sein sollen. Ihm allein als der obersten Ursache kommt es zu, ein ‚Gesetz für Notwendigkeit und Kontingenz‘ (legem necessitatis vel contingentiae) zu ‚konstitutieren‘“183 . Das entscheidende Argument, mit dessen Hilfe Thomas diese Mediatisierung des durchaus konzedierten, weil so auch alle deterministische Relativierung von Gottes Schöpfungsmacht in Schranken weisenden, aber eben niemals autark verfahrenden Zufalls gelingt, ist wiederum von Alphons Lhotzky präzise rekonstruiert worden. Es handelt sich um die Unterscheidung einer aus dem göttlichen Wesen entspringenden Ursache, die niemals zufällig sein kann, von so genannten sekundären Ursachen oder Mittelursachen, die entweder notwendig oder zufällig miteinander verknüpft sein können und nun in letzterem Falle den Spielraum für den Zufall eröffnen. Muss in bezug auf Gottes Wirken und Handeln jeder Zufall ausgeschlossen werden, so kann es für Thomas bezüglich der sekundären Mittelursachen durchaus Koinzidenzen geben, die dazu führen, dass diese Ursachen sich wechselseitig bei der Erreichung ihrer eigentlich vorgesehenen Wirkung behindern, „wie zum Beispiel die Kraft des Feuers im Holze durch die Einwirkung des Wassers gemindert oder ganz aufgehoben wird“184 , mithin in einer Weise koinzidieren, die ohne jede Notwendigkeit unvorhersehbare Effekte zeitigt. Gott habe, so fährt die Argumentation des Aquinaten fort, diese Möglichkeit eines für den Zufall offenen Geschehens innerhalb seiner Schöpfung im Zuge der Koinzindenz sekundärer Ursachen durchaus vorgesehen, ebenso wie er andererseits kausale Zusammenhänge geschaffen habe, die für den Zufall nicht offen seien, sondern durch göttliche providentia vorherbestimmt seien:

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Johannes Seifen, Der Zufall – eine Chimäre? Untersuchungen zum Zufallsbegriff in der philosophischen Tradition und bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Sankt Augustin 1992, S. 68. August Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, Zweiter Teil: Christliche Philosophie, a.a.O., S. 229. Alphons Lhotzky, „Die Lehre vom Zufall. Eine philosophisch-theologische Studie nach Thomas von Aquin“, in: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg 3 (1910), S. 62.

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V  : Z I  T „Die tatsächliche Leugnung des Zufalls würde, wie Thomas schließt, also zu der widersinnigen Annahme führen, dass alles Geschehen notwendig sei und würde auch dem Wesen der göttlichen Vorsehung widersprechen, welche beides, nicht nur das naturnotwendige, sondern auch das kontingente Wirken in die Naturen der Ursachen schöpferisch hineingelegt hat.“185

Wie auch immer es der scholastischen Schöpfungs- und Providenztheologie gelingen mag, dem Zufall eine theoretisch legitime Funktion innerhalb ihres gesamten Denkgebäudes zuzubilligen: Was bezüglich der von Gott zugelassenen sekundären Ursachen zumindest theoretisch plausibel ist, dass es nämlich Zufall gibt, kann in respectu Dei niemals zutreffend sein: „Also gibt es für Gott selbst keinen Zufall. Die Kontingenz des Handelns, welche Er in die Natur gewisser freier Wirkursachen hineingelegt, schließt indes bei den letzteren nicht die Möglichkeit aus, etwas anderes etwa zu wollen, als Gott will.“186 Ebenfalls besagt die von Thomas konzedierte Tatsache, dass sich aus der Koinzidenz von gewissen causae secundae Zufall in der göttlichen Schöpfung durchaus ereignen kann, nicht, dass sich Gott nicht doch jederzeit, so wie es sein Wille und seine Güte wollen, dieser causae secundae für die Durchsetzung seiner Zwecke bedienen könnte. „Dem Willen Gottes gemäß besteht das Zufällige neben dem Notwendigen hier auf Erden und es kann Gott wenigstens indirekt oder mittelbar als der Urheber desselben aufgefasst werden, da er alle Vorbedingungen geschaffen, welche das Auftreten zufälliger Wirkungen ermöglichen: es sind die Mittelursachen, durch deren weitverzweigte, mannigfaltige Verknüpfungen oft der Zufall zum Vorschein kommt, die in Diensten der göttlichen allgemeinen Weltregierung zur Verwirklichung des Universalzweckes beitragen. Aus diesem aktiven, ursächlichen Einflusse, welchen Gott auf das zufällige Geschehen nimmt, folgt aber durchaus nicht, dass es passiv genommen für Gott selbst etwas Zufälliges geben müsse; ist der erstere Satz an sich richtig, so lässt er nicht eine umgekehrte Fassung zu.“187 Daher hält Lhotzky für den gläubigen Christen die folgende Einstellung zum Zufall für die einzig mögliche und maßgebliche: „Das vom christlichen Glauben durchdrungene Gemüt wird wohl nicht das Dasein des Zufalls an sich, aber mit Rücksicht auf Gott, dessen Allmacht und Allwissen verneinen müssen. Es wäre wahrlich ein kleiner Gott, der durch zu185

186

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Ebd., S. 99. Vergleiche dazu Thomas von Aquin, Opera Omnia, Band 14. Summa contra gentiles. Liber Tertius, Rom 1926, S. 218: „Esset autem contra rationem divinae providentiae, si omnia ex necessitate contingerent“. Ebd., S. 71. Vergleiche dazu Thomas von Aquin, Opera Omnia, Band 14. Summa contra gentiles. Liber Tertius, a.a.O., S. 280: „Nam per comparationem ad ipsum, non solum in rebus humanis, sed nec in aliqua re potest esse aliquid casuale vel improvisum.“ Ebd., S. 68.

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fällige Verknüpfungen im Bereiche des irdischen Geschehens in seiner unendlichen Macht auch nur im mindesten abhängig oder gebunden gedacht werden könnte!“188 Anneliese Maier hat die Pointe der scholastischen Position, den Zufall einerseits als factum brutum zu akzeptieren, um sich so einer durchgängig deterministischen Kosmologie theoretisch zu erwehren, andererseits den Zufall in respectu Dei gleichsam zu sublimieren und ihn also gerade nicht als eine autarke Instanz aufzufassen, ganz ähnlich wie Lhotzky beschrieben. Dabei situiert Maier die scholastischen Begriffe von Kontingenz, Notwendigkeit und Zufall vor dem Horizont einer an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert geführten theoretischen Debatte, die sich die Frage vorlegt, „ob alles in der Welt mit Notwendigkeit geschieht, oder ob es Kontingenz und Zufall gibt, und zwar wurde bei dieser Fragestellung durchaus nicht nur, und auch gar nicht einmal in erster Linie, an die Kontingenz der freien Willenshandlungen gedacht. […] In den Diskussionen über Notwendigkeit, Kontingenz und Zufall ging es jedenfalls zunächst darum, ob im Bereich der rein physischen Vorgänge alles de necessitate erfolge, oder ob es Ursachen gäbe, die nicht mit Notwendigkeit wirken und umgekehrt Effekte, die nur contingenter oder gar nur durch Zufall zustande kommen.“189 Maier rekonstruiert, wie es im Laufe dieser Debatte dazu kommt, dass die thomistische Auffassung, die zwar zunächst für alles natürliche Geschehen eine Ursache postuliert, nur um daraufhin zu folgern, dass eben doch nicht alles de necessitate geschehen würde, im 14. Jahrhundert einer Auffassung weicht, wonach „Kontingenz im eigentlichen Sinn […] nur noch die freien Willenshandlungen“190 haben. Im Kontext dieser Debatte hätte sich – jenseits der Diskussion des theoretischen Verhältnisses und der semantischen Differenzen von Kontingenz und Zufall –, was allein die Frage der natürlichen Existenz des Zufalls betrifft, die Ansicht einer lückenlosen Determination allen natürlichen Geschehens zunehmend durchgesetzt:

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Ebd., S. 7. Anneliese Maier, „Notwendigkeit, Kontingenz und Zufall“, in: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Rom 1949, S. 219 f. Ebd., S. 241. Maier folgert weiter, dass ebendiese theologische Position das Denken der neuzeitlichen Naturwissenschaften entscheidend beeinflusst hat, nur um dann von der Physik des 20. Jahrhunderts wieder in Frage gestellt zu werden: „Das ist die Auffassung gewesen, die sich im Laufe des Jahrhunderts [des 14. Jahrhunderts; P. V.] allmählich durchgesetzt hat und die dann von der Philosophie und der Naturwissenschaft der Neuzeit übernommen worden ist. Der Begriff der ‚Kontingenz‘ bleibt reserviert für die freien Willenshandlungen und was mit ihnen zusammenhängt; den natürlichen Geschehnissen wird die durchgängige ‚Notwendigkeit‘ zugeschrieben.“ (ebd., S. 250) Der physikalische Indeterminismus und seine Infragestellung des Determinismus im 20. Jahrhundert erinnert Maier somit an die von ihr diskutierte theologische Kontroverse im 13. und 14. Jahrhundert, denn „fast dasselbe Problem“, welches in der zeitgenössischen Physik diskutiert werde, habe „auch in der Philosophie des 13. und 14. Jahrhunderts eine Rolle gespielt, wenn auch mit andern Voraussetzungen und andern Hintergründen.“(ebd., S. 219.)

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V  : Z I  T „[…] für die prima causa gibt es keinen Zufall. Das heisst aber: an sich betrachtet gibt es überhaupt keinen Zufall in der Welt, sondern nur in relativem Sinn, ‚in respectu‘, d. h. nur bezogen auf besondere partikuläre Ursachen und nur für denjenigen, der den concursus causarum nicht zu übersehen vermag.“191

Die scholastischen Formen einer „reconciliation of Fortune with providence“192 , wie sie hier am Beispiel des Aquinaten und mit Hilfe einer ganzen Reihe von Interpreten vorgeführt wurden, die wirkungsgeschichtlichen Spuren einer christlichen und in der Spätantike erstmals formulierten Mediatisierung des Zufalls oder der Fortuna, welche, anders als dies bei Augustinus der Fall ist, die Existenz eines Zufalls oder der Fortuna zwar konzediert, diese aber nicht als autarke Instanzen zulässt, sie lassen sich im Mittelalter aber nicht nur in der scholastischen Theologie nachweisen. Sie prägen auch die Literatur des ausgehenden Mittelalters wie der Frührenaissance. Exemplarisch sei diese Einschätzung sogleich im Blick auf Dantes Göttliche Komödie und Petrarcas De remediis utriusque fortunae bestätigt.193 Zuvor freilich darf ich die kultur- und alltagsgeschichtliche Omnipräsenz der Fortuna auch für das Mittelalter noch mit Hilfe eines bemerkenswerten Aperçus illustrieren: Petrarca liefert uns 1361 folgenden Bericht über seinen Aufenthalt am Pariser Königshof, den er im Zuge seiner Zugehörigkeit zu einer offiziellen Delegation aus Mailand verbrachte: „Nichts […] hat bei König, Würdenträgern und dem ganzen Hof einen so unauslöschlichen Eindruck hinterlassen wie meine Ausführungen über Fortuna. Ganz erstarrt sah ich sie alle und von mir äußerlich wie innerlich gebannt, als Fortunas Name fiel. […] Aber diese Rede genügte den Zuhörern bei weitem nicht. Nach meiner Rede vor dem König […] verabredete sich der Sohn des Monarchen, der Herzog der Normandie, insgeheim mit einigen eigens dazu bestellten gelehrten Männern, bei Gelegenheit des mir gegebenen Bankettes, mit mir einen Disput anzufangen, der das ganze Fortunathema noch einmal von Grund auf neu entwickeln sollte. So viel lag dem Prinzen daran, dass er während des ganzen Gastmahls an nichts anderes dachte und dem König beständig Zeichen gab, doch endlich mit dem geplanten Gespräch anzufangen.“194

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194

Ebd., S. 231. Vergleiche Anmerkung 166, S. 553 in diesem Kapitel. Zu Boccaccios Umgang mit der Fortuna in seinem Werk De casibus virorum illustrium vergleiche die instruktiven Ausführungen von Willard Farnham. Farnham schreibt in einem Boccaccio gewidmeten Kapitel seiner Arbeit, Boccaccio unterstelle „the very real existence of a certain power in mortal affairs which it is excusable to call rather indiscriminately Fortune or the stars, but which it is not excusable to separate from the all-embracing and guiding intelligence of God.“ Willard Farnham, The Medieval Heritage of Elizabethan Tragedy, Oxford 1956, S. 104. Zitiert nach Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, a.a.O., S. 39.

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„Wenn aber“, so kommentiert Klaus Heitmann diese Passage, „das Problem bei Hofe schon so brennend war, wie musste es dann erst bei Bürgern und Bauern, in der Masse des Volkes sein!“195 Damit aber nun zu Dante und Petrarca, zwei exemplarischen Protagonisten einer „reconciliation of Fortune with providence“196 in der Hochkultur des späten Mittelalters und des aufkommenden Humanismus: Im Siebten Gesang des Inferno kommt Dante ausdrücklich auf die Fortuna zu sprechen. Vergil, veranlasst von einer Frage seines Schützlings Dante, charakterisiert die Fortuna ganz im Sinne der boethianischen Lösung des Fortunaproblems als ancilla Dei, nicht als eine der göttlichen Vorsehung widersprechende Instanz, sondern als die von Gott eingesetzte „general ministra e duce“ ebenjener Vorsehung; und diese Erkenntnis glaubt er seinem törichten Begleiter ausführlich erläutern zu müssen: „Mein Meister“, sagte ich, „sag mir bitte auch: Diese Fortuna, die du erwähnt hast, wer ist die denn, die alles Gut der Welt so zwischen ihren Klauen hat?“ Und er zu mir: „Ach, ihr törichten Geschöpfte, wie groß ist doch die Ahnungslosigkeit, die euch so schadet! Jetzt sollst du meine Auffassung davon hören und in dich aufnehmen. Er, dessen Weisheit alles übersteigt, schuf die Himmel und ordnete ihnen Engel zu, in der Weise, dass jeder Himmel einen Lenker hat, der ihn durchhellt und Gottes Licht gleichmäßig dort verbreitet. Ähnlich bestellte er für Glanz und Macht auf Erden einen allgemeinen Lenker und Verwalter, welcher zu gegebener Zeit die vergänglichen Güter von einem Volk auf ein anderes und von einer Familie auf eine andere verlagert, ohne dass menschliche Einsicht etwas dagegen unternehmen könnte. Ist es doch so, dass ein Volk herrscht und das andere schwach ist, je nach Fortunas Ratschluss; der aber liegt verborgen wie die Schlange im Gras. Ihr könnt euch mit eurem Wissen ihr nicht widersetzen: Sie sieht vorher, sie urteilt und sie übt die Herrschaft aus, ganz wie die andern göttlichen Instanzen. Ihre Wandlungen allerdings geschehen ohne Unterlass: Notwendigkeit macht sie so schnell; weshalb denn auch so häufig jemand einen Wechselfall erfährt. Und weshalb sie denn auch so häufig angeprangert wird, gerade von denen, die sie eigentlich loben müssten und die sie stattdessen zu Unrecht beschimpfen und verwünschen. Denn sie ist im Reich der Glückseligkeit für sich und hört dies nicht: Wie die anderen Ersterschaffenen bewegt sie freudig ihre Sphäre und ruht selig in sich selbst.“197 195 196 197

Ebd., S. 39. Vergleiche Anmerkung 166, S. 553 in diesem Kapitel. Dante Alighieri, La Commedia. Die Göttliche Komödie I. Inferno/Hölle, Stuttgart 2010, S. 111 f. Im Original lautet die Passage gemäß der zitierten Ausgabe (Inferno VII, 67–96): „Maestro,“ diss’ io lui, „or mi di’ anche: questa Fortuna di che tu mi tocche che è, che i ben del mondo ha sì tra branche?“

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Was dem um Auskunft bittenden Dante offenkundig unverständlich erscheint, nämlich die „Klauen“ der Fortuna, welche die Güter der Welt willkürlich und planlos verteilen, gilt Vergil als Ausdruck und Mittel der göttlichen Vorsehung. Insofern lässt sich auch für Dante zeigen, dass er, wie Skinner formuliert, „upholds the same essentially Boethian idea of Fortuna as a heavenly instrument“198 . Auch für Dante und seine Thematisierung der Fortuna in der Göttlichen Komödie ist, wie Doren schreibt, „was der kurzsichtigen Torheit der Menschen Laune und Willkür erscheint, nur Ausdruck einer sie treibenden, lebensbeherrschenden, transzendentalen Notwendigkeit.“199 Auch in Petrarcas 1366 fertig gestellter Schrift De remediis utriusque fortunae, von deren editio princeps von etwa 1474 bis ins 18. Jahrhundert hinein zahlreiche Handschriften und Neuauflagen in allen europäischen Sprachen erschienen, dessen unterschiedlichen Titelseiten wir zahlreiche Darstellungen der Fortuna und insofern wichtige ikonologische Aufschlüsse verdanken, bleibt die Fortuna trotz aller Petrarcas Schrift kennzeichnenden Ambivalenz zwischen antiken und christlichen Gedankengängen in letzter Instanz in die christliche Vorsehung eingebettet200 ; „das Rad spielt bei ihm“, so

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Ed elli a me: „Oh creature sciocche, quanta ignoranza è quella che v’offende! Or vo’ che tu mia sentenza ne ‘mbocche. Colui lo cui saper tutto trascende fece li cieli, e diè lor chi conduce, sì che ogni parte ad ogni parte splende, distribuendo igualmente la luce: similemente alli splendor mondani ordinò general ministra e duce, Che permutasse a tempo li ben vani di gente in gente e d’uno in altro sangue, oltre la difension de’ senni umani; per ch’una gente impera ed altra langue, seguendo lo giudizio di costei, che è occulto, come in erba l’angue. Vostro saver non ha contrasto a lei: questa provede, giudica, e persegue suo regno, come il loro li altri dei. Le sue permutazion non hanno triegue: necessità la fa esser veloce, sì spesso vien chi vicenda consegue. Quest’ è colei ch’è tanto posta in croce pur da color che le dovrìen dar lode, dandole biasmo a torto e mala voce; ma ella s’è beata e ciò non ode: con l’altre prime creature lieta volve sua spera e beata si gode.“ Quentin Skinner, Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, a.a.O., S. 96. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 99. Vergleiche zu dieser Schrift generell und zu der Betonung ihres christlichen Inhalts im Speziellen die instruktive Studie von Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, a.a.O.

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urteilt Doren über Petrarca, „seine alte Rolle“201 als Symbol für die Unbeständigkeit und Unglücksfälle aller irdischen Bemühungen, handelt dabei aber nicht autark. Vielmehr lassen sich die Resultate dieses Glücksrads in respectu Dei als Mittel und Effekte einer göttlichen Vorsehung interpretieren. Zunächst scheint diese von Doren vorgeschlagene Deutung indes kaum stichhaltig: Petrarca beginnt seine Schrift mit einer Diagnose, deren Sensibilität für die Fortunaanfälligkeit des menschlichen Lebens ganz unstrittig ist: „Wenn ich an die Angelegenheiten und Schicksale der Menschen [„res fortunasque hominum“ lautet die Passage im originalen Wortlaut; P. V.] denke, an die ungewissen und plötzlichen Veränderungen der Dinge, finde ich kaum Zerbrechlicheres und Ruheloseres als das Menschenleben.“202 Die „Schuld“ für diese Fragilität des menschlichen Daseins aber, so führt Petrarca weiter aus, komme dem Menschen zu („culpa omnis in nobis est“). Petrarca argumentiert zunächst offensichtlich ganz im Sinne jener antiken Kennzeichnung der Fortuna als praktisch beeinflussbar und verfügbar. Die Vorstellung einer irgendwie autark handelnden oder gar praktisch unverfügbaren Fortuna lässt sich seiner Argumentation zunächst nicht entnehmen, wie auch die folgende, überaus deutlich der römischen Dichotomisierung von virtus und Fortuna verpflichtete Bemerkung bezeugt: „[…] was ist das doch für ein Krieg (ein ewiger sogar!), den wir gegen Fortuna führen, über die uns einzig und allein die Charakterstärke zu Siegern machen könnte [„poterat facere Virtus sola victores“ lautet die Passage im Original; P. V.].“203 Worin besteht aber diese Charakterstärke? Darin, so führt Petrarca aus, für die „schmeichelnde Fortuna“ ebenso wie für die „drohende Fortuna“ auf die richtigen „Heilmittel“ zu vertrauen: „Denn, wie gesagt, beide Gesichter Fortunas sind zu fürchten, und doch müssen beide ertragen werden. Das eine bedarf des Zügels, das andere des Trostes, hier muss die gehobene Stimmung gedrückt, dort die ermüdete neu erquickt und aufgerichtet werden.“204 Dieser Ambivalenz der Fortuna entsprechend teilt sich Petrarcas Schrift in zwei Dialoge auf: zum einen ein Gespräch der Vernunft („ratio“) mit dem Übermut („gaudium“) und der Begehrlichkeit („spes“), zum anderen ein Gespräch der Vernunft mit der Niedergeschlagenheit („dolor“) und der Angst („metus“). Während es einerseits gelte, durch Mäßigung und Bescheidenheit die glücklichen Effekte der prospera fortuna nicht zu überschätzen, bestehe die Aufgabe von Tapferkeit und Trost andererseits darin, sich von der adversa fortuna nicht entmutigen zu lassen. Nun ließe sich Petrarcas bislang skizzierte Argumentation widerspruchsfrei als neostoisches oder auch als neociceronisches Traktat verstehen, als Fortführung der antiken Eloge auf die Kräfte der menschlichen virtus, welchen stets zugetraut wird, mit Hilfe bestimmter Verhaltensweisen auf die For201 202

203 204

Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 107. Francesco Petrarca, Heilmittel gegen Glück und Unglück. De remediis utriusque fortunae, herausgegeben von Eckhard Kessler, München 1988, S. 45. Ebd., S. 47. Ebd., S. 55.

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tuna einzuwirken, sei’s dass durch Klugheit ihre leidvollen Effekte vermieden werden, sei’s dass durch Tapferkeit die Fortuna direkt beeinflusst wird, mithin als ein Traktat, dessen spezifische Pointe allein darin bestünde, nicht nur auf die Gefahren einer übel mitspielenden Fortuna hinzuweisen, sondern auch auf für die Gefahren ihrer Gunstbezeugungen aufmerksam zu sein. So deutet übrigens auch Rudolf Wittkower Petrarcas Schrift: „The stoic recommendation of virtue as a remedy against the caprices of chance was transmitted by Petrarch to the humanists of the Renaissance.“205 Aber eine vollständige Interpretation von De remediis utriusque fortunae darf sich mit Wittkowers Hinweis auf die stoischen Wurzeln von Petrarcas Schrift nicht begnügen, sondern davon allenfalls ihren Ausgang nehmen. Denn ebenso wie die Consolatio philosophiae des Boethius ist auch Petrarcas Argumentation in De remediis utriusque fortunae von einer Kombination aus antiken und christlichen Motiven durchtränkt. Auch Petrarca kann aufgrund seines unbeirrbaren Glaubens an die göttliche Providenz206 nicht anders, als die Fortuna in letzter Instanz als ancilla Dei, nicht aber als eine Gott eigenmächtig und autark gegenüberstehende Macht aufzufassen: „Als guter Christ ist Petrarca von der Überzeugung durchdrungen, dass uns alles Glück und alles Unglück nicht anderswoher denn aus Gottes Hand zustößt.“207 Dieses christliche Element verkennt jedoch eine Forschungstradition, die den Humanismus Petrarcas als Verächtlichkeit gegenüber dem christlichen Glauben oder als Version einer antiken Naturreligion oder gar als Frühform einer säkularen Aufklärung betrachtet.208 Seinem Glauben an eine christliche providentia und der entsprechenden Einbettung der Fortuna in ebendiese entnimmt Petrarcas Moralistik nun freilich Konsequenzen, die für seine Auffassung der virtus und seine Zuversicht, dass „poterat facere Virtus sola victores“, nicht folgenlos bleiben können: Denn für Petrarca gilt, dass die letzthin einzig mögliche Antwort des Christenmenschen auf die wie auch immer aufzufassende Instanz der Fortuna in einer Abwendung von weltlichen Belangen und einer Hinwendung zu Gott bestehen kann, welche auf dessen Fürsorge vertraut und in dessen Fürsorglichkeit einwilligt, nicht aber sich im Sinne der geschilderten ciceronischen Variante römischer Fortunabewältigungspraxis darauf versteift, die Fortuna durch eigenes Bemühen und direkten Eingriff qua fortitudo zu beeinflussen und zu übertrumpfen, freilich auch nicht im Sinne der geschilderten stoischen Fortunavermeidung qua prudentia, also durch Externalisierung aller irrelevanten Güter und den Rückzug in die Zitadelle subjektiver Innerlichkeit, der Illusion anheim fällt, die mäßigende Relativierung der Effekte der 205

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Rudolf Wittkower, „Chance, Time and Virtue“, in: The Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 1 (1937/1938), S. 316. Doren zitiert exemplarisch aus einer mir nicht vorliegenden, italienischen Übersetzung folgende Passage aus De remediis utriusque fortunae (II, 210): „Lasciate che Idio guidi gli uomini a suo modo, e voi state a vedere quelle che egli fae, e lodatelo. Lasciate fare e operare colui che n’è usato; e non negate di fare a Dio quella reverenzia che voi fate a uno maestro dotto nell’arte sua“; und Doren interpretiert diese Stelle mit den Worten, „aus dem strengen Richter“ sei hier zwar der „tüchtige Baumeister“ geworden, die göttliche Providenz bleibe in ihrer Suprematie über alles menschliche Handeln gleichwohl erhalten. Vergleiche dazu Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 107. Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, a.a.O., S. 47. Vergleiche zu der Korrektur solcher Interpretationen Heitmanns Ausführungen in ebd., S. 253–259.

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prospera fortuna und der adversa fortuna als eigenmächtige Leistung und souveränen Akt verstehen zu können. Vielmehr hat Petrarca, wenn er von „virtus“ in einem entschieden christlichen Sinne spricht, wenn er davon spricht, dass uns „einzig und allein die Charakterstärke zu Siegern machen könnte“, das Vertrauen auf Gottes gütige Vorsehung und die Einwilligung in diese Vorsehung als Ideal vor Augen, nicht aber die Konzentration auf weltliche Belange und auch nicht die ihm als Häresie geltende und, wie wir ja sahen, Seneca wie Cicero gemeinsame Ansicht, über diese weltlichen Belange durch eigene Verdienste und eigene praktische Leistungen welcher Art auch immer prinzipiell verfügen zu können. Jene Antwort auf die Klagen des Schmerzes, wie sie im zweiten Teil von De remediis utriusque fortunae formuliert wird, gibt Petrarcas letztliche theoretische Abwendung von einer römischen Fortunabewältigungspraxis in ihrer ciceronischen wie in ihrer stoischen Variante hin zu einer christlichen Auffassung von virtus und einem christlichen Rekurs auf Transzendenz deutlich zu erkennen, insofern die Vernunft dort dem Schmerz, der seine Betrübnis über das Leben ausruft, eine Rezeptur verschreibt, welche sich so, und dies ist bezeichnend, weder in Ciceros Empfehlung für den menschlichen Umgang mit dem Schmerz noch in seiner Kritik der stoischen Schmerzthematisierung im zweiten Buch der Tusculanae Disputationes findet:209 „So möge dich die Glückseligkeit [„felicitas“ im Original; P. V.] jenes anderen Lebens froh machen! Denn selbst bei allertiefstem Elend kann dies Leben nicht so elend sein, wie jenes glückselig ist. […] Väterlich fürwahr und mehr als väterlich ist Gottes Sorge um euch, so dass ich mit leichter Veränderung des Satirikerwortes sagen möchte: ,Wahrlich, Ihm ist der Mensch lieber als dieser sich selbst.‘ Wo bleibt da noch Raum für Traurigkeit und Klage? Nicht eure Natur also, sondern eure Schuld macht euch betrübt und beschwerdeführend.“210 Heitmann sieht in einer derartigen Maxime die lebenspraktische Konsequenz einer christlichen Einbettung der Fortuna ganz deutlich artikuliert. Wenn die Fortuna als ancilla Dei zu verstehen ist, dann ist nicht „trotziges Sichaufbäumen“, gleichviel, ob die Effekte der Fortuna gleichsam ins Leere laufen oder durch direkten Eingriff aktiv beeinflusst und überwunden werden sollen, sondern „rückhaltlose Fügung in Gottes Geschick“211 die Verkörperung der höchsten dem Menschen möglichen virtus:

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Zu Ciceros Diskussion des menschlichen Umgangs mit dem Schmerz vergleiche meine obigen Ausführungen in diesem Kapitel, S. 530–532. Francesco Petrarca, Heilmittel gegen Glück und Unglück. De remediis utriusque fortunae, herausgegeben von Eckhard Kessler, a.a.O., S. 189 bzw. 195. In der Tat verändert Petrarca hier eine Formulierung aus Juvenals Satiren 10, 350 in signifikanter Weise. Juvenals Formulierung „carior est illis homo quam sibi“ spricht von den Göttern offenkundig im Plural („illis“), während Petrarca im lateinischen Original von Gott im Singular spricht („Vere carior est illi homo quam sibi.“). Vergleiche dazu Juvenal, Saturae sedecim, herausgegeben von James Willis, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 148. Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, a.a.O., S. 84.

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V  : Z I  T „Die Virtus der Peripatetiker und Stoiker war die Summe des Widerstandes, den der Mensch aus sich heraus aufzubringen vermochte; ein Teil der τέχνη – dessen, was die Menschen propter se ipsos agunt, wie Aristoteles es definierte, insofern ganz unabhängig von deren Gegenpol, der τύχη. Die philosophische Virtus war, mit anderen Worten, eine dem Menschen immanente Waffe gegen die Wechselfälle des Lebens. Die christliche Virtus dagegen, die Petrarca lehrt – nicht Verdienst, sondern Gnade – wird dem Streiter gegen die Versuchungen von Glück und Unglück von außen her, von oben, eingegeben. Sie stellt eine transzendente Waffe dar.“212

Aber Waffe ist eigentlich schon nicht mehr das rechte Wort. Denn sobald die Fortuna als ancilla Dei verstanden wird, befindet sich der Mensch, wie auch immer seine virtus beschaffen sein mag, keiner zu bekämpfenden oder überhaupt nur zu beeinflussenden Fortuna mehr gegenüber, sondern kann und soll der Vorsehung Gottes vertrauen und in ihre Ratschlüsse einwilligen. An Petrarca lässt sich insofern gut studieren, wie sich je nach Konzeption der Fortuna, der sich die virtus gegenüber sieht – Fortuna im Sinne des Mediums einer göttlichen Vorsehung oder im Sinne einer autarken Göttin des Zufalls –, der Pol der virtus in der uns interessierenden Dichotomie von virtus und Fortuna ganz anders bestimmen lassen muss. Gewiss, die Spannung zwischen virtus und Fortuna konnte schon in der Antike, wie wir sahen, in unterschiedlicher Weise aufgelöst werden. Wir registrierten den trotzigen und aktiven Versuch einer direkten Beeinflussung der Fortuna qua fortitudo in Verbund mit dem Pathos, das Regiment der Fortuna endgültig überwinden und besiegen zu können, ebenso wie das prudentielle Vermeiden der Fortuna durch einen Rückzug in die sturmbewehrte Zitadelle der subjektiven Innerlichkeit. Beide Varianten römischer Fortunabewältigungspraxis teilten aber immerhin die Annahme einer prinzipiell beeinflussbaren und verfügbaren Fortuna. Wird die Fortuna hingegen in christlicher Weise providenztheologisch eingebettet und daher gerade nicht als praktisch verfügbar und durch menschliches Handeln und Tun beeinflussbar konzipiert, sondern vielmehr als praktisch unverfügbar, dann kann virtus überhaupt nicht mehr in einer Leistung oder in einem Verdienst welcher Art auch immer bestehen, sondern allein in einem Glauben, der sich wiederum in Einstellungen wie Dankbarkeit, Vertrauen oder Hoffnung widerspiegeln mag.213 (3) Die bisherigen Ausführungen dienten allesamt dem übergeordneten Zweck, die von Eugenio Garin und Paul Oskar Kristeller als für die Epoche der Renaissance und vor allem für das Denken der Humanisten des quattrocento als konstitutiv eingestufte Dichotomie von virtus und Fortuna insbesondere in der Form des vernakularen Topos virtù vince fortuna ideengeschichtlich zu kontextualisieren. Nur diese ideenhistorische 212 213

Ebd., S. 80 f. Vergleiche dazu den vierten Abschnitt des letzten Kapitels dieser Arbeit, in welchem ich auf den S. 689–693 in Anschluss an eine von Reinhold Esterbauer inspirierte Kritik an Lübbes Verständnis von Religion als eine spezifische Form von Kontingenzbewältigungspraxis Dankbarkeit, Vertrauen und Hoffnung als die drei Zeitmodi genuin religiöser Kontingenz- und Zufallsthematisierung skizziere.

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Kontextualisierung, welche den unterschiedlichen Auffassungen der Fortuna und den unterschiedlichen Auffassungen des Verhältnisses von virtus und Fortuna zwischen römischer Antike und 14. Jahrhundert, gleichsam zwischen Cicero und Petrarca nachspürt, so lautete das zugrunde liegende Motiv für dieses theoretische Unterfangen, ermöglicht wiederum zu verstehen, was dem Zeitalter der Renaissance und des Humanismus ab dem 15. Jahrhundert der Topos virtù vince fortuna war und sein konnte. Nunmehr nämlich, nach all den bisherigen Ausführungen, lässt sich der Gehalt dieses Topos, wie ihn die Humanisten des quattrocento auffassten, zur Fortunakonzeption und zum Tugendbegriff der römischen Antike ebenso in Bezug setzen wie zu einer augustinischen annihilatio fortunae und schließlich zu jener boethianischen Versöhnung von Fortuna und providentia, deren Wirksamkeit sich noch für das Denken der Scholastik ebenso wie in den Schriften Dantes und Petrarcas nachweisen ließ. Was zunächst den lateinischen Begriff der Tugend, den Begriff der virtus angeht, also einen Pol der Dichotomie von virtus und Fortuna, so verweist Quentin Skinner darauf, dass die Humanisten des quattrocento dem „Ciceronian concept of virtus“214 , welches sich exemplarisch in den Tusculanae Disputationes formuliert findet, verpflichtet blieben.215 Demnach müssen von einer tugendhaften Person nicht nur die vier antiken Kardinaltugenden iustitia, prudentia, temperantia und fortitudo beachtet werden. Vielmehr sollen sich alle Lebensäußerungen des vir virtutis als Ausdruck höchster Bildung und Tugendhaftigkeit verstehen lassen. Es geht demnach weniger um Fertigkeiten und Eigenschaften, sondern um so etwas wie die ganzheitliche Schulung einer Persönlichkeit, es geht gleichsam um eine Perfektion der Seele. Dieses Ideal der virtus und des vir virtutis, wie es die Humanisten des quattrocento formulieren, zehrt deutlich vom Erbe jener klassisch-römischen Auffassung dieses Begriffs, wie sie exemplarisch Cicero formulierte. Vor allem den pädagogischen Traktaten der Zeit glaubt Skinner die Orientierung des quattrocento am römischen Ideal des vir virtutis deutlich entnehmen zu können: „The fundamental aim of all education is thus taken to be the development of the vir virtutis – the truly manly man, the person whose character can be summed up simply by saying (as Shakespeare makes Antony say of Brutus) ‚This was a man.‘“216 Das Ideal eines vir virtutis, der sich in seinem praktischen Verhalten an die Ausübung der virtus hält und gerade dadurch als vir virtutis erweist, dieses Ideal eines uomo universale, wie es in den auf Italienisch verfassten Traktaten der Zeit häufig heißt, dieses Ideal einer Person, die in all ihren praktischen Lebensvollzügen ihre Bildung und Erziehung zum Ausdruck bringt, darf nicht vorschnell als ein paganes gedeutet werden. Diesbezüglich distanziert sich Skinner übrigens auch von Jacob Burckhardts Auffassung der 214

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Quentin Skinner, Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, a.a.O., S. 88. Vergleiche zum virtus-Ideal der Tusculanae Disputationes meine Ausführungen auf S. 537 f. in diesem Kapitel. Quentin Skinner, Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, a.a.O., S. 87.

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Renaissance. Aber, und dies stellt nun in der Tat einen Bruch zumindest mit der augustinischen Konzeption des Verhältnisses zwischen göttlicher Gnade und menschlichen Fähigkeiten dar, aber natürlich implizieren die Apologie des uomo universale und der virtù sowie die Anlehnung an das klassische Konzept des vir virtutis die Abkehr von einem Menschenbild, wonach der Mensch all seine Vermögen und Leistungen ausschließlich der göttlichen Gnade verdankt. Eine Vorstellung, wonach das Erreichen des Ideals des vir virtutis gerade nicht Resultat von selbst in die Hand genommenen Bildungsbemühungen sein kann, sondern praktisch unverfügbar ist, ein solches Menschenbild kann den Humanisten der Renaissance nicht als akzeptabel gelten, ein solches Menschenbild erregt daher auch den Widerspruch der humanistischen Erziehungstraktate, die doch allesamt das Gegenteil unterstellen. In Abwehr der augustinischen Überzeugung von der menschlichen Sündhaftigkeit und der unüberwindbaren Erfolglosigkeit und Nichtigkeit aller menschlichen Bemühungen, die höchsten Ideale eines diesseitigen Lebens zu erreichen, insistieren die Humanisten jener Zeit allesamt darauf, so Skinner, „that men do in fact have the power to attain the highest excellence.“217 Dergestalt rezipieren die Humanisten des quattrocento freilich nicht nur die römische Auffassung der virtus und das ciceronische Ideal des vir virtutis. Insofern sie postulieren und es für unbestreitbar halten, dass es dem Menschen grundsätzlich möglich ist, das Ideal des vir virtutis oder des uomo universale auch tatsächlich in die Wirklichkeit zu bringen, die Realisierung dieses Ideals also praktisch verfügbar ist, folgen sie auch der römischen Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen ebendieser virtus und der Fortuna: „To assert that men are capable of reaching the highest excellence is to imply that they must be capable of overcoming any obstacles to the attainment of this goal. The humanists willingly recognise that their view of human nature commits them to just such an optimistic analysis of man’s freedom and powers, and in consequence go on to offer an exhilarating account of the vir virtutis as a creative social force, able to shape his own destiny and remake his social world to fit his own desires.“218 Eine derartige Bestimmung der virtus und eine solchermaßen optimistische Einschätzung des Kräfteverhältnisses von virtus und Fortuna müssen unweigerlich Auswirkungen auf den anderen Pol der Dichotomie von virtus und Fortuna, also auf die Charakterisierung der Fortuna haben. Welches Bild der Fortuna korrespondiert einer solchermaßen optimistischen Einschätzung der menschlichen Fähigkeit, ein Leben nach den Kriterien der virtus zu führen, welche Funktionen und charakterlichen Merkmale können der Fortuna in einem solchen Rahmen noch zugestanden werden? Die Ablehnung eines augustinischen Menschenbildes ebenso wie die Orientierung an antiken Vorstellungen eines tugendhaften und idealen Lebens führen die Auffassung der Fortuna, wie wir sie im 15. Jahrhundert antreffen, wieder in die Nähe ihrer römischen Wurzeln zurück und weg von jener boethianischen Lösung des Fortunaproblems, wie sie sich von der Spätantike bis noch zu Petrarcas De remediis utriusque fortunae erstreckt. 217 218

Ebd., S. 93. Ebd., S. 94.

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Erneut erscheint nun die Fortuna als eine wohlgesonnene, zumindest neutrale, vor allem aber als eine durch menschliche virtù beeinflussbare und menschlichen Leistungen und Verdiensten prinzipiell praktisch verfügbare Macht. Zwar wird nun erneut, so wie bereits von den römischen Autoren, die Launenhaftigkeit und Willkürlichkeit der Fortuna betont; aber zugleich wird die Fortuna eben auch als eine Macht begriffen, die von den praktischen Fähigkeiten des Menschen bezwungen werden muss und freilich auch beeinflusst werden kann. Die Fortuna gilt nicht mehr als ein göttliches Werkzeug, ihre Unbilden erhalten nicht mehr die Weihe eines göttlichen Ratschlusses, vielmehr reüssiert die Fortuna nun erneut als eine launische und praktisch verfügbare Macht zugleich, die dem Menschen freilich prinzipiell wohlgesonnen ist und ihm unter bestimmten Voraussetzungen eine Fülle von irdischen Gaben bereithält. Boethius’ Versuch der Versöhnung von Fortuna und göttlicher Vorsehung, ein Versuch, der, wie wir sahen, noch in der scholastischen Theologie sowie bei Dante und Petrarca anzutreffen ist, wird hingegen ebenso wenig akzeptiert, wie eine gänzliche annihilatio fortunae im augustinischen oder patristischen Sinne noch der theoretische Weg sein kann, den das Denken der Renaissance und des Humanismus beschreitet, um das Verhältnis von virtù und fortuna zu bestimmen: „The humanists first of all revert to claiming that, where man’s capacity for action is limited, the controlling factor at work is nothing more than the capricious power of fortune, not the inexorable force of providence. […] The idea of equating Fortune with Providence and treating it as a lawlike force […] begins to give way to a sense that Fortune amounts to little more than chance, and to a corresponding sense that human responsibility and choice play a far greater role in the flux of events than earlier historians had supposed.“219 So wandelt sich in der Renaissance, wie Doren zutreffend feststellt, die Vorstellung der Fortuna erneut und zum wiederholten Male, „aus einem Dämon des ungewissen, Gutes wie Schlimmes nach Gottes Willen bescherenden Zufalls wird Fortuna wieder zu einer glückverheißenden Spenderin der Freude und des Lebensmutes“220 . Und so wie dem Wandel der Fortuna von der römischen Antike zu einer christlichen Auffassung, lassen sich auch diesem erneuten Wandel hin zu der Auffassung der Renaissance, gleichsam der Renaissance der römischen Auffassung der Fortuna, ikonologische Konsequenzen nachweisen: „After the time of Dante and Petrarch, whose opinions on fortune were still distinctively medieval, she gradually evolved from the grim woman turning her relentless wheel into a much friendlier power who could be a distinct help in human affairs. It is fascinating to see how the symbolism of the wheel was increasingly supplemented by the revived symbols of antiquity, particularly the sailing ship.“221 219 220 221

Ebd., S. 96 f. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 127 f. Thomas Flanagan, „The Concept of Fortuna in Machiavelli“, in: Anthony Parel (Hg.), The Political Calculus, Essays on Niccolò Machiavelli’s Philosophy, a.a.O., S. 132.

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Ja, das Steuerruder des Segelschiffs, einstmals und nunmehr erneut prominentes Symbol der Fortuna, wird in den Darstellungen der Zeit sogar mitunter von Menschen selbst übernommen und gehalten. Für die Fortuna kann in einem solchen Fall nurmehr die in ihrer Macht beschränkte Rolle von Windgöttinnen übrig bleiben.222 Die bislang in diesem Kapitel vorgenommen, komparatistischen Vermessungen des Fortunabildes von der Zeit der Antike bis in die Epoche der Renaissance, die Geschichte der Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Fortunaauffassung von ihren römischen Anfängen über die augustinisch-patristische Eskamotierung und spätantike oder mittelalterliche Mediatisierung der Fortuna bis zu ihrer Wiederbelebung im Zeitalter der Renaissance, sie ließen bereits erahnen, was mit dem Topos virtù vince fortuna ab dem 15. Jahrhundert gemeint war und gemeint sein konnte. Die humanistische Bezugnahme auf das klassische Ideal des vir virtutis, die optimistische Einschätzung der praktischen Leistungsfähigkeit der menschlichen virtus, die dieser Einschätzung korrespondierende Auffassung der Fortuna als einer launischen, willkürlichen und freilich auch praktisch beeinflussbaren und verfügbaren Macht, welche durch die menschliche Fähigkeit der virtù, wenn nicht endgültig besiegt, so doch immerhin beeinflusst werden kann, die Auffassung der Fortuna im Sinne einer wie auch immer dargestellten Instanz, welche für den Menschen zumindest potenziell eine Fülle von irdischen Belohungen und Wohltaten bereithält, die in all dem enthaltene Abwehr eines augustinischen Menschenbildes und einer annihilatio fortunae ebenso wie die in all dem enthaltene Zurückweisung der Auffassung der Fortuna als ancilla Dei, sie kulminieren eben in dem Topos virtù vince fortuna. Nicht nur dessen inhaltliche Substanz, sondern auch dessen ideengeschichtlicher Kontext in Form seiner Vorgeschichte dürfte damit hinlänglich beschrieben sein. Wer aber sind die Vertreter dieses Topos im quattrocento? Eugenio Garin erblickt den entscheidenden Gewährsmann für die Bestätigung seiner These von der konstitutiven Bedeutung des Topos virtù vince fortuna für das Denken des Renaissance-Humanismus in Leon Battista Alberti. Als entscheidender Beleg im Rahmen von Albertis Schriften gilt Garin wiederum die Vorrede von Albertis Abhandlung Della famiglia, in welcher, so besagt jedenfalls Garins Deutung, „jeder Pessimismus und jede Askese restlos verbannt werden und an ihre Stelle die Gewissheit vom Wert des menschlichen Handelns gesetzt wird.“223 In der Tat: Alberti leitet den „Prologo“ der Schrift Della famiglia mit der Beobachtung ein, dass Geschlechter und Familien nach scheinbar unerfindlichen Gründen gedeihen und untergehen und schließt an diese Beobachtung die Frage an, „ob denn wirklich das Glück [Alberti spricht an dieser Stelle im Original von „fortuna“; P. V.] die Macht habe, sich wider die Menschen so unbillig und tückisch zu erweisen, ob es seinem Wankelmut und seiner Blindheit verstattet sei, Geschlechter, die mit tüchtigen Männern [„d’uomine virtuosissimi“; P. V.] wohl versehen waren und an allem, was die Menschen schätzen und begehren, 222

223

Vergleiche hierzu die Ausführungen des Kaufmannssohns Bernardo Rucellai mitsamt der entsprechenden Darstellung in dem Aufsatz Aby Warburgs. Aby Warburg, „Francesco Sassettis letztwillige Verfügung“ (1907), in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Erste Abteilung, Band I.1, Berlin 1998, S. 150. Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, a.a.O., S. 64.

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Überfluss hatten, denen es weder an Würde noch an Ruf, weder an Auszeichnungen noch an Ansehen und Einfluss gebrach, aus allem Glücke [„d’ogni felicità“; P. V.] zu stürzen, in Armut, Einsamkeit und Elend zu versetzen […] ob wirklich das Glück [„fortuna“ im Original; P. V.] über die menschlichen Dinge so große Macht habe und ihm diese schrankenlose Willkür zugestanden ist, mit seiner Unbeständigkeit und Treulosigkeit die größten und vorzüglichsten Geschlechter zugrunde zu richten.“224 Albertis Antwort auf diese Frage nach der Reichweite der Macht der Fortuna über das menschliche Dasein ist klar und eindeutig: Bei nüchternem Verstande besehen und selbst angesichts des „unbilligen Schicksals [„iniqui fati“ im Original; P. V.]“225 des Familiengeschlechts der Alberti müsse man doch schließlich zu der Einsicht gelangen, „dass von vielen dem Glück [„fortuna“ im Original; P. V.] oft ohne wahren Grund die Schuld gegeben worden ist, [..] , dass so manche, die durch eigene Torheit ins Unglück [„casi sinistri“ im Original; P. V.] geraten sind, sich über das Glück [„fortuna“ im Original; P. V.] beschweren und klagen, dass sie von der Gewalt seiner Wogen umhergeworfen werden, in die sie sich doch töricht selbst gestürzt haben; und so geben sie gar unvernünftig fremde Macht für die Ursache ihrer eigenen Irrtümer aus.“226 Denn nicht die Fortuna ist es, welche Alberti zufolge über Gedeih und Verderben der Geschlechter und Familien entscheidet, sondern die Menschen selbst sind Ursache ihres Glücks und Unglücks, und dabei ist es die „Tüchtigkeit“227 , die virtù, die für Alberti alles in die eine oder andere Richtung lenkt: „Was unsere Tüchtigkeit [„virtù“ im Original; P. V.] uns erworben hat, sollen wir uns dafür als Schuldner des Glückes [„fortuna“ im Original; P. V.] bekennen? […] Sollen wir von der Laune und Willkür des Glückes [„fortuna“ im Original; P. V.] das Gesetz abhängig glauben, das Männer nach reifstem Rat, durch tapferste und tüchtigste Taten [„con fortissime e strenuissime opere“; P. V.] sich gegeben haben? Wie sollten wir zugeben, dass nicht unser, sondern des Glückes [„fortuna“ im Original; P. V.] sei, was wir mit Sorgfalt und Hingabe zu bewahren und zu erhalten sinnen? So groß ist die Macht des Glückes [„fortuna“ im Original; P. V.] nicht, so leicht ist es nicht, wie einige Dummköpfe glauben, über den Herr zu werden, der nicht unterliegen will. Das Glück hält sein Joch nur für den bereit, der sich ihm unterwirft. [„Tiene gioco la fortuna solo a chi se gli sottomette“ im Original; P. V.] […] So kann man doch feststellen, dass das Glück [„fortuna“; P. V.] schwach und ohnmächtig ist, uns irgendeine, sei es die kleinste, Tugend [„virtù“; P. V.] zu rauben, und dass wir anderseits die Tugend [„virtù“; P. V.] als hinreichend erachten müssen, alles

224 225 226 227

Leon Battista Alberti, Über das Hauswesen (Della Famiglia), Zürich/Stuttgart 1962, S. 3 f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5.

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V  : Z I  T Hohe und Erhabene zu erreichen und zu erringen, weiteste Herrschaft, höchste Ehre, ewigen Ruf, unsterblichen Ruhm.“228

In letzter Instanz ist und bleibt für Alberti somit die virtù des Menschen dem Wirken der Fortuna überlegen. Ja, die virtù zieht Fortuna in einem wohlgesonnenen Sinne geradezu an, während ein Mangel an virtù ein böses Geschick geradezu provoziere.229 Somit finden wir bei Alberti im quattrocento eine deutliche Wiederaufnahme jenes Motivs, dessen Spuren wir in Livius’ Römischer Geschichte ebenso wie in den Schriften einer ganzen Reihe anderer römischer Autoren entdecken und verfolgen konnten: „Fortis Fortuna adiuvat“ (Terenz); „audentes fortuna iuvat“ (Vergil); „eventus docuit fortes fortunam iuvare“230 (Livius), so lauteten die entsprechenden Formulierungen im Altertum. Bei Alberti heißt es nun: „Den Mazedoniern war das Glück [„fortuna“ im Original; P. V.] hold und günstig, solange das Waffenhandwerk bei ihnen in Ehren stand, verbunden mit Liebe zur Tugend [„amor di virtù“ im Original; P. V.] und Streben nach Auszeichnung. Sobald aber nach dem Tode Alexanders des Großen die mazedonischen Fürsten anfingen, ein jeder seinem eigenen Vorteil nachzujagen und nicht um das allgemeine Reich besorgt, sondern jeder auf ein besonderes Königtum bedacht zu sein, da entstanden sogleich Streitigkeiten unter ihnen, Haß schlug in lodernden Flammen empor, und ihre Gemüter brannten von Fackeln der Gier und Wut, bald zu kränken, bald Rache zu nehmen.“231 Garin fasst Albertis Depotenzierung der Fortuna und seine Heroisierung der menschlichen Fähigkeit, der Fortuna keine Herrschaft über das eigene Dasein zukommen zu lassen, vielmehr umgekehrt über die Fortuna verfügen, sie praktisch beeinflussen zu können, mit den folgenden Worten zusammen: „Der Mensch ist selbst Ursache seiner Übel und seines Glücks. Tüchtigkeit siegt immer über die Fortuna. Dabei bedeutet Tüchtigkeit menschliche Tugend, irdische Tätigkeit, ‚die gute und gesunde Zucht des Lebens‘.“232 228 229

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231 232

Ebd., S. 6 f. bzw. 10 f. Vergleiche hierzu meinen im Kontext der Thukydides-Diskussion des zweiten Kapitels getroffenen Verweis auf Pasteurs Formulierung „le hasard ne favorise que les esprits préparés“ in Anmerkung 108, S. 105. Vergleiche hierzu meine Ausführungen auf S. 529 f. In Sansovinos Bibliotheca Marciana in Venedig findet sich ein zwischen 1556 und 1560 ausgeführtes Deckengemälde von Giuseppe Porta. Wittkower beschreibt es mit folgenden Worten: „Fortune is here represented in the foreground sitting on the globe with veiled eyes; Fortitude stands behind on the right and Pallas, with Prudence at her feet, stands between them, as mediator“. Und ferner bezeichnet Wittkower Portas Darstellung aus dem 16. Jahrhundert als „literal illustration of Livy’s ‚Fortes Fortuna adiuvat‘.“ Rudolf Wittkower, „Chance, Time and Virtue“, in: a.a.O., S. 317. Leon Battista Alberti, Über das Hauswesen (Della Famiglia), a.a.O., S. 5. Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, a.a.O., S. 65. Die Erstausgabe dieses Werkes erschien in deutscher Sprache, war aber eine Übersetzung eines italienischen Manuskripts, welches schließlich auch im Italienischen erschien. Vergleiche hierzu Eugenio Garin, L’umanesimo italiano. Filosofia e vita civile nel Rinascimento, Bari 1965 (1952).

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Ähnlich wie Garin deutet übrigens auch Skinner Albertis Schrift Della famiglia; Alberti habe darin alle Launen der Fortuna nur als „a series of challenges“ verstanden, „setting his will to overcome them one by one.“233 So viel zu Alberti, Garins wesentlichem Gewährsmann für seine These, der Topos virtù vince fortuna lasse sich als idée directrice des italienischen Humanismus zumindest im quattrocento verstehen. Freilich lassen sich neben Alberti weitere illustre Repräsentanten dieses Topos zu jener Zeit durchaus nennen. Alle Autoren, welche in diesem Zusammenhang aufzulisten sind, bestätigen die bislang geäußerten Vermutungen, wie die italienische Renaissance des 15. Jahrhunderts den Topos virtù vince fortuna verstanden wissen wollte und inwiefern sie dabei an die römische Thematisierung der Dichotomie von virtus und Fortuna, an das römische Verständnis der jeweiligen Pole dieser Dichotomie ebenso wie an die römische Auffassung des Kräfteverhältnisses zwischen diesen beiden Polen anschloss. Garin etwa verweist neben Alberti auf Coluccio Salutati, vor allem auf dessen Schrift De fato et fortuna, die um 1396 entstanden ist und, wie Walter Rüegg resümiert, „das Problem der Selbstbehauptung des Menschen inmitten der ihn bedrängenden anonymen Mächte einer neuen Bildungsschicht in den ihr wirklich zusagenden Formen“234 artikuliert. Garin erblickt in Salutatis Schrift bezeichnenderweise die Formulierung eines Primat des Willens über das „Primat des Schicksals“235 , die These von einer prinzipiellen Verfügbar- und Beeinflussbarkeit der menschlichen Geschichte wie des menschlichen Lebens schlechthin, welche der Präsumtion einer Unverfügbarkeit in der menschlichen Geschichte wie in den Geschichten des menschlichen Lebens schlechthin opponiert wird. Skinner schließlich verweist für die Illustrierung des zentralen Stellenwerts des Topos virtù vince fortuna für das Denken des quattrocento auf den Somnium de fortuna von Aeneas Sylvius Piccolomini, des späteren Papst Pius II., mithin auf jene Reflexion über Wesen und Macht der Fortuna in Briefform, die Piccolomini 1444 verfasste: Dem Autor erscheint in diesem Traum das Reich der Fortuna und schließlich diese selbst. Auf die Frage des Autors, ob es denn eine menschliche Kraft gebe, von der sie sich prinzipiell beeinflussen ließe, formuliert die Fortuna den uns bereits durch die Ausführungen zu Alberti in diesem Abschnitt und zu der römischen

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In der italienischen Fassung heißt es: „L’uomo è stesso cagione dei suoi mali e dei suoi beni. Sempre la virtù vince la fortuna. E virtù significa qui umana virtù, operosità terrene, ‚la buona e santa disciplina del vivere‘.“ Eugenio Garin, L’umanesimo italiano. Filosofia e vita civile nel Rinascimento, a.a.O., S. 76. Quentin Skinner, Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, a.a.O., S. 95. Walter Rüegg, „Entstehung, Quellen und Ziel von Salutatis ‚De Fato et Fortuna‘“, in: Rinascimento 5 (1954), S. 190. Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, a.a.O., S. 26. Im italienischen Original seiner Schrift spricht Garin von „problema del destino“. Vergleiche Eugenio Garin, L’umanesimo italiano. Filosofia e vita civile nel Rinascimento, a.a.O., S. 39. Eine genau entgegengesetzte Salutati-Interpretation entwickelt Erik Petersen. Für Petersen erstrebt Salutatis De fato et fortuna, „to reconcile Dante’s Fortune with Christian orthodoxy by means of the arguments found in Boethius’ Consolatio Philosophiae.“ Vergleiche hierzu Erik Petersen, „Notes on the Discussion of Fortune in the Early Italian Renaissance“, in: Acta Conventus Neo-Latini Turonensis. Band 1, herausgegeben von J. C. Margolin, Paris 1980, S. 134.

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Vorstellung der Fortuna im ersten Abschnitt dieses Kapitels hinlänglich vertrauten Gedanken, dass sie den Tapferen hilfreich und gefügig sei, schwächliche Kreaturen aber verabscheue und bestrafe. Sinnbild dieser die Fortuna bezwingenden fortitudo ist nun in Piccolominis Somnium de fortuna die Figur des Königs Alfons, welcher die Fortuna mutig am Schopfe packt, dadurch bezwingt und ihr gegenüber nun mit der selbstbewussten Attitüde des Siegers behauptet, „capta es, sive velis sive nolis, ut me respicias oportet, satis mihi adversa fuisti.“236 Der fortitudo gelingt – wenn man so will – die Transformation der Fortuna in die Occasio.237 Auch die Schrift des Giovanni Pontano mit dem Titel De Fortuna von 1500, auf die wir später noch einmal, im siebten Abschnitt dieses Kapitels, im Rahmen unserer Diskussion des elisabethanischen Dramas zu sprechen kommen werden, illustriert die Auffassung des quattrocento bezüglich des Verhältnisses von virtù und Fortuna in exemplarischer Weise. Doren bewertet die Schrift des Pontano gar als die „bei weitem bedeutendste, am tiefsten dringende Analyse des Fortunagedankens in der Renaissance“238 , insofern er sie deuten zu können glaubt als „die entscheidende Wendung hin zur energischen Bejahung der Welt und ihrer Freuden, die entschlossen sich abzukehren gewillt ist nicht nur von der mittelalterlichen Providenzidee, sondern auch von jedem müden, spätantiken, der Renaissance aufgepflanzten Stoizismus“239 . Bei Poggio Bracciolini schließlich und zwar in dessen Schrift De Miseria conditionis humanae von 1455 heißt es, dass die Stärke der Fortuna doch niemals derart mächtig vorzustellen sei, dass sie nicht von standhaften und resoluten Männern überwunden werden könne.240 In den beiden großen italienischen Ritterepen des quattrocento und cinquecento schließlich, in Boiardos Orlando Innamorato und Ariosts Orlando Furioso ist die virtù, wie Ida Wyss schreibt, „die handelnde Energie des einzelnen Ritters und als solche mehr Instinkt, triebhaft impulsive Kraft als sittliche Willensanstrengung. Denn der Bereich ihrer Auswirkung erstreckt sich auf die Selbstbehauptung des Individuums und 236

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238 239 240

Aeneas Sylvius Piccolomini, „Somnium de fortuna“ (1444), in: Rudolf Wolkan (Hg.), Die Briefe des Eneas Silvius Piccolomini. I. Abteilung: Briefe aus der Laienzeit (1431–1445). I. Band: Privatbriefe, Wien 1909, S. 350. Meyer-Landrut kommentiert diesen Akt der Besitzergreifung mit folgenden Worten: „So macht er sie sich gefügig und kann als Sieger über alle Widerstände im Jahre 1443 einen triumphalen Einzug in seine Hauptstadt Neapel halten. Statt ihn für seinen Übermut zu bestrafen, belohnt Fortuna den starken, selbstherrlichen ja frechen Helden.“ Ehrengard Meyer-Landrut, Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, a.a.O., S. 154. Vergleiche hierzu Frederick Kiefer, „The conflation of Fortuna and Occasio in the Renaissance thought and iconography“, in: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 9 (1979), S. 1–27. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 121. Ebd., S. 122 f. So lautet jedenfalls die Interpretation von Antonino Poppi. Vergleiche hierzu Antonino Poppi, „Fate, Fortune, Providence and Human Freedom“, in: Charles Schmitt (Hg.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge 1988, S. 648.

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seiner Ehre und auf die freie Entfaltung aller Kräfte im ritterlichen Kampfspiel.“241 Zumindest für Boiardo ist die virtù Wyss zufolge keinesfalls Geschenk göttlicher Gnade, sondern vielmehr „ihrer Eigenmächtigkeit bewusste Menschenkraft […] Im Menschen selber liegt der eigentliche Ursprung der Virtù. […] Es ist der aktive Geist des Quattrocento, einer Zeit kecken Zugreifens und des optimistischen Vertrauens auf die Menschenkraft, der aus dieser Verherrlichung der Virtù spricht.“242 Boiardos Helden seien es folglich gewohnt, „die Umwelt zu beherrschen, alles, was sich ihnen entgegenstellt, zu überwinden, oder es wenigstens zu versuchen. […] Wir befinden uns in der lebensfrohen Zeit des Quattrocento, die, vom Glauben an die eigene Virtù erfüllt, das Dasein genießen und alle Sorgen vergessen kann.“243 Ariosts Einschätzung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna interpretiert Wyss in dieser Hinsicht als eine weitaus pessimistischere Sichtweise: „Ariosts Rittergestalten besitzen nicht die ungebrochene, naiv spontane Tatkraft und den frohen Lebensmut von Boiardos Helden, die sich der eigenen Virtù und der Fortuna anvertrauen. Ariost ist sich der menschlichen Schwächen allzu sehr bewusst, er durchschaut sie alle mit Verständnis, aber auch mit ein wenig Ironie, so dass er keine heroische Auffassung des Menschen haben kann.“244 Aber es geht hier um Nuancen hinsichtlich der Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen einer autark agierenden Fortuna und der stets zugrunde gelegten Möglichkeit einer prinzipiellen praktischen Beeinflussung dieser Fortuna durch menschliche Willens- und Tatkraft, durch eine menschliche Leistung, wie auch immer diese zu verstehen sei. Immerhin einig sind sich Boiardo und Ariost hinsichtlich der Auffassung der Fortuna, insofern sie die der menschlichen virtù opponierende Fortuna nicht als Werkzeug Gottes und insofern auch niemals als grundsätzlich unverfügbar denken, sondern Fortuna als eine autarke Instanz des Zufalls betrachten245 , welche das historische Geschehen wie das Leben jedes Einzelnen wesentlich bestimmt und dabei doch ganz im Sinne der im vorherigen Kapitel in schematischer und abstrakter Weise skizzierten fortunadominierten Auffassung von Geschichte und historischer Zeit keiner anderen geschichtsprägenden Kraft oder Instanz untergeordnet ist:

241 242 243 244 245

Ida Wyss, Virtù und Fortuna bei Boiardo und Ariost, Leipzig/Berlin 1931, S. 7. Ebd., S. 42 ff. Ebd., S. 65. Ebd., S. 76. Vergleiche hierzu allgemein ebd., S. 72–77. Vergleiche bezüglich dieser Annahme einer Autarkie der Fortuna ebd. S. 48 (zu Boiardo) und ebd. S. 50–52 (zu Ariost).

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V  : Z I  T „Überall, wo Ariost vom politischen Leben seiner eigenen Zeit oder der Vergangenheit spricht, führt er die Fortuna an. Die Geschichte ist ein ewiges Auf und Ab, ein Kommen und Gehen ohne Sinn und Ziel. In Ariosts Weltvorstellung ist weder eine Andeutung kausalen Geschehens, noch die Idee einer kontinuierlichen Entwicklung, noch die Spur eines teleologischen Gedankens vorhanden.“246

Schließlich sei noch ein letztes Beispiel genannt, um die bislang vorgeschlagene Deutung des quattrocento bezüglich dessen Auffassung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna zu erhärten und freilich auch abzuschließen: Es entstammt dem bereits erwähnten Aufsatz „Francesco Sassettis letztwillige Verfügung“ von Aby Warburg. Warburg untersucht dort ein von ihm recherchiertes und aufgetanes Dokument, ebenjene „letztwillige Verfügung“, die Francesco Sassetti 1488 vor Anbruch einer Geschäftsreise nach Frankreich seinen beiden Söhnen hinterließ und in welcher er Regelungen für den hypothetischen Fall seines plötzlichen Ablebens traf, durchaus noch nicht in einem testamentarischen Sinne, wohl aber im Sinne einer Verfügung, die er, wie Warburg schreibt, als einen „klaren Verteidigungsplan“247 für die Sicherung der politischen und ökonomischen Stellung der Familie verstanden wissen wollte. In dieser Situation berief sich des Sassettis „letztwillige Verfügung“ auf die Fortuna als einem „Sinnbilde bewusster Energieentfaltung“248 , wie es bei Warburg heißt. Die Söhne eines Sassetti, so formuliert der Vater stolz, müssten sich einer jeden Launenhaftigkeit und Willkür der Fortuna stets als überlegen erweisen; andernfalls verdienten sie als „Schlafmützen“ oder „Dummköpfe“ bezeichnet zu werden: „Wo uns die Fortuna landen lassen wird, weiß ich nicht, angesichts der Umwälzungen und Gefahren, in denen wir uns befinden, und aus denen uns Gott den Hafen des Heils zu erreichen gewähren möge. Wohin es aber auch mit mir gehen und was auch immer mir zustoßen mag, ich befehle und fordere, wenn anders ihr wollt, dass ich zufrieden von dannen gehe, dass ihr meine Erbschaft aus keinem Grunde verweigert und, selbst wenn ich euch mehr Schulden als Vermögen hinterlassen sollte, will ich, das ihr unter derselben Fortuna lebt und sterbt, weil mir dies eure Schuldigkeit zu sein scheint. Verteidigt euch tapfer und guten Mutes, damit ihr nicht für Schlafmützen geltet oder für minderwertige Dummköpfe.“249 (4) Der euphorische, mitunter hysterische Übermut oder doch zumindest jener grundsätzliche Optimismus, welcher gleichsam als basso continuo die Auffassung des Kräfteverhältnisses zwischen menschlicher virtù und Fortuna im Sinne des Topos virtù vince fortuna, wie ihn die Humanisten des quattrocento im deutlichen Anschluss an die römische Antike formulieren, durchzieht, hat sich, so wird sich im vierten Abschnitt dieses 246 247

248 249

Ebd., S. 52 f. Aby Warburg, „Francesco Sassettis letztwillige Verfügung“ (1907), in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Erste Abteilung, Band I.1, a.a.O., S. 140. Ebd., S. 153. Zitiert nach ebd., S. 145.

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Kapitels zeigen, zu Beginn des 16. Jahrhunderts erschöpft. Spätestens mit dem Untergang der republikanischen Regierungsform in Florenz und der Rückkehr der Medici 1512 gibt die überschwängliche Betonung der Leistungsfähigkeit der menschlichen virtù einer vorsichtigeren und defensiveren Deutung des Topos virtù vince fortuna Raum, ohne dabei doch die pagan-römische Auffassung der Fortuna als einer autarken Instanz, die prinzipiell verfügbar oder beeinflussbar ist, deren nachweisliche praktische Unverfügbarkeit jedenfalls nicht göttlich sanktioniert ist oder im Zusammenhang ihrer Mediatisierung als ancilla Dei oder als eines in die providentia eingebetteten Faktors postuliert werden kann, in Frage zu stellen. Dafür stehen – so möchte ich in diesem vierten Abschnitt des Kapitels und in bewusstem Widerspruch zu einer häufig kolportierten Interpretation zeigen – das Werk Niccolò Machiavellis, welches allenfalls noch an eine Zähmung oder Domestizierung der Fortuna glauben mag, nicht aber an deren direkt verfügbare Beeinflussbarkeit, aber auch die Schriften des Historikers Francesco Guicciardini, der Machiavellis Realitätssinn noch einmal eine besonders düstere Färbung verleiht. Im Principe kommt Machiavelli vor allem an zwei Stellen auf die Fortuna zu sprechen: Zum einen führt die Logik seiner Argumentation Machiavelli geradezu zwingend zu einer Reflexion der Dichotomie von virtù und fortuna. Machiavelli will, so erklärt er zu Beginn seiner Schrift, die Grundsätze der Fürstenherrschaft diskutieren, die Diskussion der republikanischen Staats- und Regierungsform behält er bekanntlich den Discorsi vor: Fürstentümer nun können Machiavelli zufolge entweder neu erworben und gegründet oder ererbt werden. Die neu erworbenen und gegründeten Fürstentümer werden entweder als neue Gliedstaaten dem ursprünglichen Herrschaftsbereich des Eroberers einverleibt oder sie stellen tatsächlich vollkommen neue Herrschaftsgebilde dar. Für ebenjenen letzteren Fall, für den Fall eines gänzlich neuen Fürstentums und infolgedessen auch eines gänzlich neu eingesetzten Fürsten stellt sich sodann die Frage, ob dieser Fürst seine neu erworbene Machtstellung der eigenen Tüchtigkeit, seiner virtù, oder seinem Glück verdankt; in jedem Falle vermindern, so lautet Machiavellis Antwort, der Umstand einer wohlgesonnenen Fortuna und die Leistung der virtù die Schwierigkeiten des neu eingesetzten Fürsten; dennoch ist es für den neu eingesetzten Fürsten wichtiger, über virtù zu verfügen als über glückliche Umstände: „[…] nichtsdestoweniger hat sich bislang derjenige besser behauptet, der sich weniger auf das Glück [das Original spricht an dieser Stelle von „fortuna“; P. V.] verlassen hat.“250 Kennzeichen dieser tüchtigen neuen Herrscher – Machiavelli erwähnt als Beispiele Cyrus, Romulus, Theseus – sei es gerade gewesen, dass sie sich nicht auf die Launen der Fortuna verließen, sondern die Fortuna als Gelegenheit für die Betätigung ihrer virtù begriffen; „ohne diese Gelegenheit wäre die Tüchtigkeit ihrer Gesinnung erlahmt, und ohne ihre Tüchtigkeit wäre diese Gelegenheit vergebens eingetreten.“251 Im Unterschied dazu seien die Herrscher neu gegründeter oder neu erworbener Fürstentümer, die ihre Machtposition tatsächlich

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Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, übersetzt und herausgegeben von Philipp Riepel, Stuttgart 1986, S. 41. Ebd., S. 43. Im Original lautet die Passage: „[…] sanza quella occasione la virtù dello animo loro si sarebbe spenta, e sanza quella virtù la occasione sarebbe venuta invano.“(ebd., S. 42.)

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einzig der Fortuna verdanken, zwar bemerkenswert schnell in ihrem Aufstieg; aber ihre Herrschaft sei meist nur von kurzer Dauer. Die zweite Passage, in welcher Machiavelli in Il Principe auf die Fortuna zu sprechen kommt, ist natürlich das berühmte Kapitel 25, welches sein Thema schon in der Überschrift deutlich zu erkennen gibt: „Quantum fortuna in rebus humanis possit, et quomodo illi sit occurrendum“. Machiavelli beginnt dieses Kapitel mit der folgenden Feststellung: „Es ist mir wohl bekannt, dass viele die Meinung vertraten und viele sie vertreten, die Dinge dieser Welt würden auf solche Weise von Fortuna und von Gott geleitet, dass die Menschen mit ihrer Klugheit sie nicht ändern könnten, ja überhaupt kein Mittel dagegen hätten, und die daher zu dem Urteil kommen könnten, man solle sich nicht viel mit den Dingen abplagen, sondern sich der Leitung des Schicksals [„lasciarsi governare alle sorte“ im Original; P. V.] überlassen.“252 Machiavelli, der übrigens in dieser Passage ganz im klassisch-römischen Sinne zwischen Schicksal und Fortuna unterscheidet253 , widerspricht jedoch der referierten Ansicht. Allerdings verleitet ihn dies umgekehrt nicht zu einer übertriebenen Einschätzung der Potenziale und der Suprematie der virtù. Äußerst vorsichtig und defensiv formuliert er, die Fortuna sei „zwar zur Hälfte Herrin über unsere Taten“254 ; aber die andere Hälfte „oder beinahe so viel“255 überlasse sie unseren Entschlüssen und Handlungen. Nach dieser ausgewogenen und gleichsam paritätischen Abschätzung deutet Machiavelli weiterhin für alle Geschehnisse, in welchem Maße auch immer sie durch die Fortuna bestimmt oder gelenkt werden, eine bestimmte Möglichkeit des menschlichen Einwirkens an. Zwar vermag die menschliche Fähigkeit und Eigenschaft der virtù keinesfalls alles so zu beeinflussen und zu bewirken, wie es ihr beliebt. Sie kann die Fortuna also niemals endgültig überwinden oder vernichten oder gar besiegen. Aber virtù kann die Fortuna gleichsam dirigieren, lenken, steuern und somit zähmen, indem sie mit der Macht der Fortuna bei der Durchführung aller ihrer Taten rechnet und entsprechend vorbereitet ist. Diese These verdeutlicht Machiavelli durch folgendes Bild: „Ich vergleiche sie [die Fortuna; P. V.] mit einem jener reißenden Ströme, die, wenn sie im Zorn anschwellen, die Ebenen überfluten, Bäume und Häuser niederreißen, hier Erde wegspülen und dort anschwemmen; jeder flieht vor ihnen, alles weicht vor ihrer Gewalt zurück, ohne auf irgendeine Art Widerstand leisten zu können. Obwohl die Ströme eine so wilde Natur haben, bleibt doch den Menschen in ruhigen Zeiten die Möglichkeit, mit Deichen und Dämmen Vorkehrungen zu treffen, so dass die Ströme, wenn sie wieder anschwellen, entweder in ihrem Flussbett bleiben oder ihre Gewalt nicht so unbändig und verheerend ist. Ähnlich verhält es sich mit Fortuna; sie zeigt ihre Macht dort, wo man nicht die Kraft aufbringt, ihr zu widerstehen, und sie lenkt ihre Gewalt 252 253 254 255

Ebd., S. 191 f. Vergleiche oben meine Bemerkungen in diesem Kapitel, S. 523 f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 193.

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dorthin, wo sie weiß, dass sie nicht durch Dämme und Deiche zurückgehalten wird.“256 Der mit der Ressource der virtù ausgestattete Akteur kann demnach die Fortuna zwar nicht besiegen oder endgültig eliminieren, überhaupt nicht direkt auf sie einwirken, aber immerhin kann er sich so verhalten, dass er von den bösen Überraschungen der Fortuna nicht überrumpelt wird. Eine ähnlich formulierte und gewichtete Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen menschlicher virtù und Fortuna finden wir auch in Machiavellis Discorsi, in denen wiederholt von der Fortuna die Rede ist. So widmet sich das erste Kapitel des zweiten Buches der Frage, ob Tapferkeit oder Glück, „la virtù o la fortuna“, mehr zur Größe des römischen Reiches beigetragen hätten. Machiavelli wendet sich gegen die von Plutarch und Livius geäußerte Ansicht, „die Römer hätten die Eroberung ihres Reiches mehr dem Glück als ihrer Tapferkeit zu danken gehabt [„fosse piú favorito dalla fortuna che dalla virtù“ im Original; P. V.].“257 Vielmehr sei beiden Instanzen ein geschichtstheoretischer Valeur zu attestieren, wobei doch die virtù, wie Machiavelli fortfährt, von grundlegenderer Bedeutung sei, insofern doch die Fortuna der virtù gleichsam auf dem Fuße folge. „Ich glaube daher“, so folgert Machiavelli, „dass jeder Fürst, der wie Rom verführe und die gleiche Tapferkeit [Machiavelli spricht hier im Original von „virtù“; P. V.] besäße, auch das gleiche Glück [Machiavelli spricht hier im Original von „fortuna“; P. V.] haben würde.“258 Indes, mag die Fortuna den Direktiven der virtù auch Folge leisten, so kann doch die menschliche virtù die Macht der Fortuna niemals zur Gänze besiegen oder überwinden oder endgültig eliminieren. Machiavelli ist in den Discorsi ebenso wie im Principe vor jener überschwänglichen Einschätzung der Potenziale der menschlichen virtù ganz sicherlich gefeit, wie sie sich dem quattrocento durchaus, wie wir sahen, unterstellen lässt; das menschliche Leben kann die Herrschaft der Fortuna niemals überwinden oder beenden, wohl aber sich auf diese Herrschaft einstellen, diese Herrschaft steuern oder zähmen, indem sie die Fortuna gleichsam in die Bahnen des eigenen Interesses lenkt und dadurch die Macht der Fortuna instrumentalisiert und die Überraschungseffekte der Fortuna minimiert: „Denn wo die Menschen wenig taugen 256

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Ebd., S.193. (Im Original lautet das Zitat: „E assomiglio quella a uno di questi fiumi rovinosi, che, quando s’adirano, allagano e’ piani, ruinano gli alberi e gli edifizii, lievono da questa parte terreno, pongono da quell’altra; ciascuno fugge loro dinanzi, ognuno cede allo impeto loro, sanza potervi in alcuna parte obstare. E benché sieno cosí fatti, non resta però che gli uomini, quando sono tempi quieti, non vi potessino fare provvedimenti, e con ripari e argini, in modo che, crescendo poi, o egli andrebbano per un canale, o l’impeto loro non sarebbe né sí licenzioso né sí dannoso. Similmente interviene della fortuna; la quale dimostra la sua potenzia dove non è ordinate virtù a resisterle; e quivi volta li sua impeti dove la sa che non sono fatti gli argini e li ripari a tenerla.“ (ebd., S. 192.) Niccolò Machiavelli, Discorsi, übersetzt von Friedrich Oppeln-Bronikowski, herausgegeben von Horst Günther, Frankfurt am Main 2000, S. 177. Hinsichtlich der Frage, ob Machiavelli damit die geschichtstheoretische Einschätzung des Plutarch angemessen umschreibt, vergleiche meine Bemerkungen zur Tyche in der Geschichtsschreibung des Hellenismus im zweiten Kapitel dieser Arbeit, S. 177–179. Bezüglich Livius’ Darstellung der Fortuna vergleiche den ersten Abschnitt dieses Kapitels, S. 514–515. Ebd., S. 180.

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[„hanno poca virtù“ im Original; P. V.], da zeigt das Glück [„fortuna“ im Original; P. V.] erst recht seine Macht“259 ; wohingegen sich die virtù gerade darin erweist, die Macht der Fortuna zwar nicht besiegen zu können, wohl aber darin, dass sie „dem Glück [Machiavelli bezieht sich hier auf die Fortuna; P. V.] Schranken zieht und ihm nicht erlaubt, bei jedem Sonnenumlauf zu zeigen, wieviel es vermag“260 : „Wohl aber versichere ich nochmals: es ist eine unumstößliche Wahrheit, die die ganze Geschichte bezeugt, dass die Menschen das Schicksal zwar befördern, nicht aber aufhalten können [„che gli uomini possono secondare la fortuna e non opporsegli“ im Original; P. V.]. Sie können seine Fäden spinnen, nicht aber zerreißen. Gleichwohl dürfen sie sich ihm nie überlassen. Da sie seine Absicht nicht kennen und es krumme und unbekannte Wege geht, müssen sie immer hoffen und im Hoffen sich nie ergeben, in keiner Lage und in keiner Not.“261 So viel zu Machiavellis Bestimmung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna in den Discorsi und im Principe, welche zugleich verdeutlicht, dass Machiavelli die Existenz einer Fortuna als ein factum brutum nicht weiter für klärungsbedürftig, vielmehr dieses Faktum im Sinne einer autarken geschichts- und lebensbestimmenden Macht und Instanz für ganz unbezweifelbar hält. Was aber heißt es nun für Machiavelli, den Regeln der virtù gemäß zu handeln? Wie ist jene virtù zu denken, welche die Fortuna auf eine ganz bestimmte Weise und mit welchen Erfolgsaussichten auch immer zu beeinflussen vermag. Machiavelli legt sich diesbezüglich nicht auf einen bestimmten Katalog von Eigenschaften, Tugenden oder Verhaltensweisen fest. Zwar endet das Kapitel 25 des Principe durchaus in einer Weise, die Machiavellis Präferenzen für bestimmte charakterliche Merkmale deutlich zu erkennen gibt: „Ich ziehe also die Schlussfolgerung, dass, da das Glück [„fortuna“ im Original; P. V.] wechselt und die Menschen an ihren Methoden festhalten, sie erfolgreich sind, solange beide übereinstimmen, und sie erfolglos sind, wenn beide nicht übereinstimmen. Doch halte ich es für besser, stürmisch als besonnen zu sein“262 . Aber die Summe der im Principe und in den Discorsi geäußerten Empfehlungen läuft weniger auf die Lobpreisung einer bestimmten Verhaltensweise oder charakterlichen Eigenschaft hinaus, etwa derjenigen, stürmisch zu sein, als vielmehr auf die Empfehlung, sich den Zeitumständen gemäß flexibel, also stets so zu verhalten, wie es unter den momentanen Bedingungen Erfolg versprechend ist. Das konkrete und dennoch allgemeine Rezept, welches Machiavelli der menschlichen virtù für den Umgang mit der Fortuna empfiehlt, lautet in den Discorsi deshalb ganz ähnlich wie im Principe: Machiavelli rät 259 260 261 262

Ebd., S. 280. Ebd., S. 280. Ebd., S. 276. Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, übersetzt und herausgegeben von Philipp Riepel, a.a.O., S. 199.

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zu einer flexiblen Anpassung an die Zeitläufte, zu einem Rezept, welches allerdings, so Machiavelli, aufgrund der Einschätzung der Beharrlichkeit der menschlichen Natur und ihrer Neigungen und Antriebe ebenso wie der begrenzten kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die Variabilität der Zeitläufte auch tatsächlich zu erkennen, nur bei den wenigsten verfängt: „Ich habe oft gefunden, dass die Ursache des Glückes und des Unglückes der Menschen [„la cagione della trista e della buona fortuna“; P. V.] in der Anpassung ihres Betragens an die Zeitläufte liegt. Sie gehen bei ihren Handlungen teils ungestüm, teils zögernd und behutsam zu Werke. Da aber in beiden die richtige Grenze überschritten wird, weil man den rechten Weg nicht einhalten kann, so wird in beidem gefehlt. Der aber wird weniger irren und mehr Glück haben [„avere la fortuna prospera“ im Original; P. V.], dessen Handlungsweise zu einer Zeit passt. Immer aber wird der Mensch nur das tun, wozu seine Natur ihn zwingt. […] So kommt es, dass das Glück eines Menschen wechselt [„la fortuna varia“ im Original; P. V.], denn die Zeiten wechseln, er aber ändert sein Verfahren nicht.“263 Es lässt sich entsprechend gar nicht bestreiten, dass ein bestimmter Charakter heute zum Misserfolg verdammt ist, während er in früheren Zeiten ein für ihn günstigeres Umfeld vorgefunden hätte. In diesem Sinne schreibt Machiavelli über den Luccheser Tyrannen Castracani in seiner Istorie fiorentine, diesem wäre ebenso viel Erfolg wie Philipp oder Scipio beschieden gewesen, „se in cambio di Lucca egli avesse avuto per sua patria Macedonia o Roma.“264 Zur Vervollständigung der Rekonstruktion von Machiavellis Auffassung von Fortuna und virtù und der Taxierung ihres Kräfteverhältnisses müssen wir schließlich noch auf das Fortunagedicht Di fortuna eingehen, welches Machiavelli Giovan Battista Soderini widmete und das wohl um 1506 entstand, also vor seinen beiden Hauptwerken265 , und das gemeinsam mit Dell’occasione, Dell’ambizione und Dell’ingratitudine Bestandteil des Capitoli-Zyklus ist.266 Dabei scheinen sich Machiavellis Zeilen von der Präsumtion einer zu steuernden oder zu zähmenden Fortuna immer stärker zu entfernen, hingegen der resignierenden Unterstellung einer unverfügbaren Allmacht der Fortuna immer stärker zu nähern, wenn er nämlich nach den einleitenden Zeilen gleich zu Beginn seines Gedichtes Di fortuna den Adressaten direkt anspricht und formuliert:      Temer, Giovambattista, tu non puoi né debbi in alcun modo aver paura d’altre ferrite che de’ colpi suoi, 263

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Niccolò Machiavelli, Discorsi, übersetzt von Friedrich Oppeln-Bronikowski, herausgegeben von Horst Günther, a.a.O., S. 333 f. Hier zitiert nach Eduard Mayer, Machiavellis Geschichtsauffassung und sein Begriff der virtù. Studien zu seiner Historik, a.a.O., S. 44. Vergleiche dazu Joachim Leeker, „Fortuna bei Machiavelli – Ein Erbe der Tradition“, in: Romanische Forschungen 101 (1989), S. 422. Vergleiche hierzu Dirk Hoeges, Niccolò Machiavelli: Dichter – Poeta. Mit sämtlichen Gedichten deutsch/italienisch, Frankfurt am Main 2006, S. 111 f.

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V  : Z I  T      perché questa volubil creatura spesso si suole oppor con maggior forza dove più forza vede aver natura.      Suo natural potenzia ogni uomo sforza; e ‘l regno suo è sempre violento se virtù eccessiva non l’ammorza.267

Doch bleibt den Soderini gewidmeten Ausführungen in Machiavellis Capitolo di Fortuna dennoch ein theoretischer Ausweg. Die Pointe der in diesem Gedicht skizzierten Auffassung der Fortuna besteht nämlich darin, dass Machiavelli die Anzahl der Räder, mit denen sich die Fortuna seit der Spätantike in Literatur und bildender Kunst traditionellerweise dargestellt findet, vervielfacht und zwar im Zuge seines literarischen Versuchs, das „Reich“ und den „Palast“ der Fortuna poetisch zu schildern. Diese begriffs- und ideengeschichtliche und auch ikonologische Innovation hat nun erhebliche theoretische Folgen, denn sie eröffnet dem Menschen ganz neue praktische Möglichkeiten, mit den vielen Rädern der Fortuna umzugehen:      Colui con miglior sorte si consiglia tra tutti li altri che ‘n quell loco stanno che ruota al suo valor conforme piglia      perché li umor che adoperar ti fanno, secondo che convengon con costei, son cagion del tuo bene e del tuo danno;      non però che fidar si possa in lei né creder d’evitar suo duro morso suo duri colpi impetuosi e rei:      perché, mentre girato sei dal dorso di ruota per allor felice e buona, la suol cangiar le volte a mezzo el corso      e, non potendo tu cangiar persona né lasciar l’ordin di che ‘l Ciel ti dota, nel mezzo del cammin la t’abbandona.      Però, se questo si comprende e nota, sarebbe un sempre felice e beato 267

Niccolò Machiavelli, „Di fortuna. A Giovan Battista Soderini“, in: Dirk Hoeges, Niccolò Machiavelli: Dichter – Poeta. Mit sämtlichen Gedichten deutsch/italienisch, a.a.O., S. 114. Bei Hoeges folgende deutsche Übersetzung (ebd., S. 115): Bangen, Giovambattista, musst du nicht, und keine Wunden fürchten als jene, die sie schlägt, denn dieses launische Geschöpf tritt oft besonders herrisch in den Weg, wo Natur die stärkere scheint. Ihre Urgewalt setzt jedem zu; und ihre Herrschaft ist zerstörerisch, wenn sie nicht höchste Tugend bändigt.

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che potessi saltar di rota in rota;      ma, perché poter questo ci è negato per occulta virtù che ci governa si muta col suo corso el nostro stato.268 Was vom Menschen in der Auseinandersetzung mit den vielen Rädern der Fortuna offenkundig gefordert ist, will er sein Glück machen oder finden, das ist der Versuch, so suggeriert Machiavellis Di fortuna, gleichsam vom Scheitelpunkt des einen Rades zu jenem des nächsten zu springen („saltar di rota in rota“), um so, wie Doren formuliert, „im rechten Augenblick […] von dem auf der Höhe angelangten und Niedergang drohenden einen Rad auf das gerade nach oben schwingende nächste hinüberzuspringen und so die Launen der Fortuna durch eigene Kraft, Entschluss- und Anpassungsfähigkeit zu überwinden.“269 Dem Principe und den Discorsi ebenso wie dem schon vor diesen beiden Hauptwerken verfassten Capitolo di Fortuna lässt sich somit dieselbe Bestimmung des Verhältnisses von virtù und Fortuna entnehmen. Für die stets nur provisorisch zu habende Zähmung und Domestizierung der Fortuna besteht Machiavelli zufolge die entscheidende Eigenschaft darin, sich den Zeiten gemäß zu verhalten. Ein Mensch, der in der Lage wäre, sich ständig den Zeitläuften anzupassen, der in der Lage wäre, sich just auf jenen Rädern aufzuhalten, die es ihm ersparten, in die Tiefe des Radumlaufes gerissen zu werden, einem solchen Menschen wäre ein ständiges Dasein auf den Scheitelpunkten der vielen Räder und damit auf den wechselnden Schauplätzen der Sonnenseite des Lebens garantiert: 268

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Ebd., S. 117. Bei Hoeges folgende deutsche Übersetzung (ebd., S. 117): Unter allen, die hier weilen, zieht das bessre Los, wer seiner Kraft gemäß das Rad ergreift, denn die Triebe, die dich handeln lassen, sind, je nachdem sie ihr genehm, Grund deines Glücks und Ungemachs; Nicht, dass du ihr trauen kannst, noch glauben, ihrem harten Angriff zu entgehen, ihren harten Schlägen, wild und böse: denn, indes du von des Rades Rücken niedersteigst, weil’s gerade gut und günstig, pflegt sie des Umlaufs Tempo nach halber Bahn zu wechseln, und da du keinen ändern kannst, noch der Natur entkommen, die dir der Himmel gab, verlässt sie dich auf halbem Wege. Nur wenn das einmal wohlverstanden, würde eins mit sich und glücklich sein, wer springen kann von Rad zu Rad; aber da dies Können uns versagt von der verborgenen Macht, die uns beherrscht, ändert unser Leben sich mit seinem Lauf. Alfred Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: a.a.O., S. 115.

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V  : Z I  T „If we could read Fortune’s plan, and if we could change our own character and disposition, there might be some hope of keeping up the game indefinitely; but since this is impossible, eventually we will be doomed to fail. […] theoretically, continued success might be attainable, if a man could always suit his behaviour to the situation; but it seems to be impossible that any man could be so astute. Hence we must always act in uncertainty. Prudence and audacity will be of assistance in recognizing and seizing the opportunity that offers itself; but in the last analysis, there remains an unpredictability to success and failure we cannot expect to banish.“270

Das Hüpfen von Scheitelpunkt zu Scheitelpunkt der vielen Räder der Fortuna stellt für Machiavelli demnach nur eine hypothetische Möglichkeit dar. Die kognitive Beschränktheit des Menschen hinsichtlich des zukünftigen Charakters der wechselhaften Zeiten und ihres Gehalts einerseits, die natürlicherweise, aber eben auch fatalerweise rigide limitierten menschlichen Handlungen andererseits, gleichsam die unvorteilhafte anthropologische Ausstattung des Menschen, sie bewirken, dass Fortuna immer oder jedenfalls sehr wahrscheinlich die Kalkulationen, Pläne und Absichten des Menschen konterkarieren wird.271 Der Topos virtù vince fortuna verliert somit bei Machiavelli ganz deutlich jene optimistische, ja geradezu euphorische Konnotation, wie sie den Humanisten des 15. Jahrhunderts noch selbstverständlich war. Realistischerweise, so lautet Machiavellis ungleich defensivere Einschätzung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna, kann der Mensch die Fortuna allenfalls in ephemerer Weise steuern und lediglich provisorisch zähmen. Endgültig besiegen oder eliminieren werden menschliche Anstrengungen welcher Art auch immer die Fortuna hingegen nie: „Machiavelli in effect promises only that we can increase our chances against Fortune, not that we can eliminate her effects entirely.“272 Machiavellis behutsame Einschätzung der praktischen Möglichkeiten, auf die Fortuna einzuwirken, ist freilich keinesfalls gleichbedeutend mit einer Geringschätzung der Bedeutung der Auseinandersetzung von virtù und Fortuna für das menschliche Leben. Dass sich der Mensch dem Konflikt und der Dichotomie zwischen virtù und Fortuna entweder durch stoischen Rückzug in eine subjektive Innerlichkeit entziehen kann oder sich über diese Dichotomie durch eine christliche Hinwendung zur Transzendenz erheben kann im Sinne des Unternehmens, den Irrungen und Wirrungen der Fortuna 270

271

272

Thomas Flanagan, „The Concept of Fortuna in Machiavelli“, in: Anthony Parel (Hg.), The Political Calculus, Essays on Niccolò Machiavelli’s Philosophy, a.a.O., S. 142. Sehr schön bringt Jerrold Seigel das diese These fundierende Menschenbild Machiavellis auf den Punkt: „[…] Machiavelli’s most consistent deduction from the idea that those men are happy whose character fits the time was not that men should change to fit the times, but that they are unable to do so. The fundamental notion in Machiavelli’s theory of human action is not the flexibility of human nature but its rigidity. The man prudent enough to change his actions to suit the time will never be found“. Jerrold Seigel, „Virtù in and since the Renaissance“, in: Dictionnary of the history of ideas. Band 4, herausgegeben von Philip Wiener, New York 1973, S. 481. Thomas Flanagan, „The Concept of Fortuna in Machiavelli“, in: Anthony Parel (Hg.), The Political Calculus, Essays on Niccolò Machiavelli’s Philosophy, a.a.O., S. 141.

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durch Einwilligung in die Launen der Fortuna, betrachtet man sie nur als Werkzeug der göttlichen Vorsehung, den Stachel zu nehmen, dies kann und will Machiavellis durch und durch diesseitsorientiertes Geschichts- und Menschenbild niemals zugeben. Während beispielsweise Petrarca in De Remediis utriusque fortunae und Boethius in seiner Consolatio philosophiae gleichermaßen empfehlen, sich über das zufälligerweise zuteil gewordene Glück ebenso zu erheben wie über die zufällig zuteil gewordenen Sorgen und Niederlagen, insofern doch beide Gemütszustände dem Reiche einer vergänglichen Welt angehören, wahres Glück hingegen nur jenseits dieses Reiches zu finden ist, ist und bleibt Machiavelli dem säkularen Diesseits völlig verpflichtet: „[…] there is no implication here that success in itself is a questionable thing; it is only dangerous if it does not perpetuate itself. The ultimate standard of judgment is thus clearly the bona fortunae; […] Machiavelli speaks of fortune and kindred themes without ever mentioning that transcendence over fortune is at least a conceivable opinion. Such repeated silence forces us to conclude that such possibilities of transcendence must have been absent from Machiavelli’s mind when he used the symbolism of fortune.“273 Die menschliche Auseinandersetzung mit der Fortuna, der Versuch, auf sie einzuwirken, wie auch immer dieser Versuch genau zu verstehen ist und zu welch provisorischen und fragilen Ergebnissen auch immer er führt, sie sind Machiavellis einzige Maßstäbe für ein gelungenes Leben: „[…] it never occurs to the contestant to ask why he should compete for Fortune’s favours in the first place.“274 Fassen wir zusammen: Was die grundsätzliche Auffassung der Fortuna angeht, kann Machiavelli, unabhängig von seiner im Vergleich zu seinen humanistischen Vorgängern im quattrocento weitaus defensiveren Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen virtù und Fortuna, durchaus als Erbe und Bewahrer des Topos virtù vince fortuna gelten; er geht davon aus, dass es dem Menschen möglich ist, auf die Fortuna und ihre Unbilden in welcher Weise auch immer und mit welchen Erfolgsaussichten auch immer einzuwirken, auch wenn diese Beeinflussung stets als ein provisorisches und fragiles Domestizieren und Zähmen, nicht als ein endgültiges und auf Dauer zu stellendes Besiegen und Überwinden zu denken ist. Die Fortuna ist eine autarke Instanz, keine ancilla Dei, und auf sie kann daher, zumindest prinzipiell, durch menschliches Handeln und Bemühen eingewirkt werden; und schließlich geht Machiavelli ebenso wie die erwähnten Humanisten des quattrocento von Alberti bis Pontano davon aus, dass die entscheidende, dabei erforderliche Fähigkeit des Menschen als virtù zu bezeichnen ist. Insofern und in all diesen Hinsichten kann und muss Machiavelli, wie Skinner zurecht formuliert, als „typical representative of humanist attitudes“275 gelten und zudem als ein dem antiken Topos einer prinzipiellen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna grundsätzlich verpflichteter Repräsentant, wenn er auch das humanistische Pathos eines endgültigen Sieges der virtù über die Unbilden der Fortuna deutlich abschwächt und die menschlichen Vermögen in der Auseinandersetzung mit der Fortuna deutlich 273 274 275

Ebd., S. 146 f. Ebd., S. 143. Quentin Skinner, Machiavelli, a.a.O., S. 28.

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defensiver einschätzt, als dies die bislang in diesem Kapitel diskutierten Repräsentanten unterschiedlicher Varianten einer römischen Fortunabewältigungspraxis ebenso wie die Protagonisten des Topos virtù vince Fortuna im quattrocento tun. Diese graduelle Nuancierung eines etablierten und tradierten ideengeschichtlichen Erbes allein wäre für die „Originalität Machiavellis“ (Isaiah Berlin) auch und gerade im Vergleich zum Renaissance-Humanismus vor dem frühen 16. Jahrhundert niemals verantwortlich zu machen. Denn insofern handelte es sich ja lediglich um eine graduelle, nicht aber um eine grundsätzliche und substanzielle Differenz hinsichtlich der Auffassung des Topos virtù vince fortuna. Machiavelli schätzt die Chancen der virtù in der Auseinandersetzung mit der Fortuna aber nicht nur defensiver und vorsichtiger ein als die Humanisten des quattrocento; er fasst diese virtù auch ganz anders auf als jene Tugenden, welche für die Humanisten des vorangegangenen Jahrhunderts noch ganz selbstverständlich waren und unbefragt galten. Quentin Skinner, um nur diesen Interpreten Machiavellis anzuführen, sieht daher im Denken Machiavellis einen entscheidenden theoretischen Bruch mit der Fortunathematisierung seiner Vorgänger insofern angelegt, als Machiavelli den Topos virtù vince fortuna unter den Vorzeichen eines gänzlich geänderten Begriffs von virtù oder virtus fortführt und ausgestaltet; virtù meint für Machiavelli keinesfalls dasselbe wie für die „civic humanists“ (Baron) des quattrocento. Die wie auch immer provisorische und fragile Steuerung der Fortuna, der freilich die Möglichkeit einer endgültigen Überwindung der Fortuna immer versagt bleiben muss, sie bedarf für Machiavelli einer virtù, die weder mit den christlichen Tugenden noch mit dem klassischen Tugendkatalog der Antike noch mit jenen politischen Tugenden, welche die Humanisten des quattrocento in ihren Fürstenspiegeln und der zeitgemäßen politischen Ratgeberliteratur im weitesten Sinne als für einen guten Herrscher konstitutiv erachten, identifiziert werden darf. Wir sahen in unserer Diskussion der Fortunaauffassung im Capitolo di Fortuna, in den Discorsi, im Principe, dass Machiavelli überall dort mit dem Begriff der virtù sowohl den realistischen und nüchternen Blick für die Zeitläufte und die entsprechende Anpassung an diese – wider alle kognitiven Beschränkungen und unhintergehbare charakterliche Rigidität – meinte als auch bestimmte Eigenschaften und Tugenden wie Mannhaftigkeit, Mut oder Tapferkeit bezeichnet, kurzum – wie es prägnant auf den Begriff gebracht wurde – virtù als „flexibility together with boldness“276 begreift. Aber wie auch immer die Gewichtung zwischen diesen beiden Ausgestaltungen des Tugendbegriffs bei Machiavelli, einer vergleichsweise formalen und einer eher substanziellen Definition, vorzunehmen ist, ganz sicherlich meint Machiavelli mit dem Begriff der virtù nicht das, was mit dem Begriff der virtus oder einem Ensemble von virtutes zu bezeichnen seit Jahrhunderten fraglose Usance war. Doch gerade dies, die Formulierung eines Tugendbegriffs, der mit den christlichen oder antiken oder humanistischen Idealen und Konzeptionen eines tugendhaften Verhaltens bricht, stellt, darauf hat vor allem Isaiah Berlin aufmerksam gemacht, Machiavellis große begriffs- und ideengeschichtliche Inno-

276

Frederick Kiefer, „The conflation of Fortuna and Occasio in the Renaissance thought and iconography“, in: a.a.O., S. 11.

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vation dar.277 Denn damit ist bedeutet, dass virtù für Machiavelli weder im Sinne des antiken Tugendkatalogs fortitudo, temperantia, prudentia und iustitia noch im christlichen Sinne fides, spes, caritas meinen kann; noch umfasst Machiavellis Begriff von virtù zur Gänze oder enthält er jene spezifischen politischen Tugenden, wie etwa liberalitas oder clementia oder jene Verlässlichkeit des Wortes, wie sie Machiavelli im Principe in den Kapiteln 16–18 diskutiert und welche auch die Fürstenspiegel der frühen Renaissance und des quattrocento als für die fürstliche Politik unerlässlich ausweisen. Virtù ist insofern für Machiavelli auch niemals mit dem Katalog oder der Summe jener virtutes gleichzusetzen, welche dem Renaissance-Humanismus bis in das quattrocento hinein als die durchaus variantenreiche Artikulation von aus unterschiedlichsten geistigen Quellen stammenden Tugenden der politischen Führung selbstverständlich waren. Nicht die grundsätzliche Auffassung der Fortuna, auch nicht ein auf dem Topos virtù vince fortuna beruhendes Welt- und Geschichtsbild, auch nicht eine mehr als in einem graduellen Sinne anders nuancierte Gewichtung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna trennt Machiavelli mithin von der skizzierten Fortunathematisierung der Renaissance-Humanisten des quattrocento, sondern vor allem anderen die Auffassung des zweiten Pols der Dichtotomie von virtù und fortuna, die Auffassung der virtù: „Hitherto, as we have seen, it had generally been assumed that the possession of virtù could be equated with the possession of all the major virtues. With Machiavelli, by contrast, the concept of virtù is simply used to refer to whatever range of qualities the prince may find it necessary to acquire in order to ‚maintain his state‘ and ‚achieve great things‘. It is then made brutally clear that, while these qualities may sometimes overlap with the conventional virtues, the idea of any necessary or even approximate equivalence between virtù and virtues is a distastrous mistake.“278 Machiavelli definiert die virtù im Grunde gar nicht substanziell, sondern ausschließlich formal und funktional. Das konstitutive Charakteristikum von Machiavellis Begriff der virtù besteht in seiner Funktionalität, die Fortuna zu zähmen und zu steuern, welche substanziellen Tugenden und Eigenschaften dabei auch immer befolgt werden müssen oder sich dafür auch immer als nötig erweisen; anders formuliert heißt dies, dass man durchaus – dies will Machiavelli gar nicht bestreiten – den virtutes des christlichen oder antiken Tugendenkatalogs oder den politischen Tugenden, wie sie die Fürstenspiegel der humanistischen Zeit präsentieren, folgen sollte, wenn dies möglich ist; man braucht und soll ihnen aber gerade nicht folgen, wenn sich dies für die prinzipiell ja stets mögliche, wenn auch kaum auf Dauer zu stellende Beeinflussung der Fortuna als kontraproduktiv erweist: „For Machiavelli, as for the other humanists, the concept of virtù is thus used to denote the indispensable quality which enables a ruler to deflect the slings 277

278

Vergleiche hierzu Isaiah Berlin, „Die Originalität Machiavellis“ (1972), in: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1994, S. 93–158. Quentin Skinner, Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, a.a.O., S. 138.

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V  : Z I  T and arrows of outrageous fortune, and to aspire in consequence to the attainment of honour, glory, and fame.“279

Nicht nur bei Machiavelli, auch bei Guicciardini, jenem zweiten großen politischen Theoretiker und Historiker, den Florenz im frühen 16. Jahrhundert hervorbrachte, findet sich die Bezugnahme auf die Fortuna, um den Verlauf der Geschichte oder auch den Verlauf eines menschlichen Lebens zu erklären. Ganz im Sinne der im sechsten Kapitel dieser Arbeit als fortunadominiert bezeichneten Zeit- und Geschichtsauffassung und ebenso wie Machiavelli verkörpert auch für Guicciardini die Fortuna eine Instanz außerhalb der Geschichte, liegt die Quelle der fortunadominierten Geschichte mithin außerhalb der Geschichte, und dieser geschichtsprägenden, wiewohl außerhistorischen Gestalt der Fortuna wird auch von Guicciardini attestiert, immer und überall, will sagen in prinzipiell unveränderlicher und kontinuierlicher Weise auf die menschliche Geschichte zu wirken. Freilich, was die Frage der praktischen Beeinflussbar- oder Verfügbarkeit der Fortuna betrifft, hält Guicciardini weder die virtù der quattrocento-Humanisten noch Machiavellis virtù für ein geeignetes Antidot, sei’s für die provisorische Zähmung und Domestizierung, sei’s für eine direkt ansetzende Beeinflussung der Fortuna. Guicciardinis radikale Skepsis bezüglich der Einflussmöglichkeiten auf die Fortuna darf nun wiederum nicht zu dem Irrglauben verführen, Guicciardini denke die Fortuna als eingebettet in eine göttliche Vorsehung in jenem von Boethius bis Petrarca akzeptierten Sinne einer ancilla Dei und deute sie gerade deshalb und insofern als praktisch unverfügbar. Nein, durchaus und wie in der Renaissance üblich sieht Guicciardini in der Fortuna eine autarke Instanz, aber eben nun eine derart übermächtige autarke Instanz, dass der Mensch in das von ihr gestiftete und praktisch unverfügbare Geschick nurmehr mit einer Haltung der Resignation und ohne theologisches Mandat einwilligen kann. In diesem Sinne verweist Guicciardini in seinem Spätwerk, der unmittelbar vor seinem Tode, nämlich von 1537–1540 verfassten Storia d’Italia, ständig auf die praktische Übermacht der Fortuna, welche alle menschlichen Pläne und Absichten konterkariert. Für Felix Gilbert rückt Guicciardinis Sichtweise der Geschichte und der Fortuna sowohl die Omnipotenz wie die praktische Unverfügbarkeit der Fortuna in den Vordergrund: „Even if people had acted prudently and wisely, and even if they had considered all the relevant circumstances and had taken all possible precautions, events might have come out very differently from what men would expect. There is no way for man to make sure of success; on the contrary, it is more likely that he will be defeated. The master over the events of history is Fortuna.“280 So nimmt Guicciardini bestimmte Tendenzen der bislang skizzierten, höchst unterschiedlichen Varianten der Fortunathematisierung von Antike bis Renaissance auf und verknüpft diese in einer ganz spezifischen Weise: Die Fortuna ist ihm praktisch unverfügbar, so wie dies seit der spätantiken Mediatisierung des Fortunaproblems bei 279 280

Ebd., S. 121. Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence, Princeton 1965, S. 288.

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Boethius bis in die Zeit von Dante und Petrarca hinein unterstellt wurde. Aber diese These von einer praktischen Unverfügbarkeit der Fortuna wird von Guicciardini nicht in einem christlichen Sinne als Ausdruck der Fürsorge der göttlichen Vorsehung oder Konsequenz der Einbettung der Fortuna in eine dirigierende providentia verstanden, sondern sie ist ihm die Konsequenz eines durch und durch skeptischen Geschichtsbildes und säkularen Realismus. Was Guicciardini wiederum von den Humanisten des quattrocento oder auch von Machiavelli trennt, dies ist nicht das theoretische Verständnis der Fortuna – auch Guicciardini denkt die Fortuna als eine autarke und unabhängige Instanz – oder die Einsicht in die historische und lebenspraktische Relevanz der grundsätzlichen Dichotomie von virtus und Fortuna, sondern allein die Gewichtung des diese Dichotomie bestimmenden Kräfteverhältnisses. Denn Guicciardinis Konzept einer omnipotenten Fortuna ist von Machiavellis ausgewogener Einschätzung des stets fragilen Verhältnisses von virtù und Fortuna nicht minder deutlich zu unterscheiden wie von der im quattrocento formulierten optimistischen Präsumtion eines auf Dauer zu stellenden Sieges über die Fortuna. Besonders deutlich formuliert findet sich Guicciardinis durchweg pessimistische Resignation bezüglich der menschlichen Handlungsmöglichkeiten in einer Geschichte, welche prinzipiell dem Diktat der Fortuna untersteht, in seinen Ricordi formuliert, in jener Sammlung von Reflexionen und Maximen, die Guicciardini seit 1513 aufzeichnete und mehrmals überarbeitete und die erst 1568, also einige Jahre nach seinem Tode 1540, veröffentlicht wurden. „Coloro ancora che, attribuendo el tutto alla prudenza e virtù, escludono quanto possono la potestà della fortuna“281 , schreibt Guicciardini dort. Und an anderer Stelle heißt es in den Ricordi: „Chi considera bene, non può negare che nelle cose umane la fortuna ha grandissima potestà, perché si vede che a ognora ricevono grandissimi mota da accidenti fortuiti, e che non è in potestà degli uomini né a prevedergli né a schifargli: e benché lo accorgimento e sollicitudine degli uomini possa moderare molte cose, nondimeno sola non basta, ma gli bisogna ancora la buona fortuna.“282 Guicciardini macht in seinen Ricordi deutlich, dass dem Menschen angesicht der Omnipotenz einer Fortuna, die insofern autark und ohne göttliche Regieanweisung agiert, da sie nicht in eine göttliche Vorsehung eingebettet ist, nur skeptische Nüchternheit und enttäuschungsresistente Gelassenheit bleibt: „Tutte le città, tutti gli stati, tutti e’ regni sono mortali; ogni cosa o per natura o per accidente termina e finisce qualche volta. Però uno cittadino che si truova al fine della sua patria, non può tanto dolersi della disgrazia di quella e chiamarla mal fortunata, quanto della sua propria: perché alla patria è acca-

281

282

Francesco Guicciardini, Ricordi. Storie fiorentine, herausgegeben von Emanuella Scarano, Turin 1970, S. 15. Ebd., S. 14.

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V  : Z I  T duto quello che a ogni modo aveva a accadere, ma disgrazia è stata di colui abattersi a nascere a quella età che aveva a essere tale infortunio.“283

Dass diese durch und durch pessimistische Einschätzung des Verhältnisses von virtù und Fortuna, wie sie Guicciardini für die späte Renaissance exemplarisch formuliert, durchaus kein Einzelfall war, verdeutlicht Felix Gilbert in seinem Buch Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence am Beispiel von Vettoris Sommario della Storia d’Italia dal 1511 al 1527, in welcher Francesco Vettori die beiden Medici-Päpste, Leo X.. und Clemens VII., kontrastiert. Ihre politischen Fähigkeiten und Talente hätten unterschiedlicher nicht sein können, so Vettori. Aber dem vorsichtig taktierenden und klugen Clemens VII. sei die Fortuna nicht gewogen gewesen, dem einen politischen Fehler nach dem anderen begehenden Leo X hingegen sehr wohl. Der Fortuna seien offensichtlich, wie Vettori schreibt, „tutte le azioni umane sottoposte“284 . Wir sehen, wie für Guicciardini entscheidet auch für Vettori die Fortuna über den Ausgang der menschlichen Handlungen und der menschlichen Geschichte in autarker Weise; auch für Vettori erweist sich alles menschliche Bemühen der Fortuna gegenüber in einer Weise ohnmächtig, welches selbst jener ausgewogenenen Bilanzierung des Kräfteverhältnisses von virtù und Fortuna, wie es sich noch bei Machiavelli formuliert findet, nicht mehr vertrauen will. Zugleich ist Guicciardinis und Vettoris pessimistische und resignative Rhetorik der Einwilligung in das sich einer übermächtigen Fortuna verdankende Geschehen nicht mehr mit jener Glaubensgewissheit theoretisch liiert, wie sie von Boethius’ Lösung des Fortunaproblems bis in die Zeiten von Dante oder Petrarca hinein zu registrieren war, mit jener Glaubensgewissheit, die in einer praktisch unverfügbaren Fortuna jene ancilla Dei am Werk sah, wie sie von Boethius’ Lösung des Fortunaproblems bis in die Zeiten von Dante oder Petrarca hinein zu registrieren war. Das Kräfteverhältnis zwischen menschlichen Fähigkeiten, Leistungen und Verdiensten, wie auch immer sie im Einzelnen beschrieben werden, und der Fortuna neigt sich bei Guicciardini zu Ungunsten der menschlichen Einflussmöglichkeiten, ja lässt diese völlig wirkungslos werden, entzieht sich zugleich aber auch einer christlichen Deutung. Mithin erfährt der Topos virtù vince fortuna, wie er im Renaissance-Humanismus des quattrocento varianten- und zahlreich formuliert und reformuliert wurde, bei Guicciardini nicht nur eine im Vergleich zur Fortunathematisierung etwa bei Alberti deutlich defensivere Nuancierung, so wie dies schon für Machiavelli zu registrieren war. Angesichts einer letztlich omnipotenten Fortuna, angesichts einer Auffassung der Fortuna als „master of the events of history“285 , wie es bei Felix Gilbert heißt, hat die menschliche virtù bei Guicciardini – in welcher Rolle auch immer sie auftreten mag – ihre Kompetenzen und ihren geschichtstheoretischen Valeur gänzlich eingebüßt. „And with this loss of faith in the power of virtù“, so kommentiert Quentin Skinner diese Entwicklung, „the great tradition of Itali-

283 284

285

Ebd., S. 61. Zitiert nach Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence, a.a.O., S. 252. Vergleiche hierzu Anmerkung 280 auf S. 590 in diesem Kapitel.

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an Republicanism finally came to an end.“286 Auch Felix Gilbert hat im Hinblick auf die Geschichtsschreibung der italienischen Renaissance nach dem endgültigen Untergang der republikanischen Stadtstaaten in Italien spätestens ab 1530 eine neuartige Betonung der Omnipotenz der Fortuna und einen bis dato unbekannten Pessimismus hinsichtlich der Einschätzung der Fähigkeiten der menschlichen virtù, auf diese Fortuna in welcher Weise auch immer einzuwirken, beobachtet, einen Pessimismus, der freilich etwas anderes meint als jene These einer praktischen Unverfügbarkeit der Fortuna als ancilla Dei, wie sie im Kontext eines Glaubens an eine alles umfassende und allgütige Vorsehung, wie sie im Kontext einer Mediatisierung der Fortuna als ancilla Dei formuliert werden konnte: „[…] whereas in earlier times Fortuna’s influence was limited to special spheres or definite occasions, the Fortuna which emerged as the ruler of world history in the sixteenth century was the power behind everything that happened: it was an embodiment of the uncontrollable forces determining the course of events. […] Such a view of Fortuna destroyed the fifteenth-century belief in man’s power to control, or at least to influence events. Yet this notion of Fortuna did not lead to a return to the medieval concept of a world directed according to God’s plan.“287 Das Fortleben der Fortuna in der Renaissance auch nach dem quattrocento, schließlich die Behauptung einer Omnipotenz der Fortuna gegenüber allen menschlichen Bemühungen gleich welcher Natur, die These einer praktischen Unverfügbarkeit der Fortuna nicht in einem christlichen Sinne, sondern in einer gleichsam säkularen Variante formuliert, der vorläufige Schlusspunkt jener ideengeschichtlichen Entwicklung, der wir bislang in diesem Kapitel nachzufolgen versucht haben, sie markieren nun freilich insofern nur ein Zwischenstadium unserer ideengeschichtlichen Skizze in diesem Kapitel, als sie keinesfalls das endgültige Ende frühneuzeitlicher Fortunathematisierung bedeuten, vielmehr für die weiteren Abschnitte dieses Kapitels zu einer Ideengeschichte der Fortuna einladen, welche auch die Diskussion des Verhältnisses von Fortuna und menschlichem Handeln und Tun umschließt, welche zudem die Thematisierung der Fortuna auch nach dem Ende der italienischen Renaissance und auch in anderen europäischen Ländern berücksichtigt, zu einer Geschichte, welche ihren Blick nun auch nördlich der Alpen zu ruhen lassen hat. In ebendiesem Sinne werden wir in den Abschnitten (6) – (9) dieses Kapitels die Geschichte der Fortunathematisierung in der Frühen Neuzeit weiter verfolgen, indem wir uns mit dem französischen und holländischen Noestoizismus (6), dem elisabethanischen Theater (7), der spanischen Literatur des siglo de oro (8) und schließlich der Literatur des deutschen Barock (9) beschäftigen. Wir werden dabei – wie in den Eingangspassagen dieses Kapitels bereits angedeutet – beobachten können, wie die Fortunathematisierung gleichsam der Post-Renaissance changiert zwischen einem grundsätzlichen, wenn auch graduell höchst unterschiedlich konzipierten Vertrauen 286

287

Quentin Skinner, Foundations of Modern Political Thought. Volume 1: The Renaissance, a.a.O., S. 187. Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence, a.a.O., S. 269 f.

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in die praktische Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna und der Kompensation des Mangels eines solchen Vertrauens durch die Einbettung der Fortuna in eine göttliche Providenz, die schließlich – wie im Neostoizismus und anders als noch bei Boethius – gar in eine Leugnung der Existenz der Fortuna à contrecœur münden kann. Zuvor, im fünften Abschnitt dieses Kapitels und gleichsam als inhaltliche Brücke zwischen der ersten, sich der Zeit von der Antike bis zur Renaissance erstreckenden Hälfte des Kapitels, und der zweiten, der Frühen Neuzeit als der historischen Periode zwischen Renaissance und Sattelzeit verpflichteten Hälfte, wollen wir indes einige politik- und religions-, aber auch kultur- und mentalitätsgeschichtliche Überlegungen zur geistigen, kulturellen und politischen Situation Europas im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert präsentieren und entwickeln, die sich für die Frage nach den geistigen und kulturellen Voraussetzungen für die soeben angedeutete, bemerkenswerte Tatsache einer ambivalenten Konjunktur der Fortunathematisierung im Zeitalter der Post-Renaissance, Gewinn bringend verwerten lassen (5). (5) Skinners soeben zitierte Bemerkung über den intrinsischen Zusammenhang von republikanischer Überzeugung und dem Glauben an die Möglichkeiten der menschlichen virtù in der Auseinandersetzung mit der Fortuna, über den Zusammenhang von republikanischer Staatsgesinnung und „faith in the power of virtù“, deutet an, dass die frühneuzeitliche Krise nicht der Fortunathematisierung schlechthin, wohl aber des Renaissance-Topos virtù vince fortuna und die damit einhergehende Konjunktur der Auffassung von einer omnipotenten und praktisch unverfügbaren Fortuna und damit eben auch ein für die Fortunathematisierung der Post-Renaissance konstitutives Charakteristikum durchaus mit dem Niedergang des Republikanismus oder der republikanisch regierten italienischen Stadtstaaten in Verbindung stehen könnten. In ebendiesem Sinne, gleichsam die andere Seite der Medaille betrachtend, haben auch diverse Interpretationen des Barock immer wieder auf den intrinsischen Zusammenhang einer spezifisch barocken Fortunathematisierung, deren ambivalente inhaltliche Konturen wir im letzten und neunten Abschnitt des Kapitels noch ausführlich beschreiben werden, und dem Erstarken der politischen Macht der fürstlichen und königlichen Höfe hingewiesen. In diesem Sinne bringt Leonard Forster in seiner Schrift The Temper of Seventeenth Century German Literature die barocke Konjunktur einer Auffassung der Fortuna als allen menschlichen Bemühungen überlegen, die barocke Auffassung der Fortuna als gänzlich omnipotent und praktisch unverfügbar, mit dem Aufstieg des politischen Absolutismus in Verbindung. „Roughly contemporaneous with the rise of Fortune to the status of a compelling symbol there can be discerned the gradual rise of political absolutism […] Court life is the realm of Fortune; it is a tempestuous sea, with constantly changing winds and hidden rocks.“288 Die Undurchschaubarkeit der höfischen Intrige und Ranküne verdeutlicht dem barocken Zeitalter die scheinbar unaufhebbare Abhängigkeit des Dichters vom Gutdünken eines Herrschers, und so ist es nicht verwunderlich, dass dieses höfische Leben samt seiner 288

Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, London 1952, S. 8 f.

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unvorhersehbaren Bezeugungen von Gunst und Ungunst als Sinnbild für die Omnipotenz der Fortuna interpretiert wird. Das höfische Leben verwandelt sich gemäß dieser Perspektive zum eigentlichen Schauplatz des Waltens der Fortuna, zum „Aktionsraum Fortunas“289 , wie Gottfried Kirchner in seiner Studie über die Fortunaauffassung in barocker Dichtung und Emblematik trefflich formuliert. Exemplarisch und besonders prägnant lässt sich diese barocke Verpflanzung der Fortuna in das Innere der höfischen Wirrnisse dem historischen Trauerspiel des Barock-Zeitalters entnehmen. Stets sind dessen Händel und Widerfahrnisse im Bereich des höfischen Lebens angesiedelt und damit in jener Sphäre, in welcher, wie Wilhelm Vosskamp bemerkt, „die Aufstieg und Fall, Erhöhung und Untergang bewirkende Macht der Fortuna“290 in besonders wirkungsvoller und gnadenloser Weise ihr Unwesen zu treiben scheint. Dass das höfische Leben für eine dramatisch effektvolle Darstellung der Fortuna besonders gut geeignet ist, verdankt sich zudem der überdurchschnittlichen „Fallhöhe“ von Fürsten, Prinzen und anderen Machthabern, präsentiert sich die Fortuna als adversa fortuna erst einmal von ihrer ungünstigen Seite. Andreas Gryphius bemerkt in einer Passage seines Trauerspiels Carolus Stuardus in ebendiesem Sinne: Der unverhoffte fall der ungewissen sachen Kan offt aus printzen knecht, aus knechten fürsten machen. ie Eos früh in gold auf ihrem stuhl anlacht, Sind, eh der abend dar, in fremde kercker bracht…291 So wie Forster, Kirchner und Vosskamp hat auch Helmut Kappler in seiner Untersuchung über den Geschichtsbegriff von Andreas Gryphius auf die Undurchsichtigkeit des höfischen Lebens als entscheidende Inspirationsquelle für die barocke Fortunathematisierung verwiesen: „Im Treiben des Hofes stellt sich das menschliche Leben schlechthin dar. ‚Der Hof, die kleine Welt‘, ist keine seltene Metapher. Doch sieht man im Hofleben alles wie durch ein Vergrößerungsglas deutlicher und größer. Der gleiche Kampf, der in der Seele des einzelnen Menschen rast, tobt, in die äußere Welt der Sinne gezerrt, am Hofe. Leidenschaft und Vernunft ringen ständig miteinander. Der Hof ist eine Allegorie der Einzelseele. Leidenschaft und Vernunft sind personifiziert in schlechten und guten Räten. Die umkämpfte Seele, der die letzte Entscheidung zusteht, findet ihre Person im Fürsten. In vieler Hinsicht war der Hof für das 17. Jh. Muster und Vorbild.“292 289

290

291

292

Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, Stuttgart 1970, S. 114. Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn 1967, S. 135. Andreas Gryphius, Werke. Band 2: Trauerspiele, herausgegeben von Hermann Palm, Darmstadt 1961, S. 449 f. Hier zitiert nach Hans-Jürgen Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen, Köln/Graz 1966, S. 187 f. Helmut Kappler, Der barocke Geschichtsbegriff bei Andreas Gryphius, Frankfurt am Main 1936, S. 53.

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Carl Joachim Friedrich schreibt in seiner nun freilich weniger literatur-, denn politikgeschichtlich verfahrenden Studie Das Zeitalter des Barock, der am fürstlichen oder königlichen Hofe „leidenschaftlich und entschlossen um die Meisterung seines Schicksals kämpfende Mensch“ erschien im Zeitalter des Barock „im Grunde als ein ohnmächtiges Opfer eben dieses Schicksals. Der meteorhafte Aufstieg von Günstlingen, heldischen Konquistadoren und königlichen Konkubinen und ihr Sturz ins Bodenlose waren wahrhaft symbolisch für das Barockzeitalter.“293 Diesen für das Barock konstitutiven Zusammenhang zwischen den existenziellen Auswirkungen höfischer Malice und der Konjunktur der Fortunathematisierung – gleichsam das Spiegelbild des konstitutiven Zusammenhangs zwischen dem Verfall des Republikanismus und der italienischen Stadtrepubliken im Laufe des 16. Jahrhunderts und der, obschon nicht endgültigen Eliminierung, so doch nachhaltigen Krise des Topos virtù vince fortuna – hat Werner Krauss wiederum am Beispiel des spanischen Autors Baltasar Gracián bestätigt: „Graciáns eigene Welterfahrung war, wie diejeniger seiner italienischen Vorgänger, wesentlich einem höfischen Umkreis verhaftet: Hier war auch das Glück noch eine Lebensmacht, deren Walten man täglich verspürte und abergläubisch anerkannte. Glanz und Elend der Günstlingslaufbahn, das vollständige Revirement, das mit jedem Regierungswechsel einen Schub von bisher hoffnungslos verbitterten Prätendenten plötzlich an die Sonnenseite gelangen ließ, die Verknüpfung höfischer Einflußübung mit politischer Macht und unmessbaren, finanziellen Vorteilen – das sind Erscheinungen, die zur absolutistischen Lebensordnung gehören. Das Auf und Ab der Fortuna ist ein häufiges und immer wieder sich aufdrängendes Thema höfischer Erfahrungen und höfischer Kommentare. […] Die Flucht vom Hof war in jenen Zeiten ein erwägenswertes und auch häufig erwogenes Projekt – jedoch war sie gleichbedeutend mit der Flucht aus dem Leben.“294 Für die historische Kontextualisierung und Erklärung dieser späten Konjunktur der Fortuna im Laufe des späten 16. und 17. Jahrhunderts – eine Konjunktur, für die eine gewisse Ambivalenz konstitutiv war: einerseits die Krise des Topos virtù vince fortuna und die Präsumtion einer gänzlich omnipotenten und praktisch unverfügbaren Fortuna, was nicht zuletzt eine erneute Konjunktur der erstmals von Boethius angedachten Möglichkeit einer providentiellen Einbettung der Fortuna bewirkte; andererseits das fragmentarische Fortleben des Topos virtù vince fortuna selbst im Zeitalter seines allgemeinen kulturellen und geistigen Niedergangs –, für die historische Kontextualisierung einer derart ambivalenten Fortunathematisierung ist jedoch ein weitaus umfassenderer mentalitäts-, religions- und kulturgeschichtlicher Kontext für relevant zu erachten als sich dem bisherigen Verweis auf das politische Erstarken der fürstlichen Höfe allein und 293

294

Carl Joachim Friedrich, Das Zeitalter des Barock. Kultur und Staaten Europas im 17. Jahrhundert, Stuttgart 1954 (1952), S. 59. Werner Krauss, Graciáns Lebenslehre, Frankfurt am Main 1947, S. 76 bzw. 78.

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dem damit in Verbindung zu bringenden, literarischen Interesse des Barock an der Fortuna entnehmen lässt. Die Suche nach den historischen Gründen für die frühneuzeitliche Konjunktur der Fortuna einerseits, die letzte ideengeschichtliche Blüte der Fortunathematisierung schlechthin, für das frühneuzeitliche Schwinden der für die italienische Renaissance so typischen Zuversicht, kraft einer wie auch immer zu verstehenden Kraft und Leistung die wechselhaften Zeitläufte, wenn nicht dauerhaft und endgültig zu besiegen oder direkt zu beeinflussen, so doch immerhin indirekt steuern und zähmen zu können, andererseits, kann meines Erachtens zunächst einmal gar nicht anders, als die gewaltsamen religiösen Konflikte zu berücksichtigen, wie sie die europäische Geschichte zwischen Bartholomäusnacht und Dreißigjährigem Krieg prägen. Der Zusammenhang zwischen diesen religionsgeschichtlichen Konflikten der Epoche und der letzten Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung wird uns beispielsweise in einem späteren Abschnitt dieses Kapitels, im Zuge der Behandlung des Neostoizismus eines Justus Lipsius und eines Guillaume du Vair überdeutlich begegnen und sich anschaulich rekonstruieren lassen. Dass dieser Zusammenhang freilich auch die Literatur des Barock prägt, lässt sich gar nicht bestreiten und in typischer Weise jenen Worten von Andreas Gryphius entnehmen, die den theoretischen Konnex zwischen den religiösen Konflikten der Zeit und der literarischen Darstellung der „Vergänglichkeit menschlicher Sachen“ im Vorwort seiner ersten Tragödie Leo Armenius ausdrücklich beschreiben: „Indem unser ganzes Vaterland sich nunmehr in seiner eigenen Asche verscharrt und in einen Schauplatz der Eitelkeit verwandelt, bin ich geflissen, die Vergänglichkeit menschlicher Sachen in gegenwärtigem und etlich folgenden Trauerspielen darzustellen.“295 Auch Gottfried Kirchner führt in seiner bereits zitierten Studie die Popularität der Fortunagestalt im Zeitalter des Barock auf die religiösen Wirren und Konflikte des frühen 17. Jahrhunderts zurück: Nicht selten wurde seinerzeit angesichts der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges eine Instanz angerufen, die heidnischen Ursprungs war und von der ganz und gar unklar sein musste, wie sie sich mit der Hoffnung auf einen gütigen und gnädigen Gott überhaupt vertragen konnte. Vielen Menschen erschien es seinerzeit leichter und plausibler, so schreibt Kirchner, „einer zürnenden wie verschwenderisch gütigen Gestalt zu dienen oder sich mit ihr zu messen, die von Menschen geschaffen war und ihnen näher stand als der ferne Gott.“296 Die angemessene Beschreibung des Kontexts der späten frühneuzeitlichen Konjunktur der Fortuna im „Herbst der Renaissance“ (Bouwsma) und der zumindest doch kulturellen und geistigen Krise des Renaissance-Topos virtù vince fortuna bedarf sicherlich, wie bereits angedeutet, eines Ensembles von kontextualisierenden Perspektiven; neben einem politikgeschichtlichen Befund – dem Niedergang der Republiken und des Republikanismus, der Stärkung der Fürstenhöfe –, welcher Fortuna als Inbegriff der höfischen 295

296

Hier zitiert nach Fritz Strich, „Der europäische Barock“ (1943), in: Der Dichter und seine Zeit. Eine Sammlung von Reden und Vorträgen, Bern 1947, S. 88. Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, a.a.O., S. 162.

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Intrige und Ranküne erscheinen lässt, und einer religionsgeschichtlichen Entwicklung – den konfessionellen Bürgerkriegen des frühen 17. Jahrhunderts –, welche Fortuna als Inbegriff eines stets gefährdeten Lebens im Zeichen eines deus absconditus erscheinen lässt, möchte ich im Folgenden noch auf eine Reihe von gleichsam mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Befunden aufmerksam machen, gleichsam auf Stimmungen oder intellektuelle Atmosphären, welche die letzte Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung ab dem späten 16. Jahrhundert ebenfalls befördert haben mögen. So lässt sich ein mentalitäts- und kulturgeschichtliches Panorama zeichnen, welches verständlich werden lässt, weshalb es seinerzeit – im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert – und nun freilich zum ideeengeschichtlich nachweislich letzten Mal zu einer neuen Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung und einem Fortleben des Fortunamotivs parallel zur Krise des Renaissance-Topos virtù vince fortuna kommen konnte, mithin ein historischer Kontext benennen, der im Verbund mit den genannten politischen und religiösen Gründen dafür verantwortlich ist, dass in den Abschnitten (6) – (9) dieses Kapitels schließlich eine Geschichte der Fortuna zwischen Renaissance und Zeitalter des Barock anhand der vier angedeuteten ideengeschichtlichen Phänomene – Neostoizismus, elisabethanisches Drama, spanische Literatur des siglo de oro und Literatur des deutschen Barock – zu berichten ist. In illo tempore erschien es vielen Autoren nur natürlich, auch darauf muss und kann in diesem fünften Abschnitt unseres Kapitels verwiesen werden, dass Akzeptanz von Ungewissheit und Ambivalenz, die Haltung einer grundsätzlichen Skepsis, das Bekenntnis zu den Gefühlen und Stimmungen von Pessimismus, Vergänglichkeit und Angst, schließlich die Auffassung der Welt als eines Theaters sowie zuletzt das theoretische Interesse für das Phänomen der Melancholie die intellektuell angemessene Antwort auf die Wirren der Zeit darstellten: Kommen wir zunächst auf die Akzeptanz von Ungewissheit und die Beschränktheit des Menschen sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht zu sprechen: Wie in einem Vexierbild lässt sich das Phänomen, vom dem hier die Rede sein soll, erkennen, wenn aus der Perspektive eines Zeitalters des Strebens nach letztgültiger Gewissheit, aus der Epoche einer vollständigen Eskamotierung der Fortuna, in die vor der endgültigen Durchsetzung dieses Strebens liegenden Zeiten geblickt wird. Es ist ja in der Tat der ideengeschichtliche Befund auffallend, dass spätestens ab dem späten 17. Jahrhundert keinerlei historische Belege mehr für eine Thematisierung der Fortuna zu finden sind. Man möchte sagen: An der Schwelle zur Sattelzeit bereits gleichsam in Wartehaltung stehend, erhält die Fortuna doch schließlich keinen Zutritt zu dieser historischen Epoche. Fällt das Datum des endgültigen Verscheidens der Fortunathematisierung in der europäischen Ideengeschichte aber tatsächlich auf die Mitte oder das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts, dann korrespondiert es mehr oder weniger exakt dem Beginn jener „quest for certainty“ (Dewey), welcher durch Descartes die moderne Philosophie und durch Galilei und Newton die moderne Naturwissenschaft begründet und inauguriert. Dieser „quest for certainty“ musste jeder Rekurs auf die Fortuna, jeder Verweis auf Zufall und Vorläufigkeit, auf Ungewissheit und Ambivalenz des menschlichen Daseins als nichtswürdiges sacrificium intellectus erscheinen?

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In seinem Buch Kosmopolis297 weist Stephen Toulmin darauf hin, dass jene Auffassungen, die heute als Gründungsurkunden der modernen Philosophie und Naturwissenschaft betrachtet werden, die Philosophien von Descartes oder Leibniz ebenso wie ein von Galilei und Newton formuliertes Verständnis der Naturwissenschaften, keinesfalls die von historischen Kontexten entbundenen Resultate von geistigen Lichtblicken vereinzelter Genies waren, die sich nur dem Streben nach Wahrheit verpflichtet fühlten, sondern dass es sich vielmehr um Auffassungen handelte, die zu einer ganz bestimmten Zeit und in einem ganz bestimmten Kontext formuliert wurden und die sich nicht zuletzt aufgrund der Ansicht, das intellektuelle Skandalon der religiösen Konflikte der Zeit ließe sich eindämmen, sei erst einmal eine letztbegründbare Wahrheit formuliert und eine unwiderrufliche Gewissheit erreicht, gegen eine vorangegangene Epoche der Ideengeschichte wendeten. Der von Toulmin verwendete Begriff der „Gegenrenaissance“, welchen Toulmin wiederum Hiram Haydn verdankt298 , macht deutlich, dass Toulmin jene Autoren des 17. Jahrhunderts, die uns heute als die Inauguratoren des modernen Zeitalters schlechthin erscheinen, und ihre Suche nach philosophischer oder naturwissenschaftlicher Gewissheit ganz bewusst den frühneuzeitlichen Humanisten und den Autoren der Renaissance kontrastiert. Als Protagonisten der Renaissance behandelt Toulmin in seinem Buch dabei Autoren wie Montaigne, Rabelais, Erasmus und Shakespeare. Diese vier Autoren unterscheiden sich laut Toulmin von den Vertretern der so genannten Gegenrenaissance dadurch, dass sie weniger nach Gewissheit strebten, als vielmehr auf die Grenzen und die Fragilität menschlichen Gewissheitsstrebens aufmerksam machten, geistig-intellektuelle Ungewissheit und Ambivalenz als unvermeidlich akzeptierten und angesichts dieser für das menschliche Denken konstitutiven Ungewissheit und Ambivalenz praktische Toleranz und intellektuelle Gelassenheit empfahlen. In Erasmus’ Lob der Torheit oder in Montaignes Apologie pour Raimond Sebond oder in Rabelais’ Gargantua und Pantagruel erscheinen Ungewissheit, Vorläufigkeit und Ambivalenz als unvermeidliches praktisches Ingrediens menschlicher Existenz und theoretisches Ingrediens menschlicher Vernunft. Diese Unsicherheit und Beschränktheit – mit Hilfe welcher Begriffe, Metaphern oder Symbole auch immer sie artikuliert wird – zu betonen, stellte für diese Autoren gerade kein sacrificium intellectus dar, sondern illusionsfreie Einschätzung der conditio humana. Dass diese frühneuzeitliche Akzeptanz von Ungewissheit und Ambivalenz sowohl in praktischer wie in theoretischer Hinsicht der ab dem 16. Jahrhundert einsetzenden, letzten Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung mentalitäts- und kulturgeschichtlich förderlich gewesen sein dürfte, wie umgekehrt ein moderner „quest for certainty“ der endgültigen Verbannung der Fortuna aus der europäischen Ideengeschichte Vorschub geleistet haben dürfte, scheint mir daher äußerst naheliegend, auch wenn Toulmin selbst diese Zusammenhänge zwischen „quest for certainty“ und Fortunaverdrängung, Akzeptanz von Ungewissheit und letzter Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung in seinem Buch Kosmopolis gar nicht behandelt.

297

298

Zu den folgenden Ausführungen vergleiche prinzipiell Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1994 (1990). Hiram Haydn, The Counter-Renaissance, Gloucester 1966.

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Beschreibt Toulmin die neuzeitliche Philosophie seit Descartes und die neuzeitliche Naturwissenschaft seit Galilei und Newton im Anschluss an einen Terminus von Haydn als Gegenrenaissance, so erscheint in den Arbeiten Richard Popkins der philosophische und naturwissenschaftliche „quest for certainty“ des 17. Jahrhunderts weniger als Gegenrenaissance denn gleichsam als Gegenskepsis, mithin als Reaktion auf jene „skeptical crisis“ oder jene „crise pyrrhonienne“, deren ideengeschichtliche Anfänge Popkin in der neuesten Version seiner History of Scepticism einerseits auf die Wiederbelebung des Interesses an der griechischen Skepsis in der späten Renaissance ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und andererseits auf das Zeitalter der Reformation und die seinerzeitigen Diskussionen des Verhältnisses von Glauben und Wissen sowie der Geltungsansprüche religiöser Überzeugungen datiert. Der „Herbst der Renaissance“ ist Popkin zufolge immer auch – von der Reformation bis in die Zeit des 17. Jahrhunderts hinein – Renaissance der Skepsis: „[…] it is my contention that scepticism plays a special […] role in the period extending from the religious quarrels leading to the Reformation up to the development of modern metaphysical systems in the seventeenth century“299 . So wie die von Toulmin rekonstruierte Suche nach Gewissheit im Zeitalter der Gegenrenaissance jede Akzeptanz von Ungewissheit und Ambivalenz in theoretischer wie in praktischer Hinsicht verdrängen muss und dadurch wie in einem Vexierbild die ihr vorangegangene Akzeptanz von Ungewissheit und Ambivalenz frei legt, damit zugleich auch einen der letzten Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung förderlichen mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Kontext beschreibt, so liegt im Anschluss an die Arbeiten von Popkin die Vermutung nahe, dass die Renaissance der Skepsis ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und demnach jene skeptische Position, welche angesichts der Unhaltbarkeit allen Wissens die Suspension aller Geltungsansprüche empfiehlt, ohne dass diese Suspension, wie in der akademischen Skepsis der Antike, als ein Wissen deklariert wird, der Thematisierung der Fortuna in ebendieser Zeit förderlich gewesen sein dürften. Neben einer Akzeptanz von Ungewissheit und Ambivalenz in theoretischer wie praktischer Hinsicht und der Skepsis gegenüber allen prätendierten Gewissheiten lassen sich noch weitere kultur- und mentalitätsgeschichtliche Befunde registrieren, die am Ende des 16. Jahrhunderts der letzten Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung günstig gewesen sein dürften: William Bouwsma beschreibt in seinem Buch Der Herbst der Renaissance 1550–1640 und dort vor allem in dem Kapitel „Die schlimmste Zeit“ die Kultur- und Mentalitätsgeschichte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts am Leitfaden eines seinerzeit zunehmend grassierenden Gefühls von Unruhe, Angst und Pessimismus. Ja, in diesen seinerzeit um sich greifenden Befindlichkeiten von Angst und Pessimismus sowie den entsprechenden Affirmationen menschlicher und historischer Vergänglichkeit besteht für Bouwsma ein konstitutives Element der Kulturgeschichte der Spätrenaissance, ein Element, welches Bouwsma zufolge in Burckhardts klassischer, aber in dieser Hinsicht eben einseitiger und verkürzter Schilderung der Renaissance nicht oder zumindest nicht ausreichend berücksichtigt wird. „Zusehends trat Hoffnungslosigkeit an

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Richard Popkin, The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle. Revised and Expanded Edition, Oxford 2003, S. xix.

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die Stelle von Hoffnung“300 , so glaubt Bouwsma die entscheidende kultur- und mentalitätsgeschichtliche Differenz gleichsam zwischen dem Frühling und dem Herbst der Renaissance plakativ auf den Begriff bringen zu können: Lediglich einige wenige von jenen unzähligen Belegstellen, die Bouwsma für das Signum der Epoche hält und in seinem Buch über den Herbst der Renaissance liefert, seien genannt: Pierre de Charron, ein Schüler Montaignes und neben Justus Lipsius und Guillaume du Vair prominenter Vertreter des Neostoizismus im späten 16. Jahrhundert, beschreibt die Welt als „eine undurchdringliche Finsternis, voll von Gruben und Kerkern, ein Labyrinth, ein chaotischer und ganz und gar verschlungener Abgrund.“301 Was denkt, was fühlt, wer so Welt und das Leben in dieser Welt beschreibt? Eines ist jedenfalls gewiss: Wer so Welt und Leben in der Welt beschreibt, kann auch historischen Wandel lediglich als Indiz für Vergänglichkeit und insofern als Furcht erregend erfahren. Immer wieder findet sich in der Literatur der von Bouwsma als Herbst der Renaissance etikettierten historischen Epoche der Topos formuliert, dass noch kein Zeitalter der menschlichen Geschichte derart große Veränderungen erfahren musste. Aber diese historischen Veränderungen werden nun nicht als segensreicher Fortschritt, sondern stets als Ausdruck der menschlichen Vergänglichkeit und als Unheil stiftende Bedrohung empfunden. So beobachtet Matteo Bandello, dessen Novellen in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein breites Publikum fanden, dass „wenige Zeitalter eine solche Veränderung miterlebten, wie wir sie tagtäglich erfahren“, nur eben dass dabei „die Dinge sich vom Schlechten zum Schlimmeren wandeln.“302 Menschliche Geschichte heißt Vergänglichkeit, und nicht zuletzt deshalb ist ihr mit Argwohn zu begegnen. Parallel zu der Genese eines Historismus avant la lettre303 entwickelt sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine prinzipielle intellektuelle Abneigung gegenüber der Historie schlechthin, welche einer erneuten Thematisierung der Fortuna als jener autarken und zugleich außergeschichtlichen Instanz, die gerade nicht vergänglich ist, sondern die menschliche Geschichte immer und ewig und unveränderlich und kontinuierlich dominiert, einer Thematisierung jener fortunadominierten Zeitanschauung, wie wir sie im vorherigen Kapitel systematisch einer historischen Zeitanschauung kontrastiert hatten, gewiss förderlich gewesen sein dürfte. In diesen Zusammenhang eines für die Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Herbstes der Renaissance konstitutiven Bewusstseins der Vergänglichkeit von Welt und Geschichte und einer sich an diese Bewusstseinsform anschließenden Hoffnungslosigkeit und Angst, wie sie Bouwsma für den Herbst der Renaissance skizziert, ist ein weiterer Befund einzuordnen, auf den neben Bouwsma etwa auch Ernst Robert Curtius in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter304 aufmerksam macht: die kulturelle Konjunktur des seinerzeit in vielfacher Weise thematisierten Motivs der Welt als theatrum mundi. Die Stimmung von Angst und Hoffnungslosigkeit, das Bewusst300 301 302 303 304

William Bouwsma, Der Herbst der Renaissance 1550–1640, Berlin 2005, S. 139. Hier zitiert nach ebd., S. 140. Hier zitiert nach ebd., S. 150. Vergleiche hierzu den fünften Abschnitt des sechsten Kapitels dieser Arbeit, S. 495–498. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel 1993 (1948), S. 148 ff.

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sein der eigenen Vergänglichkeit, verknüpft sich mit einer Auffassung der Welt, wonach ebendiese Welt und die in ihr sich ereignende Geschichte ebenso wie die in ihr sich abspielenden Geschichten lediglich ein Theater sind, ein theatrum mundi eben, welches den Schauspielern – und jeder Mensch ist in einer so beschriebenen Welt zwangsläufig Schauspieler – in unberechenbarem Wechsel und unvorhersehbarer Laune Komödie und Tragödie bereithält. Weil und insofern die Welt im Ganzen als ein Theater aufzufassen ist, weil und insofern auch dem Individuum nicht mehr und nicht weniger als lediglich eine Rolle auf dieser Weltenbühne zukommt, ist es in diesem Leben empfehlenswert, eine bestimmte oder gar verschiedene Rollen überzeugend zu spielen. Umgekehrt wäre es höchst gefährlich und deswegen unratsam, sich zu seinen wirklichen Überzeugungen etwa religiöser Natur zu bekennen. Illustrieren lässt sich diese Auffassung der Welt als Theater und des Lebens als Bühnenexistenz an den Stücken Shakespeares, an der Literatur des deutschen Barock, am prominentesten aber zweifellos an der spanischen Literatur des „goldenen Zeitalters“ und damit also an drei ideengeschichtlichen Phänomenen oder Strömungen, auf die wir im Rahmen unserer ausführlichen Beschäftigung mit den unterschiedlichen Typen und Varianten der frühneuzeitlichen Fortunathematisierung in den Abschnitten (6) – (9) dieses Kapitels noch ausführlich zu sprechen kommen werden; auch dies ein Indiz dafür, dass das Motiv des theatrum mundi durchaus als kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Stimulus für die späte Konjunktur einer expliziten Fortunathematisierung in der Frühen Neuzeit gewirkt haben dürfte. Zunächst zu Shakespeares Kaufmann von Venedig: Antonio, der Kaufmann von Venedig, verknüpft in der Eröffnungsszene die ihn charakterisierende Melancholie unmittelbar mit dem Motiv des theatrum mundi. Auf den Einwurf des Gratiano: You have too much respect upon the world: They lose it that do buy it with much care, […] entgegnet Antonio bekanntlich: I hold the world but as the world, Gratiano, A stage, where every man must play a part, And mine a sad one.305 Der deutsche Barock-Dichter Daniel Caspar von Lohenstein schreibt in seinem Arminius-Roman, der uns im neunten Abschnitt dieses Kapitels noch beschäftigen wird: „Das Leben der Menschen ist ein bloßes Schauspiel; in welchem zwar die Personen verändert werden, das Spiel aber einerlei ist und von vornen wieder seinen alten Anfang 305

William Shakespeare, The Merchant of Venice/Der Kaufmann von Venedig, Stuttgart 1975, S. 10. Ein nicht-literarisches Zeugnis für die Auffassung der Welt als theatrum mundi in England zu Shakespeares Zeit findet sich bei Sir Walter Raleigh. Raleigh schreibt im Vorwort seiner 1614 publizierten Historie of the World: „Certainly there is no other account to be made of this ridiculous world, than to resolve, that the change of fortune on the great Theater, is but as the change of garments on the less. For when on the one and the other, every man wears but his own skin; the players are all alike.“ Hier zitiert nach Hiram Haydn, The Counter-Renaissance, a.a.O., S. 419.

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nimmt“.306 Zu ihrer eindrücklichsten historischen Prominenz gelangt die Stimmung des theatrum mundi in der Frühen Neuzeit aber zweifellos in der spanischen Literatur während des so genannten siglo de oro, also grob von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, da in der spanischen Literatur und Kunst ein geistiger und kultureller Aufbruch von gewaltigen Ausmaßen zu verzeichnen war. Beispielsweise vernehmen wir von Francísco de Quevedo, einem der bedeutsamsten spanischen Dichter der Zeit, die Worte: „No olvides, es comedia nuestra vida, y teatro de farsa el mundo todo.“307 Neben vielen anderen Leistungen hat Quevedo, auf dessen explizite Thematisierung der Fortuna wir am Beispiel seiner satirischen Schrift La Fortuna con seso y la hora de todos noch im achten Abschnitt dieses Kapitels genauer eingehen werden, 1626 mit seinem Buscón dem pikaresken Roman des siglo de oro das letzte bedeutende Denkmal gesetzt und damit eine Tradition fortgesetzt, die mit dem 1554 erschienenen Lazarillo de Tormes und dem 1599 bzw. 1605 erschienenen Guzmán de Alfarache von Mateo Alemán ihren Ausgang genommen hatte, eine literarische Tradition, der natürlich auch der weltberühmte, 1605 und 1615 in zwei Bänden erschienene Don Quijote des Miguel de Cervantes zugehört. Auch Don Quijote erläutert seinem Knappen Sancho Pansa einmal die Parallelen von menschlichem Leben und Schauspielkunst. Worauf Sancho in einer Weise kühl reagiert, die das seinerzeitige kulturelle und intellektuelle Prestige der Metapher und der Rede eines theatrum mundi deutlich zu erkennen gibt: „Ein prächtiger Vergleich, allerdings nicht so neu, dass ich ihn nicht schon viele und verschiedene Male gehört hätte.“308 Der pikareske Roman beruht ganz allgemein auf der Überzeugung, wie Richard Alewyn schreibt, dass das Leben, so wie eben auch die Theaterbühne, „ein ständiger Wechsel ohne Ordnung oder Einheit oder Sinn ist oder, wie die im ganzen picaresken Raum endlos abgewandelte Litanei lautet, dass in der Welt nichts beständiger ist als die Unbeständigkeit.“309 Fritz Strich hat dieses charakteristische Kennzeichen des pikaresken Romans insbesondere in Spanien seiner Skizze „Der europäische Barock“ einverleibt: „Es ist ein Grundzug spanischer Weltanschauung, dass alle menschlichen Dinge […] so unberechenbar sind, dass sich das Leben aller logischen Folgerichtigkeit entzieht, dass der Zufall keine Ausnahme sondern die Regel und das ganze Dasein wie ein einziges Abenteuer ist: zerbrechlich, glänzend, flüchtig, bunt, lustig und todesnah, wie eine Seifenblase, die im Licht schillernd dahinschwebt und von der niemand im voraus wissen kann, wo und 306

307 308

309

Daniel Caspar von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann nebst seiner Durchlauchtigsten Thußnelda in einer sinnreichen Staats- Liebes- und Helden-Geschichte in 2 Theilen vorgestellet, herausgegeben von Christian Wagner, Leipzig 1689, S. 1102. Hier zitiert nach Max Wehrli, Das barocke Geschichtsbild in Lohensteins Arminius, Frauenfeld/ Leipzig 1938, S. 51. Hier zitiert nach Karl Vossler, Lope de Vega und sein Zeitalter, München 1947, S. 220. Hier zitiert nach Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, a.a.O., S. 151. Richard Alewyn, „Der Roman des Barock“ (1963), in: Helmut Heidenreich (Hg.), Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt 1969, S. 408.

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V  : Z I  T wann sie zergehen wird. Dieses Erlebnis hat die spanische Komödie wie den spanischen Schelmenroman gezeitigt, wo die Abenteuerlichkeit, der bunte Wechsel der Dinge, die Launenhaftigkeit des Schicksals, der keine Norm und Regel kennende, unberechenbare Lauf des Lebens, die befremdende und überrraschende, ungeheure und ausschweifende Sonderbarkeit der Charaktere geradezu als das Wesen der Welt gestaltet wird.“310

Den Held des pikaresken Romans, den pícaro, den Schelm, zeichnet dabei aus, dass er seine Rolle auf dieser ihn mit einem ständigen Wechsel der Zeitläufte konfrontierenden Bühne der Welt mit unermüdlicher Energie und unerschütterlicher Verve annimmt und spielt: „The hero of the picaresque novel is at the mercy of Time and Fortune, and is only preserved by his dexterity in taking advantage of them. There is little here of the discipline and intellectual application required of a successful courtier, but much mother-wit, low cunning, and adaptability to the changes of life. The picaresque novel is essentially episodic, showing a series of moments, of occasiones, and the actions of the hero in these moments. There is no cogent reason why such a novel should end at one point rather than another before the death of the hero. The great Spanish examples, Lazarillo de Tormes and Guzmán de Alfarache, both end in the middle of the hero’s life, though Guzmán is not complete.“311 Am prominentesten und detailliertesten wird das theatrum mundi-Motiv natürlich von Pedro Calderón de la Barca durchgespielt. El gran teatro del mundo, lautet eines von Calderóns bekanntesten Stücken. Die Welt ist eine Bühne, und diese Bühne ist die Welt. Hugo Friedrich kommentiert die Grundidee dieses Stückes mit folgenden Worten: „Die Vorgänge des Stückes werden aus der Idee entwickelt, dass Gott, der Schauspieldirektor, die Welt zur Bühne macht, auf der die Menschen ihr Leben wie eine geliehene Rolle zu spielen haben, bis der Tod sie abberuft und sie alles zurückzugeben haben wie die Komödianten ihre Kostüme.“312 So wie die Welt eine Bühne, so auch das Leben ein Traum. Was aus der Perspektive des göttlichen Schauspieldirektors als theatrum mundi erscheint, gestaltet sich aus der Perspektive des Einzelnen vielfach wie ein Traum und wie im Traum; „and in Calderóns drama La vida es sueño“ reüssiert dieses Motiv, wie Leonard Forster bemerkt, zu einer „permanent possession of European literature.“313 Forster illustriert in seiner Untersuchung über The Temper of Seventeenth German Literature das theatrum mundi-Motiv sogar durch den doppelten Hinweis auf Shakespeare wie auch auf Calderón, und seine Ausführungen bestätigen zudem unsere Vermutung, dass die seinerzeitige Konjunktur der Auffassung der Welt und der Geschichte und des Lebens als theatrum mundi und 310

311 312 313

Fritz Strich, „Der europäische Barock“(1943), in: Der Dichter und seine Zeit. Eine Sammlung von Reden und Vorträgen, a.a.O., S. 83. Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 26. Hugo Friedrich, Der fremde Calderón, Freiburg im Breisgau 1955, S. 15. Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 20.

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seiner verschiedenen literarischen Formeln mit der letzten Blüte der frühneuzeitlichen Fortunathematisierung in direkter Verbindung stehen könnte: „‚All the world’s a stage and we the players‘ is a Shakespeare tag we all know. Calderón wrote two dramas on this theme, and the theatrum mundi became a cliché. The theatre of the world is the scene of man’s actions, the life of man is a fable that is played there. The play on the stage bears the same relation to everyday life outside the theatre as that life bears to eternal life. It is short and crammed with incident; and it is an illusion, of no ultimate validity, in which effect is all important. The actor plays the part assigned to him, moved by forces outside his control. [...] In the theme of the ‚Theatre of the World‘ there come together the conception of the relativity of this world compared with the next, and the idea of human beings controlled by powers outside them, whether it is Fortune conceived of as an independent force, or whether it is God who has divinely ordained the play that is to be played and the part each actor has to take.“314 Eine Stimmung der Hoffnungslosigkeit und Angst, des Misstrauens gegenüber der Geschichte und der Welt, ein Empfinden der Vergänglichkeit des eigenen Daseins, eine Auffassung der Welt und der menschlichen Geschichte, welche diese nicht anders denn als theatrum, und eine Auffassung des Lebens, welche dieses nicht anders denn als Rolle in diesem Theater beschreiben, sie führen im Herbst der Renaissance, und damit bringe ich diese lose Folge von kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Befunden zum Abschluss, welche im Verbund mit der Akzeptanz von praktischer Ungewissheit und theoretischer Ambivalenz, von praktischer und theoretischer Skepsis, sowie mit den skizzierten politik- und religionsgeschichtlichen Hinweisen als Voraussetzung für die späte Konjunktur der Fortunathematisierung in der Post-Renaissance aufgefasst werden können, sie führen seinerzeit eben nicht nur zu Angst und Hoffnungslosigkeit, sondern darüber hinaus auch, wenn vielleicht auch nicht zu einer tatsächlichen kulturellen Epidemie des Gefühls der Melancholie, so doch immerhin zu einem deutlich gestiegenen theoretischen Interesse an dem Phänomen der Melancholie und einer wachsenden Anzahl von entsprechenden Selbstbezichtigungen, zu immer mehr Schriften und Autoren, die sich als melancholisch bezeichnen. Robert Burton schreibt in seiner Anatomy of Melancholy von 1621 über die persönlichen Motive seiner Beschäftigung mit dem Phänomen der Melancholie: „Ich schreibe über Melancholie, um die Melancholie zu vermeiden, indem ich mich beschäftigt halte, um mein Gemüt durch das Schreiben zu beruhigen“315 . Von Burtons Schrift nimmt auch Wolf Lepenies’ Studie Melancholie und Gesellschaft ihren Ausgang und dabei besonders von der Tatsache, dass Burtons kulturgeschichtliches Szenario einer theoretischen oder semantischen Karriere des Melancholiebegriffs oder des Melancholiediskurses ausdrücklich auf soziale und gesellschaftliche Formen von Unordnung als Ursache dieser Karriere verweist. Burton schreibt:

314 315

Ebd., S. 18 f. Zitiert nach William Bouwsma, Der Herbst der Renaissance 1550–1640, Berlin 2005, S. 146.

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V  : Z I  T „Wo man viel Unzufriedenheit, allgemeine Übelstände, Beschwerden, Armut, Barbarei, Plagen, Kriege, Rebellionen, Aufruhr, Meutereien, Streitereien, Trägheit, Aufstand, Epikuräertum sehen kann, wo das Land unbestellt liegt, öde, voller Sümpfe, Moore, Einöden und dergleichen, wo die Städte verfaulen, Ortschaften niedergedrückt und arm daliegen, Dörfer entvölkert sind und die Bevölkerung schmutzig, hässlich und unzivilisiert ist: dasjenige Königreich, dieses Land muss notwendigerweise unzufrieden und melancholisch sein, einen kranken Körper haben und dringend reformiert werden.“316

La Rochefoucauld, der zweite Autor aus dem 17. Jahrhundert, dem sich Lepenies in seiner Studie ausführlich zuwendet, beschreibt sich – ebenfalls noch im 17. Jahrhundert, wenn auch einige Jahrzehnte nach Burton – als melancholisches Individuum, genauer: als einen melancholischen Adligen, dem nach dem Scheitern der Fronde und ihrer politischen Pläne keine Möglichkeit der sinnvollen politischen Aktion offen stünde. Für La Rochefoucauld konnte es angesichts einer unverrückbar etablierten und für seine eigenen Interessen ungünstigen Stabilität politischer und sozialer Ordnung einzig darauf ankommen, wie Lepenies reformuliert, „mit Anstand die Zeit totzuschlagen, mit der man nichts mehr anfangen kann, weil es nichts mehr zu tun gibt.“317 Beide Formen von Melancholie, jene, welche die Unordnung verabscheut und Ordnung erstrebt, und jene, welche im Gegenteil an einem Zuviel an Ordnung leidet, hält Lepenies insofern für ein Charakteristikum des 17. Jahrhunderts, als sie weltzugewandt, nicht weltabgewandt sind, wie jener Kult der Natur und einer der Gesellschaft entgegengesetzten Innerlichkeit, der Lepenies zufolge im 18. Jahrhundert ebenfalls melancholische Züge entwickeln konnte. Die Apologie von Ungewissheit, von theoretischer wie praktischer Ambivalenz und Beschränktheit, die Affirmation der Skepsis gegenüber einer praktischen wie erkenntnistheoretischen „quest for certainty“, die Stimmung von Angst und Hoffnungslosigkeit in Verbindung mit einem Gefühl der Resignation angesichts historischer wie individueller Vergänglichkeit, die Auffassung der Welt als theatrum und des Lebens als eine Rolle auf der Bühne dieses Theaters, die zunehmende Neigung, sich mit seiner eigenen – tatsächlichen oder nur kokett postulierten – Melancholie zu befassen, all diese mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Motive, Stimmungen und Atmosphären ermöglichen zusammen mit der Berücksichtigung der am Beginn dieses fünften Abschnitts des Kapitels erwähnten Entwicklungen im politisch-institutionellen Bereich – das Ende des italienischen Republikanismus, die zunehmende politische Bedeutung der fürstlichen Höfe auch und gerade als Arbeitgeber und Sponsoren für Intellektuelle – sowie der religionsgeschichtlichen Konflikte, wie sie sich von der Bartholomäusnacht bis zum Dreißigjährigen Krieg erstrecken, ermöglichen im Sinne eines kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Stimulus, so lautet zusammengefasst die These dieses fünften Abschnitts, eine letzte Konjunktur der Fortunathematisierung in der Frühen Neuzeit, dürfen mit dieser Fortunathematisierung aber natürlich nicht in eins gesetzt werden. Immer wieder kamen wir in diesem 316

317

Vergleiche hierzu Robert Burton, The Anatomy of Melancholy. 3 Bände, herausgegeben von A. R. Shilleto, London 1903. Hier zitiert nach Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1972, S. 23. Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, a.a.O., S. 56.

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fünften Abschnitt dieses Kapitels auf den Neostoizismus, die dramatische Literatur des „Elizabethan Age“, die spanische Literatur des „goldenen Zeitalters“ und die Literatur der deutschen Barockzeit zu sprechen. Diese vier ideengeschichtlichen Phänomene stellen in der Tat die vier bedeutsamsten Formen frühneuzeitlicher Fortunathematisierung dar, Artikulationen eines letzten Aufbäumens der Fortuna vor ihrem endgültigen ideengeschichtlichen Verscheiden. Dabei haben wir mehrfach und immer wieder in diesem Kapitel angedeutet, dass die Fortunathematisierung der Post-Renaissance durchaus ambivalente Züge trägt. Zeigt sich uns einerseits im Angesicht einer immer geringeren Plausibilität und einer nachhaltigen Krise des Renaissance-Topos virtù vince fortuna und hinsichtlich der praktischen Verfügbarkeit der Fortuna und ihrer Beeinflussbarkeit durch menschliches Verhalten eine erneute Rezeption und Attraktivität der boethianischen Einbettung der Fortuna in die göttliche Vorsehung, so sind doch andererseits die letzten Nachkömmlinge und Spätlinge dieses einstmals so mächtigen und im Zeitalter der Renaissance die Auffassung der Fortuna so mächtig dominierenden Topos trotz seiner frühneuzeitlichen Krise auch in der Frühen Neuzeit noch nicht gänzlich verschwunden. (6) Ich komme auf den Neostoizismus zu sprechen, auf die Rezeption der Philosophie der antiken Stoa, wie sie gegen Ende des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden und in Frankreich formuliert wurde: Quentin Skinner hat im zweiten Band seiner Foundations of Modern Political Thought und dort in dem „The Context of the Huguenot Revolution“ betitelten Kapitel sich mit den Auswirkungen des Neostoizismus auf das politische Denken der Frühen Neuzeit ausführlich befasst. Im Kontext unseres Themas und unserer Fragestellung interessiert dies insofern, als Skinner eine Thematisierung der Fortuna als konstitutives Merkmal dieses Neostoizismus begreift. Im Hinblick auf drei Autoren, nämlich für den Niederländer Justus Lipsius und die Franzosen Michel de Montaigne und Guillaume Du Vair, stellt Skinner die These auf: „The point of departure for all these writers is supplied by the concept of Fortune, which they personify in typically humanist style as an inscrutable goddess, capricious and potentially overwhelming in her power.“318 Nun bedürfte die Frage nach dem Verhältnis von Montaigne und stoischer Philosophie oder frühneuzeitlichem Neostoizismus einer ausführlichen Klärung. Es ist ja sehr fraglich, ob Montaigne wirklich derart problemlos den Reihen des Neostoizismus einverleibt werden kann, wie dies Skinners Ausführungen suggerieren. Anstatt mich jedoch bei dieser grundsätzlichen Frage aufzuhalten, wende ich mich im Folgenden der Fortunathematisierung des Neostoizismus zu, wie sie uns ganz konkret und explizit in den Schriften von Guillaume Du Vair und Justus Lipsius begegnet. Um das Ergebnis dieser Beschäftigung bereits grob anzudeuten: Beide Autoren, Du Vair wie Lipsius, betten zwar nicht im Sinne des Boethius die Fortuna in die providentia ein und begreifen folglich auch nicht Fortuna als ancilla Dei, betten aber sehr wohl und dies durchaus im Sinne des Boethius das fatum in die providentia ein und gelangen dadurch zu einer Leugnung der Existenz der Fortuna schlechthin. Das argumentative Modell der boethianischen Lösung des Fortunaproblems wird also mutatis mutandis zumindest formal beibehalten; inner318

Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. Volume Two: The Age of Reformation, Cambridge 1978, S. 278.

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halb dieses Modells kommt es aber zu einer folgenreichen funktionalen Umbesetzung, welche die Fortuna arbeitslos werden lässt und als menschliche Chimäre zu entlarven trachtet. Eine derartige Form der Fortunathematisierung mag man als Fortunadiskurs à contrecœur bezeichnen.319 Eine derartige Position, welche sich von der am Beginn dieses Kapitels skizzierten römischen Fortuna und den römischen Varianten der Fortunabewältigungspraxis denkbar weit entfernt hat, ohne freilich deshalb schon der Position einer augustinischen annihilatio fortunae gleichzukommen, zeigt sich auch an den von Du Vair und Lipsius anempfohlenen Formen des menschlichen Umgangs mit dieser Fortuna. Insofern Letztere doch nur eine Chimäre ist, die es realiter gar nicht geben kann, ist die Tugend der constantia, ist das passive Ertragen und Erdulden all dessen, was einem an vermeintlich zufälligen Widerfahrnissen in der Welt und im Leben begegnen mag, nicht ein wie auch immer geartetes aktives Eingreifen in den Lauf der Welt, ein Versuch, diesen Lauf der Welt zu beeinflussen, ist stoische Fortunavermeidung, nicht der in der römischen Antike exemplarisch bei Cicero formulierte Versuch, die Fortuna, wie auch immer sie zu verstehen sei, aktiv und endgültig zu überwinden, gefordert. Justus Lipsius, dessen höchst ereignisreiche Biographie zugleich mehr als individuelles Schicksal ist, vielmehr wie in einer Nussschale die religiöse Situation der europäischen Welt an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert verkörpert, Justus Lipsius, dessen Lebensweg oberflächlich betrachtet nur von Löwen nach Leiden und von dort am Ende seines Lebens wieder nach Löwen zurück führte, dessen Vita aber im Grunde einzigartiger Spiegel der Zeit ist, Justus Lipsius, jener bedächtige Gelehrte, wie er uns in Rubens Darstellung der Vier Philosophen entgegenblickt320 , wird von uns auf den folgenden Seiten vor allem als Repräsentant einer neostoizistischen Form der Fortunathematisierung diskutiert. Weder sein politisches Denken321 im Ganzen noch seine Vita322 im Einzel319

320

321

322

Dieser Fortunadiskurs à contrecœur lässt mich unweigerlich an eine von Bouwsma erinnerte Episode der Ideengeschichte denken. Demnach schreibt Giovanni Della Porta in seinem Stück Ulysses von 1614: „Die vorliegende Tragödie wird von Heiden aufgeführt; und wenn daher Wörter wie Schicksal, Zufall, Vorsehung, die Macht und Gewalt der Sterne, Götter und ähnliches angetroffen werden, so wurden sie gebraucht, weil sie den altertümlichen Sitten und Gebräuchen entsprechen. Der katholischen Religion gemäß sind diese Wörter jedoch ganz hohl, da alle Wirkungen und alle Ereignisse dem Heiligen Gott zugesprochen werden müssen, dem höchsten und universalen Grund.“ Der Autor entschuldigt sich gleichsam in vorauseilendem Gehorsam für den Gebrauch von Begriffen, die ihm aber doch offensichtlich unverzichtbar erscheinen. Hier zitiert nach William Bouwsma, Der Herbst der Renaissance 1550–1640, a.a.O., S. 295 f. Vergleiche zu Rubens’ Porträt, welches heute im Palazzo Pitti in Florenz hängt: Mark Morford, Stoics and Neostoics. Rubens and the Circle of Lipsius, Princeton 1991. Vergleiche hierzu vor allem die Schriften von Gerhard Oestreich und Günter Abel. Gerhard Oestreich, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neostoizismus als politische Bewegung, Göttingen 1989. Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969. Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin/New York 1978. Vergleiche zur Biographie Lipsius’ den lesenswerten Artikel von Anthony Grafton: Anthony Grafton, „Portrait of Justus Lipsius“, in: The American Scholar 56 (1987), S. 382–390.

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nen, weder seine historischen Schriften323 noch seine Konversion vom Katholiken zum Lutheraner – in Jena –, zum Calvinisten – in Leiden –, zum Katholiken – in Löwen – und die Aussagekraft dieser Konversionsodyssee für die religiöse Lage Europas am Ende des 16. Jahrhunderts sollen uns an dieser Stelle interessieren324 , weder Lipsius’ späte Darstellung der stoischen Philosophie als solche325 noch sein Beitrag zur Genese des „natürlichen Systems der Geisteswissenschaften“, wie ihn Dilthey verstand, noch seine Debatte mit Cornheert über die Reichweite und den Begriff religiöser Toleranz, sondern einzig und allein die Form seiner Fortunathematisierung stehen im Mittelpunkt diesen sechsten Abschnitts dieses Kapitels. Im Rahmen dieses Erkenntnisinteresses wenden wir uns vor allem einer 1584 von Lipsius veröffentlichten Schrift zu, deren vollständiger Titel De constantia libri duo, qui alloquium praecipue continent in publicis malis bereits zu Genüge verdeutlicht, dass offenkundig hier jemandem – ganz in der Tradition von Boethius’ ConsolatioSchrift – Trost zugesprochen werden soll. Lipsius’ Traktat verzeichnete, diese editionsgeschichtliche Auskunft dürfte nicht ganz bedeutungslos sein, binnen kürzester Zeit nach seinem Erscheinen mehr als dreißig lateinische Editionen sowie Übersetzungen in alle wichtigen europäischen Sprachen. Auf die enorme Popularität von Lipsius’ De constantia in ganz Europa im Laufe des 17. Jahrhunderts macht Leonard Forster aufmerksam: „[…] it became a part of the normal everyday ethic of educated Europe. By 1689 there had been thirty-two editions of the original Latin version of the treatise, and translations into Dutch, German, French, English, and Spanish. […] In France it influenced Du Vair and Charron, who in their turn influenced Corneille; in Germany it strongly influenced Opitz, Gryphius and many others; and was not without effect in that truly European figure J. A. Comenius.“326 Dieser Jemand, dem nun in Lipsius’ De constantia Trost zugesprochen werden soll, ist freilich niemand anderer als der Autor selbst, Justus Lispius, der sich dem Leser mit den Worten vorstellt, er habe auf einer Reise nach Wien einen „Abstecher nach Lüttich“327 gemacht, um dort seinen Freund Karel De Langhe – der im gesamten Opus fürderhin nur noch in latinisierter Form als Langius auftritt – zu besuchen. Lipsius datiert insofern, dies lässt sich zuverlässigen biographischen Quellen entnehmen, seinen Dialog auf das Jahr 1572. Der historische und der biographische Kontext für das Gespräch zwischen Lipsius und Langius ist damit hinlänglich geklärt: Der Lipsius der Trost-Schrift befindet sich in der Fremde, um so, wie er selbst sagt, „den Unruhen in meinem Vaterland zu 323

324

325 326 327

Vergleiche hierzu V. A. Nordman, Justus Lipsius als Geschichtsforscher und Geschichtslehrer, Helsinki 1932. Vergleiche hierzu Heiko T. Oberman, „Van Leiden naar Leuven; de overgang van Justus Lipsius naare eene Roomsche universiteit“, in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 5 (1908), S. 68–111, 191–227, 269–304. Vergleiche hierzu Jason Saunders, The Philosophy of Renaissance Stoicism, New York 1955. Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 24. Justus Lipsius, De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch–Deutsch, übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998, S. 9.

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entfliehen“328 . Mit dieser Situationsbeschreibung setzt zugleich die Argumentation des Langius ein. Denn niemals ein bestimmter Ort, sondern nur eine bestimmte Gemütsverfassung könnten, so behauptet Langius, vor den religiösen oder anderen Konflikten entsprungenen Schmerzen des Lebens und den Unbilden der Zeitläufte bewahren. Diese emotional uneinnehmbare Feste gegen die Wirren der Zeit kann sich aber nur, so argumentiert Langius ganz im Sinne jenes stoischen Rückzugs in die subjektive Innerlichkeit, wie wir ihn im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits im Kontext von Senecas Fortunavermeidungsstrategie skizziert hatten, der Tugend der constantia verdanken. Wie definiert Langius diese constantia? Als Tochter der „patientia“ zunächst, die sich zudem ausführlicher beschreiben lässt als „eine rechtmäßige und unbewegliche Stärke des Gemuts; die von nichts Äußerlichem oder Zufälligem hinweggehoben oder unterdrückt wird.“329 Der Lohn einer solchen tugendhaften Haltung der constantia zeigt sich darin, dass sie das „Joch der Affekte und der Fortuna [Hervorhebung von mir; P. V.]“330 abschüttelt und gegen die Unbilden der Fortuna immunisiert. In der Tugend- und Geisteshaltung einer constantia – weniger, wie dies für Seneca beobachtet werden konnte, in der Tugend der prudentia als Medium der Fortunavermeidung – besteht mithin die angemessenste Form der Fortunavermeidung. Wie aber gelingt es dem Trostspender Langius im weiteren Verlaufe des Dialogs konkret und jenseits einer schlichten programmatischen Maxime, auch tatsächlich zu bewirken, dass der Patient, also Lipsius, die von ihm anempfohlene Remedur der constantia auf- und einnimmt?331 Liegt es nicht näher, die bittere Medizin der constantia zu verabscheuen und sich anstatt dessen an seinem eigenen Leid zu ergötzen, um daraufhin Klage – welcher Form auch immer, an wen oder gegen wen gerichtet auch immer – zu führen? Welche theoretische Einsicht ist es, die dazu führen kann, sich des Jochs der Affekte und der Fortuna sowohl praktisch als auch theoretisch zu entledigen? Die gesamte Struktur von Lipsius’ libri duo über die Tugend der Standhaftigkeit wird nun dadurch bestimmt, dass Langius im Gesamt seiner beiden Bücher insgesamt vier Argumentationsstränge samt ihrer jeweiligen Verästelungen ins Felde führt, um seinen Gesprächspartner Lipsius davon zu überzeugen, dass das eigene Elend zu beklagen oder zu bejammern, anstatt es mann- und standhaft qua constantia zu ertragen, weder praktisch lohnens- und empfehlenswert noch theoretisch legitim ist: Langius’ erstes Argument besagt, dass auch das „Unglück von Gott geschickt und überallhin entsandt wird.“332 Die entscheidende Prämisse dieses Arguments besteht mithin in der 328 329 330 331

332

Ebd., S. 9. Ebd., S. 29. Ebd., S. 41. Neben Lipsius’ Vorliebe für militärische und militärstrategische Metaphern fällt eine stilistische Ähnlichkeit zwischen Lipsius De constantia und Boethius’ Consolatio-Schrift auf, nämlich die Vorliebe beider Autoren für medizinische Metaphern. Die Argumentationen der boethianischen philosophia bzw. des Langius werden von beiden Autoren stets als eine in unterschiedlichen Dosierungen zu verabreichende „Medizin“ aufgefasst, der Adressat dieser Argumentationen stets als „krank“ und die Akzeptanz dieser Argumentationen durch den kranken Patienten stets als „Heilung“ betrachtet, und was dergleichen Metaphern und Analogien noch mehr sind. Ebd., S. 91.

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Annahme einer göttlichen Providenz, die gleichsam im Sinne einer Weltregierung wirkt, „die ungleichen Bahnen der Sterne, die Elemente mit ihren abwechselnden Kräften, ja schließlich alles, was im Himmel und unter ihm ist, ins rechte Verhältnis setzt, lenkt und regiert.“333 Angesichts einer solchermaßen begriffenen Providenz kann es nun aber auch keinen Zufall und kein Wirken der Fortuna in dieser Welt geben. Kein Unglück und kein Übel können sich daher auch dem Wirken der Fortuna oder des Zufalls verdanken; vielmehr wird auch noch die Verteilung des Übels von der göttlichen Providenz reguliert. Im Sinne dieses Arguments richtet Langius an Lipsius die rhetorisch gemeinte, weil doch im Grunde nur dessen mangelndes Vertrauen in die göttliche Providenz kritisierende Frage: „Meinst du etwa, das auch nur das Geringste auf diesem schönen Weltkörper durch Zufall oder aufgrund der Fortuna geschieht, dass die menschlichen Dinge von einer blinden Zufallskraft gemischt werden?“334 Da und insofern man dies eben nicht glauben könne, wenn man die Existenz einer göttlichen Vorsehung für unbezweifelbar halte, müssen zwingenderweise auch die Übel in einem ganz bestimmten Licht erscheinen, nämlich als von Gott geschickt. Diese Prämissen wiederum nicht zu teilen, also die Existenz einer göttlichen Providenz zu leugnen oder gar diese göttliche Providenz anders aufzufassen denn als eine „alles, was im Himmel und unter ihm ist“, lenkende Weltregierung, dies heißt für Langius alias Lipsius, Gott das Szepter zu entreißen und sein Regiment in Frage zu stellen. Langius’ zweites Argument besagt, dass jedes noch so willkürlich erscheinende malum nicht zufällig ist, sondern notwendig aus einem fatum hervorgeht. Dieses zweite Argument will Langius als zwingende Konsequenz des ersten Arguments verstanden wissen. Ich zitiere an dieser Stelle die völlig eindeutige lateinische Fassung: „Si enim deus est, Providentia est: si haec, Decretum & ordo rerum: si istud, firma & rata necessitas eventorum.“335 Was aus der menschlichen Perspektive als bedauerns- und beklagenswertes malum erscheinen mag, die Wandelbarkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen und die Willkürlichkeit und Ungerechtigkeit dieser ewig unsteten irdischen Verhältnisse, dies erscheint Langius zufolge aus dem Blickwinkel Gottes als das geplante, absichtliche und notwendige Zusammenspiel der göttlichen Providenz mit der eisernen Kette der Notwendigkeit, dem göttlichen Werkzeug des fatum. Dieses zweite Argument, welches Langius zur Heilung seines Patienten von Kummer und Schmerz ins Felde führt, nötigt folglich sowohl zu einer genaueren Bestimmung der Interaktion und des Verhältnisses von providentia und fatum als auch zu einer genaueren Bestimmung des fatum selbst. Dazu in diesem Zusammenhang nur so viel: Lipsisus begreift das „fatum verum“, welches er ausführlich sowohl von den Verwendungen dieses Begriffs im Bereich der Astrologie und der Naturgesetze als auch von der Auffassung eines allmächtigen, nicht der göttlichen Providenz subordinierten fatum als höchster Instanz der Weltlenkung unterscheidet, begreift das „fatum verum“ als „aeternum Providentia decretum“, als „ewigen Beschluss der Vorsehung“336 , das sich von der göttlichen Vorsehung insofern unterscheidet, als es als eine „Abteilung und 333 334 335 336

Ebd., S. 93. Ebd.., S. 93. Ebd., S. 120. Ebd., S. 136 bzw. 137.

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Verdeutlichung der allgemeinen Vorsehung […], die unterschiedlich und stückweise erfolgt“337 , zu bezeichnen, nicht aber als eine von der göttlichen Vorsehung unabhängig zu denkende Wirkkraft vorzustellen ist. „Deshalb ist die Vorsehung in Gott und wir sind ihm allein zugeordnet. Das Fatum aber ist in den Dingen und wird diesen zugeschrieben.“338 Die zwingende theoretische Konsequenz einer derartigen Auffassung des fatum verum ist die eindeutige Hierarchie, welche zwischen den beiden Wirkkräften oder Instanzen von providentia und fatum besteht. Gott befiehlt dem fatum – und keinesfalls ist das Umgekehrte der Fall, keinesfalls befiehlt das fatum Gott. Insofern kann, was zunächst als Wirken der Fortuna erscheint, nichts anderes sein als ein von Gott gewollter und notwendigerweise eingetretener Aspekt der göttlichen Vorsehung im Vollzug des Mediums des fatum. Das fatum operiert so gleichsam als ancilla Dei und damit justament in ebenjener funktionalen Rolle, die Boethius bereits Jahrhunderte vor Lipsius für die Fortuna reserviert hatte. Lipsius’ Bestimmungen des fatum zielen dahin, so hat es Hans-Jürgen Schings formuliert, „das Fatum in seiner strengen Abhängigkeit von der göttlichen Providentia einsichtig zu machen.“339 Es ist in diesem Zusammenhang nicht ganz uninteressant, dass Lipsius in seinem Traktat die dem Langius in den Mund gelegte Auffassung des fatum verum ganz grundsätzlich von dem Begriff des fatum in der stoischen Philosophie zu unterscheiden trachtet. Einmal in der soeben schon genannten Hinsicht, wonach das fatum verum Gott untersteht, weil Gott „aus freiem Willen alles geschaffen hat und erhält und wann immer es ihm beliebt, die verwirrten Scharen und Windungen des Fatums überschreiten und zerreißen kann.“340 Zweitens deuten die Stoiker Lipsius zufolge das fatum als eine ununterbrochene und lückenlose Kette der Notwendigkeit. Lipsius hingegen alias Langius attestiert dem fatum verum gleichsam Lücken oder Privationen, die uns an Thomas’ oder die scholastische Diskussion des Begriffs des Zufalls im Sinne koinzidierender causae secundae erinnern, die wir im dritten Abschnitt dieses Kapitels kennen gelernt hatten: „Wir aber sagen, dass die natürlichen Ursachen nicht immer aneinanderhängen (denn Gott hat bisweilen in seinen Vorzeichen und Wundern ohne, ja sogar gegen deren Natur gehandelt) und dass sie auch nicht von Ewigkeit her aufeinanderfolgen, denn die zweiten Ursachen sind nicht ewig, weil es sie wahrhaftig erst seit Erschaffung der Welt gibt.“341 337 338

339

340

341

Ebd., S. 141. Ebd., S. 141. Vergleiche dazu Abels prägnante Rekonstruktion dieses Gedankens: „Während die providentia eine Macht und Gewalt in Gott ist, etwas Ganzes, Unzerstückeltes, ist demgegenüber das fatum gleichsam der Ausfluss, die Verteilung dieser providentia in die Dinge selbst; es ist in den Dingen und kommt über providentia von Gott.“ Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, a.a.O., S. 75. Hans-Jürgen Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen, a.a.O., S. 211. Justus Lipsius, De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch–Deutsch, übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, a.a.O., S. 149. Ebd., S. 149.

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Damit ist zugleich und drittens gesagt, dass im Unterschied zur Stoa eine neostoizistische Auffassung des fatum als ancilla Dei, als „aeternum Providentia decretum“, wie Langius formuliert, die Möglichkeit offen lässt, dass manche Dinge „so und anders geschehen und nicht geschehen können.“342 Viertens und zuletzt kennzeichnet die von Langius entwickelte Auffassung des fatum verum, die sich gleichsam zwischen der Skylla des stoischen Determinismus und der Charybdis eines Eingeständnisses der Existenz einer Fortuna oder eines Zufalls bewegt – „ita enim Fortunae & Casus fallacem ventum fugimus, ut navim hanc ad Necessitatis scopulum non allidamus“343 –, kennzeichnet eine solche Auffassung des fatum verum, dass sie mit der Annahme eines freien Willens durchaus zu versöhnen ist. Langius umschreibt das fatum in diesem Zusammenhang als einen „Vortänzer, der bei diesem Welttanz die Vorgaben macht, doch so, dass wir darin durchaus Spielraum für das Wollen und Nichtwollen haben“344 . Zur Begründung dieser Ansicht rekurriert Langius erneut auf die seit den Tagen der Scholastik gängige und im Kontext der scholastischen Zufallsdiskussion geprägte Unterscheidung von primae causae und secundae causae und gibt seinem Gesprächspartner zu verstehen: „Es gibt zwar ein Fatum, aber es ist nur die erste Ursache, die die zweiten und mittleren Ursachen nicht wegnimmt und die auch (und zwar ordentlich und so oft als möglich) durch sie wirkt. Aber unter den zweiten Ursachen ist auch dein freier Wille, von dem du dich hüten solltest zu glauben, dass Gott ihn zwingt oder hinwegnimmt.“345 Kehren wir nach diesem Exkurs bezüglich der vierfachen Differenzen zwischen der Fatumkonzeption, wie sie Langius alias Lipsius formuliert, und dem Begriff des fatum in der Tradition der Stoa zurück zu der fiktiven Situation des Dialogs zwischen Langius und seinem Patienten oder Schüler: Zwei Remeduren wurden bislang von Meister Langius dem kummervollen und verzweifelten Zuhörer verabreicht, um alle eventuellen Hindernisse theoretischer Uneinsichtigkeit wie praktischer Unfähigkeit auf dem Weg zur Realisierung der constantia zu überwinden. Alle Geschehnisse in dieser Welt, auch alle mala in dieser Welt sind, so lautete die bisherige Argumentation, von der göttlichen Providenz entsendet und also notwendig; und sie geschehen auf Vermittlung des göttlichen Werkzeugs des fatum. Insofern steht dem Weisen die Tugend- und Geisteshaltung der constantia nicht nur aus praktischen Gründen gut an, sie ist auch theoretisch legitim und theologisch geboten. Zu Beginn des zweiten Buches, am nächsten Tag der fiktiven Gesprächssituation zwischen Langius und Lipsius, fasst Langius diese beiden Argumente noch einmal zusammen. Am gestrigen Tage habe er „hinlänglich erklärt, dass die allgemeinen Unglücksfälle von oben herab und von Gott geschickt werden, und dass sie notwendig kommen müssen und man ihnen auf keine Weise entfliehen kann.“346 Langius’ dritter Argumentationsstrang besagt nun, dass all das, was uns zunächst als malum erscheint, auch deshalb nicht zu betrauern und zu beklagen ist und die Ausbil342 343 344 345 346

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

149. 148. 155. 151. 207.

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dung der Tugend der Standhaftigkeit hemmen darf, weil diese mala doch letztlich nur von Nutzen sind. Alle Unglücksfälle haben ihren göttlichen Ursprung eben in der göttlichen Vorsehung; sie haben aber auch ein göttliches Ziel. Worin besteht dieses Ziel und der damit verbundene Nutzen der Unglücksfälle? Darin, so lautet die Antwort auf diese Frage, dass die Frommen geübt und die Sünder gestraft werden. Nach einem längeren Exkurs, der sich über die Kapitel 12 bis 19 des zweiten Buches erstreckt und sich der Frage der göttlichen Gerechtigkeit widmet – warum werden offenkundig die Guten bestraft, während die Bösen scheinbar ungestraft durchs Leben spazieren, so fragt der verzweifelte Lipsius, um von seinem Gesprächspartner, wenn auch nicht ausschließlich, so doch im wesentlichen auf die Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses verwiesen zu werden und den lapidaren Hinweis zu erhalten, die „himmlische Ratstube“347 habe noch keinen menschlichen Besucher jemals aufgenommen –, nach diesem Exkurs führt Langius schließlich ganz gegen Ende von De constantia noch knapp sein viertes und letztes Argument für die praktische Ausübung und theoretische Verinnerlichung der Tugend der Standhaftigkeit an, wonach alle Unglücksfälle „weder allzu schwer noch neu“348 sind, ein Argument, welches vor allem mit historischen exempla und Analogien arbeitet. Alle vier Argumentationsstränge gemeinsam, und mit dieser Hoffnung beendet Langius schließlich seine Rede, sollten die Tugendhaltung der constantia genügend gewürdigt und den zuhörenden Lipsius angesichts der freilich unbestreitbaren mala dennoch davon überzeugt haben, dass es weder einen theoretisch zulässigen noch einen praktisch zu empfehlenden Grund gibt, dem Leben mit einer anderen Geisteshaltung denn der constantia zu begegnen. Wie fasst Lipsius im Kontext dieser gesamten Argumentation aber nun die Fortuna auf? Bettet er die Fortuna oder die „cruenti illi Fortunae ludi“349 in einem boethianischen Sinne in die göttliche Vorsehung ein? Um eine Antwort auf diese Frage muss es uns im Zusammenhang unserer Fragestellung vorrangig zu tun sein. Die bisherige Argumentation von De constantia zusammenfassend lässt sich Lipsius’ neostoizistische Fortunathematisierung à contrecœur dabei so auf den Begriff bringen: Lipsius setzt eine allmächtige göttliche Vorsehung voraus und betrachtet den ursprünglich stoischen Begriff des fatum ausdrücklich als Werkzeug Gottes. Die Existenz der Fortuna in einer solchermaßen von providentia und fatum regierten Welt hingegen wird ausdrücklich bestritten. Das argumentative Modell der boethianischen Lösung des Fortunaproblems wird also mutatis mutandis zumindest formal beibehalten; innerhalb dieses Modells kommt es aber zu einer folgenreichen funktionalen Umbesetzung, welche die Fortuna arbeitslos werden lässt und als menschliche Chimäre zu entlarven trachtet. So rezipiert Lipsius zwar das formale Modell der boethianischen Lösung einer Einbettung der Fortuna in die göttliche Providenz; aber innerhalb dieses Modells veranlasst er doch eine erhebliche funktionale Umbesetzung, in deren Zuge zwar das fatum so wie Boethius noch als ancilla Dei gelten mag, die Existenz der Fortuna aber anders als bei Boethius ausdrücklich bestritten wird. Bei Lipsius’ Form der Fortunathematisierung handelt es sich im Grunde um einen Fortunadiskurs à contrecœur, der von allen bislang 347 348 349

Ebd., S. 253. Ebd., S. 91. Ebd., S. 350.

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in diesem siebten Kapitel zur Sprache gekommenen Positionen am weitesten von der ursprünglichen römischen Auffassung der Fortuna als einer autarken Instanz, die nicht an die Weisungen einer übergeordneten Instanz gebunden ist, entfernt ist. Auch, was den menschlichen Umgang mit einer wie auch immer aufzufassenden Fortuna angeht, nimmt Lipsius innerhalb des Spektrums der bisher verhandelten Positionen eine extreme Position ein. Nicht im Versuch, eine Fortuna kraft welcher Fähigkeit und Mittel auch immer direkt zu beeinflussen oder doch immerhin indirekt zu steuern oder zu lenken, wie dies Machiavelli vorschlägt, auch nicht im senecaischen Versuch, Fortuna zu bewältigen, indem man den Kontakt mit ihr durch den Rückzug in die uneinnehmbare Festung subjektiver Innerlichkeit vermeidet, zeigt sich für Lipsius die höchste und wertvollste Form menschlichen Verhaltens, die Tugend der constantia, sondern vielmehr in einer duldenden Standhaftigkeit all dessen, was sich ereignen mag und ereignen muss, in einer duldenden Standhaftigkeit des ohnehin Unvermeidlichen, welche auf der Einsicht in das unerforschliche und dennoch notwendige Zusammenspiel von providentia und fatum beruht und die Entlarvung der Fortuna als Chimäre intendiert. Wie gestaltet sich die Fortunathematisierung bei dem zweiten prominenten Vertreter des Neostoizismus, den wir erwähnt hatten? Lässt sich auch für Guillaume Du Vair eine Fortunathematisierung à contrecœur diagnostizieren, welche zwar das fatum in die providentia integriert, der Fortuna aber gerade kein Aufenthaltsrecht im Gedankengebäude des Neostoizismus gestattet? Du Vairs Traité de la constance et consolation és calamitez publiques wurde 1594, also zehn Jahre nach dem Erscheinen von Lipsius’ De Constantia verfasst. Günter Abel hat den unmittelbaren Kontext und die Gesprächssituation für die insgesamt drei Bücher von Du Vairs Schrift so beschrieben: „Ausgangspunkt der als Gesprächsrunde abgefassten Traité de la constance et consolation és calamitez publiques bildet die Belagerung von Paris durch Heinrich IV. (6. Mai bis 30. August 1590), in der die Religions- und Bürgerkriege ihren scheinbaren Höhepunkt erreichen. Der als Schüler auftretende Du Vair beweint das Schicksal Frankreichs und trägt einem seiner Freunde, Musée, seine Verzweiflung vor. Das Auseinanderklaffen der Schulphilosophie einerseits und der in der Wirklichkeit auftretenden Probleme andererseits ist sein Hauptproblem; ‚j’apprens maintenant, par expérience, combien il est plus aisé de parler que de faire, et combien sont faibles les argumens de la philosophie à l’escole de la Fortune.‘“350 Die Gesprächssituation von Du Vairs Traktat gleicht also mutatis mutandis genau jenem historischen Kontext, dessen Skizzierung schon Justus Lipsius den Trost spendenden Ausführungen des Langius in De Constantia vorangestellt hatte. Nur lässt Du Vair nun gleich mehrere Gesprächspartner dem angesichts seines Unglücks verzweifelten und um „consolation“ angesichts der „calamitez publiques“ ansinnenden Fragesteller antworten: Von besonderem Interesse im Zusammenhang unserer Frage nach Du Vairs Form der Fortunathematisierung sind vor allem die im zweiten Buch des Traité de la constance et consolation és calamitez publiques erwähnten Ausführungen von Orphée. Denn Orphées 350

Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, a.a.O., S. 126.

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Gesprächsbeitrag nimmt ebenso wie derjenige des Langius bei Lipsius seinen Ausgang bei einer spezifischen Bestimmung des Verhältnisses von providentia, fatum und Fortuna. Dabei zeigt sich, dass die Annahme einer allgütigen und allmächtigen göttlichen Vorsehung für Du Vair ebenso unbezweifelbar ist wie für Lipsius: „C’est de verité la plus grande & plus certaine consolation, que puissent prendre & recevoir les hommes és calamitez publiques ou particulieres, que de se persuader que tout ce qui leur arrive est ordonné par cette puissance eternelle, distribué par cette sagesse infinite, qui gouverne le monde avec la mesme bonté & iustice qu’elle l’a creé.“351 Dieser von Orphée als unbezweifelbar vorausgesetzten Macht der göttlichen Vorsehung entspringt nun das „destin“, welches entsprechend von Du Vair als einer der „effets de cette sage Providence“352 bezeichnet wird. Das Verhältnis von „destin“ und „Providence“ ist insofern für Orphée alias Du Vair durch eine klare und eindeutig anzugebende Hierarchie bestimmt. Die göttliche Vorsehung benutzt das fatum als Werkzeug für die Durchsetzung jener Ratschlüsse, die wir Menschen nicht kennen und nicht kennen können. Insofern ist für Orphée schließlich auch, was in respectu hominis als willkürliches Wirken der Fortuna erscheinen mag, in respectu Dei als die Durchsetzung der göttlichen Vorsehung mit Hilfe eines unmittelbar in und bei den Dingen der Welt wirksamen fatum aufzufassen. Ebenso wie Lipsius begreift auch Du Vair allein das fatum als ancilla Dei, nicht aber die Fortuna, deren Existenz vielmehr angesichts der reibungslos und konfliktfrei konzipierten Interaktion von fatum und providentia gänzlich in Frage gestellt wird. So wie schon Lipsius behält auch Du Vair das formale Modell der boethianischen Einbettung der Fortuna in die göttliche Providenz bei, veranlasst aber innerhalb dieses Modells eine folgenreiche funktionale Umbesetzung, welche die Fortuna überflüssig werden lässt. Auch Du Vairs Fortunathematisierung ist mithin als ein Fortunadiskurs à contrecœur zu kennzeichnen. Es ist daher nur konsequent, dass sich Du Vair ausdrücklich gegen eine Idolatrie der Fortuna wendet, gegen eine Tradition, welche den Zufall zur Göttin erhebt, „qu’ils nomment Fortune, & la peignent les yeux bandez, tournant avec une roüe les affaires du monde, poussant tout à l’avanture“353 . Und so richtet Du Vair an die Adresse der Vertreter einer solchen Anbetung oder gar Apotheose der Fortuna eine Invektive, deren Topoi spätestens seit des Stoikers Lucilius Balbus anti-epikuräischer Invektive im zweiten Buch von Ciceros De natura deorum zum tradierten Inventar der abendländischen Fortunakritik gehört: „Mais je voudrois bien que ceux qui veulent faire gouverner le monde à cette temeraire aveugle par tát de siecles, lui laissassent seulement pour un an gouverner leurs maisons; ils y trouveroient un beau mesnage. Pauvres gens!“354 Orphées neostoizistische Form der Fortunathematisierung lässt sich daher mit Abel folgendermaßen zusammenfassen:

351 352 353 354

Guillaume Du Vair, Les oeuvres de messire Guillavme dv Vair, Genf 1970 (1641), S. 340. Ebd., S. 346. Ebd., S. 346. Ebd., S. 346. Vergleiche dazu Anmerkung 53 auf S. 523 f. in diesem Kapitel.

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„Sind in einer Ereigniskette die Ursachen nicht unmittelbar einsichtig, so neigen die Menschen dazu, den Zufall auf den Plan zu rufen, und aus menschlicher Unwissenheit entsteht dann die falsche Göttin Fortuna. Aber die Führung des Universums und all seiner Teile kann nicht über Jahrtausende hinweg in der Hand des Zufalls gelegen haben, wenn man bedenkt, dass ein ohne Klugheit geführter Haushalt bereits nach einem Jahr vor dem Ruin steht. Ein schlichter Geist reicht aus, um zu begreifen, dass die Vorsehung existiert, und dass es die Fortuna nicht gibt.“355 Mit der vergleichbaren Ausgangssituation eines fiktiv geführten und berichteten Dialogs und mit einer hierarchischen Bestimmung des Kräfteverhältnisses von göttlicher Providenz, fatum und Fortuna, die gleichsam in eine Fortunathematisierung à contrecœur mündet, sind der Parallelen von Lipsius’ und Du Vairs neostoizistischer Fortunathematisierung aber noch nicht genug. Ebenso wie Lipsius in De constantia betont nämlich auch du Vair in seinem Traktat über die Möglichkeiten menschlicher Standhaftigkeit und seelischer Stabilität in Zeiten, da diese immer wieder gefährdet sind, dass die von ihm formulierte Auffassung des Verhältnisses von providentia und fatum im Unterschied zu einem lückenlosen Determinismus, den er der antiken Stoa unterstellt, der menschlichen Willensfreiheit durchaus Spielraum lässt. Abel rekonstruiert Du Vairs neostoizistisches Plädoyer für die Vereinbarkeit von fatum und menschlicher Willensfreiheit mit folgenden Worten: „Nichts hängt ausschließlich vom menschlichen Willen ab, obwohl die Menschen vieles wollen, was sie können und vieles können, was sie wollen. Die Willensfreiheit hört aber deshalb nicht auf zu bestehen, denn sie bezieht sich nicht auf die Handlung selbst, sondern wesentlich auf die Bewegung zu dieser hin. Sie wirkt in diesem Prozess mit anderen Ursachen zusammen. Wenn der Wille auf das Ziel hinwirkt, das er haben soll, so wird er vom Schicksal und dem Zusammentreffen der anderen Ursachen begünstigt. Ist der Wille auf ein Ziel gerichtet, das er eigentlich nicht haben sollte, so wird durch das Zusammenwirken der anderen Ursachen und des Schicksals ein Zweck verfolgt, der zwar nicht in seiner Absicht liegt, aus dem Gott aber dennoch seinen Ruhm ableiten kann. […] Welchen Weg man auch einschlägt, immer kommt man in der Herberge mit dem Schicksal gleichzeitig an.“356 Ein weiterer Themenkomplex von Orphées Ausführungen im zweiten Buch von Du Vairs Traktat – auch dies eint die Ausführungen von Du Vair und Lipsisus – betrifft das Verhältnis von providentia und malum: Wie kann es sein, dass eine gute und gerechte Vorsehung die Guten und die Schlechten, die Schuldigen und die Unschuldigen gleichermaßen bestrafe, ja oftmals sogar die Guten heftiger treffe als die Schlechten? Ein erstes Argument, mit dessen Hilfe Orphée den Zweifel an der Gerechtigkeit der göttlichen Providenz still legen will, besteht in der Zurückweisung der diesem Zwei355

356

Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, a.a.O., S. 136. Ebd., S. 135 f.

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fel zugrunde liegenden Prämisse, irgendjemand auf Erden könne vollständig unschuldig sein. Ein zweites Argument besagt, dass alle Übel stets ein Gut und den von dem Übel Betroffenen nützlich seien. Du Vair leitet diese These – und erneut sind gerade in dieser Hinsicht die Ähnlichkeiten mit Lipsius’ De constantia frappierend – aus dem göttlichen Ursprung der Übel ab. Wenn die Übel einen gottgewollten Ursprung haben, was für Orphée angesichts eines providentiell gelenkten Weltregiments nicht bezweifelt werden kann, dann muss auch jeder einzelne Effekt dieser Vorsehung gottgewollt sein: „Mais si la cause en est bonne, la fin en est encore meilleure“357 . Aber was kann sinnvollerweise damit gemeint sein, ein vordergründiges malum als von Gott gesandtes bonum zu bezeichnen? Gerade die Übel erweisen sich, so Du Vair, als ein geistiges Fördermittel für die Ausbildung einer Geisteshaltung der constantia und damit als Voraussetzung für den Erwerb des höchsten charakterlichen Gütesiegels, welches dem Menschen zu erreichen möglich ist: „[…] l’homme ne devient vraiement homme, c’est à dire courageux & constant, qu’entre les adversitez. […] Il n’y a rien si digne de l’homme que de surmonter l’adversité, ny moyen de la surmonter qu’en la combatant, ny moyen de la combatre qu’en la rencontrant.“358 Die göttlich geplante Zumutung der Bewältigung von Übeln fördert – wie man in Abwandlung einer Formel von Wilhelm Wundt sagen könnte – durch eine Art Heterogonie der mala die höchste Form der menschlichen Tugendhaftigkeit zutage. Anders denn im Modus des „surmonter l’adversité“ wäre es schlichtweg nicht möglich, „vraiement homme“ zu werden. Schließlich, und darin besteht Orphées dritte Entgegnung auf die von seinen Gesprächspartnern formulierten Zweifel an einer gerechten sittlichen Distribution der auf der Welt verteilten mala, steht es uns auch nicht an darüber zu hadern, dass die vermeintlich Guten bestraft würden, während die vermeintlich Bösen vermeintlich straffrei ausgingen. Denn Gottes Ratschlüsse sind für den Menschen, und so endeten ja auch Lipsius’ Ausführungen in De constantia, unergründlich. Seine Ratschläge sind „profonds & inscrutables, & où nos yeux, qui à peine voyent ce qui est à nos pieds, ne peuvent penetrer“359 . Du Vairs und Lipsius’ Fortunathematisierung à contrecœur auf der theoretischen Grundlage einer Bestimmung der Interaktion von providentia, fatum und Fortuna sowie die beiden Autoren eigene Empfehlung unbedingter Standhaftigkeit als des angemessenen menschlichen Umgangs mit den Unbilden der Zeitläufte und den Widerfahrnissen eines Lebens geben ein für das theoretische Selbstverständnis von Lipsius’ und Du Vairs Neostoizismus zentrales Moment zu erkennen, welches zum Abschluss dieses sechsten Abschnitts des Kapitels nicht unerwähnt bleiben darf, obgleich es auch nicht ausführlich oder gar systematisch diskutiert werden kann: den Versuch, Stoizismus und Christentum theoretisch zu versöhnen. So schreibt Lipsius in seinen Briefen einmal ganz explizit: „Aptare enim veterem philosphiam ad Christianam

357 358 359

Guillaume Du Vair, Les oeuvres de messire Guillavme dv Vair, a.a.O., S. 353. Ebd., S. 355. Ebd., S. 359.

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veritatem volui“360 . Dass dieses Unterfangen auch aus der Perspektive des Christentums mitunter nicht als ehrenrührig betrachtet wurde, dafür hätte sich Lipsius unter anderem etwa auf des Heiligen Hieronymus Kommentar zum Propheten Jesaja beziehen können, in welchem es heißt: „Stoici nostro dogmati in plerisque concordant.“361 Das zitierte Urteil des Hieronymus liefert freilich kein repräsentatives Urteil für die patristische Sichtweise der antiken Stoa. Schon Augustinus wendet sich im 14. und 19. Buch von De civitate Dei vor allem unter Verweis auf die Erbsünde gegen die Stoa und kritisiert den Stolz und die Eitelkeit des stoischen Weisen. In der Tat kennt die Stoa den christlichen Begriff der Erbsünde nicht. Sünde erscheint ihr nur als individuelles Versagen oder affektpsychologische Nachlässigkeit des Bemühens um ataraxia, nicht aber als konstitutiv für die conditio humana. Außerdem betrachtet der Stoiker die für ihn zentrale Tugend der constantia stets als individuelle Leistung und Verdienst. Für den Christen hingegen ist alle Tugend – selbst die durchaus nicht im Zentrum christlicher Ethik stehende Tugend der constantia – immer auch Gnade Gottes. Für den Christen gelingt Tugendhaftigkeit niemals allein durch Affektabwehr, sondern bedarf immer auch der göttlichen Gnade. Auch die christliche constantia bewegt sich daher stets im Horizont von Transzendenz. Stoische constantia hingegen meint Resistenz gegen die Welt, die aber die einzig mögliche Welt ist und damit absolut gesetzt wird. Christliche constantia meint Transzendierung der Welt und damit Relativierung derselben – nicht im Sinne einer gnostischen Weltverachtung, wohl aber im Sinne eines Glaubens an ein nur transzendent zu erfahrendes Heil, welcher insofern auch nicht in die Resignation treibt, sondern zu Dankbarkeit, Vertrauen und Hoffnung Anlass gibt.362 Constantia im christlichen Sinne meint demnach nicht innerweltliche Selbstbehauptung, sondern sich in der Welt allenfalls bewährende, zugleich Welt aber auch relativierende Selbstranszendenz. Die Welt mag Schauplatz menschlicher Bewährung sein, nicht aber die letzthinnige Realität. Es geht dem Christentum insofern immer auch um Weltüberwindung durch Glauben, nicht um Weltbeherrschung durch stoische ataraxia. Christliche Religion, so schreibt Max Pohlenz in seiner großen historischen Studie über die Bewegung der Stoa, „ist nicht mehr die Selbstbehauptung des Logos, die dem Menschen innerhalb der Welt seine Unabhängigkeit und seine Seelenruhe sichert und ihm die Erfüllung seiner sittlichen Aufgabe ermöglicht, sondern die mit Gottes Hilfe vollzogene Lösung aus den Banden des Kosmos, die den Weg zu einer höheren Lebensform erschließt und den Frieden mit Gott gibt, der höher ist als alle Vernunft.“363

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Hier zitiert nach Mark Morford, Stoics and Neostoics. Rubens and the Circle of Lipsius, a.a.O., S. 105. Hier zitiert nach Werner Welzig, „Constantia und barocke Beständigkeit“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 421. Vergleiche hierzu meine Kritik von Lübbes Auffassung von Religion als Kontingenzbewältigung im vierten Abschnitt des achten und letzten Kapitels dieser Arbeit, S. 687–693. Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1947, S. 434.

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William James hat in Die Vielfält religiöser Erfahrung ebenfalls religiöse Erfahrung und stoische Lebensweisheit kontrastiert. In religiöser Erfahrung tritt, so formuliert James im Zuge dieser Kontrastierung „an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft […] zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes.“364 Religion anerkennt für James das Unverfügbare nicht deshalb, weil und insofern sich so unser „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswille“ vor den Widerfahrnissen dieser Welt schützen lässt, sondern gerade im Sinne einer Überwindung dieses „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens“. Die sich religiösen Erfahrungen verdankende Bewältigung leidvoller Widerfahrnisse stellt keine disziplinierte Gefühlsathletik im stoischen Sinne dar, kein Versteifen auf die Unverletzlichkeit der eigenen Subjektivität, sondern meint eine Einstellung, welche James auch einmal als „Evangelium der Entspannung“ bezeichnet hat. Für ein angemessenes Verständnis des Gegensatzes von Stoa und Christentum gilt es unbedingt noch einen Diskussionsbeitrag von Robert Spaemann zu erwähnen: Bezüglich der Lehren vom glücklichen Leben, so schreibt Spaemann in dem Aufsatz „Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben“, bilden sich im Zeitalter des Hellenismus jene zwei „Disjunktionen heraus, die für das philosophische Denken des folgenden Jahrtausends bestimmend werden. Dabei treten zwei Momente auseinander, die bei Aristoteles noch ungeschieden sind: das Moment der Autarkie, der Selbstbehauptung, der Selbstgenügsamkeit, und das Moment der Erfüllung. Beide Momente werden nun radikalisiert weit über Aristoteles hinaus. Die Stoa radikalisiert den Gedanken der Autarkie, der Selbstbehauptung, bis hin zur Unwirklichkeit. Der Weise ist der, der deshalb immer glücklich ist, weil er frei von Leidenschaften sich selbst genügt und weil alle Güter, die Fortuna geben und nehmen kann, ihm gleichgültig sind. […] Es geht nicht um Erfüllung, sondern um Zufriedenheit auch ohne Erfüllung. Das Moment der Erfüllung dagegen radikalisiert sich ebenso über alle empirischen Bedingtheiten hinaus in der christlichen Idee der Seligkeit. […] Dieses Erfüllungsideal ist mit dem Autarkieideal unvereinbar und wird auch ausdrücklich dagegen gewendet. […] Bedingung der Seligkeit im Sinne der Erfüllung ist nun im Christentum gerade nicht Selbstbehauptung, sondern Selbstvergessenheit.“365 Indes, nicht um eine systematische Diskussion der Differenzen oder Gemeinsamkeiten von Stoa und Christentum ging es mir es in den letzten Sätzen, sondern vorrangig um die Charakterisierung der neostoizistischen Fortunathematisierung anhand je eines Traktats von Guillaume Du Vair und Justus Lipsius, um so die späte Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung in einer ersten Variante zu illustrieren, in einer Variante freilich, welche nun mit dem Topos virtù vince fortuna, wie er uns noch hundert Jahre zuvor in der Zeit der Renaissance so zahl- und facettenreich begegnet war und mit selbstsicherer Attitüde formuliert wurde, keinerlei theoretische Schnittmenge mehr aufweist. 364

365

William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt am Main 1999 (1902), S. 79. Robert Spaemann, „Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben“: in: Günther Bien (Hg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart/Bad Cannstatt 1978, S. 15.

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(7) Eine nicht minder bedeutende Rolle für die frühneuzeitliche Fortunathematisierung als im Kontext des holländischen und französischen Neostoizismus hat Fortuna auch in England gespielt, genauer: auf der Theaterbühne des elisabethanischen Zeitalters. Dabei gibt es für die literarische Darstellung der Fortuna in den elisabethanischen Theaterstücken eine ganze Reihe von Beispielen und Illustrationen: mehr oder weniger prominente, mehr oder weniger aussagekräftige. Erwähnenswert ist etwa Thomas Dekkers 1599 uraufgeführtes und 1600 publiziertes Stück The Pleasant Comedy of Old Fortunatus. Dekker nimmt in diesem Stück ein Motiv von Giovanni Pontano auf.366 Dieser hatte in den fünf Büchern seiner Schrift De Fortuna einem verhätschelten Schützling der Fortuna, einem gewissen Fortunatus, zu literarischem Leben verholfen. Das Stück lebte nun freilich auch nach Pontanos Lebenszeit in unterschiedlichen Fassungen fort. „Der elisabethanische Hof interessierte sich für das Stück und Thomas Dekker erhielt den Auftrag, es der Empfänglichkeit der Königin für Schmeicheleien und ihrer Freude an maskenhaft prunkvoller Aufmachung anzupassen“367 , schreibt Hammerle. Dabei ist von der Fortuna in Dekkers Stück nicht nur allegorisch oder metaphorisch die Rede, sondern sie betritt als eigenständige Figur – wir mögen uns an dieser Stelle an die im zweiten Kapitel dieser Arbeit diskutierte Tyche in den Komödien Menanders erinnern368 – die Bühne: „Dekkers Stück beginnt mit einem prosaischen, Nüsse knackenden Fortunatus, von dem wir mitbekommen, dass er äußerst arm und äußerst närrisch ist. Ein Unwürdiger also, wie er gern von der traditionellen Fortuna, wider alle Vernunft, auserkoren wird. In denkbar größtem Kontrast hierzu erscheint, wie in einem Festzug, die Göttin mit Gefolge.“369 Wie wird die derart inszenierte Fortuna von Dekker charakterisiert? Dem ersten Auftritt der Fortuna in Dekkers Stück lässt sich dies trefflich entnehmen. Die Regieanweisung anlässlich von Fortunas erstem Erscheinen auf der Bühne besagt nämlich Folgendes: „Enter a Shepherd, a Gardener, a Smith, and a Monk, all crowned; a Nymph with a globe, another with Fortune’s Wheel: then Fortune. After her, four Kings with broken crowns and sceptres, chained in silver gyves and led by her […] Fortune takes her chair, the Kings lying at her feet so that she treads on them as she ascends to her seat.“370 Im Rahmen einer derart verordneten Szenerie belehrt die Fortuna die niedergebeugten Könige über die Irrationalität und Unberechenbarkeit ihres Wesens und verweist auf jene 366

367 368 369 370

Vergleiche hierzu oben meine Ausführungen zu Pontano und Dorens diesbezügliche Interpretation im dritten Abschnitt dieses Kapitels, S. 576. Willard Farnham hat in seinem Buch The Medieval Heritage of Elizabethan Tragedy auf die Abkunft des elisabethanischen Dramas von einer mittelalterlichen Fortunakonzeption und einer mittelalterlichen Literatur verwiesen. Vergleiche dazu Willard Farnham, The Medieveal Heritage of Elizabethan Thought, a.a.O. Samuel Chew, „Time and Fortune“, in: Journal of English Literary History 6 (1939), S. 83–113. Karl Hammerle, „Das Fortunamotiv von Chaucer bis Bacon“, in: Anglia 65 (1941), S. 97. Vergleiche hierzu S. 164–168 des zweiten Kapitels dieser Arbeit. Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels, a.a.O., S. 40. Hier zitiert nach Samuel Chew, „Time and Fortune“, in: a. a. O., S. 90.

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ihrer Charakterzüge, die sich jeder theoretischen Kalkulation und Zugänglichkeit entziehen. Auf die Frage der Könige, was sie sich denn zu Schulden hätten kommen lassen, dass sie der Gunst der Fortuna in so maßloser Weise verlustig gegangen seien, antwortet Dekkers Fortuna unter anderem: [to the Kings] curse in: your      cries to me are Musicke, And fill the sacred roundure of mine ears, With tunes more sweete then mouing of the Spheres: Curse on: on our celestiall browes doe sit Vn-numbered smiles, which then leaps from their throne, When they see peasants daunce and Monarches groane. Behold you not this Globe, this golden bowle, This toy cal’d worlde at our Imperiall feete? This world is Fortunes ball wherewith she sports.371 Aber die Fortuna zerrt in Dekkers Stück nicht nur in irrationaler und unberechenbarer Weise die Mächtigen in den Staub, sie hebt auch die Elenden empor, und so krönt sie im weiteren Verlauf des Stückes ganz im Sinne ihrer unkalkulierbaren Willkür und Unberechenbarkeit einen Schäfer, einen Fuhrmann, einen Schneider, einen Mönch: I thrust base cowards into Honours chaire, Whilst the true spirited Souldiour stands by Bare headed, and all bare…372 Freilich lässt es das Bild, welches Dekkers Fortuna von sich selbst zeichnet, nicht bei der Betonung ihrer Unzuverlässigkeit und Wandelbarkeit und mithin ihrer theoretischen Unzugänglichkeit bewenden. Dekkers Fortuna ähnelt in einer ganz anderen Hinsicht, von der nicht klar wird, wie sie sich mit der bislang beschriebenen Sichtweise theoretisch verträgt, durchaus der boethianischen Auffassung: sie agiert im Dienste einer höheren Macht. Im Gegensatz etwa zu Marlowes Tamburlaine und dem darin formulierten Pathos einer heroischen und unbegrenzten Bewältigung der Fortuna, auf das wir in diesem siebten Abschnitt des Kapitels noch ausführlich eingehen werden, tritt in Dekkers Fortunatus „nicht die dynamische Deutung“ der Fortuna im Sinne des Topos virtù vince fortuna, sondern die „moralische des Mittelalters“373 in den Vordergrund, welche die Fortuna niemals als autarke Instanz, sondern stets als eingebettet in eine göttliche Ordnung begreift. Die Unbeständigkeit, Wankelmütigkeit und theoretische Unzugänglichkeit der Fortuna wird in der englischsprachigen Literatur der Zeit auch von anderen Autoren betont. George Chapman lässt sein Schauspiel Bussy d’Ambois von 1604 mit einer Szene beginnen, in der Bussy selbst, „Fortune’s proud mushroom shot up in a night“374 , mit den folgenden Worten das Stück eröffnet: 371 372 373 374

Fredson Bowers (Hg.), The Dramatic Works of Thomas Dekker, Bd. 1, Cambridge 1953, S. 119. Ebd., S. 119. Karl Hammerle, „Das Fortunamotiv von Chaucer bis Bacon“, in: a.a.O., S. 98 f. Hier zitiert nach Hiram Haydn, The Counter-Renaissance, a.a.O., S. 441.

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Fortune, not Reason, rules the state of things, Reward goes backwards, Honour on his head; Who is not poor, is monstruous; only need Gives form and worth to every humane seed […]375 In Chapmans Stück All Fools, diesen Hinweis verdanken wir Hiram Haydns bereits im fünften Abschnitt dieses Kapitels erwähnter Studie über die „Counter-Renaissance“, betont der Protagonist Rinaldo ebenfalls ganz in diesem Sinne die Unvorhersehbarkeit, Wankelmütigkeit und Ungerechtigkeit von Fortunas Gebaren: Fortune, the great commandress of the world, Hath divers ways to advance her followers: To some she gives honour without deserving, To other some, deserving without honour; Some wit, some wealth, and some wit without wealth; Some wealth without wit, some nor wit nor wealth, But good smock-faces; or some qualities, By nature without judgment, with the which They live in sensual acceptation And make show only, without touch of substance.376 Bezüglich der Unberechenbarkeit und Launenhaftigkeit der Fortuna, wie sie in der elisabethanischen Literatur seinerzeit immer wieder betont wird, sei schließlich noch Michael Draytons Tragicall Legend of Robert, Duke of Normandy erwähnt. Darin heißt es in einer Passage, die mir von all den bislang in diesem Abschnitt des Kapitels genannten Stellen die prägnanteste ist: Her feature chang’d each minute of the hour […] Now would she smile, and suddenly would lower And with one breath her words were sweet and sour.377 Die zwei wichtigsten Autoren für die Klärung des intellektuellen Gehalts der Fortunathematisierung der elisabethanischen dramatischen Literatur sind aber zweifellos nicht die bislang erwähnten und vergleichsweise epigonalen Autoren, sondern Christopher Marlowe und William Shakespeare: Von Marlowe ist vor allem dessen Stück Tamburlaine von 1587 in unserem Zusammenhang relevant. Tamburlaine, „the Scythian shepherd […], that became so great a conqueror“378 , wie es in der fiktiven Notiz des Herausgebers des Stückes unter der Überschrift „To the Gentlemen Readers and Others that Take Pleasure in Reading Histories“ heißt, Tamburlaine, der unerwartet zum Herren der Welt aufgestiegene Hirte, gibt sich zuversichtlich, ja in geradezu hysterischer Weise euphorisch, was die praktische Verfügbar- und Beeinflussbarkeit der Fortuna einzig dank 375 376 377

378

Hier zitiert nach ebd., S. 441. Hier zitiert nach ebd., S. 440. Michael Drayton, „The Tragicall Legend of Robert, Duke of Normandy“, in: The Works of Michael Drayton, Volume 1, edited by William Hebel, Oxford 1931, S. 256. Christopher Marlowe, „Tamburlaine, the Great“, in: Christopher Marlowe, The Complete Plays, edited by Frank Romany and Robert Lindsey, London 2003, S. 73.

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menschlicher Willensstärke und gezielter Kraft- und Leistungsdemonstration angeht, wie folgende Passagen unmißverständlich erkennen lassen: Forsake thy king and do but join with me, And we will triumph over all the world. I hold the Fates bound fast in iron chains, And with my hand turn Fortune’s wheel about. And sooner shall the sun fall from his sphere Than Tamburlaine be slain or overcome.379 Immer wieder ist Marlowes Tamburlaine, ein Stück, welches einen an die im dritten Abschnitt dieses Kapitels geschilderte Stimmung der im quattrocento formulierten Auslegung des Topos virtù vince fortuna und jedenfalls an den seinerzeitigen Optimismus bezüglich einer prinzipiell schrankenlosen praktischen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna erinnert, immer wieder ist Marlowes Tamburlaine daher auch als literarischer Ausdruck einer Auffassung interpretiert worden, welche ein ganz bestimmtes Bild der Fortuna und ein ganz bestimmtes Ideal des menschlichen Umgangs mit dieser Fortuna in der These einer gänzlich unbegrenzten praktischen Verfügbar- und Beeinflussbarkeit der Fortuna amalgamiert. In diesem Sinne schreibt Hammerle: „Vierundzwanzigjährig schrieb Marlowe das Erstlingsdrama Tamerlan. In ihm ist der himmelsstürmende Titanismus am reinsten ausgesprochen. Schon die Stoffwahl ist bezeichnend: Der asiatische Schäfer zieht, vom Ungestüm seines Machtwillens vorangetrieben, zur Unterwerfung der Völker aus und kettet Fortuna und die Könige der Erde an seinen Siegeswagen. Die konventionelle und die renaissancehafte Einstellung zur Göttin des Rades prallen in den Gegnern und in Tamerlan aufeinander. Jene fürchten nicht den Asiaten, sondern Fortuna, die ihn groß gemacht hat. Ihre Hoffnung ruht darin, dass die stolze Göttin, die schon so lange den Usurpatoren gefolgt ist, in der kommenden Schlacht ihre alte Unbeständigkeit erweisen und den Schützling fallen lassen werde.“380 Farnham trifft über Marlowes Tamburlaine das Urteil: „The young poet Marlowe erects a hero who has all the possible effrontery of self-confident youth, and he makes him brave Fortune, throw humility to the dogs, seduce us from Contempt of the World with eloquent poetry – and prosper.“381 Freilich schwant selbst dem omnipotenten und sich titanhaft gebärdenden Tamburlaine, dass auch sein Leben, wofern es menschliches ist, begrenzt, also endlich ist. Ewige Dauer wird auch seinem Leben in dieser Welt nicht beschieden sein. Vita brevis. Im fünften Akt des zweiten Teils von Marlowes Stück 379

380 381

Ebd., S. 87. Francis Bacon schreibt in seinen 1597 ursprünglich erschienenen, in späteren Fassungen erheblich erweiterten Essayes or Counsels Civill and Morall: „But chiefly, the Mould of a Mans Fortune, is in his owne hands.“ Freilich gelangt Bacon zu dieser Feststellung unmittelbar nach der seinen Essay „Of Fortune“ einleitenden Beobachtung: „It cannot be denied but outward accidents conduce much to fortune: favour, opportunity, death of others, occasion fitting virtue.“ Francis Bacon, The Essayes or Counsels Civill and Morall, London 1906, S. 121. Karl Hammerle, „Das Fortunamotiv von Chaucer bis Bacon“, in: a.a.O., S. 95 f. Willard Farnham, The Medieval Heritage of Elizabethan Tragedy, a.a.O., S. 370.

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unterbricht Tamburlaine daher urplötzlich die Konversation mit seinen Getreuen und seine sich in einen wahrhaften Rausch hineinsteigernden Allmachtsphantasien und hält – scheinbar zweifelnd und verzweifelnd an den Möglichkeiten seiner Macht – abrupt inne, zeigt sich offenkundig irritiert von dem Gefühl eines je ne sais quoi, dessen Entstehung er sich nicht weiter zu erklären vermag. Freilich, ein Bewusstsein der eigenen Endlichkeit oder gar die Einwilligung in diese Endlichkeit scheint in Tamburlaines Weltanschauung nur für den Bruchteil eines Moments als eine valide theoretische Positionen auf, dann verdrängt Tamburlaine auch in dieser Passage die Möglichkeit einer ihm bevorstehenden Krankheit oder gar die Einsicht in die menschliche Endlichkeit durch den nunmehr explizit formulierten Wahn, auch ein der Fortuna geschuldeter Tod oder eine zufällig sich zugezogene Krankkeit zögen seiner seelischen und körperlichen Omnipotenz keine Grenzen: TAMBURLAINE Well, then my friendly lords, what now remains, But that we leave sufficient garrison, And presently depart to Persia To triumph after all our victories THERIDAMAS Ay, good my lord. Let us haste to Persia, And let this captain be removed the walls To some high hill about the city here. TAMBURLAINE Let it be so. About it, soldiers. But stay, I feel myself distempered suddenly. TECHELLES What is it dares distemper Tamburlaine? TAMBURLAINE Something, Techelles, but I know not what. But forth, ye vassals! Whatsoe’er it be, Sickness or death can never conquer me.382 Freilich, als auch für Tamburlaine am Ende des Stückes die Todesstunde unwiderruflich gekommen ist, hört sich die aus seinem Munde zu vernehmende Einschätzung der Gewalt des alle und alles gleich machenden Todes – denken wir an Horazens Diktum mors aequat omnia (c. I, 4) – schon wesentlich verhaltener und defensiver als in der zuletzt zitierten Passage an. Allerdings bleibt Tamburlaines Denken bis zuletzt, dies verdeutlicht insbesondere das Ende des Stückes, von einer Dichotomie geprägt, welche die Macht des Todes dem menschlichen Streben nach Allmacht und Autonomie opponiert und geradezu als dessen Widersacher begreift. Marlowes Fortunathematisierung lässt 382

Christopher Marlowe, „Tamburlaine, the Great“, in: Christopher Marlowe, The Complete Plays, edited by Frank Romany and Robert Lindsey, a.a.O., S. 229 f..

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sich somit interpretieren als ausgesprochen radikales, weil titanhaft gesteigertes Beispiel für ein in der Frühen Neuzeit durchaus immer wieder vereinzelt anzutreffendes Pathos einer schrankenlosen praktischen Verfügbar- und Beeinflussbarkeit der Fortuna durch die direkten Operationen menschlichen Wagemuts und menschlicher Tatenkraft, welchen selbst das Phänomen der menschlichen Endlichkeit keine unüberwindliche Grenze auf dem Wege des Vollzugs dieses Pathos bedeutet. Zu Shakespeare: Shakespeare hat die Fortuna in seinen Stücken immer wieder namentlich erwähnt, obschon er sie niemals so wie Dekker – oder Menander die Tyche – auf der Bühne als eigenständige Figur auftreten lässt. Allerdings beurteilt Shakespeare die Möglichkeiten der direkten Beeinflussung der Fortuna doch wesentlich verhaltener als Marlowes Tamburlaine, auch wenn er keinesfalls im Sinne des Boethius die Fortuna der göttlichen Providenz subsumiert oder im Sinne des Lipsius das fatum der providentia unterordnet, um so die Fortuna zu eskamotieren. Die Fortuna ist für Shakespeare ganz im Sinne der römischen Fortuna und der Fortuna des quattrocento und auch noch der späten Renaissance – man erinnere sich unserer Interpretationen von Machiavellis oder Guicciardinis Fortunathematisierung – autarke Instanz. Vor allem die Betonung der Inkonstanz, Wandelbarkeit und Unzuverlässigkeit dieser autarken Instanz ist dabei für Shakespeares wiederholte Referenz auf die Fortuna charakteristisch. Dieses auffallendste Merkmal von Shakespeares Fortunacharakterisierung lässt sich an verschiedenen Stücken illustrieren. In Henry V. belehrt Fluellen, ein Offizier der Armee Heinrichs, den Fähnrich Pistol über die wesentlichen Charakteristika der Fortuna: all die der Fortuna traditionell zugeteilten Attribute, ihre Blindheit, ihre Launenhaftigkeit und Willkür, kommen dabei bemerkenswerterweise zur Sprache: „By your patience, Aunchient Pistol, Fortune is painted blind, with a muffler afore her eyes, to signify to you that Fortune is blind; and she is painted also with a wheel, to signify to you, which is the moral of it, that she is turning, and inconstant, and mutability, and variation: and her foot, look you, is fixed upon a spherical stone, which rolls, and rolls, and rolls: in good thruth, the poet makes a most excellent description of it. Fortune is an excellent moral.“383 Am ausführlichsten in allen seinen Stücken hat Shakespeare allerdings einem Urteil Klaus Reicherts zufolge „die Göttin im Timon visualisiert“384 . In der Tat: Die Eröffnungsszene von Shakespeares Timon in Athen zeigt einen Maler und einen Dichter, beide Günstlinge des reichen Atheners Timon, in ein Gespräch über das Wesen der Fortuna verstrickt. Der Dichter berichtet dem Maler von seinem neuesten Werk, in welchem er sowohl die Fortuna literarisch dargestellt als auch den reichen Athener Timon als jenen Menschen gezeigt habe, der von der Gunst der Fortuna so sehr profitiere wie kein anderer, jenen Timon also,

383 384

William Shakespeare, King Henry V/König Heinrich V., Stuttgart 1978, S. 102. Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels, a.a.O., S. 38.

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Whom Fortune with her ivory hand wafts to her, Whose present grace to present slaves and servants Translates his rivals.385 Ebenjene bona fortuna, deren wohlwollendem Regiment Timon nach den Worten des Dichters offensichtlich unterstellt ist, zieht aber auch eine ganze Reihe von vermeintlichen Gefährten und Freunden an, die in Wahrheit nichts als Schmeichler und Lakaien seien. Zugleich deutet der Dichter mit seinen Worten bereits in der allerersten Szene dieses Stückes an, dass die Fortuna „in her shift and change of mood“386 ihren Günstling auch wieder fallen lassen könne oder fallen lassen wird, was dann wiederum dazu führe, dass auch […] all his dependants, Which labored after him to the mountain’s top Even on their knees and hands, let him slip down, Not one accompanying his declining foot.387 Den Maler überrascht nun weder die Wankelmütigkeit der Freunde und Gefährten Timons noch die von dem Dichter angedeutete Launenhaftigkeit der Fortuna. Auch er charakterisiert die Fortuna dem Poeten gegenüber schließlich so: A thousand moral paintings I can show That shall demonstrate these quick blows of Fortune’s More pregnantly than words.388 Der gesamte Dialog zwischen dem Dichter und dem Maler über die Fortuna zu Beginn von Shakespeares Timon von Athen kündet also bereits vom Fall des Protagonisten und deutet somit bereits voraus auf das reale Geschehen, wie es sich im weiteren Verlaufe des Stückes ereignen wird. Zugleich deutet der Dialog diesen letztlichen Ausgang des Stückes als Resultat des unberechenbaren, launischen und offensichtlich vom Menschen nicht einsehbaren, nicht berechenbaren und kalkulierbaren Wirkens der Fortuna. In Shakespeares Kaufmann von Venedig findet die Fortuna zwar nicht in derselben ausführlichen Weise Erwähnung wie in Timon von Athen. Aber bezeichnend ist es durchaus, dass der Kaufmann Antonio seinen Besitz und damit auch sein Glück und das seines Freundes Bassanio den Launen des Meeres, dem ureigensten Wirkungsbereich der Fortuna – man erinnere sich an Horaz’ Beschwörung der Fortuna von Antium als Beherrscherin der Meere389 – überantwortet findet. Reichert hat den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Kontext dieser nautischen Konnotationen der frühneuzeitlichen Fortunathematisierung folgendermaßen skizziert: „[…] die Wirtschafts- und Sozialgeschichte erzählt, wie auf die großen Aufschwünge des zweiten Jahrhundertdrittels [gemeint ist das zweite Drittel des 385 386 387 388 389

William Shakespeare, Timon of Athens/Timon von Athen, Tübingen/Basel 1995, S. 69. Ebd., S. 71. Ebd., S. 71. Ebd., S. 71. Vergleiche hierzu S. 510 in diesem Kapitel.

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V  : Z I  T 16. Jahrhunderts in England; P. V.] die ersten großen Depressionen folgten, die wiederum zu den Anfängen des Versicherungswesens führten. Die ganze planende Kaufmannsklugheit hatte also offensichtlich doch irgendwo ihre Grenzen. Keine kaufmännische Umsicht konnte etwa mitberechnen, wann aus politischen Gründen die Antwerpener Geld- und Tuchmärkte geschlossen werden würden.“390

Wie auch immer es um die ökonomischen Kontexte dieser elisabethanischen Fortunathematisierung bestellt sein mag: Wie ist Shakespeare zufolge mit einer solchermaßen unberechenbaren Instanz namens Fortuna umzugehen? Sicherlich nicht so, wie dies Marlowes in Allmachtsphantasien schwelgender Tamburlaine vorführt. Marlowes Rezeption und titanische Steigerung des Renaissance-Topos virtù vince fortuna, sein Vertrauen in die absolute Übermacht individueller Willensanstrengungen und Vermögen in der Auseinandersetzung mit der Fortuna kommt bei Shakespeare nicht zur Sprache. Hiram Haydn hat daher vorgeschlagen, die von Shakespeare anempfohlene Fortunabewältigungspraxis im Sinne stoischer Fortunavermeidung qua constantia angesichts einer unberechenbaren und gerade nicht in göttlichem Auftrag handelnden, also autarken Fortuna zu verstehen. Das von Shakespeare favorisierte Ideal der Standhaftigkeit würde sich gemäß dieser Deutung von der constantia des Neostoizismus eines Lipsius oder eines Du Vair einzig dadurch unterscheiden, dass Standhaftigkeit nicht aus der Einsicht in eine göttliche Providenz, welche die Fortuna letztlich funktional wirkungslos werden lässt, gewonnen wird, sondern vielmehr eine reale und real wirksame Fortuna zu den unhintergehbaren Beständen dieser Welt gerechnet wird, angesichts deren sich menschliche constantia zu bewähren hat oder auch scheitern kann, ohne dass dies als Ausdruck göttlicher Fürsorge im Falle der prospera fortuna oder als Inbegriff göttlichen Zorns im Falle der adversa fortuna gewertet werden kann. Besonders am Beispiel des Lear und seiner Tochter Cordelia hat Haydn seine Interpretation dieser gleichsam paganen Variante und an Seneca erinnernden Form stoischer Fortunavermeidung zu illustrieren versucht. Das stoische Ideal der geistigen constantia dank völliger Relativierung aller externen Güter und Privilegierung aller inneren Güter erscheint als letzthin mögliches Lebensideal in einer Welt, in welcher der Verlust aller normativen und sozialen Ordnung weder einem Leben gemäß den Grundsätzen eines humanistisch verstandenen Tugendbegriffs Aussicht auf Erfolg verspricht noch die christliche Überzeugung von der Gerechtigkeit einer Gottes Weisheit folgenden Providenz, wie sie ja auch noch der Neostoizismus eines Lipsius oder Du Vair teilt, für plausibel halten kann, das stoische Ideal der constantia erscheint als letzthin mögliches Ideal in einer Welt, in der ein Edmund, eine Regan oder eine Goneril reüssieren: „Only the Stoic […] has the inner strength and patience to endure all the storms of fortune and control his fate in the larger sense by becoming master of himself. […] The victory lies in endurance; the reward is not in heaven, but in release from the strenuous vicissitudes of fortune. Stern justice is dispensed without mercy.“391 390 391

Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels, a.a.O., S. 53. Hiram Haydn, The Counter-Renaissance, a.a.O., S. 661 bzw. 666.

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Im fünften Akt von King Lear bemerkt Cordelia zu ihrem Vater: We are not the first Who, with best meaning have, incurr’d the worst. For thee, oppressed king, I am cast down; Myself could else out-frown false Fortune’s frown.392 Woraufhin Lear seiner Tochter schließlich mit der Haltung stoischer Resignation entgegnet: […] we’ll wear out, In a wall’d prison, packs and sects of great ones That ebb and flow by th’ moon.393 Im Unterschied zu Haydns Deutung von Shakespeares Fortunabewältigungspraxis als einer frühneuzeitlichen Form und paganen Variante stoischer Fortunavermeidung, welche Fortuna nicht direkt zu beeinflussen versucht, sondern deren Unbilden durch Rückzug in die subjektive Innerlichkeit indirekt zu umgehen und zu vermeiden versucht, unterstellt Farnham in seiner Untersuchung über die mittelalterlichen Ursprünge der elisabethanischen Tragödie, dass Shakespeares Konzeption der Tragödie zu einer ausgewogenen Balance hinsichtlich der Beeinflussbar- und der Verfügbarkeit und des Status der Fortuna gelangt sei, eine „union of character and event“394 formuliere, wonach die Fortuna weder omnipotent noch impotent sei, sehr wohl einiges, wenn auch nicht alles Geschehen dieser Welt der Einwirkung durch entschlossenes und kluges und tugendhaftes menschliches Handeln zur Verfügung stehe. Zwar sei die Fortuna für Shakespeare nicht im Sinne des Renaissance-Topos virtù vince fortuna in einer Weise zu besiegen und zu überwinden, welche ihre Existenz obsolet und ihren Einfluss wirkungslos werden lässt. Aber ebenso wenig sei davon auszugehen, so postuliert Shakespeare gemäß Farnhams Interpretation, dass die Fortuna stets der Kraft und Reichweite menschlichen Handelns überlegen und folglich für dieses menschliche Handeln gänzlich unverfügbar sei. Nicht passives Erdulden, nicht die constantia – weder im Sinne einer aus der Einsicht in die unerforschliche Providenz gewonnenen Lebensregel, welcher die Fortuna nur als Chimäre erscheinen kann, noch im Sinne eines subjektiven Rückzugs in die innere Zitadelle des eigenen Bewusstseins angesichts einer autarken und übermächtigen Fortuna –, sondern nüchternes, illusionsloses und weltzugewandtes kluges Handeln ist Farnham zufolge für Shakespeare die dem Menschen angemessene Form, um auf die Fortuna praktisch zu reagieren. Trifft diese Deutung von Shakespeares Fortunabewältigungspraxis zu, dann sind auch alle Ursachen für historische Tragik oder die Tragik eines Lebens weder in einem fatum noch in einer Fortuna noch in den Sternen zu situieren, sondern stets im Handeln der Menschen selbst zu finden. Die Menschen sind, wenn man so will, immer auch selbst schuld, wenn ihnen Übles oder Tragisches geschieht oder vermeintlich Unverfügbares widerfährt. In diesem Sinne heißt es in jener bekannten Passage aus Shakespeares Julius Cäsar:

392 393 394

William Shakespeare, King Lear/König Lear. Englisch/Deutsch, Stuttgart 1973, S. 212. Ebd., S. 212. Willard Farnham, The Medieval Heritage of Elizabethan Tragedy, a.a.O., S. 401.

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V  : Z I  T The fault, dear Brutus, is not in our stars, But in ourselves, that we are underlings.395

Dass Shakespeare das Individuum nicht mit einer übermächtigen Instanz konfrontiert, welcher es sich nur entziehen kann, indem es diese Instanz zu einem Mittel der göttlichen Providenz sublimiert oder sich zu einer radikalen Entwertung der Welt durchringt, dass Shakespeares Stücke vielmehr unterstellen, dass der Einzelne durch sein Handeln auf sein Schicksal durchaus einwirken kann, wenn ihm auch dieses auch nicht derart vollständig und dauerhaft und unbeschränkt verfügbar ist, wie dies der Renaissance-Topos virtù vince fortuna unterstellt, diese Interpretation Farnhams teilt übrigens auch Erich Auerbach, wenn er in seinem opus magnum die Differenzen zwischen der antiken Tragödie und der elisabethanischen Auffassung des Tragischen am Beispiel Shakespeares erörtert: „Die Antike sah die dramatischen Ereignisse des Menschenlebens überwiegend in der Form des Glückswechsels, der von außen und oben über den Menschen hineinbricht; während sich in der elisabethanischen, der ersten eigentümlich modernen Form der Tragödie, der besondere Charakter des Helden als Quelle seines Schicksals weit stärker geltend macht.“396 Die letzte Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung, für deren Entstehung und Konjunktur wir im fünften Abschnitt dieses Kapitels eine Reihe von ganz unterschiedlichen historischen Kontexten verantwortlich machten, sie erweist sich uns, so viel lässt sich jetzt diagnostizieren, als eine äußerst vielfältige und ambivalente Erscheinung. Dies gilt sowohl für die frühneuzeitliche Charakterisierung der Fortuna als solche als auch für den in der Post-Renaissance anempfohlenen menschlichen Umgang mit dieser Fortuna, für die Frage der Fortunabewältigungspraxis. Erblickten wir im sechsten Abschnitt dieses Kapitels im Neostoizismus gleichsam eine Radikalisierung der boethianischen Einbettung der Fortuna, insofern nun nicht nur – wie bei Boethius – die Autarkie der Fortuna in Frage gestellt wurde, sondern vielmehr die Existenz der Fortuna schlechthin, handelte es sich im Neostoizismus also gleichsam um eine Fortunathematisierung à contrecœur, erscheint die Fortuna im elisabethanischen Theater zwar nicht durchgängig, wohl aber bei Marlowe und Shakespeare, als autarke Instanz. Weder die Existenz noch die Autarkie der Fortuna ist diesen beiden Autoren zweifelhaft. 395 396

William Shakespeare, Julius Caesar. Englisch/Deutsch, Stuttgart 1976, S. 18. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, a.a.O., S. 303. Andere Schwerpunkte setzt Aleida Assmann in ihrer Shakespeare-Interpretation: „Fortuna, die nach mittelalterlicher Auffassung die Muse der Tragödie ist, bestimmt auch in Shakespeares Tragödien das Strukturgesetz der Handlung; blinder Zufall vereitelt die Möglichkeit sinn- und planvollen Handelns. Die Tragödie, die das Scheitern jeglicher Form von Rationalität ausstellt, rückt bei Shakespeare an die Grenze des Absurden. In ihr wird vorgeführt, dass menschliche Handlungen nicht zu ihrem Ziele kommen, sondern permanent von erratischen Mächten abgebogen, unterbrochen, vereitelt werden.“ Aleida Assmann, „Let it be. Kontingenz und Ordnung in Schicksalsvorstellungen bei Chaucer, Boethius und Shakespeare“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz. München 1998, S. 237.

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Auch was die Formen der in der Frühen Neuzeit vorgeschlagenen Formen der Fortunabewältigungspraxis betrifft, ergibt sich uns, blicken wir auf den sechsten und siebten Abschnitt dieses Kapitels zurück, kein monochromes Bild. Der für die Renaissance so typische Topos virtù vince fortuna mitsamt seiner Präsumtion eines auf Dauer zu stellenden und eines endgültigen Sieges über die Unbilden der Fortuna scheint auch in der PostRenaissance vereinzelt fortzuleben, ja bei Marlowe erblickten wir eine geradezu hypertrophe Radikalisierung dieses Topos. Bei Shakespeare wiederum findet sich – zumindest wenn wir der Interpretation von Farnham und Auerbach folgen – zwar nicht der Gedanke einer endgültig und dauerhaft zu besiegenden Fortuna formuliert, wohl aber die Idee einer durch menschliches Handeln in stets fragiler und provisorischer Weise zu beeinflussenden Fortuna artikuliert. Ebenfalls dem frühneuzeitlichen Zeitgeist entsprechen, ja ihm deutlich affiner sind indes das stoische Rezept einer Fortunavermeidung und der Lobpreis der Tugend der constantia. Während das Plädoyer für Standhaftigkeit als der dem Menschen gemäßen Umgangsform mit der Fortuna freilich bei Lipsius und Du Vair auf der theoretischen Überzeugung von einer alles lenkenden göttlichen Providenz beruht, welche der Fortuna faktisch jedwede Realität beraubt, sie vielmehr als Hirngespinst der Ungläubigen zu entlarven sucht, also eine christliche Variante stoischer Fortunavermeidungspraxis formuliert, begreift Shakespeare – zumindest gemäß der Interpretation von Haydn – die constantia ganz im Sinne der ursprünglichen stoischen, also paganen Fortunavermeidung, wie wir sie im ersten Abschnitt des Kapitels bei Seneca kennen gelernt hatten, nämlich als die gleichsam affektpsychologische Konzentration auf die für alle äußeren Einflüsse uneinnehmbaren Bezirke des eigenen subjektiven Ichs. Das Wirken der Fortuna ist für eine solche Strategie der Fortunavermeidung, wie sie eben auch Shakespeare unterstellt wurde, keinesfalls nur Suggestion, es ist auf drastische Weise wirklich und in seinen Folgen für das einzelne Leben mitunter äußerst schmerzhaft. Aber der Mensch kann, so postuliert Shakespeares frühneuzeitliche Form und pagane Variante stoischer Fortunavermeidung, die Launen der Fortuna, wenn auch nicht dauerhaft besiegen und endgültig bezwingen, wenn auch nicht durch sein Handeln in der Welt in wie provisorischer und fragiler Weise auch immer direkt beeinflussen, so doch durch seine eigene Geisteshaltung immerhin indirekt unterlaufen und vermeiden. Indes, die frühneuzeitliche Fortunathematisierung – sowohl die seinerzeit formulierten Varianten der Charakterisierung der Fortuna wie die seinerzeit anempfohlenen, unterschiedlichen Formen von Fortunabewältigunspraxis – ist mit den Diskussionen der dramatischen Literatur des elisabethanischen Zeitalters wie des frühneuzeitlichen Neostoizismus in den Abschnitten (6) – (7) dieses Kapitels noch gar nicht vollständig abgehandelt. (8) Die spanische Literatur des siglo de oro, also die Literatur der Zeit von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis, sagen wir, zum Tode Calderóns 1681, bedarf nicht nur dann einer ausführlichen Beschäftigung, wenn die Frage nach den mentalen und kulturellen Kontexten, welche der späten Konjunktur der Fortunathematisierung in der Post-Renaissance günstig gewesen sein dürften, gestellt wird. Die bedeutsame Rolle, welche die Motive des theatrum mundi und des vida es sueño in der spanischen Literatur, im pikaresken

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Roman eines Quevedo oder eines Cervantes397 nicht minder als in den Dramen oder den autos sacramentales eines Calderón spielen, darf uns nicht übersehen lassen, dass seinerzeit in der spanischen Literatur auch die Fortuna ausdrückliche Erwähnung findet. Auf zwei besonders auffällige und lehrreiche Beispiele sei in diesem Zusammenhang verwiesen, Beispiele überdies, welche die bislang ermittelte und für die Geschichte der Fortuna im Herbst der Renaissance insgesamt so charakteristische Ambivalenz zwischen dem rudimentär immer noch fortwirkenden geistigen Erbe des Topos virtù vince fortuna einerseits und einer unterschiedlich radikal formulierten Skepsis gegenüber ebenjener Beeinflussbarkeit der Fortuna durch menschliches Handeln bestätigen. Blicken wir zunächst auf Baltasar de Gracián y Morales und vor allem auf sein Werk Oráculo manual y arte de prudencia, das erstmals im Jahre 1647 erschien, unter anderem von Schopenhauer 1862 ins Deutsche übertragen wurde und die „Quintessenz der Gracián’schen Lebensklugheit“398 in dreihundert knappen Aphorismen erhält, ein Buch zudem, welches Nicholas Rescher zufolge als „one of the classical treatments of the role of luck in human affairs“399 zu gelten hat. Graciáns Denken und auch seine Antwort auf die Frage, wie mit dem Wirken und Wesen der Fortuna umgegangen werden könne, sind dabei zutiefst geprägt von jener Auffassung der Welt als einer Bühne und des individuellen Lebens als einer nur traumhaften Realität, wie sie uns im fünften Abschnitt dieses Kapitels schon in den Stücken Calderóns und Quevedos oder im pikaresken Roman begegnet war. Einer besonderen Beliebtheit in Graciáns Schriften erfreut sich dabei der Vergleich der Widerfahrnisse des menschlichen Lebens mit dem wechselhaften Glück des Kartenspiels. Nach Graciáns Ansicht sind, wie Nicholas Rescher schreibt, „sowohl das Leben als auch das Kartenspielen Glücksspiele und die Richtlinien für erfolgreiches Handeln in beiden Zusammenhängen grundsätzlich verwandt.“400 Die Finessen des Kartenspiels lassen sich demnach auch auf die Malicen des alltäglichen Lebens übertragen. Die bloße Einsicht in die Wechselhaftigkeit des menschlichen Daseins lässt indes, wie wir zu Genüge sahen, durchaus unterschiedliche Antworten auf die Frage zu, wie der Einzelne sich mit dieser Wechselhaftigkeit arrangieren soll. Gracián jedenfalls treibt die Tatsache einer fortunagesteuerten Unberechenbarkeit und Wechselhaftigkeit des mensch397

398 399 400

Zur Rolle des Zufalls im Don Qujote vergleiche Erich Köhlers Bemerkung: „Erst Cervantes konfrontiert den Helden einer illusionären Literaturgattung mit der Gesamtwirklichkeit des Lebens. Der Zufall erweist sich jetzt, wie Werner Krauss formuliert, als ‚verborgene Gottheit einer modernen Welt, die aus ihrer einst verbürgten Ordnung gefallen ist‘. Bei allen Begegnungen Don Quijotes ist ‚der Zufall Herr und Gebieter. Der Zufall treibt die verschiedensten Typen aus allen Ständen auf die Laufbahn des Helden‘ – im Gegensatz zur Welt des alten Ritterromans, die zur Gänze für die ritterliche Bewährung präpariert war. Zufällige Siege unterbrechen die Kette der Niederlagen und gestatten Don Quijote, diese letzteren als das Werk eines bösen Zauberers zu erklären, den zu überwinden wiederum er selber aufgerufen ist. Doch schließlich vermag selbst der Wahn des armen Ritters aus der Mancha die schmerzliche Säkularisation des Zufalls nicht mehr zu ignorieren.“ Köhlers Zitat bezieht sich auf: Werner Krauss, Miguel de Cervantes. Leben und Werk, Neuwied/Berlin 1966, S. 147 bzw. 148. Erich Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 1973, S. 31. Hellmut Jansen, Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián, Genf/Paris 1958, S. 3. Nicholas Rescher, „Moral Luck“, in: Daniel Statman (Hg.), Moral Luck, Albany 1993, S. 142. Nicholas Rescher, Glück. Die Chancen des Zufalls, a.a.O., S. 130.

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lichen Lebens weder zu der skeptischen Attitüde der Resignation noch zu einem stoischen Rückzug in die subjektive Innerlichkeit im Sinne eines von den Unbilden der Fortuna uneinnehmbaren Bezirks. Im Gegenteil. All die bereits erwähnten Metaphern, wonach das Leben ein Kartenspiel sei, ein Traum, eine Rolle auf einer Bühne, die sich als die Welt präsentiere, und was dergleichen Redewendungen mehr sein mögen, sie veranlassen Gracián zu der Kompilation von konkreten Maximen und Anweisungen für das alltägliche Leben, für die Entwicklung einer arte de prudencia, einer Moralistik, deren theoretischer Kern doch stets im Vertrauen auf die Möglichkeit und die nachweislichen Wirkungen eines klugen praktischen Handelns besteht. Für die Belange praktischer Lebensführung kommt es laut Gracián darauf an, angesichts der Wechselfälle eines theatrum mundi, in welchem Fortuna Regie führt, nicht zu verzweifeln, nicht zu resignieren, sich vielmehr an gewisse und bewährte Klugheitsregeln, wie sie uns etwa aus dem Kartenspiel bekannt sind, zu halten und in diesem Sinne einige zunächst lapidar anmutende, wohl aber elementare strategische Regeln zu beachten, also etwa, wie es im Handorakel in Maxime 77 heißt, folgende Regel zu berücksichtigen: „Niemals spielt der Spieler die Karte aus, die der Partner vermutet, und noch weniger natürlich, die dieser ausgespielt haben möchte.“401 Beachtet der Spieler derartige Regeln, dann, so die theoretische Prämisse von Graciáns Handorakel, kann es ihm gelingen mit Hilfe der arte de prudencia die mitunter schmerzhaften Wechselfälle des Lebens zu meistern. Ganz im Sinne dieser Zuversicht wird im dreizehnten Aphorismus des Oráculo manual die „milicia“ des Geistes der „malicia“ des Lebens kontrastiert: „Milicia es la vida del hombre contra la malicia del hombre, pelea la sagacidad con estratagemas de intencion“402 . Auf derartigen Regeln praktischer Klugheit und Lebensführung beharrt Gracián auch dann, wenn er die Fortuna in seinem Handorakel namentlich erwähnt und den Umgang mit ihr ganz explizit diskutiert. Als die zentrale Passage für Graciáns zuversichtlich gestimmtes Plädoyer für eine bestimmte Form einer aktiven und direkten Fortunabeeinflussung, als Beleg für Graciáns pragmatische Überzeugung, mit Hilfe einer durch „prudencia“, durch praktische Klugheit und Voraussicht beeinflussten Fortuna an den Glückspforten der Fortuna, an den „puertas de la Fortuna“ Einlass gewährt zu bekommen, muss im Rahmen von Graciáns Oráculo manual der folgende Aphorismus gelten, den ich erneut in der Übertragung Schopenhauers zitiere: „Es gibt Regeln für das Glück, denn für den Klugen ist nicht alles Zufall. Die Bemühung kann dem Glücke nachhelfen. Einige begnügen sich damit, sich wohlgemut an das Tor der Glücksgöttin zu stellen und zu erwarten, dass sie öffne. Andere, schon besser, streben vorwärts und machen ihre kluge Kühnheit geltend, damit sie auf den Flügeln ihres Wertes und ihrer Tapferkeit die Göttin erreichen und ihre Gunst gewinnen mögen. Jedoch richtig philosophiert, gibt 401 402

Hier zitiert nach Werner Krauss, Graciáns Lebenslehre, a.a.O., S. 135. Hier zitiert nach Karl Borinski, Baltasar Gracian und die Hofliteratur in Deutschland, Halle an der Saale 1894, S. 23. In Schopenhauers Übertragung heißt es: „Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten hinsichtlich ihres Vorhabens bedient.“ Vergleiche hierzu Baltasar Gracián, Handorakel und die Kunst der Weltklugheit, München 2005, S. 12.

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V  : Z I  T es keinen andern Weg als den der Tugend und Umsicht, indem jeder gerade so viel Glück und so viel Unglück hat als Klugheit und Unklugheit.“403

Für Gracián ist das Leben also ein Spiel oder auch – dramatisch zugespitzt – ein Kampf, dessen prinzipielle Gefahren und Risiken durch die Metapher des Kartenspiels ebenso zum Ausdruck gebracht werden können wie durch den Begriff der Fortuna. In diesem gefahrvollen Kampf besteht nur, wer sich je nach Situation angemessen und auf bestmögliche Weise klug verhält, sich also weder dem stoischen Rückzug in die uneinnehmbare Feste subjektiver Innerlichkeit überlässt noch sich im Vertrauen auf eine fürsorgende Providenz passiv verhält noch auf situationsunspezifische und zeitlos geltende Regeln für eine mehr als provisorische Bewältigung der Fortuna, also auf einen endgültigen und auf Dauer zu stellenden Sieg gegen die Fortuna setzt. Letzteres ist in der Situation eines menschlichen Lebens, welches stetig wandelnden Widerfahrnissen ausgesetzt ist und daher stets situationsflexibler Entscheidungen bedarf, gerade keine erfolgsversprechende Variante der Fortunabeeinflussung, doch schmälert dies keinesfalls Graciáns Zuversicht, dass das Spiel oder der Kampf des Lebens gegen die Zufälle oder Widerfahrnisse des Lebens mitunter durchaus einen erfolgreichen Ausgang nehmen können. Diese Zuversicht äußert sich, wie insbesondere Werner Krauss ausführlich rekonstruiert hat, sowohl im Oráculo manual als auch in Graciáns frühesten Werken: „Da das Leben seinen Kampfcharakter vollständig entfaltet, reduziert sich die ganze Moral auf die taktischen Regeln zur Behauptung inmitten einer allgemeinen Bedrohtheit. […] In dieser Lage hat der Mensch keine Zeit zur Umkehr und zur Sammlung: er ist sofort in die Entscheidung geworfen, und er befindet sich unter dem fortwährenden Zwang der Stellungnahme. Jeder Zug, den man tut, löst eine feindliche Gegenwirkung aus, den Gegenlauf hinterhältiger Kräfte, die man sofort berechnen und entwaffnen muss. Auch die idyllischen Leerräume laden nicht mehr zur Flucht: es sind Sumpfgelände voller Fallen und Gefahren. Man kann sich den gegebenen Existenzbedingungen nicht entziehen. Der Lebensraum, den Gracián beschreibt, ist durchwaltet von einem Wettlauf der Kräfte.“404 Krauss hat dabei Graciáns Form der Fortunathematisierung, so wie wir dies am Beginn des fünften Abschnitts als in ganz allgemeiner Weise konstitutiv für den gleichsam politischen Kontext der frühneuzeitlichen Fortunathematisierung ausgewiesen hatten, auf sehr plausible Weise mit dem politischen Kontext eines zunehmenden Machtgewinns 403

404

Ebd., S. 17. Das spanische Original lautet folgendermaßen: „Reglas hay de ventura, que no toda es acasos para el sabio; puede ser ayudada de la industria. Conténtanse algunos con ponerse de buen aire a las puertas de la Fortuna y esperar a que ella obre. Mejor otros, pasan adelante y válense de la cuerda audacia, que en alas de su virtud y valor puede dar alcance a la dicha y lisonjearla eficazmente. Pero, bien filosofado, no hay otro arbitrio sino el de la virtud y atención; porque no hay más dicha ni mas desdicha que prudencia o imprudencia.“ Die spanische Fassung hier zitiert nach Hellmut Jansen, Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián, a.a.O., S. 194. Werner Krauss, Graciáns Lebenslehre, a.a.O., S. 19.

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der königlichen und fürstlichen Höfe, im Falle Spaniens zudem mit den höfischen Usancen eines sich im Abstieg befindlichen Weltreichs in Verbindung gebracht: „Der Kampf um die Macht ist nicht die ökonomische Konkurrenz der späteren bürgerlichen Epoche – die Ursituation des Menschen ist vielmehr hier diejenige eines Stellenjägers, der im Umkreis der höfischen Mitte sich vordrängt. […] Es kommt nicht darauf an, wie man sich in einer Stellung bewährt, nur darauf, dass man sie gewinnt und verteidigt. Das ist, wenn man so will, eine Hochstaplermoral, die Moral des Schelmen, des spanischen ‚Pícaro‘ […], eine Versorgungsmoral als Korrelat einer hypertrophen Verwaltung in dem ausgehöhlten Riesenreich, in dem Habsburgs Sonne unterging. Jeder strebsame Mensch musste versuchen, sich hier einzuschalten, wollte er nicht den Weg des Ritterromans, den Weg Don Quijotes gehen. Der Schelmenroman ist die spanische Wirklichkeit geworden.“405 Während der pícaro in dieser Welt niemals auf einen „grünen Zweig“ kommt, „weil er unfähig ist, seine Erfahrungen in einer Planung der Zukunft zusammenzufassen“406 , empfiehlt Graciáns Moralistik die „Spannkraft des durch jede Enttäuschung zu einem höheren Ziele geleiteten Strebens.“407 Anders und erneut mit Krauss’ Worten formuliert: „Gracián ist ein Hasser und Vedächtiger aller idyllischen Zustände, alles quietistischen Verweilens.“408 Leben heißt sich bewegen, heißt es im dritten Band von Graciáns El Criticón, „la vida es moverse“409 . Und so heißt es auch in einer Parabel von Graciáns Discreto: „Den meisten geht es schlecht, weil ihnen recht geschieht.“410 Graciáns Lebenslehre nimmt sich vor, so schreibt Krauss „den Menschen inmitten der Unbeständigkeit in der Richtung der Dauer zu versetzen, ihn flott zu machen für ein Überleben über die Schwäche, und zwar aus eigenster Kraft, mit denselben menschlichen Mitteln, deren Fehlanwendung die Schuld bei jedem Unglück erklärt.“411 In ähnlicher Weise interpretiert auch Hellmut Jansen Graciáns Sicht des Lebens als „trotzige Weltbejahung“: „In dem ‚trotzdem‘ oder ‚nun erst recht‘ seiner Einstellung zum Leben aber liegt das Echte seiner illusionslosen Diesseitsschau: Er sieht die Welt, wie sie ist, erkennt ihre Scheinhaftigkeit und ihren Kampfcharakter, nimmt beides als unabänderlich hin und macht es zur Grundlage seiner Weltanschauung. Hieraus erwächst sein Fundamental-Anliegen, das Ideal der grossen Persönlichkeit

405 406 407 408 409 410 411

Ebd., S. 19 f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 28. Ebd., S. 27. Hier zitiert nach ebd., S. 175. Hier zitiert nach ebd., S. 75. Ebd., S. 44.

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V  : Z I  T als des Inbegriffs allseitiger Bildung, adeliger Gesinnung und Gesittung […], als des Meisters der Weltklugheit […] und der Lebensweisheit […].“412

Krauss’ und Jansens Interpretation des Gracián als eines Protagonisten „illusionsloser Diesseitsschau“ und darauf beruhender „trotziger Weltbejahung“ hätte gewiss einen Vorteil: sie würde die Frage, wie Gracián die Fortuna auffasst und ob und inwiefern er sie für beeinflussbar hält, in ganz eindeutiger Weise beantworten. Gracián formuliert gemäß den bislang zitierten Interpretationen im Zuge seiner Auffassung einer autark agierenden Fortuna das Plädoyer für eine gleichsam prudentielle Fortunabeeinflussung. Aber Graciáns Form der Fortunathematisierung ist eben keinesfalls so einfach und unzweideutig strukturiert, wie es sich auf den ersten Blick darstellen mag. Es verhält sich gerade nicht in der Weise, dass Gracián innerhalb eines zweifellos ambivalenten Spektrums der Fortunathematisierung der Post-Renaissance eine ganz unzweideutige Position einnehmen würde, nämlich jene Position einer „trotzigen Weltbejahung“ mit Hilfe der arte de prudencia angesichts einer autark und willkürlich handelnden Fortuna, jene Position mithin, wie wir sie im vorherigen Abschnitt bei Shakespeare – zumindest einer bestimmten Interpretation zufolge – und – wenn auch in hypertropher Weise artikuliert – bei Marlowe beobachten konnten. Mag es auch zutreffen, dass eine „illusionslose Diesseitsschau“ Gracián zu einer „trotzigen Weltbejahung“ motiviert, so sind doch das Welt- und Menschenbild von Gracián im Allgemeinen wie auch seine Fortunathematisierung im Besonderen sowohl vor einem voluntaristischem wie auch vor einem rationalistischen Überschwang durchaus gefeit. Nicht nur die Fortunathematisierung der Frühen Neuzeit schlechthin ist von einer ausgesprochenen Ambivalenz gekennzeichnet, sondern diese Ambivalenz charakterisiert mitunter auch die Schriften einzelner, für diese frühneuzeitliche Fortunathematisierung maßgeblicher Autoren. So will Gracián gerade nicht behaupten, dass der Mensch alles erreicht, was er erreichen will, strengt er sich nur genügend an oder beherzigt er nur die empfohlenen Klugheitsregeln auf das Genaueste. Dies erweist sich bereits in seiner Einschätzung des Kartenspiels. Denn so sehr Gracián dem Menschen Regeln für die auszuspielenden Karten mit auf den Weg gibt, gemischt und ausgeteilt wird das Kartenblatt nicht von den Menschen selbst. Entsprechend heißt es in Graciáns Handorakel: „Das Schicksal mischt die Karten, wie und wann es will.“413 Der Mensch erreicht aber nicht nur nicht alles, was er erreichen will; er erkennt auch nicht alles, was er erreichen soll. Insofern zeigen sich das Welt- und Menschenbild von Gracián und seine Form der Fortunathematisierung nicht nur vor einem voluntaristischem, sondern auch vor einem rationalistischen Überschwang gefeit. Aber nicht nur stellt Gracián die Omnipotenz menschlicher Stärke und Willenskraft sowie die Omnikompetenz menschlicher Klugheit und Voraussicht in Frage. Er begreift auch, anders als dies das Plädoyer für eine direkte Fortunabeeinflussung im Grunde verlangt, die der menschlichen Omnipotenz und Omnikompetenz Grenzen setzende Instanz der Fortuna keinesfalls – oder doch zumindest keinesfalls immer, wenn von ihr die Rede ist – als eine autarke Instanz. So wird in Gra412 413

Hellmut Jansen, Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián, a.a.O., S. 209. Baltasar Gracián, Handorakel und die Kunst der Weltklugheit, a.a.O., S. 113. Im Original ist an dieser Stelle von „suerte“ die Rede.

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ciáns spätem Roman El Criticón die Fortuna ausdrücklich als Tochter der Vorsehung, als „hija de la Providencia“414 , bezeichnet. Nicholas Rescher hat im Zusammenhang seiner Diskussion von Graciáns Denken in seinem Buch Glück. Die Chancen des Zufalls auf die ideengeschichtliche Relevanz einer gegen die Anmaßung einer Allmacht der menschlichen Vernunft gerichteten Skepsis für das spanische Denken und die spanische Kultur des siglo de oro verwiesen und dabei von einer „gegenscholastischen Tradition“ in der Geschichte des spanischen Denkens gesprochen: „Denn während die große Linie der westlichen Philosophie sich bemüht hat, unser Verständnis der Welt in der intelligiblen Ordnung eines rationalen Systems zu verankern, haben die spanischen Philosophen der gegenscholastischen Tradition die Welt im allgemeinen als ungewisse, unvorhersagbare und unverlässliche Voraussetzung des menschlichen Lebens betrachtet.“415 Graciáns Auffassung der Fortuna ebenso wie die von ihm anempfohlene Form der Fortunabewältigungspraxis bleiben also hinsichtlich ihrer Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen menschlichen Vermögen und Leistungen einerseits und der Fortuna andererseits schwankend, auch wenn die Maximen von Graciáns Aphorismensammlung zur arte de prudencia wohl doch wesentlich auf der optimistischen Einschätzung beruhen, derzufolge die menschliche Klugheit die Unbilden der Fortuna, wofern nicht endgültig eliminieren, so doch immerhin beeinflussen kann. Für niemanden hält das Kartenspiel des Lebens so viele Chancen bereit wie für den klugen und umsichtigen Spieler, auch wenn er nicht darüber verfügt, welche Karten er in die Hand bekommt. Für niemanden offeriert das Kartenspiel des Lebens so viele Chancen wie für den klugen und umsichtigen Spieler, gleichviel, ob die Karten verteilende Instanz in autarker Regie Spielkarten verteilt oder als „hija de la Providencia“ agiert.

414 415

Hier zitiert nach Werner Krauss, Graciáns Lebenslehre, a.a.O., S. 170. Nicholas Rescher, Glück. Die Chancen des Zufalls, a.a.O., S. 131. Zur weiteren Charakterisierung dieses „gegenscholastischen“ Denkens zitierte ich noch folgende Bemerkung Reschers aus dem englischen Original. Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle allzu mißverständlich: „[…] Spanish philosophy has tended to keep reason at its place. It inclines to see reality, or at any rate that part of it that constitutes the setting for human life, as chaotic, incoherent, pervaded by disorder. Life is precarious. In all our doings and dealings, we cannot count things going ‚according to plan.‘ Planning, prudence, foresight, and the like can doubtless help to smooth life’s path, but they are far from sufficient to ensure a satisfactory outcome of our efforts. Chance, accident, and luck – fortune, in short – play a preponderant and ineliminable role in human affairs. In all our doings and undertakings, we humans give hostages to fortune. The outcome of our efforts does not lie in our control: fortune (chance, contingency, luck) almost invariably plays a decisive part. This fortunism did not, however, carry Spaniards to the extreme of an un-Christian fatalism. They were not drawn to the endorsement of inaction, lethargy, and a supine resignation to the inevitable. In their view, active enterprise is called for because our action set the stage for luck: someone who does not play cannot win the game. To a degree – although a very limited degree – people are the authors of their own fortune. Although fortune disposes, man nevertheless proposes.“ Nicholas Rescher, The Brilliant Randomness of Everyday Life, New York 1995, S. 124 f.

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Ein Blick auf den zweiten Spanier des „goldenen Zeitalters“, den wir in diesem Abschnitt des Kapitels genauer in den Blick nehmen wollen, bestätigt, dass die für Gracián kennzeichnende Ambivalenz nicht nur die letze Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung prinzipiell kennzeichnet, sondern sich auch bei einzelnen, für diese späte Konjunktur der Fortuna in der Post-Renaissance maßgeblichen Autoren oft verschiedene Auffassungen der Fortuna und des menschlichen Umgangs mit dieser Fortuna in widersprüchlicher Weise amalgamiert finden. Denn Francísco de Quevedo errichtete der Fortuna in seiner Satire La Fortuna con seso y la hora de todos ein außergewöhnliches Denkmal, dessen theoretische Substanz indes ebenfalls keine Eindeutigkeit aufweist: Das Werk La Fortuna con seso y la hora de todos wurde um 1635 geschrieben, aber erst 1650, also fünf Jahre nach dem Tod Quevedos und damit also ungefähr zur gleichen Zeit wie Graciáns Oráculo manual, veröffentlicht. Das Stück beginnt mit der Einberaumung einer Ratsversammlung der antiken Götterwelt. Die Fortuna wird der versammelten Belegschaft des Olymps vorgeführt und von Quevedo mit jenen konventionellen Attributen ausgestattet, die uns aus der Jahrhunderte währenden Geschichte der Ikonologie der Fortuna nunmehr hinlänglich bekannt sein dürften: „Statt Weiberschuhen an den Füßen hatte sie eine Kugel unter den Zehenspitzen, darauf kam sie daher, Mittelpunkt eines Rades, das sie umkreiste und das mit Fäden und Tauen, Bändern, Schnüren und Stricken umspannt war, die sich verflochten und wieder entflochten, wenn das Rad sich drehte.“416 Aus Jupiters Munde bekommt die Dame Fortuna zunächst einmal vor der versammelten Belegschaft des Götterhimmels eine ordentliche Standpauke zu hören, denn Jupiter herrscht sie an: „Du Säuferin, deine Narrheiten, Tollheiten und Missetaten sind so arg, dass die Sterblichen meinen, es gebe keine Götter, der Himmel sei leer und ich ein höllischer Gott, weil wir dich nicht zurückhalten! Sie beschweren sich, du gebest den Verbrechen den Lohn, der den Verdiensten gebührt, und den Lohn der Tugend der Sünde. Sie sagen, du erhöhtest bei Gericht jene, die du auf den Galgen erhöhen müßtest, und teiltest jenem die Würden zu, dem du die Ohren abschneiden solltest. Jene aber, die du reich machen müßtest, die machtest du arm und drückest sie ins Elend!“417 Kraft welcher Argumentation wehrt sich Fortuna gegen derartige Anklagen Jupiters, die ihr ja eine moralisch nicht akzeptable Launenhaftigkeit und Ungerechtigkeit ihres Wirkens unterstellen, ihr somit einen Vorwurf unterbreiten, den Fortuna seit ihrer Geburtsstunde im klassischen Rom immer wieder zu hören bekommen hatte? Ebenso konventionell wie Jupiters Vorwurf an die Adresse der Fortuna gerät bei Quevedo auch Fortunas Replik. Sie schiebt den Menschen selbst und deren leichtsinnigem Umgang sowohl mit ihren wohltuenden Gaben als auch mit den von ihr ausgeteilten Unbilden und Züchtigungen die Verantwortung für jenes Resultat zu, welches ihr von Jupiter gerade 416

417

Francísco de Quevedo, Die Träume/Die Fortuna mit Hirn oder die Stunde aller, herausgegeben von Wilhelm Muster, Frankfurt am Main 1966, S. 172 f. Ebd., S. 173.

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zum Vorwurf gemacht worden war. Wie schon Cassius in Shakespeares Julius Caesar verkündete: The fault, dear Brutus, is not in our stars, But in ourselves, that we are underlings.418 Da gibt es also die einen, so gibt Quevedos Fortuna in ihrer Verteidigungsrede wider Jupiters Anklage genauer zu bedenken, die als Tugendbolde im Dunkeln stehen, weil sie sich zieren, die Gaben Fortunas anzunehmen. Da gibt es die anderen, die der Fortuna diese Gaben aus der Hand reißen, obwohl sie ihnen doch gar nicht zustehen. Kurzum: Die Menschen machten sich eine falsche Vorstellung von ihr, der Fortuna, und insofern seien die menschlichen Umgangsformen ihr gegenüber auch nicht angemessen. Sie wollen über gleichsam Unverfügbares verfügen und deklarieren Verfügbares für unverfügbar: „Viele empfangen von mir und wissen es nicht zu bewahren: sie verlieren es und sagen, ich hätte ihnen alles genommen. Viele klagen mich an, ich hätte meine Gaben schlecht verteilt – aber bei ihnen wären sie noch schlechter aufgehoben.“419 Gegen die Anklage Jupiters führt zudem die als eine der Fortuna assistierende „Magd“ ebenfalls im Götterrat auftretende Occasio einen Einwand ins Feld, der spätestens seit Boethius’ Trostbuch zum Standardrepertoire der abendländischen Auseinandersetzung mit einer als ungerecht erscheinenden Fortuna gehört. Die Menschen sollten, so fordert Occasio, entweder das Rad der Fortuna erst gar nicht besteigen und von diesem Abstand halten, oder aber, wenn sie dieses aufgrund bestimmter Erwartungen und mit bestimmten Hoffnungen bestiegen hätten, sich der Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Entschlusses stets eingedenk sein: „Wenn sie wissen, dass es ein Rad ist und auf und ab rollte und also zur Tiefe rollte, um hochzusteigen, und steigt, um in die Tiefe zu rollen – weshalb lassen sie sich auf ihm aufhaspeln?“420 Mit diesen Argumenten gelingt es Fortuna und Ocassio, Jupiter doch immerhin soweit zu beschwichtigen und ihn für ihre Position einzunehmen, dass er zur Besänftigung des unter den Menschen offenkundig herrschenden Unmuts über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten und unverständlichen Launenhaftigkeiten von Fortuna und Occasio die Durchführung eines seltsamen Experiments oder Wettbewerbs beschließt, um so hinsichtlich des in Frage stehenden Streitpunkts zu einer Lösung zu gelangen: die hora de todos. Hören wir Jupiter, wie er nun seinerseits auf die von uns resümierten Verteidigungsreden von Fortuna und Occasio reagiert: „Du und diese Spitzbübin, deine Magd, habt in vielem Recht, aber zur Satisfaktion aller Menschen wird hiermit unwiderruflich erklärt, dass auf Erden an einem Tag und zur festgesetzten Stunde jedermann den Lohn erhalten soll, der ihm zusteht. Dies muss geschehen, bezeichne du nun Tag und Stunde.“421 418

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420 421

William Shakespeare, Julius Caesar. Englisch/Deutsch, a.a.O., S. 18. Vergleiche zu meiner Interpretation dieser Passage im Kontext der Diskussion von Shakespeares Fortunathematisierung S. 630 in diesem Kapitel. Francísco de Quevedo, Die Träume/Die Fortuna mit Hirn oder die Stunde aller, herausgegeben von Wilhelm Muster, a.a.O., S. 174. Ebd., S. 175. Ebd., S. 176 f.

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Die hora de todos wird ohne weitere Umschweife dekretiert. Der 20. Juni wird als Termin für die göttlich beschlossene, gleichsam kompensatorische Satisfaktion post festum bestimmt. Jedermann soll an diesen Tag nach seinem wahrhaften Verdienst bezahlt werden. Justament jenen dekretierten 20. Juni zeigt das Kalenderblatt des heutigen Tages aber ebenfalls an, und in fünf Minuten, um vier Uhr nachmittags, soll nun also jedermann für den Zeitraum einer Stunde „den Lohn erhalten, der ihm zusteht“. Nicht eine ungerechte und willkürliche Fortuna soll in dieser Stunde das Weltgeschehen lenken, vielmehr soll eine gerechte Fortuna den Menschen den ihnen gemäßen Lohn oder die ihnen gemäße Strafe zuteilen. Nur Augenblicke bleiben der Fortuna, um noch kurzerhand ihr Rad für dieses Vorhaben zu präparieren; sie „wechselte Nägel, verflocht Seile, ließ einige nach, zog andere an“422 , und als die Uhr nun viermal schlägt, wechselt Quevedo, der uns bislang direkt aus dem Götterhimmel zu berichten wusste, abrupt die narrative Perspektive. Quevedos Erzählung verlässt den Götterhimmel und bewegt sich in die profanen Niederungen der Alltags- und Diplomatiegeschichte seiner Zeit. Vorgeführt werden dem Leser auf den folgenden Seiten nämlich vor allem Causerien zweierlei Art: einerseits bestimmte typische Szenen des spanischen Alltagslebens, andererseits die Geschicke einzelner Nationen, Regionen und Figuren der europäischen Politik und Diplomatie im Konzert der europäischen Großmächte. Nur ein Beispiel aus diesem Potpourri von Episoden sei zitiert, um zu illustrieren, in welcher Tonlage und mit welch beißendem Spott Quevedo schildert, was es heißt, wenn nun tatsächlich „allen die Stunde schlägt“, wie er immer wieder formuliert. Schon die beiden ersten Stücke von insgesamt vierzig Episoden, die Quevedos kulturelles und politisches Panorama vor dem Leser aufblättert, geben einen guten Eindruck sowohl von der Gesinnung als auch von der Sprache Quevedos: „In diesem selben Augenblick“, so heißt es nämlich unmittelbar nach der Beschlussfassung Jupiters und dem Eintreten der vierten Stunde nach Mittag, „ritt ein Arzt langsam auf seinem Maultier daher und spähte nach Fieberkranken. Da schlug seine Stunde, er wurde zum gehenkten Henker, der über einem Kranken mit den Beinen zappelte und dem ein Credo statt des Recipe entschlüpfte. Hinter ihm kam durch dieselbe Gasse einer, der wurde ausgepeitscht. Vor ihm die kreischende Stimme des Nachrichters, hinter ihm flog es wie Schmetterlinge: ‚Zu so und so viel Hieben verurteilt!‘ Der Verurteilte ritt auf einem Esel und war vom Gürtel aufwärts nackt wie ein Galeerensklave. Da schlug seine Stunde, die Mähre, auf der der Alguacil ritt, warf diesen ab, der Esel aber den Verurteilten, unter den sich der Gaul legte, der Esel aber warf sich unter den Alguacil, und da sie nun Platz getauscht hatten, empfing der Begleiter des Verurteilten die Hiebe, und der, welcher früher die Peitschenhiebe erhalten, begleitete nun den, der sie jetzt bekam. Der Schreiber stieg ab, die Sache ins Lot zu bringen, doch als er die Feder zog, schlug seine Stunde, die Feder wurde länger und wurde zum Ruder, und er begann zu rudern, da er schreiben wollte.“423

422 423

Ebd., S. 177. Ebd., S. 177 f.

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Aus dieser Episode erhellt, dass der neue Glücksverteilungsmodus der Fortuna, gleichsam der Modus suum cuique, welcher mit dem Glockenschlag der vierten Stunde einsetzt, mindestens der Hälfte der Menschheit nicht wohl bekommt. In all den literarischen Miniaturen, die uns Quevedo liefert, zeigt sich dies häufig nicht so sehr in der gerechten Aufhebung oder doch zumindest Nivellierung einer bestehenden Ungerechtigkeit, wie in dem zitierten Beispiel, denn in der gerechten Bestätigung eines gerechten Schiedsspruchs, weniger in einer nachträglichen Kompensation einer moralisch illegitimen Verteilung von Glück und Unglück, welche wohl mehr schlecht als recht zu einer Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität beiträgt, als in einer Affirmation der ohnehin bestehenden Distribution von Glück und Unglück. Die Götter beobachten all dieses von Quevedo so spöttisch geschilderte und satirisch kommentierte Geschehen aus der sicheren Distanz ihrer olympischen Höhe, und als nun die Uhr fünf schlägt, macht sich in der Ratsversammlung der Götter Zweifel kund, ob dieses neue, jedem das seine zuteilende Verfahren der Fortuna der Menschheit im Ganzen denn wirklich so sehr anzuempfehlen sei. Ist die Gesamtbilanz der vergangenen Stunde für die Menschheit im Ganzen wirklich so viel erfreulicher als das Geschehen einer Welt, in welcher Fortuna nach einem Gutdünken waltet, welches dem Menschen theoretisch unzugänglich ist? Jupiter soll, so heißt es nun im Olymp, entscheiden, „ob Fortuna in ihrem Werk fortfahren soll oder ob sie wieder dorthin zurückkehren soll, wo sie sonst ihr Rad kreisen und sausen ließ.“424 Dieser Aufforderung nachkommend ringt sich Jupiter zu dem salomonischen Urteil durch, es sei bei rechter Betrachtung doch eigentlich ein Nullsummenspiel, ob Fortuna nach ihrem ursprünglichen, dem Menschen uneinsichtigen und theoretisch unzugänglichen Gutdünken verfahre oder ob sie die Menschen nach ihrem jeweiligen Verdienste und gemäß dem Prinzip suum cuique belohne oder bestrafe. Dies habe das Geschehen der letzten Stunde zu Genüge gezeigt; „anständige Menschen sind zu Spitzbuben geworden und Spitzbuben zu anständigen Menschen“425 , dies sei zuzugeben; allein die Spitzbuben seien auch im Verlauf der letzten Stunde nicht weniger, und die Anständigen nicht zahlreicher geworden. Überhaupt sei das, was offenkundig ein Nullsummenspiel ist, insofern sekundär, da er, Jupiter, doch ohnehin in jedem Falle der Fortuna – wie auch immer diese verfahre – „unsere unfehlbare Vorsehung wie unser göttliches Vorwissen“426 assistierend zur Seite stelle. Diese Botschaft vernehmend und zudem Jupiters ausdrückliche Aufforderung an sie, wieder in „die alten Geleise“ zurückzufahren und demgemäß Glück und Unglück nach ihrem Gutdünken zu verteilen, verwirrte Fortuna seit dieser singulären hora de todos, so spinnt Quevedo den Faden seiner Schilderung schließlich weiter, „höchlich erfreut durch die Worte Jupiters, […] wieder die Welt, haspelte Abgehaspeltes wieder auf und balancierte die Kugel in den ebenen Lüften aus wie einer, der auf dem Eise dahingleitet;

424 425 426

Ebd., S. 289. Ebd., S. 289. Ebd., S. 289 f.

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dann sauste sie fort, bis sie auf der Erde ankam.“427 Und so endet Quevedos Erzählung von der hora de todos. 428 So wie schon Gracián die Fortuna, wenn auch nicht durchgängig, als „hija de la Providencia“ bezeichnet, ohne freilich zu klären, wie sich diese gleichsam boethianische Sichtweise mit den grundsätzlichen Intentionen seiner moralistischen Maximen verträgt, so fasst auch Quevedo ganz offensichtlich die Fortuna in letzter Instanz als Werkzeug und Medium der göttlichen Vorsehung, in diesem Fall: als Werkzeug und Medium Jupiters auf. In diesem Sinne ist Quevedos Auffassung der Fortuna eindeutiger als diejenige Graciáns. Auch hinterlässt Quevedos La Fortuna con seso y la hora de todos hinsichtlich der Frage nach dem menschlichen Umgang mit der Fortuna keine oder zumindest eine im Vergleich mit der von Gracián anempfohlenen Fortunabewältigungspraxis nur geringe Ambivalenz. Weil und insofern die Fortuna der göttlichen Vorsehung folgt, muss der Mensch gar nicht eine ihm vermeintlich feindlich gesinnte, autarke Fortuna durch sein Handeln zu beeinflussen suchen und soll dies auch gar nicht tun. Getragen von der Einsicht in die göttliche Lenkung aller nur vermeintlich zufällig erscheinenden Vorgänge und Widerfahrnisse scheint Quevedos Satire vielmehr das Ideal einer providentiell abgestützten constantia vorzuschweben. In dieser Hinsicht erinnert Quevedos Fortunabewältigungspraxis stärker an die constantia-Traktate des Neostoizismus als an Marlowes in hypertropher Weise exaltierte oder als an Graciáns immer auch durch eine konkurrierende Auffassung relativierte oder auch als an – zumindest gemäß einer bestimmten Interpretation – Shakespeares Vorstellung einer durch eigenes Handeln – welchen konkreten Regeln dieses Handeln auch immer Folge leisten mag – zu beeinflussenden und autarken Fortuna. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, sondern nur naheliegend, dass Quevedo, von Ettinghausen als der neostoizistischen Bewegung „most powerful spokesman in Spain and as one of its most dedicated adherents anywhere in Europe“429 bezeichnet, jenes am Schluss des sechsten Abschnitts dieses Kapitels erwähnte Selbstverständnis von Du Vair und Lipsius teilt, wonach der frühneuzeitliche Neostoizismus Christentum und antike Stoa theoretisch versöhnt habe.430 (9) Der zwangsläufig summarisch verfahrende Versuch, die Ideengeschichte der Fortuna und des im Zeitalter der Renaissance formulierten Topos virtù vince fortuna über die Zeit der Renaissance hinaus bis an die Schwelle der Sattelzeit zu verfolgen, die letzte Blüte 427 428

429 430

Ebd., S. 290. Ettinghausens Bemerkung, Jupiter ziehe aus dem Geschehen der hora de todos die Folgerung, „that Fortune’s alleged capriciousness is perfectly just“, ist zumindest zweideutig. Jupiter behauptet doch vielmehr, dass Fortunas Willkürlichkeit nicht ungerechter sei als eine Verteilung gemäß Tugend und Verdienst, dies nicht zuletzt deshalb, weil sie seiner, mithin göttlicher Lenkung subordiniert sei. Henry Ettinghausen, Francisco de Quevedo and the Neostoic Movement, Oxford 1972, S. 127. Ebd., S. 25. Ettinghausen schreibt diesbezüglich: „For Quevedo […] the truth of philosophy and the truth of Christianity are by no means necessarily incompatible: it is the business of the Christian philosopher to reconcile with Christianity the achievements of the greatest possible philosophers of Antiquity.“ Vergleiche hierzu ebd., S. 122.

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frühneuzeitlicher Fortunathematisierung vor ihrem endgültigen Hinschied zu charakterisieren, stieß bislang auf drei Phänomene im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Dabei wurden der Diskussion der Fortunathematisierung im „Herbst der Renaissance“ (Bouwsma) ausführliche Bemühungen einer politik-, religions-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Kontextualisierung vorangestellt, die zum Ziel hatten, sowohl die Gründe für die letzte Blüte frühneuzeitlicher Fortunathematisierung an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert als auch im Umkehrschluss Gründe für den mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzenden Prozess des endgültigen Ablebens der Fortuna zu ermitteln. Fortuna begegnete uns in diesem Kapitel im Denken des französischen und holländischen Neostoizismus ebenso wie in der dramatischen Literatur des elisabethanischen Zeitalters wie auch in der spanischen Literatur des siglo de oro. Dabei zeigte sich eine unauflösbare Ambivalenz: Die Fortuna wurde sowohl im Sinne der klassischrömischen Vorstellung als autarke Instanz als auch im Sinne des Boethius als Tochter der göttlichen Vorsehung begriffen. Ja, Boethius’ Modell einer Einbettung der Fortuna in die göttliche Vorsehung radikalisierend, konnte es sogar, wie wir am Beispiel des Neostoizismus sahen, zu einem Fortunadiskurs à contrecœur kommen. Entsprechend uneinheitlich lauteten seinerzeit auch die Empfehlungen, welcher Umgang mit der Fortuna für das alltägliche Leben zu empfehlen sei. Ja, diese Uneinheitlichkeit und Ambivalenz machte sich mitunter selbst bei einem einzelnen Autor und anlässlich der Inkohärenz der von ihm anempfohlenen Rezepte einer Fortunabewältigungspraxis bemerkbar. Grundsätzlich reichte das Spektrum der im Herbst der Renaissance formulierten Empfehlungen von der Formulierung stoischer constantia-Ideale, die wiederum im paganen Sinne der antiken Stoa als Vermeidung der Fortuna und als passives Erdulden des Unverständlichen oder in einem christlichen Sinne als Einwilligung in die unerforschlichen Taten einer als Medium der göttlichen Providenz fungierenden Fortuna verstanden werden konnten, über das Ideal eines klugen und vorausblickenden Handelns, die vorsichtige und ausgewogene Behauptung der stets möglichen Beeinflussbar- und Verfügbarkeit der Fortuna qua situationsbezogener praktischer Intelligenz, auch wenn diese Lösung nicht einer endgültigen und auf Dauer zu stellenden Eliminierung der Fortuna gleichgesetzt wurde, bis zu dem entfesselten Pathos menschlicher Willensstärke und unbegrenzten Heldenmuts, welches beweist, dass der Topos virtù vince fortuna trotz seiner allgemeinen Krise spätestens seit dem frühen 16. Jahrhundert die Zeit der Renaissance mitunter sogar überdauern konnte, wenn er auch in der Post-Renaissance ganz sicher nicht mehr jene dominante Rolle spielen konnte wie in der Zeit des quattrocento. Wie fügt sich nun die Literatur und das Denken des Barock in das skizzierte frühneuzeitliche Spektrum von theoretischen Möglichkeiten, die Fortuna und den menschlichen Umgang mit ihr zu thematisieren, ein? Zeichnet das Barock eine erneut radikalisierte Skepsis bezüglich der Möglichkeiten der Beeinflussbarkeit oder Verfügbarkeit der Fortuna aus, oder haucht das Barock gar dem Topos virtù vince fortuna wieder und nun zum letzten Mal in der Frühen Neuzeit neues Leben ein? Zeigt sich das Barock von der boethianichen Lösung einer Einbettung der Fortuna in providentia fasziniert, oder begreift es die Fortuna als autarke Instanz? Oder trifft gar beides zu, spiegelt auch das Phänomen des Barock ebenjene Ambivalenz wider, welche sich für die frühneuzeitliche Fortunathematisierung schon insgesamt als konstitutiv erwiesen hatte? Um diese Fragen zu beantworten, konzentriere ich mich im Folgenden – bis auf eine einzige Ausnahme,

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die den Gang der Argumentation aber auch in keiner Weise wesentlich beeinflusst – auf den deutschen Sprachraum. Ich verweise ferner auf Autoren, für die sich zweifellos eine Etikettierung als Vertreter und Autoren des Barock eingebürgert hat, und umgehe somit jede Diskussion über das Wesen das Barock, seine Dauer und seine unterschiedlichen nationalen Ausprägungen. Die Konzentration auf die Literatur des deutschen Barock scheint mir hinsichtlich meiner Fragestellung schon ergiebig genug, mögen andere das Wesen oder den Kern des Barock in Rubens’ oder Velázquez’ Gemälden, in Berninis Architektur oder seiner Verzückung der Heiligen Teresa, in der römischen Kirche Il Gesù oder in der Münchner Asamkirche, in Monteverdis Opern oder in Heinrich Schütz’ religiöser Musik finden. Diverse Kommentatoren und Interpreten haben die zentrale Rolle der Fortuna für die Zeit des Barock und vor allem für die deutschsprachige Literatur dieser Zeit immer wieder prononciert: Lapidar etwa leitet Leonard Forster seine Untersuchung über The Temper of Seventeenth Century German Literature mit der Bemerkung ein: „In the seventeenth century fortune was a power to be reckoned with.“431 Harald Burger gelangt in seiner Untersuchung über das Stück Belisarius des dem Jesuitenorden angehörenden Dramatikers Jakob Bidermann zu dem apodiktischen Urteil: „Fortuna ist – für Renaissance und Barock – die Macht, deren Lenkung alles Geschichtliche unterworfen ist. Und Fortuna ist es, die im ‚Belisarius‘ ein exemplum, ein specimen ihrer Macht geben will.“432 Leo Farwick schreibt in seiner Studie über die Rolle Fortunas im höfischen Roman des Barock: „Die Auseinandersetzung mit der Fortuna, d. h. mit der Welt in ihrer werdemäßigen Form, die nicht mit einer einmaligen Entscheidung oder Erkenntnis abgetan werden kann, sondern einen immer wieder erneuten Einsatz fordert, ist dem beginnenden Barock als Aufgabe gestellt. Diese Aufgabe bestimmt zutiefst seine Struktur, seinen Menschentyp und seine Weltanschauung.“433 Gottfried Kirchner gelangt zu dem Urteil, Fortuna beherrsche „wie kein anderer Bewohner des heidnischen Pantheons den barocken Vorstellungskreis“434 . Lothar Pikulik kontrastiert das romantische ennui angesichts einer immerwährenden und ewiggleichen „Normalität“ mit einem barocken Lebensgefühl, welches das „Anormale nicht für das Ausgefallene, sondern angesichts des Waltens der Göttin Fortuna für das Allgemeinübliche hielt.“435 Bestätigung finden derartige Deutungsversuche, unabhängig von der Frage, welchen Themen die Literatur des Barock in welcher Weise mit Hilfe der Figur und des Begriffs der Fortuna symbolhaften Ausdruck zu geben versucht, durch die Tatsache, dass die For431 432

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Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 5. Harald Burger, Jakob Bidermanns ‚Belisarius‘. Edition und Versuch einer Deutung, Berlin 1966, S. 171. P. L. Leo Farwick, Die Auseinandersetzung mit der Fortuna im höfischen Barockroman, Lengerich 1941, S. 15. Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, a.a.O., S. 102. Lothar Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs, Frankfurt am Main 1979, S. 98.

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tuna namentlich immer wieder von einzelnen Autoren erwähnt wird. Ausdrücklich etwa geht der Barocklyriker und Opitzschüler Paul Fleming auf die Fortuna in der folgenden Passage ein: …ich will auffs Ende sehen und immer stille seyn / wenn das Verhängnüß schilt / Fortuna wüte fort / verfolge wie du wilt. Es eilet jedes Ding zu seinem Ziel und Ende / und läufft der Eitelkeitt doch letztlich in die Hände.436 Auch in Justus Georg Schottels 1648 gedrucktem FreudenSpiel genandt FriedensSieg tritt die Fortuna höchstpersönlich auf und erklärt schon im ersten Akt: Krieg und Friede besteht in meiner Macht: Wolfart und Wolstand / Verderben und untergang stehet alles schlechter dinge bey mir.437 In der 1621 erstmals erschienenen Argenis von John Barclay – später von Opitz ins Deutsche übersetzt – findet sich eine „Beschreibung des Tantzes der Fortune“438 . Freilich, Flemings direkte Nennung und Zitierung der Fortuna, ihr theatralischer Auftritt bei Schottel, Barclays Bezugnahme auf die Fortuna, sie finden sich im Zeitalter des Barock expressis verbis ungleich seltener als Referenzen auf das „Glück“, den „Zufall“ oder das „Verhängnis“. Adolf von Haugwitz etwa spricht in Schuldige Unschuld oder Maria Stuarda von des „Glückes Spiel“ und seinen dramatischen Folgen für die menschliche Existenz: Doch kennen wir vorlängst des wanklen Glückes Spiel, Das oft ein enges Nu, das oft ein Augenwinken Hat zwischen Cron und Strang und zwischen Stehn und Sinken.439 In diesem Sinne erwähnt auch der schlesische Dichter Christian Hofmann von Hofmannswaldau in seinem Klagelied über das unbeständige Gelück zwar nicht die Fortuna, wohl aber den „Zufall“ und das „Verhängnis“ als begriffliche Abkürzungen für jene im Grunde nur schwer zu fassende, jedenfalls unvorhersehbare und folgenreich in das Leben einfallende Instanz:

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Paul Fleming, Teütsche Poemata, Lübeck 1642, S. 232. Hier zitiert nach Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, a.a.O., S. 44. Justus Georg Schottel, Neu erfundenes FreudenSpiel genandt FriedensSieg, Wolfenbüttel 1648, S. 3. Hier zitiert nach Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, a.a.O., S. 53. John Barclay, Argenis. Deutsch gemacht durch Martin Opitzen mit schönen Kupffer-Figuren nach dem Französischen Exemplar, Breslau 1626, S. 590. Hier erwähnt nach Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 194. Adolf von Haugwitz, Schuldige Unschuld oder Maria Stuarda, Dresden 1683, S. 24. Hier zitiert nach Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 14.

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V  : Z I  T Ich bin ein Ball, den das Verhängnis schläget; Des Zufalls Spiel; ein Schertz der Zeit; Des Kummers Zweck, ein Rohr durch Angst beweget; Ein Zeughaus voller Angst und Leid.440

Von Hofmann von Hofmannswaldau ist uns auch folgende Beschreibung eines Emblems überliefert: „So lange wir auff der Welt sind / stehen wir auff der Kugel der Wandelbahrigkeit / und können nicht einen Augenblick versichern / dass wir auf dem Orthe / da wir ietzo stehen / können stehen bleiben.“441 Die Erwähnung einer Kugel in diesem Zusammenhang und damit eines der drei klassischen ikonologischen Attribute, die der Fortuna seit ihren römischen Tagen zugeordnet waren, verdeutlicht, dass die Autoren des deutschen Barock, sprechen sie von „Wandelbahrigkeit“, „Zufall“, „Glück“, „Verhängnis“ oder eben in diesem Zusammenhang auch von „Fortuna“, vom Erbe der römischen Fortuna noch stets zehren. Im zweiten Reyhen von Andreas Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius schließlich, dem „Reyhen der Höflinge“, erblickt Schings „das bedeutendste Zeugnis einer Fortunagläubigkeit“442 in der Literatur des Barock. Auch Vosskamp sieht in den im Folgenden zitierten, den beiden ersten Strophen dieses Reyhens „ein Musterbeispiel dafür, wie weit auch bei Gryphius die Fortuna-Gesetzlichkeit ihre Macht behaupten kann“443 : O du wechsel, aller dinge Immerwehrend’ eitelheit / Laufft denn in der zeiten ringe Nichts alß unbestendigkeit / Gilt denn nichts / alß fall und stehen Nichts denn Cron und Henckerstrang / Ist denn zwischen tief und höhen Kaum ein Sonnen untergang?444 Dergleichen Belegstellen, wonach die Begriffe „Fortuna“, „Glück“, „Verhängnis“ oder „Zufall“ und also die entsprechende „Fortunagläubigkeit“ (Schings) oder Einsicht in die „Fortuna-Gesetzlichkeit“ (Vosskamp) für die Dichter und Autoren des deutschen Barock von herausragender Bedeutung sind, ließen sich beliebig vervielfachen. Aber 440 441

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Zitiert nach Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 11. Christian Hofmann von Hofmannswaldau, Deutsche Rede=Übungen…Nebst beygefügten Lob=Schriften vornehmer Standes Personen / entworffen von Christian Gryphio, Leipzig 1702, S. 110. Hier zitiert nach Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, a.a.O., S. 99. Hans-Jürgen Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen, a.a.O., S. 188 f. Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 138. Andreas Gryphius, LEO ARMENIUS, in: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band V: Trauerspiele II, herausgegeben von Marian Szyrocki und Hugh Powell, Tübingen 1965, S. 46 f. Hier zitiert nach Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 138.

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nicht um eine antiquarisch motivierte Sammlung von Belegstellen ist es mir an dieser Stelle zu tun, sondern um die systematische Frage, wie sich die Fortuna des Barock in das Spektrum der bislang skizzierten Rekonstruktion der bunten Vielfalt frühneuzeitlicher Formen der Fortunathematisierung einordnen lässt und sich dabei zu ihren Vorgängerinnen, also etwa zu der Fortuna der römischen Antike, der Spätantike oder der frühen wie späten Renaissance oder auch zu ihren zeitgenössischen Pendants verhält, also etwa zu der Fortuna des Neostoizismus, der spanischen Literatur des siglo de oro, der dramatischen Literatur des elisabethanischen Zeitalters? Was meinen die genannten Autoren des Barock, wenn sie die Fortuna direkt ansprechen oder auf der Bühne erscheinen lassen oder von „Glück“, „Verhängnis“ und „Zufall“ sprechen? Der folgende Versuch, diese Frage zu beantworten, geht grundsätzlich zunächst einmal von der Prämisse aus, dass die Menschen des 17. Jahrhunderts, zumal während des Dreißigjährigen Krieges, stets zwischen Fortunagläubigkeit und Gottvertrauen schwankten, in dieser Spannung stets mehr einer der beiden Seite zuneigten, ohne dabei aber die andere zu verlieren, und dass sich diese Ambivalenz in der Fortunathematisierung des Barock widerspiegelt: „Irdische Scheinhaftigkeit, die vanitas, und himmlisch heilige Wahrheit: beides wird vom Barock mit gleicher Liebe umfasst und, in tragischer oder komischer Spannung und Beleuchtung, in Wechsel oder Wandlung oder Nebeneinander gestaltet.“445 Paul Hankamer vermerkt über den Herkulesroman des protestantischen Geistlichen Andreas Heinrich Buchholz und dessen spätere Fortsetzung, den Herculiskus: „Die ‚Fortuna-Welt‘ erhält im deutschen Roman ihre erste Ausprägung durch einen Theologen und aus einem Lebensgefühl, das im Luthertum seine Wurzel hat, in der ‚Welt‘ keine von menschlicher Vernunft einzusehende Ordnung weiß und sich der besonderen Fügung Gottes vertrauend ausliefert. Die Welt als abenteuerlich und das menschliche Leben als Abenteuer, aber unter Gottes schützendem Geleit, so stellt Buchholz das menschliche Dasein dar“446 . Dementsprechend wurde die Fortuna im Barock entweder als autarke Instanz aufgefasst oder als in die göttliche Vorsehung eingebettet gedacht, artikuliert sich mithin in der barocken Thematisierung der Fortuna exakt jene Ambivalenz der Fortunathematisierung in der Frühen Neuzeit, auf die wir in den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels unaufhörlich gestoßen waren. Gegenüber einer als autark konzipierten Instanz konnte nun wiederum einerseits in Anknüpfung an das antik-stoische Ideal der constantia447 eine 445

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Fritz Strich, „Der europäische Barock“(1943), in: Der Dichter und seine Zeit. Eine Sammlung von Reden und Vorträgen, a.a.O., S. 83. Paul Hankamer, Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1935, S. 418. Diese Variante barocker Fortunabewältigungspraxis hat Werner Welzig vor allem für Opitz und Harsdörffer betont. Das pagan-stoische constantia-Ideal lebt im Barock demnach wieder auf: „Was außen ist, was niemand halten kann, das soll man fliehen. Im Herzen liegt, was keinem genommen wird. Nur von außen kann das Unglück dem beständigen Menschen etwas anhaben. Innen und außen werden so zu zwei völlig getrennten Bereichen, zwischen denen es keine Wechselwirkung gibt. Ja, es ist die Pflicht des Menschen, sein Inneres so völlig von der Welt abzuschließen, dass ihm das Schicksal zwar wie dem Odysseus Gefährten und Gut und seine eigenen Kleider rauben

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Fortunavermeidung, ein Rückzug in die uneinnehmbare Festung der subjektiven Innerlichkeit, oder andererseits auch direkt eine Beeinflussung der Fortuna durch nüchterne und antizipierende Kalkulation und Klugheit als angemessene Form des Umgangs mit der Fortuna anempfohlen werden. Eine im Auftrage Gottes handelnde Fortuna wiederum wurde im Barock – und dies markiert nun einen auffallenden Unterschied zu dem doch ebenfalls dem Gedanken einer umfassenden göttlichen Providenz verpflichteten Neostoizismus und seinem Ideal einer das elende Diesseits mannhaft erduldenden constantia – als Stimulans für die Hinwendung zu einer das fortunadurchtränkte Diesseits transzendierenden Sphäre verstanden. Diese barocke Variabilität hinsichtlich der anempfohlenen Fortunabewältigungspraxis ergibt sich, wie könnte es anders sein, in konsequenter Weise aus der genannten grundsätzlichen Differenz hinsichtlich der Auffassung der Rolle, der Relevanz und des Status der Fortuna. Vosskamp bringt dies sehr treffend auf den Punkt: „Die Fortuna-Gestalt als Verkörperung der zeitlichen Wechselhaftigkeit und Wandelbarkeit allen Geschehens erfüllt jeweils verschiedene Funktionen, je nachdem ob ihre Macht als unabhängig und weitgehend allmächtig oder als untergeordnet und dienstbar bestimmt wird.“448 Vosskamp zufolge lässt sich die für die barocke Fortunathematisierung konstitutive Dichotomie – sowohl hinsichtlich der theoretischen Auffassung der Fortuna als auch bezüglich der anempfohlenen Fortunabewältigungspraxis – beispielhaft illustrieren anhand des Gegensatzes von Lohensteins und Gryphius’ Zeit- und Geschichtsauffassung: Betrachten wir zunächst allein die Auffassung der Fortuna. Für die Schriften des Daniel Caspar von Lohenstein und die darin anzutreffende Auffassung der Fortuna ist laut Vosskamp ein schwindendes Vertrauen in eine die Geschicke der Fortuna dirigierende, göttliche Vorsehung bestimmend: „Die Einwirkung einer göttlich-sinnvollen Lenkung wird immer weniger spürbar, statt dessen bestimmen unfassbare Schicksalsmächte die Geschichte, unter denen die Fortuna die Führung übernehmen kann: das Verhängnis trägt dann alle Merkmale und Kennzeichen dieser Glücksgöttin.“449 Insofern wird die Fortuna von Lohenstein als autark gedacht: „Die den ständigen ‚Glückswechsel‘ in der Zeit bewirkende Fortuna steht nicht im Dienst irgendeiner über sie gebietenden Macht – sondern sie treibt ihr

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kann, ohne seinem Herzen etwas anzuhaben.“ Und an anderer Stelle schreibt Welzig: „Die stoische Ethik feiert gerade im christlich-barocken Trauerspiel ihre Auferstehung, weil es diesem, obwohl es seiner Thematik nach auf dem Boden des Christentums steht, nur an der Haltung und mit den Worten des Stoikers gelingt, die Stellung des Christen in der ihn umgebenden bösen Welt darzustellen.“ Werner Welzig, „Constantia und barocke Beständigkeit“, in: a.a.O., S. 431 bzw. 429. Vergleiche zu Senecas Eloge auf die Tugend der constantia als entscheidende menschliche „Waffe“ gegen die Tücken der Fortuna Neal Wood, „Some Common Aspects of the Thought of Seneca and Machiavelli“, in: Renaissance Quarterly 21 (1968), S. 11–23. Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 135. Ebd., S. 130.

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Wesen und Unwesen ohne jeden Plan, ohne Kausalität und Finalität. Weder vermag sie als nur den tödlichen Untergang bewirkendes schicksalshaftes Prinzip verstanden zu werden, noch als zielgerichtete Wirkkraft einer universalgeschichtlichen Sehweise. Nur ‚Unbeständigkeit‘ und ‚Glückswechsel‘ scheinen ihre bestimmbaren Merkmale; diese jedoch gelten für jede geschichtlich-politische Zeit, die Lohenstein im Drama und im Roman gestaltet.“450 Eine gänzlich andere Auffassung der Fortuna hingegen findet sich bei Gryphius. Gryphius betrachtet die Fortuna ganz im Sinne der von Boethius inaugurierten und, wie wir sahen, über die Scholastik und die frühe Renaissance bis zu Graciáns Rede von der Fortuna als „hija de la Providencia“ fortgeführten Tradition: „Die Fortuna gilt als Werkzeug, dessen Gott sich bedient, um den Menschen die Unbeständigkeit allen zeitlichen Geschehens und die Verderblichkeit des Irdischen vor Augen zu führen, in der Absicht, ihn damit zur Hinwendung zum Ewigen zu veranlassen.“451 Notabene: Gryphius bettet die Fortuna in die göttliche Vorsehung ein, aber er leugnet nicht ihre Existenz. Seine Auffassung der Fortuna als Werkzeug der göttlichen Providenz ist insofern nicht mit jener annihilatio fortunae zu verwechseln, wie sie Augustinus und auch die patristische Tradition im Zuge ihrer Kritik des römischen Polytheismus entwickeln und wie sie sich noch in den neostoizistischen Schriften eines Du Vair oder eines Lipsius in der spezifischen Form eines Fortunadiskurses à contrecœur artikuliert findet. Dem oben zitierten „Reyhen der Höflinge“ aus Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius ließ sich ja zu Genüge entnehmen, dass selbst ein sich dezidiert als christlich verstehendes Denken, wie dasjenige von Gryphius, im Zeitalter des Barock noch im Banne der Fortuna steht. Am factum brutum von „immerwehrend’ Eithelheit“ und „Unbestendigkeit“ ist für Gryphius nicht zu zweifeln.452 Für Gryphius’ Verpflichtung gegenüber dem boethianischen Erbe einer Auffassung der Fortuna als ancilla Dei gibt es in der Literatur des Barock zahlreiche Parallelen: So wie bei Gryphius ist auch in Bidermanns Belisarius die Fortuna der providentia Dei unterstellt: „Fortuna ist zwar die Herrin der menschlichen Geschicke, aber alles was sie tut, vollbringt sie im Auftrag der Providentia.“453 Auch in Barclays bereits erwähnter Argenis tritt die Fortuna „als das irdische Gesicht der allwissenden und allmächtigen Vorsehung“454 auf, wie Max Wehrli umschreibt. An den beiden Romanen des Herzogs 450 451 452

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Ebd., S. 191. Ebd., S. 137. In dieser Hinsicht erscheint mir die Bemerkung von Friedrich Gundolf zutreffend: „Gryphius litt an der Welt als irdischer Mensch und war dabei frommer Christ […] Das Leiden hatte für ihn eine ganz irdische Wirklichkeit und ließ sich nicht durch bloßes Wissen vom Himmelsreich beseitigen […].“ Friedrich Gundolf, Andreas Gryphius, Heidelberg 1927, S. 9. Harald Burger, Jakob Bidermanns ‚Belisarius‘. Edition und Versuch einer Deutung, a.a.O., S. 142. In Bidermanns Belisarius beschreibt sich die Fortuna in einem ihrer zahllosen Auftritte so: „Sed servio uni & subsum Providentiae…“ Zitiert nach ebd., S. 11. Max Wehrli, Das barocke Geschichtsbild in Lohensteins Arminius, a.a.O., S. 24. Zu der grundsätzlichen Auffassung von „Fortuna“, „Glück“, „Verhängnis“ und göttlicher „Vorsehung“ und den

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Anton Ulrich von Braunschweig lässt sich laut Leo Farwick die barocke Einbettung der Fortuna in die göttliche Vorsehung ebenfalls illustrieren. Im Octavia-Roman heißt es: „Mein unglück darf ich nicht so nennen / weilen der himmel mir solches geschicket.“455 Der bereits oben erwähnte Paul Fleming schreibt: Wer sich in sein Glücke schicket Der thut was Gott selbsten will.456 Georg Philipp Harsdörffer formuliert in barocker Sprache so: Was andere Glükk nennen / heissen die Frommen den Willen GOTTES / welchem man sich / mit vielen undienlichen Klagen / nicht widersetzen sol.457 Die Differenzen zwischen jener offenkundig einem boethianischen Erbe verpflichteten Version barocker Fortunathematisierung, zwischen der Auffassung der Fortuna als einer im Auftrage Gottes handelnden Instanz, für welche exemplarisch Gryphius steht, und jener seit der römischen Antike ideengeschichtlich perpetuierten Auffassung der Fortuna als einer autarken und neutralen Instanz, welche im Zeitalter des Barock durch Lohensteins Fortunabild repräsentiert wird, spiegeln sich übrigens auch in unterschiedlichen Deutungen des Begriffs des „Verhängnisses“ wider. Denn auch das Verhängnis im Sinne von fatum kann in der Literatur des Barock entweder als im Willen Gottes verankert gedacht werden, in diesem Sinne begegnete uns das fatum im Neostoizismus, oder aber im antik-stoischen Sinne als eine von Gott losgelöste und autarke Macht dargestellt werden: „In einem umfassenden, einheitlich zweck- und zielbestimmten Geschehenszusammenhang, dessen Urheber und Lenker Gott ist, vermag das Schicksal nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Vor allem die christliche Theologie lehnt

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zwischen ihnen obwaltenden theoretischen Beziehungen, wie sie sich in Barclays Argenis finden, vergleiche zudem das überaus lebenswerte Kapitel „Der Kampf gegen die historische Fortuna in der Argenis“ in Farwicks genannter Studie. Vergleiche hierzu P. L. Leo Farwick, Die Auseinandersetzung mit der Fortuna im höfischen Barock-Roman, a.a.O., S. 35–56. Anton Ulrich von Braunschweig, Die Römische Octavia, Nürnberg 1711, S. 581. Hier zitiert nach P. L. Leo Farwick, Die Auseinandersetzung mit der Fortuna im höfischen Barock-Roman, a.a.O., S. 58. Farwick kommentiert: „Es geht in Anton Ulrichs Romanen mehr als bisher um eine bewusst erstrebte, theoretisch wie praktisch ausgeglichene Einordnung der Mächte des Geschehens in das überlieferte christliche Weltbild. Das Glück ist von vornherein als eine Tatsache des Vordergrundes erfasst, der keine selbstständige Gültigkeit zukommt. Es ist nur vorläufiges Objekt der Erkenntnis, das seinem Wesen nach auf tieferliegende Wirklichkeiten verweist, aus denen es aufsteigt und von denen her es verstanden werden muß. […] Die Phänomene des Fortunabereichs sind nichts anderes als Schickungen oder Zulassungen des ‚himmels‘, der das Geschehen geheimnisvoll lenkt. […] Die beängstigende Gestalt der Fortuna ist in das Göttliche hineingenommen und nur von ihm her zu verstehen. Ihre scheinbare Unsinnigkeit wird durch die überragende Sinnträchtigkeit der Anordnungen des ‚himmels‘ gerechtfertigt.“ Ebd., S. 60 bzw. 62. Paul Fleming, Teütsche Poemata, a.a.O., S. 374. Zitiert nach Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, a.a.O., S. 117. Zitiert nach ebd., S. 117.

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deshalb die Vorstellung des antiken Fatum entschieden ab und betont demgegenüber die Allmacht der göttlichen Weltregierung im Sinne der ‚providentia dei‘. […] Demgegenüber ist die ursprüngliche, antike Auffassung des Fatum dadurch charakterisiert, dass sie keine übergeordnete Macht kennt, die in der Lage wäre, alle unberechenbaren Mächte sinn- und planvoll einem zweckbestimmten Geschehenszusammenhang einzuordnen; vielmehr behauptet das Schicksal in allem Geschehen seine unheimlich wirkende Selbständigkeit.“458 Diese Debatten sind uns natürlich aus der Diskussion des Fatumbegriffs in Lipsius’ De constantia und besonders anlässlich der dort von Lipsius entwickelten Differenzierung von stoischer und christlicher Auffassung des fatum hinlänglich bekannt. Inwiefern prägen sie nun aber auch das Barock? Lohenstein etabliert sowohl die Fortuna als auch das fatum als unabhängige Wirkkräfte. Fatum und Fortuna „sind die Faktoren der Geschichtszeit, die sowohl in den Dramen als im ARMINIUS-Roman die Unbeständigkeit und Willkür der Zeit bei Lohenstein prinzipiell bedingen.“459 Gryphius hingegen bettet sowohl fatum als auch Fortuna in die providentia Dei ein. Weder Zufall noch Schicksal walten über dem diesseitigen Geschehen, „sondern die Allmacht eines einheitlichen Gottes, dessen Willen für den menschlichen Betrachter zwar nicht in allen geschichtlichen Verwirrungen zu erschließen ist, an dessen sinnvoller Zweckmäßigkeit aber nicht ernstlich gezweifelt wird.“460 Bei Paul Fleming heißt es ganz in diesem Sinne: Hat er es denn beschlossen, so will ich unverdrossen an mein Verhängnis gehen. Kein Unfall unter allen wird je zu hart mir fallen; Mit Gott will ich ihn überstehen461 Gryphius’ und Lohensteins theoretische Differenzen hinsichtlich der Auffassung von Fortuna und fatum, diese Differenzen spiegeln sich konsequent auch in den von Gryphius und Lohenstein anempfohlenen Formen der Fortunabewältigungspraxis wider: Lohenstein lässt in seinem Arminius-Roman angesichts einer zwar autarken, aber eben 458

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Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 126. Ebd., S. 172. Ebd., S. 127. Gerhard Ebeling verweist in seiner Dogmatik auf ebendiese Passage aus Flemings In allen meinen Taten und schließt daran folgende Interpretation: „Deshalb ist auch das, was das Wort Schicksal an Erfahrung enthält, dem Glaubenden nicht fremd: das unwiderstehbar sich vollziehende Geschehen, in das man sich in seiner Ohnmacht nur fügen kann. Aber das Wort Hiobs ‚Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt‘ (1,21) zeigt: Ebenso wie der Zufall nimmt der Schicksalsschlag ein völlig anderes Aussehen an je nachdem, ob mich darin das starre und erstarren machende Antlitz der Sphinx anschaut oder das lebensspendende und trotz allem zum Lob ermutigende Angesicht des Vaters Jesu Christi.“ Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Band I, Tübingen 1979, S. 329 f. Vergleiche hierzu Anmerkung 82 auf S. 692 im letzten Kapitel dieser Arbeit.

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durchaus auch beeinflussbaren oder verfügbaren Fortuna die Möglichkeit offen, die Fortuna durch eine wie auch immer zu bestimmende Form des Verhaltens zu beeinflussen. An die Adresse der Fortuna gerichtete Vorwürfe über ihren „Unbestand“ verfangen nicht. Denn, so antwortet die Fortuna bei Lohenstein: Was will man denn mit meinem Ändern zürnen. Wer nur zu rechter Zeit mir reicht die rechte Hand / Die Sitten nicht verkehrt / den drückt kein Unbestand.462 Dem Menschen steht, verhält er sich nur angemessen, eine bestimmte und zwar bereits im Diesseits anzuwendende wie sich diesseitig auswirkende Remedur gegen die Unbilden der Fortuna durchaus zur Verfügung. Durch „beobachtende Einsicht und ‚vernünftiges‘ Handeln“463 , so umschreibt Vosskamp, lassen sich für Lohenstein die Unbilden der Fortuna antizipieren und die Aktionen der Fortuna, wenn nicht im direkten Sinne beeinflussen, so doch immerhin domestizieren, lenken und zähmen; eine „kombinatorische Scharfsichtigkeit des Verstandes“ vermag „den Spielraum der Fortuna als ‚Unbeständigkeit‘ zu verkleinern, d.h. die Gefahr des dauernden Umsturzes und ‚Glückswechsels‘ – in bestimmten Grenzen – zu bannen.“464 Wie Lohenstein diese Empfehlung konkret denkt, zeigt exemplarisch sein Vergleich des klugen und tugendhaften Fürsten mit den Aufgaben des Gärtners: „Ihm liegt wie einem Gärtner ob / aus Erinnerung des durch Frost / oder andere Zufälle empfangenen Schadens / die Gewächse für Künftigem zu verwahren / nach Beschaffenheit gegenwertiger Jahres-Zeit / nichts zu verabsäumen zu säen / und nach Vorsehung künftiger Witterung und Zufälle / wider Misswachs und Verterb kluge Anstalt zu machen.“465 In einer anderen Passage seines Arminius schildert Lohenstein einmal den Streit der beiden allegorischen Figuren Tugend und Glück, als sie die ja seit Plutarchs Tagen einschlägig bekannte Frage, wer denn den entscheidenden Anteil an der Größe Roms habe, das „Glück“ oder die „Tugend“, erörtern.466 Das Glück im Sinne des Zufalls apostrophiert seine Übermacht zunächst mit folgendem Argument: „Ich blände der Scharffsichtigen Licht / Wenn Klugheit mir wil einen

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Daniel Caspar von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr ARMINIUS oder Herman als ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit nebst seiner durchlauchtigen Thußnelda in einer sinnreichen Staats- Liebes und Helden-Geschichte dem Vaterland zu Liebe dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge in zwei Theilen vorgestellt, II. Teil, a.a.O., S. 493. Hier zitiert nach Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 197. Ebd., S. 192. Ebd., S. 200. Daniel Caspar von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr ARMINIUS…, a.a.O., S. 755. Hier zitiert nach Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 200 f. Vergleiche hierzu meine Ausführungen im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels, Seite 177–179.

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Streich anbringen.“467 Die Allegorie der Tugend hingegen vermerkt unter anderem folgende Stärke für sich: „Mein Thun ist Nutz und Ernst / gemeines Heil mein Ziel / Das Glück ein Wetter-Hahn / sein Absehn Schertz und Spiel.“468 Die Siegesgöttin schließlich beendet die Debatte mit dem diplomatischen Schiedsspruch: Wo ich nun soll bestendig kehren ein / Altar und Tempel mir erwehlen / Muß Tugend und Gelück Geschwister seyn / Und dieses jener sich vermählen. Wo Tugend und Glück in Rom nun Hochzeit hält / Werd ich ein Leit-Stern seyn / und mein Magnet die Welt.469 Tugend ohne Fortune ist ohnmächtig. Aber einer durch Zufälle begünstigten Tugend und in diesem Sinne also doch einer eigenständigen Leistung und ihrem persönlichen Verdienst, ihnen gebührt angesichts des Unbestands der Welt stets der Siegerkranz. Versucht man dabei genauer zu bestimmen, worin für Lohenstein jene Tugend besteht, der sich Zufall und Fortune als Kompagnons anzuschließen gewillt sind, stößt man laut Vosskamp „auf zwei Begriffe, die schon in ähnlicher Kombination bei Gracián immer wieder zu finden waren: ‚Klugheit‘ und ‚Tapferkeit‘“470 , auf zwei Begriffe mithin, die schon für die römische Fortunabewältigungspraxis in Form der ciceronischen Fortunabeeinflussung qua fortitudo und der senecaischen Fortunavermeidung qua prudentia konstitutiv waren.471 So wie Vosskamp hat auch Leonard Forster auf das Lohensteins Form der Fortunabewältigungspraxis innewohnende Pathos der segensreichen Kraft nüchterner Kalkulation und Umsicht sowie auf Lohensteins geistige Verwandtschaft zu Graciáns Plädoyer für eine prudentielle Bewältigung der Fortuna hingewiesen. Für Lohenstein, so schreibt Forster, „the world is indeed dominated by Fortune, and he has no valid concept of eternity to set against it; only the mastery of self enjoined by the Stoics, and 467

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Daniel Caspar von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr ARMINIUS…, a.a.O., S. 495. Hier zitiert nach Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 203. Daniel Caspar von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr ARMINIUS…, a.a.O., S. 493. Hier zitiert nach Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 203. Daniel Caspar von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr ARMINIUS…, a.a.O., S. 508. Hier zitiert nach Wilhelm Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, a.a.O., S. 204. Ebd., S. 205. Vergleiche Vosskamps Hinweis: „Graciáns ‚politische Lebenslehre‘ spiegelt sich in mannigfachen Ausprägungen auch in der deutschen Literatur des 17. Jhs. und vor allem bei Lohenstein; der u. a. als Übersetzer des ‚El Politico Don Fernando el Catolico‘ (1640) – dies lässt sich vor allem im ARMINIUS-Roman nachweisen – zu den hervorragenden Kennern Graciáns gehört.“(ebd., S. 198) Vergleiche meine Ausführungen zu Ciceros Fortunabeeinflussung qua fortitudo und Senecas Fortunavermeidung qua prudentia im ersten Abschnitt dieses Kapitels, S. 529–539.

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V  : Z I  T the cold calculation, the constant vigilance of the trained intellect in taking advantage of the workings of Fortune, reinforced by knowledge of human nature reminiscent of Gracián.“472

Dieses Zitat enthält wie in einem Vexierbild zugleich die gänzlich anders gestimmte Form von Gryphius’ Fortunabewältigungspraxis: Wird nämlich die Fortuna nicht als eine neutrale und autarke Instanz aufgefasst, sondern als ein im Auftrag Gottes handelndes Werkzeug, dann kann die Aufforderung an jeden Einzelnen im Umgang mit dieser Instanz weder in der Lobrede einer kalt und nüchtern antizpierenden und enttäuschungsresistenten Kalkulation und insofern aktiven und direkt ansetzenden Beeinflussung der Fortuna noch in der stoischen Lehre einer Fortunavermeidung durch Rückzug in eine subjektive Innerlichkeit bestehen. Gryphius’ Rezept für den Umgang mit einer als ancilla Dei verstandenen Fortuna wendet sich aber auch gegen die neostoizistische Empfehlung, einer illusionslos betrachteten Welt mit der Tugend der constantia zu begegnen. Seine Remedur besteht vielmehr in der Aufforderung, dieser göttlichen Funktion der Fortuna einsichtig zu werden, um so eine Sphäre der Vergänglichkeit in ihrer Bedeutung zu relativieren und zu transzendieren. Noch Du Vairs und Lipsius’ neostoizstische Formen der Fortunathematisierung waren zweifelsfrei am Ideal der constantia, an einer Bewährung im Diesseits orientiert, die wiederum durchaus als eigenständiger Akt eines zu Gebote stehenden Leistungsvermögens verstanden wurde; ein theoretischer Impuls, dieses Diesseits schlechthin zugunsten einer transzendenten Sphäre zu relativieren oder doch jede Bewährung im Diesseits nicht als Verdienst, denn vielmehr als Gnade zu verstehen, war ihren Schriften nicht eigen, obwohl sie doch den Anspruch formulierten, Stoa und Christentum theoretisch versöhnt zu haben. Gryphius hingegen hält der Fortuna keine neostoizistisch begriffene constantia entgegen, sondern tatsächlich jenes „valid concept of eternity“, welches Forster zufolge den Schriften Lohensteins gerade ermangelt. Die Fortuna gilt Gryphius als Stimulans einer „Hinwendung zum Ewigen“ (Vosskamp), nicht als Stimulans für die Ausbildung der diesseitsorientierten Tugend der constantia, und eben darin besteht ihre instrumentelle Rolle im Kontext der göttlichen Vorsehung. Gryphius’ christlich-barocke Form der Fortunabewältigungspraxis im Sinne einer Transzendierung der Sphäre der Vergänglichkeit durch gläubiges Ergreifen der Ewigkeit bereits hic et nunc, bereits in der vergänglichen Zeit und angesichts jener vergänglichen Zeit, wie sie eine fortunadominierte Welt und Geschichte unhintergehbar prägt, in diesem Sinne: Gryphius’ Form einer Fortunabewältigung qua Fortunatranszendierung, welche freilich keine augustinische annihilatio fortunae beinhaltet und zu keinem neostoizistischen Fortunadiskurs à contrecœur führt, bringen wohl die folgenden Zeilen aus Gryphius Gedicht „Betrachtung der Zeit“ in unübertrefflicher Weise auf den Punkt: „Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen; Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;

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Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 26.

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Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht, So ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht.“473 Das von Lohenstein empfohlene Vertrauen auf die einem selbst zur Verfügung stehende Kraft individueller Tapferkeit und Klugheit, sei diese im Sinne einer indirekten Fortunavermeidung oder einer direkten Fortunabeeinflussung eingesetzt, kann Gryphius ebenso wenig als entscheidendes Remedium gegen den „Unbestand“ der Fortuna akzeptieren wie den neostoizistischen Aufruf zu einer eigenmächtig auszubildenden Tugend der constantia. Beide Versionen des menschlichen Umgangs mit der Fortuna müssen ihm vielmehr als sündhafte Abkehr von der einzig Heil versprechenden göttlichen Gnade erscheinen. Die Ergreifung der Ewigkeit durch das In-acht-Nehmen des Augenblicks als Ehrbezeugung gegenüber dem, „der Zeit und Ewigkeit gemacht“, gilt Gryphius als die eigentliche Bewährungsprobe, welche der gläubige Mensch auch und gerade angesichts des Wirkens der mala fortuna zu bestehen hat. Allerdings haftet jeder mala fortuna dabei für Gryphius immerhin doch insofern ein Gutes an, als er sie verstehen zu können glaubt als den bereits in der zeitlichen Sphäre der Welt der Fortuna erfolgenden Anruf zu einer Besinnung auf jene Macht, die sowohl die unerforschlichen Unbilden der Fortunawelt verwaltet als auch schließlich die Sphäre der fortunadurchtränkten Vergänglichkeit überwindet. Während also Lohensteins Form der Fortunabewältigungspraxis die autarke Fortuna durch nüchtern antizpierende und rational abwägende Kalkulation, wenn vielleicht auch nicht direkt beeinflussen, so doch immerhin indirekt domestizieren will, ist Gryphius die Fortuna ein göttlich gelenktes Werkzeug, welches nun aber nicht in neostoizistischem Sinne zu dem Erwerb einer diesseitsfixierten constantia aufruft, der wiederum als Resultat eines autonomen Leistungsvermögens verstanden kann, sondern aufruft zu einer geistigen Hinwendung auf das transzendente Ewige. Und in diesem Sinne, aber eben auch nur in diesem hinreichend präzisierten Sinne, wird bei Gryphius Fortuna durch Fortunatranszendierung bewältigt, ohne doch dabei einer augustinischen annihilatio fortunae anheim zu fallen oder in einen neostoizistischen Fortunadiskurs à contrecœur zu münden.

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Andreas Gryphius, Lyrische Gedichte, herausgegeben von Hermann Palm, Tübingen 1882, S. 389. Hier zitiert nach Leonard Forster, The Temper of Seventeenth Century German Literature, a.a.O., S. 12.

Dritter Teil: Philosophische Schlussfolgerungen

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Wie wurden, so fragten die begriffsgeschichtlichen Präzisierungen des ersten Teils dieser Arbeit, die Begriffe von Kontingenz und Zufall historisch nachweislich seit ihrem frühesten Auftreten verstanden? Welche Sphären wurden diesen Begriffen zugeteilt? Was kann es heißen, insbesondere in Bezug auf die Sphäre der menschlichen Geschichte von Kontingenz und Zufall zu sprechen? Wie und von wem und mit Hilfe welcher gedanklichen und terminologischen Konstruktionen wurden, so fragten die ideengeschichtlichen Skizzen des zweiten Teils dieser Arbeit vorrangig, die Themen und Ideen von Kontingenz und Zufall im Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und „Sattelzeit“ (Koselleck) konkretisiert, interpretiert und bewertet? Welche Relevanz wurde diesen Themen und Ideen für die menschliche Geschichte und das menschliche Leben seinerzeit zugeteilt? Welche theoretischen und praktischen Möglichkeiten schließlich, so fragt nun dieser dritte, gleichsam systematisch angelegte und sich um philosophische Schlussfolgerungen bemühende dritte Teil dieser Arbeit, welche theoretischen und praktischen Möglichkeiten offeriert die zeitgenössische Philosophie für die Bewältigung der mit den Themen, Ideen und Begriffen von Kontingenz und Zufall verbundenen und offensichtlich für das menschliche Leben zeitlos konstitutiven, weil noch jede historische Epoche zu entsprechenden theoretischen Reflexionen und praktischen Bewältigungsversuchen reizenden Herausforderungen?

VIII Ironie, Skepsis, Religion: Drei Formen von Kontingenzbewältigungspraxis und eine Erinnerung an William James

„Würden wir uns die Mühe machen, alle Gnaden und Wohltaten zusammenzuzählen, mit denen wir ausgezeichnet worden sind, würde uns ihre Zahl überwältigen (sie ist so groß, dass wir keine Zeit hätten, mit der Betrachtung der Dinge, die wir nicht haben, auch nur anzufangen). Wir summieren sie und erkennen, dass wir von der Freundlichkeit geradezu erdrückt werden; dass wir von einer Unmenge von Wohltätigkeiten umgeben sind, ohne die alles zusammenfallen würde. Sollen wir das nicht lieben, sollen wir uns nicht von ewigen Armen erhoben fühlen?“ William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung Wir registrierten bereits an einer anderen Stelle und in einem anderen Kapitel dieser Arbeit und seinerzeit im Sinne einer Profilierung des Unterschieds zu der erstaunlichen theoretischen Zögerlichkeit, mit der sich die Geschichtswissenschaften für die Frage nach Kontingenz und Zufall in der Geschichte theoretisch öffnen, die gegenwärtige Konjunktur einer sich an die Begriffe, Ideen und Themen von Kontingenz und Zufall anschließenden philosophischen Diskussion. Ebenfalls bemerkten wir, dass dabei ganz Unterschiedliches thematisiert und für ganz Unterschiedliches plädiert werden konnte.1 Wie heterogen auch immer die Thesen und Terminologien der gleichsam zeitgenössischen Philosophien der Kontingenz und des Zufalls dabei erscheinen mochten, immerhin schien dieser Befund dafür zu sprechen, dass die Gegenwartsphilosophie ein Bedürfnis empfindet, sich der Themen, Ideen und Begriffe von Kontingenz und Zufall aus einer philosophischen Perspektive anzunehmen. Diese zeitgenössischen Philosophien der Kontingenz und des Zufalls, wie man sie nennen könnte, lassen sich dabei einerseits hinsichtlich ihres genauen Verständnisses der Begriffe von Kontingenz und Zufall, hinsichtlich der unterstellten Sphären dieser Begriffe ebenso wie hinsichtlich der exakten Auffassung dessen, was es denn heißen mag, etwas als kontingent oder zufällig zu bezeichnen, unterscheiden, andererseits aber auch hinsichtlich einer Kategorie typisieren, die man vielleicht als ihre Stimmung oder Weltanschauung oder – prosaischer – als ihre praktische Antwort auf die mit den Begriffen von Kontingenz und Zufall ja nur angedeuteten und auch nur unzureichend getroffenen Rätselfragen, die noch jede historische Epoche, wie im Verlaufe dieser Arbeit zu Genüge deutlich geworden sein dürfte, zu 1

Vergleiche hierzu den Beginn des vierten Kapitels dieser Arbeit, S. 325–330.

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theoretischen Reflexionen und praktischen Bewältigungsversuchen gereizt haben, oder schließlich einfach auch als die von ihnen – um einen vielzitierten Ausdruck von Hermann Lübbe zu verwenden – vorgeschlagene Art von „Kontingenzbewältigungspraxis“ bezeichnen kann. Ich möchte am Ende dieser Arbeit, auch wenn deren inhaltlichen und quantitativen Schwerpunkt ganz eindeutig die beiden Unternehmungen begriffsgeschichtlicher Präzisierung und ideengeschichtlicher Skizzen des ersten und zweiten Teils dieser Arbeit bilden, doch nicht auf den Versuch verzichten, aus den bisherigen begriffs- und ideengeschichtlichen Bemühungen philosophische Schlussfolgerungen zu ziehen. Zu diesem Zwecke entnehme ich dem Ensemble der in der zeitgenössischen Philosophie formulierten Plädoyers für eine bestimmte Form der Bewältigung von Kontingenz und Zufall die drei aus meiner Sicht entscheidenden theoretischen Ansätze und Autoren. Die theoretischen Schwächen und Stärken dieser drei Stimmen der Gegenwartsphilosophie will ich diskutieren. Genauer, ich will diese drei Positionen gleichsam gegeneinander ausspielen, um schließlich zuletzt einen eigenen bescheidenen Beitrag zu der philosophischen Diskussion um Kontingenz und Zufall und um die Formen ihrer praktischen Bewältigung zu formulieren. Dabei werde ich mich vorrangig auf die von diesen Autoren formulierten praktischen Rezepte der Bewältigung von Kontingenz und Zufall konzentrieren. Aber insofern diese Rezepte natürlich niemals unabhängig von einer je spezifischen Auffassung der Begriffe, Ideen und Themen von Kontingenz und Zufall formuliert werden können, ist stets im Auge zu behalten und zu berücksichtigen, was diese Autoren denn genau meinen, wenn sie von Kontingenz und Zufall sprechen.2 In diesem Sinne porträtiere ich zunächst Richard Rortys Plädoyer für eine, wie man sagen könnte, ironische Kontingenzbewältigungspraxis, welches auf einer bestimmten sprachphilosophischen Überzeugung und einer Auffassung der Kontingenz und der Zufälligkeit unserer sprachlichen Werkzeuge und unserer Vokabulare beruht (1). Ich verweise sodann auf Odo Marquards „Apologie des Zufälligen“, der sich meines Erachtens sowohl überzeugende Argumente gegen Rortys Verständnis von Kontingenz und Zufall im Sinne stets zu ersetzender und neu zu erschaffender Vokabulare als auch gegen Rortys Vorschlag, Selbsterschaffung durch ironische Selbsterkenntnis und durch Erschaffung des eigenen idiosynkratischen Vokabulars als das sowohl funktional angemessene als auch normativ gebotene Mittel des menschlichen Umgangs mit Kontingenz und Zufall zu begreifen, entnehmen lassen. Marquards „Apologie des Zufälligen“ ihrerseits unterscheidet, darauf verwiesen wir in dieser Arbeit wiederholt, zwischen zwei Typen von Kontingenz oder Zufall, unterscheidet zwischen dem „Schicksalskontingenten“ und dem „Beliebigkeitskontingenten“ oder dem „Schicksalszufälligen“ und dem „Beliebigkeitszufälligen“3 und offeriert wiederum für jeden dieser beiden Typen von Kontingenz und Zufall ein spezifisches Rezept praktischer 2

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Die Schriften von Richard Rorty, Odo Marquard und Hermann Lübbe, und um diese drei Autoren wird es in diesem Kapitel vorrangig zu tun sein, sprechen entweder explizit von Kontingenz und Zufall als synonymen Begriffen oder verwenden diese implizit als Synonyma. Vergleiche dazu das Ende des ersten Kapitels dieser Arbeit, S. 62–63. Vergleiche bezüglich der theoretischen Substanz dieser Differenzierung bereits die Ausführungen auf S. 282 f. im dritten Kapitel dieser Arbeit.

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Bewältigung. Das von Marquard als Bewältigung des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten vorgeschlagene Rezept der Skepsis – Skepsis verstanden als Einwilligung in dieses Schicksalszufällige oder Schicksalskontingente – lässt sich, wenn auch nicht explizit, so doch immerhin implizit als das genaue Gegenprogramm zu Rortys ironischer Kontingenzbewältigungspraxis verstehen und dies sowohl in funktionaler wie in normativer Hinsicht: Statt dem Programm einer Kontingenzbewältigung durch ein ironisches Selbstverhältnis und die Selbsterschaffung von Vokabularen, welches überaus deutlich einem ganz bestimmten Ideal menschlicher Autonomie verpflichtet ist, empfiehlt Marquard das Programm einer Kontingenzbewältigung durch Skepsis im Sinne einer Einwilligung in das Unverfügbare und im Namen menschlicher Endlichkeit, welches um die funktionalen und normativen Grenzen menschlicher Autonomiebemühungen weiß. Marquards Philosophie ist dabei aber offensichtlich nicht religiöser Natur, wobei Marquard die Religion durchaus als eine mögliche – anders als Ernst Tugendhats Kontrastierung von Mystik und Religion und Diskreditierung der Religion als „intellektuell unredliche“ Form von Kontingenzbewältigungspraxis4 – Form der Bewältigung eines unverfügbaren Kontingenten und Zufälligen gelten lässt, wenngleich er sie eben auch nicht als die einzig mögliche Form der Bewältigung eines schlechthin Unverfügbaren verstanden wissen möchte (2). Dies unterscheidet Marquards Plädoyer für eine skeptische Bewältigung von Kontingenz und Zufall durch Einwilligung in das Unverfügbare wiederum von Hermann Lübbes Auffassung von Religion als einer bestimmten Form von Kontingenzbewältigungspraxis. Lübbe, der übrigens anders als Rorty und Marquard auch ganz bewusst und explizit davon ausgeht, die Begriffe von Kontingenz und Zufall synonym verwenden zu dürfen5 , unterscheidet in seiner Religionstheorie zwei Formen von Kontingenzbewältigung, nämlich den pragmatischen Umgang mit verfügbarer Kontingenz und die nichtpragmatische Anerkennung unverfügbarer Kontingenz. Für Lübbe ist es aber nun – anders als für Marquard, der auf einer Vielfalt möglicher Formen der Bewältigung einer unverfügbaren Kontingenz beharrt – allein die Religion, welche sich zu dieser nicht-pragmatischen Anerkennung unverfügbarer Kontingenz befähigt zeigt (3). An Lübbes Religionstheorie und religiöse Philosophie der Kontingenz lassen sich meines Erachtens vor allem zwei kritische Rückfragen richten. Erstens: Ist es tatsächlich so, wie Lübbe unterstellt, dass die Religion die einzig plausible und wirksame Weise einer nicht-pragmatisch verfahrenden Anerkennung unverfügbarer Kontingenz ist? Oder gibt es auch nicht-religiöse Formen nicht-pragmatisch verfahrender Anerkennung unverfügbarer Kontingenz? Wäre Lübbes Beschreibung von Religion als Bewältigung von Kontingenz durch Anerkennung unverfügbarer Kontingenz mithin zu unspezifisch für die Kennzeichnung von Religion? Zweitens: Beschreibt Lübbes Auffassung von Religion als nicht-pragmatische Anerkennung eines Unverfügbaren das Wesen religiöser Erfahrung wirklich zutreffend und umfassend? Oder wäre Lübbes Beschreibung von Religion als Bewältigung von Kontingenz durch Anerkennung unverfügbarer Kontingenz nicht nur zu unspezifisch, sondern auch zu einseitig? Ich werde die erste Frage 4

5

Vergleiche zu Tugendhats Philosophie der Kontingenz meine knappen Bemerkungen im vierten Kapitel dieser Arbeit, S. 330 f. Vergleiche dazu meine Ausführungen am Ende des ersten Kapitels dieser Arbeit, S. 62.

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im vierten Abschnitt dieses Kapitels nur am Rande thematisieren, mir dabei lediglich sowohl unter Berufung auf Marquard als auch im Rekurs auf die im dritten Kapitel dargestellte, von Lübbe formulierte Theorie von Geschichte und Geschichten gegen Lübbes Religionstheorie den Hinweis erlauben, dass nicht-religiöse Formen der nichtpragmatischen Anerkennung unverfügbarer Formen von Kontingenz durchaus denkbar und gar nicht auszuschließen sind, werde also sowohl Marquard gegen Lübbe als auch Lübbe gegen Lübbe theoretisch stark aussehen lassen. Für interessanter halte ich jedoch die zweite Frage: Was diese Frage angeht, so möchte ich die These begründen, dass selbst die Funktion einer religiösen Bewältigung von Kontingenz und Zufall pace Lübbe nicht oder jedenfalls niemals ausschließlich in der lediglich formalen und inhaltlich gar nicht weiter bestimmten Anerkennung eines schlechthin Unverfügbaren besteht. Sondern, so will ich ausführen, die Anerkennung eines Unverfügbaren erfolgt, wenn sie religiös erfolgt, immer schon in einer ganz bestimmten Weise, in einer Weise nämlich, welche ganz bestimmte, eben religiöse Verhaltensweisen oder Einstellungen enthält, wie etwa eine im Angesicht eines unverfügbar leidvollen Kontingenzgeschehens auf Gott blickende und sich an die Zukunft richtende Hoffnung oder ein auf die Gegenwart bezogenes Vertrauen – in diesem Fall wären die Zeitmodi der Gegenwart und Zukunft betroffen – oder auch eine im Angesicht eines unverfügbar glückhaften Kontingenzgeschehens an Gott sich richtende Dankbarkeit bezüglich eines bereits Geschehenem – in diesem Fall wäre der Zeitmodus der Vergangenheit berührt. Die religiösen Einstellungen von Vertrauen, Hoffnung und Dankbarkeit kultivieren und erinnern in exemplarischer Weise zwar durchaus eine unverfügbare Abhängigkeit, aber sie versuchen doch auch diesem unverfügbaren Geschehen ein Sinnresiduum in wie fragiler Weise auch immer abzutrotzen. Ebendieses, man möchte sagen gar nicht freiwillige, sondern aufgegebene Ringen um einen dem unverfügbaren Geschehen abzutrotzenden Sinn, der freilich weder ein pragmatischer noch ein moralischer, wohl aber ein religiöser Sinn sein kann, ebendieses Ringen diskreditiert Lübbes Polemik gegen jede Sinnfrage schlechthin und seine Charakterisierung der Religion als jeglicher Frage nach dem Sinn eines kontingenten Geschehens abgeneigt. Wenn aber religiöse Bewältigung von Kontingenz sich auch durch ein dem kontingenten Geschehen abgetrotztes religiöses Sinnresiduum auszeichnet und jedenfalls, wenn dies der Fall ist, darin ihre differentia specifica gegenüber anderen Formen der Anerkennung unverfügbarer Kontingenz besteht, welche sich zudem exemplarisch dem Vorhandensein einer oder mehrerer der drei genannten Einstellungen oder praktischen Verhaltensweisen entnehmen lässt, dann wäre Lübbes Auffassung, wonach die Funktion von Religion lediglich in der Anerkennung der schlechthinnigen Abhängigkeit von einem Unverfügbaren besteht, gewiss zu einseitig. Der Versuch, Lübbes Religionstheorie in der angedeuteten Weise zu kritisieren, wird mir am Ende dieses vierten Abschnitts des Kapitels und insofern am Ende dieser Arbeit zudem zum Anlass, auf William James’ Religionstheorie hinzuweisen. Gegen eine unspezifische Formalisierung von Religion und gegen eine einseitige Reduzierung religiöser Kontingenzbewältigung auf die Gewinnung stoischer ataraxia oder einer tranquillitas animi oder auf ein resignierendes Zähne-Zusammenbeißen, wie sie durch Lübbes Religionstheorie immerhin nahegelegt zu sein scheinen, hat James meines Erachtens zu Recht auf dem alle Sorge und „Egozentrizität“ (Tugendhat) transzendierenden Moment religiöser Erfahrung beharrt. Religiöse Bewältigung von

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Kontingenz besteht demnach niemals ausschließlich und allein in dem Versuch, die eigene Egozentrizität vor den unvermeidlichen Anfechtungen des Lebens durch die Installierung eines emotionalen und intellektuellen Schutzwalls zu behüten. Religiöse Bewältigung von Kontingenz stellt keine disziplinierte Gefühlsathletik im stoischen Sinne dar, kein Versteifen auf die Unverletzlichkeit der eigenen Subjektivität, so macht James’ Religionstheorie deutlich, sondern eine Einstellung der Selbsttranszendenz, in welcher „an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes.“6 Religion anerkennt das Unverfügbare nicht, um unseren „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillen“ vor den Widerfahrnissen dieser Welt zu schützen. Vielmehr vollzieht sich im Medium religiöser Erfahrung eine Selbsttranszendenz gerade im Sinne einer Überwindung dieses „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens“ (4).7 (1) Bevor ich mich Richard Rortys Plädoyer für eine ironische Kontingenzbewältigungspraxis, welches auf einer bestimmten sprachphilosophischen Überzeugung und einer Auffassung der Kontingenz von Sprache beruht, zuwende, sei der philosophiegeschichtliche Hinweis gestattet, dass Rorty für die eingangs erwähnte Konjunktur zumindest des Begriffs der Kontingenz in der zeitgenössischen Philosophie ganz sicherlich erhebliche Verantwortung zukommt. Denn ohne Zweifel hat Rortys 1989 erschienener Essay Kontingenz, Ironie und Solidarität dazu beigetragen, nicht nur den Begriff der Kontingenz – und dabei werden Kontingenz und Zufall von Rorty wenn auch nicht explizit, so doch implizit als Synonyma verwendet –, sondern auch die mit diesem Begriff verbundene Fragestellung des menschlichen Umgangs mit jener Kontingenz wieder als ein respektables und ehrwürdiges Thema in das Bewusstsein der Philosophie, die sich zumal im anglo-amerikanischen Raum in den Jahrzehnten zuvor mit gänzlich anderen Fragestellungen beschäftigt hatte, gehoben zu haben. Was meint Rorty mit dem Begriff der Kontingenz? Stellt dieser Begriff nicht ein obsoletes philosophiegeschichtliches Relikt aus scholastischen Zeiten und jenen längst verblichenen Tagen dar, da man der Rede von einer contingentia mundi noch philosophischen Sinn abzugewinnen vermochte, ein Relikt, dessen genauen Sinn zu klären allenfalls Aufgabe der Philosophiegeschichte sein kann? Repräsentiert Rortys Verwendung des Begriffs der Kontingenz – unbekümmert um seine begriffsgeschichtlichen Wurzeln und semantischen Ursprünge – nicht lediglich eine postmoderne Zelebrierung von Ungewissheit, wo doch hegelianisches Bedauern darüber, dass es der „philosophischen Betrachtung“ immer noch nicht gelungen ist, die Begriffe der Kontingenz oder des Zufälligen zu „entfernen“, die einzig seriöse „Absicht“ der philosophischen Betrachtung sein kann?8 Was also meint Rorty mit Kontingenz, wenn er von Kontingenz spricht oder 6

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William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt am Main 1999 (1902), S. 79. Vergleiche dazu meine nur fragmentarische Kontrastierung von Stoa und Christentum am Ende des sechsten Abschnitts des vorherigen Kapitels, S. 618–620. Vergleiche zu dieser These und Formulierung Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955 (1822), S. 29.

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etwas als kontingent bezeichnet? Das ist die eine, eher begriffssemantische Frage, die ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels an Rortys Essay Kontingenz, Ironie und Solidarität, gleichsam an das theoretische und begriffliche Fundament seiner Philosophie der Kontingenz richten möchte. Die andere, thematisch und lebenspraktisch ungleich bedeutsamere Frage, die nun auch direkt die praktischen Dimensionen von Rortys Rezept der Kontingenzbewältigungspraxis betrifft, lautet: Wie charakterisiert und denkt Rorty einen angemessenen menschlichen Umgang mit Kontingenz, welche Art der praktischen Bewältigung von Kontingenz schwebt ihm vor? Zu der erstgenannten dieser beiden Fragen: Rorty benützt den Begriff der Kontingenz in seinem Essay Kontingenz, Ironie und Solidarität selbstredend nicht im Rahmen philosophiegeschichtlicher Studien und Exegesen, sei’s zu Aristoteles’ Theorie der Möglichkeit, sei’s zu Boethius’ Kommentar der aristotelischen Hermeneutik, sei’s zu den begrifflichen Grundlagen von Leibniz’ Theodizee; die philosophiegeschichtliche Relevanz des Kontingenzbegriffs, dessen begriffsgeschichtliche Wurzeln ebenso wie dessen ideengeschichtliche Genese, sie ist ihm völlig nebensächlich. Rorty verwendet den Begriff der Kontingenz vielmehr als Ausgangspunkt für eigene philosophische Überlegungen im Bereich der Sprachphilosophie, der politischen Philosophie und schließlich im Zusammenhang der Frage nach Wahrheit und Begründbarkeit philosophischer Aussagen schlechthin. Dabei unterteilt er in den ersten drei Kapiteln von Kontingenz, Ironie und Solidarität das Thema der Kontingenz in drei thematische Blöcke: die Kontingenz der Sprache, die Kontingenz des Selbst und die Kontingenz des Gemeinwesens. Die entscheidende theoretische Überlegung aber, welche Rortys grundsätzliches Interesse an Begriff, Idee und Thema der Kontingenz überhaupt erst motiviert und welche fürderhin den gesamten Gedankengang von Kontingenz, Ironie und Solidarität strukturiert, ergibt sich dabei aus sprachphilosophischen Überlegungen, welche in der These einer grundlegenden Kontingenz von Sprache kulminieren. Wie will Rorty seine Überzeugung von der Kontingenz der Sprache verstanden wissen? Wir sollten, so lautet Rortys grundsätzliche sprachphilosophische Empfehlung, ja, Empfehlung ist wohl das richtige Wort9 , wir sollten Sprache nicht mehr als Medium, weder als Medium des Ausdrucks eines Selbst noch als Medium der Darstellung einer sprachunabhängigen Realität auffassen, sondern Sprache vielmehr als Werkzeug begreifen. Sprache weist für Rorty weder den Weg zu einer Welt „da draußen“ noch zu einer Welt „da drinnen“. Eine Sprache oder auch ein Vokabular – dieser letztere Begriff seinerseits eine von Rortys Lieblingsvokabeln – sollten vielmehr so wie Werkzeuge verstanden werden, die eben für ganz bestimmte und gänzlich unterschiedliche Zwecke tauglich und geeignet sein können, wie Werkzeuge, welche für bestimmte idiosynkratische Zwecke einzusetzen sind, die aber für andere Personen, die diese Werkzeuge nicht benötigen oder die andere Idiosynkrasien verfolgen, keinerlei Gültigkeit oder Nutzen beanspruchen können. Jene höchst unterschiedlichen idiosynkratischen Zwecke, für deren Realisierung 9

Ein wesentliches Charakteristikum von Rortys Stil des Philosophierens besteht bekanntlich darin, dass er seine Thesen – in welchem Buch, in welchem Kapitel und bezüglich welches Themas auch immer – dem Leser als eine Empfehlung anbietet, nicht aber als sich der unwiderlegbaren Kraft begründbarer Argumente verdankende und anderen Positionen überlegene Thesen verstanden wissen möchte.

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Menschen bestimmte Vokabulare oder Sprachen als Werkzeuge verwenden, sind für Rorty wiederum das Produkt historisch kontingenter oder zufälliger Umstände, und daher sind auch die in einer bestimmten Situation von einem bestimmten Individuum eingesetzten sprachlichen Werkzeuge stets kontingent oder zufällig. Dass ausgerechnet jenes sprachliche Werkzeug oder dieses Vokabular zu einer bestimmten Zeit für eine bestimmte Person zu gebrauchen ist und nicht ein ganz anderes, und dass dabei diese verwendeten sprachlichen Werkzeuge oder Vokabulare genau so sind, wie sie sind und nicht anders, dies alles ist für Rorty kontingent oder zufällig. Vokabulare sind niemals notwendig so, wie sie sind, und sie verdanken ihren Gebrauch keiner kontingenz- oder zufallstranszendenten Notwendigkeit oder Rationalität. Sprachen und Vokabulare sind „historische Kontingenzen“10 , „nicht Versuche, die wahre Gestalt der Welt oder des Selbst zu erfassen“11 , sie könnten stets auch anders sein. Diese sprachphilosophische Überzeugung bildet für Rorty den inhaltlichen Kern dessen, was er als Kontingenz bezeichnet und behandelt, und diese Überzeugung ihrerseits fundiert Rortys gesamte weitere Argumentation in Kontingenz, Ironie und Solidarität. Die bisherige Rekonstruktion von Rortys sprachphilosophischen Überlegungen klärt noch nicht in ausreichendem Maße, wie genau Rorty seine Auffassung von Sprache als Werkzeug, für deren Formulierung und Begründung er sich vor allem auf die Arbeiten von Donald Davidson beruft, mit der These von der unhintergehbaren Kontingenz dieser sprachlichen Werkzeuge theoretisch zu verknüpfen gedenkt. Dass der Hammer eines bestimmten Begriffs diesen oder jenen Nagel in die Wand zu schlagen am besten geeignet ist, ist doch nicht kontingent, so wäre man geneigt gegen Rorty einzuwenden, sondern ein geradezu konstitutives Merkmal ebendieses begrifflichen Hammers, weswegen wir alle stets ebendiesen Hammer und nicht diese Zange verwenden, um jenen Nagel des gemeinten Sachverhalts in die Wand zu schlagen. Im Zuge der Sprachentwicklung etablieren sich mithin Rationalitätsfortschritte, so wäre man versucht auf Rortys Überzeugung von einer Kontingenz der Sprache zu entgegnen, die als Artikulationen von Kontingenz oder Zufall nicht hinreichend zu erklären sind. Rorty ist freilich anderer Meinung, und er argumentiert dabei auf der Grundlage einer gleichsam phylogenetischen Auffassung der gattungsgeschichtlichen Sprachentwicklung, die sich inhaltlich und tatsächlich immer wieder auch in ihren konkreten Formulierungen auf grundlegende Einsichten von Darwins Evolutionstheorie oder genauer: auf Darwins Überzeugung von einer keiner übergeordneten Teleologie gehorchenden Evolution der menschlichen Spezies berufen zu können glaubt. Sprachliche Werkzeuge entwickeln sich demnach für Rorty justament in jener Weise, wie sich auch die natürliche Evolution laut Darwin oder zumindest die natürliche Evolution laut Rortys Verständnis von Darwin entwickelt; sie tun dies, ohne einer irgendwie gearteten Teleologie oder Notwendigkeit oder einem der Evolution übergeordneten rationalen Prinzip Folge zu leisten. Ebenso wie unsere menschliche Kultur insgesamt, so ist auch die Entwicklung unserer Sprache, so schreibt Rorty, „Ergebnis von tausend kleinen Mutationen, die Nischen finden (und einer Million anderer, die keine Nischen finden)“12 . Ebendeshalb lässt sich für Rorty auch 10 11 12

Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1992 (1989), S. 109. Ebd., S. 109. Ebd., S. 42.

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nicht behaupten, dass sprachliche Werkzeuge im Zuge einer gattungsgeschichtlichen Entwicklung die Welt „da draußen“ oder die Welt „da drinnen“ immer angemessener repräsentieren oder vernünftiger darstellen oder authentischer ausdrücken. Auch in der Welt der sprachlichen Evolution töten neue Vokabulare laufend in zufälliger und unvorhersehbarer Weise alte Vokabulare ab; aber sie tun dies nicht, „um höhere Zwecke zu erreichen“13 , sondern gleichsam „blind“14 , also in kontingenter oder zufälliger Manier. Die Kontingenz der Sprache erweist sich für Rorty mithin darin, den „Wechselfällen von Zeit und Zufall unterworfen“15 zu sein. Ebendiesen Wechselfällen von „Zeit und Zufall“ sind nun aber Rorty zufolge eben nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Selbstverständnis, unser „Selbst“, wie er zu sagen pflegt, und auch unsere Gemeinwesen unterworfen. Für unser Selbstverständnis wie für das Gemeinwesen, in dem wir leben, gilt demnach laut Rorty nicht minder als für die Sprache, ja eben gerade aufgrund der Kontingenz der Sprache, dass sie kontingent so sind, wie sie sind, weil eben auch sie den „Wechselfällen von Zeit und Zufall unterworfen“ sind, und dass sie also ebenfalls anders sein könnten, als sie tatsächlich sind. Insofern können dann aber auch weder, sagen wir, die liberale Demokratie noch, sagen wir, ein christliches Menschenbild beanspruchen, in einer anderen Zeit oder unter anderen Umständen in jener Weise als normativ akzeptabel zu gelten, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Denn schon die Tatsache, dass sie, dieses gegenwärtige Selbstverständnis und jenes gegenwärtige Gemeinwesen, in dem wir leben, überhaupt sind, ist das Resultat eines evolutionären Zufalls, nicht das logische oder zwangsläufige Resultat einer teleologischen Evolution oder eines Rationalitätsfortschritts oder irgendeiner anderen Form von Gesetzesmäßigkeit. Damit zu der Beantwortung der zweiten am Beginn meiner Ausführungen zu Rorty eingeführten Frage, der Frage nach der von Rortys sprachphilosophischer Fundierung des Kontingenzbegriffs nahegelegten Form von Kontingenzbewältigungspraxis: Wie nämlich soll und kann der Mensch nach Ansicht Rortys mit der Tatsache praktisch umgehen, dass ebenjene Sprachen und Vokabulare, die er verwendet, kontingent sind, daher auch das Selbst, das er ist, sowie das Gemeinwesen, in dem er, dieses kontingente Selbst mitsamt seiner kontingenten Sprache, lebt, in unhintergehbarer Weise kontingent sind? Die Empfehlung oder besser: die Vielfalt der Empfehlungen, die Rortys Essays Kontingenz, Ironie und Solidarität im Zuge der Beantwortung dieser Frage formuliert, ist komplex und vielschichtig: Auf einer ersten Ebene, von der hier zunächst die Rede sein soll, plädiert die von Rorty vorgeschlagene Form von Kontingenzbewältigungspraxis ganz im Sinne ihrer grundsätzlichen Zweifel gegenüber jeder philosophischen und nach Letztbegründung strebenden „Suche nach Gewißheit“ (Dewey), ihrer Skepsis gegenüber dem Programm eines philosophischen „foundationalism“, welcher sich dem „Streben nach Universalität durch Überschreitung von Kontingenz“16 verschreibt, für einen geistigen Akt von Bescheidenheit, für eine intellektuelle Sensibilität oder Geisteshaltung mit-

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Ebd., S. 46. Ebd., S. 46. Ebd, S. 108. Ebd., S. 56.

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hin, für eine „Erkenntnis von Kontingenz“17 , welche alle kontingenztranszendierenden Geltungsansprüche für die eigene Sprache, für das eigene Selbst, für das eigene Gemeinwesen in Abrede stellt. Dass die Sprache und die Vokabulare, die man spricht und verwendet, die Person, die man ist, und das Gemeinwesen, in dem man lebt, dass all dies keiner Notwendigkeit, keiner Vorsehung, keiner Vernunft und auch keinem Gesetz oder Gebot des moralischen oder kulturellen Fortschritts Folge leistet, dass vielmehr all diese Weisen, in der Welt zu sein und sich zu dieser Welt zu verhalten, Produkt von Zeit und Zufall und insofern kontingent sind, motiviert Rortys Kontingenzbewältigungspraxis zunächst zu dem Aufruf einer intellektuellen Anerkennung ebendieser Tatsache, welcher von ferne an Sartres Roman Der Ekel erinnert.18 Auf einer ersten Ebene plädiert Rortys Kontingenzbewältigungspraxis mithin für eine Attitüde, welche die eigene Person, die eigene Sprache, die eigene Gesellschaft stets in ihrem Verhältnis zu anderen Möglichkeiten – Möglichkeiten der eigenen Person und Möglichkeiten der anderen Personen – wahrnimmt und daher hinsichtlich ihrer Fähigkeit, einen Status als „en-soi“ (Sartre) zu reklamieren, einschränkt, mithin, so könnte man sagen, für ein von einem „Möglichkeitssinn“ in Musils Sinne getragenes Bewusstsein der Relativität der eigenen Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Welt, für das Bewusstsein der Zeit- und Kontingenzgebundenheit auch der eigenen Art und Weise, in der Welt zu sein und die Welt zu sehen. Als vorbildhafter Inbegriff dieser gleichsam intellektuellen Anerkennung von Kontingenz und einer damit verbundenen Relativierung des Stellenwerts des eigenen Selbst und der dieses Selbst umgebenden Welt gilt Rorty der Begriff der Ironie. Rorty versteht diesen Begriff insofern auf eine ganz spezifische Weise. Was einen Ironiker gegenüber einem Nicht-Ironiker auszeichnet, ist die Tatsache, dass der Ironiker um die Kontingenz seiner Sprache und seines Selbst und auch des Gemeinwesens, in dem er lebt, weiß: „‚Ironikerin‘ nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind“19 . Angesichts dieses Wissens um die eigene kognitive Beschränktheit und im Zuge der Anerkennung dieser kognitiven Beschränktheit verzichtet der Ironiker darauf, für seine kontingente Sprache und seine kontingenten Vokabulare einen kontingenztranszendierenden Geltungsanspruch zu formulieren. Ironiker tendieren vielmehr dazu, um Musils vielzitierte Formulierung aus Der Mann ohne Eigenschaften zu bemühen, „das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“20 , Ironiker sind, so formuliert es Rorty, „nie ganz dazu in der Lage, sich selbst ernst zu nehmen, weil immer dessen gewahr, dass die Begriffe, in denen sie sich selbst beschreiben, Veränderungen unterliegen; immer im Bewusstsein der Kontingenz und Hinfälligkeit ihrer abschließenden Vokabulare, also auch ihres eigenen Selbst.“21

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Ebd., S. 56. Vergleiche dazu meine Bemerkungen im dritten Kapitel dieser Arbeit, S. 212–214. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a.a.O., S. 14. Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“(1930/1932), in: Gesammelte Werke. Band 1, Reinbek 1978, S. 16. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a.a.O., S. 128.

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Nun mag sich jene geistige Attitüde, die Rorty in solchen Formulierungen als Inbegriff einer angemessenen intellektuellen Reaktion auf eine omnipräsente Kontingenz und als das durchaus nicht unsympathische Gegenteil eines die Grenzen menschlichen Wissens missachtenden Strebens „nach Universalität durch Überschreitung von Kontingenz“ vorschwebt, als Ironie bezeichnen lassen; ich würde freilich einen anderen Begriff vorziehen. Was Rortys ironische Kontingenzbewältigungspraxis zumindest auf einer ersten Ebene im Grunde zu empfehlen scheint, würde ich als eine Haltung intellektueller Demut und Bescheidenheit beschreiben, als ein Bewusstsein für die eigene, auch intellektuelle Fragilität und Hinfälligkeit, dessen Konnotationen sich im Begriff der Begriff der Ironie doch nur unzureichend widerspiegeln. Doch wir wollen derartige Fragen bezüglich der Semantik des Ironiebegriffs hier nicht weiter verfolgen. Vielmehr verweisen wir auf ein weiteres, unsere bisherige Deutung von Rortys Verständnis eines ironischen Umgangs mit Kontingenz bekräftigendes Indiz. Als besonders charismatisches Exempel einer ironisch gesinnten Person, welche „der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind“, und damit wird unabhängig von der verwendeten Begrifflichkeit erneut deutlich, wie Rortys bislang präsentiertes Plädoyer für eine ironische Kontingenzbewältigungspraxis zumindest auf einer ersten inhaltlichen Ebene zu verstehen ist, als besonders charismatisches Exempel einer ironisch gesinnten Person präsentiert Rorty in Kontingenz, Ironie und Solidarität Marcel Proust, über den es bei Rorty heißt: „Proust wurde dadurch autonom, dass er sich selbst klarmachte, warum die anderen keine Autoritäten, sondern nur Mit-Kontingenzen waren. […] Proust ließ die Autoritätspersonen seiner Umgebung zeitgebunden und endlich werden, indem er sie als Geschöpfe kontingenter Umstände sah. […] Er beherrschte die Kontingenz, indem er sie erkannte, und befreite sich so von der Angst, die Kontingenzen, denen er begegnet war, könnten mehr als nur Kontingenzen gewesen sein [Hervorhebung von mir; P.V.].“22 Durch die radikale kognitive Anerkennung der Kontingenz oder der Zufälligkeit des eigenen Lebens wie der Kontingenz oder der Zufälligkeit des Lebens der anderen verwandelt Proust, so besagt Rortys Deutung, andere Menschen aus seinen Richtern in seine Leidensgenossen, und damit gelingt es ihm, alle Menschen als im Banne ein und derselben conditio humana stehend zu begreifen; und so „beherrschte [er] die Kontingenz, indem er sie erkannte“. Die intellektuelle Anerkennung von Kontingenz erweist sich als Medium der praktischen Bewältigung oder Beherrschung von Kontingenz. Die zitierte Passage fügt jedoch unserer bisherigen Rekonstruktion von Rortys Programm der Kontingenzbewältigung insofern eine neuartige und bislang noch unerwähnt gebliebene Nuance hinzu, als sie zum ersten Mal andeutet, worin denn der eigentliche, normativ für wertvoll gehaltene Gewinn einer solchen intellektuellen „Beherrschung“ von Kontingenz bestehen soll. Die intellektuelle Anerkennung von Kontingenz als Medium der praktischen Bewältigung von Kontingenz verdankt ihre normative Attraktivität, so deuten die obigen Sätze an, letztlich der Tatsache, dass einzig oder zumindest wesentlich auf diesem Wege menschliche Autonomie zu erreichen ist. 22

Ebd., S. 172 f.

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Insofern wird nun auch die Behutsamkeit verständlich, die mich zu Beginn meiner Ausführungen über die von Rorty nahegelegten Formen von Kontingenzbewältigungspraxis ganz bewusst von einer erheblichen Komplexität und Vielschichtigkeit von Rortys diesbezüglichem Programm sprechen ließ. Denn zumindest in Kontingenz, Ironie und Solidarität erschöpft sich Rortys Programm eines ironischen Umgangs mit Kontingenz doch keineswegs in der bislang dargestellten Geste intellektueller Bescheidenheit und Demut. Bezeichnend und aufschlussreich ist in dieser Hinsicht, dass Rortys bereits zitierter, pathetischer Aufruf zu einer „Erkenntnis von Kontingenz“, welche er einem „Streben nach Universalität durch Überschreitung von Kontingenz“ kontrastiert, in eine Formulierung eingebettet ist, die, vollständig zitiert, deutlich zu erkennen gibt, dass ihm die Erkenntnis von Kontingenz lediglich Medium für einen ganz anders gearteten Zweck darstellt, dessen normative Attraktivität den unverhohlenen Fluchtpunkt seiner gesamten Argumentation bildet: „Erschaffung des Selbst durch Erkenntnis von Kontingenz“23 . Ohne Zweifel erweckt diese Formel in ihrer Gänze den Eindruck, Rorty erblicke die Bedeutung der wie auch immer gelingenden und bislang im Mittelpunkt unserer Ausführungen stehenden „Erkenntnis von Kontingenz“ darin, dass sie ein Medium darstelle für die Realisierung jenes übergeordneten und eigentlich normativ gebotenen Zweckes einer „Erschaffung des Selbst“, ohne dessen Realisierung zudem alle Bewältigung oder Beherrschung von Kontingenz Provisorium bleiben müsse. Doch inwiefern bedarf Bewältigung von Kontingenz der Selbsterschaffung? Was soll es zudem heißen, sich selbst zu erschaffen? Erweist sich im Sinne Nietzsches nur eine vermeintliche oder tatsächliche Elite zur Erfüllung dieses Programms der Selbsterschaffung in der Lage, oder steht dieses Programm allen Menschen offen? Erweist sich dieses Programm der Selbsterschaffung für jedes Widerfahrnis, also für alle Formen und Typen von Kontingenz und Zufall, in gleicher Weise als funktional tauglich? Und schließlich: Warum überhaupt sich selbst erschaffen? Welchen normativen Prinzipien zeigt sich Rortys Programm der Selbsterschaffung mithin verpflichtet? Dieses Bündel von Rückfragen bezüglich der Funktionalität von Selbsterschaffung für die Bewältigung von Kontingenz, bezüglich Rortys Verständnis von Selbsterschaffung, bezüglich des demokratischen oder elitären Charakters von Selbsterschaffung, bezüglich der Funktionalität von Selbsterschaffung für unterschiedliche Typen von Kontingenz und schließlich bezüglich des normativen Fundaments von Rortys Programm der Selbsterschaffung als Kulminationspunkt seines Plädoyers für eine ironische Form von Kontingenzbewältigungspraxis wollen wir im Folgenden Schritt für Schritt bearbeiten. Zunächst will ich mich den beiden folgenden Fragen zuwenden: Inwiefern verdankt sich gelungene Kontingenzbewältigung dem Projekt der Selbsterschaffung? Und: Was heißt es überhaupt, sich selbst zu erschaffen? Dem sich selbst erschaffenden Menschen gelingt es, auf diese Formulierung Nietzsches greift Rorty in Kontingenz, Ironie und Solidarität mehrmals für die Charakterisierung seiner Vorstellung von Selbsterschaffung zurück, alles „Es war“ umzuschaffen in ein „So wollte ich es“. Dies wiederum gelingt ihm, darin artikuliert sich Rortys gleichsam sprachphilosophisch transformierter Nietzscheanismus, dies gelingt ihm durch die ihn auszeichnende Fähigkeit, „seine eigene Sprache zu konstruieren, statt sich das Maß des eigenen Geistes durch die Spra23

Ebd., S. 56.

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che, die andere Menschen uns hinterlassen haben, vorgeben zu lassen.“24 Ein solchermaßen sein genuines Vokabular schaffender Mensch, der in einem ersten Schritt die grundsätzliche Kontingenz seines ererbten Vokabulars und der tradierten Vokabulare der anderen erkennt und anerkennt, sich dadurch aber in einem zweiten Schritt gerade stimuliert sieht, „seine eigene Sprache zu konstruieren“, ein solcher Mensch bemüht sich, wie Rorty formuliert, „die Kruste ererbter Kontingenzen aufzubrechen“ und seine „eigenen Kontingenzen zu schaffen, aus der Kruste eines alten abschließenden Vokabulars heraus- und zu einem ganz eigenen zu kommen“25 . Der sich selbst erschaffende Mensch bringt gemäß dieser Vorstellung sein Leben damit zu, „übernommene durch selbsterzeugte Kontingenzen zu ersetzen“26 , und durch ebendiesen Akt gelingt es ihm, Kontingenz zu bewältigen. Menschen, die in einem ersten Schritt, so wie dies die Literatur von Proust exemplarisch vorführt, Kontingenz ironisch anerkennen, Menschen, die „ihre Sprache, ihr Gewissen, ihre Moral und ihre hochfliegendsten Hoffnungen als kontingente Ergebnisse verstehen“27 , diese Menschen können und sollen, und in ebendiesem Sinne will Rorty sein Programm einer „Erschaffung des Selbst durch Erkenntnis von Kontingenz“ verstanden wissen, sodann dazu übergehen, diese anerkannte Kontingenz durch „Aneignung und Umwandlung“28 gleichsam als beliebig änderbare und verfügbare Ressource für ihre persönliche Selbsterschaffung zu verwenden, indem sie nunmehr ihr eigenes unverwechselbares, idiosynkratisches und durch nichts vorgeprägtes Vokabular erschaffen. Hingegen verfehlen wir laut Rorty dieses sprachphilosophisch fundierte Ideal von Selbsterschaffung genau in dem Maße, wie wir lediglich „ein in der Vergangenheit vorbereitetes Programm ausführen“29 , und ein solches Scheitern gilt es selbst dann zu konstatieren, wenn wir für die Kontingenz dieses tradierten Programms theoretisch sensibilisiert sind. Rortys Programm der Selbsterschaffung als Kulminationspunkt einer ironischen Kontingenzbewältigungspraxis begnügt sich insofern nicht damit, so wie dies auf einer ersten Ebene der Interpretation zunächst hätte erscheinen können, die kontingente Gestalt der vorgefundenen und akzeptierten „Vokabulare“ in einer Geste theoretischer Bescheidenheit einfachhin zu registrieren, sondern sie sieht die genuine Aufgabe eines Lebens vielmehr gerade darin, vorgefundene und tradierte Kontingenzen durch das „Aufprägen der eigenen idiosynkratischen Metaphorik“30 oder des eigenen idiosynkratischen Vokabulars gleichsam zu ersetzen. Rortys Ironiker und das ihn kennzeichnende Programm der Selbsterschaffung und der Kontingenzbewältigung kulminieren letzthin in dem Ideal, sich von all jenen Kontingenzen, die wir nicht gemacht haben, sondern die vielmehr uns gemacht haben, zu befreien, um sodann jene Kontingenzen zu erschaffen, die wir gänzlich machen können und welche insofern dem menschlichen Bemühen um Bewältigung von Kontingenz keinerlei unüberwindba-

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S. S.

59. 164. 165. 110. 79. 60. 80.

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re Grenzen mehr setzen. Gelingt es, dieses Ideal zu verwirklichen, ist Kontingenz in der bestmöglichen Weise, welche dem Menschen gegeben ist, bewältigt. Wie aber, und damit konfrontieren wir uns mit einer weiteren unser Rückfragen an Rortys Programm der Kontingenzbewältigung, wie aber verhält es sich mit all jenen gemäß Rortys Sprachgebrauch ganz und gar unironischen Menschen, die sich nicht neu beschreiben wollen, weil sie sehr gerne und auch ohne jedes schlechte Gewissen mit vielen oder manchen ihrer ererbten Vokabulare leben? Wie verhält es sich mit all jenen, die in ihrem Leben dem Grundsatz folgen, in Übereinstimmung mit diesen Vokabularen zu leben, anstatt die eigene Begabung zur Ironie durch den Bruch mit diesem Erbe ostentativ unter Beweis zu stellen? Rorty konzediert, dass derartige Einwände gegen den vermeintlich elitären Charakter seiner Philosophie der Kontingenz auf der Hand liegen, argumentiert aber, dass derartige Rückfragen keine prinzipiellen Einwände gegen sein Verständnis von Selbsterschaffung und seine Eloge auf den Ironiker offen legen, sondern lediglich auf die Notwendigkeit gleichsam einer Demokratisierung seines Programms individueller Selbsterschaffung im Zuge der Transformation übernommener Kontingenzen in selbsterzeugte Kontingenzen hinweisen. Wir sollten, so empfiehlt Rorty und distanziert sich damit fundamental von Nietzsche, nicht denjenigen, der in einer besonders auffälligen Weise zu einer radikalen Selbsterschaffung vermeintlich oder tatsächlich in der Lage ist, als vorbildhaften Typus des Menschlichen betrachten, sondern in den idiosynkratischen Äußerungen aller Menschen, auch in ihren auf den ersten Blick unscheinbarsten, eine Form von Selbsterschaffung und Ironie am Werke sehen, für die wir blind würden, ließen wir uns von einem elitären Menschenbild zu stark beeinflussen. Nicht um die nietzscheanische, wenngleich auch sprachphilosophisch transformierte Heroisierung jener vermeintlich wenigen Exemplare der Gattung, die zu einer „ständigen Neubeschreibung“ ihrer Vokabulare stets in der Lage sind, geht es Rorty mithin, sondern um eine theoretische Sensibilität dafür, dass jeder Ironiker sein kann und ist, insofern er nur seine genuinen und unverwechselbaren idiosynkratischen Vokabulare erzeugt. Für Rorty, so möchte man sagen, ist es nicht allein der große Dichter, welcher der Selbsterschaffung durch die Erzeugung neuer Vokabulare für fähig erachtet wird, sondern das Gedicht, das jeder Mensch in seinem Leben in der einen oder anderen Weise schreibt, welches sein Programm der Selbsterschaffung als Kulminationspunkt einer ironischen Kontingenzbewältigungspraxis exemplarisch artikuliert: „Unter diesem Gesichtspunkt sind Intellektuelle (Menschen, die Worte, visuelle oder musikalische Formen zu diesem Zweck nutzen) nur Sonderfälle – Leute, die mit Zeichen und Geräuschen tun, was andere mit ihren Partnern und Kindern tun, mit Arbeitskollegen, Handwerkszeugen, den Kontoauszügen ihres Geschäfts, dem Besitz, den sie in ihren Häusern ansammeln, der Musik, die sie hören, dem Sport, den sie ausüben oder beobachten, oder auch den Bäumen, an denen sie auf dem Weg zu ihrer Arbeit vorbeikommen.“31 Aber ist es den Menschen, gleichviel, ob es sich um die „großen Männer“ der Geschichte oder die Zuschauer eines Baseballspiels handelt, wirklich immer gegeben, „übernommene durch selbsterzeugte Kontingenzen“ zu ersetzen, stets möglich, wie man 31

Ebd., S. 73 f.

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in Anlehnung an die im dritten Kapitel dieser Arbeit erstmals erwähnte und für das fünfte Kapitel dieser Arbeit konstitutive Differenzierung zweier Arten von Kontingenz und Zufall, wie sie Marquard entwickelt hat, formulieren könnte, alle Schicksalskontingenzen in Beliebigkeitskontingenzen zu transformieren?32 Die bloße Tatsache, dass Rorty sein Programm einer Selbsterschaffung als Kulminationspunkt einer ironischen Kontingenzbewältigungspraxis in durchaus anti-elitärer Weise gleichsam profaniert und demokratisiert, entkräftet einen derartigen Zweifel noch keinesfalls. Wir fragen daher noch einmal: Unterschätzt die von Rorty anempfohlene Kontingenzbewältigungspraxis, ihr durchaus demokratisch gesinnter und anti-elitär gemeinter Appell, losgelöst von allen tradierten Vokabularen „seine eigene Sprache zu konstruieren“, nicht in maßloser Weise die unverfügbare Prägekraft tradierter Vokabulare, die wir gerade nicht ablegen können wie unser Jackett oder ändern können wie unsere Lieblingsfarbe? Muss nicht jede erfolgreiche Praxis der Kontingenz allein schon aus funktionalen Gründen und durchaus noch diesseits jeder normativen Fragestellung unweigerlich auch jenen spezifischen Typus von Kontingenz berücksichtigen, der keinesfalls durch unseren Willen oder unsere Taten oder unsere Konstruktionen von Metaphern und Vokabularen beliebig geändert werden kann, einen Typus von Kontingenz, der also nicht unbeschränkt verfügbar, sondern unhintergehbar unverfügbar ist, und dessen fundamentale Relevanz für die eigene Existenz sich nicht zuletzt darin zeigt, dass ebendiese Existenz immer schon eine erschaffene ist und sich schlichtweg niemals in das Resultat von Selbsterschaffung auflösen lässt? Derartige Zweifel, die sich insofern und ausdrücklich noch diesseits jeder normativen Diskussion und allein hinsichtlich der funktionalen Tauglichkeit von Rortys Programm der Selbsterschaffung als Kulminationspunkt ironischer Kontingenzbewältigungspraxis in den zuletzt formulierten Fragen regen, wissen sich, so viel dürfte deutlich sein, wesentlich inspiriert von Marquards Unterscheidung zwischen einer Kontingenz oder einem Zufall, die prinzipiell nicht von uns geändert werden können, und einer Kontingenz oder einem Zufall, die prinzipiell von uns geändert werden können, von einer Unterscheidung mithin, die Marquards Auffassung von Kontingenz oder Zufall ebenso charakterisiert wie sie, dies wird im zweiten Abschnitt dieses Kapitels sogleich noch ausführlicher ausgeführt, dem von dieser Auffassung nahegelegten Plädoyer für eine skeptische Form von Kontingenzbewältigungspraxis zu Grunde liegt. Ist man insofern bereit, sich auf die theoretische Substanz von Marquards Differenzierung, so problematisch ihre Terminologie auch sein mag33 , einzulassen, dann wären analog zu unterschiedlichen Formen der Kontingenz auch unterschiedliche Formen der Kontingenzbewältigungspraxis zu differenzieren, Formen, die sich für einen spezifischen Typus von Kontingenz als tauglich erweisen mögen, für einen anderen Typus aber gerade nicht. Entsprechend verschlägt Rortys sprachphilosophisch transformiertes und demokratisiertes Ideal von Selbsterschaffung im Sinne des Programms, „übernommene durch selbsterzeugte Kontingenzen zu ersetzen“, für alle jene Formen und Typen von 32

33

Vergleiche zu der inhaltlichen Substanz dieser Unterscheidung meine Ausführungen im dritten Abschnitt des dritten Kapitels, S. 282 f., sowie meine Ausführungen im fünften Kapitel, S. 358– 364. Vergleiche hierzu Anmerkung 247 auf S. 283 im dritten Kapitel dieser Arbeit.

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Kontingenz, die unverfügbar sind, für all jene Formen von Kontingenz, die wir, folgen wir Marquards Distinktion, per definitionem nicht ändern können, die wir vielmehr nur bewältigen können, indem wir uns dabei immer auch auf all dasjenige verlassen, was uns erschaffen hat und gerade nicht Resultat unseres Schaffens ist, indem wir auf jene bewährten und tradierten Vokabulare rekurrieren, die uns zur Verfügung stehen, ohne dass wir sie geschaffen hätten, per definitionem gerade nicht. Nun ignoriert Rorty in Kontingenz, Ironie und Solidarität diese ihm allein schon aus funktionalen Gründen auferlegte theoretische Pflichtübung, zwischen unterschiedlichen Typen von Kontingenz und je für diese Typen geeigneten Formen von Kontingenzbewältigung zu differenzieren, beharrlich. Am Ende des zweiten Kapitels von Kontingenz, Ironie und Solidarität findet sich eine in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreiche Formulierung: „Wir werden das bewusste Bedürfnis des starken Dichters, das darin besteht, zu zeigen, bekanntzugeben, dass er keine Kopie und keine Replik ist, als eine Form des jedem von uns eigenen unbewussten Bedürfnisses sehen, sich mit der blinden Prägung zu versöhnen, die der Zufall ihm gegeben hat, sich durch Neubeschreibung dieser Prägung in Ausdrücken, die, wie marginal auch immer, doch seine eigenen sind, ein Selbst zu schaffen.“34 Diese Formulierung ist nun insofern in aufschlussreicher Weise undifferenziert, als ich mich entweder mit der „blinden Prägung“, die mir der Zufall gegeben hat, „versöhnen“, demnach, so ist diese Formulierung wohl zu verstehen, in diese Prägung einwilligen kann, ohne dass diese Prägung dabei als Resultat von Selbsterschaffung verstanden wird, oder ganz im Gegenteil diese Prägung durch die eigenen Vokabulare neu beschreiben und somit grundlegend transformieren kann, um so durch „Neubeschreibung dieser Prägung“ ein unverwechselbares „Selbst zu schaffen“. Dies sind aber zwei durchaus unterschiedliche Verhaltensweisen. Verharren wir vorerst auf der Ebene einer rein funktionalen Argumentation, dann mag freilich gar nichts dagegen einzuwenden sein, geistig variabel und in Korrespondenz mit dem jeweiligen Typus von Kontingenz, welcher die Aufgabe seiner Bewältigung auferlegt, jene praktische Strategie zu verfolgen, welche funktional am vielversprechendsten ist. Aber je nachdem, welche spezifische Situation von Kontingenz vorliegt, sind eben gerade nicht beliebig viele Formen der Bewältigung von Kontingenz praktisch hilfreich, sondern nur eine bestimmte. Wird hingegen diese Variabilität von Situationen der Kontingenz verkannt, kann die anempfohlene Kontingenzbewältigungspraxis immer nur in eingeschränkter Weise funktionale Tauglichkeit beanspruchen. Ein ganz anders gearteter Einwand gegen Rortys Philosophie der Kontingenz ergibt sich hingegen, wenn wir uns der letzten unserer oben aufgelisteten Rückfragen zuwenden, und betrifft folglich weniger die Frage der praktischen Funktionalität von Selbsterschaffung als Medium der Kontingenzbewältigung, sondern die normative Legitimität dieses Mediums. Warum soll es, wie Rorty suggeriert, normativ stets und immer geboten sein, sich neu zu erschaffen und sich zu neu beschreiben? Warum soll normativ davon abzuraten sein, sich – altmodisch gesprochen – treu zu bleiben? Warum muss 34

Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a.a.O., S. 83.

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man überhaupt ein neuer oder anderer werden? Warum darf man nicht der bleiben, der man ohnehin immer war, ist und sein wird? Rorty selbst konfrontiert sich in einer Passage in Kontingenz, Ironie und Solidarität einmal mit Einwänden dieser Art, wenn er diagnostiziert: „Aber die meisten Menschen wollen nicht neubeschrieben werden. Sie wollen so genommen werden, wie sie sich selbst verstehen – ernst genommen werden, so wie sie sind und so wie sie sprechen.“35 Welches normative Ideal würde Rorty diesen Menschen entgegenhalten? Was versäumen sie im Leben? Der bisherige Stand unserer Rekonstruktion von Rortys Kontingenzbewältigungspraxis vermittelte uns noch nicht hinreichend Aufschluss darüber, wie Rorty derartigen Vorbehalten begegnen würde. Allenfalls eine zitierte Passage im Kontext von Rortys Proust-Interpretation deutete an, dass der Begriff der Autonomie den normativen Fixpunkt von Rortys Philosophie der Kontingenz bildet.36 Weder die theoretische Anerkennung von Kontingenz noch die praktische Transformation übernommener Kontingenzen in selbsterzeugte sind für Rorty Selbstzweck, sondern normativ gerade deshalb zu empfehlen, weil sie der Autonomie des eigenen Lebens dienlich sind. Die Tatsache, dass Rortys Appell, nicht nur die eigenen Kontingenzen zu erkennen, sondern sich selbst zu erschaffen, indem man aus der Kruste tradierter Vokabulare ausbricht und diese durch neue Vokabulare ersetzt, tatsächlich auf einem bestimmten Ideal von Autonomie beruht, ist darüber hinaus besonders deutlich der Einleitung von Kontingenz, Ironie und Solidarität zu entnehmen. Dort schreibt Rorty etwa, als Kriterium für „private Vervollkommung“ gelte ihm „ein selbstgeschaffenes, autonomes menschliches Leben“37 . In ganz ähnlicher Manier heißt es an einer anderen Stelle von Kontingenz, Ironie und Solidarität, es gebe „nur ein Kriterium für private Vervollkommnung – Autonomie, nicht die Affiliation an eine Macht außerhalb ihrer selbst.“38 Was wiederum heißt nun für Rorty eigentlich Autonomie? Und weshalb ist ihm diese ein unbezweifelbarer Wert? Rorty unterscheidet Autonomie, so deutet das letzte Zitat bereits an, von der Affiliation an den Wesenskern einer Persönlichkeit und von einem Akt geistiger und seelischer Versöhnung oder Einverständniserklärung mit diesem Kern und dessen Genese. Autonomie will Rorty vielmehr gerade als Resultat wie als Moment erfolgreicher Versuche der Selbsterschaffung verstanden wissen. Das klingt, so möchte man einwenden, wie eine Tautologie. Selbsterschaffung soll orientiert sein am Gewinn und der Erweiterung individueller Autonomie; Autonomie soll sich in Versuchen von Selbsterschaffung und deren Resultaten artikulieren. Aber für Rorty handelt es sich hier eben gerade nicht um eine Tautologie, sondern um den allein bewahrenswerten Gehalt des Autonomiebegriffs, insofern für ihn jedes andere, vermeintlich essentialistische Verständnis von Autonomie unweigerlich die theoretische Grenze zwischen Autonomie und Affiliation missachtet, insofern auch die Annahme eines wie auch immer aufzufassenden Persönlichkeitskerns impliziert und daher mit der Kontingenz- oder Zufallsgebundenheit unseres Selbst unverträglich ist: „Autonomie ist nichts, was alle Menschen tief in ihrem 35 36

37 38

Ebd., S. 153. Vergleiche dazu Anmerkung 22 auf S. 668 in diesem Kapitel und die sich daran unmittelbar anschließenden Bemerkungen. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a.a.O., S. 12. Ebd., S. 164.

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Inneren hätten; es ist etwas, was bestimmte besondere Menschen durch Selbsterschaffung zu erreichen hoffen und einige von ihnen tatsächlich erreichen.“39 Im Anschluss an Isaiah Berlins Differenzierung von negativem und positivem Freiheitsbegriff könnte man Rortys Verständnis von Autonomie als ein negatives im Sinne der Abwesenheit nicht-selbstgeschaffener Vokabulare bezeichnen.40 Diese Abwesenheit des Zwangs nicht-selbstgeschaffener Vokabulare erscheint Rorty offenkundig als ein nicht weiter befragbares Gut, sodass man sagen könnte, dass das Streben nach Autonomie in Rortys Sinne daraus letztlich seine normative Legitimität bezieht. Indes, gibt es nicht auch normative Grenzen des Autonomieideals ebenso oder gerade in dem Maße, wie es auch im Sinne unserer obigen Argumentation Grenzen der funktionalen Tauglichkeit von Selbsterschaffung gibt? An einer Stelle gegen Ende des zweiten Kapitels von Kontingenz, Ironie und Solidarität findet sich bezüglich dieser Frage eine bemerkenswerte Passage, deren theoretische Sprengkraft für seine eigene Argumentation Rorty offensichtlich übersieht. Rorty schreibt darin, dass „kein Entwurf einer Selbsterschaffung durch das Aufprägen der eigenen idiosynkratischen Metaphorik mehr als nur marginal und parasitär sein kann.“41 Auch neu zu schaffende Vokabulare, so gibt Rorty nun offenkundig selbst zu bedenken, seien verständlich nur vor dem Hintergrund geteilter und allgemein verständlicher Vokabulare. Und was für Vokabulare gelte, so konzediert Rorty zudem, gelte auch für das Leben insgesamt; „kein Leben, das nicht weitgehend parasitär von einer nicht-neugeschriebenen Vergangenheit zehrte und nicht von der Barmherzigkeit noch ungeborener Generationen abhinge.“42 Wenn Selbsterschaffung aber allein schon in funktionaler Hinsicht auf etwas angewiesen ist, was sie selbst nicht erschaffen hat, stellt sich die Frage, ob angesichts dieses Befunds normative Schlussfolgerungen nicht unvermeidlich sind. Wenn Selbsterschaffung allein schon in funktionaler Hinsicht auf etwas angewiesen ist, was sie selbst nicht erschaffen hat, ist dann nicht auch in normativer Hinsicht ein Bewusstsein für das aller Selbsterschaffung Vorgängige geboten? Verhielte es sich mithin so, dass, um eine Formulierung von Alasdair MacIntyre aufzugreifen, erst die Anerkennung von Abhängigkeit der Autonomie den Weg bereitet und folglich die Anerkennung von Abhängigkeit auch in normativer Hinsicht dem Streben nach Autonomie vorausginge?43 Wäre diese „Anerkennung der Abhängigkeit“ (MacIntyre) mithin die angemessene normative Reaktion auf den Befund, dass alle Projekte der Selbsterschaffung niemals „mehr als nur marginal und parasitär“ sein können? Diesen normativen Fragen wenden wir uns sogleich im Zuge einer Kontrastierung von Rortys Programm der Selbsterschaffung als 39 40

41 42 43

Ebd., S. 117. Insofern wäre Rortys in Kontingenz, Ironie und Solidarität immer wieder geäußerte Wertschätzung für Berlins negativen Freiheitsbegriff auch anderes als lediglich die Sympathie eines Liberalen für einen anderen liberalen Geist, sondern Folge eines „negativen“ Verständnisses von Autonomie als Abwesenheit von Zwang in Form von tradierten Vokabularen im Gegensatz zu einem positiven Verständnis von Autonomie als Affiliation. Ebd., S. 80. Ebd., S. 82. Vergleiche hierzu Alasdair MacIntyre, Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, Hamburg 2001 (1999), S. 100: „Die Anerkennung der Abhängigkeit ist der Schlüssel zur Unabhängigkeit.“

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Kulminationspunkt ironischer Kontingenzbewältigungspraxis mit Marquards skeptischer Kontingenzbewältigungspraxis im folgenden Abschnitt dieses Kapitels zu. Am Ende dieses ersten Abschnitts bleibt lediglich festzuhalten, dass sich Rortys Ausführungen in Kontingenz, Ironie und Solidarität von dem von ihm selbst diagnostizierten Sachverhalt, dass alle Selbsterschaffung niemals „mehr als nur marginal und parasitär“ sein kann, weder hinsichtlich ihres Ideals noch hinsichtlich ihrer Überzeugung, Selbsterschaffung sei das funktional vielversprechendste Medium, um Kontingenz zu bewältigen, erschüttern lassen. (2) Was wäre aber nun nicht nur gegen die kontingenzbewältigungsfunktionale Plausibilität, sondern auch in einem normativen Sinne gegen Rortys Programm von Selbsterschaffung als Kulminationspunkt einer ironischen Kontingenzbewältigungspraxis einzuwenden? Wäre etwas einzuwenden? In einer Art von Vorgriff auf diesen zweiten Abschnitt des Kapitels verwiesen wir bereits in unserer Rorty-Diskussion auf Marquards Differenzierung von Schicksalskontingenz und Beliebigkeitskontingenz oder Schicksalszufälligem und Beliebigkeitszufälligem und gewannen dieser Differenzierung das Argument ab, Rortys kontingenzbewältigungspraktisches Programm eines ironischen Selbstverhältnisses und einer Selbsterschaffung im Sinne des Versuchs, „übernommene durch selbsterzeugte Kontingenzen zu ersetzen“, erweise sich lediglich für eine Form von Kontingenz oder Zufall geeignet, nämliche für diejenige, die man per definitionem durch eigenes Tun und Handeln ändern kann, nicht aber für diejenige, die man per definitionem durch eigenes Tun und Handeln gerade nicht ändern kann. Marquards Apologie des Zufälligen im Namen menschlicher Endlichkeit und sein Programm einer skeptischen Kontingenzbewältigung bezweifeln aber nicht nur die funktionale Tauglichkeit des Projekts der Selbsterschaffung als Kulminationspunkt einer ironischen Kontingenzbewältigungspraxis, insofern dieses doch an einer unverfügbaren Kontingenz per definitionem scheitern muss. Marquards Apologie des Zufälligen im Namen menschlicher Endlichkeit und sein Programm einer skeptischen Kontingenzbewältigung stellen auch die normative Legitimität von Rortys Autonomiebegriff und somit auch Rortys sprachphilosophisch transformiertes Ideal von Selbsterschaffung, welches ja, wie wir im vorherigen Abschnitt zeigten, dieser Vorstellung von Autonomie normativ zutiefst verpflichtet ist, in Frage. Statt der letztlich uneinholbaren Chimäre absoluter Autonomie nachzujagen, sollten wir, so empfiehlt Marquard, zumindest für den Bereich des Schicksalszufälligen oder Schicksalskontingenten in das Unverfügbare unseres Lebens einwilligen. Diese auch in einem normativen Sinne gebotene Einwilligung in das menschlicher Endlichkeit sich verdankende Schicksalszufällige oder Schicksalskontingente bezeichnet Marquard als Skepsis. Skepsis ist für Marquard Einwilligung in das Schicksalszufällige. Einwilligung in das Schicksalszufällige ist für Marquard Skepsis: „Skepsis ist […] die Bereitschaft zur eigenen Kontingenz. Das hat nichts mit Beliebigkeitslust zu tun. Der aus der christlichen Schöpfungstheologie kommende Endlichkeitsbegriff des Kontingenten (Zufälligen) meint zwar ‚das, was auch anders sein könnte‘. Doch es ist – wenn man es nicht von Gott, sondern (menschlicher) vom Menschen her sieht – doppelter Art. Entweder ist das Zu-

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fällige ‚das, was auch anders sein könnte‘ und durch uns änderbar ist (z. B. diese Rede: ich könnte sie so oder anders halten): also das Beliebigkeitszufällige. Oder das Zufällige ist ‚das, was auch anders sein könnte‘ und gerade nicht oder nur wenig durch uns änderbar ist (als negationsresistenter Schicksalsschlag: z. B. geboren zu sein): also das Schicksalszufällige. Der Skeptiker nun meint: in unserem Leben sind die Schicksalszufälle untilgbar prägend; zu ihnen gehören auch unsere Üblichkeiten, auf die wir angewiesen sind: denn wir regeln unser Leben überwiegend nicht selber, schon gar nicht absolut. Daraus eben folgt: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle – unsere Schicksalszufälle – als unsere Leistungen. Ich sage nicht: wir sind nur unsere Zufälle. Ich sage einzig: wir sind nicht nur unsere Leistungen, sondern auch unsere Zufälle, unsere Schicksalszufälle. Und ich füge außerdem noch hinzu: wir sind stets mehr unsere Zufälle – unsere Schicksalszufälle – als unsere Leistungen. Darum müssen wir das Zufällige leiden können; denn Leben mit dem Zufälligen: das ist keine misslungene Absolutheit, sondern unsere geschichtliche Normalität.“44 Derartige Sätze markieren offenkundig das exakte Gegenprogramm zu Rortys Programm von Selbsterschaffung als Kulminationspunkt ironischer Kontingenzbewältigungspraxis. Statt einer Kontingenzbewältigung durch ein ironisches Selbstverhältnis und die Selbsterschaffung von Vokabularen, die einem ganz bestimmten Ideal menschlicher Autonomie verpflichtet ist, empfiehlt Marquard das Programm einer Kontingenzbewältigung durch Skepsis im Sinne einer Einwilligung in das Unverfügbare und im Namen menschlicher Endlichkeit, welches um die funktionalen wie normativen Grenzen menschlicher Autonomiebemühungen weiß. Zwar beschäftigt sich Marquards Plädoyer für eine skeptische Kontingenzbewältigungspraxis an keiner mir bekannten Stelle explizit mit Rortys Philosophie. Aber Marquard formuliert und entwickelt sein skeptisches Programm einer Einwilligung in das Unverfügbare im Namen menschlicher Endlichkeit als eine dem „Programm der Absolutmachung des Menschen“45 geradezu konträre theoretische Position. Die „moderne Zuspitzung“ dieser Verabsolutierung des Glaubens an die praktische Verfügbarkeit des menschlichen Lebens erblickt Marquard in seinem 1984 gehaltenen Vortrag „Apologie des Zufälligen“ in Sartres Formel, wonach der Mensch ganz und gar nur seine Wahl und sein Entwurf ist und sein soll. In Sartres Vortrag „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ heißt es in der Tat, „der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht“46 , der Mensch sei also nichts anderes als Wahl und Entwurf. Indes, als „allermodernste Zuspitzung“ und sprachphilosophisch transformierte Form der „Absolutmachung des Menschen“ dürfte Marquard heutzutage wohl Rortys Programm von Selbsterschaffung durch die Erzeugung eigener idiosynkratischer Vokabulare und die Eskamotierung der tradierten Vokabulare gelten. 44

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Odo Marquard, „Skeptiker. Dankrede“ (1985), in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, a.a.O., S. 8. Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 118. Jean-Paul Sartre, „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ (1946), in: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 150.

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Worin besteht dieses „Programm der Absolutmachung des Menschen“? Marquard umschreibt es so: „Der Mensch ist – oder soll sein – ausschließlich das Resultat seiner Absichten. Er ist dann das handelnde Wesen, dem nichts mehr widerfährt. Nichts Menschliches darf unbeabsichtigt, nichts Menschliches darf ungewählt geschehen; nichts mehr darf dem Menschen zustoßen. Denn nur dann gilt: die Menschen sind nicht ihre Zufälle, sondern ganz und gar nur ihre Wahl. […] Diese Wahl muss absolut sein: also keine zufällige Option, die auch anders sein könnte, durch andere Absichten ersetzbar.“47 Dieses Programm aber ist laut Marquard zum Scheitern verurteilt. Rortys Ideal der Selbsterschaffung des eigenen idiosynkratischen Vokabulars nicht minder als Sartres Ideal eines Lebens als Realisierung einer Wahl oder eines Entwurfs, sie stoßen Marquard zufolge allein in funktionaler Hinsicht an eine unüberwindliche Grenze, und dies liegt für Marquard wesentlich an der menschlichen Endlichkeit: „Gegen das Programm der Absolutmachung des Menschen steht also seine – sterblichkeitsgeprägte – Wirklichkeit; und ich möchte im Folgenden dafür werben, dass man das philosophisch anerkennt: durch Apologie des Zufälligen.“48 Weil wir Menschen zum Tode sind, können wir niemals zur Gänze Wahl und Entwurf, daher auch niemals absolut autonom sein: „Für die absolute Wahl ist das Menschenleben zu kurz; ganz elementar: die Menschen haben einfach nicht genug Zeit, das, was sie – zufälligerweise – schon sind, absolut zu wählen oder abzuwählen und statt seiner etwas ganz anderes und Neues zu wählen oder gar absolut zu wählen: ihr Tod ist stets schneller als ihre absolute Wahl.“49 Insofern sich Sartres wie Rortys Programme der Selbsterschaffung als kontingenzbewältigungsfunktional untauglich erweisen, liegt ihnen aber auch in normativer Hinsicht ein falsches Ideal menschlicher Autonomie zugrunde. Marquards Philosophie der Kontingenz reflektiert die allenfalls eingeschränkte funktionale Tauglichkeit des Programms der Selbsterschaffung im Sinne eines Ideals unbegrenzter Autonomie für die Bewältigung von Kontingenz, insofern ihr die Einwilligung in ein Zufälliges oder in eine Kontingenz, welche wir selbst nie geschaffen haben, sondern die vielmehr uns in einer unserem Handeln entzogenen Weise prägen und beeinflussen, nunmehr auch in normativer Hinsicht als geboten gilt, während umgekehrt das „Programm der Absolutmachung des Menschen“ als nicht nur in funktionaler Hinsicht untauglich, sondern auch in normativer Hinsicht als fragwürdig erscheint. Wenn wir weder die Faktizität unseres eigenen Daseins noch das Ende dieser Faktizität unseren eigenen Leistungen verdanken, erscheint es normativ keinesfalls zwingend, sich für dieses unverfügbar zwischen Geburt und Tod pendelnde Leben tatsächlich einzig und ausschließlich an dem Ideal unbegrenzter Au47

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Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, a.a.O., S. 119 f. Ebd., S. 121. Ebd., S. 121.

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tonomie zu orientieren, an dem Ideal, nur das zu sein, wozu wir uns selbst machen, an dem Ideal, übernommene in selbsterzeugte Kontingenzen zu verwandeln, an dem Ideal, um es schließlich mit Freud zu formulieren, dort, wo Es war, alles zum Ich werden zu lassen. Vielmehr stellt sich einer immer schon unverfügbar ins Leben gerufenen und unverfügbar endenden Existenz die Aufgabe, sowohl in die Unverfügbarkeit der Faktizität ihrer Existenz ebenso wie in alle sich an diese Unverfügbarkeit anschließenden Unverfügbarkeiten einzuwilligen. Diesem normativen Ideal einer „Anerkennung der Abhängigkeit“ (MacIntyre), welches alle Einwilligung in das Unverfügbare und also auch Marquards Apologie des Zufälligen normativ grundiert, dürften dabei stets zwei Komponenten zu eigen sein: Unabhängigkeit und Autonomie lassen sich erstens nur gewinnen, wenn wir unsere „schlechthinnige Abhängigkeit“ (Schleiermacher) anerkennen und nicht das Streben nach Autonomie als alleiniges oder höchstes normatives Ideal akzeptieren. So besagte schon MacIntyres oben erwähntes Argument: „Die Anerkennung der Abhängigkeit ist der Schlüssel zur Unabhängigkeit.“50 Dieser Gedanke lässt sich aber auch mit einer Formulierung von Martin Seel auf einen prägnanten Begriff bringen: „In unserem Bestimmen frei sind wir nur, wenn wir uns nach bestem Wissen und Gewissen von uns und der Welt bestimmen lassen.“51 Das Ideal einer Anerkennung von Abhängigkeit enthält aber noch eine zweite, ungleich radikalere Komponente: Demnach ist die Anerkennung der Abhängigkeit nicht nur Medium zum Zwecke der Erlangung von Unabhängigkeit und Autonomie, sondern sie reüssiert selbst als ein Zweck, ohne dass wir diese Anerkennung zu einem Medium der Souveränität instrumentalisieren dürften oder für diese Anerkennung mit einer Unabhängigkeit höherer Ordnung entlohnt würden. Wir sollten – unbedingt – unsere Abhängigkeit anerkennen und in diese einwilligen, wir sollten, um es mit Freud zu formulieren, den Zufall für würdig halten, „über unser Schicksal zu entscheiden“52 , wir sollten Abstand davon nehmen, 50 51

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Vergleiche oben meine Anmerkung 43, S. 675. Martin Seel, Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2002, S. 7. Als inkonsequent empfinde ich indes Seels dieser Bemerkung sofort nachgeschobene Qualifikation, das Motiv des Lassens verwende er nicht, „um den Gedanken der Autonomie zu schwächen, sondern um ihm eine realistische Gestalt zu geben.“ Inkonsequent insofern, als dem Gedanken der Autonomie eine realistische Gestalt zu geben, doch immer auch heißen muss, ihn – im Vergleich zu übertriebenen Idealen von Autonomie – zu schwächen. Trotz seiner inhaltlich begrüßenswerten Kritik an einem falschen Autonomieideal kann sich Seel der begrifflichen Hegemonie des moralphilosophischen Autonomiediskurses nicht entziehen. Sigmund Freud, „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1910), in: Gesammelte Werke, Band 8: Werke aus den Jahren 1910–1913, Frankfurt am Main 1955, S. 210. Im Zusammenhang zitiert lautet Freuds Bemerkung: „[…] wenn man den Zufall für unwürdig hält, über unser Schicksal zu entscheiden, ist es bloß ein Rückfall in die fromme Weltanschauung.“ Freuds Bemerkung impliziert also eine Dichotomie zwischen Zufallsaffirmation und religiösem Glauben, der ich mich in dieser Arbeit gerade zu entwinden versuche. Unabhängig davon scheint sich Freuds Feststellung in „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ aber als Bekenntnis zu einer Einwilligung in das Schicksalszufällige und als Protest gegen ein übertriebenes Autonomieideal verstehen lassen zu können. Grundsätzlich freilich muss Freuds theoretisches Verhältnis des Zufalls, wie es sich seiner Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens entnehmen lässt, ganz anders verstanden werden. Es zeigt sich dabei eine zutiefst ambivalente Einstellung: Einerseits

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negiert Freud jedwede Form des Zufalls im Bereich des Psychischen. Er verteidigt vielmehr die Annahme eines lückenlosen Determinismus gegen die Annahme von psychischen Zufälligkeiten oder Willkürlichkeiten. Insofern gilt ihm im Bereich des Psychischen der Zufall nicht als ein Zufall, sondern als ein Symptom, dessen verborgene Bedeutung die Psychoanalyse aufzuklären prinzipiell in der Lage ist. In dieser Hinsicht gleicht der Zufall anderen Psychopathologien des Alltagslebens, wie dem Versprechen, dem Vergessen, dem Vergreifen. Freud selbst formuliert dies so: „Ich habe eine große Anzahl solcher Zufallshandlungen bei mir und anderen gesammelt, und meine nach gründlicher Untersuchung der einzelnen Beispiele, dass sie eher den Namen von Symptomhandlungen verdienen. Sie bringen etwas zum Ausdruck, was der Täter selbst nicht in ihnen vermutet und was er in der Regel nicht mitzuteilen, sondern für sich zu behalten beabsichtigt.“ (S. 212 f.) Ja, jene psychoanalytischen Erkenntnisse, die sich im Zuge eines Verständnisses von Zufällen als Symptomhandlungen ergeben, hält Freud für äußerst weitreichend, „dem Menschenbeobachter verraten sie oft alles, und mitunter selbst mehr, als er zu wissen wünscht. Wer mit ihrer Würdigung vertraut ist, darf sich gelegentlich wie König Salomo vorkommen, der nach der orientalischen Sage die Sprache der Tiere verstand.“ (S. 222) Der Weg zum Gipfel einer umfassenden Erkenntnis der psychischen Eigenheiten eines Individuums führt demnach durch das Tal der Aufklärung von Zufällen im Sinne von Symptomhandlungen. Freuds These von der lückenlosen Determinierung aller psychischen Vorgänge und die entsprechende Leugnung der Existenz eines Zufalls bezieht sich allerdings nur auf all jene Phänomene, die mit der Psyche jener Person, welcher ein solcher Zufall widerfährt, in wie auch immer gearteter Verbindung stehen. Niemand verliert zufällig seinen Ring, niemand lässt sich zufällig den Namen Dora einfallen, niemand kommt zufällig auf die Zahl 2467. Gänzlich anders stellt sich der Fall allerdings dar, wenn es sich um Vorgänge handelt, die mit dem Psychischen keinerlei Verbindung aufweisen. Freud bejaht ausdrücklich, dass es jenseits des Psychischen Zufälle gebe, und verteidigt diese Art des Zufalls ausdrücklich gegen jedwede Form der theoretischen Eliminierung eines solchen Zufalls durch irgendeine Form von Sinnstiftung, wie sie ihm zufolge die Rede von einem Fingerzeichen des Schicksals oder einer göttlichen Vorsehung unterstellt, Redeweisen also, die den von psychischer Begebenheit unabhängigen Zufall in irgendeiner Weise als sinnhaft, gleichsam als Lehre verstanden wissen wollen, und in denen Freud nichts anderes als Relikte eines Aberglaubens entdecken kann. Wie genau Freud diese Trennlinie zwischen psychischem und realem Zufall verstanden wissen will, macht folgende Illustration deutlich: „Von den Ferien zurückgekehrt, richten sich meine Gedanken alsbald auf die Kranken, die mich in dem neu beginnenden Arbeitsjahre beschäftigen sollen. Mein erster Weg gilt einer sehr alten Dame, bei der ich […] seit Jahren die nämlichen ärztlichen Manipulationen zweimal täglich vornehme. Wegen dieser Gleichförmigkeit haben sich unbewusste Gedanken sehr häufig auf dem Wege zu der Kranken und während der Beschäftigung mit ihr Ausdruck verschafft. Sie ist über neunzig Jahre alt; es liegt also nahe, sich bei Beginn eines jeden Jahres zu fragen, wie lange sie noch zu leben hat. An dem Tag, von dem ich erzähle, habe ich Eile, nehme also einen Wagen, der mich vor ihr Haus führen soll. Jeder der Kutscher auf dem Wagenstandplatz vor meinem Hause kennt die Adresse der alten Frau, denn jeder hat mich schon oftmals dahin geführt. Heute ereignete es sich nun, dass der Kutscher nicht vor ihrem Hause, sondern vor dem gleichbezifferten in einer nahegelegenen und wirklich ähnlich aussehenden Parallelstraße Halt macht. Ich merke den Irrtum und werfe ihn dem Kutscher vor, der sich entschuldigt. Hat das nun etwas zu bedeuten, dass ich vor ein Haus geführt werde, in dem ich die alte Dame nicht vorfinde? Für mich gewiss nicht, aber wenn ich abergläubisch wäre, würde ich in dieser Begebenheit ein Vorzeichen erblicken, einen Fingerzeig des Schicksals, dass dieses Jahr das letzte für die alte Frau sein wird. Recht viele Vorzeichen, welche die Geschichte aufbewahrt hat, sind in keiner besseren Symbolik begründet gewesen. Ich erkläre allerdings den Vorfall für eine Zufälligkeit ohne weiteren Sinn. Ganz anders läge der Fall, wenn ich den Weg zu Fuß gemacht und dann in ‚Gedanken‘, in der ‚Zerstreutheit‘ vor das Haus der Parallelstraße anstatt vors richtige gekommen wäre. Das würde ich für keinen Zufall erklären, sondern für eine der Deutung bedürftige Handlung

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so möchte man sagen, uns zu Herren über unser Schicksal aufzuspielen53 , welche über ebendieses in einer uneingeschränkten und von unverfügbaren Zufällen und Kontingenzen unberührten Weise verfügen. Es ist vielmehr normativ geboten – so das Credo von Marquards Programm einer Kontingenzbewältigung durch Skepsis im Sinne einer Einwilligung in das Unverfügbare und im Namen menschlicher Endlichkeit –, auf die Endlichkeit des menschlichen Lebens intellektuell zu reagieren, indem wir in jenes Unverfügbare einwilligen, welches durch die unleugbare Tatsache menschlicher Endlichkeit exemplarisch repräsentiert wird, indem wir uns zumindest mit jener unverfügbaren Form von Zufall und Kontingenz einverstanden erklären, welche Marquard

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mit unbewusster Absicht.“ (S. 285 f.) Freud akzeptiert also den Zufall in der Wirklichkeit und negiert den psychischen Zufall. Der „Abergläubische“ hingegen, derjenige, der in der Tatsache, dass der Kutscher seinen Fahrgast zur falschen Adresse fuhr, einen Wink des Schicksals oder der göttlichen Vorsehung sieht und dieses Ereignis als sinn- oder lehrhaft beschreibt, negiert laut Freud den realen Zufall. Die Intention, eine bestimmte Form des Zufalls nicht als Zufall gelten zu lassen, eint demnach Aberglaube und Psychoanalyse. Aber die Psychoanalyse sucht nach der verborgenen Determinierung des Zufalls in der Psyche, der Aberglaube nach der verborgenen Determinierung eines Zufalls, welcher mit der Psyche des von diesem Zufall Betroffenen in keiner Verbindung steht. Der Aberglaube verschiebt demnach in der Deutung Freuds eine richtige Ahnung von einer grundsätzlichen Determinierung des Zufalls in die falsche Sphäre. „Weil der Abergläubische von der Motivierung der eigenen zufälligen Handlungen nichts weiß, und weil die Tatsache dieser Motivierung nach einem Platze in seiner Anerkennung drängt, ist er genötigt, sie durch Verschiebung in der Außenwelt unterzubringen.“ (S. 287) Dieselbe Unterscheidung zwischen Aberglaube und Psychoanalyse lässt sich auch an einem historischen Beispiel illustrieren, das jenem in Freuds Augen voraufgeklärten Zeitalter entstammt, welches „unserer modernen, naturwissenschaftlichen, aber noch keineswegs abgerundeten Weltanschauung“ (S. 288) vorausging. Freud schreibt: „Der Römer, der eine wichtige Unternehmung aufgab, wenn ihm ein widriger Vogelflug begegnete, war also relativ im Recht; er handelte konsequent nach seinen Voraussetzungen [den Voraussetzungen einer vorwissenschaftlichen Weltanschauung; P.V.]. Wenn er aber von der Unternehmung abstand, weil er an der Schwelle seiner Tür gestolpert war […], so war er uns Ungläubigen auch absolut überlegen, ein besserer Seelenkundiger, als wir uns zu sein bemühen. Denn dieses Stolpern musste ihm die Existenz eines Zweifels, einer Gegenströmung in seinem Innern beweisen, deren Kraft sich im Moment der Ausführung von der Kraft seiner Intention abziehen konnte.“ (S. 288) Vergleiche zu Freuds Diskussion des Zufalls: Sigmund Freud „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ (1901), in: Gesammelte Werke. Band IV, Frankfurt am Main 1969 (1941), S. 212–242 und S. 267–311. Diesen Passagen entstammen auch die obigen Zitate. Dieter Thomä schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „[…] es läge doch eine seltsame Demütigung des Menschen darin, wenn man ihm bei all dem, worum er sich bemüht und was er erreicht hat, vorhalten würde, er könne eigentlich gar nichts dafür.“ Die Interpretation dieses Zitats hängt natürlich ab von dem Bedeutungsumfang der beiden Wörtchen „all dem“. Prononciert man es im Sinne eines kontrastierenden Effekts, dann ließe sich ausgehend von Freuds Formulierung argumentieren, dass es ganz und gar keine „seltsame Demütigung des Menschen“ darstellt, den Zufall für würdig zu halten, über unser Schicksal zu entscheiden, sondern vielmehr eine Befreiung von übertriebenen – funktional untauglichen und normativ fragwürdigen – Autonomieidealen und eine aus der Einsicht in das Unverfügbare unseres Lebens resultierende Bekräftigung einer dem menschlichen Leben durchaus angemessenen Demut bedeutet. Als „seltsam“ empfinde ich diese Demut ganz und gar nicht, seltsam ist vielmehr die unbefragte Akzeptanz der philosophischen communis opinio, wonach jeder seines Glückes Schmied ist. Dieter Thomä, „Nicht jedem die gleiche Schnitte“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.8.2008, S. 37.

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als Schicksalskontingenz oder als das Schicksalszufällige bezeichnet. Die Orientierung am Ideal einer grenzenlos autonomen Lebensgestaltung hingegen wird in dem Maße auch normativ fragwürdig, wie sie die fundamentale Tatsache der endlichkeitsgeprägten Struktur des menschlichen Lebens verkennt. Dabei will Marquard gar nicht bestreiten, dass wir, was nun die Beliebigkeitskontingenz oder das Beliebigkeitszufällige angeht, nicht durchaus versuchen können und versuchen sollen, diesen Typus des Kontingenten oder Zufälligen zu beeinflussen. Als paradigmatisches Beispiel für den menschlichen Umgang mit Beliebigkeitskontingenz gilt Marquard die Kunst. Diese kann als „Rendezvous mit dem Zufall“ (Marcel Duchamp) das Bewusstsein der Kontingenz des eigenen Daseins ästhetisch auf die Spitze treiben und steigern. Der Künstler nutzt „das Kontingente als Material zur ‚Faktur‘ einer künstlichen Welt der Artefakte.“54 Oder Kunst reduziert Beliebigkeitskontingenz durch Form, denn „Form ist die Reduktion von Beliebigkeitskontingenz.“55 Gegenüber den Varianten und Erscheinungsformen des Beliebigkeitszufälligen, die unser Leben durchaus auch bestimmen und die von Marquard auch keinesfalls geleugnet werden – eben deshalb besteht Marquard zufolge unser Leben aus „Handlungs-WiderfahrnisGemischen“56 , nicht nur aus Schicksalszufällen oder Widerfahrnissen, aber eben auch nicht nur aus Beliebigkeitszufällen oder Handlungen –, ist aber doch, was unser endliches Leben betrifft, für jede individuelle Lebensbilanz eine „Dominanz des Schicksalszufälligen“57 zu konstatieren. Die unvermeidbare Dominanz des Schicksalszufälligen äußert sich am augenscheinlichsten und einprägsamsten in Geburt und Tod, jenen beiden Phänomenen des Schicksalszufälligen mit den erdenklich stärksten Konsequenzen für eine Biographie. Das Schicksalszufällige präsentiert sich Marquard zufolge aber auch noch in anderen Erscheinungsformen. Marquard zählt diesbezüglich „natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse“58 auf, Krankheiten ebenso wie militärisches Schlachtenglück, Naturgesetze ebenso wie alle Arten von Üblichkeiten, die sich unserer Verfügbarkeit entziehen, rechnet aber auch die historische Vergangenheit eines Kollektivs wie eines Einzelnen und also ganz allgemein all jene Geschichten oder Widerfahrnisse, in die wir im Vollzuge unseres Lebens immer schon verstrickt sind, wie Marquard in Anlehnung an Wilhelm Schapp formuliert59 , dem Schicksalszufälligen zu. Aufgrund dieser Dominanz eines vielfältig sich äußernden Schicksalszufälligen ist für das menschliche Leben eine Form von Kontingenzbewältigungspraxis, welche im Namen menschlicher Autonomie dazu auffordert, Kontingenz durch Selbsterschaffung mittels eigener idiosynkratischer Vokabulare oder durch Entwürfe seiner selbst zu 54

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Odo Marquard, „Vorwort“, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. xi f. Ebd., S. xii. Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zuzfälligen. Philosophische Studien, a.a.O., S. 129. Ebd., S. 131. Ebd., S. 129. Vergleiche zu Schapps phänomenologischer Wesensbestimmung von Geschichten und seinem daraus resultierenden Plädoyer für die Unverfügbarkeit von Geschichten wie Geschichte meine Ausführungen im dritten Kapitel, S. 319–324.

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bewältigen, sowohl kontingenzbewältigungsfunktional ungeeigneter als auch normativ fragwürdiger als jene Form von Kontingenzbewältigungspraxis, welche im Namen menschlicher Endlichkeit und angesichts eines das menschliche Leben dominierenden Unverfügbaren dazu auffordert, in skeptischer Manier in ebendiese unverfügbare Kontingenz einzuwilligen. Dieser Aufgabe einer Einwilligung in das Unverfügbare lässt sich, so deutet Marquard am Ende seines Aufsatzes „Apologie des Zufälligen“ an, in unterschiedlicher Weise gerecht werden: Marquard erwähnt prinzipiell und ausdrücklich die Religion, erwähnt aber auch Humor und Melancholie, Lachen und Weinen im Sinne menschlicher Grenzreaktionen als Formen der „Anerkennung zuvor unbemerkter und verdrängter Schicksalszufälle“60 . In seinem Beitrag „Religion und Skepsis. Kommentar zu R. Spaemann und Th. Luckmann“61 erwähnt Marquard ferner das Erzählen von Geschichten als eine Form der Bewältigung ausdrücklich auch des Unverfügbaren, wobei er sich auch auf die von Lübbe in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse vorgeschlagene Deutung des Historismus als Kontingenzerfahrungskultur beruft. Freilich wird der Religion bei Marquard im Zusammenhang der Fragestellung nach den unterschiedlichen Varianten einer Einwilligung in das Unverfügbare stets eine vergleichsweise marginale Thematisierung zuteil, wenngleich Marquard anders als Tugendhat die Religion auch nicht als „intellektuell unredliche“ Form von Kontingenzbewältigungspraxis diskreditiert. Marquards skeptische Apologie des Zufälligen im Namen der menschlichen Endlichkeit anerkennt das unverfügbar Zufällige, aber sie optiert keinesfalls ausdrücklich für die Religion als die am besten geeignete oder gar als die einzig mögliche Form des Umgangs mit dem Unverfügbaren. Dies unterscheidet sie von Hermann Lübbes Auffassung von Religion als Kontingenzbewältigungspraxis, die einzig Religion für den angemessenen Umgang mit dem Unverfügbaren hält. (3) Hermann Lübbe hat in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse das menschliche Leben, dies besprachen wir bereits ausführlich im dritten Kapitel dieser Arbeit62 , als immer schon verstrickt in Geschichten, die nicht Resultat unserer Absichten sind, als immer schon durch unvorhergesehene Widerfahrnisse geprägt charakterisiert. Kontingenz und Zufall, die Lübbe ausdrücklich als bedeutungsgleiche Begriffe zu verwenden empfiehlt63 , sind daher für Lübbe nicht anders als für Rorty oder Marquard immer schon elementare und konstitutive Merkmale unseres Lebens. Formal unterscheidet Lübbe dabei ganz ähnlich wie Marquard, aber substanziell, wie wir sogleich sehen werden, doch in charakteristischer Weise anders, zwischen zwei Typen von Zufall und Kontingenz und entwickelt im Anschluss daran seine These von zwei Typen oder Varianten der 60

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Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Apologie des Zuzfälligen. Philosophische Studien, a.a.O., S. 135. Odo Marquard, „Religion und Skepsis. Kommentar zu R. Spaemann und Th. Luckmann“, in: Peter Koslowski (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft. Religion und ihre Theorie, Tübingen 1985, S. 42–47. Vergleiche hierzu S. 313–319 im dritten Kapitel dieser Arbeit. Vergleiche hierzu das Ende des ersten Kapitels dieser Arbeit, S. 62, und Lübbes dort zitierte Formulierung: „Es soll äquivalent mit Kontingenz auch von Zufall die Rede sein dürfen.“ Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, München 2004 (1986), S. 152.

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praktischen Bewältigung dieser Zufälle und Kontingenzen. Einerseits spricht Lübbe von Zufällen und Kontingenzen, die wir zwar nicht ändern, die wir aber durch unser Handeln in Handlungssinn transformieren können. Wir verpassen einen Zug und nutzen die Zeit, die uns so unerwartet zur Verfügung steht, für die Zeitungslektüre. Dieser Typus von Kontingenz und Zufall ließe sich als ein Subtypus von Marquards Schicksalszufälligem bezeichnen. Dass der Zug zufällig zu spät kommt, lässt sich ex hypothesi nicht von uns ändern.64 Aber wir müssen dies nicht fatalistisch hinnehmen und in regloser Passivität auf dem Bahnsteig verharren, bis der nächste für uns passende Zug kommt, sondern wir können durch unser Verhalten auf diesen in Handlungssinn transformierbaren Schicksalszufall flexibel reagieren und ihm so einen Sinn abgewinnen. Die dieser Form pragmatisch zu bewältigender Kontingenz oder pragmatisch zu bewältigenden Zufalls zugrundeliegenden Geschehnisse oder Ereignisse mögen dabei durchaus unterschiedlicher Natur sein. Sie können sich Lübbe zufolge natürlichen Einwirkungen auf unsere Handlungen – der Zug verspätete sich wegen eines Unwetters – ebenso verdanken wie den Interaktionen von menschlichen Handlungen – der Zug verspätete sich wegen eines Missverständnisses von Lokomotivführer und Bahnhofsvorsteher. Wie auch immer: Was kann es in dem konkreten Beispiel nun heißen, Erfahrungen von Kontingenz und Zufall pragmatisch durch Transformation in Handlungssinn zu bewältigen? Transformation pragmatischer Kontingenzen und Zufälle in Handlungssinn bedeutet, so heißt es bei Lübbe, „dass wir unsere Erwartungen, sei es durch Erweiterung, sei es durch Einschränkung, ohne sie aufzugeben, neu auf die Lage beziehen, in die uns der Zufall 64

Inwiefern diese Hypothese plausibel ist, soll hier nicht diskutiert werden. Gemäß der Trias von Optionen hinsichtlich der Bewältigung von Unsicherheit, Ungewissheit und Zufall, die für John Deweys Die Suche nach Gewißheit (vergleiche dazu meinen Exkurs auf S. 128–135 des zweiten Kapitels) konstitutiv ist, fiele das Beispiel des verspäteten Zugs wohl eher in das Gebiet jener „eigentlichen Künste“, in denen das „Geschehen selbst“ modifiziert werden kann, da es nur von menschlicher Praxis abhängt, und nicht in das Gebiet jener davon zu unterscheidenden Subkategorie des Strebens nach praktischer Sicherheit, der „art of control“, in dem wir einzig unsere subjektiven Einstellungen ändern können, weil das „Geschehen selbst“ nicht geändert werden kann, weil es etwa auch von naturalen Vorgaben abhängt, fiele also gerade nicht in das Gebiet der pragmatischen Bewältigung von Kontingenz, wie sie Lübbe versteht. Wie auch immer es um den pünktlichen Zug und die dafür notwendigen Voraussetzungen bestellt sein mag: Was für Dewey zwei Subkategorien des Strebens nach praktischer Sicherheit sind, könnte Lübbe ohne Widersprüchlichkeiten auffassen einerseits als eine Form von Kontingenzbewältigungspraxis, die das Geschehen zwar nicht ändern, wohl aber durch pragmatisches Handeln in Handlungssinn transformieren kann, und andererseits als eine Form von Kontingenzbewältigungspraxis, die das Geschehen selbst ändern kann. Diese letztere Form von Kontingenz wäre wiederum in Marquards und wohl auch in Lübbes Sinne als das „Beliebigkeitszufällige“ oder als „Beliebigkeitskontingenz“ zu bezeichnen. So könnten und müssten wir im Einklang mit den Kategorisierungen und Typisierungen von Zufall und Kontingenz, wie sie Dewey, Lübbe und Marquard vornehmen, von drei Typen von Zufall und Kontingenz sprechen. Strittig zwischen Lübbe, Marquard und Dewey bliebe lediglich die Frage, ob sich Kontingenzen und Zufälle, die sich allein und ohne Einflüsse von handlungsunabhängigen Faktoren menschlichen Interaktionen verdanken, wie es ex hypothesi für einen verspäteten Zug zutreffen mag, eo ipso dem Beliebigkeitszufälligen zurechnen lassen, wie Dewey unterstellt, oder durchaus auch in die Kategorie des pragmatisch in Handlungssinn transformierbaren Zufalls fallen können.

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versetzt hat.“65 Wir können also den verspäteten Zug für die Zeitungslektüre nutzen oder auch als Stimulans der Erkenntnis, dass wir heute nicht den Zielort A, wohl aber B erreichen können, wiewohl beide Arten der Reaktion nicht bedeuten, dass wir nicht sobald wie möglich unsere Reise fortzuführen wünschten. Andererseits spricht Lübbe auch von Zufällen und Kontingenzen, die wir weder ändern noch in Handlungssinn transformieren können. Auch dieser Typus von Kontingenz und Zufall erfüllt offensichtlich die entscheidende theoretische Bedingung von Marquards Schicksalszufälligem oder Schicksalskontingentem. Diese Form von Kontingenz und Zufall können wir laut Lübbe aber nur dadurch bewältigen, dass wir sie in ihrer Unverfügbarkeit anerkennen. Wir können den zufälligen Tod eines geliebten Menschen nicht ändern. Wir können diesen Schicksalszufall aber auch nicht in Handlungssinn transformieren, jedenfalls nicht in irgendeiner pragmatischen Weise, sondern wir können diesen Schicksalszufall allenfalls bewältigen, indem wir ihn anerkennen. Dies wiederum, die Bewältigung nicht in Handlungssinn transformierbarer und insofern unverfügbarer Zufälle und Kontingenzen, gelingt uns gemäß Lübbes Religionstheorie nur und allein durch Religion. Was aber versteht Lübbe unter Religion? Die Religion reagiert laut Lübbe auf jene Zufälle und Kontingenzen, die uns widerfahren und gerade nicht in Handlungssinn transformierbar sind, nicht in der Weise, wie wir Menschen in unseren alltagspragmatischen Kontexten reagieren sollten und meistens auch reagieren, wenn wir etwas nicht ändern können, also gerade nicht durch die Transformation von Kontingenz in Handlungssinn getreu der Maxime, ganz einfach das Beste aus dem nun einmal geschehenen Zufall zu machen. Zwar bewältigt auch für Lübbe die Religion – allein aus funktionalistischer Perspektive und im Kontext der eigenen Theorieabsicht betrachtet, ohne dabei entgegen einer von Robert Spaemann immer wieder kolportierten Unterstellung den Anspruch zu formulieren, die Fülle und den Reichtum religiösen Lebens und religiöser Erfahrungen phänomenologisch angemessen zu beschreiben66 – eine spezifische Form von Kontingenz, nämlich die unverfügbaren 65 66

Ebd., S. 153. Um diesem verbreiteten Missverständnis von Lübbes Beschreibung von Religion als Kontingenzbewältigungspraxis vorzubeugen, seien zwei längere Passage von Lübbe zitiert, mit denen dieser sich gegen jene Kritik an der funktionalistischen Religionstheorie wendet, wie sie exemplarisch von Spaemann geäußert wird: „Man kommt vom Hochamt, hat zu Pfingsten an einem posaunenchorbegleiteten Waldgottesdienst teilgenommen, geht als Politiker vornweg bei einer Fronleichnamsprozession mit, und nun soll gelten, in all diesen uns wohlbekannten Fällen handele es sich um ‚Kontingenzbewältigung‘? Indessen: Der Effekt solcher Berufung auf den Reichtum religiösen Lebens gegen die Dürftigkeit seiner konzeptuellen Kennzeichnung ist erschlichen. Namen und Kennzeichnungen von Konzepten sind sprachliche Unterscheidungsrepräsentanten, und die vorgeschlagenen Konzepte selbst sind Vorschläge für Unterscheidungs- und Zuordnungshandlungen. Es verbindet sich mit dem Vorschlag solcher Konzepte nicht im mindesten die Insinuation, dass, wer ihre Zweckmäßigkeit eingesehen hat und die Konzepte entsprechend zu gebrauchen weiß, eben deswegen auch schon mit der Wirklichkeit des religiösen Lebens in der Fülle seiner Inhalte bekannt gemacht worden sei. Die Sache verhält sich umgekehrt: Man braucht historische und lebenspraktische Vertrautheit mit dieser Fülle, um sie unterscheidungspraktisch in nützlicher Weise konzeptualisieren zu können.“ Hermann Lübbe, „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“, in: Odo Marquard und Gerhart von Graevenitz (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 40.

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Typen von Kontingenz, und lässt sich insofern als Kontingenzbewältigungspraxis beschreiben. Aber die Religion transformiert gerade nicht durch pragmatisches Handeln Kontingenz in Handlungssinn, sie beabsichtigt gerade nicht, das Unverfügbare in irgendeiner Weise verfügbar zu machen, sondern die Religion bewältigt Kontingenz, indem sie diese pragmatisch nicht weiter zu bearbeitende Kontingenz schlechthin anerkennt. Diese Form der nicht aktiv in Handlungssinn transformierbaren Kontingenz, welche durch Religion bewältigt wird, indem sie anerkannt wird, bezeichnet Lübbe immer wieder auch als „absolute Kontingenz“: „Wer das Vokabular der Philosophen nicht scheut, kann in bezug auf die Kontingenz, die in keinen menschlichen Handlungssinn einholbar ist, von absoluter Kontingenz reden.“67 Religion bewältigt absolute Kontingenz, mithin jenen Typus der Kontingenz, der sich nicht in Handlungssinn transformieren lässt, indem sie diese absolute Kontingenz anerkennt: „Die Kennzeichnung der Religion als Kontingenzbewältigungspraxis oder auch als Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren ist zunächst durch eine sehr einfache Pragmatik bestimmt. Sie soll den Blick auf einige fundamentale Gegebenheiten des Lebens richten, auf die wir in religiöser Lebenspraxis tatsächlich bezogen sind und in bezug auf die es zugleich absurd wäre anzunehmen, dass diese Gegebenheiten, nämlich als Gegebenheiten manifester Kontingenzerfahrung, sich durch Transformation in Handlungssinn ‚bewältigen‘ ließen. […] Die Religion hat ihren lebenspraktischen Ort da, wo es ganz sinnlos wäre, im Bemühen, Kontingenz in Handlungssinn zu transformieren, auf unsere mannigfachen Vermögen, Wirklichkeiten handelnd zu verändern, zu rekurrieren. Kurz: In religiöser Lebenspraxis verhalten wir uns zu derjenigen Kontingenz, die sich der Transformation in Handlungssinn prinzipiell widersetzt.“68 Die Religion anerkennt demnach, so schreibt Lübbe in begrifflicher und inhaltlicher Anlehnung an Schleiermacher in Religion nach der Aufklärung, das „Faktum unserer schlechthinnigen Abhängigkeit von indisponiblen Lebensvoraussetzungen“69 . Dieses Faktum als solches, dass nämlich das menschliche Leben unter Bedingungen schlecht-

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Ebenfalls deutlich und klärend ist folgende Passage aus Religion nach der Aufklärung: „Die Charakteristik der Religion durch die Funktion der ‚Kontingenzbewältigung‘ hat nicht den Zweck zu sagen, was die Religion, im Unterschied zum Selbstverständnis dieser bestimmten Religion, statt dessen sei. Ihr einziger Zweck ist, die Religion von anderen Medien des Lebensvollzugs in einer Weise zu unterscheiden, die sichtbar macht, wieso es unsinnig wäre zu erwarten, dass die Funktion der Religion fortschrittsabhängig eines Tages entfallen könnte. […] Die funktionalistische Religionstheorie sagt somit, zusammenfassend formuliert, nicht, worum es sich bei den Religionen, im Unterschied zu ihrem Selbstverständnis, in Wahrheit handelt. Sie sagt vielmehr, was religiöse Kultur unter dem Aspekt ihrer Funktion leistet.“ Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a.a.O., S. 227. Hermann Lübbe, „Vollendung der Säkularisierung – Ende der Religion?“, in: Oskar Schatz (Hg.), Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker, Graz/Köln 1974, S. 154. Hermann Lübbe, „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“, in: Odo Marquard und Gerhart von Graevenitz (Hg.), Kontingenz, a.a.O., S. 41. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a.a.O., S. 137.

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hinniger Abhängigkeit beginnt, sich vollzieht und endet, ist für Lübbe unleugbar, durch die schiere Fülle massiver Belege aus dem alltäglichen Leben evident und keiner ausführlicheren Begründung bedürftig. Das menschliche Leben spielt sich stets ab unter Bedingungen ontologischer Nichtautarkie, und mit dieser Formel will Lübbe nichts anderes bezeichnet wissen „als eine seminardeutsche Version der jedem Konfirmanden geläufigen Banalität, dass wir unser Dasein nicht uns selbst verdanken“70 . Die Religion pflegt und erinnert aber ebendiese Einsicht im Sinne einer „Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren“71 . (4) Zwei Rückfragen an Lübbes religiöse Philosophie der Kontingenz und seine Auffassung von Religion als Kontingenzbewältigungspraxis zu richten, erscheint mir naheliegend. Ich hatte diese Fragen am Beginn dieses Kapitels bereits formuliert: Erstens: Ist eine solche Bestimmung nicht zu unspezifisch?72 Gibt es nicht auch andere Formen nicht-pragmatisch verfahrender, andere nicht auf die Transformation in Handlungssinn zielende, sondern unverfügbare Kontingenzen anerkennende Formen der Bewältigung von Kontingenz als eine eben in dieser Weise zu charakterisierende Religion? Müsste mithin die Religion als eine spezifische Form der Anerkennung unverfügbarer Kontingenz von anderen Formen der Anerkennung unverfügbarer Kontingenz unterschieden werden? Marquard hatte in seiner Apologie von Kontingenz und Zufall im Namen menschlicher Endlichkeit und im Zuge seines Plädoyers für eine skeptische Form von Kontingenzbewältigungspraxis, wie wir sie im zweiten Abschnitt dieses Kapitels rekonstruierten, darauf hingewiesen, dass wir das Unverfügbare im Sinne eines Schicksalszufälligen oder im Sinne von Schicksalskontingenz etwa auch durch das Erzählen von Geschichte und von Geschichten oder durch Lachen oder durch Weinen anerkennen können. All diese konkreten Artikulationen einer Bewältigung des Unverfügbaren im Sinne eines Schicksalszufälligen oder im Sinne von Schicksalskontingenz verfahren sicherlich nicht pragmatisch, insofern sie keinesfalls die Herstellung von Handlungssinn intendieren, anerkennen vielmehr Kontingenz im Sinne eines Unverfügbaren, sind aber keine Religion. Insbesondere eine theoretische Aufmerksamkeit für das Erzählen von Geschichten als einer Form zugleich nicht-religiöser und nicht-pragmatischer Bewältigung von unverfügbarer Kontingenz hätte sich zudem gerade auch auf Lübbes geschichtstheoretisches Hauptwerk Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse berufen können.73 Marquard vermerkt dies ganz zu Recht, wenn er an den von Lübbe zur Kennzeichnung des Historismus gebrauchten Terminus der „Kontingenzerfahrungskultur“ erinnert 70 71 72

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Ebd., S. 138. Ebd., S. 149. Diesen Vorwurf äußerte schon Niklas Luhmann in seiner Besprechung von Lübbes Religion nach der Aufklärung: „Solange man Kontingenzbewältigung als Zurechtkommen mit der schlechthin unabänderlichen Daseinslage begreift, werden der Religion befriedende Obertöne zugemutet. Lübbes Begriff der ‚Anerkennung‘ bleibt entsprechend unterspezifiziert und lässt sich gegen ein bloßes Hinnehmen, wie es gekommen ist, schwer abgrenzen.“ Niklas Luhmann, „Möglichkeiten und Grenzen. Zu Hermann Lübbes Buch Religion nach der Aufklärung“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 31.1.1987, S. 69. Vergleiche hierzu S. 313–319 im dritten Kapitel dieser Arbeit.

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und in diesem Sinne den Historismus als geschichtstheoretische Vergegenwärtigung einer unverfügbaren und gerade nicht verfügbaren Geschichte und insofern als deren Bewältigung deutet.74 In ungeklärtem Widerspruch zu seiner in Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse einstmals formulierten Auffassung von Wesen und Funktion der vielen Geschichten und der einen Geschichte und seiner Deutung des Historismus als Anerkennung der Unverfügbarkeit von Geschichte legen indes Lübbes religionstheoretische Ausführungen in Religion nach der Aufklärung unmissverständlich die These nahe, dass Religion die einzig mögliche Form nicht-pragmatischer Kontingenzbewältigung ist; denn nur weil dies so ist, kann sich Lübbe in Religion nach der Aufklärung zu seiner These berechtigt sehen, dass es kein funktionales Äquivalent für die religiöse Anerkennung des Unverfügbaren gibt; und nur weil es kein funktionales Äquivalent für die religiöse Anerkennung des Unverfügbaren gibt, kann sich Lübbe zu der von ihm unaufhörlich wiederholten These berechtigt sehen, die Prognose der Aufklärung oder der aufklärerischen Religionskritik vom Verschwinden der Religion sei Trug oder Ignoranz und zwangsläufig zum Scheitern verurteilt: „[…] der Witz der Charakteristik nachaufgeklärter Religion durch die Funktion der ‚Kontingenzbewältigung‘, das heißt durch die Funktion einer Kultur der Anerkennung dessen, was uns als unverfügbar in unserem Dasein schlechthin abhängig sein lässt, ist ja gerade der, diejenige Lebensfunktion zu benennen, für die es säkulare Äquivalente nicht gibt.“75 Ich verfolge diese Frage nach den möglichen nicht-religiösen Formen nicht-pragmatischer Kontingenzbewältigungspraxis nicht weiter, sondern wende mich jenem zweiten denkbaren Einwand gegen Lübbes Auffassung von Religion als einer Bewältigung von Kontingenz durch Anerkennung unverfügbarer Kontingenz zu, der mich für den Rest dieses Kapitels beschäftigen wird. Es wäre nämlich zu fragen, ob sich Religion, ja selbst die Funktion von Religion einzig und allein darin erschöpft, schlechthinnige Abhängigkeit anzuerkennen? Ist die Vorstellung von Religion, die Lübbe im Rahmen einer solchen Auffassung vorschwebt, also nicht nur zu unspezifisch, sondern auch zu einseitig? Ich möchte mit einem solchen Einwand wohlgemerkt nicht den immer wieder gehörten Vorwurf reproduzieren, welchen Lübbe zu Recht auch immer wieder zurückgewiesen hat, die funktionale Analyse von Religion werde dem phänomenologischem Reichtum religiösen Lebens nicht gerecht. Das ist eine Selbstverständlichkeit und kann nur dann ein Vorwurf sein, wenn die funktionale Analyse ebendies behauptet, nämlich behauptet, dem phänomenologischen Reichtum religiösen Lebens gerecht zu werden. Lübbe aber behauptet dies nicht.76 Indes, geht es in Religion – selbst wenn man sie aus der funktionalen Perspektive von Lübbes Religionstheorie betrachtet – nicht immer auch darum, nicht-pragmatisch auflösbaren Kontingenzen ein wie auch immer beschaffenes Sinnresi74

75 76

Odo Marquard, „Religion und Skepsis. Kommentar zu R. Spaemann und Th. Luckmann“, in: Peter Koslowski (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft. Religion und ihre Theorie, a.a.O., S. 43. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a.a.O., S. 236. Vergleiche zu Lübbes Einwänden gegen eine solche Kritik Anmerkung 66 in diesem Kapitel, S. 685 f.

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duum abzutrotzen, anstatt sie „einfach“ oder „schlechthin“ nur anzuerkennen? Wie aber wäre dieser Sinn beschaffen, da er pragmatisch zu bewerkstelligender Handlungssinn offenkundig, wie Lübbes Religionstheorie ganz zu Recht bemerkt, nicht sein kann? Was macht ein religiöser Mensch, so können wir fragen, welches Verhalten praktiziert er, wenn er sich durch Anerkennung der schlechthinnigen Abhängigkeiten zu diesen Abhängigkeiten in einer bestimmten Weise einstellt? Ist es für den religiösen Umgang mit unverfügbarer Kontingenz nicht geradezu konstitutiv, dass er sich der stoischen Attitüde der ataraxia oder der tranquillitas animi entwindet oder doch zu entwinden versucht, dass er also nicht die Zähne zusammenbeißt, um unermüdlich weiter zu rennen, sondern vielmehr die eigene „Egozentrizität“ (Tugendhat) gerade zu transzendieren versucht? Ich möchte jedenfalls im Folgenden die These vertreten, dass die Haltungen und die Erfahrungen eines religiösen Menschen doch immer auch – angesichts eines unverfügbar leidvollen Kontingenzgeschehens – Einstellungen wie ein sich auf die Gegenwart beziehendes Vertrauen und eine in die Zukunft blickende Hoffnung oder auch – im Angesicht eines unverfügbar glückhaften Kontingenzgeschehens, denn auch dieses gibt es zweifellos für ein religiöses Kontingenzbewusstsein77 – eine Dankbarkeit bezüglich des 77

„Es kann sich ein von einem Kontingenzereignis Betroffener […] als einer erfahren, dem eine Zugabe zugefügt wird, so daß sein Dank herausgefordert ist“, schreibt der Theologe Reinhold Esterbauer prägnant und zutreffend. In der Tat: Ist nicht die Geburt ebenso unverfügbar wie der Tod, Freud ebenso wie Leid, und ist nicht in Religion immer beglückendes und bestürzendes Unverfügbares gleichermaßen anerkannt? Im Unterschied zu Lübbes einseitiger (funktionaler) Definition von Religion, behält Religion also immer die leidvollen wie die beglückenden Erfahrungen und Komponenten von Zufall und Kontingenz im Blick. „Religionen sind ja offensichtlich nicht nur dazu da, Hilfe in unverfügbarem Leid und in schicksalhafter Not zu bieten, sondern haben es auch mit Glück und Freude zu tun“, heißt es bei Esterbauer in diesem Sinne. Allgemeiner hatte es bereits Otto Pöggeler in einer Bemerkung über Lübbes Religionstheorie formuliert, als er festhielt, „dass Religion an die verschiedenen Aspekte des Lebens anknüpfen kann – an die Freude sowohl wie an das Leid wie an die Schönheit mathematischer Gleichungen oder ästhetischer Formen und ebenso an den Königsweg der Ethik.“ Nicht nur oder ausschließlich Bewältigung einer leidvollen Kontingenz durch deren Anerkennung zeichnet demnach Religion aus, sondern immer auch Einlassen auf kontingente Gaben sowie Dankbarkeit angesichts einer beglückenden Kontingenz. Die genau konträre Position zu dem von Esterbauer formulierten Verständnis von Kontingenz als unverfügbare und zumindest potenziell immer auch beglückende Gabe oder Gnade formuliert Manfred Sommer, wenn er im Kontext einer philologisch akribischen und systematisch sicherlich ungewöhnlichen Deutung von Kants Philosophie die These formuliert, dass für Kant der Gedanke einer Selbsterhaltung qua Moralität und die Auffassung von Moralität als einer bestimmten Form von Selbsterhaltung die dem Menschen angemessene Form des Umgangs mit einer für das menschlichen Leben konstitutiven Kontingenz bezeichnen, deren innerster Kern wiederum darin besteht, sich selbst zu erhalten auch und gerade angesichts der unverfügbaren Faktizität des eigenen Daseins, sich also selbst zu erhalten, obwohl man sich nicht selbst ins Dasein geschaffen hat, und eben im Zusammenhang dieser These die Unverfügbarkeit des eigenen Daseins semantisch an Zumutung und Zwang, gar Gewalt, annähert und folgendermaßen bewertet: „Selbsterhaltung heißt indes auch: sinnhafte und selbständige Fortsetzung dessen, was zufällig und unverfügbar anfing. Genau so aber fängt menschliches Leben an. Geboren werden heißt, ungefragt anfangen müssen: für ein freies Wesen eine gewaltige, ja gewalttätige Zumutung. Das Leben besteht darin, mit ihr fertig zu werden: das aufgenötigte Dasein so durchzuformen und auszugestalten, dass darin dem zufälligen Anfang nachträgliche Zustimmung zuteil wird; das erzwungene Leben so zu ‚entwer-

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Geschehenen beinhalten und jedenfalls in stoischer ataraxia oder in einer fatalistischen Anerkennung eines ohnehin nicht zu Ändernden oder auch in einer lediglich skeptischen Einwilligung in ein Unverfügbares nicht aufgehen. Die religiösen Einstellungen von Vertrauen, Hoffnung und Dankbarkeit kultivieren zwar durchaus in exemplarischer Weise eine unverfügbare Abhängigkeit, aber sie versuchen doch diesem unverfügbaren Geschehen ein Sinnresiduum in wie fragiler Weise auch immer abzutrotzen. Ebendieses religiöse Ringen um ein dem unverfügbaren Geschehen abzutrotzendes Sinnresiduum verkennt aber Lübbes Polemik gegen jede Sinnfrage schlechthin und seine Beschreibung der Religion als jeglicher Frage nach dem Sinn eines kontingenten Geschehens abgeneigt. Natürlich ist es absurd zu behaupten, und Lübbe insistiert darauf zu Recht, wir könnten aus einem schweren Schicksalsschlag in derselben pragmatischen und handlungssinnanalogen Weise das Beste machen wie aus der Kalamität eines verpassten Zuges. Insofern aber die spezifisch religiösen Haltungen von Dankbarkeit, Vertrauen und Hoffnung auch gar nicht handlungssinnanalog zu denken sind, werden sie durch die von Lübbe in Religion nach der Aufklärung so vehement und in je einem eigenen Kapitel vorgetragene Polemik gegen die Theodizee als Kontingenzerfahrungsdementi78 einerseits, die Polemik gegen die Überlagerung der religiösen Anerkennung

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fen‘, dass seine ‚Geworfenheit‘ darin angenommen und aufbewahrt wird [Hervorhebungen von mir; P.V.].“ Dergleichen Formulierungen finden sich in Sommers Schriften an vielen Stellen. So heißt es etwa in dem Aufsatz „Identität im Übergang“: „[…] der erste und wichtigste Übergang des Lebens, der ins Leben, wird als unüberbietbarer Gewaltakt erlitten. Vom Nichtsein zum Sein geht man nicht freiwillig, man wird dazu genötigt. […] Und ist die Rede vom ‚freudigen Ereignis‘ nur ein lebensfördernder Euphemismus derer, die dieses Ereignis längst hinter sich haben und, rücksichtsvoll vor allem gegen sich selbst, sich nur ungern daran erinnern lassen, dass sie immer noch alle Hände voll zu tun haben, sich den Beweis der Freudigkeit zu erarbeiten? Ist die Geburtstagsfeier ein apotropäisches Ritual, die mit der ‚Wiederkehr‘ des Geburtstages drohende Durchbrechung einer lebensnotwendigen ‚Geburtsvergessenheit‘ abzuwehren? Ist etwa der erste Übergang schon pathologisch und mit ihm alles, was ihm folgt [Hervorhebung von mir; P.V.]?“ Wie anders aber, wenn die Kontingenz der Faktizität des eigenen Daseins zwar ebenfalls, so wie dies auch bei Sommer der Fall ist, als unverfügbar diagnostiziert wird, aber nicht als Strafe oder Bürde erlebt, sondern als Geschenk oder Gnade aufgefasst wird. Sommers Interpretation von Kants Rezept der Kontingenzbewältigung und sein daran anschließendes, eigenes Rezept der Kontingenzbewältigung verfangen theoretisch nur, wenn Unverfügbarkeit prinzipiell als lebensqualitätsmindernde Qualität aufgefasst wird, nicht als lebensqualitätsintensivierende. Der Verweis auf die Unverfügbarkeit der eigenen Existenz verliert jedenfalls seine theoretisch diskreditierende Wirkung, wenn nicht Autonomie der wie auch immer zu verstehende normative Fixpunkt im Umgang mit Kontingenz sein kann, sondern einzig die Haltung einer Einwilligung in das Unverfügbare der Faktizität des Daseins sowohl in normativer wie in funktionaler Hinsicht gerecht wird. Vergleiche hierzu Reinhold Esterbauer, Kontingenz und Religion. Eine Phänomenologie des Zufalls und des Glücks, Wien 1989, S. 138 bzw. 140. Otto Pöggeler, „Kontingenz und Rationalität in der phänomenologischen Wissenschaftstheorie“, in: Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Vernunft und Kontingenz. Rationalität und Ethos in der Phänomenologie, Freiburg 1986, S. 21. Manfred Sommer, „Einleitung“, in: Identität im Übergang: Kant, Frankfurt am Main 1988, S. 9. Manfred Sommer, „Identität im Übergang“(1988), in: Identität im Übergang: Kant, a.a.O., S. 19 f. Vergleiche diesbezüglich Kapitel 3.5 „Theodizee als Kontingenzerfahrungsdementi“ in Lübbes Religion nach der Aufklärung. Während Lübbe im Namen der Religion und religiös verstandener

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der Unverfügbarkeiten unseres Lebens durch die Sinnfrage, gegen die Auffassung von Kontingenzbewältigungspraxis im Sinne von Lebenssinnfindung andererseits79 , gar nicht getroffen. Lübbe hält, dies verdeutlichen seine Exkurse über die vermeintliche theoretische Illegitimität der Theodizee wie der Sinnfrage in Religion nach der Aufklärung, sowohl die Formel vom Sinn des Lebens wie vom Sinn der Welt für philosophisch und theologisch fragwürdig. Weder unserem Dasein noch dem Dasein der Welt schlechthin lasse sich Sinn als Resultat einer Zustimmung zu diesem Leben und zu dieser Welt verleihen: „Die religiöse Annahme des Daseins impliziert das kulturelle Verbot der Daseinsbewertung“80 , schreibt Lübbe apodiktisch. Und er bezieht sich dafür immer wieder auf das alttestamentliche Buch Hiob und dessen Formel „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.“ (Hiob 1,21) Hiob beantwortet gemäß Lübbes Interpretation mit diesem Worten nicht die Theodizee- oder Sinnfrage, sondern er weist sie ab. Ebendiese religiöse Abweisung einer handlungssinnanalogen Verwendung der Formel vom Sinn des Lebens, der Welt oder auch der Geschichte, sieht Lübbe auch in Schleichermachers Formel von der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ am Werk: „In der Erfahrung ‚schlechthinniger Abhängigkeit‘ wird die Kompetenz der subjektiven praktischen Vernunft dementiert, sich zum Ganzen des Lebens und der Welt als approbierende Instanz in Beziehung zu setzen. Eben das lässt die Bedingungen der Nötigkeit der Religion erfahren, in der Erfahrung nämlich der Unmöglichkeit, Welt und Leben handlungssinnanalog zu denken.“81 Indes, es gibt, so will ich behaupten, jenseits pragmatischer Transformation von Kontingenz in Handlungssinn und einer nicht-pragmatisch verfahrenden und laut Lübbe gänzlich sinnfragenabstinenten Anerkennung unverfügbarer „absoluter Kontingenz“ noch ein Drittes, welches sich auch und gerade in religiösen Erfahrungen und Einstellungen bemerkbar machen kann und daher von keiner Charakterisierung der Religion – auch nicht von einer funktionalen Analyse der Religion – unberücksichtigt bleiben darf. Das Sinnresiduum, das einer spezifisch religiösen Bewältigung von Kontingenz zumindest potenziell entwunden werden kann, ist in der Tat kein Handlungssinn, auch kein irgendwie gearteter moralischer Sinn, welcher Sinn auf ein moralisches Urteil bezüglich des eigenen Handelns oder des Handelns Gottes gründete, aber eben ein für das betroffene Individuum religiöser Sinn. Klassisch ist natürlich die religiöse Deutung eines kontingenten Geschehens als Mahnung Gottes oder als Ausdruck von Gottes Fürsorge.

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Kontingenz die Theodizee verabschieden will, will Marquard die Theodizeeproblematik nicht verabschieden, sondern offen halten. Vergleiche dazu die protokollierte Äußerung von Odo Marquard in: Willi Oelmüller (Hg.), Leiden. Kolloquien zur Gegenwartsphilosophie, Paderborn/München 1986, S. 255: „Lübbe sagt, besser als die Nichtlösung sei vielleicht die Verabschiedung. Was aber, wenn man es [das Thema der Theodizee; P.V.] nicht verabschieden kann? Dann tritt als Hilfslösung die zweitbeste Lösung ein, nämlich das Offenhalten.“ Vergleiche diesbezüglich das Kapitel 3.4 „Exkurs über ‚Sinn‘“ in Lübbes Religion nach der Aufklärung. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a.a.O., S. 301. Hermann Lübbe, „Theodizee als Häresie“, in: Willi Oelmüller (Hg.), Leiden. Kolloquien zur Gegenwartsphilosophie, a.a.O., S. 173.

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Denkbar wäre es aber auch, einem kontingenten Geschehen insofern einen religiösen Sinn zu entnehmen, als dadurch überhaupt erst der Versuch einer spezifisch religiösen Anerkennung schlechthinniger Abhängigkeiten zu neuem Leben erweckt wird. Doch gleichviel, welche Form und Gestalt ein religiöser Sinn auch immer konkret annehmen mag, er dürfte sich wohl stets niederschlagen in je nach Art des Geschehens und der entsprechenden Zeitmodi unterschiedlichen, spezifisch religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen, wie den drei exemplarisch genannten: Hoffnung, Vertrauen oder auch Dankbarkeit. Diese Argumentation will nun gerade nicht in einer hypertrophen Form triumphalischer Glaubensgewissheit und in einer das Tragische jedes Lebens ignorierenden Weise dekretieren, dass dem religiösen Menschen Erfahrungen und Einstellungen von Vertrauen, Hoffnung und Dankbarkeit immer und in jeder Lebenssituation möglich sind oder gefälligst möglich zu sein haben. Hoffnung oder Vertrauen oder Dankbarkeit im Sinne religiöser Erfahrungen oder Einstellungen sind gerade nicht gleichzusetzen mit einem Triumphalismus, der jede leidvolle Kontingenz oder jedes kontingente Widerfahrnis durch die Ratschlüsse einer göttlichen Vorsehung entkräftet glaubt oder zu Medien dieser Vorsehung adelt; und insofern bewahren die in den genannten Einstellungen konkretisierten religiösen Erfahrungen, mit den Worten Gerhard Ebelings, vor dem „entsetzlichen Missklang“, „den das Wort Vorsehung annimmt, wenn es zu einer glorifizierenden Selbstbestätigung und damit zur Selbsttäuschung mißbraucht wird, losgelöst vom Gesamtzusammenhang christlichen Redens von Gott. […] Deshalb ist auch das, was das Wort Schicksal an Erfahrung enthält, dem Glaubenden nicht fremd: das unwiderstehbar sich vollziehende Geschehen, in das man sich in seiner Ohnmacht nur fügen kann. Aber das Wort Hiobs ‚Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt‘ (1,21) zeigt: Ebenso wie der Zufall nimmt der Schicksalsschlag ein völlig anderes Aussehen an je nachdem, ob mich darin das starre und erstarren machende Antlitz der Sphinx anschaut oder das lebensspendende und trotz allem zum Lob ermutigende Angesicht des Vaters Jesu Christi.“82 Fassen wir die Ergebnisse unserer Diskussion der zweiten Rückfrage an Lübbes Religionstheorie zusammen: Insofern eine religiöse Bewältigung von Kontingenz sich auch durch ein dem kontingenten Geschehen abzutrotzendes religiöses Sinnresiduum auszeichnet und eben darin ihre differentia specifica gegenüber anderen Formen der Anerkennung unverfügbarer Kontingenz besteht, welche sich zudem exemplarisch in einer der drei genannten Einstellungen oder Erfahrungen widerspiegelt, wäre Lübbes Auffassung, wonach die Funktion von Religion lediglich in der Anerkennung der schlechthinnigen Abhängigkeit von einem Unverfügbaren besteht, gewiss zu einseitig. Manfred Seitz hat insbesondere die Haltung christlicher Hoffnung, die dabei doch die mala des Geschehens in dieser Welt niemals in einem Akt theologischer Ignoranz theoretisch eskamotiert, einmal sehr treffend formuliert: 82

Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Band I, Tübingen 1979, S. 329 f.

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„Das Rätselhafte der Zufälle bleibt, und das Geheimnis Gottes, von dem sie kommen, auch. Wir wissen jetzt, wenn sie uns zustoßen, nichts über ihren Sinn und gehen, wenn sie uns getroffen haben, durch Stunden, Tage und Zeiten, die dunkel sind und in denen wir hilflos sind; aber wir dürfen den Glauben nicht lassen, dass sie einen uns hier noch verborgenen Sinn haben und für etwas gut sind, das wir – wie Jesus Joh 13,7 sagt – ‚hernach erfahren‘.“83 Eine religiöse, in diesem Fall eine christliche Version von Hoffnung oder vertrauensvoller Zuversicht unterscheidet sich mithin sowohl von einer stoisch-pessimistischen Resignation und einer Verzweiflung, die sich letztlich in das eigene Elend versteift und verliebt, als auch von einer triumphalischen Überheblichkeit, die alles Böse am Ende der Zeiten aufgehoben weiß. Vielmehr ist eine religiöse Hoffnung eine Hoffnung, die eben darum Hoffnung heißt, weil sie weder verzweifelt noch weiß. Daran gemahnt uns im Kontext des Christentums die großartige Passage des Römerbriefes (Röm 8, 25): „Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet worden; Hoffnung aber, die schon sieht, ist keine Hoffnung. Denn was einer sieht, wozu soll er es noch erhoffen? Wenn wir aber, ohne zu sehen, hoffen, dann harren wir in Geduld.“84 Meine Argumentation, dass entgegen Lübbes allzu einseitiger Charakterisierung Religion, ja selbst die Funktion von Religion nicht in einer resignierenden oder fatalistischen Anerkennung des Unverfügbaren im Sinne eines trotzigen Zähne-Zusammenbeißens, nicht in einer stoischen ataraxia oder tranquillitas animi aufgeht, lässt sich abschließend durch den Verweis auf William James’ Religionstheorie bekräftigen und plausibilisieren: Interessant in diesem Zusammenhang ist insbesondere die phänomenologische Beschreibung des „Zweimalgeborenen“, wie sie James als gleichsam authentischen Kern religiöser Erfahrung in seiner Studie Die Vielfalt religiöser Erfahrung vorlegt. Für James selbst besteht das zentrale Merkmal der Erfahrung des Zweimalgeborenen im „Verlust aller Sorge“, die sich wesentlich einer Transzendierung des eigenen Selbst verdankt; „das Empfinden, dass es letztlich gut mit einem steht; der Friede, die Harmonie, die Daseinsbereitschaft, auch wenn sich die äußeren Lebensbedingungen nicht ändern“85 , sie charakterisieren laut James diesen Typus des Zweimalgeborenen und damit den authentischen Wesenskern religiöser Erfahrung.86 Man vergleiche in diesem Zusammenhang, wie James die „reifen Charakterfrüchte der Religion“ beschreibt: „Es sind dies: 1. Das Gefühl, in einem größerem Lebenszusammenhang zu existieren, der über die selbstsüchtigen kleinen Interessen dieser Welt hinausreicht; und die nicht nur verstandesmäßige, sondern gewissermaßen fühlbare 83

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Manfred Seitz, „…das kann doch nicht bloß Zufall sein…. Ein theologischer Versuch über die Zufälligkeiten unseres Lebens“, in: Henning Kössler (Hg.), Über den Zufall: fünf Vorträge, Erlangen 1996, S. 125. Vergleiche zur Deutung dieser Bibelstelle auch Romano Guardini, Freiheit, Gnade, Schicksal. Drei Kapitel zur Deutung des Daseins, München 1979 (1948), S. 284. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, a.a.O., S. 263. Zu James’ originellem Verständnis eines letzthinnigen Triumphs des Guten im „Duell“ zwischen Zufall und Vorsehung vergleiche das Gleichnis vom ungleichen Schachspiel zwischen Zufall und Vorsehung, wie ich es am Ende des zweiten Abschnitts des dritten Kapitels diskutiere, S. 275–279.

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I, S, R Überzeugung von der Existenz einer vollkommenen Macht. […] 2. Das Empfinden, dass die vollkommene Macht unserem eigenen Dasein freundschaftlich verbunden ist, und die Bereitschaft, sich ihrer Lenkung zu unterwerfen. 3. Eine gewaltige Begeisterung und ein Gefühl von Freiheit, da die beschränkenden Grenzen des Ichs aufgehoben sind. 4. Die Verlagerung des Gefühlszentrums zu Empfindungen von Liebe und Harmonie, hin zum ‚Ja, Ja‘ und weg vom ‚Nein, Nein‘, wenn es um Ansprüche des Nicht-Ich geht.“87

Die religiöse Erfahrung des Zweimalgeborenen besteht also wesentlich in der Überwindung des „selbstsüchtigen kleinen“ Ichs, nicht in dem Versuch, dieses Ich vor den unvermeidbaren Anfechtungen des Lebens durch die Errichtung eines intellektuellen und emotionalen Schutzwalls gleichsam zu behüten, und einem dadurch ermöglichten „Verlust aller Sorge“. Nur konsequent ist es daher, dass James in Die Vielfalt religiöser Erfahrung, und dies ist für den Zusammenhang unserer Diskussion besonders aufschlussreich, eine ausdrückliche Kontrastierung von Religion und Stoa vornimmt. In der zweiten seiner Vorlesungen vergleicht James die jeweilige emotionale „Grundhaltung“88 , die christlicher Lebensbejahung und stoischer Leidensakzeptanz zugrunde liegt, indem er Marc Aurels philosophische Selbstbetrachtungen einem religiösen Bewusstseinszustand kontrastiert: „Es gibt einen Bewusstseinszustand, den ausschließlich religiöse Menschen kennen, in dem an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes. […] Die Zeiten der angespannten Seele sind vorbei, und die Zeiten froher Entspannung, tiefen und ruhigen Atems, einer ewigen, von keiner Zukunftsangst geplagten Gegenwart brechen an.“89 Der Religion geht es, so schreibt James im gleichen Zusammenhang, „nicht mehr ums Entkommen“90 , und insofern sei es also „ein gewaltiger emotionaler und praktischer Unterschied, ob jemand das Universum in der grauen farblosen Weise der stoischen Ergebung in die Notwendigkeit akzeptiert oder mit dem leidenschaftlichen Glücksgefühl christlicher Heiliger.“91 In einer anderen Passage in Die Vielfalt religiöser Erfahrung kommt James auf die Stoa im Kontext der religiösen Erfahrung einer „kranken Seele“ zu sprechen und behauptet, das religiöse Empfinden des Stoikers habe „die vertrauensvolle Selbsthingabe an die sich spontan bietenden Freuden völlig verloren“92 ; was die Stoa anbiete, sei einzig und allein „ein Ausweg aus dem daraus resultierenden Staub- und Aschebewusstsein.“93 87 88 89 90 91 92 93

Ebd., S. 283. Ebd., S. 74. Ebd., S. 79 f. Ebd., S. 81. Ebd., S. 74. Ebd., S. 167. Ebd., S. 167. Ganz ähnlich argumentiert auch Robert Spaemann. Im siebten Kapitel dieser Arbeit verwiesen wir

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In diesem Sinne auch erwähnt James in der vorletzten seiner in Die Vielfalt religiöser Erfahrung versammelten Gifford Lectures den „Brief eines Freundes“, der freilich namentlich nicht genannt wird, was den Verdacht erweckt oder nahelegt, bei diesem „Freund“ könnte es sich um den Autor selbst handeln. Ich möchte am Ende dieses Kapitels diese Zeilen eigens zitieren, weil sie mir, gleichviel, wer nun ihr Urheber ist, James’ Verständnis von Religion am prägnantesten auf den Begriff zu bringen scheinen. Zugleich verdeutlichen diese Passagen, dass die schlechthinnige Anerkennung eines Unverfügbaren allein niemals ausreichend das Spezifikum von Religion oder auch das Spezifische der Funktion von Religion ausmachen kann, insofern doch die Religion ebendieses Unverfügbare nicht anerkennt im Sinne eines beharrlichen Schutzes unseres „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens“ vor den Widerfahrnissen dieser Welt, sondern im Sinne einer Überwindung dieses „Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens“; und deshalb gehören Einstellungen der Selbsttranszendenz und Erfahrungen wie der Verlust von Sorge oder auch Dankbarkeit, Hoffnung und Vertrauen angesichts von Gottes Fürsorge zu unhintergehbaren und konstitutiven Merkmalen der Religion. „Würden wir uns die Mühe machen“, so schreibt nun der von James zitierte Freund, „alle Gnaden und Wohltaten zusammenzuzählen, mit denen wir ausgezeichnet worden sind, würde uns ihre Zahl überwältigen (sie ist so groß, dass wir keine Zeit hätten, mit der Betrachtung der Dinge, die wir nicht haben, auch nur anzufangen). Wir summieren sie und erkennen, dass wir von der Freundlichkeit geradezu erdrückt werden; dass wir von einer Unmenge von Wohltätigkeiten umgeben sind, ohne die alles zusammenfallen würde. Sollen wir das nicht lieben, sollen wir uns nicht von ewigen Armen erhoben fühlen?“94 Die sich religiöser Erfahrung verdankende Bewältigung von Kontingenz stellt mithin keine disziplinierte Gefühlsathletik im stoischen Sinne dar, kein Versteifen auf die Unverletzlichkeit der eigenen Subjektivität, sondern eine Einstellung der Selbsttranszendenz, welche James in einem anderen Zusammenhang auch einmal als „Evangelium der Entspannung“ bezeichnet hat. In der aktiven Ansprache von etwas – etwa in Form des Gebets – oder der passiven Öffnung für etwas – etwa in Form eines Segens –, das größer ist als wir selbst, vermögen wir zumindest potenziell einen Verlust der Sorge und eine Dankbarkeit und ein Vertrauen und eine Hoffnung zu erfahren, die eine vorrangig resignativ gestimmte Anerkennung eines schlechthin Unverfügbaren, so sehr sich diese Anerkennung durchaus auch als konstitutives Moment einer religiösen Bewältigung von Kontingenz begreifen lässt, immer schon überwinden.

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Spaemanns Differenzierung von Stoa und Christentum anhand der beiden Begriff der „Selbstbehauptung“ und der „Selbstvergessenheit“. Vergleiche dazu S. 620 dieser Arbeit. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, a.a.O., S. 465.

Literaturverzeichnis

Ich unterteile die von mir verwendete Literatur in Primärtexte oder Ausgaben von Primärtexten, welche in jenen Zeiträumen verfasst wurden, denen die begriffsgeschichtlichen Präzisierungen und ideengeschichtlichen Skizzen dieser Arbeiten gewidmet sind, die also grob vor 1850 entstanden sind, und Sekundärtexte, die danach, also etwa nach 1850, entstanden sind. Diese Unterteilung ist einigermaßen willkürlich, aber – wie ich hoffe – dennoch dem Leser behilflich, sich über die in dieser Arbeit verwendete Literatur zu orientieren.

a.

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Abbildungen

Abbildung 1: Eutychides: Tyche von Antiochia, Römische Kopie nach einem griechischen Original von ca. 300 v. Chr., Marmor, Höhe 89,5 cm, Vatikanische Museen, Rom

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Abbildung 2: Stele der Hediste, ca. 200 v. Chr., Höhe 73 cm, Volos, Archäologisches Museum

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Personenregister

Abel, Günter 608, 612, 617 Abrams, Meyer H. 403 Accursius 464, 490 Aischines 102 Aischylos 97–99, 104, 170f. Alberti, Leon Batista 505, 572–575, 587, 592 Albertus Magnus 51, 53f., 82 Alciato, Andrea 501 Alemán, Mateo 603 Alexander der Große 177, 289, 291, 467f., 574 Alexander II. (Rußland) 291 al-Farabi 57, 202 Altdorfer, Albrecht 467f. Anaximander 77 Anscombe, Gertrude 329 Archenholtz, Johann Wilhelm von 339, 352f., 355 Arendt, Hannah 412 Ariosto, Ludovico 576–578 Aristoteles 22f., 43–53, 55, 60, 65, 67, 71–74, 76–79, 81–90, 95–97, 100, 102, 107–111, 113–129, 132f., 136–141, 143–151, 153–157, 159f., 162–164, 170, 172, 174, 176f., 181, 186f., 196f., 200, 221, 227, 314f., 329, 332, 364, 463, 468, 495, 523, 568, 664 Arnold, Gottfried 547 Aron, Raymond 293, 326 Assmann, Aleida 630 Athanasius der Große 542 Auerbach, Erich 369, 503, 630f.

Augustinus 35, 471, 507, 510, 542–547, 554, 562, 619, 649 Austin, John Langshaw 302 Bacon, Francis 624 Bacon, Roger 54 Baldus de Ubaldis 464, 490 Balzac, Honoré de 309, 403 Bandello, Matteo 601 Barclay, John 645, 649f. Baron, Hans 588 Barth, Heinrich 43, 57, 195f., 199, 201–207, 262 Barth, Karl 57, 195, 259 Bartholomew, David 248, 269, 271–275, 558 Bartolus de Saxoferrato 464f., 490 Basilius der Große 542 Baudelaire, Charles 311, 416 Baudouin, François 489–491, 495, 497, 501 Beatty, John 230 Becker-Freyseng, Albrecht 50, 331 Beethoven, Ludwig van 407 Beiser, Frederick 405, 432 Below, Georg von 395, 398 Benn, Gottfried 187 Bergson, Henri 236 Berlin, Isaiah 25, 31, 34, 191, 281f., 284, 294, 298–303, 348f., 356, 382, 386f., 395, 401– 413, 415–418, 421, 426, 429, 432f., 437, 447, 454f., 476, 489, 499–502, 588, 675 Bidermann, Jakob 644, 649

724 Bismarck, Otto von 291 Blumenberg, Hans 195f., 199, 203, 208f. Boccaccio, Giovanni 562 Bodin, Jean 489, 494 Boelitz, Otto 236 Boethius 35f., 50, 53, 203, 269, 275, 507, 547–556, 566, 571, 575, 587, 590, 592, 594, 607, 609f., 612, 614, 626, 630, 639, 643, 664 Bohr, Niels 219 Bohrer, Karl Heinz 399, 429, 441f. Boiardo, Matteo Maria 576f. Boltzmann, Ludwig 221–223 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 397 Born, Max 217, 219 Bossuet, Jacques Bénigne 371, 471 Bouché-Leclercq, Auguste 92 Boutroux, Émile 24, 187f., 210, 215, 234–237, 253, 269, 331 Bouwsma, William 36, 597, 600f., 608, 643 Brady, Robert 483–485, 492–494, 497 Braudel, Fernand 327, 338–340 Brentano, Clemens 429 Breton, André 309 Brugger, Walter 208, 216, 235f. Brunelleschi, Filippo 463 Bruni, Leonardo 534 Bubner, Rüdiger 23, 30, 62–64, 72, 126, 136– 139, 141, 143, 149, 153, 157, 315, 336, 375–378, 380, 383, 386, 397 Buchholz, Andreas Heinrich 647 Buckle, Henry Thomas 378 Budé, Guillaume 489–491, 501, 506 Burckhardt, Jacob 569, 600 Burdach, Konrad 547 Burger, Harald 644 Buriks, Agatha Anna 80, 161, 171, 181 Burton, Robert 605f. Bury, John Bagnell 353f. Busch, Gerda 98, 168, 534f., 537f. Busch, Werner 393 Buttay-Jutier, Florence 506 Byron, George Gordon (Lord Byron) 416 Caesar, Gaius Julius 291, 467, 514, 516 Calderón de la Barca, Pedro 604f., 631f. Camus, Albert 234 Cantor, Moritz 68f. Carr, Edward Hallett 106, 289 Carus, Paul 246f., 251–253 Cassius Dio 516 Castracani, Castruccio 583

P Cervantes, Miguel de 603, 632 Chajjam, Omar 198 Chapman, George 622 Charron, Pierre de 601, 609 Cicero 81, 177, 490, 509, 512f., 520, 522–525, 530–534, 536f., 539f., 542, 545, 567, 569, 608, 616, 653 Cioffari, Vincent 82–84, 190, 506, 546, 549, 557f. Clausewitz, Carl von 106, 515 Clausius, Rudolf 222 Clemens VII. (Papst) 592 Coke, Edward 461, 486 Collingwood, Robin 367 Comenius, Johann Amos 609 Corino, Karl 306 Corneille, Pierre 609 Cornheert, Dirck 609 Cournot, Antoine Augustin 187, 293, 331 Croce, Benedetto 371 Cromwell, Oliver 379, 481 Cujas, Jacques 453, 491f., 497, 501 Curtius, Ernst Robert 601 Dalferth, Ingolf 58, 65 Dante Alighieri 35, 82, 269, 275, 507, 557, 562–564, 569, 571, 591f. Darius III. (Persien) 467f. Darwin, Charles 24, 186, 215, 217f., 223–226, 229f., 241f., 379, 665 David, Jacques-Louis 390–392 Davidson, Donald 665 Dekker, Thomas 621f. Deku, Henry 200 Delacroix, Eugène 392 Della Porta, Giovanni 608 Demetrios von Phaleron 180f. Demokrit 22, 78–82, 85, 161f., 243 Demosthenes 102–105, 528 Descartes, René 495, 599f. Dewey, John 23, 88, 124, 128–133, 135, 138, 219f., 222f., 251, 257, 598, 666, 684 Dilthey, Wilhelm 401, 455, 458, 609 Diodoros Kronos 44 Dionysius der Große 542 Dobzhansky, Theodosius 229f. Donatello 463 Donoso Cortés, Juan 397 Doren, Alfred 506, 526, 541, 553, 557, 564– 566, 571, 576, 585, 621 Douaren, François 501

P Dove, Heinrich Wilhelm 68 Drayton, Michael 623 Droysen, Johann Gustav 354, 477 Du Vair, Guillaume 36, 597, 601, 607–609, 615–618, 620, 628, 631, 649, 654 Duchamp, Marcel 421, 682 Dürrenmatt, Friedrich 43 Duns Scotus, Johannes 55f., 206–208 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 209 Ebeling, Gerhard 651, 692 Edmunds, Lowell 78–80, 82, 104 Eichendorff, Joseph von 31, 349, 416, 440, 444–447 Eigen, Manfred 229f. Einstein, Albert 219 Elkuß, Siegbert 395, 412 Empedokles 74, 76f., 82, 84 Ennius 529 Epikur 77–79, 81, 161f., 542 Erasmus von Rotterdam 599 Esterbauer, Reinhold 568, 689 Ettinghausen, Henry 642 Euklides 44 Euripides 98, 100, 172 Eutychides 94 Fanon, Frantz 285 Farnham, Willard 562, 621, 629–631 Farwick, Leo 644, 650 Faust, August 116, 199–206, 331, 558f. Fichte, Johann Gottlieb 211, 349, 401, 411, 416, 431–439 Ficino, Marsilio 506 Finley, Moses 459 Fisher, Herbert Albert Laurens 292f. Fitzgerald, Edward 198 Flanagan, Thomas 554 Fleming, Paul 645, 650f. Fontenelle, Bernard le Bovier 301 Forster, Leonard 594, 604, 609, 644, 653f. Foucault, Michel 293 Frakes, Jerold 546, 557 France, Anatole 279 Frank, Manfred 399f., 431f., 438 Franklin, Julian 465, 489f. Frede, Dorothea 329 Freud, Sigmund 679–681 Freundlieb, Martha 331 Friedrich der Große (Preußen) 291, 352

725 Friedrich III. (Deutsches Reich) 291 Friedrich Wilhelm I. (Preußen) 291 Friedrich, Carl Joachim 596 Friedrich, Caspar David 348, 392f., 439 Gadamer, Hans-Georg 365 Gagarin, Juri 256, 271 Galba 517 Galilei, Galileo 271, 598–600 Garin, Eugenio 28, 34, 345, 504–506, 532, 541, 568, 572, 575 Géricault, Théodore 392 Gervinus, Georg Gottfried 399 Giannotti, Donato 473 Gibbon, Edward 352 Gilbert, Felix 368, 590, 592 Goethe, Johann Wolfgang von 291, 377, 399, 418f., 499, 529 Gould, Stephen Jay 24, 186, 215, 218, 227, 231–234 Goya, Francisco 348, 391f. Gracián, Baltasar 36, 509, 596, 632–638, 642, 649, 653 Grafton, Anthony 489, 491, 493–495, 608 Grillparzer, Franz 377, 380 Gryphius, Andreas 37, 503, 595, 597, 609, 646, 648f., 651, 654f. Guardini, Romano 693 Günderrode, Karoline von 429 Guicciardini, Francesco 35, 368, 473, 508, 579, 590, 592 Gundolf, Friedrich 649 Gustav II. Adolf (Schweden) 290f. Hacking, Ian 187, 236 Hamann, Johann Georg 299, 371, 416–418 Hammerle, Karl 621, 624 Hampe, Karl 557 Hampe, Michael 80f., 221f. Hankamer, Paul 647 Hannibal 391, 514f. Harrington, James 33, 453, 479–483, 487, 492, 494, 497 Harsdörffer, Georg Philipp 647, 650 Hartmann, Nicolai 45 Haugwitz, Adolf von 645 Haydn, Hiram 599f., 623, 628f., 631 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 68f., 157f., 432, 663 Heidegger, Martin 88

726 Heidel, Charles 88, 114f., 122, 125, 129, 155, 314 Heine, Heinrich 399 Heinrich IV. (Frankreich) 290, 615 Heinse, Wilhelm 419 Heisenberg, Werner 24, 218–221, 223 Heitmann, Klaus 512f., 563f., 566f. Helvétius, Claude Adrien 301 Henrich, Dieter 401, 433, 439 Heraklit 77 Herder, Johann Gottfried 30, 299, 319, 324, 348, 375, 380–383, 385, 387, 392, 395, 416, 499 Herodot 106, 322 Herschel, John 225 Herter, Hans 79, 96, 105, 107, 169 Herzen, Alexander 282 Herzog Anton Ulrich (BraunschweigWolfenbüttel) 650 Herzog-Hauser, Gertrud 92, 94, 101f., 107, 165, 173, 176, 180, 183, 519 Hesiod 96 Hettner, Hermann 399 Hieronymus (Kirchenvater) 619 Hoeges, Dirk 584f. Hoffmann, Arnd 26, 64, 193, 286, 294, 326f., 331–340 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 31, 349, 416, 424–427 Hofmann, Werner 30, 348, 390–392 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 645f. Homer 96 Horaz 510, 512, 519f., 535, 625, 627 Hotman, François 453, 478, 489, 491–493, 497, 501 Humboldt, Wilhelm 477 Humboldt, Wilhelm von 354 Huppert, George 478, 496 Jacobi, Friedrich Heinrich 401, 433–435 Jacobi, Klaus 558 Jacobs, Konrad 186 Jacoby, Felix 459 Jaeger, Friedrich 334, 368 Jaeger, Werner 510 James, William 24, 38, 40, 69, 190, 197f., 269, 275–279, 331, 359–361, 378–381, 620, 659, 662, 693–695 Jansen, Hellmut 635f. Jean Paul 434

P Joachimsen, Paul 463 Joas, Hans 257, 261, 347, 363f. Johannes (Evangelist) 241 Johannes von Salisbury 54, 59 Jordan, Heinrich 524 Jüngel, Eberhard 206, 258 Justinian I. (Byzanz) 491, 501 Juvenal 567 Kajanto, Iiro 103, 163, 176, 179, 510f., 516, 519, 525 Kant, Immanuel 21f., 60f., 67, 69, 143, 147, 328f., 337, 356, 362, 438, 690 Kappler, Helmut 595 Karl der Große 322, 391 Kelley, Donald 493, 496, 498, 500f. Kelvin, William Thomson (Lord Kelvin) 221 Kennedy, John F. 290 Kierkegaard, Sören 367, 428f. Kirchner, Gottfried 595, 597, 644 Kleist, Heinrich von 31, 349, 416, 440–442, 444f., 447 Klempt, Adalbert 471 Kleopatra VII. (Ägypten) 353 Köhler, Erich 632 Koestler, Arthur 222 Korff, Hermann August 31, 349, 377, 416, 419, 430, 440, 442f. Koschaker, Paul 464, 493 Koselleck, Reinhart 26, 28f., 32, 192f., 284, 286f., 294, 325–327, 331–333, 335, 339, 344f., 347, 349–352, 354–358, 364–367, 394, 449f., 467f., 475, 503, 658 Krauss, Werner 596, 632, 634–636 Kristeller, Paul Oskar 28, 34, 345, 504–506, 568 La Rochefoucauld, François de 606 Laktanz 542 Lamarck, Jean-Baptiste 226, 241f. Lamprecht, Karl 290 Lange, Friedrich Albert 79, 81f. Lehrs, Karl 94, 102, 171 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21f., 54, 57–61, 64, 67, 147f., 194, 329, 337, 523, 599, 664 Lenz, Jakob Michael Reinhold 349, 416, 419f. Leo X. (Papst) 592 Lepenies, Wolf 605f. Lessing, Gotthold Ephraim 68, 417 Leukipp 78, 81, 84, 161

P Lhotzky, Alphons 78, 82, 340, 559–561 Liebmann, Otto 161 Lipsius, Justus 36, 597, 601, 607–618, 620, 626, 628, 631, 649, 651, 654 Livius 322, 490, 514f., 529, 540, 574, 581 Löwith, Karl 180 Lohenstein, Daniel Caspar von 37, 509, 602, 648f., 651–653, 655 Lotze, Hermann 147 Lovejoy, Arthur 44, 398 Lübbe, Hermann 26, 30, 34, 39, 62, 107, 124, 129f., 132, 187, 192f., 259f., 286f., 297, 304, 313–320, 322–328, 335, 362, 365, 374–378, 380, 383, 386, 397, 431, 507, 568, 619, 660– 662, 683–688, 690–693 Luhmann, Niklas 687 Lukács, Georg 400 Luther, Martin 203, 322 Mach, Ernst 305 Machiavelli, Niccolò 35, 473, 475–477, 480– 482, 506, 508, 579, 581–583, 585, 587–589, 591f., 615 MacIntyre, Alasdair 675, 679 Macrobius 97 Maier, Anneliese 74, 218, 221, 561 Mainzer, Klaus 187 Maistre, Joseph de 397 Maitland, Frederic William 485f. Makropoulos, Michael 305 Maldidier, Jules 187 Malebranche, Nicolas 412 Mallarmé, Stéphane 187 Mann, Golo 499 Mann, Thomas 400 Marcus Antonius 353 Marius Victorinus 49f., 53 Marlowe, Christopher 36, 509, 622–625, 628, 630, 636, 642 Marquard, Odo 27, 30, 38, 62, 211, 272, 282f., 309, 312, 327f., 344, 347f., 358f., 361– 366, 374–378, 380, 383, 386, 393, 397, 402, 410, 415, 450, 660f., 672, 676–679, 681–685, 687, 691 Marx, Karl 161 Matheson, Susan 91f., 519 Mauthner, Fritz 67, 69, 157 Mayer, Eduard 536 Mayr, Ernst 224–226, 229f., 233 Meier, Christian 114

727 Meinecke, Friedrich 30, 106, 288–293, 334, 368–378, 380, 383, 386f., 394, 397f., 454, 496f., 499 Menander 23, 92, 164–168, 171, 173, 175, 179, 518, 525, 527f., 621 Mercier, Louis-Sébastien 352 Mesnard, Pierre 491 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 411 Meuss, Heinrich 97f., 102, 104, 169f., 172 Meyer, Eduard 290 Meyer-Landrut, Ehrengard 557, 576 Michelangelo 291 Michelet, Jules 400 Milhaud, Gaston 187 Mill, John Stuart 379 Möser, Justus 499 Mommsen, Theodor 322 Monod, Jacques 24, 186, 215, 218, 227–231, 233f., 273 Montaigne, Michel de 599, 601, 607 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 352f., 355, 499 Monteverdi, Claudio 644 Moore, Aubrey 273f., 279 Müller, Adam 400, 415f. Müllner, Adolf 377 Muhlack, Ulrich 462f., 471, 477, 494 Mulsow, Martin 200 Musil, Robert 26, 184, 192f., 197, 276, 286f., 304–311, 316, 319, 323f., 326, 362, 667 Mussolini, Benito 284 Nagel, Thomas 329 Napoleon Bonaparte 379, 390, 407, 411 Nef, Ernst 443–445 Newell, Waller R. 532 Newton, Isaac 271, 598–600 Niebuhr, Barthold Georg 496 Nietzsche, Friedrich 106, 211, 333, 416, 669, 671 Nipperdey, Thomas 497 Nordh, Arvast 535 Novalis 31, 349, 395, 405, 412–414, 416, 421, 429–435 Nussbaum, Martha 85, 109, 127, 129, 132, 174, 328 Oestreich, Gerhard 608 Oetinger, Bolko von 105 Opitz, Martin 609, 647

728 Orff, Carl 521 Origenes 542 Orwell, George 63 Ovid 520f., 535f. Pacuvius 520, 531 Paley, William 225 Pannenberg, Wolfhart 24, 47, 49f., 55f., 188f., 207f., 260–271, 273 Panofsky, Erwin 467f., 472 Pasquier, Étienne 478 Pasteur, Louis 105, 574 Patch, Howard Rollin 506, 509, 518, 542, 557 Pausanias 91 Peacocke, Arthur 216f., 269, 273–275 Peirce, Charles Sanders 24, 145f., 150, 188f., 215, 226, 237–254, 260, 263, 266–269, 273, 280, 331, 340 Pelikán, Ferdinand 236, 269 Perikles 105 Peter, Curt Leo von 77, 82, 145f., 162, 340 Peter, R. 524 Petersen, Erik 575 Petrarca, Francesco 35, 269, 275, 505, 507, 557, 562–570, 587, 590–592 Petrus Abaelard 51, 53, 206 Petrus Damiani 205 Philipp II. (Makedonien) 102f., 177, 291, 583 Piccolomini, Aeneas Sylvius 575 Picht, Georg 49f. Pikulik, Lothar 446, 644 Pindar 22, 91, 97, 99–101, 103f., 107f., 160, 163–174, 179, 182, 525, 527f. Platon 22, 76–78, 83–86, 89, 95, 108, 127, 160, 163, 200, 329, 468, 495 Plautus 525, 533, 535 Plinius der Ältere 511f. Plotin 201f. Plutarch 177–179, 181, 513, 581, 652 Pocock, John Greville Agard 28, 31f., 345, 391, 448–474, 477–483, 485–488, 491, 494– 498, 500–504, 506, 556 Pöggeler, Otto 689 Pötscher, Walter 92 Poggio Bracciolini, Gianfrancesco 576 Pohlenz, Max 78, 534, 619 Poincaré, Henri 187 Pollard, William 219–221, 223, 269–273 Pollitt, Jerome J. 93, 162f., 165, 168 Polybios 174–178, 180f., 514 Pontano, Giovanni 576, 587, 621

P Popkins, Richard 600 Popper, Karl 25, 191, 281, 294–298, 302f. Poppi, Antonino 576 Porta, Giuseppe 574 Pothast, Ulrich 321, 361f. Preller, Ludwig 524 Proust, Marcel 668 Quevedo, Francísco de Quintilian 490

603, 632, 638–642

Rabelais, François 490, 599 Raffael 291 Rahner, Karl 261 Raleigh, Walter 602 Ranke, Leopold von 288–290, 292, 322, 355 Ratzinger, Joseph 257, 259 Raumers, Kurt von 362 Reichert, Klaus 521, 626f. Renouvier, Charles 236 Renz, Günter 24, 196, 205, 208 Rescher, Nicholas 329, 632, 637 Ritter, Joachim 85 Roche, Clarisse 506 Rösiger, Ferdinand 172, 176 Rohde, Erwin 96, 102, 169, 173, 180 Rohls, Jan 225, 274 Rorty, Richard 38, 62f., 327f., 386, 660f., 663–678, 683 Roveri, Attilio 169 Rubens, Peter Paul 608, 644 Rüegg, Walter 575 Rüsen, Jörn 368 Ruge, Arnold 400 Runge, Philipp Otto 429 Sallust 490, 520, 528f., 539 Salutati, Coluccio 505, 575 Sartre, Jean-Paul 212–214, 285, 312f., 320f., 367, 667, 677f. Saussure, Ferdinand de 184 Savigny, Friedrich Carl von 30, 319, 324, 348, 383–387, 392, 396, 429, 439, 496 Schadewaldt, Wolfgang 165–167 Schapp, Wilhelm 26, 192f., 286f., 304, 313, 316, 319–326, 361f., 380, 682 Scheffczyk, Leo 207 Scheibe, Erhard 223 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 211, 356 Schepers, Heinrich 53, 55, 58f., 337

P Schieder, Theodor 289–293 Schiller, Friedrich 283, 291, 439 Schilling, Michael 527, 555, 557 Schings, Hans-Jürgen 612, 646 Schlegel, Friedrich 31, 349, 395, 416, 424, 427f., 432–434 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 30, 319, 324, 348, 388f., 393, 399, 431, 439, 679, 686 Schmidt, Jochen 381, 418f., 427, 434 Schmitt, Carl 31, 348f., 395–398, 401–403, 410–415, 417f., 429, 433, 447 Schnyder, Peter 421f. Scholem, Gershom 201, 203 Schopenhauer, Arthur 68f., 157, 211f., 632f. Schottel, Justus Georg 645 Schütz, Heinrich 644 Scipio der Ältere 177, 514f., 583 Seel, Martin 679 Seifen, Johannes 63f., 559 Seigel, Jerrold 586 Seillière, Ernest 400 Seitz, Manfred 692 Seleukos I. 94 Seneca 468, 490, 512, 520, 533–539, 567, 610, 631, 648, 653 Shakespeare, William 36, 407, 569, 599, 602, 604f., 623, 626–630, 636, 639, 642 Simmel, Georg 283, 331, 391 Simplicius 75 Skinner, Quentin 28, 35, 345, 507, 525f., 540, 553–555, 564, 569, 575, 587, 592, 594, 607 Soderini, Giovan Battista 475, 583f. Sokrates 468 Solon 106 Sommer, Manfred 143f., 210f., 329, 362f., 689 Sophokles 97–99, 170f. Sorel, Georges 284 Spaemann, Robert 620, 685, 694 Spelman, Henry 483–486, 492–494, 497 Spencer, Herbert 226, 240–242, 247, 378 Spengler, Oswald 296 Spinoza, Baruch de 68, 110, 246, 443 Stierle, Karlheinz 557 Stobaeus, Johannes 80 Stoellger, Philipp 65 Strauß, David Friedrich 400 Strich, Fritz 603 Strohm, Hans 104, 169–171 Stumpf, Carl 305f. Sueton 514, 517

729 Taine, Hippolyte 378 Terenz 529, 535, 574 Teresa von Ávila 644 Tertullian 350 Theophrast 177, 512f. Theunissen, Michael 283 Thibaut, Friedrich Justus 383, 385 Thomä, Dieter 681 Thomas von Aquin 51, 53f., 59, 65, 82, 198, 204f., 207f., 269, 275, 340, 558–560 Thomasius, Christian 255 Thomasius, Jakob 255 Thukydides 22, 79, 104–108, 124, 126, 128, 132, 163, 174–177, 182, 322, 528, 574 Tieck, Ludwig 31, 349, 416, 421–424, 429f. Titius, Arthur 268 Toulmin, Stephen 126, 129, 599f. Toynbee, Arnold 296 Trendelenburg, Friedrich Adolf 148 Tribonian 490f., 493, 501 Troeltsch, Ernst 30, 196, 209f., 214, 331, 334, 364, 372–378, 380, 383, 386, 395–398, 454, 496 Tugendhat, Ernst 39f., 89, 330, 661f., 683, 689 Ulpian

490

Valéry, Paul 187 Varro 490 Velázquez, Diego 644 Vergil 529, 535, 563, 574 Vettori, Francesco 592 Vico, Giambattista 34, 299, 395, 416, 455, 499–502 Vogt-Spira, Gregor 92, 167 Voltaire (François-Marie Arouet) 301, 350, 369, 499 Vosskamp, Wilhelm 595, 646, 648, 652–654 Warburg, Aby 506, 572, 578 Weber, Otto 265 Wehler, Hans-Ulrich 327, 338–340 Wehrli, Max 649 Weishaupt, Adam 356 Weiss, Helene 87f., 109, 117, 340 Wellberry, David 442 Welzig, Werner 647f. Werner, Zacharias 377 Wetz, Franz Josef 24, 45, 47, 86f., 112, 114, 150, 161, 186, 199, 210f., 542

730 Wieland, Wolfgang (Historiker) 383, 386f., 396 Wieland, Wolfgang (Philosoph) 74, 77, 88, 139f. Wilhelm I. (Deutsches Reich) 291 Wilhelm von Ockham 52f., 59, 65, 207 Williams, Bernard 328f. Winckelmann, Johann Joachim 403 Windelband, Wilhelm 23, 68f., 72, 123, 136, 147–159, 175, 246, 250, 443

P Wittkower, Rudolf 566, 574 Wittram, Reinhard 291–293, 362 Wood, Neal 648 Wundt, Wilhelm 155, 307, 314, 618 Wyss, Ida 577 Zenge, Wilhelmine von 441 Zilsel, Edgar 406 Zimmermann, Arnd 83f.