Konsumkunst: Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst [1. Aufl.] 9783839421390

Der vormalige Young British Artist Damien Hirst und der Street Artist Banksy sind zwei der bekanntesten Vertreter der br

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Konsumkunst: Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst [1. Aufl.]
 9783839421390

Table of contents :
Inhalt
1) Einleitung
a) Wie stellen Hirst und Banksy Konsum dar?
b) Wie wird der Begriff Konsum hier verwendet?
c) Quellenlage
2) Konsumbegriffe
a) Konsum
b) Konsumkritik
c) Konsumgesellschaft
d) Konsum und Religion
e) Konsum in der Kunst(-geschichte)
f) Marcel Duchamp
g) Andy Warhol
h) Jeff Koons
3) London um die Jahrtausendwende
a) Londons Kunstlandschaft ab 1980
b) Damien Hirst und Young British Artists
c) Was macht einen britischen Künstler in den 1990er Jahren zum Young British Artist?
d) Banksy und Street Art
e) Warum nahm Street Art gerade um 2000 zu?
f) Die Eventisierung von Kunst
4) Banksy
a) Street Art – legal versus illegal
b) Street Art und Werbung
c) Qualitätsmerkmale und Ausdrucksmittel von Street Art
d) Wer betrachtet Street Art, und wo?
e) Balkencode – »Barcode Leopard« (2000)
f) Geld – »Cashpoint« (ca. 2001-2005)
g) Linker Konsum – »Ikea Punk« (2009)
h) Street‹ Art: Der Ortsbezug und die Rolle der Fotografie
i) Kommerzialisierung von Street Art
j) »Destroy Capitalism« (2006)
k) Gemälde – »Crude Oils« (seit 2000) Werkgruppe und Ausstellung
l) Der äußere Rahmen
m) Ratten
n) Giftmüllfass – »Crude Oil« (2005)
o) Einkaufswagen – »Show me the Monet« (2005)
p) Das Tesco-Supermarkt-Motiv und die Einkaufstüte
q) Installation – »The Village Pet Store and Charcoal Grill« (2008-09)
r) Fastfoodkonsum – »Nuggets« und »Sausages«
s) Tiere als Rohstofflieferant -»Leopard«
t) Kinder, Konsum und Kosmetik – »Rabbit«
u) Medienkonsum »Primates«
v) Der Fernseher
w) Der Künstler als Masturbator
5) Damien Hirst
a) Die »Natural-History«-Serie – »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« (1991)
b) »The Golden Calf« (2008)
c) Material Matters – Tier, Gold und Vitrine
d) Kunsta(u)ktion – die »Beautiful Inside My Head Forever«-Ausstellung
e) »For the Love of God« (2007)
f) Butterfly Paintings (1991-2008)
g) Fly Paintings (1997-2008)
h) Spot Paintings (seit 1988)
i) ›Einzigartiges‹ Kunstwerk oder Massenproduktion? Die Serie bei Hirst
j) Hirsts Umgang mit der Tradition der Malerei
k) Drugs – Drogen, Medizin und Süßigkeiten
l) Realität und Ritual
m) Yuppie-Kunst für »over the sofa«? Spot Paintings im Film
n) Das Bespielen eines Ortes – White Cube und Museum
o) Medizin- und Werbungsgläubigkeit
p) Überidentifizierung mit dem Betrachter
6) Banksy und Damien Hirst
a) »Keep It Spotless (Defaced Hirst)« (2007)
b) Der Ortsbezug – Street & Art
7) Künstlerische Strategien im Umgang mit Konsumphänomenen
a) Hirsts Konsumparadies-Illusion
b) Banksys konsumkritische, politisch-aktivistische Karikatur
c) »Brands not products«
d) Werbung
e) Der (potenzielle) Käufer/Betrachter und der Sammler als perfekter Konsument
f) (Im-)Materielles
8) Anhang
a) Banksys Pseudonym
b) Banksys ›Biografie‹
c) Ausstellungsverzeichnis Banksy
d) Banksys Kunstaktionen und Reisen
e) Literaturverzeichnis
Danksagung

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Ulrich Blanché Konsumkunst

Image | Band 40

Ulrich Blanché (Dr. phil.) lehrt am Institut für Europäische Kunstgeschichte in Heidelberg.

Ulrich Blanché

Konsumkunst Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Banksy (Defaced Hirst), Keep It Spotless, household gloss and spray paint on canvas, 83.86 x 120.08 in (2130 x 3050 mm), 2007, Privatbesitz. © Banksy, Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012. Lektorat: Lisa Neubauer, Ulrich Blanché sen., Florian Wimmer, Nadja Gebhardt, Siri Hornschild, Anna Fech, Angela Beyerlein und Vanessa Krout Satz: Ulrich Blanché Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2139-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1) a) b) c)

Einleitung | 9

Wie stellen Hirst und Banksy Konsum dar? | 9 Wie wird der Begriff Konsum hier verwendet? | 19 Quellenlage | 20

2) Konsumbegriffe | 25

a) b) c) d) e) f) g) h)

Konsum | 25 Konsumkritik | 26 Konsumgesellschaft | 30 Konsum und Religion | 34 Konsum in der Kunst(-geschichte) | 37 Marcel Duchamp | 39 Andy Warhol | 42 Jeff Koons | 45

3) London um die Jahrtausendwende | 51

a) Londons Kunstlandschaft ab 1980 | 53 b) Damien Hirst und Young British Artists | 56 c) Was macht einen britischen Künstler in den 1990er Jahren zum Young British Artist? | 63 d) Banksy und Street Art | 67 e) Warum nahm Street Art gerade um 2000 zu? | 72 f) Die Eventisierung von Kunst | 75

4) Banksy | 79

a) b) c) d) e) f) g) h) i)

Street Art – legal versus illegal | 79 Street Art und Werbung | 80 Qualitätsmerkmale und Ausdrucksmittel von Street Art | 81 Wer betrachtet Street Art, und wo? | 83 Balkencode – »Barcode Leopard« (2000) | 84 Geld – »Cashpoint« (ca. 2001-2005) | 89 Linker Konsum – »Ikea Punk« (2009) | 96 Street‹ Art: Der Ortsbezug und die Rolle der Fotografie | 100 Kommerzialisierung von Street Art | 104

j) k) l) m) n) o) p) q) r) s) t) u) v) w)

»Destroy Capitalism« (2006) | 106 Gemälde – »Crude Oils« (seit 2000) Werkgruppe und Ausstellung | 109 Der äußere Rahmen | 113 Ratten | 115 Giftmüllfass – »Crude Oil« (2005) | 116 Einkaufswagen – »Show me the Monet« (2005) | 121 Das Tesco-Supermarkt-Motiv und die Einkaufstüte | 125 Installation – »The Village Pet Store and Charcoal Grill« (2008-09) | 137 Fastfoodkonsum – »Nuggets« und »Sausages« | 141 Tiere als Rohstofflieferant -»Leopard« | 148 Kinder, Konsum und Kosmetik – »Rabbit« | 150 Medienkonsum »Primates« | 153 Der Fernseher | 155 Der Künstler als Masturbator | 159

5) Damien Hirst | 163

a) Die »Natural-History«-Serie – »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« (1991) | 163 b) »The Golden Calf« (2008) | 169 c) Material Matters – Tier, Gold und Vitrine | 177 d) Kunsta(u)ktion – die »Beautiful Inside My Head Forever«-Ausstellung | 189 e) »For the Love of God« (2007) | 192 f) Butterfly Paintings (1991-2008) | 217 g) Fly Paintings (1997-2008) | 244 h) Spot Paintings (seit 1988) | 248 i) ›Einzigartiges‹ Kunstwerk oder Massenproduktion? Die Serie bei Hirst | 251 j) Hirsts Umgang mit der Tradition der Malerei | 252 k) Drugs – Drogen, Medizin und Süßigkeiten | 258 l) Realität und Ritual | 263 m) Yuppie-Kunst für »over the sofa«? Spot Paintings im Film | 265 n) Das Bespielen eines Ortes – White Cube und Museum | 267 o) Medizin- und Werbungsgläubigkeit | 268 p) Überidentifizierung mit dem Betrachter | 274

6) Banksy und Damien Hirst | 277

a) »Keep It Spotless (Defaced Hirst)« (2007) | 277 b) Der Ortsbezug – Street & Art | 289

7) Künstlerische Strategien im Umgang mit Konsumphänomenen | 295

Hirsts Konsumparadies-Illusion | 298 Banksys konsumkritische, politisch-aktivistische Karikatur | 301 »Brands not products« | 306 Werbung | 309 Der (potenzielle) Käufer/Betrachter und der Sammler als perfekter Konsument | 312 f) (Im-)Materielles | 315

a) b) c) d) e)

8) Anhang | 321

a) b) c) d) e)

Banksys Pseudonym | 321 Banksys ›Biografie‹ | 326 Ausstellungsverzeichnis Banksy | 334 Banksys Kunstaktionen und Reisen | 340 Literaturverzeichnis | 342

Danksagung | 366

1) Einleitung

A)

W IE

STELLEN

H IRST

UND

B ANKSY K ONSUM

DAR ?

»Street art was the Asbo [anti social behaviour order]-generation offspring of Damien Hirst and the Young British Artists movement: a hyper active, media-savvy take on graffiti culture. It reveled in subverting the rules of the art Establishment, with the anonymous Banksy sneaking his own guerrilla exhibits into galleries and museums to see how long 1

they would remain in place.« THE NEW STATESMAN

Damien Hirst und Banksy sind in der öffentlichen Wahrnehmung zwei der bekanntesten Vertreter der letzten beiden Jahrzehnte britischer Kunst, Hirst seit den 1990er Jahren für die Gruppe der sogenannten Young British Artists (YBA), Banksy stellvertretend für das erste Jahrzehnt des dritten Jahrtausends und Street Art. Wie obiges Zitat nahelegt, kann man eine Linie von den YBAs zu Street Art beziehungsweise von Damien Hirst zu Banksy ziehen. Diese Untersuchung hat es sich zum Ziel gesetzt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider künstlerischer Positionen unter einem besonderen Aspekt – ihrem Umgang mit Konsum – zu beleuchten. Als Titel der vorliegenden Untersuchung wurde daher »Konsumkunst – Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst« gewählt. Unabhängig davon welche Haltung man zu Konsum, Hirst und Banksy einnimmt – ich habe mich um Ausgewogenheit bemüht – unterstellt offenbar bereits die Beschäftigung mit dem Thema eine gewisse Richtung: Entweder man ist etwa für oder gegen Hirst, Banksy oder Konsum. Mein Ziel war es zu zeigen, dass dies nicht so einfach ist.

1

Alice O’Keeffe: Keeping it real. Onlineausgabe des New Statesman vom 30. Oktober 2008.

10 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

Diese kunstgeschichtliche Arbeit wurde ursprünglich im Mai 2011 als Dissertation mit dem Titel »Konsum bei Banksy und Damien Hirst« an der Universität Erlangen-Nürnberg bei Professor Hans Dickel eingereicht, mit dem Vorsatz »Art in a material world« , der vom gleichlautenden Untertitel der Tate-Modern-Ausstellung »Pop Life« von 2009 inspiriert ist. In dieser Konsumkunst-Werkschau waren mit Hirst, Koons und Warhol (unter anderen) drei der hier näher behandelten Künstler vertreten. Auch wurden in »Pop Life« ähnliche Phänomene zwischen Kunst und Kommerz wie in der vorliegenden Untersuchung behandelt, was deren Aktualität unterstreicht. Wie einige der hier behandelten Werke geht »Art in a material world« auf ein Popsong-Zitat der Sängerin Madonna von 1985 zurück: »I’m a material girl in a material world«.2 Das Materialistische und Materialgläubige erscheint noch immer typisch für die gegenwärtige Konsumgesellschaft. Doch warum wurde das Thema ›Konsum‹ als Schwerpunkt gewählt? Im ersten Kapitel soll ›Konsum‹ als ein sich quer durch alle Zeiten erstreckendes, existentielles und lebenserhaltendes Phänomen untersucht werden. Insbesondere in der Form des Überflusskonsums ist er, zumindest für die breite Masse, ein relativ neues Phänomen, das in der Kunstgeschichte (wie im Kapitel ›Konsum in der Kunstgeschichte‹ ausgeführt) erst im 20. Jahrhundert von den Dadaisten und später verstärkt in der Pop Art behandelt wurde – verherrlichend, beobachtend, ironisch, kritisch oder alles zugleich? Die positiven Seiten der Konsumkultur garantierten bisher den zunehmenden Wohlstand in der westlichen Welt. Die negativen Seiten (pervertierten) Konsumverhaltens stehen in direktem, wenn auch oft geleugnetem Zusammenhang mit den folgenreichsten Problemen der Gegenwart: globale Erwärmung und internationale Finanzkrise. Künstler haben als ›Seismographen‹ ihrer soziokulturellen Gegenwart vielfältig auf das hier unter dem Begriff Konsum zusammengefasste Phänomen reagiert und diese Gegenwart umgekehrt geprägt. Neben der Frage nach (Überfluss-)Konsum in einer Konsumkultur wird auch die nach Konsum (beziehungsweise Kapitalismus) als Sinnstifter generell aufgeworfen. Damien Hirst und bis zu einem gewissen Grad auch Banksy hatten immer wieder mit dem Vorwurf zu kämpfen, populäre, gut verkäufliche beziehungsweise leicht konsumierbare Kunst zu schaffen. Zugleich gibt es kaum Gegenwartskünstler, die – bewusst und strategisch organisiert – ähnlich viel Aufmerksamkeit auch in den Massenmedien auf sich zogen/ziehen. Sowohl der Ausverkaufsvorwurf 2

Vgl. Madonnas Single von 1985: Material Girl. Madonna zitiert wiederum einen Ausdruck von Karl Marx: »To Hegel, the life-process of the human brain, i.e., the process of thinking, which, under the name of ›the Idea,‹ he even transforms into an independent subject, is the demiurgos of the real world, and the real world is only the external, phenomenal form of ›the Idea.‹ With me, on the contrary, the ideal is nothing else than the material world reflected by the human mind, and translated into forms of thought.« In ders.: Capital. Vol. 1. Afterward to the Second German Edition.



E INLEITUNG

| 11

als auch die Popularität stehen, wie gezeigt wird, in engem Zusammenhang zueinander und fungieren als Zeichen unserer Zeit, das beide Künstler in ihrem Werk thematisieren. Diskussionen wie die um den ästhetischen Wert von Kunst – im Vergleich zu ihrem finanziellen Wert als Konsumprodukt – finden Eingang in die Werke; ebenso thematisieren diese auch den Wert und die Bedeutung von Konsumprodukten. Damien Hirsts Œuvre wurde bisher wissenschaftlich kaum behandelt. Wenn, dann lag ein Schwerpunkt auf seiner Darstellung des Todes.3 Wie in der folgenden Untersuchung gezeigt wird, ist in Hirsts Werk der Tod zwar weiterhin gegenwärtig, er wurde jedoch, wie etwa auch seine Provokationen, eher zu routinemäßigen Zutaten, die von einem neuen Schwerpunkt in den Schatten gestellt wurden: seinem Umgang mit (übermäßigem) Konsum. Als ›teuerster‹ lebender Künstler bietet sich Hirst für eine Untersuchung seiner Werke im Hinblick auf Konsum an. Auch die oft sehr wertvollen Materialien und die Massenproduktion deuten in diese Richtung, wie auch die Berichterstattung: »Try to find one of many popularising articles about Damien Hirst […], which does not mention money.«4 Abgesehen von der Publikation des Autors von 2010, die sich allgemein Banksys Arbeiten auf der Straße widmet, war auch dessen Werk bisher nicht Thema einer einzelnen wissenschaftlichen Untersuchung. Trotz anhaltender Mutmaßungen der Tages- (und Fach-)Presse, dass es sich bei Banksy und Hirst nur um temporäre Berühmtheiten handele, die für Konsumkultur in der Gegenwart stehen, findet ihre Kunst doch reges Interesse und einen zunehmenden Stellenwert in den Medien und in der Kunstwelt.5 Gerade diese jahrelange Medienpräsenz zeigt doch allen Unterstellungen zum Trotz, dass sie als Musterbeispiele zeitgenössischer Künstler gelten können und den Zeitgeist der Konsumkultur in ihren Werken widerspiegeln. Dieses Spezifische unserer Gegenwart soll anhand der Kunst Hirsts und Banksys herausgearbeitet werden. Beide wurden ausgewählt, da ihre Werke offenbar vordergründig einfach zu durchschauen sind und ihre künstlerischen Positionen zunächst sehr unterschiedlich, beziehungsweise gegensätzlich erscheinen. Wie gehen der von der Street Art kommende Künstler Banksy und der (in die Jahre gekommene) ›Young‹ British Artist (YBA) Damien Hirst also mit Konsum in ihrer Kunst um? Um diese Frage zu beantworten, beleuchtet die vorliegende Unter3

Siehe etwa Konstanze Thümmel: ›Shark Wanted‹. Untersuchungen zum Umgang zeitgenössischer Künstler mit lebenden und toten Tieren am Beispiel der Arbeiten von Damien Hirst. Marburg 1998.

4

Julian Stallabrass: High Art Lite. The Rise and Fall of Young British Art. 1999. Revised

5

Alle großen nationalen und internationalen Zeitungen widmeten Banksy immer wieder

and Expanded Edition. New York 2006, S. 81. reichlich Platz im Feuilleton, darunter die New York und London Times, die F.A.Z., Süddeutsche Zeitung usw.



12 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

suchung exemplarisch Werke beider Künstler, die sich insbesondere mit unterschiedlichen Aspekten von Konsum beschäftigen. Zugleich wurde versucht, bei der Auswahl der Beispiele der medialen Vielseitigkeit der Künstler gerecht zu werden und Werke aus verschiedenen Zeiten ihres Schaffens und verschiedene Werkgruppen zu analysieren. Damien Hirst wie Banksy werden immer noch oft unter YBA beziehungsweise Street Art kategorisiert, entwickelten sich jedoch inhaltlich wie formal weg von diesen engen Begriffen. Diese Publikation beschäftigt sich nicht in erster Linie mit Street Art und Young British Art, sondern mit den Künstlern Banksy und Damien Hirst. Letzterer steigerte seine künstlerischen Innovationen der frühen YBA-Jahre qualitativ und quantitativ bis zur (selbstironischen) Karikatur in massenhaften Serien, um diese (hauptsächlich) mit dem Paukenschlag der Sotheby’s-Auktion »Beautiful Inside My Head Forever« am 15. und 16. September 2008 enden zu lassen und sich erstmals der Malerei zu widmen, wenngleich er doch nicht völlig vom Alten lassen konnte. Der 15. September 2008 war zugleich der Tag, an dem die Finanzblase der internationalen Märkte mit der Insolvenz der Lehman Brothers Investmentbank platzte und die folgenreichste Finanzkrise seit der Vorkriegszeit auslöste. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich in erster Linie auf Hirsts Arbeiten bis zu diesem Zeitpunkt, wobei tendenziell Arbeiten der Jahre unmittelbar vor 2008 behandelt werden. Die analysierten Banksy-Werke entstanden größtenteils im Zeitraum von 2000 bis 2009. In der Publikation »Something to s(pr)ay. Der Street Artivist Banksy« aus dem Jahr 2010 hat sich der Autor mit Banksys Street Art intensiv auseinandergesetzt. Definition und Entwicklung des Begriffes Street Art führte ich bereits dort aus. Es werden außerdem zwei Galerie-Ausstellungen/Installationen Banksys untersucht, die nicht eindeutig der Street Art zuzuordnen sind, sich jedoch, wie gezeigt wird, formal und inhaltlich auf Street Art beziehen. Bevor das konkrete künstlerische Umfeld von Hirst und Banksy behandelt wird, folgt eine Untersuchung und Eingrenzung von ›Konsum‹ und damit verwandte Begriffe wie Konsumgesellschaft oder -kultur und Konsumismus beziehungsweise Konsumkritik. In diesem Zusammenhang wird auch Konsum in Zusammenhang mit Religion diskutiert. Dabei wird insbesondere Walter Benjamins These vom »Kapitalismus als Religion« aus seinem 1921 verfassten, gleichnamigen Fragment herangezogen. Ein weiteres Kapitel bietet einen Überblick über den Umgang mit Konsum in der Kunst(-geschichte) an, in dem eine Linie von Marcel Duchamp über Yves Klein, Piero Manzoni, Andy Warhol zu Jeff Koons und zeitgenössischer Kunst gezogen wird. Zudem wird kurz auf ältere Beispiele wie die moralisierende niederländische Genremalerei Bezug genommen, welche etwa die dem (Überfluss-)Konsum eng verwandte Maßlosigkeit anprangerte. Nach diesem Überblick über das Phänomen ›Konsum‹ folgt ein Kapitel, das sich mit der Metropole London um die Jahrtausendwende auseinandersetzt, das



E INLEITUNG

| 13

heißt, der soziokulturell-politisch-wirtschaftliche Hintergrund dieser Stadt wird beschrieben – zunächst die Ära Thatcher (1979-1990) mit ihren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft sowie die New-Labour-Ära Tony Blairs, welche von den Terror-Anschlägen des New Yorker 11. September 2001 und des Londoner 7. Juli 2005 geprägt ist. Diese zeitgeschichtlichen Entwicklungen werden konkret auf die Londoner Kunstlandschaft ab etwa 1980 bezogen, die zu dieser Zeit überschaubar und von alten Strukturen beherrscht war. Mit dem Goldsmiths College wird das universitäre Umfeld des jungen Damien Hirst geschildert, der Mitte der 1980er Jahre nach London kam. Neben prägenden Einflüssen auf seine Kunst wie kommerzieller Werbung oder der ersten Saatchi Gallery wird auch die Geschichte der Young British Artists in den 1990er Jahren überblicksweise nachgezeichnet, als deren bekanntester Vertreter Hirst gilt. Der folgende Abschnitt diskutiert die Londoner Kunstlandschaft in Zusammenhang mit einem vermeintlich neuen Phänomen – Street Art – das ab 2000 nicht nur in der britischen Hauptstadt enorm zunahm. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist der aus Bristol stammende, vom klassischen American Graffiti kommende Banksy, der im selben Jahr noch Hirst kennenlernte.6 Am Beispiel ihrer gegenseitigen Wertschätzung wird die zunehmende Etablierung von Street Art geschildert, wobei auch auf die prägenden historischen Ereignisse dieser Jahre wie den Irakkrieg eingegangen wird. Anschließend werden mehrere Werkkomplexe Hirsts und Banksys hinsichtlich ihres Umgangs mit Konsum analysiert. Banksys Werke gliedern sich in drei Bereiche: Street Art, Gemälde und Installation. Der größte Teil von Banksys Kunst bis etwa 2005 fand im urbanen Raum statt. Bis heute wird er primär mit seiner Arbeit auf der Straße identifiziert, obwohl er seit 2005 verstärkt auch legale Kunst schafft. Im Kapitel ›Street Art‹ werden eine Reihe von illegalen Schablonenarbeiten Banksys besprochen, die er zwischen 2000 und 2008 sprühte. Dabei werden zudem wiederkehrende Motive in Banksys Œuvre analysiert, die sich mit verschiedenen Arten von Konsum auseinandersetzen, etwa der Balkencode in den größtenteils illegalen Stencilarbeiten »Barcode Leopard« (2000), der Geldautomat in »Cashpoint« (2001-2005) sowie linker Konsum in »IKEA Punk« (2009) und »Destroy Capitalism« (2006). Wie bei allen illegalen Werken Banksys ist neben dem tatsächlichen, sichtbaren Endresultat insbesondere der Herstellungsprozess, die Örtlichkeit und die mediale Vermittlung dieses Endresultates zu be(tr)achten. Daher werden der konkreten Analyse von Banksys Werken allgemeine Gedanken zu (seiner) Street Art in Zusammenhang mit Konsum vorangestellt, die auch – jedoch nicht nur – für die genannten drei Kennzeichen gelten. Auch wenn anschließend aus Gründen der Anschaulichkeit und Einfachheit meist von Banksys Stencils synonym für Street Art gesprochen 6

Vgl. Si Mitchell: Painting and Decorating. Banksy. In: Level Magazine. Ausgabe 8, Juni/ Juli 2000, S. 69.



14 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

wird, gelten die meisten Thesen genauso für Sticker, Plakate oder andere zwei- bis dreidimensionale Kunstobjekte im öffentlichen Raum, der hier synonym als ›urbaner Raum‹ oder in (Anlehnung an den Begriff Street Art) als ›Straße‹ bezeichnet wird. Der Künstler wird in dieser Abhandlung nicht allein hinsichtlich seiner illegalen Arbeiten auf der Straße untersucht, aufgrund der er der Street Art zugerechnet wird, sondern auch hinsichtlich zweier Ausstellungen, »Crude Oils« von 2005 und »The Village Petstore and Charcoal Grill« von 2008. In Zusammenhang mit den »Crude Oils«, die sowohl Titel einer Werkgruppe wie einer Ausstellung einiger Gemälde dieser Serie sind, werden insbesondere die Motive Giftmüllfass, Einkaufswagen und Einkaufstüte näher untersucht. Die Werkgruppe und Ausstellung »The Village Petstore and Charcoal Grill« beschäftigt sich etwa mit Banksys Verwendung der Tier-Plastik, anhand derer Motive wie etwa Fernseher, Celebrity-Kult und Fastfood hinsichtlich Konsum näher beleuchtet werden. Der Großteil der behandelten Einzelwerke Hirsts stammen aus der Zeit nach 2000, zum Einen, weil, wie gezeigt wird, in dieser Zeit eine deutliche Verlagerung in Hirsts Œuvre in Richtung Konsumkultur stattfand, zum Anderen aufgrund der besseren zeitlichen Vergleichbarkeit mit Werken Banksys, der hauptsächlich ab 2000 aktiv wurde. Ein Sammler kann, wenn er auf der Suche nach einem Werk von Damien Hirst ist, meist nur ein Objekt einer Serie erstehen, weil der Künstler kaum Einzelwerke schuf/schafft. In der vorliegenden Arbeit werden daher vier Werkgruppen Damien Hirsts allgemein vorgestellt. Mit der »Natural History«-Serie und seinen Vitrinen erarbeitete sich Hirst einen Ruf, den er mit seinen anderen Serien festigte, welche meist weniger provokant und explizit sind, jedoch oft ähnliche Materialien und Motive, etwa das reale tote Tier als Hauptmotiv, aufweisen. Jedes einzelne Objekt einer Serie erzeugt einen Wiedererkennungseffekt bezüglich anderer Exemplare der Serie. Begonnen wird mit der »Natural History«-Serie, der Hirst sich verstärkt von 1991 bis 2008 widmete. Dabei handelt es sich oft um tote Nutztiere wie Kühe oder Schweine, jedoch auch exotische Tiere wie etwa Haie, die Hirst in mit Formaldehyd gefüllten Glasvitrinen präsentiert. Mit einem Objekt dieser Serie, »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living«, wurde Damien Hirst 1992 bekannt7, für ein anderes, zwei FormaldehydKühe, »Mother and Child Divided«, erhielt er 1995 den angesehenen Turner Prize. Der Formaldehyd-Jungbulle »The Golden Calf« von 2008 (Abb. 43), der im Folgenden stellvertretend für die »Natural History«-Serie analysiert wird, fungierte als

7

Der Shark war nicht erste Formaldehydskulptur, Hirst legte schon 1991 Schafsköpfe und kleine Fische in Formaldehyd ein. Vgl. Napoli 2004, S. 118-125.



E INLEITUNG

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›Zugpferd‹ von Hirsts »Beautiful Inside My Head Forever«-Ausstellung, die ebenfalls als Meilenstein in seinem Werk gesehen wird.8 Die »Natural History«-Serie kann daher als Aushängeschild seiner Kunst gesehen werden. Sie begründete seinen Ruf als Künstler und bekam die meiste Presse, auch weil Werke dieser Serie zu den schockierendsten, teuersten und größten Hirsts zählen. Dennoch, wie Stallabrass betont, macht Hirst den meisten finanziellen Umsatz mit Gemälden wie den Butterfly, Spin oder Spot Paintings, von denen er auch quantitativ wesentlich mehr schuf und verkauft als Formaldehydarbeiten. Gemälde haben einen wesentlich größeren Markt als Installationen, der zudem weniger von der Rezession abhängig ist.9 Hirst strukturiert und schafft seine Werke unter anderem auch nach marketingtechnischen, verkaufsfördernden Gesichtspunkten, was er in den Werken auch kommentiert. Serien und Wiederholungen verkaufen sich gut. Schon zwei Werke bestärken sich gegenseitig.10 Dieser Umstand kann mit Konsum insofern in Verbindung gebracht werden, als hier der Werbebegriff ›Wiedererkennungseffekt‹ auftaucht, der im Falle der »Natural History«-Serie schon durch den Namen beziehungsweise die etablierte ›Marke‹ Damien Hirst in Kombination mit dem Tier in Formaldehyd ausgelöst wird. Wie Warhol in seiner Factory produzierte Hirst massenweise mit einem Heer von bis zu 160 Assistenten und stellt damit die Einzigartigkeit eines Kunstwerkes wie seine individuelle Anfertigung in Frage. Zugleich spiegelt seine Massenproduktion wie schon Pop Art die gegenwärtige Industriegesellschaft wider.11 Wie auch bei Warhol lässt sich nicht bestimmen, ob Hirst damit Massenproduktion und Konsum glorifiziert oder Konsum-Glamour – ironisch – kommentiert. Massenprodukte sprechen verschiedene Menschen auf verschiedene Art und Weise an.12 Am ehesten zeigt Hirst, dass Glorifizierung von Konsum und dessen Kritik untrennbar verbunden sind13: »I try to say something and deny it at the same time.«14 Hirst will (wie viele seiner YBA-Kollegen) nicht moralisch beurteilt werden.15 Er ist »potentially serious«16, seine Ablehnung moralischer Aussagen ist jedoch 8

Vgl. Liebs 2010.

9

Auch Hirst betont im Interview mit Liebs 2010 die Krisenfestigkeit der Malerei. Vgl. zudem Julian Stallabrass: High Art Lite. New York 2006, S. 162.

10 Vgl. Ebd. S. 190-191. 11 Vgl. Ebd. S. 102. 12 Vgl. Ebd. S. 132. 13 Vgl. Ebd. S. 214. 14 Hirst 1997, S. 48. 15 Vgl. Stallabrass 2006, S. 92. 16 Ebd. S. 112.



16 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

auch wieder moralisch oder eben nicht moralisch zu beurteilen17, was in einem Ausstellungstext zum ›Shark‹ folgendermaßen formuliert wurde: »The extraordinary tension of the piece comes from its neutrality – from raising issues yet refusing argument. The work offers drama without catharsis, confrontation without resolution and provocation without redress. Responsibility is returned to the viewer.«18 Die Young British Artists beschäftigten sich eingehend mit postmoderner Theorie, um zu verhindern, dass sie auf ihr Werk schlüssig angewendet werden kann. Hirst kreierte eine artistic persona19 wie Andy Warhol oder Jeff Koons und gibt damit die Verantwortung, wie etwas gelesen werden soll, an den Betrachter ab. Wie geht man also in einer kunstwissenschaftlichen Untersuchung mit Hirst um? Zählt man nur die offensichtlichen kunstgeschichtlichen Bezüge auf, kommt man nicht wesentlich über name dropping hinaus – Duchamp, Warhol, Koons. Dies wird vom Künstler oft selbst angestoßen. Laut Stallabrass ist seine Kunst oft wie ein Brettspiel20, spielen muss der Betrachter selbst, da die künstlerische Originalität mit dem Tod des Autors starb, bei Hirst gibt es nur Neukombinationen fixer Diskurse.21 Als Spielsteine bekommt der Betrachter Assoziationshüllen22 aus Religion, Wissenschaft, Tod, Liebe, Kunstgeschichte; auch philosophische Theorien sind Teil des Spiels.23 Die von Hirst verwendeten Elemente aus Glaubenssystemen wie Religion oder Kapitalismus sind innerhalb eines Werkes teils gegenläufig, teils bestärken sie sich24: ͩObjects, expressions and stereotypes are hijacked and reworked in order to address traditional themes such as sex, death and destruction, love and loss.«25 Hirst verwendet gängige Arten Kunst zu sehen, um betont schöne, gut verkäufliche Kunst zu schaffen. Diese hält einer gewissen theoretischen Untersuchung stand, erschlägt den Betrachter jedoch nicht mit der Bildung und Tiefgründigkeit des Künstlers.26Stattdessen wählt Hirst Ironie27, um individuelle Zwischentöne und 17 Vgl. ebd., S. 152. 18 British Council Visual Arts Department: Damien Hirst. London 1992. 19 »Hirst is acting up for the press, of course, slipping from one persona into another: one minute the bohemian artist, the next the business tycoon, the next the working-class lad from Leeds turned superstar who still doesn’t give a monkey’s. Then it strikes me that he is actually all of these people all the time […].« Sean O’Hagan: Damien of the dead. The Observer vom 19. Februar 2006. 20 Stallabrass 2006, S. 142. 21 Ebd. S. 90. 22 Thümmel 1997, S. 220. 23 Hirst im Interview mit Liebs 2010,Vgl. auch Stallabrass 2006, S. 104. 24 Clarrie Wallis: In the Realm of the Senseless. In: Muir/Wallis 2004, S. 102-103. 25 Ebd., S. 98. 26 Stallabrass 2006, S. 92.



E INLEITUNG

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Graustufen in der Wahrnehmung des Betrachters herauszuarbeiten. Für Hirst gilt, was sein YBA-Kollege Angus Fairhurst über sich selbst sagte: »I like saying a word over and over again till it looses its meaning, and then it gets it back again.«28 Hirsts Kunst enthält laut Stallabrass immer eine »much used punch line of an overtold joke«29. Der alte Witz bildet eine gute Vergleichsposition zu seiner Arbeit, auch er selbst sagt: 30

»I think a joke is like art, it’s like water. It’s got to be able to go everywhere.« Muir äußert sich ähnlich über die YBAs: [...] [They] were preoccupied with a form of visual attack not entirely dissimilar to the language of advertising; recalling Saatchi’s own campaigns, especially those punchy one liners that had smoothed the path to Thatcher’s political victory.«

31

Das Einfache, oft Gehörte und Gesehene und damit das Werbung, Popsongs, Slogans und Konsum Reflektierende ist immer ambivalent. Je nach Betrachter ist es nur einfach oder eben zugleich das Einfache, Kitschige reflektierend und kritisierend. Ziel dieser Untersuchung ist, eine Struktur und Sprache zu benutzen, die nicht nur gängige Interpretationsschemata ›wiederkäut‹, sondern einen Schwerpunkt auch auf den Betrachter und den Herstellungsprozess der Werke zu setzen, sowie auf ein zentrales Thema, das in der Kunstwissenschaft oft vermieden wird, weil es sie selbst und ihre Daseinsberechtigung betrifft: Geld beziehungsweise Kunst als Konsumprodukt. Die zweite Serie analysiert Hirsts Butterfly Paintings, die er von 1991 bis zur oben genannten Ausstellung 2008 schuf. Diese monochromen Leinwände mit aufgeklebten toten Schmetterlingen werden anhand zweier Bespiele erläutert, die jeweils einen anderen Schwerpunkt – Konsum in Zusammenhang mit Pop-Kultur und mit Religion – haben und sich zugleich auch formal in Werke mit wenigen ganzen Faltern und vielen Schmetterlingsflügeln (Wing Paintings) unterteilen. Anschließend wird kurz auf eine Art Anti-Serie zu den Butterfly Paintings, die Fly Paintings, eingegangen. Wie bei Hirsts »Natural History«-Serie steht auch bei den Butterfly Paintings (Abb. 60 und 62) das Tier als Bedeutungsträger im Mittelpunkt. Neben pflanzlichen und geologischen Materialien zählen tierische und vom Menschen stammende Körpersubstanzen und -säfte zu der Gruppe der Naturmaterialien. Diese gehören zu den ältesten künstlerischen Materialien überhaupt, erlangten jedoch erst im 20. Jahr27 Ebd. S. 97. 28 Gregor Muir: It must be a Camel (for now). In: Muir und Wallis 2004, S. 94. 29 Ebd. S. 93. 30 Ebd. S. 94. 31 Ebd. S. 202.



18 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

hundert künstlerische Autonomie.32 Zu den ersten Künstlern der neueren Kunstgeschichte, die Tiere oder Tierteile in ihre Arbeiten integrierten, gehörten 1936 Surrealisten wie Mirò, der einen präparierten Papagei in einer Assemblage verwendete, oder Meret Oppenheim mit ihrer Felltasse (»Déjeuner en fourrure«).33 Von den Jahren des Zweiten Weltkrieges unterbrochen, fanden Naturmaterialien erst in den 1950er Jahren wieder Eingang in Kunstwerke. Robert Rauschenberg34 etwa verwendete in seinen Collagen, die er »Combines« nannte, unter anderem eine ausgestopfte Ziege (»Monogram«, 1959) oder einen Weißkopf-Seeadler. Seine ironischen Mischungen aus früher Pop Art und Neo-DADA sind Paraphrasen von Träumen der Konsumgesellschaft sowie von typischen Figuren seiner Zeit. Rauschenbergs »Combines« stellen eine Verbindung zwischen DADA und Damien Hirst her, dessen Butterfly Paintings ebenfalls eine Kombination von Collage, Readymade, Skulptur und Malerei sind und sowohl an der Grenze der zweiten zur dritten Dimension wie zwischen Kunst und Leben anzusiedeln sind. Ein weiteres, hier analysiertes Werk Hirsts, »For the Love of God« (Abb. 48 und 49) von 2007 bietet sich aufgrund seines Rufes als teuerstes Werk eines lebenden Künstlers zur Deutung hinsichtlich unserer Konsumkultur an. Die oft genannte Wichtigkeit dieses »Diamond Skull« (so der alternative Titel) innerhalb von Hirsts Œuvre und seine vielfältigen Bezüge zu behandelten Serien waren weitere Gründe, gerade dieses Werk zu analysieren. »For the Love of God« kann als Beginn einer Motivgruppe, den »Skulls« gesehen werden, obwohl es Vorläufer in Hirsts eigenem Werk gibt. Ab 1998 verwendete Hirst ganze menschliche Skelette, etwa in »Rehab Is For Quitters« (1998/99) oder »Death Is Irrelevant« (2000) und auch einen Totenschädel neben Tierskeletten in »Where Are We Going? Where Do We Come from? Is There A Reason?« (2000-2004). Als Einzelmotiv taucht der Schädel zunächst als Kuhschädel35 (1994) und bald auch als menschlicher Schädel (2005) auf.36 Bei Letzterem handelt es sich um einen Silberabguss eines menschlichen Schädels, auf den im Grunde eine ähnliche Deutung hinsichtlich Konsum passt wie auf »The Diamond Skull«, mit dem Unterschied, dass sein finanzieller Wert wesentlich ge-

32 Ebd., S. 41 und Anne Hormann: Land Art: Kunstprojekte zwischen Landschaft und öffentlichem Raum. Phil Diss. Hamburg 1993, Berlin 1996, S. 9. 33 Vgl. Josef Helfenstein: Meret Oppenheim und der Surrealismus. Stuttgart 1993, S. 67. 34 Vgl. Ann Wilson: Voices of an Era. In: Kat. Ausst. Paul Thek Rotterdam, Berlin, Barcelona, u.a 1995, S. 60. Diane Waldman: Collage und Objektkunst vom Kubismus bis heute. Köln 1993, S. 254. 35 Vgl. Hirst 1997. »Twelve Disciples«, 12 Kuhschädel in Formaldehyd, 1994. Abb. S. 318325. 36 »The fate of man« (2005), Schädel aus Silber (Edition von 25). Damien Hirst. Kat. Ausst. New Religion. London 2005. O.S.



E INLEITUNG

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ringer ist, was zugleich belegt, wie wichtig der Verkaufspreis (50 Millionen Pfund) für die Deutung des Werkes ist. Die letzte in dieser Untersuchung behandelte Serie ist die der Spot Paintings (Abb. 72 und 73), welche Hirst (mit Unterbrechungen) seit 1988 schafft. Ein Werk dieser Serie, »Keep It Spotless« (Abb. 87), bildet die Basis einer Gemeinschaftsarbeit mit Banksy, deren Analyse den Vergleich beider Künstler einleitet. In Zusammenhang mit dieser auch »Pharmaceutical Paintings« genannten Serie wird zudem auf Hirsts »Pharmaceutical Cabinets« (ab 1989) eingegangen. Die Deutung beschäftigt sich insbesondere mit dem Verhältnis von Konsum und Wissenschaft/ Medizin. Alle genannten Werke beider Künstler werden materialkundlich, ikonographisch und ideengeschichtlich hinsichtlich ihres Umganges mit Konsumkultur untersucht. Zudem wird insbesondere auf die Position des Betrachters und den Umgang mit dem Raum eingegangen, der, wie gezeigt wird, nicht nur bei Banksy sondern auch bei Hirst eine dominante Rolle einnimmt. Da Banksy wie auch Damien Hirst zum Zeitpunkt dieser Untersuchung erst in ihren Dreißigern und Vierzigern sind, lassen sich noch keine endgültigen Aussagen über beider Œuvres machen. Diese Arbeit sieht sich als erste von weiteren Untersuchungen über Hirst und Banksy.

B)

W IE

WIRD DER

B EGRIFF K ONSUM

HIER VERWENDET ?

Oft hat der Begriff Konsum einen negativ-kritischen Beigeschmack, der mit Manipulation und Entfremdung in Verbindung gebracht und in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich verwendet beziehungsweise unterschiedlich weit gefasst wird. In Form der traditionellen westeuropäischen Konsum- und Luxuskritik reicht diese negative Konnotation bis ins 17. Jahrhundert und die Antike zurück.37 Noch in den 1970er Jahren wurde der Begriff jedoch häufig als neutrale, rein quantitative ökonomische Größe verwendet. Seit den 1990er Jahren beginnt der Begriff laut Wyrwa seinen pejorativen Unterton zu verlieren, konsumieren wird nun weniger »als passives Erleiden, sondern als kommunikativer Akt, als ein Moment des sozialen und politischen Austausches verstanden.«38

37 Vgl. ebd., Ullrich 2006, S. 182 oder Hannes Siegrist: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa. In: ders., Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka (Hgg.): Europäische Konsumgeschichte. Frankfurt/Main 1997, S. 25-26. 38 Wyrwa in Siegrist 1997, S. 747, siehe auch David Sabean: Die Produktion von Sinn beim Konsum der Dinge. In: Wolfgang Ruppert (Hg.): Fahrrad, Auto, Kühlschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. Frankfurt/Main. 1993.



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Wenn hier der Begriff Konsum verwendet wird, schwingt dieser von Wyrwa genannte, positive kommunikative Akt des Austausches explizit mit. Konsum impliziert hier nicht einen rein wirtschaftlich-neutralen Konsum, wie er noch im heute veralteten ›Konsumverein‹ vorhanden war, sondern eben die Betonung der Wichtigkeit von Konsum in der heutigen, ihr den Namen gebenden Konsumgesellschaft oder Konsumkultur (siehe gleichnamiges Kapitel). Eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Akt des Konsumierens und mit dem Konsumenten (also dem Menschen unter dem besonderen Aspekt besehen, was er aufnimmt, konsumiert, verbraucht) führt jedoch automatisch zu einer kritischen Sicht des Konsums, jedoch nicht im einseitig-linken Verständnis der klassischen Konsumkritik (siehe gleichnamiges Kapitel), sondern im ursprünglichen Sinne des Wortes Kritik – etwas ausgewogen, positiv wie negativ, zu beschreiben und zu bewerten. Dennoch schwingt beim Begriff ›Konsum‹ dessen historisch gewachsene, leicht negative Konnotation mit, etwa wenn von Überflusskonsum die Rede ist. Bewusst wurde hier etwa auf den Kapitalismusbegriff und auf die Verwendung des Terminus ›Kapitalismuskritik‹ verzichtet, da Konsum in der vorliegenden Untersuchung als die hauptsächliche und teils einzige soziale Handlung und Interaktion im vorherrschenden Kapitalismus gesehen wird: Konsum verhält sich in diesem Text zu Kapitalismus wie Beten zu Religion (siehe Kapitel Konsum und Religion), der Akt, in dem sich die momentane Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung manifestiert. Beide hier behandelten Künstler arbeiten innerhalb dieser Ordnung des Kapitalismus, sie kommentieren und prägen deren konkrete Formulierung, den Akt, nämlich den Konsum und den menschlichen Umgang mit diesem innerhalb des ihn bedingenden Kapitalismus, mit Banksys sarkastischen Worten: »We can’t do anything to change the world until capitalism crumbles. In the meantime we should all go shopping to console ourselves.«39 Auch jenseits von den hier behandelten Bereichen Street Art, Young British Artists oder Pop Art wird das Verhältnis von Kunst und Markt gegenwärtig ständig thematisiert. So besteht etwa eine Verbindung zur Performancekunst, die seit ihren Anfängen Gegenpositionen zur Idee vom Kunstwerk als konsumierbarer Ware entwickelt und zum Teil hoch differenzierte Reflexionen über Marktmechanismen von Kunst geboten hat. Als Theaterwissenschaftler, der ich neben dem Kunstwissenschafler bin, stelle ich immer wieder Vergleiche mit Aktionskunst und Performance her, auch wenn aus Platzgründen nicht auf diese, noch auf vergleichbare (in Hinsicht auf diese Arbeit ebenfalls fruchtbare) Richtungen wie etwa Fluxus, Situationismus oder Land Art eingegangen werden kann.

39 Banksy in Wall and Piece 2005, S. 204.



E INLEITUNG

C)

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Q UELLENLAGE

Die wissenschaftlichen Quellen zu Banksy wie zu Damien Hirst sind überschaubar, mit all den daraus resultierenden Vor- und Nachteilen: Neben Banksys eigenen vier Buchpublikationen und seiner Webseite, die als Primärquellen für Abbildungen und Banksy-Zitate dienten, war zudem der Anekdoten-Bilderband »Home Sweet Home. Banksy’s Bristol« von Steve Wright von 2007 eine nützliche Quelle für Anregungen. Im Falle von anderen Büchern beschränken sich wissenschaftliche wie nicht wissenschaftliche Texte meist auf eine kurze Biografie sowie eine oberflächliche Auflistung einiger seiner Werke und Aktionen. Aus der Fülle von englischsprachiger Literatur in Form von Bildbänden und Unterhaltungsbüchern (die meist ›Street Art‹ oder ›Graffiti‹ im Titel haben) sticht Tristan Mancos »Stencil Graffiti« von 2002 heraus. Wissenschaftliche, englischsprachige Literatur zu Street Art und Graffiti lässt sich nahezu auf Cedar Lewinsons Tate-Modern-Ausstellungskatalog »Street Art« von 2008 reduzieren. Der oft zitierte »Kool Killer«-Aufsatz (1978) des französischen Intellektuellen Baudrillard über die frühe amerikanische Graffitiszene ist sehr aus der Zeit der 1968er Bewegung heraus zu betrachten. Die meisten Quellen zu Banksy in dieser Untersuchung waren/sind online zu finden, was der Neuheit des Gegenstandes geschuldet ist, jedoch auch daher rührt, dass (nicht nur Banksys) Street Art in erster Linie online in Form von Fotos verbreitet, wahrgenommen und diskutiert wird. Hilfreich waren insbesondere Online-Foren wie die Banksy-Gruppe auf Flickr.com sowie banksyforum. proboards.com. Diese wie auch (Online-)Zeitungsartikel vorwiegend britischer Zeitungen/Zeitschriften werden jedoch eher hinsichtlich genannter Daten und Beschreibungen zitiert, der Großteil Letzterer nennt eine oder mehrere Aktionen und Werke Banksys (oft in Zusammenhang mit Verkaufspreisen) und mutmaßt ansonsten über seine Identität. Texte zu Hirst lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Die erste ist die Massen-Presse, die zweite Ausstellungskataloge und Beiträge in Fachzeitungen. Erstere beschäftigt sich primär mit der Celebrity-Person Damien Hirst, oder dem, was von ihr an die Öffentlichkeit dringt, beziehungsweise, was für eben diese Öffentlichkeit generiert wird. Die Werke werden meist nicht beim offiziellen Titel genannt. Stattdessen bekommen sie oft vereinfachende ironisch-degradierende alternative Titel wie »Pickled Beasts« für die »Natural History«- Serie, »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« wird »The Shark«, aus »For the Love of God« wird »The (Diamond) Skull«. Neben den Titel oder den Pressenamen wird der (Schätz- oder Verkaufs-)Preis genannt. Angefügt wird zudem oft eine insgeheime oder offene Unterstellung, dass Hirst sich über den Kunstmarkt, die Käufer, die Öffentlichkeit an sich lustig macht, anstatt ›Kunst‹ zu schaffen – ein Vorwurf, mit dem sich auch Banksy konfrontiert sieht.



22 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

Alternativ berichten Ausstellungskataloge und Fachberichte nach Art des Anything goes gebetsmühlenartig darüber, dass Hirst elementare Themen wie Tod, Leben, Religion und Liebe behandelt. Oft fallen Begriffe wie ›Vanitas-Gedanke‹, ›Memento mori‹, ›morbid‹ oder ›Schönheit‹, der Konsumaspekt seiner Arbeiten wird meist ganz ausgeblendet. Auffällig ist die große Zahl an Interviews mit Hirst, die er oder seine Galerien größtenteils selbst herausgaben, etwa die Sammlung »On The Way to Work« (2001), die er mit seinem bevorzugten Interviewpartner, dem Autor Gordon Burn, veröffentlichte, der auch teils kritische Fragen stellte.40 Damit steht Burn im Gegensatz zu namhaften Kunsthistorikern und -journalisten wie Rudi Fuchs, Stuart Morgan, Will Self oder Hans-Ulrich Obrist. Diese verfassten ebenfalls Interviews und Texte zu Hirsts Ausstellungskatalogen, hierbei ist ihre Position jedoch meist eher die von Stichwortgebern Hirsts. Interviews waren für diese Arbeit wichtige Quellen, die dennoch mit Vorsicht genossen wurden. Dem Interview als wissenschaftliche oder auch nur neutrale Quelle unterstellt auch Stallabass mangelnde kritische Distanz und Objektivität: »[I]t is an inadequate form of explication. We have seen that artists can be singularly unhelpful informants, far less concerned with elucidating the work for people who might be puzzled by it than with using the opportunity to foster a particular artistic image and fend off critique. Nevertheless, such statements have an air of authenticity: no matter how disingenuous or evasive, they have issued from the mouth of the artist, they emanate from the inner circle, the exclusive scene, and thus take on an ineluctable quality, as symptoms of an alluring aesthetic malaise. Precisely because of this they are no substitute for critical thought.«

41

Auch der Ausstellungskatalog der »Beautiful Inside My Head Forever«-Auktion enthält ein Interview Burns mit Hirst. Andere Texte darin, wie auch die im Katalog zu Hirsts erster Retrospektive »Damien Hirst. The Agony and the Ecstasy« von 2004 im Museo Archeologico Nazionale in Neapel, wiederholen oft relativ unreflektiert von Hirst geäußerte Gedanken zu seinen Werken. Fruchtbar ist der Katalog zur YBA-Gruppenausstellung »Sensation« von 1997 in der Royal Academy of Art in London, konkret die Aufsätze von Richard Shone und Martin Maloney, die über weite Strecken jedoch auch nicht über Aufzählungen hinauskommen, sowie der Ausstellungskatalog der Tate Modern »In-A-Gadda-Da-Vida« von Gregor Muir und Clarrie Wallis von 2004. Wenn man sich die übrige, gedruckte Damien-Hirst-Literatur ansieht, fällt auf, dass die meisten Titel von ihm selbst, seinen Galerien und unter seiner Mitarbeit veröffentlicht wurden. Trotz seiner zwei Dekaden umspannenden Karriere lassen sich größere und ›unabhängige‹ wissenschaftliche Publikationen, die nicht von ihm 40 Diesem gab Hirst bis zu dessen Tod 2009 weitere Interviews in Ausstellungskatalogen. 41 Vgl. Stallabrass 2006, S. 273-274.



E INLEITUNG

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kontrollierte Katalogtexte zu seinen Ausstellungen sind, an einer Hand abzählen. Auch der Katalog zu Hirsts Tate-Retrospektive 2012 wird ihm nicht gerecht. Er liefert Aufzählungen, enthält unzählige Wiederholungen in den einzelnen gehaltlosen Beiträgen und enthält sich jedwegen Urteils. Hirsts neuere, selbstgemalte Gemäldeserien seit 2006 fehlen vollständig, dabei sind sie trotz ihrer oft als mangelhaft kritisierten Qualität unverzichtbar für das Verständnis von Hirst. In jedem seiner Bilder ist seine Sehnsucht danach, Maler zu sein, eine wichtige Komponente. Bei einem Künstler, der seit 25 Jahren Kunst schafft einfach sechs Jahre zu streichen, ist fragwürdig. Aus der meist englischsprachigen Literatur ist des weiteren »High Art Lite. The Rise and Fall of Young British Art« (in der zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage von 2006) von dem gelegentlich zu linken, zu humorlosen und zu politisch korrekten Julian Stallabrass als wichtigste Quelle hervorzuheben, das sich im Gegensatz zu Gregor Muirs informativ-unterhaltsamer Anekdotensammlung »Lucky Kunst« von 2010 eher wissenschaftlich-kritisch mit den sogenannten YBAs auseinandersetzt. Als einziges deutschsprachiges Werk ist 1997 Konstanze Thümmels zu Unrecht wenig beachtete Dissertation »›Shark Wanted‹ – Untersuchungen zum Umgang zeitgenössischer Künstler mit lebenden und toten Tieren am Beispiel der Arbeiten von Damien Hirst« erschienen, die sich mit den frühen Jahren in Hirsts Schaffen beschäftigt. Bei der Konsum-Literatur war Wolfgang Ullrichs »Habenwollen« (2006) prägend, auch wenn Ullrichs These fragwürdig erscheint, dass in einer Wohlstandsgesellschaft das schlechte Gewissen beim Konsum heute eher schädlich und überflüssig sei. Dabei lässt er jedoch bekannte Konsum-Probleme wie Umweltzerstörung und Ausbeutung der Dritten Welt größtenteils außer Acht, die sehr wohl Konsumkritik notwendig machen. Auch die von Siegrist, Kaelble und Kocka herausgegebene Aufsatzsammlung »Europäische Konsumgeschichte« von 1997 und Norbert Bolz’ »Das konsumistische Manifest« von 2002 lieferten wertvolle Anregungen. Bolz’ von den (unmittelbar vorher stattgefundenen) Anschlägen vom 11. September 2001 beeinflusste fragwürdige These, Konsum könne als Gegengewicht zum internationalen Terror fungieren, ist mehr als zweifelhaft. Auch Zygmunt Baumans »Leben als Konsum« (2007) und insbesondere Naomi Kleins »No Logo« (2000) gaben wichtige wissenschaftliche Anregungen und Beispiele. Eher anekdotischanschaulich waren für die britische Konsumlandschaft »All consuming« von Neal Lawson und generell Walter Grasskamps »Konsumglück Die Ware Erlösung« (2000). Für Einzelaspekte verschafften Joan Gibbons »Art and Advertising« (2005), der von Dirk Baecker herausgegebene Sammelband »Kapitalismus als Religion« (2003), Ute Dettmars und Thomas Küppers Sammelband »Kitsch. Texte und Theorien« (2007) sowie Sarah Thorntons »Seven Days in the Art World« (2008) einen Überblick zum Thema.



2) Konsumbegriffe

»Konsum ist längst zur leitenden Ideologie unserer 1

Gesellschaft geworden.«

BORIS GROYS, KUNSTWISSENSCHAFTLER

A)

K ONSUM

Konsum kommt vom lateinischen consumere (verbrauchen, verwenden, erschöpfen) und bezeichnet den Verzehr oder Verbrauch von verderblichen oder langlebigen Gütern sowie (auf dem Markt) verfügbaren Dienstleistungen.2 Konsum ist Teil des von einander abhängigen Begriffepaars ›Konsum und Produktion‹, die in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen. »Die Konsumtion bildet das Ziel der Produktion.«3 Konsum bedeutet ursprünglich, dass Konsumgut durch eine Tätigkeit weniger wird oder abnimmt, beziehungsweise verbraucht wird. Dabei handelt es sich um eine Nutzung, in deren Folge der Nutzen des Konsumgutes durch Veränderung oder Umwandlung nicht mehr, in anderer Form oder in anderem Maße verfügbar ist. Da der Nutzen erst das Gut definiert, existiert auch das Gut anschließend oft nicht mehr, sondern ein Folgeprodukt, meist ein Abfallprodukt, welches weniger wertvoll, wertlos oder schädlich sein kann.4 Als Verbraucher oder Konsument wird eine natürliche Person bezeichnet, die Waren und Dienstleistungen zur eigenen privaten Bedürfnisbefriedigung käuflich erwirbt. Oft hat auch der Terminus Verbrau-

1 Boris Groys: Der Künstler als Konsument. In: Max Hollein und Christoph Grunenberg (Hgg.): Kat. Ausst. Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Ostfildern-Ruit 2002, S. 55. 2

Vgl. Hannes Siegrist: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa. In: ders., Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka (Hgg.): Europäische Konsumgeschichte. Frankfurt/Main 1997, S. 16.

3

König 2008, S. 13.

4

Für eine detaillierte Entwicklung des Begriffes Konsum, die hier nur verkürzt wiedergegeben werden kann,Vgl. Ulrich Wyrwa: Konsum, Konsumgesellschaft. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte. In: Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka (Hgg.): Europäische Konsumgeschichte. Frankfurt/Main 1997, S. 747-762.

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cher geschichtlich eine negative Färbung (Otto-Normal-Verbraucher), da auch dieser im Gegensatz zum aktiven Produzenten passiv und manipuliert klingt. In der Theorie besteht der Zweck des mit dem Konsum verwandten ›Wirtschaftens‹ in erster Linie darin, (Kultur-)Bedürfnisse zu befriedigen. In der Praxis spielt außerdem die Gewinnmaximierung eine große Rolle, sowie das Schaffen von Bedürfnissen.5 Private Haushalte werden mit den Konsumgütern versorgt, die sie verlangen. Die Nachfrage nach Konsumgütern, die man nicht zum (Über-)Leben nötig hat (non-essentials), wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, meist durch verschiedene Arten von Werbung. Das heißt, ein Bedürfnis und die daraus folgende Nachfrage werden teils künstlich generiert. Die Nachfrage nach einem Konsumgut im Vergleich zu einem anderen regelt sich durch den Preis.6 Weiterhin wird in der Theorie die Nachfrage durch den Nutzen, den die Konsumgüter stiften, den Bedürfnissen der Konsumenten und dem Einkommen, das den Haushalten zur Verfügung steht, beeinflusst. Bei steigendem Preis eines Konsumgutes und/oder bei sinkenden Einkommen sinkt normalerweise auch die Nachfrage der Haushalte.7

B)

K ONSUMKRITIK

i)

Der Begriff Konsumkritik

Unter Konsumkritik oder Konsumismus, beziehungsweise englisch consumerism versteht man übersteigertes Konsumverhalten (der englische Ausdruck bedeutet zudem in der Ökonomie soviel wie Verbraucherschutzbewegung). Diese Konsumkritik wendet sich nicht gegen den Kauf und Konsum von lebensnotwendigen Dingen, sondern meist gegen den von nicht essenziellen Luxusgütern und wurzelt in der erwähnten Luxusdebatte. Was als essenziell gilt, ist jedoch vom soziokulturellen und zeitlichen Kontext abhängig8 und ebenfalls diskutabel. Oft wird Konsum mit Konsumismus gleichgesetzt, da lebenserhaltender Konsum gemeinhin nicht in Frage gestellt wird und eine Beschäftigung mit dem Thema bereits eine kritische Haltung einbeschrieben hat.

5

Vgl. König 2008, S. 15, 16 und 52.

6

Vgl. Hariolf Grupp: Messung und Erklärung des technischen Wandels: Grundzüge einer empirischen Innovationsökonomik. Hamburg 1997.

7

Vgl. Renate Neubäumer und Brigitte Hewel (Hgg.): Volkswirtschaftslehre. 4. vollständig überarbeitete Auflage. Wiesbaden 2005, S. 4-7, siehe auch S. 35-61.

8

So werden etwa Wasserklosette heute gemeinhin meist als essenziell gesehen, was vor einem Jahrhundert nicht der Fall war.



K ONSUMBEGRIFFE

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Der Begriff Konsumismus wurde seit den 1970er Jahren unter anderem von dem italienischen Filmregisseur und Theoretiker Pier Paolo Pasolini gebraucht, um etwa in seinen 1975 veröffentlichten »Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft«9 Konsum in den westlichen Gesellschaften als übersteigert zu kritisieren. Pasolini formulierte die These, der Konsumismus sei eine neue Form des Totalitarismus, weil er den Anspruch habe, die Konsum-«Ideologie« auf die gesamte Welt auszudehnen. Als Folge davon drohe die Zerstörung der Vielfalt sozialer Lebensformen und die Gleichmachung der Kulturen in einer globalen konsumistischen Massenkultur. Konsumkritik oder die Ablehnung übermäßigen Konsums gelten, wie erwähnt, als Teil und Merkmale einer Konsumgesellschaft. »Nichts wird in den modernen Konsumgesellschaften so gerne konsumiert wie die Kritik am Konsum. Bloß zu konsumieren scheint moralisch verwerflich zu sein – in erster Linie soll man produzieren, schaffen, kreativ sein.«10 Als Befürworter des Konsums sieht der Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz in seinem »Konsumistischen Manifest« im Konsum das weltweite Gegengewicht zum religiösen Fundamentalismus. Laut Bolz befriedet Konsum die Welt, weil er seine positiven Wirkungen allen Menschen zuteil werden lasse. Die westliche Konsumkultur werde dabei jedoch ohne Rücksicht auf die negativen ökologischen Folgen weltweit ausgedehnt. Der Konsum könne als »Immunsystem der Weltgesellschaft« nur an sich selbst zugrunde gehen. Dieser optimistischen Sicht von Bolz widerspricht Kondylis, welcher in der mit Konsum verbundenen Etablierung hedonistischer Lebensweisen zwar das »Ende der Ideologien« sieht, jedoch nicht das Ende weltweiter Konflikte.11 Laut Bolz »konkretisiert sich natürlich der Hass gegen die Lebensform des westlichen Konsumismus [im AntiAmerikanismus].« Es gehe allein um die beiden Weltreligionen »Anti-Amerikanismus« und »kapitalistischer Konsumismus«, die irgendwie Ansichtssache wären. Der Zwang zum Shopping ist laut Groys auch vor allem moralischer Natur. Man muss immer mehr kaufen, um die Wirtschaft anzukurbeln12, nicht etwa, weil mehr Konsum tatsächlich zu größerer Zufriedenheit führt. Dem widersprechen wiederum andere Konsumkritiker.13 Ullrich verteidigt die positiven Seiten des Konsums, nicht alle Konsumentenwünsche seien etwa von Werbung und Marketing künstlich generiert, die es »ohne 9

Vgl. Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1975.

10 Zitiert bei Max Hollein: Shopping. In: Shopping 2002, S. 13. 11 Vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1991. 12 Boris Groys: Der Künstler als Konsument. In: Shopping 2002, S. 55 und Mark C. Taylor: Duty-Free-Shopping. In: Shopping 2002, S. 42. 13 Vgl. König 2008, S. 271.



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die Profitgier der Unternehmen und Verkäufer«14 nicht gäbe. Zudem ist die insbesondere in der frühen Konsumkritik häufig vertretene These vom arglos verführten Konsumenten heutzutage zumindest fragwürdig. Zygmunt Bauman konstatiert, dass zwei Drittel der Menschen auch heute zu »den Verführten« des Konsums gehören.15 Mike Featherstone sieht dagegen den Konsumenten vielmehr als Helden, der sich befreit hat und durch jede neue Kaufentscheidung politisch aktiv wird.16 Für den Medientheoretiker macht Konsum zum Einen Spaß, zum Anderen hilft er dem Erlernen und Trainieren von »creative tactics and strategies«.17 Auch pauschale Kritik an anonymer Massenware ist heute laut Ullrich nicht mehr angebracht, da diese heute im Gegenteil immer passgenauer auf den Konsumenten zugeschnitten werden.18 Für Lawson wird die Identität des heutigen Menschen durch Konsum ausgebildet19, was man positiv wie negativ sehen kann. Genau wie Konsumkritik teils angreifbar ist, hat auch ihre Gegenseite gelegentlich fragwürdige Argumente. Die kanadischen Konsumkritik-Gegner Heath und Potter sehen in »Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur« Konsumgesellschaft als positiv und liefern einen Versuch, die übliche Konsumkritik zu widerlegen, indem sie Konsumkritiker als scheinheilig, elitär, naiv und lähmend darstellen. Die Existenz von konsumkritischen Produkten beweise die Unsinnigkeit von Konsumkritik.20 Auch wenn beide im Detail recht haben mögen, ist ihre unwissenschaftliche Polemik dennoch nicht Grund genug, Kritik am Konsumverhalten aufzugeben. Der Konsumismus von John de Graaf, David Wann und Thomas Naylor spricht von »Affluenza«, der Überflusskrankheit oder der »Zeitkrankheit Konsum«. Dieser Neologismus verbindet das englische affluence, Wohlstand, Reichtum, Überfluss mit Influenza. Als Symptome dieser Krankheit nennen sie Schulden, Überproduktion von Waren und ihre Kehrseite, Müll. Psychische Folgen für den westlichen Menschen seien Angstzustände, Gefühle der Entfremdung und Verzweiflung, Depression. Physische Folgen seien wie Herzinfarkt, Diabetes, Allergien oder Fettleibigkeit. Hervorgerufen sei diese »Krankheit« durch die unstillbare Gier nach immer mehr materiellen Konsumgütern. Als Alternative eröffnen de Graaf, Wann und 14 Ullrich 2006, S. 13. 15 Bauman zitiert bei Lodziak 2002, S. 65. 16 Vgl. Mike Featherstone: Postmodernism and the Aestheticitation of Everyday Life. In: S. Lash und J. Friedman (Hgg.): Modernity and Identity. Oxford 1992, S. 270. Zitiert bei Conrad Lodziak: The Myth of Consumerism. London 2002, S. 34. 17 Lodziak 2002, S. 38. 18 Ullrich 2006, S. 25. 19 Neil Lawson: All Consuming. London 2009, S. 4. 20 Vgl. Georg Gruber: Gegen die Gegenkultur. Ein Sachbuch als Feldzug. Deutschlandradio Kultur Online vom 26.09.2005.



K ONSUMBEGRIFFE

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Naylor den konsequenten Abschied vom konsumistischen Lebensstil – im Sinne einer »freiwilligen Einfachheit« beziehungsweise eine Orientierung am Lebenstil der Zufriedenen und Gesunden statt der Reichen.21 Konsumkritik, also die Kritik einer Konsumgesellschaft oder -kultur, versucht in der vorliegenden Untersuchung ausgewogen zu sein, denn Konsumgesellschaft oder ihre übersteigerte Form und nicht etwa Bedarfskonsum werden kritisiert. »In der Konsumgesellschaft herrscht weder die totale Manipulation der Kunden durch die Wirtschaft, noch besteht absolute Konsumentenfreiheit.«22 ii)

Kulturkritik, Herrschaftskritik und Umweltkritik

Die bisher genannten Positionen zusammenfassend, gibt es laut König drei Dimensionen der Konsumkritik: Kulturkritik erkennt zwar materielle Fortschritte an, die »gesellschaftliche Verbreitung der Konsummöglichkeiten führe [jedoch] zu einer vom Kulturzerfall begleiteten Vermassung«, die diesen Konsumenten letztendlich nicht mehr Glück und Zufriedenheit brächte. Die zweite, oft von der Linken geäußerte Herrschaftskritik »interpretierte Konsum als Mittel zur Stabilisierung von Herrschaft«, wo der Konsument teils nur willenloses, sich selbst entfremdetes Objekt der Herrschenden ist und der Konsum nur auf dem Rücken der sogenannten Dritten Welt möglich ist. Als dritte Form der Konsumkritik ist laut König die Umweltkritik zu nennen, welche zunehmenden Konsum zu Lasten nicht unendlich verfügbarer natürlicher Ressourcen wie Öl sieht, welcher etwa zu Umweltkatastrophen oder globaler Erwärmung führt. Konsum wird vielmehr noch eine Steigerung erfahren, da diese bei einem auf Wachstum ausgelegten System immanent ist. »Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.«23 Historisch gesehen verlagerte sich der konsumkritische Schwerpunkt von der Kultur- über die Herrschafts- hin zur zunehmenden Umweltkritik.24

21 Vgl. John de Graaf, David Wann, Thomas Naylor: Affluenza. Zeitkrankheit Konsum. München 2002. 22 König 2008, S. 244. 23 Vgl. Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jørgen Randers & William W. Behrens III: The Limits to Growth. New York 1972. 24 Vgl. für den letzten Absatz ebd. das Unterkapitel: Dimensonen der Konsumkritik: Kultur, Herrschaft und Natur, S. 271-272.



30 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

C)

K ONSUMGESELLSCHAFT

Bis heute gibt es keine eindeutige Definition von Konsumgesellschaft und/oder Konsumkultur, beide Begriffe werden laut Siegrist oft analog verwendet. Nicht der Begriff des Konsums, sondern auch der Terminus ›Konsumgesellschaft‹ wird in der Wissenschaft unterschiedlich (weit) gedeutet, eine allgemeingültige Definition hat sich bisher nicht durchgesetzt. Insbesondere Historiker glaubten Konsumgesellschaften etwa zu ganz unterschiedlichen Zeiten zwischen Renaissance und Gegenwart zu erkennen.25 i)

Eingrenzung des Begriffes ›Konsumgesellschaft‹

Die vorliegende Arbeit folgt Brewers Eingrenzung des Begriffes, der für die moderne consumer society sechs charakteristische Merkmale zusammenstellte: »Die Bereitstellung eines reichhaltigen Warensortiments für Verbraucher aus den meisten sozialen Kategorien. Die Entwicklung hochkomplizierter, die Waren mit Bedeutung versehenden und das Bedürfnis nach ihnen weckenden Kommunikationssystemen. Die Bildung von Objektbereichen als Sphären des Geschmacks, der Mode und des Stils. Die Betonung der Freizeit gegenüber der Arbeit sowie die des Konsums gegenüber der Produktion. Die Entstehung der Kategorie Konsument. Eine tiefe Ambivalenz, manchmal sogar offene Feindschaft gegenüber dem Phänomen Konsum.«

26

Laut Siegrist wäre dem hinzuzufügen, dass Wohlstand sich nicht bei einer relativ kleinen Oberschicht konzentriert, es also in einer Konsumkultur ein Mindestmaß an bürgerlicher, politischer und rechtlicher Gleichheit, sprich eine breite Mittelschicht, soziale Mobilität und Konkurrenz gibt. In dieser werden »ein gewisser Wertepluralismus, Fleiß, Arbeitsethik und Streben nach Gütern aus innerweltlichen, teilweise auch religiösen Motiven« als legitim und allgemein üblich aufgefasst. Weitere Kennzeichen einer Konsumgesellschaft sind eine gewisse Arbeitsteilung und Rationalisierung in Industrie, Handel und Landwirtschaft sowie

25 Vgl. König 2008, S. 20. 26 Vgl. John Brewers Thesen aus seinem Aufsatz Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die Konsumgeschichte lernen?, welcher prägnant zusammengefasst wurde durch Hannes Siegrist in ders.: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa. In: ders., Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka (Hgg.): Europäische Konsumgeschichte. Frankfurt/Main 1997, S. 18. Siehe auch Brewers genannter Aufsatz im selben Band S. 51-74.



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»eine nach außen gerichtete Arbeits-, Berufs- und Erwerbsorientierung der Familien, ein differenziertes institutionelles und rechtliches System, rationales Wissen, das berechenbares und kalkulierendes Handeln ermöglicht und fördert, einen kulturellen Apparat, der die Verständigung zwischen Produzenten, Vermittlern und Konsumenten der Güter ermöglicht und die Deutung von Kaufen und Verbrauchen anleitet. Als allgemeines Austauschmittel fungiert Geld.«

27

Eine Konsumgesellschaft ist weiter dadurch gekennzeichnet, dass Menschen nicht nur das konsumieren, was sie zum Überleben benötigen, also durch so genannten Bedarfskonsum, sondern auch durch das, was das Leben ›schöner‹ macht, Annehmlichkeiten, die dem Überflusskonsum zuzuordnen sind.28 Synonym mit Konsumgesellschaft werden auch die ebenfalls pejorativen Begriffe Überfluss-, Wohlstandsoder Wegwerfgesellschaft verwendet.29 Konsumgesellschaft als Terminus wurde laut Wünderich für die Länder konzipiert, in denen die industrielle Revolution vollendet wurde. Ob er auf andere Kulturen wie etwa die so genannte Dritte Welt oder die vormaligen Kolonien und die Schwellenländer übertragbar sei, auf deren Kosten sie zumindest auch entstand und weiter besteht, ist fragwürdig; »trotz des universellen Anspruchs und der weltweiten Wirkung ihrer Werte bleibt sie real auf den engen Kreis der entwickelten Ökonomien […] begrenzt.«30 Dies werde deutlich, wenn man etwa die konsumgesellschaftliche Bedeutung im Gegensatz zur Herkunft von Waren aus den ehemaligen Kolonien betrachtet, die daher auch ›Kolonialwaren‹ genannt werden, etwa Tee, Gewürze, Kaffee, Zucker, Kakao. Vielmehr sei die positive Entwicklung der westlichen Konsumgesellschaften nur auf der Basis der Unter- oder Fehlentwicklung der genannten Anderen möglich.31 Nicht nur was die historische Entstehung der Konsumgesellschaft anbelangt, sondern auch was ihre Zukunft angeht, werden diese Zusammenhänge von Bedeutung sein: »Die weltweiten Versuche zur Übernahme des Modells [der Konsumgesellschaft, Anm. UB] haben zu einer Jagd auf die Rohstoffreserven der Welt geführt und die Erschöpfung wichtiger Ressourcen zum ersten Mal am Horizont auftauchen lassen.«32

27 Siegrist 1997, S.18-19. 28 Vgl. etwa Brewer in Siegrist 1997, S. 61. 29 Eine ausführliche Diskussion von Konsumgesellschaft findet sich etwa bei Christian Kleinschmidt: Konsumgesellschaft: Grundkurs. Stuttgart 2008. 30 Wünderich 1997, S. 794-795. 31 Ebd. und Ebd. S. 796. 32 Wünderich 1997, S. 798-799.



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ii)

Entstehung von Konsumgesellschaften

Doch wie und wann kam es zur Entstehung von Konsumgesellschaften? Ullrich äußert sich dazu folgendermaßen: »Identifiziert man Bewusstsein und Ideen als treibende Kraft, wird man Individualisierung, Säkularisierung und Demokratisierung [für die Entstehung von Konsumgesellschaften, Anm. UB] verantwortlich machen. Wer hingegen das Sein und die realen Lebensbedingungen als das Primäre setzt, führt Industrialisierung, freie Marktwirtschaft und Massenwohlstand als entscheidende Faktoren an.«

33

Vorformen von Konsumgesellschaften entwickelten sich etwa erst im England des 15. Jahrhunderts, wo unter anderem die Entstehung neuer Drucktechnologien und der Baumwollhandel den Konsum erheblich anwachsen ließen. Damit ist Konsum eng an die Entwicklung des sogenannten technischen Fortschritts gekoppelt. Eine differenzierte Konsumkultur begann sich jedoch erst im 18. Jahrhundert zu entwickeln.34 Auf Wochen- und Jahrmärkten kaufte die Bevölkerung zu dieser Zeit, was sie nicht selbst herstellen konnte, statt fester Preise wurde gehandelt. Luxusgüter wie feine Gewürze und erlesene Stoffe konnte sich zunächst nur der Adel leisten. Damit entwickelte sich Prestigekonsum, auffälliges, auf öffentliche Wirksamkeit zielendes, konsumgüter(ver)brauchendes Handeln. Danach wuchs in Großbritannien im frühen 18. Jahrhundert die Industrie, wodurch Arbeitsplätze geschaffen wurden. Das Bürgertum erzielte folglich ein höheres Einkommen. Daher stieg die Nachfrage nach Massenverbrauchsgütern, wie zum Beispiel Bier, Tee, Seife und bedruckte Kleidung. Das menschliche Interesse an Dingen entwickelte sich vom (Grund-)Bedarf zum Wunsch. »Erst eine Gesellschaft, in der man Wünsche entfalten und befriedigen kann, besitzt die Chance, eine Konsumkultur – und nicht nur einen von Notwendigkeiten bestimmten Tauschhandel – zu etablieren. Dazu gehört aber gerade, Waren über ihren Gebrauchswert hinaus symbolisch aufzuladen und zu Dingen zu entwickeln, die ihren Besitzern schmeicheln, sie in 35

ihrer Einstellung unterstützen und sogar transformieren.«

33 Ullrich 2006, S. 17. 34 Vgl. Grant McCracken: Die Geschichte des Konsums: Ein Literaturüberblick und Leseführer. In: Günter Rosenberger (Hg.): Konsum 2000. Veränderungen im Verbraucheralltag. Frankfurt/Main 1992, S. 36-37. 35 Ullrich 2006, S. 13.



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Modejournale wurden zum erfolgreichsten Kommunikationsmittel für die Konsumgesellschaft und führten zu einer Steigerung der Konsumbedürfnisse. Neben Großbritannien wurden nun auch Frankreich, Deutschland und Holland von dieser Entwicklung beeinflusst. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde etwa die Litfaßsäule erfunden, die als Platz für Werbung ein wichtiges Mittel zur Absatzsteigerung war.36 Mit der Entwicklung der Werbung in Zeitungen, Zeitschriften und Schaufenstern wurde der Konsum stetig erhöht. Durch die Industrialisierung in Europa und Nordamerika entstanden komplexe Produktions-, Transport- und Informationsnetzwerke.37 Ende des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Konsum- oder Warenhäuser gebaut, die durch feste Preise gekennzeichnet waren. Mit dem erhöhten Angebot wuchsen die Konsumentenwünsche und die Konsumlust. Aus vielen Luxusgütern wurde zudem im 20. Jahrhundert Massenware, die haufenweise ›am Fließband‹ produziert wurde. Die Beziehung zwischen Konsumenten und Waren veränderte sich radikal, da der Distanzierungsprozess die Produzenten immer mehr vom Endverbraucher trennte, etwa aufgrund der Ausdehnung der Kolonialreiche, wo billige Rohmaterialien sowie neue, exotische Artikel und Variationen erschlossen wurden. Je weniger Arbeitsaufwand, Zeit und Kapital zur Warenproduktion aufgewendet werden mussten, desto mehr nahmen die Ausgaben zu, die für Transport, Präsentation, Marketing und Verkauf anfielen.38 Ab etwa 1930 genügte es »nicht mehr, ein gewisses Sortiment an Standardprodukten bereitzuhalten, die die elementaren, begrenzten Bedürfnisse des Konsumenten befriedigten.«39 Internationale Güter kamen in den 1950er Jahren verstärkt auf den Markt, womit die Globalisierung des Konsums begann. »Früher ging es darum, die Dinge bereitzustellen, die die Menschen brauchten; heute kommt es darauf an, in den Menschen Begehrlichkeiten nach Dingen zu wecken, die die Maschinen produzieren müssen, soll diese Zivilisation nicht untergehen […]. Das Problem, das sich uns heute stellt, ist nicht, wie sich Güter produzieren lassen, sondern wie wir es schaffen, Kunden 40

für diese Güter zu produzieren.«

In den 1960er Jahren boomte der Markt für Elektrogeräte, in den 1970er Jahren der Markt für Kunststoffmöbel, kostbare Rohstoffe und Energieträger. Durch das World Wide Web wurde ab den späten 1990er Jahren der globale Konsum weiter erleichtert, Shopping wurde ein wesentliches Ritual des öffentlichen und gemein-

36 Christopf Grunenberg: Wunderland – Inszeniertes Spektakel der Warenpräsentation von Bon Marché bis Prada In: Shopping 2002, S. 17. 37 Ebd. 38 Vgl. Ebd. S. 18. 39 Ebd. S. 19. 40 Samuel Strauss zitiert in Shopping 2002, S. 19.



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schaftlichen Lebens.41 »Shopping, das Flanieren, Bummeln, Auswählen und KONSUMIEREN ist sowohl als die primäre Freizeitbeschäftigung unserer Überflussgesellschaft identifiziert als auch als die das moderne Leben bestimmende Tätigkeit bestimmt worden.«42 »Die Pflicht zum Shoppen«43 bekam in einer Konsumgesellschaft immer wieder auch eine politisch-nationalistische Komponente.44 Wenn die Menschen nur kaufen würden, was sie tatsächlich benötigen, käme die Wirtschaft bald zum Stillstand. Die postindustrielle Ökonomie stützt sich und ihr Wachstum in erster Linie darauf, dass die Konsumenten Geld ausgeben,die sie nicht zwingend benötigen.45 »Wir haben den Punkt erreicht, wo der Konsum das ganze Leben bestimmt [...]. Arbeit, Freizeit, Natur und Kultur waren früher verstreute, eigenständige und mehr oder weniger unreduzierte Einheiten, die in unserem wirklichen Leben und in unseren ›anarchistischen und archaischen‹ Städten Angst und Komplexität erzeugten; sie sind jetzt endlich gemischt, massiert, klimatisiert und domestiziert worden für die alleinige Tätigkeit des permanenten Shop46

pings.«

D)

K ONSUM

UND

R ELIGION 47

»Nicht die Kirchen, sondern Konsumtempel sind der Ort moderner Religiosität.« NORBERT BOLZ, MEDIEN- UND KOMMUNIKATIONSTHEORETIKER

Die folgenden, gekürzten Ausführungen werden ausführlich in Bolz’ »Das konsumistische Manifest« im Kapitel ›Geld‹ sowie in dem von Dirk Baecker herausgegebenen Sammelband »Kapitalismus als Religion« diskutiert. Laut Max Webers Schrift zur Entstehung des abendländischen Kapitalismus von 1920 sei der kapitalistische Erfolg ein Zeichen dafür, dass die Menschen glaubten, sie seien von Gott auserwählt. Damit wäre der moderne Kapitalismus die Frucht der Religion. Kapitalismus ist nach Weber das Streben nach Gewinn und Rentabilität – im kontinuierlich, rational arbeitenden Betrieb, aber auch die Bedingung schrankenloser Er-

41 Max Hollein: Shopping. In: Shopping 2002, S. 13. 42 Ebd. S. 13. 43 Mark C: Taylor: Duty-Free-Shopping. In: Shopping 2002, S. 39. 44 Vgl. Siegrist 1997. Unterkapitel Konsum, Staat und Nation, S. 36- 39. 45 Mark C: Taylor: Duty-Free-Shopping. In: Shopping 2002, S. 42. 46 Jean Baudrillard: Consumer Society. In Ders.: Selected Writings. Cambridge 2001. S. 2627. 47 Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002, S. 115.



K ONSUMBEGRIFFE

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werbsgier.48 Als das zentrale Element der Ethik des modernen (Früh-)Kapitalismus’ eines Benjamin Franklin sieht er den »Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen [glückseligen] oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ›Glück‹ oder dem ›Nutzen‹ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes 49

und schlechthin Irrationales erscheint« .

In dieser »Philosophie des Geizes« findet Weber nicht nur »Geschäftsklugheit«, sondern »jene[n] [...] eigentümliche[n], uns heute so geläufige[n] und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche[n] Gedanke[n] der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner ›beruflichen‹ Tätigkeit, gleichviel worin sie besteht, […].«50 Diese »eigentümliche Ethik« Franklins ist es, die laut Weber den »Geist des (Früh-)Kapitalismus« vom »Geist des modernen Kapitalismus« unterscheidet. Diese Umkehrung des »natürlichen« Sachverhalts enthält nach Weber »…zugleich eine Empfindungsreihe, welche sich mit gewissen religiösen Vorstellungen eng berührt«.51 Diese Religiosität52 verpflichtet den Einzelnen, zum Ruhme Gottes, Besitztum zu erhalten und durch rastlose Arbeit zu vermehren – beides wesentliche Bestandteile des »modernen kapitalistischen Geistes«. Zur Zeit Webers hat sich die Ethik von ihren religiösen Fesseln befreit – der »kapitalistische Geist« bedarf der Stütze Religion nicht mehr.53 Weber entwickelte dies »als Konkurrenzthese zu jener marxistischen Grundformel […], nach der das gesellschaftliche Sein die Gestalten des Bewusstseins bestimme. Vor dieser Kontrastfolie hat dann Walter Benjamin seinen Begriff der kapitalistischen Religion entwickelt.«54

48 Max Weber: Protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Hrsg. von A. Gütersloh. Hamburg 1979, S. 12/13. 49 Ebd. Bd. 1, S. 44. 50 Ebd. Bd. 1, S. 42. 51 Weber Bd. 1, S. 44. 52 Bei Weber ist dies konkreter der Protestantismus, was jedoch von Henryk Grossmann widerlegt wurde. Bestimmte Linien des Katholizismus seien besser für eine kapitalistische Massenmoral geeignet als der Protestantismus. Vgl. Rick Kuhn: Introduction to Henryk Grossman’s critique of Franz Borkenau and Max Weber. In: Journal of Classical Sociology 6. Juli 2006. 53 Weber Bd. 1, S. 183. 54 Bolz 2002, S. 63.



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»Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken« schreibt dieser 1921 in seinem berühmten Fragment.55 Der Kapitalismus habe sich nicht nur aus Religion entwickelt, sondern sie bis zu einem gewissen Grad ersetzt. Der Zwischenschritt zwischen Religion und Kapitalismus ist der »Beruf« als Sinngeber. Laut Richard Sennett ist der Konsum heute die »treibende Kraft des Kapitalismus«56, die den Beruf als vormaligen Sinnstifter ersetzt hat. Jedoch erscheint »[d]as Arbeitsethos des getriebenen Menschen [...] Max Weber nicht als Quelle menschlichen Glücks, auch nicht als Grundlage psychischer Stärke. Der getriebene Mensch ist zu sehr unter der Last des Gewichts gebeugt, das er der Arbeit zuzumessen gelernt hat. Disziplin ist ein Akt der Selbstverleugnung, sagt Michel Foucault, und genauso erscheint sie in Webers Darstel57

lung des Arbeitsethos.«

Dasselbe kann heute auch für Konsum gesagt werden. Dieser lädt laut Pasolini die Vorstellungen von Freiheit mit einer »Pflicht« zum Konsumieren auf und veranlasse die Menschen, mit dem »Gefühl von Freiheit«, den Konsumbefehl zu erfüllen. Je unüberschaubarer die zeitgenössische Konsumgesellschaft wird, desto mehr wächst die »[…] Sehnsucht nach Einheit und Ganzheit. Gott ist die traditionelle Formel für die Einheit der Welt.«58 Wenn Kapitalismus als Religion zu verstehen ist, fungiert Geld analog zu Gott, oder laut Kenneth Burke als »technical substitute« für Gott: »Es handelt sich hier um eine Substitution einer Substitution, denn der christliche gekreuzigte Gott, der modern durch Geld ersetzt wird, ist ja selbst schon ein Symbol für Substitution. Das Profitmotiv funktioniert wie der Eine Gott als universale Quelle der Motivation.«59 Laut Bolz ist Geld als Gott nicht mehr religiös zu verstehen, auch wird hier nicht eine Gesellschaft »säkularisiert«60, die These vom Kapitalismus als Religion sei vielmehr eine letzte theologische Erfindung, welche ihr Ziel einer kritischen Beschreibung eines gesellschaftlichen Ganzen legitimieren soll. Dem Konsumprodukt oder der Ware kommt in diesem Konzept die Rolle eines ideellen Mehrwert-Speichers analog zur Reliquie zu:

55 Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion. 1921. In: Dirk Baecker (Hg.): Kapitalismus als Religion. Berlin 2009, S. 15-18. 56 Richard Sennett: flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus., Wiesbeck 2000. S. 141-142. 57 Ebd. 58 Bolz 2002, S. 68. 59 Ebd. S. 71. 60 Vgl. Ebd. S. 73.



K ONSUMBEGRIFFE

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»Daß etwas Übersinnliches [in Form des Konsumproduktes, Anm. UB] sinnlich greifbar ist, kennt man eigentlich nur aus der Welt der religiösen Symbole. Und in der Tat betrachtet Marx die Warenwelt in Analogie zur religiösen Welt. Die Waren sind nicht einfach Dinge für den Konsum. Sie befriedigen nicht einfach ein konkretes Bedürfnis, sondern sie verkörpern Soziales – analog zum Totem! [...] Das Geheimnis der Ware und das Geheimnis der Religion 61

sind dasselbe.«

Der Akt des Kaufens oder Konsumierens macht ähnlich wie Gebete seelische Probleme wie innere Leere, Langeweile, Überdruss und chronische Depression kompensierbar. All diese Probleme seien nach Fromm typisch für das Charakterbild des modernen westlichen Menschen.62 Konsum wurde so zu der Freizeitbeschäftigung in der westlichen Welt und löste Religionsausübung bis zu einem gewissen Grad ab.

E)

K ONSUM

IN DER

K UNST (- GESCHICHTE ) »In der Kunst hat sich erstmals die Ästhetik des Kapitalismus ausgebildet, die mittlerweile die gesamte Konsumkultur bestimmt.«

63

WOLFGANG ULLRICH, KUNSTWISSENSCHAFTLER

Die Ausstellung »Shopping« in der Frankfurter Kunsthalle von 2002 trägt den Untertitel »100 Jahre Kunst und Konsum«64. An dieser Stelle wird daher auf den Katalog dieser ausführlichen Untersuchung verwiesen und das Thema hier nur ergänzt und kurz zusammengefasst. Jedes »Letzte Abendmahl«, »Gastmahl zu Emmaus« oder Jagd-Stillleben zeigt etwa Konsum oder für den Konsum gedachte Speisen oder Konsumprodukte. Die ersten beiden Beispiele schildern Episoden aus dem Leben Christi mit Beispielcharakter, Konsum ist hier eher eine Randerscheinung. Andere biblische Episoden, die des Goldenen Kalbes oder des verlorenen Sohnes, prangern dagegen negative Folgen von Überflusskonsum an. Ebenso verhält es sich mit niederländischen BarockStillleben oder Genre-Darstellungen. Hier werden Konsum oder Konsumprodukte und ihre sinnbildliche Aussage thematisiert. Genussmittel wie Tabak, Konfekt oder Pasteten stehen für Verschwendungssucht, Laster und Völlerei, (römische) Münzen zählen als Hinweis auf das untergegangene Römische Reich oder vergänglichen 61 Ebd. S. 113. 62 Vgl. Erich Fromm: Haben oder Sein. 32. Aufl.[1. Auflage 1976]. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München 2004. 63 Vgl. Ullrich 2006, S. 9, 97-99. 64 Vgl. Shopping 2002.



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Reichtum generell, wie auch Reichtümer, so wie Gold- und Silbergeschirr, Ketten oder Perlen für überflüssigen Luxus und damit als Anspielung auf Eitelkeit stehen können. alte Meister wie etwa Pieter und Jan Bruegel d. Ä. oder Lucas van Leyden schufen im 16. Jahrhundert Genremalerei, Gemälde mit typischen Bauern- und Familienszenen, deren Schwerpunkt auf der Darstellung von drastischen Negativbeispielen menschlicher Verhaltensweisen wie Kuppelei lag, jedoch auch solcher, die direkt oder indirekt mit Konsum zusammenhängen, wie Verschwendungssucht oder Alkoholismus. Auch Darstellungen von Prostitution thematisieren/kritisieren Frauen als Konsumobjekt des Mannes. Zugleich sind all diese Details auch Requisiten in Gesamtdarstellungen voller Lebenslust und Konsumfreude, die bestimmt nicht nur als moralisierende Erinnerung vom zahlreichen bürgerlichen Publikum gekauft wurden. So wird die Fastenspeise Käse als Speise der Unsterblichkeit gesehen, daes sich um haltbar und damit ›unsterblich‹ gewordene Milch handelt65; Christus wurde als »himmlische Milch« bezeichnet.66 Zudem weisen vor allem niederländische Stillleben Symbole des Reichtums auf, die den der Auftraggeber und den Hollands widerspiegelten, etwa Konsumprodukte wie Blumen, insbesondere Tulpen. Holland war bereits zur Zeit des Barock ein Knotenpunkt des internationalen Blumenhandels und viele der dargestellten Blumen waren sehr kostbar und Konsumprodukte im zweifachen Sinn: Beides, das Gemälde selbst wie die dargestellten Blumen repräsentieren und betonen Konsum.67 Als zweiter Bedeutungsträger neben dem Dargestellten fungiert seit jeher auch das verwendete Materialim Kunstwerk, für lange Zeit ausschließlich verstärkend oder positiv. Die Verwendung von Goldgrund und anderen wertvollen Materialien wie Edelsteinen oder teuren Farben in Gemälden oder Reliquien (-Schreinen) versinnbildlichte das göttliche Licht, betonte zudem die Wichtigkeit des Dargestellten/Gezeigten, ging also konform mit der sowieso schon verherrlichenden Präsentation, diente jedoch immer auch der Repräsentation von Macht und Reichtum des Auftraggebers. Neben Bildgegenstand und Material ist also zudem das Kunstobjekt selbst Konsumprodukt beziehungsweise müssen die Umstände seiner Herstellung und Präsentation im Zusammenhang mit Konsum gesehen werden, ein Umstand, der sich insbesondere seit dem 20. Jahrhundert in Kunstwerken widerspiegelt. 65 Vgl. Eduard Hoffmann-Krayer, Hanns Baechtold-Staeubli (Hgg.): Handwoerterbuch des Deutschen Aberglaubens. Bd. 4. [1931/32] Berlin 1974, S. 81. 66 Vgl. Clemens von Alexandria (ca 150-215 n. Chr.): Hymnus auf den Erlöser Christus: »Christus Jesus; Himmlische Milch, Die aus süßen Brüsten, Der Braut, den Liebesgaben, Deiner Weisheit, Entquillt, Nehmen wir Unmündigen, Mit kindlichem Mund, Als Nahrung zu uns, Aus der Mutterbrust des Logos [...]«. 67 Vgl. für obige zusammenfassende Bemerkungen Hans-Joachim Raupp: Stilleben und Tierstücke. Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts der SØR Rusche Sammlung. Berlin/Münster/Zürich 2001, S.7-10, insbesondere 8.



K ONSUMBEGRIFFE

F)

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M ARCEL D UCHAMP

Mit seinen Readymades/objets trouvés erklärte Marcel Duchamp ab 1913 industriell gefertigte Konsumprodukte wie ein Pissoir (»Fountain«) oder einen Flaschentrockner zu Kunst. Paradoxerweise zählen gerade die alten künstlerischen Materialien Gold oder Edelsteine zu den Vorläufern des zunächst betont ›anti-wertvollen‹ Readymade. Erstere werden für ihre eigenen, ihnen schon innewohnenden Qualitäten zu Bedeutungsträgern, nicht erst durch den Künstler. Der Unterschied zwischen Duchamps Pissoir und dem Goldgrund eines Hochaltars besteht in der Frage,wer das jeweilige Objekt geschaffen hat: die Natur (oder aus früherer Sicht: Gott) im Falle des Goldes, ein anderer Künstler im Falle von Duchamps Version der Mona Lisa oder eine kommerzielle Firma im Falle des Flaschentrockners. In letzterem Falle lädt der Künstler das Objekt mit Bedeutung auf, in ersterem wurde diese Bedeutung bereits historisch kreiert, da Gold bereits seit langer Zeit aufgrund seines Aussehens, seiner chemischen Beschaffen- und Seltenheit ›wertvoll‹, also mit Wert aufgeladen gewesen war/ist. Da sich der Wert von Konsumprodukten wie gewissen Schnittblumen, Gewürzen oder Fleisch im Laufe der Jahrhunderte änderte (im Normalfall abnahm), der von Gold oder Diamanten relativ gleich blieb oder wie der von seltenen Kunstwerken teils auch zunahm, verändert sich teils auch die Bedeutung und Rezeption dieser Konsumprodukte in Gemälden. Gold zählt schon lange zu den wertvollen Materialien, es wurde früh ›geadelt‹ und sein Wert blieb bestehen. Der ›Wert‹ eines Flaschentrockners als Kunstwerk wurde erst durch Duchamp hinzugefügt. Waren Gold und Edelsteine im Mittelalter noch ›Beweisstücke‹, um eine ideologische Botschaft zu untermauern, werden gefundene Materialien in der Moderne, etwa bei Duchamp, zu »Zweifel-Stücken«68, die den Betrachter und seine Sichtweisen in Frage stellen: Was ist Kunst, was ist ›wert‹-voll? Wann und wodurch wird es kunst-/wert-voll, also mit Wert gefüllt? In der Galerie? Im Museum? Zugleich macht Duchamp sichtbar, wenn er ein industriell hergestelltes Objekt zu Kunst erklärt, indem er es in einer Galerie ausstellt, dass auch Kunstobjekte Konsumprodukte in einem Laden, der Galerie, sind. Der Zusammenhang zwischen einem Objekt und seinem ästhetischen Wert (Kunstwert), seinem finanziellen Wert (Preis) sowie dem Umfeld (Ort) und einem Objekt wird aufgezeigt und in Frage gestellt. Welcher Art diese Verbindung ist, hängt vom Erfahrungshorizont des jeweiligen Betrachters ab.

68 Vgl. Katrin Käthe Wenzel: Der Künstler als Präparator – künstlerischer Umgang mit konserviertem organischem Gewebe. In: Dies.: Fleisch als Wertstoff. Objekte auf der Schnittstelle von Kunst und Medizin. Berlin 2005.



40 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST »THE MEDIUM MODIFIES THE MESSAGE. Artworks are now predominately defined, distinguished and given accolades in terms of the material they are made of. This is an incredibly limited approach to art, particularly when the medium itself is so incredibly limited. There is not much subtilety and flexibility possible if you are using a dead shark as the expressive material. In fact you can really only use it once, because beyond the fact that it has been used at all, there is little else it has to say.«

69

Dieses Zitat der britischen 1990er Jahre Künstlergruppe Stuckists bezieht sich auf Damien Hirsts Hai in Formaldehyd (Abb. 42), der in Duchamps Readymades seinen konzeptuellen Ursprung hat, wie Duchamp generell richtungsweisend für die Young British Artists war.70 »An existing object (e.g. a dead sheep) blocks access to the inner world and can only remain part of the physical world it inhabits, be it moorland or gallery. »Readymade art is a polemic of materialism«71 formulieren die Stuckists weiter, wobei dieser negativ gemeinte Ausspruch (wieder auch auf Hirst gemünzt) durchaus auch positiv im Sinne von inspirierend zu verstehen ist. »Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen.«72

Der Zusammenhang zwischen verwendetem künstlerischem Material, insbesondere von Fundstücken, also oft Abfall, Konsumresten, und den fertigen Werken, die laut Benjamin nicht als »Gegenstände kontemplativer Versenkung« taugen sollen, werden bei den Stuckists fälschlicherweise zu Gegenständen, die aufgrund der Deutungseinseitigkeit des verwendeten Materials nicht zur »kontemplative[n] [...] Versenkung« taugen können, umgedeutet. Readymades sind stattdessen Polemik (des Materialismus’) von Kunst, damit erweitern sie den Kunstbegriff und werden selbst zu Kunst. Der materielle Wert von Duchamps Repliken, signiert wenige Jahre vor seinem Tod, sowie der von Requisiten von Fluxus-Aktionen, ist heute enorm hoch einzuschätzen73, obwohl etwa die ursprüngliche »Fountain« als damals reiner Träger 69 Charles Thompson: The medium modifies the message. 70 Gregor Muir: Lucky Kunst. London 2009, S. 199. Vgl. auch Max Podstolski: The Elegant Pisser: Fountain by »R. Mutt«. Aus: spark-online. Ausgabe 2. November 1999. 71 Billy Childish, Charles Thomson: The Stuckists. Manifest vom 4. August 1999. 72 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. [1936]. Frankfurt/Main 2006, S. 65. 73 Eine der »Fountain«-Repliken von 1964 (Edition 8 Stück) wurde im November 1999 für $1,7 Millionen bei Sotheby’s verkauft. Vgl. Alice Marquis: Marcel Duchamp: The Bachelor Stripped Bare. A Biography. Minneapolis 2002, S. 5.



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einer Idee beziehungsweise einer Provokation (nach ihrer Erfüllung eines Skandals und ›fürs Foto‹) bereits 1917 wohl auf den Müll geworfen wurde.74 Ein Grund so spät noch Repliken zu schaffen, war für Duchamp wohl Geldnot, dennoch änderten diese die Rezeption seiner frühen Werke: »Duchamp’s commercial excursions were condemned nevertheless, for they seemed to turn the readymade’s original critique into a celebration of exchange value.«75 Dies ist ebenso paradox wie die Erkenntnis von Shearer, dass Duchamps Readymades oder found objects teils wohl gar nicht readymade oder gefunden waren. So ist etwa kein Flaschentrockner nachzuweisen, der die exakte Form von dem Duchamps hat, was Shearer zu der Annahme führt, dass Duchamp ihn selbst herstellte.76 Duchamp erklärte also Konsumprodukte zu Kunst, die er eventuell selbst fertigte und die als künstlich und nicht industriell geschaffene Repliken versuchen, möglichst industriell geschaffen auszusehen. Duchamps Ziel war, den Fokus bei der Betrachtung von Kunst weg von der handwerklichen Finesse zu führen und vielmehr hin zu dem, was diese Kunst an intellektueller Interpretation auslösen kann. Darum geht es auch bei Yves Kleins Ausstellung »Le Vide« in der Galerie Iris Clert 195877, wo er 20 Gramm Feingold für Anteile der Zone immaterieller malerischer Sensibilität, mit anderen Worten eine leere Vitrine in der Ausstellung als Kunst ›verkauft‹ und bei dem von ihm beeinflussten Piero Manzoni, der 1961 »Artist’s shit«, 90 verschlossene Konservendosen à 30 Gramm mit dem Tagespreis für Gold aufwiegen ließ. Bei allen dreien, Duchamp, Klein und Manzoni, ist es letztendlich irrelevant, ob ihre Aktionen eher ironisch und als Provokation gemeint waren, oder ob sie ›wirklich‹ davon überzeugt waren, dass ihre Aktionen inspirierten wie ›herkömmliche‹ Kunstwerke, da allen letztendlich die Zeit und anhaltende positive Rezeption recht gibt. Statt selbst zu urteilen, gibt die Frage des Betrachters nach der Intention des Künstlers die Verantwortung an den Künstler ab; auch dies zeigt das kommerzielle Konsumprodukt ›Urinal‹. Was ein Künstler in einem als Kunstraum geadelten Ort zeigt, gilt heute als Kunst. Fruchtbarer als die Frage, ob es sich bei Duchamps Readymades oder Kleins »Vide« um Kunst handelt, ist die Frage, ob es sich um Kunstobjekte handelt, oder ob es sich bei dem Pissoir eventuell nur um eine Requisite in 74 Martin Gayford: Duchamp’s Fountain: The practical joke that launched an artistic revolution. Telegraph vom 16. Februar 2008. 75 Olav Velthuis: Duchamp’s Financial Documents: Exchange as a Source of Value. Tout Fait. The Marcel Duchamps Studies Online Journal. Vol. 1/Ausgabe 2. Mai 2000. 76 Vgl. Rhonda Roland Shearer: Marcel Duchamp’s Impossible Bed and Other ›Not‹ Readymade Objects: A Possible Route of Influence From Art To Science. In: Art & Academe. Vol. 10, Nr. 1. Herbst 1997, S. 26-62. 77 Yves Klein: Le Vide Performance (The Void). In: Yves Klein 1928-1962: A Retrospective. Institute for the Arts, Rice University. Houston 1982.



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einer Performance handelt, auch wenn es zu dieser Zeit den Performance-Begriff so noch nicht gab, da er zur Zeit Kleins erst im Entstehen war. Der Kunstkontext lädt einen Akt oder Gegenstand zu Kunst auf. Ein vergleichbarer Prozess ließ sich ab den 1950er Jahren verstärkt bei Waren beobachten, die zu Markenwaren, also künstlich wenn auch nicht künstlerisch mit Bedeutung aufgeladen wurden. Beides beeinflusste sich gegenseitig und auch rückkoppelnd, wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird.

G)

ANDY W ARHOL »Alle Kaufhäuser werden zu Museen werden und alle Museen zu Kaufhäusern.«

78

ANDY WARHOL

Warhol stellte ab den 1960er Jahren unter anderem Konsumprodukte und –verpackungen wie Waschmittelboxen und Konservensuppen dar, jedoch auch Diamanten und Geldscheine. In (seiner) Pop Art thematisiert er Erscheinungen der alltäglichen Konsumwelt, indem er mit vorgefundenen fertigen Objekten arbeitet, die meist Konsum repräsentieren: »Warhols Bilder indessen inszenieren etwas, das selbst schon Bild, allgemeiner gesprochen, selbst schon Fläche ist: Werbeanzeigen, Comic Strips, Dollarscheine, vor allem aber Fotografien. Diese Verschiebung hat zunächst zur negativen Auffassung geführt, Warhols Kunst sei tautologisch, also wiederholend im Sinne einer Verdoppelung, seine Bilder bloße visuelle 79

Readymades.«

Oft ist nicht eindeutig, ob (Warhols) Pop Art diese Erscheinungen der bunten Warenwelt ironisiert, kritisiert oder sogar eine affirmative Wirkung auslösen will. Im Grunde genommen macht sie all dies zugleich. Warhol kritisierte die Konsumgesellschaft nicht nur, er bejahte sie teils hemmungslos, wobei auch hier die IronieVermutung gilt: Als ich mal viel Geld hatte, bin ich sofort losgeschossen und habe meinen ersten Farbfernseher gekauft. Die Werbung für den ‚strahlenden Möbelglanz‘ in schwarzweiß machte mich

78 Zitiert nach Mary Portas: Windows: The Art of Retail Display. New York 1999, S. 14. 79 Michael Lüthy: Warhols Exerzitien oder Vom Umgang mit den Bildern im Bild. in: Warhol. Polke. Richter. In the Power of Painting I. Eine Auswahl aus der Daros Collection. Kat. Ausst. Zürich/Berlin/New York 2001, S. 25-32.



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verrückt. Ich dachte, wenn ich die Werbung in Farbe sähe, würde vielleicht alles neu ausse80

hen und ich bekäme wieder mehr Lust zum Einkaufen.«

Künstler wie Warhol stellen Konsum als etwas für unsere Zeit Wichtiges und Be(tr)achtenswertes aus, verweigern sich jedoch einer klaren Stellungnahme, einer Be-»wert«-ung, die meist an den Betrachter abgegeben wird. Dennoch werden oft die Einstellung des Künstlers und seine Biografie bemüht, um seine Werke zu deuten. Vor seinem künstlerischen Durchbruch verdiente Warhol sein Geld mit Werbung, auch später nutzte er diese Ausdrucksform regelmäßig. Der inhaltliche Konsumaspekt von Werken der Pop Art fehlt selten in einer kunstwissenschaftlichen Interpretation. Der im Werk sich widerspiegelnde Warencharakter der Kunstobjekte selbst wird jedoch oft negiert. Das unschuldige, aus dem 19. Jahrhundert stammende ›l’art pour l’art‹-Modell der Kunstwissenschaft duldet keinen Konsum in der Kunst.81 »Bourdieu sah die Kunst dann in Gefahr, wenn ihr Feld nicht mehr eindeutig genug abgegrenzt ist, wenn sie soweit zur Ware wird, dass ihre Rezeptionsgesetzmäßigkeiten und Gesetze nicht mehr von denen eines Konsumproduktes differieren.«82 Das Dilemma der Reduktion von Kunst auf die »goldene Moral«, l’art pour l’art, ist ebenso groß wie die unterstellte, völlige Reduktion auf ihren reinen Tauschwert, so Schneemann. Man wird Warhol nicht gerecht, wenn man seine Kunst auf das eine oder andere Extrem festlegt. Da Kunstwissenschaftler von etwas leben müssen, das heißt, Kunstwissenschaft nicht nur für die Kunstwissenschaft betreiben können, stellen sie sich oft nolens volens in den verkaufsfördernden Dienst des zeitgenössischen Künstlers und seiner Galeristen. Kunstkritik und Kunstwissenschaft werden damit Gehilfen der Kunstgeschichte͘ ^o lange es nur affirmativ ist, ist es laut Stallabrass fast egal, was über einen Künstler oder ein Kunstwerk geschrieben wird.83 Indem Kunstwissenschaft zeitgenössische Werke quantitativ und/oder qualitativ ›legitimiert‹, preist sie diese wie Waren an oder spricht anderen den Kunstcharakter ab. Wie in der Werbung wird die Konkurrenz heruntergemacht, auch wenn diese Kunstwerke offensichtlich auch Waren oder Konsumprodukte sind und sein sollen/wollen, beziehungsweise gerade das Ware-Sein thematisieren, wie etwa Warhols Werke. »Der reflektierte 80 Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück. Frankfurt 2006. Dt. Übersetzung von Regine Reimers. 81 Vgl. Wolfgang Ullrich: L’art pour l’art. Die Verführungskraft eines ästhetischen Rigorismus. In: ders.: Was war Kunst? Biografien eines Begriffs. Frankfurt/Main 2005, S. 124-143. 82 Peter J. Schneemann: Physis und Thesis. Vom Wert der Kunst in der Gegenwart. In: Kodikas/ Codes. Ars Semiotica. Vol. 25. Nr. 3-4. Tübingen 2002, S. 287. 83 Stallabrass 2006, S. 278.



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Wandel vom Kunstwerk zum Warenwert ermöglicht, die fiktive oder willkürliche Festlegung des Wertes eines Kunstwerkes als Investitionswert zu kritisieren.«84 Was aber kritisiert man, wenn nun ein Kunstwerk immer auch einen Warenwert hat? Was, wenn das Kunstwerk sich mit dem Warenwert inhaltlich und oder formal beschäftigt? Wo verläuft die Trennung zwischen Thematisieren und tatsächlichem Sein? Schneemanns Zitat impliziert, dass Kunstwerke zu irgendeinem Zeitpunkt keinen Warenwert hatten oder dass es Werke ohne Gebrauchswert gibt. Dies lässt vergessen, dass Kunst immer auch dafür geschaffen wurde, gekauft zu werden. Die Kunst des Mittelalters war fast ausschließlich Auftragskunst von Klerus und Adel, der oder die Künstler führten mehr oder minder konkrete Vorstellungen anderer aus. Ab Renaissance und Barock gewann das Bürgertum an Macht und Reichtum und wurde ebenfalls zum Auftraggeber oder potenziellen Abnehmer von Kunstwerken, an dem sich Künstler bis zu einem gewissen Grad orientierten. Wie auch Warhols meist auf Zeitungsfotos basierende Siebdruck-Porträts berühmter Persönlichkeiten lassen sich viele seiner Sujets wie die schließlich daraus resultierenden Werke unter dem Begriff ›Ikone‹ zusammenfassen. Ursprünglich sind Ikonen religiöse Bilder (griechisch Bild, Abbild), die kirchlich geweiht sind und für Theologie und Spiritualität der Ostkirchen große Bedeutung haben. Zweck von Ikonen ist, Ehrfurcht zu erwecken und eine existenzielle Verbindung zwischen Betrachter und Dargestelltem zu schaffen, indirekt auch zwischen Gläubigem und Gott.85 Ikonen werden in der orthodoxen Kirche weder als Kunstgegenstände noch Dekoration gesehen, sie sind jedoch zugleich wesentlicher Bestandteil der byzantinischen Kunst. Ikonen sind also selbst zu Fetischen geworden, wie sie zugleich Fetische abbilden. Gläubige beteten nicht nur die dargestellte Madonna, sondern das Bild der Madonna an.86 Ebenso schlachten Warhols »Reversals« der 1980er Jahre seine eigene frühe Pop Art der 1960er Jahre aus ; heute wird auch Warhols Bild von Marilyn ›verehrt‹, in den 1960er Jahren ging es zunächst um die damals gerade verstorbene Marilyn Monroe als Ikone selbst. Auch Lüthy spricht von ›ikonisch‹ in Zusammenhang mit Warhol: »Doch da Warhols Bilder nicht von Menschen, sondern von Bildern handeln, trifft er auch hier den entscheidenden Punkt. Denn ein Star ist weniger ein Individuum aus Fleisch und Blut als vielmehr eine Bildrealität, ein ›Image‹, geheimnisvoll und auratisch, wie es nur Bilder sein können, denen letztlich keine Realität hinter dem Bild entspricht. Gemäss der ikonischen Logik des Stars führt die reproduktive Vermehrung nicht zur Minderung der Einzig84 Schneemann 2002, S. 282. 85 Die allgemeinen und zusammenfassenden Aussagen zur Ikone stammen aus Jane Turner (Hg.): Dictionary of Art. London 1996. Bd. 15. Eintrag ›Icon‹ S. 75-77 sowie Harald Olbrich (Hg.): Lexikon der Kunst. Leipzig 1991. Eintrag ›Ikone‹ S. 387. 86 Vgl. Harald Olbrich (Hg.): Lexikon der Kunst. Leipzig 1991. Eintrag ›Ikone‹ S. 387.



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artigkeit, sondern bildet die Grundlage des Ruhms: Mehr ist mehr. Dasselbe gilt für die Mona Lisa: Längst ist Leonardos Gemälde nicht mehr berühmt, weil es grossartig, sondern grossartig, weil es berühmt ist. Ganz gegen Benjamins These vom Auraverlust durch technische Reproduzierbarkeit basiert sein einzigartiger Rang auf unablässiger Reproduktion. Warhols Produktivität, die das Bild nur im Plural kennt, exerziert vor, wie Quantität und Qualität zur De87

ckung kommen können: Bedeutsam ist allein, was endlos wiederholt wird.«

Dies reflektiert der Quantitätskünstler Warhol etwa durch serielle Reihung (die an die Reihung von Produkten in einem Supermarkt erinnert) oder durch die Übertragung in ein anderes Medium sowie durch ›Aufblasen‹ der Größe der Vorlage. Wie die meisten Vervielfältigungskünstler ist Warhol auch in diversen Medien zuhause, es geht ja nicht mehr um Meisterschaft in einem Medium, sondern darum, vielfältige Produkte mit seinem Markennamen zu heiligen.

H)

J EFF K OONS »Mit dem boomenden Kunstmarkt [der 1980er Jahre, Anm. UB] entwickelte sich ein Prominentenkult, der sämtliche Prophezeiungen Warhols in den Schatten stellte. Künstler avancierten zu Medienstars, deren Markenzeichen den Marktwert ihrer Werke bestimmten. Die Aura übertrug sich von der Person auf das Kunstwerk; schlechte Kunst erzielte Höchstpreise, solang sie nur von großen Namen stammte. […] Da der Markt schneller expandierte als die Produktionskapazitäten, [...] gingen [die Künstler] dazu über, eine Vielfalt von Produkten zu schaffen, die sich in 88

Edelboutiquen im Einzelhandel vertreiben ließen.« MARC C. TAYLOR, KUNSTWISSENSCHAFTLER

Koons verwendete seit 1979 Produkte der Konsumkultur als Ausgangspunkt seiner Kunst – Objekte und Motive aus Alltagskunst und Werbung, verfremdete oder imitierte sie, indem er sie etwa durch Herstellungsprozess, Material und/oder Übergröße veränderte, die in scharfem Kontrast zum Ausgangsobjekt stehen. Wie die von ihm oft verwendete Sprache der Werbung greift Koons auf kitschige oder sexuelle Reizmotive zurück, verleiht ihnen durch die genannte Verfremdung eine als ironisch zu verstehende Brechung, die jedoch auch als affirmativ gesehen werden kann. »Wie soll man nach Duchamp noch Kunst machen? Das ist das Problem der Künstler im 20. Jahrhundert. Und die Antwort war und ist jeweils: Unterbietung.

87 Lüthy 2001. 88 Mark C: Taylor: Duty-Free-Shopping. In: Shopping 2002, S. 47.



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[...] Sie emanzipieren sich vom Avantgardismuszwang, von der Meisterschaft, dem ästhetischen Geheimnis und der Exzellenz des Sinns.« Dies formuliert der Philosoph Norbert Bolz leicht pessimistisch überspitzt. Koons spiegelt die zeitgenössische Tendenz, dass Konsumgüter kulturell und künstlerisch, zugleich jedoch die Kunst und der Künstler kommerzialisiert werden. »[Koons] responded to and helped shape the zeitgeist by abrading the distinction between the content of his work and the media spectacle it inspired. His bid to achieve broader audience and a new form of artistic celebrity while maintaining his art-world credentials was a far greater gamble than his other forms of self-exposure, and in this he certainly succeeded like 89

no artist before.«

Schon zu Anfang der Postmoderne stellte Adorno die Parallele zwischen Konsumgütern und Kunst fest, insbesondere in Zeiten der Überproduktion von Waren: »Die beschämende Differenz zwischen Kunst und Leben [...] soll verschwinden: das ist die subjektive Basis für die Einreihung der Kunst unter die Konsumgüter durch die vested interests. Wird sie trotz allem nicht einfach konsumierbar, so kann das Verhältnis zu ihr wenigstens sich anlehnen an das zu den eigentlichen Konsumgütern. Erleichtert wird das dadurch, dass deren Gebrauchswert im Zeitalter der Überproduktion seinerseits fragwürdig wurde und dem sekundären Genuss von Prestige, Mit-dabei-Sein, schließlich des Warencharakters selbst 90

weicht: Parodie ästhetischen Scheins.«

Der Zusammenhang zwischen Warhols »business art«, seinen »next step after art«91 und Konsum besteht in der Aura des Künstlers (in der vorliegenden Untersuchung wird meist analog von der Marke gesprochen), nicht mehr des Kunstwerks, die bereits bei Warhol (und dem Pionier Duchamp), jedoch mehr noch bei Koons ein zeitgenössisches wirtschaftliches Phänomen der Konsumgesellschaft widerspiegelt, das Klein prägnant mit »brands not products«92 zusammenfasste. Die branded artists Koons und Warhol ›fabrizierten‹ Kunst, Warhol mit Arbeitern in seiner Factory, Koons mit 90 Assistenten.93 Beide stell(t)en im Zeitalter der Massenproduktion von Konsumgütern am Fließband Kunstkonsumprodukte her.

89 Scott Rothkopf: Jeff Koons and the Invention of the Art Star. In: Pop Life 2009, S. 44. 90 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. (1969). In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt/Main 1997, S. 32-33. 91 Vgl. Jack Bankowsky: Pop Life. In: Pop Life 2009, S. 20. 92 Naomi Klein: No Logo. [2000] London 2001, S. 21. 93 Peter Schjeldahl: Funhouse. A Jeff Koons Retrospective. The New Yorker vom 9. Juni 2008.



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»Was an Andy Warhol [im Gegensatz zu Koons] noch gestört hat, war eben sein handwerkliches Können. Erst Jeff Koons ist der reine Star der Kunst; sein Ruhm ist unbefleckt vom Metier; sein Name steht nicht mehr für ein ästhetisches Subjekt, sondern strahlt als Markenzeichen – Koons ist ein Logo.«94

Die (Selbst-)Inszenierung der Aura des Künstlers als Konsumprodukt, Logo oder Marke kann als (ironische?) Erfüllung der lange geforderten Einheit von Kunst und (Konsum-)Leben verstanden werden. Koons ist ganz im Mainstream, im Leben angekommen; dies wird klar, wenn man sich etwa seine Rolle in den Medien ansieht: Picasso, Dalí und Warhol traten noch als Unikum und Klischee-Künstler aus einer anderen Welt in den Medien auf, auch Cindy Sherman war in ihren Fotos immer außenstehende verkleidete Betrachterin/Kommentatorin, nie tatsächlich Beteiligte.95 Erst Koons, seit etwa 1988 in den Medien als Celebrity vertreten, ist ganz der ›Normalo‹, der gelebte amerikanische Traum, der erfolgreiche Junge von Nebenan, der mit seiner Kunst verschmilzt, ja sie ausmacht.96 Seine (frühere) Muse, die blonde damalige Pornodarstellerin und italienische Parlamentsabgeordnete Ilona Staller, war neben ihm die Hauptdarstellerin in seiner Kunst um 1990, und zugleich für wenige Jahre seine Ehefrau – käufliche exhibitionistische Liebe trifft käufliche exhibitionistische Kunst. Koons schaffte durch Skandale und daraus resultierende »Publizität und Prominenz«97 die Kunstfigur ›Jeff Koons‹. Die Aura des Künstlers ist das, was an ihm Kunst ist, id est das Inspirierende. Koons Werke sind Produkte, die durch seine Signatur zu Kunst werden, wie Duchamp mit seiner Signatur ein Urinal zu Kunst machte, wie der Nike Swoosh aus einem gewöhnlichen Schuh ein Markenprodukt mit angehängtem Lifestyle-Versprechen macht: »This emphasis on the aesthetic and/or the entertaining in advertising is largely due to a surplus in production and a glut of competing, often interchangeable, products in the marketplace. This excess requires consumer choices to be made not so much on the basis of the use or exchange value of the product, but on the basis of its worth in terms of symbolic value or 98

cultural capital.«

94 Norbert Bolz: Marketing als Kunst oder was man von Jeff Koons lernen kann. In: Ute Dettmar und Thomas Küpper (Hrsg.): Kitsch- Texte und Theorien. Stuttgart 2007, S. 298-301. 95 Vgl. Nicholas Cullinan: Dreams that money can buy. In: Pop Life 2009, S. 69. 96 Vgl. Scott Rothkopf: Jeff Koons and the Invention of the Art Star. In: Pop Life 2009, S. 37-39. 97 Bolz 2007, S. 298-301. 98 Joan Gibbons: Art and Advertising. London 2005, S. 133.



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Dasselbe lässt sich über Warhols Pop Art oder Duchamps Readymade und noch mehr über Koons sagen – negativ formuliert heißt das: Für Kunst wird das erklärt, wo Kunst ›drauf steht‹, was von einem (bekannten) Künstler signiert ist99, was sich in einem von (eventuell nicht hinterfragten) Kunstspezialisten legitimierten Kunstort befindet, in einem Museum oder einer Galerie. Man kann das Zitat genauso positiv verstehen: Ein ursprüngliches Konsumprodukt wie ein Urinal kann intellektuell und ästhetisch ebenso inspirierend oder sogar inspirierender als ›ein Rembrandt‹ sein, da es vom Künstler mit Aura oder inspirierend-intellektuellem und/oder finanziellem Wert ›aufgeladen‹ wurde. »Indem er wie kein anderer die Aura der Ware in unserer Alltagskultur versteht sowie die Träume, Wünsche und Erwartungen, die wir auf diese Warenwelt projizieren, schafft Koons die perfekten, begehrenswertesten Objekte in all ihrer Künstlichkeit.«100 Das Reflektieren von Konsumenten und ihren angeblichen Wünschen ist teils sogar wörtlich gemeint, so weist etwa Koons’ (Luftballon-Tieren nachempfundener) »Rabbit« von 1986 eine spiegelnde Oberfläche aus Edelstahl auf, in der sich der Besucher wie der Ausstellungsraum widerspiegelt. Die Inszenierung und der (sich!) reflektierende Betrachter ist wichtiger als das Objekt selbst. Koons ist nicht mehr der schaffende Künstler der fixen Moderne, wo hauptsächlich produziert wurde und sich Menschen über das definierten, was sie arbeiteten. Wörtlich wie im flach-banal übertragenen Sinne spiegelt er die Konsumgesellschaft wider, wo Kunst ist, was der Künstler-Konsument Koons sah, etwa einen spiegelnden Luftballonhund oder -hasen für Kinder oder Kitschnippes. Schließlich präsentiert er diesen Kitsch und sich selbst, die Persona Koons als Kitsch auf einem Silbertablett wie in einer Schaufenster-Vitrine, einer Galerie, beziehungsweise aus silber reflektierendem Edelstahl, und auf gigantische Größe ›aufgeblasen‹. Der auch im Englischen geläufige Begriff (blow up), bringt in Anbetracht von Plastiken, die Luftballons nachempfunden sind, auch deren Oberflächlichkeit auf den Punkt – Konsumprodukte vom Konsumkünstler Koons für (potenzielle) Käufer/Betrachter, die wie Koons in den Medien und in seiner Kunst auch selbst sich ständig selbstoptimierende Konsumprodukte sind. Die Werke des ehemaligen Wall-Street-Börsen-Brokers Koons übten in den 1990er Jahren starken Einfluss auf Young British Artists wie Damien Hirst oder die Chapman-Brüder aus.101 Er war einer der wegweisenden Konsum-Künstler, die John Seabrook 1997 für die Zukunft vorhersagte, die in Wahrheit bereits in den 1980er und 1990er Jahren existierten, etwa Hirst, Fleury oder Murakami: »The artists of the next generation will make their art with an internal marketing barometer 99

»I don’t see any difference between what I collect and what I make. It becomes the same.« Richard Prince. Zitiert in Pop Life 2009, S. 31.

100 Max Hollein: Der Glanz der Dinge. In: Shopping 2002, S. 203. 101 Vgl. Muir 2009, S. 99.



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already in place. The auteur as marketer, the artist in a suit of his own: the ultimate in vertical integration.«102 Werbeleute und Künstler wie Koons schaffen Kunst für eine Generation von (Kunst-)Konsumenten, die seit frühester Kindheit fernseh- und medien-erfahren sind.103

102 John Seabrook: The big sellout. New Yorker vom 20 und 27. Oktober 1997, S. 182-195. 103 Naomi Klein: No Logo. [2000] London 2001, S. 294.



3) London um die Jahrtausendwende

1

»Das Spektakel des Terrorismus erzwingt den Terrorismus des Spektakels.« JEAN BAUDRILLARD, 1978

Damien Hirst und Banksy sind britische Künstler, die zwar nicht aus London stammen, jedoch dort ihre ersten Erfolge feierten, immer wieder ausstell(t)en sowie dort länger leb(t)en. Wie die Analyse zeigt, behandeln beide eher universelle Themen, ihre Herangehensweise ist nicht explizit regional, wobei typisch britische Elemente wie der gelegentlich makabere Humor,der beider Œuvres zu eigen ist. Zudem sind sie in ihrem Heimatland bekannter als im Ausland. Obwohl sie nicht als britische Lokal-Künstler angesehen werden können, diente beiden die Metropole London als Sprungbrett zum künstlerischen Erfolg. Das folgende Kapitel liefert Fakten und Zusammenhänge, die speziell für die Weltstadt London beziehungsweise Großbritannien gelten, jedoch in großen Teilen auf andere Industrienationen und Metropolen anwendbar sind. Da Künstler wie Hirst und Banksy sich in der Zeit um (oder nach) der Jahrtausendwende mit Themen wie Konsum oder Kunstmarkt verstärkt beschäftigten, wird ein kurzer historischer Abriss geliefert, um zu verdeutlichen, auf welchem soziokulturellen Boden ihre Gegenwartskunst fußt. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde London Zentrum der Jugendkultur, zunächst des Swinging London rund um die Carnaby Street in Soho und in den späten 1970er Jahren durch die dann politisierte Punk-Bewegung. Die Untersuchung beschränkt sich auf die Entwicklungen seit 1979, dem Beginn des Thatcherismus, der für viele länger als bis zur Abwahl der Namensgeberin 1990 dauerte. In dieser Zeit wurden der Mitte der 1970er geborene Banksy und der etwa zehn Jahre ältere Hirst sozialisiert. Mit über 7,5 Millionen Einwohnern im Jahr 2007 ist Greater London die größte Stadt der Europäischen Union. London pflegt(e) als Hauptstadt Großbritanniens und des Commonwealth sowie ehemalige Hauptstadt des British Empire enge poli-

1

Baudrillard 1978, S. 9.

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tische und wirtschaftliche Beziehungen zu den USA und verschiedenen asiatischen Ländern wie den ehemaligen Kolonien, in denen Englisch oft Handels- und Rechtssprache ist. Ein Studie der britischen Regierung von 2005 stellte fest, dass in London über 300 verschiedene Sprachen gesprochen werden und über 50 ausländische Völkergruppen jeweils mehr als 10.000 Mitglieder in London haben, darunter Inder, Iren, Bangladescher oder Jamaikaner.2 Nur 58 Prozent der Londoner sind Briten, etwa ebenso viele bezeichnen sich als Christen, 8,5 Prozent sind Moslems. Nicht nur die Tatsache, dass die Briten nur weniger als 60 Prozent der Londoner stellen, weist darauf hin, dass London nicht unbedingt als repräsentativ für Großbritannien, sondern eher für vergleichbar große, multikulturelle globale Zentren wie Paris oder New York gesehen werden kann. Dennoch ist London als Hauptstadt Großbritanniens vom Land beeinflusst, wie es selbst rückwirkend Einfluss auf das Land hat. London zählt seit dem Ende der Thatcher-Ära neben New York und Tokio als Finanzhauptstadt, wo mehr als ein Fünftel der größten europäischen Firmen und mehr als die Hälfte der britischen ihren Hauptsitz hat. Obwohl diese Zeit bereits fast 20 Jahre zurückliegt, ist ihr Einfluss bis in die Regierungszeit der Labour-Premierminister Tony Blair (1997-2007) und Gordon Brown (2007-2010) etwa in der Wirtschafts- oder Außenpolitik spürbar. London ist Großbritanniens Medienzentrum, wo fast alle größeren britischen Zeitungen und Fernsehstationen ihren Hauptsitz haben. Neben seiner Bedeutung als Metropole und Finanzzentrum ist London auch das britische Zentrum für Kultur und Tourismus. Ab 2007 veränderte die internationale Finanzkrise auch London. Diese Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Frühsommer 2007 mit der US-Immobilienkrise begann, ist Folge eines spekulativ aufgeblähten Wirtschaftswachstums in den USA und einer weltweiten kreditfinanzierten Massenspekulation. Die Krise äußerte sich weltweit zunächst in Verlusten und Insolvenzen bei Unternehmen der Finanzbranche, vorwiegend nach dem 15. September 2008, dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers Investmentbank, der als symbolisches Datum für die Krise steht.3 2

http://www.london.gov.uk/gla/publications/factsandfigures/dmag-update-2006-09.pdf

3

»Der Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarktes und die daraus resultie-

(Gesichtet: 22. November 2009). rende Bankenkrise bilden den Fixpunkt aller Erzählungen, deren dominierende Bezeichnung folglich auch ›Finanzkrise‹ lautet. Ihr Ausbruch wird auf diese Weise zu einem Ereignis mit einem konkreten Datum, dem Insolvenzantrag der Lehman-Bank vom 15. September 2008. »Dass weit über Fachkreise hinaus bereits seit dem Frühsommer 2007 von einer schweren Finanzkrise gesprochen wurde, dass der Wendepunkt des deutschen Wirtschaftswachstums bereits im Frühjahr 2008 und damit weit vor dem symbolischen Ereignis gelegen hat […] und dass vor dem Zusammenbruch eine spekulativ getriebene Hausse auf den Rohstoffmärkten für einen veritablen Angebotsschock sorgte – all dies bleibt



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UM DIE

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Folgen in Großbritannien waren/sind etwa andauernde Rezession, Rekordarbeitslosenzahlen, fallende Immobilienpreise und Kursverluste. Etwa 100.000 Finanz-Jobs gingen allein in Großbritannien in den Jahren 2007 bis 2010 verloren.4 2010 kam nach 13 Jahren Labour-Regierung erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine ToryKoalition mit den Liberal Democrats an die Macht, unter dem neuen Premierminister David Cameron.

A)

L ONDONS K UNSTLANDSCHAFT

AB

1980

Die Kunstlandschaft in London war um 1980 herum überschaubar, so Iwona Blazwick, seit 2001 Direktorin der Londoner Whitechapel Gallery. 5 Nur eine Handvoll kommerzielle Galerien zeigten Gegenwartskunst. Erfolgreiche britische Künstler der Zeit wie Richard Deacon, Bill Woodrow oder Julian Opie arbeiteten hauptsächlich auf dem Gebiet der Plastik und Skulptur, womit sie sich im sanften Gegensatz zu den von Konzeptkunst und Land Art dominierten 1970er Jahren befanden. Unter Thatcher wurden Steuern gesenkt, so dass mehr ausgegeben werden konnte. Zugleich wurden Sozialwohnungen und nationale Industrien an private Firmen verkauft, generell wurde der Einfluss des Staates zurückgedrängt. Davon profitierte insbesondere das Finanzsystem: »The ›big bang‹ in the City of London ended import and currency controls, allowing the globalization of capital and its free flow round the planet.«6 Zugleich wurde das Pfund stark abgewertet, die Arbeitslosigkeit stieg. Laut dem Soziologen Giddens definiert sich Thatcherismus in erster Linie durch einen ›schlanken‹ Staat, autonome Zivilgesellschaft, Marktfundamentalismus, autoritäre Moral in Verbindung mit ökonomischem Individualismus, einem Arbeitsmarkt, der sich selbst reguliert, der Hinnahme von Ungleichheit und traditionellem Nationalismus. Lineare Modernisierung herrschte vor sowie ein schwach ausgebildetes ökologisches Bewusstsein und ein neorealistisches Denken in der internationalen Politik. Der Viktorianische Wohlfahrtsstaat wurde zu

ausgeblendet.« Tim Schanetzky: Ereignis, Skandal und Legitimation. Zum kommunikativen Umgang mit Unsicherheit in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010) H. 2. 4

Evening Standard Online: 100,000 financial jobs lost since Northern Rock crisis. Evening Standard Online vom 14. September 2010.

5

Der folgende Abschnitt zitiert inhaltlich einen Vortrag von Iwona Blazwick: Discussing Hirst’s early work and its reception. Damien Hirst Study Day am 13. Januar 2010 in der Wallace Collection, London.

6



Lawson 2009, S. 91.

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weiten Teilen privatisiert und auf ein reines Sicherheitsnetz reduziert. Thatcher behauptete in einem Interview, dass Gesellschaft (Society) nicht existiere: »I think we have gone through a period when too many children and people have been given to understand ›I have a problem, it is the Government’s job to cope with it!« or ›I have a problem, I will go and get a grant to cope with it!‹ ›I am homeless, the Government must house me!‹ and so they are casting their problems on society and who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government 7

can do anything except through people and people look to themselves first.«

Aufgrund ihrer Politik wurde der Arbeitsmarkt ›flexibel‹. Aus der Industriegesellschaft wurde eine Dienstleistungsgesellschaft, wo neue Jobs insbesondere im Finanzsektor und Einzelhandel geschaffen wurden. Um 2010 sitzen (im Vergleich zu 79 um 19858) über 480 Banken in London, womit London weltweit, trotz andauernder Wirtschaftskrise, die größte Bankendichte hat. Wie in anderen Ländern hatte der britische Durchschnittsbürger seit Thatcher statt einem Beruf mehrere Jobs innerhalb eines Arbeitslebens. Dies hat laut Lawson eine Verschiebung der Identitätsbildung von der Produzentenseite zur Konsumentenseite zur Folge, man identifizierte sich mehr mit dem, was man hatte und konsumierte, weniger mit dem, was man beruflich machte, da sich dies ständig ändern konnte.9 Lawson sieht dies in Zusammenhang mit der Privatisierung. Bürger, die jetzt eher Kunden oder Konsumenten sind, können besser von einem privaten Dienstleister versorgt werden. Nach einem wirtschaftlichen Boom in den 1980er Jahren folgte nach dem Black Monday Crash am 19. Oktober 198710 eine längere Rezession, die Arbeitslosigkeit stieg. Zudem war das Vereinigte Königreich am Golfkrieg beteiligt. Beides und die negativen Ausprägungen von Thatchers Reformen und ihrem »selling of the family silver, privatising the nation’s public utilities«11führte zu wachsender Unzufriedenheit mit der Regierung, was sich 1990 in den Poll Tax Riots niederschlug, als Zehntausende gegen Thatchers Politik demonstrierten. Die ›Eiserne Lady‹ kürzte die Kunstförderung enorm, so dass viele Künstler in die Lehre gingen, um ihre Existenz zu sichern, etwa an Kunsthochschulen in London wie das Royal College of Art (RCA), Central Saint Martins College of Art and 7

Margaret Thatcher im Interview mit Douglas Keath: Aids, Education and the Year 2000!.

8

Stryker McGuire: This time I’ve come to bury Cool Britannia. The Observer vom 29.

9

Vgl. Lawson 2009, S. 92.

In: Woman’s Own vom 31. Oktober 1987, S. 8-10. März 2009. 10 Vgl. Muir 2009, S. 25. 11 Ebd. S. 12/13.



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UM DIE

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Design, oder das zur University of London gehörende Goldsmiths College. Während (grob gesehen) das RCA insbesondere von den 1920er bis zu den 1960er Jahren sehr einflussreich war und Künstler wie Henry Moore und David Hockney hervorbrachte, war das Saint Martins College in den 1960er und 70er Jahren mit Künstlern wie Gilbert & George oder Richard Long stilbildend gewesen.12 Das Goldsmiths College jedoch sollte für die späten 1980er und frühen 1990er Jahre die wichtigste Talentschmiede werden.13 An dieser Kunsthochschule im (damals wie teilweise heute noch) ärmeren Osten Londons lehrten Künstler wie der 1941 geborene, irischstämmige Konzeptkünstler Michael Craig-Martin und der 1936 geborene Maler und einflussreiche Kurator Jon Thompson. Letzterer öffnete als Leiter die Kunstdepartments am Goldsmiths, so dass sich Studenten erstmals frei zwischen Malerei, Bildhauerei, Fotografie et cetera bewegen konnten, was später für andere Kunsthochschulen Großbritanniens vorbildlich wirken sollte. Damit reagierte das Goldsmiths zuerst auf die Zeichen der Zeit, etwa dass damals international bedeutende und einflussreiche Gegenwartskünstler wie Beuys, Koons oder Nauman schwierig durch ein Medium zu definieren waren. Außerdem begannen die Lehrenden, statt über Kunstgeschichte auch über Psychoanalyse, Anthropologie, Feminismus oder Kunsttheorie zu sprechen. Goldsmiths brach durch Craig-Martin zudem mit dem bis dahin vorherrschenden, traditionellen Künstlerbild des einsam in seinem Atelier eingeschlossenen Malers, wie dies etwa noch Lucian Freud praktizierte. Craig-Martin und seine Kollegen animierten ihre Studenten zum sozialen Miteinander, zur künstlerischen Zusammenarbeit und ermutigten sie, sich Ausstellungen anzusehen und zu Vernissagen zu gehen. Laut Blazwick war es schwierig, Einladungen zu Vernissagen zu bekommen. In der wichtigsten Galerie-Straße, der Cork Street14, herrschte eine Aura von elitärer Exklusivität und Konkurrenz vor, die man teils heute noch spüren kann. Galerien für Gegenwartskunst waren selten.15Aufgrund auch der wenigen, großen Institutionen, die Gegenwartskunst zeigten, war es schwer, als junger Künstler überhaupt auszustellen und Kunst zu verkaufen: »And there was the art world, the fucking British art world. There was the Lisson Gallery, which was very snobby. And Nicholas

12 Vgl. Richard Cork: Die Siebziger Jahre und danach. In: Susan Compton (Hrsg.): Englische Kunst im 20. Jahrhundert. Kat. Ausst. 1987, S. 414. 13 Vgl. Richard Shone: From Freeze to House. 1988-94. In: Royal Academy of Arts (Hrsg.): Sensation. Young British Artists from the Saatchi Collection. Kat. Ausst. London 1997, S. 12. 14 Muir 2009, S. 34. 15 Ebd., S. 39.



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[Logsdail, the director] was virtually saying go back to your studio for five years and have a little think.«16 London war Ende der 1980er Jahre laut Muir noch nicht an die Welt der Gegenwartskunst angeschlossen17, dies passierte erst Anfang der 1990er Jahre mit einer Gruppe, die als Young British Artists in die Kunstgeschichte einging.

B)

D AMIEN H IRST

UND

Y OUNG B RITISH ARTISTS »Vermarktungsstrategie ist in der Kunstgeschichte nicht neu. Die gesellschaftlichen Mechanismen, die sie einsetzt, wurden jedoch in neuer Effizienz durch den Werbemogul Charles Saatchi Ende der neunziger Jahre vorgeführt. Alle gesellschaftlichen Stimmen spielten ihre Rollen nach dem Skript, das Saatchi […] mit einer Ausstellung mit dem mehrdeutigen Namen ›Sensation‹ und gut inszenierten Skandalen für sein Label YBA, Young British Artists, auch in Amerika 18

entwarf.«

PETER SCHNEEMANN, KUNSTHISTORIKER

Einer von Craig-Martins und Thomsons Studenten Mitte der 1980er Jahre war Damien Hirst.19 Der 1965 in Leeds geborene, in kleinen Verhältnissen aufgewachsene Hirst arbeitete drei Tage die Woche in der bekannten D’Offay Gallery, wo er Wein auf Vernissagen ausschenken und Werke für Kundenbesuche in Szene setzen durfte.20 Im Goldsmiths schuf er schwittersartige Collagen aus objets trouvés und malte unregelmäßige Farbkreise.21 Seine frühen Arbeiten waren im Vergleich zu denen um 1990 nicht schockierend.22

16 Damien Hirst im Interview mit Anthony Haden-Guest: Damien Hirst – fresh from auctioning of more than 200 pieces of his work [Interview]. In: Interview Magazine. Dezember 2008, S. 155. 17 Ebd. S. 3. 18 Schneemann 2002, S. 275. 19 Vgl. Hirst/Burn: On the Way to Work. London 2001, S. 122, 125. Vgl. auch Cressida Connolly: Michael Craig-Martin: out of the ordinary. Telegraph Online vom 24. November 2007. Hirst spricht zudem öfter von dem Goldsmiths-Dozenten Richard Wentworth. 20 Vgl. Muir 2009, S. 15. 21 Vgl. etwa Hirst/Burn 2001, S. 118-121. 22 Vgl. Muir 2009, S. 40.



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Neben der oben erwähnten Aufhebung der Kunstgattungsgrenzen am Goldsmiths inspirierten den jungen Hirst und seine Kommilitonen auch die architektonischen Veränderungen des Hauses. Das Goldsmiths wurde damals längere Zeit renoviert und umgebaut. Die Studios von Damien Hirst und seiner Generation wurden daher ausgelagert. Die technischen Geräte, um etwa Skulpturen zu fertigen, waren oft an völlig anderen entfernten Orten. Daher mussten die Studenten detaillierte Instruktionen an die Goldsmiths-Techniker dort senden, die dann Werke nach diesen Vorgaben anfertigten. Dies beeinflusste Hirsts Arbeitsweise nachhaltig, die meisten seiner Arbeiten bis 2008 wurden mit Hilfe von Assistenten geschaffen, die nach ebensolchen Anweisungen Hirsts arbeiteten. Ein weiterer Einfluss auf den Studenten Hirst war Werbung. Insbesondere war der junge Student in der Goldsmiths-Bibliothek von einem vom Art Directors Club jährlich herausgegebenen Buch fasziniert, in dem der Berufsverband führender art directors aus der Werbebranche die besten neuen Werbegrafiken prämierte.23 Werbung in den 1980er Jahren stand im Gegensatz zum konservativen Regime Reagans und Thatchers, unter dem Kunst noch elitärer geworden war als zuvor. Das Verhältnis zwischen Kunst und Medien (nicht nur) in den 1980er Jahren war zugleich ambivalent, da Künstler einerseits das System kritisierten, andererseits von ihm profitierten.24 Auch künstlerisch gestaltete Werbung wie die der Zigarettenmarke Silk Cut beeinflussten den jungen Hirst aber auch etwa Jake Chapman. Beide bezieht sich in einer Reihe früher Kunstwerke auf die Marke25: »[T]he Silk Cut ads that have been running in British newspapers and magazines for several years contain more obvious art-historical references – Fontana’s slashed canvases, for instance, Barnett Newman’s ›zip‹ paintings – are more obviously (if ironically) ›artistic‹, than any or all the Aquired Inability to Escape series into which a Silk Cut cigarette packet has been incorporated without inflection or intervention. [Hirst] has produced photographic pieces – slick, sumptuous, seductive – which look like cigarette advertisements in which the copy 26

lines have simply been removed.«

Da der vorherrschende Kunstbetrieb von Hirst und vielen seiner Kommilitonen als einengend und elitär aufgefasst wurde und es schlicht keine Möglichkeiten gab, 23 Vgl. Blazwick 2010. 24 Ebd. 25 Vgl. Damien Hirst: I want to spend the Rest of My Life Everywhere, with Everyone, One to One, Always, Forever, Now. 1997 [In Druckgröße reduzierte, inhaltlich gleiche Neuauflage ] London 2005, S. 100-110. Vgl. auch Hirsts Ausspruch: »I get a lot of inspiration from ads in order to communicate my ideas as an artist and of course Charles [Saatchi] is very close to that.« Aus: Buck 1997, S. 127. Siehe auch Muir 2009, S. 53. 26 Gordon Burns: In Mr. Death in? In: Hirst 1997, S. 11.



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zeitgenössische Kunst als junge Künstler auszustellen, beschlossen sie, ihre Karriere selbst in die Hand zu nehmen. Laut Craig-Martin blieb ihnen gar nichts anderes übrig: „In a country that had few contemporary galleries and even fewer collectors, generations of young artists had survived through art-school-teaching, the dole, various enterprise schemes, odd jobs. By the end of Margaret Thatcher’s reign these options had more or less dried up. I always find it laughable that people think that the YBAs were cybical careerists. […] The expectation of sellig for more than a few hundred pounds was so low that they often made work that defied the idea of the market altogether.”27

Hirsts älterer Kommilitone und Freund Angus Fairhurst nahm Anfang 1988 Kontakt zur Bloomsbury Gallery des Institute of Education auf, wo Fairhurst im Februar desselben Jahres eine Ausstellung namens »Progress by Degree« organisierte.28 Dort waren neben Werken von ihm die seiner Kommilitonen Mat Collishaw, Abigail Lane und von Hirst zu sehen. Alle vier Kunststudenten sollten später unter dem Begriff »Young British Artists« geführt werden. Obwohl der Begriff bereits in den 1960ern verwendet wurde29, versteht man heute darunter eine heterogene Gruppe von Konzeptkünstlern, Bildhauern, Installationskünstlern und Malern, die in den 1990er Jahren in London tätig waren und von denen viele am Goldsmiths studierten. Als eigentliche Geburtsstunde dieser noch namenlosen Gruppe gilt eine andere Ausstellung: »Freeze«. Als »truely a child of Thatcher« wollte Hirst nicht auf seine Entdeckung durch die wenigen traditionellen und elitären Institutionen Londons warten, die Gegenwartskunst ausstellten: das Institute of Contemporary Art (ICA), die Serpentine Gallery oder das Camden Arts Center. Daher organisierte der 23Jährige selbstständig im zweiten Jahr seines Bachelor-Studiums 1988 die von Konzeptkunst der 1970er Jahre beeinflusste30 Gruppenausstellung »Freeze«, die für die meisten teilnehmenden Künstler (rückblickend) der erste Schritt zum Erfolg war.31 Hirst fand den Ausstellungsort, ein leerstehendes Verwaltungsgebäude im Londoner Hafenviertel Docklands und mit der London Docklands Development Corporation und der Firma Olympia and York Sponsoren aus der Wirtschaft, die ein Inte-

27 Craig-Martin: Damien Hirst. The Early years. In Gallagher 2012. S. 38-39. 28 Vgl. http://www.damienhirst.com/exhibitions/group/1988/progress-by-degree (Gesichtet: 28.März 2012). 29 Laut Thümmel entstand der Begriff young British artist schon 1966 anlässlich der Biennale in Venedig. Vgl. Thümmel 1997, S. 17. 30 Vgl. Muir 2009, S. 23. 31 Vgl. ebd.



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resse daran hatten, die heruntergekommene Gegend wieder interessant zu machen.32 1980 war das noch in den 1950er Jahren geschäftige Hafenviertel größtenteils leerstehend und im Verfall begriffen. Die daher günstigen Mieten zogen Künstler und Bohemiens an, die in den leerstehenden Lagerhäusern Ateliers einrichteten und große Parties mit Kunstaktionen veranstalteten. Dies wiederum beeinflusste Hirst, der dort als Künstler-Kurator, was bis dahin ungewöhnlich war, 16 seiner Kommilitonen vom Goldsmiths ausstellte. Hirst stand damit im Gegensatz zu der vorherrschenden Praxis des ›Jeder-Gegen-Jeden‹ und kehrte zu dem Miteinander der europäischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zurück, die Werke gemeinsam und im Dialog gestalteten und ausstellten.33 Die Tatsache, dass Hirst und Kommilitonen außerhalb des institutionellen wie akademischen Umfeldes ausstellten, lässt zudem an Courbets Pavillon du Réalisme denken34, der als Gegenausstellung zum offiziellen Pariser Salon fungierte, so Liebs über Hirst: »In der Pariser Bourgeoisie konnten damals geschickte Provokateure und Selbstvermarkter am Markt reüssieren, wie der Maler Gustave Courbet, der, von den offiziellen Salons abgewiesen, einfach ein eigenes Ausstellungshaus gründete. Was für Courbets [und auch wieder Hirsts, Anm. UB] Aufmerksamkeitsstreben, verstanden als Freiheitsdrang, im Besonderen gilt, galt auch für die Kunst insgesamt: sie nabelte sich vom althergebrachten Kanon ab, wurde für autonom erklärt und brachte, befreit vom Handwerkszwang, das Künstler-Genie der Moderne hervor, welches alles aus sich selbst schöpfte.«

35

»Freeze« war in drei Zeitabschnitte untergliedert36, Craig-Martin konnte bekannte Gesichter der Kunstszene wie Sir Norman Rosenthal von der Royal Academy of Arts, Sir Nicholas Serota von der Tate Gallery und den Kunstsammler und Medienmogul Charles Saatchi dazu bewegen, zur Eröffnung zu kommen.37 Die Show lief mit unterschiedlichen Werken für mehrere Monate und wurde trotz geringer Medienresonanz später als Initialzündung für die neue Kunstszene Londons begriffen. Hirst organisierte und (co-)kuratierte 1990 als Künstler-Kurator zwei weitere Lagerhaus-Ausstellungen im East End, »Modern Medicine« und »Gambler«, und 32 Vgl. Ebd. S. 20. 33 Vgl. Blazwick 2010. 34 Thümmel vergleicht ihn mit dem Salon des Refusés von 1863. Vgl. Thümmel 1997, S. 17. 35 Holger Liebs: Mach’s doch selbst. Damien Hirst: der Künstler als Leitbild der Krise. SZ Feuilleton vom 26. November 2008. 36 Teil eins ging vom 6. bis 22. August, Teil zwei vom 27. August bis 12. September und Teil drei ab da bis 29. September 1988. 37 Vgl. Jessica Berens: Freeze: 20 years on. Onlineausgabe des Guardian vom 1. Juni 2008.



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löste eine Explosion von Kunstausstellungen außerhalb des traditionellen Galerieraumes aus, die bis heute (2012) in London anhält. Der Begriff YBA in seiner Langform wurde von dem erwähnten »WerbeMogul«, Kunstsammler und frühen Förderer von Künstlern dieser Gruppe, Charles Saatchi, mit der gleichnamigen Ausstellungsreihe ab 1992 geprägt und von der Presse als Label weitergetragen. Saatchi gründete 1970 als 26-Jähriger mit seinem Bruder Maurice die Werbeagentur Saatchi & Saatchi.38 Mit ihrer Polit-Kampagne »Labour Isn’t Working« trugen sie 1979 zum Wahlerfolg der für die Zeit so prägenden Margaret Thatcher bei und wurden im Folgenden als »Thatcher’s children« wahrgenommen. Ab 1983 waren es Saatchi & Saatchi, die die erwähnte Werbekampagne für Silk Cut Cigarettes konzipierten. Gemeinsam mit seiner damaligen Frau, der amerikanischen Kunstjournalistin Doris Lockhart, investierte Charles Saatchi in eine große Sammlung Moderner Kunst und wurde Galerist. 1984 eröffnete die Saatchi Collection, welche zu dieser Zeit die Handschrift von Doris Saatchi trug.39 Diese war Expertin für amerikanischen Minimalismus, der sich in den Werken und in der Präsentation der Sammlung spiegelte: Laut Blazwick waren Londoner Galerien in den 1980er Jahren wie die Tate sehr eng gehängt. Bunte Tapeten, rustikaler Holzboden, Goldrahmen und Gemälde in vorwiegend ›häuslicher‹ Größe dominierten die Museen und Galerien, und damit auch die Werke vieler Künstler: »You just couldn’t fit the size of paintings we wanted to make into Cork Street. If you were supposed to fit into the art world you would have to scale the work down. […] Warhol had done Thirteen Most Wanted Men huge. But Peter Blake and Richard Hamilton were still do40

ing these small paintings. And little things. Very kind of local and small.«

Die großflächige, von dem amerikanischen Architekten Max Gordon im Auftrag vom Ehepaar Saatchi umgestaltete ehemalige Farbfabrik im Londoner NordWesten41, welche deren Sammlung zuerst beherbergte, brachte im scharfen Gegensatz zur ›kleinen‹ Londoner Kunstwelt den minimalistischen Flair New Yorker Lofts und New Yorker Kunst nach London. Eine ehemals kommerzieller Raum, in dem Farben hergestellt wurden, wurde nach dem Vorbild von umgebauten, vormals kommerziellen Lagerhäusern umgestaltet, um verkäufliche Kunst eines Sammlers und Werbemoguls in einer Galerie, einem Kunstladen, zu zeigen.

38 Vgl. Alison Fendley: Saatchi & Saatchi: the Inside Story. Darby 1995. 39 Vgl. Darwent 1998 und Blazwick 2010. Statt ›1984‹ (Darwent 1998) spricht Stuart Jeffries in seinem Interview mit Charles Saatchi von ›1985‹. Vgl. Stuart Jeffries: What Charles did next[Interview]. The Guadian vom 6. September 2006. 40 Hirst im Interview mit Haden-Guest 2008, S. 155. 41 Vgl. Buck 1997, S. 128.



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Im Gegensatz zum vorherrschenden Geschmack stellte das Ehepaar Saatchi auf dramatische Art in einem einfachen, weißen, jedoch riesigen Raum mit Betonboden und Tageslichtbeleuchtung wenige großformatige Werke aus. Das inspirierte Hirst und seine Zeitgenossen dazu, großformatige Installationen wie das (nicht nur) von Donald Judd beeinflusste42 »A Thousand Years« (1990) zu schaffen und diese in ähnlich gestalteten Lagerhäusern wie »Freeze« auszustellen: »[Saatchi] was just there at the perfect point with a huge fucking space. […] And then Saatchi did the New York Show. I remember walking in and going, ›Hey, my eyes!‹ The whiteness of it! It just blew me away. And it was so not British. And that just totally inspired all the students. We wanted to show at the Saatchi Gallery immediately. And then we started making work really to fit in there. And that’s when I realized we wouldn’t fit into the art world the 43

way it was. So I just went and got a warehouse, and we did that show.«

Die später auch gerade fürs Ausland »Young British Artists« genannten Künstler wollten gerade nicht britisch sein, ihre Einflüsse waren amerikanisch. Neben der von Hirst genannten »New York Art Now« von 198744, wo unter anderem der für ihn prägende Koons zu sehen war, zeigte die Saatchi Gallery auch Ausstellungen mit Warhol, Serra, Judd und Nauman, jedoch auch deutsche Größen wie Kiefer und Polke. Mit der eher amerikanischen Tendenz, ›große‹ Kunst zu schaffen, war Hirst laut Doris Saatchi nicht allein: »In 1988 I lectured at the Royal College of Art and I was appalled at how careerist the students had become[.] […] They all wanted to get work into the Saatchi Collection, so they were making huge things to fill all those huge spaces. So un-British: well, pace Turner, anyway. We live in a time that is heavily influenced by advertising and, as we all know, Charles Saatchi is a master of that discipline. The influence is felt in much of the art made today, and, 45

for me, it’s soft at the centre. I don’t want narrative, but there’s a lack of rigor in it.«

Saatchi wollte 1989 Hirsts Abschlussausstellung kaufen. Das Goldsmiths College wollte sie nicht einem Sammler, sondern einer Galerie verkaufen. Sie ging daher an die Galerie Karsten Schubert, welche sie wiederum binnen Wochen gewinnbrin-

42 Vgl. Hirst im Interview mit Mirta D’Argenzio. In: Eduardo Cicelyn, Mario Codognato und Mirta D’Argenzio (Hgg.): Damien Hirst. The Agony and the Ecstasy. Selected works from 1989 – 2004. Kat. Ausst. Museo Archeologico Nazionale. Napoli 2004, S. 72. 43 Hirst im Interview mit Harden-Guest 2008, S. 155. 44 The Saatchi Gallery: New York Art Now (Part 1) life vom September 1987 bis Januar 1988. 45 Hirst im Interview mit Haden-Guest 2008, S. 155.



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gend an Hirsts späteren Galeristen Jay Jopling verkaufte.46 Im selben Jahr erstand Saatchi jedoch zwei medizinische Kabinette von Hirst in der »New Contemporaries«-Ausstellung am Institute of Contemporary Art in London. Bei der ebenfalls von Hirst organisierten Lagerhaus-Gruppenausstellung »Modern Medicine« 1990 kaufte er Hirsts »A Thousand Years«, das ja von Saatchis Galerie inspiriert war, und galt von da an als der erklärte Förderer Hirsts und vieler seiner Kommilitonen.47 Laut Hirst kaufte auch Doris Saatchi in derselben Ausstellung ein Pharmaceutical Cabinet.48 Rückblickend kann man Saatchis Kunstgeschmack ebenso als vorausschauend wie als berechnend ansehen: Nach dem Börsencrash von 1987 und der teuren Scheidung von seiner (für seine Sammlung) einflussreichen Frau Doris 1988 verkaufte Saatchi den größten Teil seiner Sammlung erstklassiger britischer, amerikanischer und europäischer Kunst und begann, Werke unbekannter, junger britischer Künstler zu kaufen: »›The market was overheated and it was a good time to sell‹ was Saatchi’s laconic explanation of his 1989-91 sell-off«.49 Auch in seinen Ausstellungen zeigte Saatchi Ende der 1980er Jahre zunächst britische Künstler der jüngeren Vergangenheit wie Freud, Auerbach und Deacon. 1991 las Saatchi von dem geplanten Projekt, dass Hirst ein Werk mit einem Hai machen wollte und bot ihm daraufhin an, die Kosten zu übernehmen. Hirst kreierte daraufhin »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« für 50.000 britische Pfund.50 Dieser in Formaldehyd eingelegte Tigerhai wurde nicht nur Hirsts bekanntestes Werk, sondern auch das signifikanteste der Künstlergruppe »Young British Artists«.51 Ab 1992 wurden Hirst, Sarah Lucas und weitere eben in einer Ausstellung namens »Young British Artists« in der Londoner Saatchi Gallery gezeigt, was den Begriff festigte. Die Künstler, die dieses Prädikat trugen, wechselten öfter und bis heute ist der Begriff schwammig. Es folgten bis November 1996 »Young British Artists II« bis »Young British Artists VI«, jeweils in der Saatchi Gallery. Saatchi investierte in diese noch ›billigen‹ Jung-Künstler öffentlichkeitswirksam zunächst zumindest viel Geld, um ihre Bekanntheit, Reputation, ihren ideellen und finanziellen Wert wie den der Marke Saatchi zu steigern.

46 Vgl. Hirst im Interview mit Mirta D’Argenzio. In: Napoli 2004, S. 68. 47 Vgl. Colin Gleadell: Market news: Counter. Onlineausgabe des Telegraph vom 17. März 2003. 48 Vgl. Hirst im Interview mit Mirta D’Argenzio. Napoli 2004, S. 62. 49 Buck 1997, S. 128. Vgl. auch Stallabrass 2006, S. 5. 50 Vgl. BBC News: Saatchi mulls £6.25m shark offer. BBC News online vom 23. Dezember 2004. 51 Vgl. Richard Brooks: Hirst’s shark is sold to America. Onlineausgabe der Times vom 16. Januar 2005.



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Um 199152 lernte Hirst seinen späteren Galeristen Jeremy ›Jay‹ Jopling kennen. In seinem Abschlussjahr an der Edinburgh University organisierte der Student Jopling eine Kunstauktion für wohltätige Zwecke und schaffte es, angesagte Künstler wie Basquiat, Haring und Schnabel dazu zu bringen, Werke zu spenden. Die Auktion brachte 500.000 Dollar.53 Der 1963 geborene Eton-Absolvent, studierte Kunstwissenschaftler und Galerist Jopling wurde neben Saatchi die prägendste Persönlichkeit für die Young British Artists (»Some London art dealers and collectors, such as Jay Jopling and Charles Saatchi, were more famous than their artists«54) von denen er einige jahrelang – Hirst bis heute (2012) – vertritt. Joplings Aufstieg zum Galeristen ist eng mit dem seines alten Freundes Hirst verknüpft. Ab 1991 waren Hirsts Werke in vielen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, darunter 1993 in der Aperto-Abteilung der Biennale von Venedig und 1996 in der Gagosian Gallery von Larry Gagosian in New York, der von da an sein dauerhafter amerikanischer Galerist werden sollte.55

C)

W AS MACHT EINEN BRITISCHEN K ÜNSTLER IN DEN 1990 ER J AHREN ZUM Y OUNG B RITISH ARTIST ?

Es gab keine Manifeste, keine offizielle Formierung einer Gruppe names YBA, dennoch gibt es rückblickend einen Konsens, über wer und warum dazu gehört. Viele YBAs der ersten Generation besuchten das Goldschmith, viele der zweiten das Royal College of Art. Zudem war die Teilnahme an Freeze, weiteren selbstkuratierten Gruppenausstellungen um 1990 (Modern Medizine, Gambler, East Country Yard Show) und/oder einer der sechs mit »Young British Artists« betitelten Ausstellungen in der Saatchi Gallery Grund, das Label YBA zu bekommen. Saatchis Sammlung jedoch als Maxime zu nehmen, ist tückisch, weil dieser immer wieder Werke weiterverkauft, die Sammlung also nicht konstant Werke der gleichen Künstler beinhaltet. Durch Schule, Saatchi und Ausstellungen halbwegs definiert, wurden yBas auch mit Preisen geehrt: Zwischen 1992 und 1999 erhielten fünf

52 Muir schreibt (S. 37), sie arbeiten seit 1991 zusammen, Thümmel schreibt 1990 (S. 18). Hagan schreibt 2012: »At a Serpentine gallery show that same year [1991, Anm. UB], Hirst met Jay Jopling, who would soon become his dealer.« 53 Ebd. S. 37. 54 Stryker McGuire: This time I’ve come to bury Cool Britannia. The Observer vom 29. März 2009. 55 »No Sense of Absolute Corruption« war 1996 Hirsts erste Ausstellung in der Gagosian Gallery, New York. Bis zum Abschluss dieser Untersuchung war die Zusammenarbeit noch nicht beendet.



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Künstler, die zu den YBAs gerechnet werden, den wichtigsten britischen Nachwuchspreis ›Turner Prize‹, zudem wurden fast zehn nominiert. Hirst erhielt den Preis 1995 für seine Formaldehyd-Plastik »Mother and Child Divided«, nachdem er 1992 für »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« nominiert war.56 Man kann sagen, dass Young British Art oder BritArt, wie sie auch genannt wird, zumeist konzeptuell oder malerisch, figurativ und provokativ ist. In der Kunst der Young British Artists wurden öffentlichkeitswirksam Tabubrüche und Skandale durch die Darstellung von Zusammenhängen zwischen Sex und Gewalt, sozialem Elend, Sucht und Kriminalität, provoziert. Oft enthalten ihre Werke ironische Bezüge zur älteren Kunstgeschichte, wie Da Vinci bei Sam Taylor-Wood oder Goya bei den Chapman-Brüdern, jedoch auch zur Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, Pop Art (etwa bei Gavin Turk) und Werbung (bei Sarah Lucas oder Tracey Emin). 1993 und 1994 fanden zudem die »New Contemporaries«-Schau, die »New British Summertime«- und die von Carl Freedman kuratierte »Minky Manky«-Ausstellung statt (zu sehen waren YBAs mit den für sie einflussreichen Gilbert & George), bevor 1997 »Sensation« in der Royal Academy of Arts einen Höhepunkt markierte. Diese Institution war als konservative Kunst-Hochburg bekannt. Daher galt »Sensation« als eine Art Ritterschlag des Establishments für die YBAs, der von Skandalen und großem Medienecho begleitet wurde. Als wichtigste Werke der YBAs wurden Hirsts »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« und das von Saatchi erst kurz zuvor erstandene Zelt von Tracey Emin namens »Everyone I Have Ever Slept With 1963-1995« von 1995 gezeigt, sowie Jake und Dinos Chapmans lebensgroße Kinderfiguren mit Genitalien im Gesicht (»Tragic Anatomies« von 1996) und das aus seinem eigenen gefrorenem Blut gegossene Selbstbildnis von Marc Quinn mit dem Titel »Self« von 1991. Das meiste Medienecho bekam jedoch Marcus Harveys »Myra«, das überlebensgroße Porträt der Myra Hindley, einer 1966 verurteilen, mehrfachen Kindesmörderin, das Harvey als Mosaik von Kinderhandgipsabdrücken zusammenstellte. Diese Ausstellung war die größte der YBAs. 110 Werke von 42 Künstlern waren vertreten, die meisten kamen aus dem Besitz von Saatchi. Mit über 350.000 Besuchern allein in London wurde sie auch erfolgreich in New York, Berlin und Canberra gezeigt. Im selben Jahr wie Sensation ging – von sehr vielen Kreativen (zunächst!) gefeiert – die 18 Jahre dauernde Regierungszeit der konservativen Tories zu Ende. Der junge und charismatische Labour-Nachfolge-Premierminister Tony Blair wurde begeistert empfangen. Unter seiner Regierung erfolgte zunächst wirtschaftliches Wachstum und verstärkte Förderung des Bildungs- und Gesundheitssystems. Blair

56 Vgl. Thümmel 1997, S. 18-19.



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führte unter anderem einen Mindestlohn und ein Gesetz zur Einhaltung der Menschenrechte ein. »Blair didn’t just represent the end of Tory dominance; he represented the beginning of something, too. The electorate, especially perhaps those middle Englanders who voted Labour for the first time, saw him as their skywalker, the man who would lead post-imperial Britain, post-Thatcher Britain, into the uncharted 21st century.«

57

Parallel zu den YBAs wurde auch in der Pop-Musik der sogenannte Britpop ab 1994 mit Bands wie Blur, Oasis und Pulp weltbekannt. Hirst, der mit Blur- und Pulp-Mitgliedern studiert hatte und auch mit Oasis befreundet war, wurde an der Spitze der YBAs um 1996 selbst zur Celebrity.58 Ab Mitte der 1990er Jahre setzte sich der Ausdruck Cool Britannia (parallel zu dem Begriff des Swinging London der 1960er Jahre) für die modische britische Popkultur vor 2000 durch und wurde insbesondere von der Regierung instrumentalisiert. Der Observer äußert sich rückblickend über den Anfang von Cool Britannia 1996: »In the fashion world, Central Saint Martins College of Art and Design was the place to learn the trade. The Paris fashion houses Givenchy and Dior installed two of its graduates, John Galliano and Alexander McQueen, as their top couturiers. Ralph Lauren, Calvin Klein, Donna Karan and Tommy Hilfiger were all putting stores in Bond Street. Eurostar had brought the continent right into the heart of London. Arriving in droves, young advertising creative types were coming to London to hone their skills and soak up its’ by then famous nightlife. Clubs such as the Ministry of Sound, then edgy and fresh, were pulling in young people from Europe and beyond. Immigrants from around the world pumped new skills, innovation, enthusiasm and just plain hard work into a labour-hungry, creatively starved economy. […] Within days there stood John Major at the Lord Mayor of London’s banquet, embracing ›Cool Britannia‹ and boasting that ›our theatres give the lead to Broadway, our pop culture rules the airwaves, our country has taken over the fashion catwalks of Paris‹. Not that it did Major much good. It was Tony Blair who benefited from the changes that were sweeping through London and Britain a dozen years ago. […] The language of class warfare would fade, replaced by talk of ›community‹, which sounded good even if not everybody could figure out what it meant. New Labour, New Britain, as the Labour party slogan said. Onward and upward.«

Der Begriff ›Cool Britannia‹ ist fast gleichlautend mit den patriotischen Lied »Rule Britannia« von 1740, stammt aus einem 1960er Jahre Popsong und wurde Anfang 57 Stryker McGuire: This time I’ve come to bury Cool Britannia. The Observer vom 29. März 2009. 58 Muir 2009, S. 186.



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1996 als Speiseeis-Werbe-Slogan bekannt und bald von den Medien adaptiert.59 Die Entwicklungsgeschichte des Ausdrucks Cool Britannia ist stellvertretend für unsere Zeit in einer Konsumgesellschaft zu sehen. Eingängige Zeilen aus Popsongs und Werbeslogans werden wiederverwertet, um ein Land zu ›rebranden‹, ein Ausdruck, der aus der zu dieser Zeit tonangebenden Wirtschaft stammt: »Rebranding ist the creation of a new name, term, symbol, design or a combination of them for an established brand with the intention of developing a differentiated (new) position in the mind of stakeholders and competitors.«60 Dass dieser alte Wein in neuen Schläuchen, Blairs Politik, auch nicht besser oder wesentlich anders als Thatchers war, war bereits um die Jahrtausendwende zu spüren. Blairs »rebranding Britain«61-Versuche wurden von vielen eher als »pragmatische[s] Einschwenken auf einen sozial aufgehübschten Thatcher-Kurs«62 gesehen, Britpop war nicht mehr angesagt, die Young British Artists waren kaum mehr jung oder eine zusammengehörige Gruppe. Obwohl sie im neuen britischen Tempel moderner Kunst, der 2000 eröffneten Tate Modern, kaum vertreten waren, sind besonders Emin, Hirst, Lucas oder der mittlerweile freiwillig aus dem Leben geschiedene Fairhurst weiterhin regelmäßig in Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten. 2003 zeigte Charles Saatchi in seiner neuen Galerie zunächst Werke der Young British Artists und eine größere HirstAusstellung, wandte sich danach jedoch anderen Künstlern zu, wohl weil er sich im selben Jahr mit Hirst überworfen hatte. Saatchi hatte Hirst erst nach Vorschlägen zur Hängung und Aufstellung gefragt, später jedoch keinen der Vorschläge berücksichtigt.63 Zudem hatte er einen für einen karitativen Zweck gestalteten Kleinwagen gegen Hirsts Willen als vollwertiges Kunstwerk präsentiert. Hirst brach daraufhin den Kontakt ab und strich die Ausstellung aus seinem Lebenslauf.64 2004 verbrannten wichtige Werke von bekannten Vertretern der YBAs wie Hirst, Emin oder den Chapman-Brüdern in Saatchis Depot in Ostlondon.65

59 Reiner Luyken: England sagt man nicht mehr. Die Zeit. Nr.18/1998. 60 L. Muzellec und M. C. Lambkin: Corporate Rebranding: the art of destroying, transferring and recreating brand equity? In: European Journal Of Marketing 40, 7/8 2006, S. 803-824. 61 Klein 2000, S. 70. 62 Seriousguy: Bye, bye, cool Britannia? Anmerkungen zu Thomas Assheuer. LeserartikelBlog auf Die Zeit Online 12. Mai 2010. 63 Dalya Alberge: Shark gets away as Hirst feuds with Saatchi. Times Online vom 26. November 2003. 64 Vgl. Fiachra Gibbons: Hirst buys his art back from Saatchi. The Guardian Online vom 27. November 2003. 65 Vgl. James Meek: Art into ashes. The Guardian Online vom 23. September 2004.



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Damien Hirst ist neben seiner künstlerischen Tätigkeit und gelegentlicher Arbeit als Ausstellungskurator auch als Sammler in Erscheinung getreten. Ausgewählte Werke seiner umfassenden Kollektion, die er »MurderMe« (eine Wortspiel mit ›Moderne‹) nennt, wurden in der von ihm kuratierten Ausstellung »In The Darkest Hour There May Be Light« im November 2006 der Öffentlichkeit präsentiert. Darunter befinden sich Werke von Bacon, Koons, Warhol und Banksy, jedoch auch zu einem Drittel von Künstlern, die vormals als YBAs bezeichnet wurden. In ihren Kurzbiografien im Ausstellungskatalog taucht der Begriff »Young British Artists« kein einziges Mal auf.66 Dies kann als Distanzierung gewertet werden und trägt der Tatsache Rechnung, dass der Name eher von außen appliziert denn selbstgewählt war und heute eher rückblickend verwendet wird: Die weiterhin international erfolgreich und regelmäßig ausstellenden Hauptkünstler dieser Gruppe sind nicht mehr ›Young‹, sondern Mitte 40. Young British Artists definiert also eine vergangene Epoche, nämlich britische Kunst in den 1990er Jahren.

D)

B ANKSY

UND

S TREET ART

Dieses Unterkapitel behandelt nicht die Definition des Begriffes Street Art, seine neuere Herkunft aus amerikanischem Graffiti, politschem Aktivismus und Propaganda sowie Kunstrichtungen wie Dada, Pop und Land Art, Comic, Situationismus et cetera oder seine Entwicklungsgeschichte aus Höhlenmalerei und antiken Graffiti. Nicht etwa prominente und stilbildende Vorläufer und Vertreter wie Keith Haring, Jenny Holzer, Blek le Rat oder Shepard Fairey/Obey werden nun behandelt. Vielmehr widmet sich das folgende Kapitel der neueren Londoner Kunstszene, jedoch mit einem klaren Schwerpunkt auf Street Art mit ihrem prominentesten Vertreter Banksy, der zumindest quantitativ die Nachfolge des Enfant Terribile der 1990er Jahre, Damien Hirst, in den Kunst-Schlagzeilen der britischen Zeitungen antrat.67 Was rückblickend mit »Freeze« begann, ist bis heute (2012) typisch für die Londoner Kunstszene. Sie dreht sich um soziale Events wie Vernissagen und Ausstellungseröffnungen, beziehungsweise deren After Party in einem Club oder Pub. Oft bestehen Ausstellungen sogar nur aus der Vernissage. Zu dieser kommen zunächst nicht etwa hauptsächlich zahlungskräftige Sammler und Galeristen, sondern die Künstlerbohème.

66 Siehe Damien Hirst: In the darkest hours there may be light. Works from Damien Hirst’s MurderMe Collection. Kat Ausst. Serpentine Gallery. London 2006. 67 Alice O’Keeffe: Keeping it real. New Statesman Online vom 30. Oktober 2008.



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In den 1990er Jahren waren nach der ›private view‹ insbesondere der Groucho Club in Soho sowie Pubs in Hoxton im East End unter Hirsts Führung sehr frequentiert, bis dieser etwa 2002 Alkohol und Drogen abschwor. Insbesondere in Hoxton und Shoreditch eröffneten eine Vielzahl kleinerer und größerer Galerien, die nun zeitgenössische Künstler zeigten. Auch Hirsts Galerist Jopling verlegte 2000 seine White Cube Gallery, die viele bekannte YBAs vertrat, an den Hoxton Square. Durch die künstlerische Gentrifizierung durch Kreative aller Art stiegen mit dem Ansehen und der Attraktivität des Nachtlebens seit den 1990er Jahren auch die Mieten sowohl im East End als auch in den Docklands, weshalb die nächste Künstlergeneration nach weiter außerhalb, in den (Nord-)Osten von Hackney und Dalston zogen/ziehen, wo dieses Spiel von vorne begann. Um die Jahrtausendwende herum siedelte auch ein Mitte der 1970er Jahre in Bristol geborener, vormaliger Graffitisprüher nach London über, der seine illegalen Werke mit dem Pseudonym Banksy signierte. Im Anhang dieser Arbeit ist seine Kurzbiografie zu finden, in der die bekannten Quellen über seinen Werdegang erstmals kombiniert wurden. In seiner Heimatstadt war Banksy seit etwa 1994 durch seine illegalen Sprühereien bekannt geworden, die er ab 2000 auch in London und international verbreitete. Banksy arbeitete zunächst verstärkt in den mit Hilfe der YBAs gentrifizierten Künstlervierteln Hoxton und Shoreditch68, in denen er bald seinen Namen bekannt machte. Dort organisierte er (oft illegale) Ausstellungen und reiste in andere Metropolen, wo er an Gruppenausstellungen teilnahm und/ oder seine Werke im urbanen Raum anbrachte, darunter New York, Hamburg, Paris, Berlin, Melbourne, oder Los Angeles.69 In London lernte Banksy wohl noch im selben Jahr Damien Hirst kennen, der ihn bald förderte: »Damien Hirst has given […] [Banksy] an endorsement, and he’s been flown out to New York to paint Hotel rooms and to the Costa del Sol to jazz up a lap-dancing complex.«70 Banksy schätzte Hirsts Arbeiten früh und sah bereits dessen Solo-Ausstellung in New York 1996.71 Dieses Zitat lässt darauf schließen, dass sich beide zu diesem Zeitpunkt zumindest soweit kannten, dass der bereits etablierte und erfolgreiche Hirst dem aufstrebenden Graffitikünstler Banksy eine Empfehlung gab, wohl weil er sein Werk schätzte: »[Banksy] recieved a trail of commendations. ›Fucking fair play‹ was the response of Damien Hirst […]«72, schrieb die Bristol Venue schon im Februar 2000. Der junge, aufstrebende Underground-Künstler Banksy trifft den wenig älte68 Muir 2009, S. 175-180. 69 Vgl. Banksys Ausstellungsverzeichnis im Anhang. 70 Vgl. Mitchell 2000, S. 69. 71 Vgl. Robert Clarke: Seven Years with Banksy. London 2012. S. 54-56. 72 Nige Tassel: Graffiti Guerrilla Banksy [Interview]. In: Venue Bristol Nr. 463. Februar 2000, S. 26.



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ren, etablierten Kunstmarktkenner Damien Hirst. Dieser vermietet Banksy ein Atelier im East End.73 Wie im Kapitel »Keep It Spotless (Defaced Hirst)« genauer beschrieben, schufen beide Künstler 2007 und 2009 Gemeinschaftswerke. Dennoch gab (und gibt) es sicher Reibungspunkte zwischen Banksy und Hirst. In einem Interview von 2003 antwortet Banksy auf die Frage, ob er Teil des Kunst-Establishments werden wolle: »I don’t know. I wouldn’t sell shit to Charles Saatchi. If I sell 55,000 books and however many screen prints, I don’t need one man to tell me I’m an artist. It’s hugely different if people buy it, rather than one fucking Tory punter does. No, I’d never knowingly sell anything to him.«74 Dieses Zitat kann als Kritik am Kunstmarkt, jedoch auch indirekt an Hirst gesehen werden, der in der öffentlichen Wahrnehmung Saatchis prominenteste Entdeckung ist.75 Es ist nicht bekannt, wie Hirst und Banksy sich kennenlernten. Beide hatten jedoch früh Kontakte zu bekannten Vertretern der Musikszene, Banksy zu ebenfalls aus Bristol stammenden Trip-Hop-Größen wie Massive Attack und Portishead, Hirst zu Brit-Pop-Bands wie Pulp und Blur, mit denen er studierte. Für Blur drehte Hirst 1995 ein Musikvideo, zudem hatte er mit deren Bassist Alex James als PopBand Fat Les 1998 einen Top-Ten-Hit in den britischen Charts. Blurs letztes Studio-Album »Think Tank« von 2003 wurde von Banksy gestaltet. Hirst wie Banksy waren jedoch schon früher als Platten-Cover-Gestalter tätig, so Hirst 1994 für den bekannten Musiker Dave Stewart, der auch einen Song über Hirst schrieb.76 Banksy arbeitete um 1999 für das Plattenlabel »Wall of Sound«, für das er etwa zehn Cover gestaltete77, davor für Hombre Records in Bristol. Plattencover sind Werbung und Verpackung des Konsumprodukts Musik. Hirsts wie Banksys Kunst ist sehr von Werbung und Popkultur beeinflusst beziehungsweise mit dieser verwoben. Hirst ließ sich als Student von einer Publikation inspirieren, die in erster Linie Werbegrafiken wie Poster oder Magazinwerbung abdruckte. Banksy gestaltete Werbeflyer, wie viele Street Artists (nicht nur) in London um 2000 im gestalterischen Bereich tätig waren: »Die größte Gruppe der Street-Art-Subkultur besteht aus jungen Erwachsenen, die [...] mittlerweile Kommunikationsdesign, Grafikdesign, Illustration 73 Vgl. Colin Gleadell: Market news: Hirst buys and sells. Daily Telegraph Online vom 18. Oktober 2005. Unbestätigten Gerüchten zufolge vermietete Hirst Banksy zudem später ein Atelier im Südost-Londoner Stadtteil Vauxhall. 74 Simon Hattenstone: Something to spray. Onlineausgabe des Guardian vom 17. Juli 2003. 75 Ähnlich äußerte Banksy sich in Mark Robertson: Let us spray. In: The List. Glasgow and Edinburgh events guide. Ausgabe 408. 1-15. März 2001, S. 24. 76 Vgl. Richard Rosenfeld: How we met: Dave Stewart and Damien Hirst. Independent Online vom 9. Oktober 1994. 77 Vgl. Trevor Jackson: [alias The Boy Lucas]: Banksy [Interview]. In: [gratis Magazin] Gunfight 29. Ausgabe 3. 2000. Das Interview fand laut Gunfight am 16. März 2000 statt. O.O. O.S. Vgl. auch Mitchell 2000, S. 69.



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oder ähnliches studieren (oder bereits beendet haben) und nun Logos, Schriftzüge oder Characters in die Straßen kleben, plakatieren, sprühen oder malen.«78 Werbungsmacher und Street Artists sind oft die gleichen Personen, die zumindest ähnliche Ausbildungen mach(t)en und auf denselben Mauern und Flächen im öffentlichen Raum ihre Werke anbringen. Sie sind Konkurrenten, die sich gegenseitig beeinflussen, nicht nur was die am besten sichtbaren Spots, sondern auch was Inhalt, visuellen Stil und verwendete Medien anbetrifft. Banksy wandelt immer wieder Slogans oder Formulierungen ab, die aus der Werbung bekannt sind, so in »Fuck off* (*Terms and conditions apply)« oder »Now 10% more CRAP«. Zu Banksys »Turf War«-Ausstellung 2003 kommt auch Hirst79, der wohl im selben Jahr sein erstes Werk von Banksy kauft, das er 2006 mit zwei weiteren Banksys in der von ihm kuratierten Ausstellung »In The Darkest Hour There May Be Light« seiner eigenen Sammlung zeigt.80 Im Jahr zuvor kauft er den größten Teil von Banksys Ausstellung »Crude Oils« auf.81 Die Tatsache, dass ein weltweit erfolgreicher und etablierter Künstler und Turner-Preisträger in einer Ausstellung an der Seite von Größen wie Bacon, Koons und Warhol den illegalen Street-ArtKünstler Banksy zeigt, ist als positive Anerkennung von Street Art durch etablierte ›Galerie-Kunst‹ zu verstehen, obwohl es zugleich Hirst eine Plattform gab, sich als Visionär und Mäzen in der Rolle eines Kunstsammlers und Förderers wie Saatchi zu präsentieren. Der Anerkennungsprozess von Street Art wurde 2008 mit der Street-ArtAusstellung in der Tate Modern fortgesetzt, die erste ihrer Art in derart großem Rahmen. Drei der sechs Street Artists, die im Rahmen dieser Ausstellung an den Außenmauern der Tate Modern monumentale temporäre Werke anbringen durften, werden von der Lazarides Gallery vertreten: Blu, Faile und JR, die alle auch schon zuvor erfolgreich in kommerziellen Kunstgalerien ausstellten. Lazarides ist als langjähriger Freund, Fotograf und (seit 2007 ehemaliger) Agent Banksys durch diesen zu Erfolg gelangt und der finanziell erfolgreichste und einflussreichste StreetArt-Galerist Großbritanniens geworden. Nach Banksys überaus erfolgreicher Einzelausstellung in Bristol 2009, die ein Provinzmuseum mit einem Besucherstrom von über 300.000 Menschen überraschte82 (die größte YBA-Ausstellung in der Londoner Royal Academy hatte 1997 nicht 78 Julia Reineke: Street-Art. Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz. Bielefeld 2007. S. 105. 79 Vgl. Reinecke 2007, S. 59. 80 Vgl. Hirst 2006. O.S. 81 Vgl. Colin Gleadell: Market news: Hirst buys and sells. Daily Telegraph Online vom 18. Oktober 2005. 82 Vgl. BBC News Online: Banksy graffiti works enter world exhibition top 30. BBC News Online vom 31. März 2010.



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wesentlich mehr, was damals einen absoluten Rekord darstellte83) und seinem Oscar-nominierten Street-Art-Dokumentarfilm von 2010 beschlossen schließlich auch die großen amerikanischen Kunstmuseen, Street Art eine große Gruppenausstellung zu würdigen. »Art in the streets« im Museum of Contemporary Arts in Los Angeles eröffnete in April 2011 seine Pforten und ist 2012 auch im renommierten Brooklyn Museum in New York zu sehen, einen Raum gestaltete Banksy. Zur Anerkennung durch den Kunstmarkt trug nicht nur die ästhetisch-kritische Auseinandersetzung und Präsentation von Street Art durch das Kunst-Establishment bei, sondern zu einem großen Teil auch ihr finanzieller Erfolg:84 »When a thing is current it creates currency.«, schreibt McLuhan.85 Insbesondere im Zuge von Banksys »Barely Legal«-Ausstellung 2006 berichtete die internationale Presse über Verkaufsrekorde von Banksy-Leinwänden, sowohl im Online-Auktionshaus Ebay, wo seine von der Straße ›gestohlenen‹ illegalen Schablonen versteigert wurden als auch von großen Auktionshäusern wie Bonham’s oder Sotheby’s. Die Verkaufsrekorde von teils mehreren hunderttausend britischen Pfund für Banksys Werke hoben ironischerweise die Reputation der oft Konsum- und Establishment-kritischen Street Art.86 Dabei wird meist übersehen, dass es sich bei den versteigerten Werken oft um Wiederverkäufe des sekundären Markts handelt. Für Banksy hatten die großen finanziellen Erfolge nach »Barely Legal« und die damit einhergehende explodierende mediale Aufmerksamkeit, die zu zunehmenden Anfeindungen und Vorwürfen der Graffiti- und Street-Art-Subkultur führten, den Effekt, dass der sonst rastlos ausstellende (siehe Anhang: Banksys Ausstellungen und Aktionen) Banksy eine Ausstellungspause von fast 20 Monaten einlegte und offensichtlich eine Sinnkrise hatte.87 Der überwiegende Teil der britischen Presse wie etwa Kunstkritiker JJ Charlesworth kritisieren Banksy und andere Street Artists für diesen finanziellen Erfolg, so Lewinson: »More often than not [Banksys street art, Anmerkung UB] is discussed

83 »[T]he exhibition […] was visited by nearly 300,000 people, more than any previous contemporary art show.«, so BBC Online: Sensation sparks New York storm. BBC News Online vom 23. September 1999. 84 Vgl. Arte.tv: Banksy. Beitrag in der Arte-Sendung Tracks vom 31. Oktober 2009. 85 Zitiert bei Klein 2000, S. 71. 86 Der Street Artist Sweet Toof äußert sich in einer Video-Dokumentation der Tate Modern 2008 über Street Art folgendermaßen: People stop you on the street and ask you. Are you Banksy? They accept it [Street Art, Anmerkung UB] because of that thing that makes the world go round: Money.« Vgl. Cedar Lewisohn: Video-Dokumentation: Street Art. Tate Modern. London 2008. 22 Minuten. 87 Vgl. Banksy im Interview mit Lauren Collins: Banksy Was Here. The invisible man of graffiti art. The New Yorker vom 14. Mai 2007.



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by journalists in relation to sales prizes, the underlying implication being that it’s some kind of elaborate rip-off.«88 Dieser Kritikpunkt verbindet Banksy und erfolgreichere Street Artists mit Hirst beziehungsweise mit abstrakter oder konzeptueller Kunst, denen oft ähnliche Vorwürfe gemacht werden.

E)

W ARUM

NAHM

S TREET ART

GERADE UM

2000

ZU ?

Ende der 1990er Jahre gab es in London kaum Street Art, geschweige den Begriff. Von der seit 1989 laufenden Obey-Kampagne des Amerikaners Shepard Fairey inspiriert, begann der Brite D-Face laut Selbstaussage als einer der ersten etwa 1998, Street-Art-Poster anzubringen, nachdem er Obey-Poster in London gesehen hatte.89 Außer ihm seien damals nur das Kollektiv Toasters (ab Januar 1999) und der vom Graffiti kommende Solo One mit Stickern aktiv gewesen.90 In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends nahm Street Art in London wie in anderen Metropolen enorm zu. Zum einen war zu diesem Zeitpunkt die technische Entwicklung von Heim- wie Industrie-Druckern so weit fortgeschritten, dass Aufkleber und Plakate erschwinglicher herzustellen waren als noch wenige Jahre zuvor, vom Low Tech und selbst gemachter Optik entwickelte sich Street Art nun auf High-Tech-Level.91 Auch professionelle Bildbearbeitungsprogramme wie Adobe Photoshop fanden sich ab dieser Zeit immer mehr auf Heimcomputern. Das Internet wurde um diese Zeit zum Massenmedium, das Street Artists wie Graffitisprühern eine willkommene zusätzliche und dauerhafte Plattform zur schnellen, (auch) internationalen Verbreitung und Inspirationsquelle neben der Straße gab, zugleich jedoch genug Anonymität gewährleistete, um vor strafrechtlicher Verfolgung sicher zu sein. Banksy richtete seine Webseite etwa im August 2000 ein.92 In Zusammenhang damit ist auch die zunehmende digitale Fotografie zu nennen, auf deren Bedeutung an anderer Stelle detailliert eingegangen wird.

88 Cedar Lewisohn: Street Art. The Graffiti Revolution. Kat. Ausst. Tate Modern. London 2008, S. 120. 89 Vgl. Lewisohn 2008, S. 145. 90 Vgl. Elenor Mathieson und Xavier A. Tàpies: Street Art. The Complete Guide. 2009, S. 53. Toasters wiederum behaupten, erst seit 1999 aktiv zu sein. Vgl. Ebd. S. 164 und Manco 2002, S. 70. 91 Klein 2000, S. 285. 92 Vgl. http://web.archive.org/web/*/http://www.banksy.co.uk (Gesichtet: 5. März 2010).



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Ein weiterer Grund für die Zunahme von Street Art um 2000 ist laut Mathieson und Tàpies der oft als ungerechtfertigt angesehene Irakkrieg.93 Dieser Einfluss lässt sich laut Reineke jedoch erst ab 2003 feststellen.94 Wie in vielen anderen Orten der Welt protestierten in London etwa eine Million Menschen gegen den amerikanischen sogenannten ›War on Terror‹, den die britische Regierung mit Geld, Waffen und Soldaten unterstützte. Dieser Krieg wurde als ein Krieg um Öl gesehen, also um Rohstoffe und damit eher als ideologisch verbrämter Wirtschaftskrieg. Die häufig aus Protest eingesetzte Street Art spiegelt damit die Stimmung weiter Teile der Menschen in Großbritannien um 2000 wider, die von der verheißungsvollen NewLabour-Regierung Blairs enttäuscht waren, da sich diese als teils konservativer und kriegstreiberischer als der Thatcherismus erwiesen. »Many citizens’ movements have tried to reverse conservative economic trends over the last decade [i.e. 19902000, Anm. UB] by electing liberal, labor or democratic-socialist governments, only to find that economic policy remains unchanged or caters even more directly to the whims of global cooperations.«95 Prägend für die ersten Jahre des neuen Jahrtausends waren die damit in Verbindung stehenden Terroranschläge in London vom 7. Juli 2005 mit 56 Toten und über 700 Verletzten sowie die Anschläge vom 11. September 2001 und die damit einhergehenden Verschärfungen von Sicherheitsvorkehrungen, die oft als Überwachung und Ausspionierung wahrgenommen wurden. Laut Naomi Klein wurden schon in den 1990er Jahren in England alle Straßenaktionen kriminalisiert. Daher entstand dort die bald weltweit agierende »Reclaim the streets« (RTS)-Bewegung, die auch Banksy prägte: »In the early to mid nineties […] the lawmakers in Britain made raves all but illegal, through the 1994 Criminal Justice Act. The act gave police far-reaching powers to seize sound equipment and deal harshly with ravers in any public confrontations.«96 Um 1994 erschienen auch Banksys erste Werke auf der Straße. Politisiert wurde er etwa durch die Straßenkämpfe rund um die höchst umstrittene, geplante poll tax (Kopfsteuer), die Thatcher um 1990 einführen wollte.97 Banksy verarbeitet Fotos dieser Demo in seinem Gemälde »People di [sic!] every day«98 Die Ausschreitungen am Trafalgar Square am 31. März 1990 mit etwa 200.000 Demonstranten trugen indirekt zum Sturz Thatchers bei. 93 Vgl. Mathieson/Tàpies 2009, S. 7. Vgl. Dieselben: Street Art and the War on Terror: How the World’s Best Graffiti Artists Said No to the Iraq War. London 2007. 94 Vgl. Reineke 2007, S. 112. 95 Klein 2000, S. 341. 96 Ebd. S. 316 und 317. 97 Michell 2000, S. 68. 98 Vgl. Ulrich Blanché: Something to s(pr)ay. Der Street Artivist Banksy. Marburg 2010, S. 66.



74 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST »The deliberate culture clashes of the street parties mix the earnest predictability of politics with the amused irony of pop. For many people in their teens and twenties, this presents the first opportunity to reconcile being creatures of their Saturday-morning-cartoon childhoods with a genuine political concern for their communities and environment. RTS is just playful 99

and ironic to finally make earnestness possible.«

Was Klein 2000 über die »Reclaim the Streets«-Bewegung sagt, fasst im Grunde die Intention aller Werke Banksys wie die meiste Street Art pointiert zusammen. Politischer Aktivismus generell spielt oft eine Rolle bei Street Art, inhaltlich wie formal-technisch gesehen. Graffiti ist eher nur durch Letzteres (die Handlung an sich) politisch, nicht inhaltlich. Beides gilt für Banksy, dessen frühe GraffitiPieces oft nicht auf das elaborierte Schreiben seines Namens reduziert waren, sondern explizite politische Aussagen hatten, wie man in »All this noise« (Abb. 36) von 1999 sehen kann.100 Länger wirkende Einflüsse auf die rasante Zunahme von Street Art um 2000 sind zum Einen der Wechsel der seit Mitte der 1980er Jahre aktiven, nun erwachsen gewordenen Tagger und Graffiti Writer zur Street Art, weil sie die nun etablierten und eingefahrenen, klassisch gewordenen Graffitiregeln erweitern wollten. Graffiti, die sich von der Botschaft her primär an andere Spüher richten, werden von der Allgemeinheit meist als reiner Vandalismus wahrgenommen. Street Art dagegen hat auch für viele Nicht-Sprüher ästhetisch-künstlerischen Wert, weil sich die oft bildbasierenden Werke an die Allgemeinheit richten. Ein weiterer Grund für den Wechsel vieler Graffitiakteure zur Street Art liegt in der Tatsache, dass diese aufgrund ihrer Graffitisprühereien Schwierigkeiten mit der Polizei hatten, wegen der genannten verschärften juristischen Situation. Street Art ist im Gegensatz zu Graffiti nicht an die Sprühdose gebunden, für Poster und Aufkleber sind Strafen teils wesentlich geringer, da sie schneller zu entfernen sind. Auch sinkt bei Street Art die Wahrscheinlichkeit ertappt zu werden, da das Anbringen einer ausgearbeiteten Schablone wesentlich schneller vonstatten geht als ein detailliertes Piece freihand zu sprühen. Wer seinen Namen oder Logo bekannt machen will, kann dies mit Street Art auf wesentlich ökonomischere Art und Weise und schneller erreichen. Auch Banksy führte Letzteres als Grund an, zur Schablone zu wechseln.101 Auch die Werbeindustrie profitierte neben den billiger gewordenen Printmethoden zudem von Thatcher und dem Rückgang des Wohlfahrtsstaates, weil dies mit zunehmender Ökonomisierung zu einem quantitativen Explodieren von Werbeflächen führte. Dies wiederum, sowie der Irakkrieg, der von vielen eher linksorientierten Street Artists als ein Konsumkrieg um Öl gesehen wurde, löste eine Gegenreak99

Klein 2000, S. 312.

100 Vgl. das Unterkapitel ›Fernseher‹. 101 Vgl. Robin Banksy: Wall and Piece [2005]. London 2006, S. 13.



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tion oft antikapitalistischer und antikonsumistischer Street-Art-Botschaften aus, die schon rein formal gegen Konsum sind, da die Künstler nicht für Werbeflächen zahlen oder Waren verkaufen wollen.

F)

D IE E VENTISIERUNG

VON

K UNST

Was zugleich mit Banksy und Street Art in London nach 2000 zunahm, ist die Eventisierung insbesondere der Präsentation von Kunst. Man kann Hirsts »Freeze« und die erste Saatchi-Galerie als Beginn dieser Tendenz sehen. Blazwick beschrieb den Weg zu Letzterer als Abenteuer. Die Dramatisierung der Ausstellungssituation findet sich in der Underground-Atmosphäre des leerstehenden Lagerhauses im heruntergekommen Londoner Hafenviertel der »Freeze«-Ausstellung wieder. Den dramatischen Aspekt, um zu einer Kunstausstellung Anfang der 1990er Jahre zu kommen, beschrieb auch Stallabrass. Saatchi und später die YBAs wollten Kunst an ungewöhnlichen Orten zeigen, indem sie meist ehemals kommerziell genutzte Orte zu Galerien umfunktionierten und als Kontrastfolie für ihren Protest gegen die ›spießigen‹ Galerien in der Cork Street zu benutzen. Zugleich zwang die fehlende Kunstförderung zu Zeiten Thatchers Künstler aus finanziellen Gründen, derartige Orte zu wählen und aus der Not eine Tugend zu machen. In der Ortswahl war schon damals die zunehmende Kommerzialisierung von Kunst abzulesen, so war die erste Saatchi-Galerie vorher bezeichnenderweise eine Farbfabrik, die YBA-Ausstellungsräume meist warehouses. Der englische Begriff warehouse betont mehr die gelagerten Konsumgüter und erinnert ans deutsche Warenhaus, während die deutsche Übersetzung (Lagerhaus) eher einen Fokus auf die Tätigkeit des Aufbewahrens setzt. Banksy inszenierte 2000 eine illegale Ausstellung unter einer Brücke im Künstlerviertel Shoreditch, 2003 wählt er für seine »Turf War«-Ausstellung ein Lagerhaus im Osten Londons. Der genaue Ort wurde, um den Event noch ›aufregender‹ zu machen, erst kurz vorher enthüllt. Auch Banksys übrige Ausstellungen sind, wie in dieser Untersuchung gezeigt wird, eher als Gesamt-Happenings zu sehen, wo die Werke nur ein Teil der künstlerischen Erfahrung sind. Hirst und Banksy trugen den Zeichen der Zeit Rechnung, die besagten, dass Kunst nicht auf die verkrusteten öffentlichen Institutionen warten/vertrauen konnte, die durch zunehmende Privatisierung und drohende Zuschusskürzungen Angst vor Experimenten und Neuerungen hatten. Stattdessen muss man als Künstler wie Betrachter zu einer unter ›Selbstoptimierungszwang‹ stehenden Ich-AG oder einem Künstler-Unternehmer werden, der alle Funktionen in sich vereint und kontrolliert: Kunstschaffender, Kurator, Vertrieb, Presse- und Öffentlichkeits-arbeit und teils sogar Kunstsammler. »The effect of the new art and its form of display was a decided shift of power away from art-



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world professionals in the public sector (institutional curators and academic writers) to the artists themselves, their dealers, freelance curators and the mass media.«102 Banksy und Hirst sind sich bewusst, dass sie in einer Gesellschaft des Konsumspektakels leben, daher verstärken sie den Event-Anteil, das ›Drumherum‹ des Kunstwerkes, so dass dieses untrennbarer und teils hauptsächlicher Bestandteil des Werkes wird. »The best pieces were often those that found some way to respond to the environment.«, schreibt Stallabrass über die YBAs.103 Diese Aussage gilt auch für Street Art und insbesondere für Banksy und andere Street Artists, bei deren Kunst der Kommentar zum tatsächlichen wie sozialen Ort und die Umstände der Anbringung/Herstellung einen großen Teil der Aussage und Qualität der Werke ausmachen.104 Nicht nur die Ausstellungssituation spiegelt die neue Kommerzialisierung der Kunst wider, auch die Herstellungs- und meist zugleich Wohnorte der Künstler, in London etwa das ehemalige Industrieviertel Hackney Wick, das in den letzten Jahren zur Künstlerkolonie wurde105: »Der Kunstbetrieb ist eine ‚informelle Nischenökonomie‘ (Isabelle Graw); geregelte Arbeitsverhältnisse sind hier selten, Selbstausbeutung ist die Regel. Die Kunstproduktion nistet nicht zufällig meist in Industriebrachen – dort, wo früher Fließbandfabriken mit Stechuhren zuhause waren, breitet sich heute das postindustrielle Kreativitäts-Prekariat aus in Form kleiner Handwerksbetriebe, gerne auch mal 24 Stunden am Tag, denn Schlaf ist hier ein Lu106

xus, und die nächste Biennale wartet schon.«

Kunst, der Künstler selbst wie auch der Betrachter sind zur Ware geworden, was in der Kunst und ihren Herstellungs- wie Ausstellungsorten augenscheinlich wird. Sie reflektiert die Welt um sich herum, die eine Konsumkultur ist. Obwohl die heutige Gesellschaft (nicht nur in London) mehr eine Konsumgesellschaft ist als die (bildungs-)bürgerlich geprägte Gesellschaft, die sie noch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war, beeinflusst diese weiterhin unsere Vorstellung von Kunst wie Künstler:

102 Stallabrass 2006, S. 61. 103 Ebd. S. 50. 104 Vgl. Sybille Metze-Prou und Bernhard van Treeck (Hgg.): Pochoir. Die Kunst des Schablonengraffiti. Berlin 2000, S. 119. 105 »From Chelsea to Camden Town, Clerkenwell to Shoreditch, arty-farties have a neat nose for squirrelling out the gentrified burbs of the future, but with even Dalston gone posh, where’s a penniless artist to suffer now? The Wick.« Tom Dyckhoff: Let’s move to ... Hackney Wick, east London. In: The Guardian Online vom 27.September 2008. 106 Liebs 2008.



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»Die bürgerliche Gesellschaft erschuf sich den Künstler aber als marktfern und misanthropisch, als idealistischen, armen Tropf, der irgendwann nach seinem Tode museal geadelt wird. […] Aus dieser Legende vom artiste maudit [kursiv im Original] speist sich noch die heutige Marktkritik, welche den Künstlern ihren [insbesondere finanziellen, Anm. UB] Erfolg 107

vorwirft.«

Banksys und Damien Hirsts dazu oft konträre künstlerische Positionen lassen sich am deutlichsten hinsichtlich ihres Umgangs mit dem Thema Konsum herausarbeiten.

107 Liebs 2008.



4) Banksy

A)

S TREET ART L EGAL

VERSUS ILLEGAL

Der Akt des illegalen Anbringens ist Teil der Definition von Street Art1 und ein Kommentar zu Kapitalismus und Konsum generell, weil er zunächst für nichts verkaufsfördernd und damit autonom im Gegensatz zu ›Gallery Art‹ ist, wo der Künstler sich Verkauf erhofft.2 Nicht-illegale Kunst im öffentlichen Raum ist entweder kommerziell, also Auftragskunst, wurde mit Einverständnis des Besitzers auf dessen Eigentum angebracht oder im Nachhinein für legal erklärt. Die engere oder weitere Auffassung des Begriffes Street Art ist an deren kommerzielle Verwertbarkeit geknüpft. Wer (bezahlte) Auftragskunst schafft, steht schnell im Ruf, ›nur‹ Vorstellungen des Auftragsgebers auszuführen und nicht (oder vermindert) selbst frei und kreativ in Erscheinung zu treten. Als Street Art zählt im engeren Sinne alle Kunst im urbanen Raum, die nicht von Autoritäten wie Geldgebern, Hausbesitzern oder dem Staat durch Geschmack oder Gesetz beschränkt ist, Kunst, die also niemandem direkt kommerziell dient.3 Dies geht so weit, dass sie nicht einmal dem Künstler selbst kommerziell nutzen darf, da er sich sonst den Vorwurf von Street-Art-Puristen anhören muss, er betreibe ›nur‹ Werbung für sich selbst (obwohl dies immer auch der Fall ist). Indem sich der Street-Art-Künstler (in der Theorie) aus dem ›Konsumkreislauf ausklinkt‹, kann er diesen behandeln, ohne in den Geruch der Doppelmoral zu kommen, Konsum zwar zu kritisieren, zugleich jedoch selbst zumindest indirekt Werbung für seine eigene, ebenfalls verkäufliche Kunst zu machen.

1

Vgl. Blanché 2010, S. 14-15.

2

Zumindest nicht auf kurze Sicht. Nicht nur im Falle Banksys oder Shepard Faireys führten die Arbeiten auf der Straße mit der Zeit dazu, dass Banksys Drucke und Bücher sich gut verkauften.

3

Siehe vorhergehende Fußnote. Auch fördert im Fall von Bristol oder London etwa Banksys Street Art teils den Tourismus.

80 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

Die meisten Street-Art-Künstler, und so auch Banksy, standen/stehen früher oder später vor dem Konflikt, einerseits von ihrer Kunst leben zu wollen, andererseits aber ihre meist antikonsumistischen Prinzipen zu verraten und ihre Street Credibility, also ihren Ruf unter Gleichgesinnten zu verlieren.4

B)

S TREET ART

UND

W ERBUNG

Werbung verwendet in erster Linie »truisms, clichés and commonplaces«5, was oft ironisch überspitzt, jedoch auch ernsthaft und affirmativ in Street Art gespiegelt wird. Oft mach(t)en Street-Art-Künstler, wie erwähnt, Ausbildungen in Grafikdesign oder Bildender Kunst, arbeiten zum Broterwerb in Werbeagenturen oder ähnlichen Betrieben, die sich auf die visuelle Seite von Vermarktung spezialisierten. Dies spiegelt sich oft in ihrer Kunst wider. Diese teilt sich Mauern mit anderen Zeichen des urbanen Raumes, hauptsächlich mit Werbung und Verkehrsschildern, mit denen es formal wie inhaltlich zu Wechselwirkungen kommt.6 So arbeiten etwa Street Art und offizielle Schilder mit der Wiederholung von Logos oder signifikant wiedererkennbaren optischen Stilen. (Nicht nur Banksys) Street Art bezieht sich formal wie inhaltlich auf Werbung und andere Botschaften des urbanen Raumes, mehr als die oft destruktiven Graffiti. Wie ihre kommerzielle Schwester, die Werbung, oder ihre politische, die Propaganda und der Aktivismus7, will Street Art ein größeres Publikum erreichen. In Gegensatz zum Graffiti überwiegt daher der Bildteil, nicht das kunstvolle Schreiben des eigenen Namens. Auch dieser Umstand kann auf die Zunahme von kommerziellen Botschaften im öffentlichen Raum zurückgeführt werden, die laut Ullrich immer mehr bildbeherrscht sind: »Die Unbestimmtheit vieler Konsumgüter steigerte

4

Banksy hatte bereits 2003 mit dem Sell-Out-Vorwurf zu kämpfen.

5

Joan Gibbons: Art and Advertising. London New York 2005, S. 7.

6

So lehnte sich die Werbekampagne zu dem deutschen Kinofilm »Free Rainer – dein Fernseher lügt« an Street-Art-Aufkleber an, indem massenhaft der Untertitel »dein fernseher lügt« als Sticker neben tatsächlichen – unkommerziellen – Aufklebern in gentrifizierten Stadtteilen deutscher Großstädte wie Kreuzberg in Berlin oder dem Schanzenviertel in Hamburg verteilt wurde. Ähnliches geschah 2006 bei der Werbung zu dem amerikanischen Kinofilm »Borat«.

7

Unter Brandalism, Ad Busters oder Kommuniktionsguerrilla versteht man Gruppen von Street-Art-Aktivisten die Werbung im urbanen Raum manipulieren, um so auf deren manipulative Wirkung und Allgegenwärtigkeit aufmerksam zu machen. Vgl. Blanché 2010, S. 73.

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sich in den letzten Jahrzehnten ferner dadurch, daß Marketing und Werbung stärker als früher auf Bilder setzen.«8 Der Street Artist verwendet meist schnell und in großer Stückzahl reproduzierbare Stencils, Poster oder Sticker, die im Vergleich zu einem ausgefeiltem GraffitiPiece wenig Zeit brauchen, da die kreative Ausführung nicht erst an Ort und Stelle stattfindet, sondern Vorarbeiten erfordert – etwa das Ausschneiden der Schablone oder das Drucken der Sticker/Poster im Studio. Obwohl Street-Art-Botschaften oft Konsum kritisieren, verwenden viele Street Artists die Marketing- und Werbemethoden des Kapitalismus: Shepard Faireys Obey the Giant-Kampagne ist ohne weiteres mit einer groß angelegten, internationalen Werbekampagne eines Konzerns vergleichbar und wurde schließlich tatsächlich zu einer.9

C)

Q UALITÄTSMERKMALE UND VON S TREET ART

AUSDRUCKSMITTEL

Parallelen zwischen Werbung und Street Art oder Graffiti lassen sich teils auch finden, wenn man ihre Qualitätsmerkmale untersucht. Ein guter tag (der GraffitiTerminus wird auf Street Art übertragen) ist wie ein gutes Logo, ein zentraler Bestandteil von Werbung: es ist schnell und leicht verständlich/lesbar, unverwechselbar, einprägsam im Sinn von einfach und kurz, leicht und schnell reproduzierbar und verliert auch in unterschiedlichen Größen, ein- oder mehrfarbig-elaboriert nicht an Wirkung. Dabei kann der tag wie bei Banksy wie eine Wortmarke nur aus Buchstaben einer bestimmten, (bei Graffiti) am besten selbst geschaffenen Typografie sein, bildliche Elemente enthalten oder ganz Signet sein. Die von Banksy verwendete Schriftart Orbit B BT erinnert an alte Schablonen-Schriftarten, wie etwa TeaChest, die für öffentliche Hinweise oder kommerzielle Beschriftungen (etwa von Tee-Kisten) verwendet wurden.10 Banksy erweist dieser formschönen wie praktischen Typografie und ihrer Geschichte Referenz, was zugleich als ironischkritischer Kommentar zu diesen Schriftarten gesehen werden kann, da diese viel für autoritäre Hinweise oder kommerzielle Güter verwendet wurden, beides Dinge die Banksy ablehnt – zumindest karikiert er das in diese gesetzte Vertrauen. Ein guter Graffiti tag ist häufig nicht länger als fünf Buchstaben (Banksys Name ist fast zu lang), die nicht zu kompliziert (das heißt zu langwierig) zu sprayen sein sollten und an einer Wand zusammen visuell harmonisch aussehen sollten. Der tag

8

Vgl. Reiner Gries: Produkte als Medien: Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig 2003, S. 78-80.

9

Vgl. Blanché 2010, S. 36-37.

10 Ebd., S. 33, 51.

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sollte für seine Zielgruppe schnell und klar erkennbar sein und zugleich so individuell, dass er kaum an den Stil anderer erinnern sollte. Wie bei Werbung oder einem Markenzeichen gilt für Street Art: je mehr, größer und kreativ-variierter der tag, desto besser. Insbesondere wenn es sich (wie bei Graffiti häufig) um ein Mitglied einer Crew oder eines Kollektivs handelt, ist es zudem ein Qualitätsmerkmal, wenn der tag gut und vielfältig mit anderen Street-Art-Werken und tags kombinierbar ist, da Interaktion häufig (gewünscht) ist. So kombiniert Sweet Toof, Mitglied der Londoner Burning Candy (BC) Crew, sein tag, ein menschlicher rosa (sweet) Kiefer mit Zähnen (toof, was gleichlautend mit tooth ist, jedoch, anarchistischer klingt und schneller zu schreiben ist.) oft mit dem aufgerissenen Krokodil-Maul seines BC-Kollegen Rowdy oder dem Affenkopf von Mighty Mo[nkey] (ebenfalls BC). Handwerkliche Qualitätsmerkmale von Street Art zeigen sich beim Material oder den Ausdrucksmitteln, was weniger für Werbung zutrifft. »Although street artists often use narrative or recognizable images to make their work accessible and populist, their ›material oriented‹ approach reflects some of these issues. The materials they choose become a factor in the meaning of the work.«11 So gilt die Verwendung von Schablonen unter Graffiti-Sprühern als weniger mutig und handwerklich gekonnt, weil diese als schneller herstellbar gelten und in kurzer Zeit anbringbar sind, und daher die Wahrscheinlichkeit einer Verhaftung auf der Straße minimieren. Bei Stencils gilt, je detaillierter und größer und je mehr Farben (und damit mehr einzelne Schichten und mehr Arbeitszeit), desto besser. Street Artists übertragen den Graffiti-Vorwurf des ›einfacher-ist-feiger‹ auf das paste up, das noch mehr Kontrolle im Vorfeld verspricht und damit, so wird unterstellt, weniger handwerkliches Können erfordert. Noch weniger handwerkliches Können (außer der Beherrschung von Bildbearbeitungsprogrammen) erfordern gedruckte, kopierte Poster oder Sticker. Generell gilt, je mehr selbst gemacht wird und je kostengünstiger, desto angesehener. Viele Street Artists verwenden verschiedene Medien gleichzeitig oder Mischtechniken und zeigen damit, dass sie alle beherrschen, auch dies gilt für Werbung. Wie schon mehrmals erwähnt, ist zudem die Ortswahl ein Qualitätsmerkmal, sowohl was die gute Sichtbarkeit, Dechiffrierbarkeit (was auch für Werbung gilt) und Dokumentierbarkeit der Werke betrifft, als auch, was oft damit verbunden ist, der Grad der Schwierigkeit, wie dieser Ort zu erreichen ist und die Bezugnahme des Werkes auf den Ort. Dieser Punkt führt zum nächsten, der kreativen Ausführung. Künstler wie Banksy oder Blek haben eher einen signifikanten Stil, der wie ein Logo funktioniert, statt eines dominant benutzten tags. Beide verzichteten nach einer Weile sogar nahezu ganz auf ihren tag. Auch diese Entwicklung hat Parallelen in der Werbung, etwa die Zigarettenmarke Marlboro verwendet Werbung, die auf Produkt wie Logo ganz verzichten kann. Der Stil dieser Street Artists ist so bekannt, dass, im Falle Bank11 Lewisohn 2008, S. 107.

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sys, sich dessen Schwächen sogar zu Erkennungsmerkmalen etablierten: Banksy hat etwa oft Schwierigkeiten mit der Darstellung von Händen und Füßen (oder hält letztere für überflüssig), sowie mit der Interaktion von mehreren Figuren. Jedoch gehört Banksy nicht (wie die genannten BC-Crew-Mitglieder) zu den Quantitäts-Street-Artists, die im Grunde eine Idee, ihren elaborierten tag in Variationen, immer und immer wieder sprühen, was etwa mit der seit Jahren nur in Details variierten Lucky Strike Werbung vergleichbar ist. Ein quantitatives tag passt überall und nirgends hin, Banksy kann dagegen immer neue individuelle Ideen für immer neue individuelle Orte gestalten oder umgekehrt, einen passenden Ort zu einer Idee suchen. Dennoch wird seine Arbeit immer noch als seine erkannt. Auch die Verwendung wagemutiger, eher unüblicher und seltenerer Street-Art-Techniken, -Variationen und Mittel wie etwa Skulpturen oder Aktionen zeigen Virtuosität. Banksy beherrscht all dies wie kein anderer, was neben seinem Gespür für Marketing- und Organisation der Grund für seine herausragende Rolle ist.

D)

W ER

BETRACHTET

S TREET ART ,

UND WO ?

Banksys illegal auf der Straße angebrachte Stencils haben das Ziel, eine sofort verständliche Botschaft an einen Passanten-Betrachter zu bringen. Im Gegensatz zu den anderen in dieser Untersuchung behandelten Werkgruppen kann man in diesem Kapitel, wie schon erwähnt, weniger von üblichen Kunstbetrachtern sprechen, da Leute auf der Straße diese normalerweise nicht als Freiluft-Galerie begreifen, sondern versuchen, schnell von A nach B zu kommen. Daher ist hier das Ziel von Banksys Stencils erst in zweiter Linie, genau betrachtet zu werden. In erster Linie wollen sie – wie Werbung auf der Straße – unmittelbar Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die im Folgenden behandelten Werke sind zunächst einfarbige Schablonen auf hellem Untergrund. Jede weitere Farbe kostet wertvolle Zeit und erhöht das Risiko ertappt zu werden. Zudem ist es bei diesen oft kleinformatigen Stencils eher das Ziel, viele in kurzer Zeit anzubringen, um schnell eine große Zahl Passanten anzusprechen. Diesen Ansatz vertrat Banksy insbesondere in seinen frühen Jahren, wo er eher durch quantitative Arbeit auf der Straße bekannt zu werden versuchte. Mittlerweile ist sein getting-up auf der Straße erreicht, daher verlegte er sich etwa 2003 darauf, (fast) völlig auf seinen Namensschriftzug zu verzichten und seine Autorenschaft fast nur noch durch Veröffentlichung von Fotos auf seiner Webseite zu verifizieren.12

12 Eventuell verzichtet Banksy auch auf den tag, weil andere Street Artists oder insbesondere Graffiti-Sprüher seinen kommerziellen Erfolg als Ausverkauf sehen und seine Werke

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Zweitens verlegte sich Banksy ebenfalls ab etwa 2003 darauf, mehr großformatige, vielfarbige und komplexere, stark ortsbezogene illegale Werke an spektakulären Orten zu fertigen, als kleine, signierte, einfarbige, leicht verständliche in großer Stückzahl zu verbreiten, die nicht immer einen expliziten Ortsbezug haben. Banksy erreicht seitdem wesentlich mehr Betrachter über gezielte Medienpräsenz als tatsächlich auf der Straße, da es sich eine kleine elitäre Gruppe (sowieso schon) Kunstinteressierter zur Aufgabe gemacht hat, die neueste Street Art zu entdecken, zu fotografieren und (übers Internet) zu verbreiten, was wiederum eine größere Menge an Betrachtern dazu bringt, genau zum beschriebenen Ort zu gehen und ein Trophäen-Foto zu machen. Die Eventisierung und damit einhergehende Kommerzialisierung von (Straßen-)Kunst geht bei Banksy so weit, dass es für London einen nicht autorisierten, käuflich zu erwerbenden Führer in Buchform – »Banksy Locations and Tours« mittlerweile in der vierten Auflage gibt.13

E)

B ALKENCODE – »B ARCODE L EOPARD « (2000)

Der illegale Stencil »Barcode Leopard« wurde von Banksy nicht offiziell so benannt, obwohl er Fotos auf seiner Webseite (als barcode.jpg) wie in seinen Büchern veröffentlichte, wo meist jedoch nur eine Jahreszahl und ein Ort angegeben waren. Der alternative Titel dieses Werkes lautet »Tiger economics« und leitet sich von Tristan Mancos Buch »Stencil Graffiti« ab.14 Obwohl es sich offensichtlich um einen Leoparden statt einem Tiger handelt, wird in dieser Untersuchung auch der Titel »Tiger economics« verwendet, da man ihn auch oft irrtümlicherweise als »Barcode Tiger« benannt findet.15 Die Schablone (Abb. 1) zeigt einen Leoparden, der auf den Passanten/Betrachter mit leicht geöffnetem Maul zutrottet. Nicht weit hinter ihm steht ein LKWAnhänger, auf dessen Ladefläche der vergitterte Käfig des Leoparden steht. Die Gitterstäbe sind zugleich ein Balkencode. Sie sind an einer Stelle auseinandergebo-

mutwillig zerstören, was in großer Zahl insbesondere seit 2003 der Fall ist. Vgl. Blanché 2010, S. 115-123. 13 Vgl. Martin Bull: Banksy Locations and Tours. London 2006, 2007, 2008, 2010. 14 Vgl. Manco 2002, S. 76. Manco, früher selbst Sprüher, stammt wie Banksy aus Bristol und wird in dessen »Wall and Piece« als Urheber von einigen Fotos genannt, stand also im direkten Kontakt mit Banksy. 15 Wohl wählte Banksy keinen Tiger, obwohl dieser das bekanntere Raubier ist, weil TigerStreifen im Gegensatz zu dem gefleckten Leoparden wohl zu sehr mit den Streifen des Strichcodes korrespondieren und damit diesem zu ähnlich wären. Banksy will jedoch gerade den Kontrast zwischen beiden ausdrücken.

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gen worden, so dass Platz wurde, um dem Leoparden die Flucht zu ermöglichen. Banksy gestaltete diesen etwa DIN-A-3-großen Stencil etwa 2000 in London und Bristol.16 Abb. 1: Banksy, Barcode Leopard (Stencil), 2000.

Quelle: Banksy 2006. S. 90.

Ein Leopard steht wie alle Raubkatzen für Durchsetzungskraft, Gefahr und gleichzeitig Eleganz. Eine zusätzliche Bedeutung des englischen Wortes bar neben Balken ist Gestänge oder Gitterstab. Eingesperrt ist ein Leopard schön anzusehen, außerhalb seines Strichcode-Käfigs wird er insbesondere für den Besitzer des Strichcodes gefährlich, an dem er sich rächen wollen könnte.17

16 Vgl. http://www.flickr.com/photos/biblicationz/4025694463/in/pool-651750@N23 (Gesichtet: 17. Januar 2010). Ein Exemplar war im Januar 2009 noch in Bristol zu sehen. Vgl. http://www.flickr.com/photos/eddiedangerous/3182711551/ (Gesichtet: 14. Januar 2010). er war in den Jahren bis 2003 auch in Manchester und Barcelona zu finden. Vgl. http://www.duncancumming.co.uk/photos.cfm?photo=2565 (Gesichtet: 14. Januar 2010). Siehe auch Banksy 2006, S. 90 und Banksy 2001. O.S. 17 Banksy verwendete den Tiger-Stencil auch unabhängig vom Barcode. Vor diesem Tiger laufen zwei ebenfalls schablonierte Polizisten weg. Vgl. Abb.S. 38 in Steve Wright: Banksy’s Bristol. Home Sweet Home. Bath 2007.

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Abb. 2: Anti-Volkszählungs-Stencil, Köln 1987.

Quelle: Metze-Prou/van Treek 2000. S. 157.

Das relativ neue Motiv des Strichcodes lässt an Einkaufen, Konsumieren und Geldausgeben denken. Der Barcode befindet sich seit seiner Einführung Mitte der 1970er Jahre auf fast allen Konsumgegenständen, die an einem Kassenschalter bezahlt werden.18 Er repräsentiert durch seine Allgegenwärtigkeit auf Waren ›Konsum‹ und wurde eingeführt, um Konsum noch schneller vonstatten gehen zu lassen und um Profit zu steigern: Durch die sekundenschnelle Einlesung mittels Scanner kann an der Supermarktkasse wesentlich mehr in kürzerer Zeit verkauft werden, Personal gespart werden und Gewinn maximiert werden. Zugleich wird der Einkauf maschineller und unpersönlicher.19 Im Deutschen heißt barcode Balkencode, was sich auf die Darstellung von unterschiedlich dicken, gleich langen Strichen oder Balken bezieht. Der Strichcode enthält hier zudem eine Klartextzeile mit der Zahlenkombination »31454 31762«.20 Der Balkencode wurde im Grafikdesign schon

18 Rosenbaum 1997. 19 Seit der Inbetriebnahme von sogenannten Self Checkouts in Großbritannien hat der Strichcode viele Supermarktkassierer ersetzt. 20 Diese Zahlenkombination hat die Funktion, dass, wenn das Barcode-Lesegerät, den Code nicht lesen kann, man diesen manuell eingeben kann, um die gewünschten Infos wie Produktbezeichnung und Preis zu erhalten. In Banksys Stencil hat er wohl keine tiefere Bedeutung, sondern ist willkürlich gewählt. Die Fachausdrücke zum Barcode stammen aus Oliver Rosenbaum: Das Barcode-Lexikon. Bonn 1997.

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1984 etwa für eine Ausgabe des George-Orwell-Romans »1984«21 verwendet sowie in der Street Art im Zuge des Boykotts der Volkszählung in Deutschland 1987 (Abb. 2).22 Wie der Strichcode Daten über das Produkt birgt, speichern Staat wie Konzerne Daten über Bürger und Konsumenten, um diese je nach Sichtweise zu schützen/auszuspionieren oder maßgeschneidert mit den passenden Konsumprodukten auszustatten/zu manipulieren. Der Leopard hat sich aus dem ›Gefängnis des Konsums‹ befreit. Er schaut den Passanten direkt an und dient diesem als positive Identifikationsfigur, die jedoch gefährlich werden kann, doch für wen? Zum einen für diejenigen, die ihn ins Konsumgefängnis steckten, die großen Konzerne etwa. Wie schnell aus Autoritäten/Jägern Gejagte werden können, zeigt Banksys Doppelverwendung des Leoparden in einer anderen Stencil-Kombination (Abb. 3). Hier laufen zwei Polizisten vor dem Raubtier weg, die wiederum an anderer Stelle selbst Jäger oder Gejagte eines Strichmännchens werden.23 Diese Beispiele illustrieren Banksys Motiv-Recycling in immer leicht unterschiedlichen Kontexten. Ullrich spricht analog dazu von der Multioptionalität von Bildern in der Werbung: »Vielmehr erlangt […] [das Bild, Anm. UB] erst in einem Kontext eine gewisse Bestimmtheit und paßt sich dem Tenor seiner Umgebung dann sogar fast beliebig an. Multioptionalität, sonst als Eigenschaft des postmodernen Konsumenten hervorgehoben, wäre der Begriff, mit dem sich das Spezifische von Bildern am besten benennen ließe. Dadurch kann ein Bild als Projektionsfläche fungieren: Die Phantasien des individuellen Betrachters ergänzen es – so wie es ihn umgekehrt stärkt, ja gerade erweitert und nicht einschränkt. Individualisierung und der gestiegene Stellenwert von Bildern fördern sich also wechselseitig.«

24

Auch der Strichcode ist so ein Bild. Hier wurde es als Symbol für Datenmissbrauch und Überwachung durch den Staat verwendet, da beim Zensus viele Daten erhoben und gespeichert werden. In Zusammenhang mit Orwell kann man den Strichcode mit der Allmacht des Staates assoziieren, der die Bürger überwacht. Der Leopard bei Banksy entkommt der Datensammelwut von Staat und Konzernen. Er bricht aus, wird Individuum, ist nicht mehr ›nur eine Nummer‹ auf einem Strichcode. Aufgrund der ebenso individuellen, bewusst gelebten Anonymität Banksys kann man dieses Tier als sein Alter Ego sehen. 21 George Orwell: 1984. [Cover]. Frankfurt/Main, Wien 1984. 22 Vgl. Metze-Prou/van Treek 2000, S. 157 und George Orwell: 1984. [Buchcover]. Frankfurt/Main, Wien 1984. 23 Vgl. etwa die Banksy-Arbeit Stick man Police (Stencil) Bristol 2000. Foto von Simon Chapman. Vgl. Mitchel 2000, S. 67. 24 Ullrich 2006, S. 43 und Annette Schüppenhauer: Multioptionales Konsumentenverhalten und Marketing. Wiesbaden 1998.

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Abb. 3: Banksy, Tiger Police (Stencil), Bristol 2000.

Quelle: Don Pedro. http://www.flickr.com/photos/donpedro/ 1439055693/in/pool-651750@N23 (Gesichtet: 12. März 2011).

Konsum engt wie ein Gefängnisgitter ein, womit diese Übersetzung von bar Sinn macht. In Kombination mit der Kreditkarte hat der Barcode Einkaufen abstrakt gemacht. Durch diese unbe-«greifliche« Abstraktion kann in kürzester Zeit wesentlich mehr Geld ausgegeben werden als mancher besitzt. Dadurch werden viele leichter in der ›Schuldenfalle‹ gefangen. Der Leopard hat den Ausbruch aus dem Konsumkäfig geschafft. Banksy demonstriert zum Einen, dass ein derartiger Konsumkäfig existiert. Zum Anderen zeigt er, dass ein Ausbruch möglich und nötig ist. Der Konsument ist nicht machtlos dem Konsum gegenüber, kann und soll sich von ihm befreien und seinen Unterdrücker angreifen. Unter dem alternativen Titel »Tiger economics« versteht man auch schnell wachsende Ökonomien wie Südkorea oder China, die in den letzten Jahren stark aufholen, was westlichen Lebensstandard anbetrifft. Dies geschieht häufig auf Kosten der Umwelt sowie billiger Arbeitskräfte.25 Banksys Werk deutet diesen Wirtschaftsbegriff auf ironisch-konsumkritische Art neu und plakativ um. Dass reale Leoparden selbst ungewollt Konsumprodukte sein können, wird im Kapitel »The Village Pet Shop and Charcoal Grill« behandelt.

25 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Tiger_Economies (Gesichtet: 22. Januar 2010).

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F)

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G ELD – »C ASHPOINT « ( CA . 2001-2005) Abb. 4: Banksy, Cash+Plus (Graffiti), London 2001.

Quelle: Banksy 2001. O.S.

Das Konsum-Motiv des Geldautomaten verwendete Banksy erstmals um 2001 (Abb. 4), wo er freihand einen etwa real großen Trompe-l’Œuil-Geldautomaten mit der Aufschrift »Cash & Plus« an die Kings Cross Post Office in London sprühte. Aus dessen Inneren kommen drei riesige Krakenarme, die einen Jungen umschlingen und hochheben, der gerade mit seiner Geldkarte abheben wollte. In der anderen hält die Krake einen Schlagstock, mit dem sie offensichtlich den Jungen verprügeln will. Daneben bellt ein gesprühter Hund, wohl der des Jungen. Der dritte Tentakel ist nur mit dem Schlagarm verschlungen. Neben dem mit Banksys tag signiertem Werk steht »Let’s dispense with formalities« (Lasst uns von Förmlichkeiten Abstand nehmen).26 Diese Inschrift spielt auf die Doppeldeutigkeit des Wortes dispense an, dass auch ›Geld abheben‹ bedeuten kann; wenn es um Geld geht, ist in einer Konsumgesellschaft schnell ›Schluss mit höflich‹. Auch der englische Begriff hole in the wall für Geldautomaten erfährt hier eine zweite, ironisch-bedrohliche Bedeutung. Eine zweite Version (Abb. 5) sprühte Banksy 2003 in Kopenhagen im Rahmen einer Ausstellung direkt auf die weiße Galeriewand.27

26 Vgl. Banksy 2001. O.S. Leider ist diese einzige bekannte, schwarzweiße Abb.so klein, dass die drei Worte über Banksys Tag nicht lesbar sind. 27 Vgl. http://www.kopenhagen.dk/fileadmin/oldsite/indeximage/bangsy0703.htm (Gesichtet: 20. Januar 2010).

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Abb. 5: Banksy, Bank (Stencil), temporäre Schoblone auf einerGaleriewand in Kopenhagen 2003.

Quelle: V1Gallery. http://www.v1gallery.com/exhibitionimage/ image/139/banksyeine09.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Diesmal ist nur ein schablonierter Geldautomat mit der Aufschrift »Bank« zu sehen, aus dessen Geldausgabefach blutrote Farbe herausläuft und auf dem Boden eine ›Blutlache‹ bildet. Auf dem Display steht »Fuck Off.«28 Der Geldautomat ist gefährlich und im Begriff, Kindern Gewalt anzutun. In der zweiten Version wurde jemand offensichtlich von diesem bereits gefressen oder gebissen, da nur noch Blut zu sehen ist. Das jedoch bedeutet auch, dass es sich nicht zwingend um Kinder handeln muss. Man kann dies (wie schon beim Barcode) als Kritik an unpersönlichem, maschinellem Umgang mit Konsumenten sehen. Ein ›menschlicher‹ Bankbeamter würde im Gegensatz zur Maschine einem Kind wohl jedoch auch nicht endlos Geld geben, »Fuck off« sagen und nicht unmenschlich und anonym anschließend einen automatisch erstellten Brief schreiben, wenn es schon hochverschuldet ist. Banksy thematisiert mit diesem hole in the wall auch den Begriff ›Schuldenfalle‹, im Engli-

28 Dieselbe Schablone verwendete er im öffentlichen Raum, etwa 2004 in Wien. Hier fließt die Blutlache weiter und dicker als in Abb. 14, auch fehlt die Inschrift. Vgl. Banksy 2004. O.S. und Banksy 2006, S. 134.

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schen ebenfalls als debt trap gebräuchlich.29 Er weist insbesondere auf die Gefahr für junge Konsumenten/Kinder hin, die eventuell nichtsahnend immer wieder aus Unkenntnis der Folgen Geldautomaten benutzen und eines Tages aus diesem undurchsichtig-gefährlichen hole in the wall heraus im übertragenen Sinne verprügelt (Abb. 4) oder gefressen (Abb. 5) werden, im Sinne von durch Schulden in Bedrängnis geraten. »Der Ausbau des Kreditsystems verlief parallel zur Entwicklung der Konsumgesellschaft.«30 Laut König erfolgte ab etwa 1970 mit dem Ausbau des Überziehungskredits eine Umdeutung von Schulden als etwas Verwerflichem zu etwas Selbstverständlichem.31 Banksys Fazit ist ähnlich, dass Banken zu leicht Kredite gewähren, so dass es einfach ist, wesentlich mehr auszugeben als man besitzt, insbesondere Kinder und Jugendliche sowie alte und naive Menschen, die eventuell Probleme haben, die Tragweite des ›Kleingedruckten‹ zu verstehen. Laut BBC News haben in Großbritannien Privatschulden in den letzten Jahren enorm zugenommen: »Borrowing is on the increase with consumer credit in the UK up 65% since 1997, according to Euromonitor – an organisation that provides global business intelligence and market analysis. […] In early 2004 debt counselors reported a 25% surge in the number of calls received compared with the same period in 2003.«32

Eine weitere Lesart ist, dass Kinder aufgrund von Marketingkampagnen, Werbung, product placement in Film und Fernsehen unter immer größerem Druck stehen, die ›richtigen‹ Sachen – teuere Markensachen – kaufen zu müssen, um in der Schule keine Außenseiter zu werden und so in die Schuldenfalle tappen: »Children are a major source of society’s consumer impulse. In the last twenty years the quality and cost of children’s toys have rocketed. Peer-group pressure, advertising and guiltstricken parents combine with new electronic-games technology to ensure bedrooms are overflowing with consoles, gadgets and gizmos. The UK toy market is worth upwards of £ 3 billion a year, and by the time an average British child has reached the age of sixteen, they will have owned £ 11,000 worth of playthings.«33

Banksy verwendet oft Kinder als Sinnbild für Unschuld und Hilflosigkeit.34 Wenn er einen Erwachsenen von einer Geldautomaten-Krake angreifen lassen würde, wä29 BBC News Online: Escaping the debt trap. BBC News online vom 8. Januar 2002. 30 König 2008, S. 47. 31 Vgl. ebd. 32 BBC News Online: Debt Dilemma. BBC News online vom 26. Januar 2004. 33 Vgl. Lawson 2009, S. 21. 34 Vgl. Blanché 2010, S. 81.

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re die Aussage weniger intensiv und eher klischeehaft im Sinne einer altmodischen Bewahrpädagogik, die von einem stets unbedarften Verbraucher ausgeht. Die ›Kinder‹ sind in diesem Werk ein Sinnbild für unschuldige, naive und hilflose Menschen, die aufgrund ihres Konsumverhaltens in Schwierigkeiten kommen. i) »Di-Faced Tenners« (2005) Abb. 6: Banksy, Di faced tenner (Grafik auf Papier), London 2004.

Quelle: Banksy 2004. O.S.

Einen dritten Geldautomat (Abb. 7) sprühte Banksy illegal in Farringdon/ London.35 Zwischen zwei Cafés einer Einkaufsstraße war ein Mauerstück mit Fenster ausgespart, wo ohne weiteres tatsächlich ein Geldautomat sein könnte. Nachdem der Besitzer das Fenster zugemauert hatte, sprühte Banksy etwa im Juni 2005 einen Geldautomaten in adäquater Größe über den noch vorhandenen Fenstersims und beklebte ihn mit selbstgedruckten, realistisch aussehenden 10-Pfund-Geldscheinen (Abb. 6), die Prinzessin Diana statt der Queen zeigten und den Schriftzug »Bank of England« zu »Banksy of England« abgewandelt aufwies. Nach einer Weile waren die Scheine weg (durch Wind und Wetter oder ›Diebstahl‹) und Banksy ersetzte sie durch einen gesprühten mechanischen Roboterarm, der aus dem Geldautomaten kam und diesmal ein junges Mädchen hochhob. Die Titel der vorliegenden Kapitel

35 Dort hatte er ein Jahr vorher schon eine Ratte mit Regenschirm gesprüht. Vgl. http:// www.flickr.com/groups/banksy/discuss/72157622879633982/ (Gesichtet: 20. Januar 2010).

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leiten sich von Banksys Bildunterschrift ab, da die anderen Geldautomaten unbenannt blieben. »Cashpoint with Di-Faced Tenners, Farrington, London 2005«36 Abb. 7: Banksy, Cashpoint with Di -Faced Tenner (Stencil, Grafik auf Papier), London 2005.

Quelle: Banksy 2006. S. 116.

Abweichend von der genannten Deutung der Bankautomaten ist das Zwischenstadium des dritten Cashpoints (Abb. 7) mit den ›falschen‹ Geldscheinen37, eine Täuschung neben der offensichtlichen des gesprühten Automaten. Unter einem »DiFaced Tenner«38 (Zehn-Pfund-Schein mit [Lady] Di) steht »It’s going to take one

36 Banksy 2006, S. 116. 37 Diese bildet Banksy schon 2004 einzeln und 2005 in einem Geldkoffer ab. Vgl. Banksy 2004. O.S. und Banksy 2006, S. 117. 38 Vgl. Banksy 2006, S. 116.

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very special lady, or a whole load of average ones to get over you.«39 Der Begleittext bezieht sich offensichtlich auf ein Beziehungsende, nachdem der verlassene Liebhaber sich entweder mit einer neuen Liebe oder vielen Kurzzeitbeziehungen trösten will. Der fiktive Liebhaber wird wohl eine Reihe von Geldscheinen ausgeben, um sich zu trösten, beziehungsweise seinen Kummer durch Konsum versuchen zu kompensieren. »Di-Faced« bezieht sich neben der toten (to die) Prinzessin von Wales (Lady Di) auf das gleichlautende »defaced« (verunstaltet/entstellt), das oft in Zusammenhang mit Graffiti-«Schmierereien« verwendet wird.40 Durch den falschen Geldschein, der für einen flüchtigen Blick durchaus glaubhaft erscheint,41 macht sich der Kommunikationsguerrilla-Kämpfer Banksy zum Einen einen Scherz, stellt jedoch zugleich den oft unbedingten Glauben an ein Stück Papier in Frage, welches vor der noch abstrakteren Kreditkarte das Tauschmittel schlechthin war. Auch die Diebe dieser Scheine werden betrogen, da sie mit Kunst statt Geld zahlen. Nicht nur weil in Zeiten des Laserdruckers jeder Papier bedrucken kann, stellt Banksy das Vertrauen in Banknoten in Frage. Schon in Goethes Faust II im Jahre 1832 ist es der Teufel, der das Papiergeld erfindet, das alchemistische Ziel, mittels schwarzer Magie Blei zu Gold zu machen, scheint mit Banknoten erreicht zu sein. Für Benjamin sind Banknoten Heiligenbilder der kapitalistischen Religion, an denen man sehen kann, dass Embleme des 17. Jahrhunderts im 19. Jahrhundert als Konsumprodukte wieder auftauchen: »Die Ornamentik des Geldes, die Emblematik der Banknoten ist die Reinform der Verklärung des Tauschwertes[.]«42 Für Bolz hat Geld nur den Zweck, ausgegeben zu werden, da es keinen »eigenen Wert« aufweist. »Deshalb stößt es in den Kunden eine Dauerreflexion auf Konsummöglichkeiten an. Der Konsum ist also der Realitätstest auf den Zukunftshorizont der Geldwirtschaft. [...] Das Funktionieren des Marktes hängt also an Fiktionen – am Als ob.«43 Banksy demaskiert dieses ›Als-ob‹ als Selbstzweck des Geldes, als Täuschung. Wie bei Street Art erwartet der Betrachter Kunst nicht dort, wo Banksy sie positioniert. Geld ist normalerweise praktisch und wird nicht in Frage gestellt, kaum jemand achtet auf den Aufdruck oder darauf, dass er kleine grafische Kunstwerke in der Hand hält, genauso wie der Passant selten auf der Straße Kunst erwartet. Wieder zitiert Banksy bekannte Bilder (Geldscheine) und illegale Methoden (Falschgeld), um eine Gegenmeinung zur allgemein gültigen Meinung zu zeigen: Der Be39 Banksy 2004. O.S. 40 Es weist zudem auf die Tatsache, dass Banksy die Scheine gemeinsam mit dem wiederum gleichlautenden Street Artist D-Face schuf, der selbst ähnliche Scheine mit Queen Elisabeth II mit Totenkopf kreierte. 41 Leute versuchten, mit den Scheinen in umliegenden Bars zu bezahlen. 42 Bolz 2002, S. 66. 43 Ebd., S . 82.

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trachter soll nicht nur Banksys Falschgeld, sondern auch ›echtes‹ Geld in Frage stellen und das ›System‹, welches sie herausgibt, das durch den Automaten repräsentiert wird. Abb. 8: Iranischer Protest auf Geldscheinen.

Quelle: Amnesty magazine News review. Juli August 2010. Seite 6.

Damit verwendet Banksy ähnliche Methoden der Meinungsäußerung, die es in Ländern mit Zensur und staatlicher Unterdrückung politisch Andersdenkender gibt: Abb. 8 zeigt regierungskritische Graffiti auf iranischen Geldscheinen. Diesen sind die »Di-Faced Tenners« nahe wie auch Duchamps »Tzanck Check« von 1919, da beide nicht nur den Wert, das Vertrauen in Geld, sondern auch das in Kunst in Frage stellen: »The financial documents emphasize the fact that both money and art work are dependent on trust, while both need a social setting in order to function. Just as the paper money and checks we use in everyday transactions are fiduciary and do not embody any value themselves, Duchamp’s checks destroy any illusions we may still have had about the intrinsic value of art. Instead, its value is based on a discursive context which initiates the production of belief.«

44

44 Olav Velthuis: Duchamp’s Financial Documents: Exchange as a Source of Value. Tout Fait. The Marcel Duchamps Studies Online Journal. Vol. 1/Ausgabe 2/ Mai 2000.

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Abb. 9: Duchamp, Tzanck Check Originalversion (Tinte auf Papier),221 x 38.2 cm, Paris 3. Dezember 1919.Collection Arturo Schwarz, Mailand

Quelle: http://www.toutfait.com/unmaking_the_museum/tzanck.jpg (Gesichtet: 12. März 2011)

»Tzanck Check« wurde extra für einen wohlhabenden Kunstsammler geschaffen, der wusste, was er bekam. Duchamp umarmte zumindest gegen Ende seines Lebens den Kunstmarkt, wohl aufgrund finanzieller Probleme, den er zugleich in Werken wie diesem kritisch beäugte. Er wusste jedoch immer, wer schließlich sein Werk bekommen würde, nämlich Freunde oder Sammler, wie im Falle der Checks, die fast alle Geschenke waren, eine Tatsache, die das Wesen eines Schecks zusätzlich in Frage stellt. Duchamps Werke kritisieren das Elitäre in der Kunst, wohingegen sein Leben genau dies fortschreibt, das er wie Banksy mit Aktionen wie dieser bekämpfen wollte: »We are stuck with a body of work whose critical impact is unmistakable, but a biography which seems to be entirely affirmative of Institution Art.«45 Banksy dagegen verschenkte seine Tenners oder verkaufte sie zu moderaten Preisen. 2011 sind Banksys »Di-Faced Tenners« dennoch auf Ebay erhältlich, zu einem Startpreis von 350 englischen Pfund pro Stück. Banksys antikapitalistische Geste wurde schließlich durch den Markt relativiert.

G)

L INKER K ONSUM – »I KEA P UNK « (2009)

»IKEA Punk« (Abb. 10) ist eine großformatige, fünffarbige, illegale Stencilarbeit Banksys im Süd-Londoner Peripheriegebiet Croydon, die Banksy zwischen zwei

45 Ebd.

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Werbeflächen an eine weiß gestrichene Mauer mit Stacheldraht sprühte. Sie zeigt einen stehenden Punk im späten Teenager-Alter, der gerade den Inhalt eines Pappkartons zusammenbaut. Die Kartonaufschrift lautet: »Large Graffiti Slogan« und darunter in kleiner Schrift: »Some assembly required«. Zudem weist er das zu »IEAK« abgewandelte Logo des internationalen Einrichtungskonzerns IKEA auf. Abb. 10: Banksy, Ikea Punk (Stencil), London 2009.

Quelle: http://banksy.co.uk/outdoors/out1/images/tableimages/ikea_punk.jpg (Gesichtet: März 2011).

Der Punk trägt eine Irokesenfrisur, einen angedeuteten schwarzen Kapuzenpullover und eine Dreiviertelhose gleicher Farbe. Er liest die Gebrauchsanweisung des ›Produktes‹, das aus revolutions-roten Einzelbuchstaben besteht, mit denen er unbeholfen hinter sich Wörter an die Wand geschrieben hat und von denen noch ein rotes ›L‹ und ein ›E‹ am braunen Karton hängen. Die Wörter lauten von oben nach unten: »System Smash«, darunter »Police« und »No«. Weitere Wörter überlagern sich und sind teils von dem Punk verdeckt. Mit Auslassungen kann man jedoch die Worte »M[on]ey« »[N]ow!«, »if«,«Ca[p]ital« sowie ein einzelnes Ausrufezeichen identifizieren. Offenbar war der Punk mit der sehr ausführlichen oder schlecht übersetzten Gebrauchsanweisung eines Produktes überfordert, das sich auf Standardvokabular der linken Anarchistenszene bezieht, wie »Smash Capitalism« beziehungsweise »Smash the System now!« oder »No police«.46

46 ›Smash Capitalism‹ findet sich beispielsweise schon um 1980 auf amerikanischen Wänden. Vgl. Jakob Holdt: American Pictures. Copenhagen 1985, S. 99.

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Banksy kombiniert in »IKEA Punk« zwei verschiedene Welten. Die eine ist die linke Punk-Subkultur, die mit ihrer Do-it-yourself-Haltung (DIY) die Entwicklung von Street Art entscheidend mitprägte, die andere die »IKEA-Kultur«. DIY prägte in den 1970er und 80er Jahren (nicht nur) einen visuellen Stil, der sich etwa in ausgeschnittenen und zusammenfotokopierten Zeitungsbuchstaben und Bildcollagen auf buntfarbigem Papier zeigt. Ein prägendes Beispiel ist Jamie Reids collagiertes Album-Cover von »Never mind the Bollocks« der britischen Punkband Sex Pistols von 1977, ein anderes das von »Stations of the Crass« der ebenfalls britischen Anarchopunks »Crass« von 1979, auf dem illegale Stencils der Band in der Londoner U-Bahn zu sehen sind, die als einflussreiche Vorgänger von Street-ArtStencils zu sehen sind und deren Band-Schriftzug, der ebenfalls aus einer schablonierten Schrift besteht. Banksy ist kein Gegner der altlinken Punk-Bewegung. Er stellte mit Reid aus, lobte dessen Werk47 und bezieht sich immer wieder explizit auf dessen Stil.48 Er schätzt die Do-It-Yourself-Haltung wie die des Aktivismus, ebenso wie die Antikriegs-, Anti-Kapitalismus- und Anti-Establishment-Haltung des Punk, die Street Art aufgesogen hat. Jedoch kritisiert er die Kommerzialisierung dieser alt gewordenen Bewegung mit Arbeiten wie dem »IKEA Punk«. Die DIY-Haltung dieses Punks beschränkt sich auf die (ungeschickte wie unreflektierte) Anwendung der Selbstmontageanleitung eines IKEA-Produktes, DIY ist auch typisch für Ikea. Statt selbst auf der Straße linke Punk-Parolen wie »Smash the System« zu sprühen, kauft sich dieser Pseudo-Punk einen Bausatz bei IKEA. Noch gibt es diesen Bausatz nicht in der Realität. Jedoch verkauft das ebenfalls schwedische IKEA-Äquivalent für Bekleidung, H&M, seit Jahren (früher) ›traditionelle‹ Punk-Accessoires wie Nietengürtel, Palestinensertücher oder Shirts der Punkbands Ramones oder The Clash: »This is the remarkable, unstable, and ever unfolding contradiction of capitalism supplying materials of its own critique.«49 Wie ein Markenname ist ›Punk‹ heute (auch) ein kommerzieller Begriff, um einen visuellen Stil, eine Mode zu beschreiben, die zwar optisch an DIY und Aktivismus sowie Auflehnung denken lässt, jedoch kommerziell massenproduziert längst zum Mainstream zählt. Die Mode Punk zählt wie alle Arten von Mode zu den Konsumverstärkern.50 Banksy kritisiert die Doppelmoral vieler (angeblicher) Punks, die Punk auf einen oberflächlichen, kommerziell verwertbaren Kleidungs- und Musikstil reduzieren, jedoch nicht mehr selbst politisch oder kreativ aktiv werden, sondern sich die pseudo-individuelle Punk-Attitüde 47 Vgl. Banksy in Mark Robertson: Let us spray. In: The List. Glasgow and Edinburgh events guide. Ausgabe 408. 1-15. März 2001, S. 24. 48 Vgl. Blanché 2010, S. 37-38. 49 Lodziak 2002, S. 55. 50 Vgl. König 2008, S. 253.

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stattdessen bei H&M oder IKEA kaufen. Der Punk, eigentlich Sinnbild von Chaos und Aufstand, weist zudem auf die Tatsache, dass in den letzten Jahren in Großbritannien größere Riots oft mit Konsum zusammenhingen. »Ikea Punk« kann auch als ironische Anspielung auf Ausschreitungen mit Verletzten bei Ikea-Eröffnungen etwa in London 200551 gesehen werden. Statt Revolution zu machen will der Punk shoppen, notfalls mit Gewalt. Zugleich reflektiert Banksy ein Dilemma der Jugend der 2000er Jahre, das die deutsche Band Tocotronic im Titel ihres Liedes »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« bereits 1995 zusammenfasst. Punk (ebenso wie HipHop) ist ein alter(-nativer) Lebensentwurf der 1970er und 80er Jahre, der für die heutige Jugend oft ›nicht funktioniert‹ hat, beziehungsweise der Lebensentwurf ihrer Eltern und großen Geschwister, die jetzt bürgerlich geworden sind. Obwohl wenig Vertrauen in Demonstrationen und politische Umwälzungen vorhanden zu sein scheint, besteht zugleich eine Sehnsucht nach Veränderung, Abgrenzung oder Sinn, mit Banksys Worten: »Some people think you should have better things to think about than trying to think about better things. But the instinct is still there.«52 Dieser Instinkt oder diese Sehnsucht nach Sinn wurde noch früher durch Arbeit oder Religion befriedigt, heute wird sie am ehesten von Konsum ausgefüllt, so die These dieser Untersuchung. Die zweite Welt, die Banksy im »IKEA Punk« kommentiert, ist die »IKEAKultur«. Der schwedische Möbelkonzern ist heute weltweit Synonym für Massenproduktion erschwinglicher Möbel und anderer Konsumprodukte und muss von der Größenordnung in einem Atemzug mit globalen Konzernen wie McDonalds oder Coca Cola genannt werden: »On any given Sunday, hundreds of thousands of people in the UK visit an IKEA. Last year 33 million people visited one of the stores. It has even been estimated that one in 10 Europeans are conceived in an IKEA bed.«53 Banksy zeigt IKEAs Allgegenwärtigkeit und kritisiert sie, damit stellt er sich in die Tradition von IKEA must burn“-Schablonen, wie sie sich etwa um 2002 in sei54 ner Heimatstadt Bristol befanden. Doch wie äußert sich Banksys Kritik an IKEA? Er wandelt den Markennamen IKEA zu »IEAK« ab, was gleichlautend mit dem englischen Ausdruck von Ekel, ›Yuk‹ (›Bäh!‹ oder ›Igitt!‹). Vom Schriftbild her lässt sich aufgrund der großen Ähnlichkeit des kleinen ›l‹s (wie Ludwig) mit dem großen ›I‹ (wie Ida) zudem eine weitere Abwandlung erkennen, nämlich »Leak«, 51 Oliver Finegold, Chris Millar: Chaos at Ikea opening. Evening Standard Online vom 10. Februar 2005. 52 Vgl. Banksy 2001. O.S. 53 Vgl. Finlo Rohrer: The pleasure and pain of Ikea. BBC News Online vom 10. Februar 2005. 54 Vgl. Manco 2002. Vgl. Abb. unten Mitte S. 61.

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was zu Deutsch soviel wie undicht, Leck oder auslaufen bedeutet. Banksy drückt in beiden Fällen seine Abneigung gegenüber dem Konzern IKEA wie der PseudoPunk-Attitüde des Teenagers aus. Zugleich wählt er, wie schon zuvor, eine Taktik der Street-Art-nahen Aktivismusform des Adbusting, des Subvertising oder der Kommunikationsguerrilla, nämlich das Verändern von bekannten Zeichen oder Werbung im urbanen Raum.55 So machte er etwa 2004 aus dem Logo der Filmfirma Paramount »Paranoid«56, das er ab 2010 selbst als Logo seines Filmes verwendete. Damit bestätigt Banksy zunächst die große Bekanntheit und Wirkung dieser Logos, führt jedoch vor, wie allgegenwärtig sie sind und dass es eine Gegenöffentlichkeit gibt oder geben soll, die das Ziel hat, ihre Zielgruppe dazu zu bringen, eingefahrene Vorstellungen zu überdenken, wem sie was glauben, und warum. »Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören?« fragt Barthes.57 Durch das Entstellen zeigt Banksy, dass es sich beim IKEA-Logo und bei GraffitiSlogans (Banksy nimmt nicht umsonst den Werbebegriff ›Slogan‹ mit ins Bild) um Teile eines Codes handelt, um Zeichen, stereotyp gewordene Botschaften, die in Frage gestellt werden sollen. Der Bezug zu Schriftdesign und Wortspiel zeigt Banksys Nähe und Herkunft aus dem hauptsächlich schriftbasierten Graffiti, wo Writer immer wieder ihren logoartigen, auf eigene wiedererkennbare Weise designten tag sprühen oder schreiben.

H)

›S TREET ‹ ART : DIE R OLLE DER

D ER O RTSBEZUG UND F OTOGRAFIE

Banksy plaziert den »IKEA Punk« so, dass auf dem offiziellen Foto im Hintergrund deutlich die beiden Türme des nahegelegenen IKEA-Zentrums mit den Firmenfarben Gelb-Blau zu sehen sind (Abb. 10). Banksy schafft technisch aufwändigere, mehrfarbige und größere Stencils wie diesen nahezu immer ortsbezogen. Jedoch ist dieser auch verständlich, wenn man die Ortsanspielung auf IKEA nicht weiß oder sieht. Aufgrund des Fotos auf seiner Webseite wie weiterer Fotos von Fans ist ersichtlich, dass sich der »IKEA Punk« zwischen zwei großformatigen Werbetafeln befindet (Abb. 11).

55 Vgl. hierzu Blanché 2010, S. 37-38. 56 Vgl. Banksy 2004. [Rückcover]. 57 Roland Barthes: Sade Fourier Loyola. [Paris 1971]. Frankfurt/ Main 1986, S. 141.

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Quelle: Foto von hobedehoy (21. September 2009) http://www.flickr.com/photos/21901802@N07/3940977651/ (Gesichtet: März 2011).

Banksy bezieht sich mit dem Logo auf IKEA-Werbung, der er auch positive Referenz erweist, wie er sich durch die Ortswahl auf kommerzielle Werbung generell bezieht. Auch kann man alle Stencils von Banksy als Eigenwerbung sehen, mit denen er dafür sorgt, im Gespräch zu bleiben und die Verkäufe seiner GalerieWerke und Bücher vorantreibt. Das Wort Croydon ist auf dem Foto erkennbar (Abb. 10 und 11) und schon bald kamen die ersten Fans, die es sich zur Aufgabe machten, ›den Banksy‹ im Original aufzuspüren und zu fotografieren. Damit macht er Werbung für den Londoner Peripherie-Stadtteil Croydon, der durch seine Lage weit außerhalb kein In- oder Künstlerviertel wie etwa Shoreditch ist, wo Banksy hauptsächlich in der Zeit von 2000 bis 2005 sprühte, als (und weil) er seinen Namen bekannt machen wollte. Ebenso nützte Banksy ab 2005 mehrmals seine Bekanntheit, um zum Beispiel Touristen zu animieren, nach Palästina zu kommen, um den Tourismus in dieser von Armut und Krieg geprägten Krisenregion anzukurbeln.58 Das antikonsumistische Werk dient also dem Tourismus und damit einem kommerziellen Zweck, wenn auch einem, den Banksy gutheißt.

58 Vgl. Sheera Claire Frenkel: Let us spray: Banksy hits Bethlehem. Times Online vom 3. Dezember 2007.

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Die IKEA-Türme sowie die umgebende Werbung zeigen zudem die Wichtigkeit der Fotografie für Street Art. Wie in der Land Art dokumentiert das Foto nicht nur die oft site specific Street Art in seiner Umgebung, es ist als Schatten des Werkes59 zugleich der oft einzige bleibende Beweis seiner Existenz. Ist es bei herkömmlicher ›Galerie- oder Museumskunst‹ (hier verwendet als Gegenbegriff zu Street Art) das Ziel, tatsächliche Kunstobjekte zu bewahren, so ist dies bei Street Art weniger wichtig als seine Dokumentation. Interaktionen oder Kommentare anderer Künstler werden toleriert und teils sogar erwartet, ebenso wie der ›Buff‹, das offizielle Entfernen durch provozierte Hausbesitzer oder Obrigkeit auch ein Qualitätsmerkmal sein kann. Nach einigen Jahren verschwindet selbst Street Art, die nicht mutwillig zerstört oder verändert wurde, durch Sonne, Wind und Regen. Doch das Foto bleibt und findet in den meisten Fällen insbesondere im Internet wesentlich mehr Publikum als das tatsächliche Werk. Die örtliche wie visuelle Nähe zum größten IKEA Großbritanniens war Banksy beim »IKEA Punk« offenbar wichtiger als die gute Sichtbarkeit für Passanten. ›Unver-mittelt‹, das heißt nicht per Foto, werden die wenigsten den »IKEA Punk« zu Gesicht bekommen, da er an einer für Passanten so ›abwegigen‹ Stelle angebracht ist, dass selbst erfahrene Londoner Banksy-Fans, die explizit danach suchten, trotz der Ortsangabe eines früheren Finders lange Zeit brauchen, bis sie ihn lokalisierten.60 Durch das Foto kann Banksy die Deutung des Werkes steuern. Wie die ersten Fan-Fotos des »IKEA Punks« belegen, fallen nicht jedem sofort die IKEA-Türme im Hintergrund auf, da sie schlicht oft nicht mit abgebildet werden, dies wird erst im offiziellen Foto Banksys klar. Obwohl das Werk auch ohne diese Beobachtung funktioniert, verlöre es doch. Das Aufkommen und sich Durchsetzen der digitalen Fotografie sowie des Internets ab 2000 fällt zeitlich mit Banksys Street-Art-Karriere zusammen. Es steht zu bezweifeln, ob Banksy im Zeitalter der analogen Fotografie und ohne Internet einen derart hohen Bekanntheitsgrad erreicht hätte. Die Durchschnittsqualität und Quantität bei (Amateur-)Fotografien stieg, da man nun bei digitalen Fotografien ohne höheren Kostenaufwand mehrere Fotos machen und diese auch mittels Vorschaubildschirm kontrollieren konnte. Die nicht mehr zwingend an Papier gebundene Methode der digitalen Verbreitung ist aufgrund ihrer zeit- und kostensparenden Eigenschaften dazu prädestiniert, schnell von vielen gesehen zu werden. Banksy selbst betont die Wichtigkeit der Fotografie für Street Art, insbesondere der digitalen im Netz:

59 Stallabrass 2006, S. 189. 60 Vgl. die Kommentare unter http://www.flickr.com/photos/dicksdaily/3932421934/ (Gesichtet: 20. Juni 2010).

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»The web has done wonders for graffiti; it perfectly reflects its transient nature, and graffiti is ludicrously overrepresented on its pages. The ability to photograph a street piece that may last for only a few days and bounce it round the world to an audience of millions has dramatically improved its currency. On the other hand, the internet is turning graffiti into an increasingly virtual pastime. It is now possible to achieve notoriety by painting elaborate pieces in secluded locations, without the associated risk of arrest that is usually attached. By posting photographs online you can become a significant graffiti writer from a town where none of your 61

work is actually visible.«

Abb. 12: Banksy, Ikea Punk (Stencil), London 2009.

Quelle: http://www.artschoolvets.com/news/wpcontent/up loads/2009/11/banksy-graffiti.jpg (Gesichtet: März 2011).

Das Foto gleicht den Nachteil des Ephemeren von Street Art aus, betont dies und macht dies nachvollziehbar, wenn etwa Versionen desselben Werkes Wochen später gezeigt werden, wo der Zahn der Zeit bereits an ihm genagt hat (Abb. 12). Durch digitale Fotografie und Internet wurde das Produkt Fotografie entkommerzialisiert, da es nicht mehr zwingend als Abzug, in Büchern oder Zeitungen gekauft werden muss. Die schnelle Allverfügbarbeit digitaler Fotos online ist eine ebenso kostengünstige wie effiziente Methode für Street Artists wie Banksy ihr Publikum zu mehren. Teils (im Gegensatz zum elaboriert gemalten Graffiti-Piece) basiert Street Art nicht nur oft auf adaptierten Fotos und bezieht sich auf sie, sondern wirkt optisch auf diesen besonders hervorstechend. Die starken Hell-DunkelKontraste und die oft einfachen, sehr graphischen, scherenschnittartigen Motive wirken selbst in geringer Auflösung und Größe immernoch bei gleichzeitig geringem Verlust an Aussage und Wirkung – Kriterien, die auch für kommerzielle Logos wie etwa das Parodierte von Paramount gelten. Damit stechen die an Grafikdesign

61 Banksy: The writing on the wall. The Guardian Online vom 24. März 2006.

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erinnernden und davon beeinflussten Street-Art-Stencils, -Sticker oder -Poster auch aus der mittlerweile riesigen Flut digitaler Bilderströme heraus, was sie in die Nähe des kommerziellen Logos und damit der Werbung rückt. Ebenso wie Stencils/Sticker/Poster ist auch das digitale Foto leicht zu vervielfältigen.

I)

K OMMERZIALISIERUNG VON S TREET ART

Die Allverfügbarkeit und Einprägsamkeit der Fotos von Banksys Street Art hat jedoch die Kehrseite, dass eine große Anzahl von Trittbrettfahrern Banksys Fotos kommerziell nutzt, um etwa Poster, Postkarten, T-Shirts oder Kaffeetassen zu verkaufen – ohne die Einwilligung des Künstlers, der jedoch selbst nicht viel von Copyright hält und daher (bisher) davon absieht, diese zu verklagen. Damit wird das Foto selbst zum Objekt, zum Ideenträger und ebenso, wenn auch gegen den Willen Banksys, zum Konsumobjekt. Die britische Ebay-Auktionsseite verzeichnet unter dem Suchbegriff ›Banksy‹ 23.776 Treffer (Damien Hirst zum Vergleich nur 234).62 Das Subversive, das kommerziell wurde, gilt für Banksys Fotos und paradoxerweise auch für die Street-Art-Werke selbst. Der »IKEA Punk« ist nicht das erste öffentliche Werk Banksys, das mitsamt der Mauer, auf der es sich befindet, vom Besitzer entfernt wurde, nachdem es von anderen Graffiti Writern teilweise übermalt worden war. Öfter landen diese heimatlos gewordenen Mauerstücke auf Ebay, wo sie teils sehr hohe Preise erzielen, womit ihre oft antikonsumistischen Botschaften ad absurdum geführt werden: »Banksy’s painted himself into a corner where all he seems able to do now are legal walls or canvases. It’s hard to believe someone is being rebellious or anti-capitalist when every time they paint something they are in effect giving tens of thousands of pounds to a property landlord.«63 Dies bestätigt McLuhans These »When a thing is current, it creates currency.«, selbst wenn der Erschaffer der gerade aktuellen Sache – Banksy – seine Street Art nicht als käufliches Konsumprodukt geplant hat, beziehungsweise sogar versuchte, dies zu verhindern, indem er eben auf der Straße sprühte. Als er feststellte, dass viele Unterlagen gerade dazu einluden, ›gestohlen‹ und damit kommerzialisiert zu werden, ging er wie andere bekannte Street Artists in den letzten Jahren dazu über, eher schwer entfernbare Untergründe zu wählen.64

62 Vgl. http://shop.ebay.co.uk/?_from=R40&_trksid=p2703.m570.l1313&_nkw=Banksy&_ sacat=See-All-Categories (20. September 2010). 63 Blogger Hurtyoubad zitiert in Alex MacNaughton: London Street Art Anthology. München/Berlin/London/NY 2009. O.S. 64 Vgl. Faile im Interview in Patrick Nguyen und Stuart MacKenzie (Hgs.): Beyond the street. Berlin 2010, S. 65.

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Dennoch ist Street Art in der Theorie und in den meisten Fällen der Praxis tatsächlich ephemer. Das heißt, durch ihre nur um den Preis der Zerstörung zu lösende Verbindung mit einem architektonischen Kontext ist sie Wind und Wetter, ausbleichendem Sonnenlicht, Renovierungen und Graffiti-Reinigung sowie anderen Sprühern ausgesetzt, hat damit nur eine geringe Lebensdauer als Objekt und ist damit schwer verkäuflich. Von Banksy autorisierte Siebdrucke, Postkarten oder Poster seiner Street Art sieht er eher als Souvenirs des tatsächlichen Kunstwerks, er lässt sie daher (oft) von anderen ausführen, insbesondere in den Jahren bis etwa 2005, wo kaum ein Werk auf Leinwand oder Papier erschien, dass Banksy nicht vorher schon auf Wände gesprüht hatte. Aufgrund der zunehmenden Komplexität mancher Werke nahm die Tendenz bis 2010 jedoch zu, manche Themen nur auf Leinwand zu bannen, wie dies bei dem im Folgenden behandelten »Destroy Capitalism« der Fall war. Erst seit Banksys Film 2010 erscheinen wieder verstärkt Straßenarbeiten, wohl weil Banksys dort geschilderte Erfahrungen seiner beiden Einzelausstellungen 2006 und 2009 ihm zeigten, dass sie ihm zwar Geld und Massenpublikum, jedoch zu weiten Teilen seine Street Credibility kosteten. Zugleich verbindet Banksy seine aktuelle Street Art fast immer mit Events in Orten, die Publicity dort nötig machen, wie die Welt-Premiere seines Films in Utah, seine den Film unterstützende SprühPromo-Tour durch die USA oder kurz vor der Oscarverleihung 2011 in Los Angeles, wo sein Film nominiert war. Werke wie der »IKEA Punk« trugen neben der Kommerzialisierung un- oder antikommerzieller Ideen und Kunstformen (wie Street Art) zugleich zu deren Verbreitung und Akzeptanz durch die Obrigkeit bei, die im Falle des »IKEA Punks« gar eine Gemeindeumfrage startete, ob das Werk bleiben oder entfernt werden solle. 93 Prozent der befragten Bewohner sprachen sich für dessen Verbleib aus.65

65 Derartige Umfragen gab es schon öfter, etwa in Bristol. Vgl. BBC News Online: Banksy mural defaced during vote. BBC News online vom 2. November 2009. Auch ein Werk des belgischen Street Artists Roa sollte etwa in London Hackney entfernt werden und wurde durch eine Abstimmung gerettet. Vgl. Anatoliy Kurmanaev: Rabbit in Council Headlights. In: Hackney Citizen. November 2010. Ausgabe 13, S. 5.

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J)

»D ESTROY C APITALISM « (2006) Abb. 13: Banksy, Destroy Capitalism (digitale Grafik), 2006.

Quelle: Foto: Banksy.co.uk (Gesichtet:15. Juni 2007).

Das Motiv des Konsum-Punks tauchte bereits 2006 in »Destroy Capitalism« (Abb. 13) auf. In dieser auch als Siebdruck herausgegebenen Zeichnung Banksys stehen sieben junge alternativ Gekleidete geordnet in der Reihe an einem Verkaufsstand an, wo ein dicker, rauchender, ebenfalls alternativ angezogener, wenig älterer Mann ›Destroy Capitalism‹-T-Shirts für 30 Dollar verkauft, wie auf einem kleinen grünen Schild in Sternform zu lesen ist. Obwohl hier eine Straßenszene dargestellt wird, handelt es sich nicht um Street Art per definitionem, sondern um von Street Art inspirierte Kunst eines viel auf der Straße arbeitenden Künstlers, zu dessen ›GalerieKunst‹ dieses Werk im nächsten Kapitel überleitet. Die Zeichnung der sechs Männer und zwei Frauen ist in Schwarzweiß gehalten. Ein zur Werbung ausgehängtes Shirt ist revolutionsrot mit weißer Aufschrift. Revolutionsrot sind auch die Shirts, die der Verkäufer und ein Kunde in der Hand halten. Alle Alternative tragen eher ungewöhnliche Frisuren wie Irokesenhaarschnitte und Dreadlocks, die unter Alternativen selbst als Klischees angesehen werden können: »die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell.«66 66 Rainald Grebe im Song »Prenzlauer Berg« vom Album »Rainald Grebe & das Orchester der Versöhnung« (2011).

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Alle Figuren wirken leicht überzeichnet, wie Karikaturen. Die Letzte in der Reihe hat eine Einkauftasche auf Rädern wie sie oft von älteren Menschen verwendet wird. Die bequeme und doch auffällig alternative, sommerliche Kleidung aller Figuren lässt an ein Openair-Musikfestival denken, wo oft ein kommerzieller, alternativer Buden-Markt angeschlossen ist.67 Banksy zeigte ein nicht gemaltes, sondern reales T-Shirt mit dem gleichem Aufdruck in der »Barely Legal«-Ausstellung und bot das Motiv 2007 in seinem Gratis-›Shop‹ (ein konsum-ironischer Widerspruch in sich) auf seiner Webseite zeitweilig als digitales Bild zum Download an. Neben dem groß geschriebenen »Destroy capitalism« ist in wesentlich kleinerer Größe und hochgestellt das diesen Text ironisierende Copyright-Zeichen © eingefügt. Darunter steht kleingedruckt »Registered trademark, not to be reproduced without prior written permission. Copyright 2007«. Banksy imitiert und kommentiert hier die Sprache der Werbung und wie beim »IKEA Punk« die Kommerzialisierung des alternativen Lebensstils. Er treibt dies auf die Spitze, indem er Kapitalismusgegner als reine Konsumenten teils mit Einkaufstasche zeigt, die, um ihre Meinung (»Zerstört Kapitalismus«) kundzutun, für nicht wenig Geld ($30) einen antikapitalistischen Bedeutungsträger, ein rotes Shirt mit Aufdruck kaufen. Die Farbe rot wird von der Werbung als Signalfarbe eingesetzt, zugleich ist sie seit der russischen Revolution Farbe für Kommunismus und Widerstand. Banksy entlarvt Anhänger der alternativen Punk-Subkultur als verkleidete Vertreter des Establishments, die visuelle Lippenbekenntnisse als Ersatz für tatsächliches Politisch-Aktivwerden abgeben: »People seem always to think if they dress like a revolutionary they don’t actually have to behave like one.«68 Tatsächlich kann man T-Shirts mit gleichem Aufdruck in diversen Variationen im Versandhandel beziehen69, teils wird sogar absurderweise »anti-capitalist« zu einer kommerziellen Kategorie, unter dem man unterschiedliche kommerzielle Konsumprodukte rund um Antikapitalismus finden kann.70 Banksy formuliert das folgendermaßen: »I love the way capitalism finds a place – even for its enemies. It’s definitely boom time in the discontent industry.«71 67 Während eines solchen, des Glastonbury-Festivals, für das Banksy nachweislich seit 1998 fast jedes Jahr Werke schafft, verzierte er selbst Verkaufsstände mit Werken. 68 Banksy 2006, S. 47. 69 Vgl. z.B. http://www.zazzle.com/destroy_capitalism_tshirt-235075731258109564 (Gesichtet: 20. Februar 2010). 70 Vgl. z.B. http://www.redmolotov.com/catalogue/tshirts/all/destroy-capitalism-tshirt.html (Gesichtet: 20. Februar 2010). 71 Banksy zitiert bei David Usborne: Staying anonymous is ‘crippling’, says Banksy. Independent UK vom 8. Mai 2007. In die gleiche Richtung geht folgende Antwort Banksys auf die Frage, ob er ein »Sell out« ist: »It’s hard to know what ‘selling out’ means – these days you can make more money producing a run of anti-McDonald’s posters than you

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Dabei schließt Banksy sich selbst mit ein, da er, als Künstler mit oft explizit und bewusst antikapitalistischen Werken, teuer verkauft wird, jedoch größtenteils ohne seine Beteiligung, wenn etwa seine für alle gedachte Street Art abmontiert und versteigert wird oder seine für erschwingliche Preise verkauften Werke im sekundären Markt für fünf- oder sechsstellige Summen gehandelt werden. Nicht völlig, aber weitgehend ohne sein Zutun wurde Banksy damit absurderweise zu einem Künstler, der als kommerziell gilt, weil auch renommierte Kunstkritiker wie JJ Charlesworth schlecht informiert sind: »What I find ridiculous about Street Art and especially if you see what Banksy and other kind of characters are doing. The content of their messages is so obvious. They’re making money out of a pose. And the pose is rebellion. But that’s the first thing you can always sell back to rebels. That’s the joke. Once you’ve got an art market, that you can sell it to people and collectors, than it will do as much as you can to pump that up. […] Then you’ve bought into the brand status of Banksy or any of these other upcoming artists. That’s just the same thing as 72

any other branded life style statement to do with luxury goods.«

Charlesworth reduziert Street Art auf seinen kommerziellen Erfolg, den er als Ergebnis von Banksys cleverer Marketingstrategie sieht. Auch laut Street Artist Sweet Toof steigt die Akzeptanz von Street Art absurderweise gerade durch die hohen Summen, die für Banksys Werke teils gezahlt werden.73 Jedoch zählt die Absicht des Künstlers nicht viel im Gegensatz zum (Verkaufs)Ergebnis. Wie Shepard Fairey hat Banksy durch eine gut organisierte Marketingkampagne ohne Produkt und ohne das primäre Ziel, etwas zu verkaufen, Geister gerufen, die er nicht mehr bändigen kann oder will (wie im Falle Faireys). Obwohl Banksy (wohl) primär seine Ideen bekannt machen wollte und seine Leinwände eher als »Souvenirs« seiner Arbeit auf der Straße sieht74, denn als eigenständige Werke, schuf er teils ungewollt Nachfrage nach einem Produkt. Dabei war sein ursprüngliches Ziel, eben diesen Vorgang bewusst zu machen und seinen manipulativen Charakter zu zeigen. Banksy führt vor, dass er in einer ähnlichen Situation wie die angeblichen Alternativen ist, die trotz allem in ihrer Zeit gefangen sind und sich eher durch das, was sie konsumieren oder tragen (ein »Destroy Capitalism«-Shirt) definieren, denn dadurch, was sie machen (den Kapitalismus zu zerstören) oder produzieren. can make designing actual posters for McDonald’s.« Aus: Ossian Ward: Banksy interview. Time Out London. 1. März 2010. 72 Kunstkritiker JJ Charlesworth zitiert in Cedar Lewisohns Video-Dokumentation: Street Art. Tate Modern London 2008. 22. Minuten. 73 Street Artist Sweet Toof zitiert ebd. 74 Vgl. Banksy im Interview mit Jim Carey: Creative Vandalism. Squall Magazine. 30. Mai 2002.

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Wie wichtig ihm dieser Sachverhalt auch hinsichtlich der als ›hip‹ und ›alternativ‹ geltenden Street Art ist, zeigt Banksy in seinem Kinofilm »Exit through the Gift Shop« von 2010. Darin baut er mit Hilfe von Shepard Fairey einen Unbekannten über Nacht zu einem gefragten Street-Art-Künstler auf, der am Fließband gefertigte Pop Art Bilder in Street-Art-Optik in kurzer Zeit für eine Million Dollar verkauft. Betont werden muss an dieser Stelle, dass es sich nicht etwa um einen fiktionalen Film, sondern um eine Dokumentation realer Ereignisse handelt. Banksy ist in seiner Kunst nicht in erster Linie das (Konsum-)Objekt wichtig, weder inhaltlich noch tatsächlich, sondern der damit handelnde Mensch, in diesem Bild sind das die sich brav in eine Reihe stellenden Alternativen, die das ebenso berühmte wie als spießig geltende und meist mit Konsum verbundene, englische queuing demonstrieren, das wie das Kaufen von Antikonsumprodukten im Kontrast zu ihrer Kleidung und angeblich demonstrierten Haltung steht. Dennoch ist Banksys Konsumkritiker-Kritik nicht aggressiv und reaktionär wie etwa die der »Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur«-Autoren Heath und Potter. Er lotet beim »Ikea Punk« oder »Destroy Capitalism« Grauzonen aus und führt auf sanft-ironische Weise unbewusste Scheinheiligkeit vor. Seine Arbeiten tun linksintellektuellem common sense genüge, verwirren diesen jedoch zugleich durch seine Anti-Konsum-Kunst, die noch einen Schritt weiter geht.

K)

C RUDE O ILS ( SEIT 2001) W ERKGRUPPE AUSSTELLUNG

UND

Unter »Crude Oils« versteht man eine Werkgruppe Banksys, bei der er zu bestehenden Reproduktionen (nicht nur) von Gemälden des 18. bis 20. Jahrhunderts zeitgenössische Dinge wie Gasmasken, Armeehubschrauber, Waffen oder Autowracks hinzufügt oder Ölgemälde abgewandelt komplett nachmalt. »Crude Oil« heißt zu Deutsch Erdöl. Durch das Plural-«s« wird als »oil« eine Kurzform von »oil paintings«, was in Verbindung mit »crude« in etwa geschmacklose, grelle, simple, grobe, undurchdachte Ölgemälde heißt. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick zu den »Crude Oils« geleistet, bevor einzelne analysiert werden.75 Manco spricht

75 Alternative Namen sind für die »Crude Oils« gebräuchlich. Banksy bezeichnet die ersten zwei dieser Gruppe 2001 als »vandalized oil paintings«. Vgl. Banksy 2001. O.S. In der 2006 von Damien Hirst kuratierten Gruppenausstellung »In The Darkest Hour There May Be Light« zeigt Hirst ein Exemplar jener Banksy-Werkgruppe als »modified oil painting«. Vgl. Hirst 2006. O.S. Dasselbe Gemälde zeigte Banksy 2005 in der »Crude Oil«Ausstellung, wo Hirst es wohl erstand. http://www.artofthestate.co.uk/Banksy/ Banksy_

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2002 von »updated oil paintings«, noch bevor Banksy 2005 eine ganze Ausstellung dieser Werkgruppe76 widmet, die »Crude Oils« heißt. Die »Crude Oils« lassen sich in drei Kategorien unterteilen. Etwa zeigen 38 eher kitschige Landschaften und Seestücke, oft mit einzelnen Staffage-Figuren, 13 sind abgewandelte Porträts, die übrigen Personengruppen und Stillleben.77 Banksys Einzelausstellung »Crude Oils« fand vom 14. bis 24. Oktober 2005 in einem namenlosen Galerieraum im Londoner Westen statt. Der Untertitel lautete »a gallery of re-mixed masterpieces, vandalism and vermin«. Der Ausdruck »re-mixed masterpieces« bezeichnet die »Crude Oils« näher. Wie auch bei seiner Ausstellung »Banksy versus Bristol Museum« bezieht sich Banksy mit remixed auf einen Ausdruck aus der Popmusik78 und damit auf ›reale‹ Alltags- oder Popkultur im Gegensatz zur Hochkultur einer Kunstgalerie. Wie der Computerausdruck updated ist remixed ein höchst zeitgenössischer Ausdruck, der Banksys Bestreben zeigt, Kunst auf den neuesten Stand zu bringen. »Vermin« bezieht sich auf die Ratten und ihre ambivalente Sinnbildhaftigkeit, »Vandalism« stellt einen legitimierenden Bezug zu Banksys Street Art her, deren ›realen‹ Hintergrund oder ›Rahmen‹, die Straße, den er versucht, in den Galerieraum zu bringen. Banksy betont, dass die Darbietung von Kunst, das ›Außenrum‹, der Ort, der Raum, der ›Rahmen‹ im doppelten Sinne als Bilderrahmen wie öffentlicher Rahmen ähnlich wichtig, wenn nicht gleichwertig ist wie der Inhalt der »Crude Oils«. Banksy’s Werke auf der Straße haben selten einen tatsächlichen Bilderrahmen wie Gemälde. Im übertragenen Sinne ist dieser so weit wie der Betrachter blicken kann oder wie weit das Foto reicht. crude_oils_modified_oil_painting_7.htm (Gesichtet: 23. Januar 2010). Andere Namen sind »charity shop oil paintings« oder »corrupted oil painting«. 76 Bis zur Veröffentlichung dieser Untersuchung lassen sich 67 verschiedene »Crude Oils« nachweisen, wobei auf Banksys Bücher und Webseite sowie Auktionsberichte und Ausstellungsfotografien zurückgegriffen wurde. Zwei basieren auf Siebdrucken Warhols, eines entstand auf Basis eines Stichs aus dem 18. Jahrhundert, ein anderes zeigt eine Porzellanplatte, die allerdings offensichtlich nach einem Gemälde des 18. oder 19. Jahrhunderts gestaltet ist. Meist verwendete Banksy klein- oder mittelformatige Gemälde, die er auf (Floh-)Märkten wie dem Portobello Market in London kaufte. Gelegentlich lassen sich die Künstler gut bestimmen, wenn es sich um Kopien bekannter Gemälde wie etwa George Stubbs »Whistlejacket« von etwa 1762 handelt, viele sind jedoch Werke unbekannter Künstler. 77 Sechs weisen nur eine Aufschrift auf, ebensoviele wurden mittels Stencils oder freihand mit der Sprühdose verändert. Bei neun Gemälden wurde etwas aufgeklebt, angeklebt oder ausgeschnitten, bei allen übrigen wurden mit Farbe Details wie Gasmasken, Autowracks, Armeehubschrauber oder polizeiliche Hinweisschilder hinzugemalt. 78 »Versus« oder »vs.« wird häufig bei sogenannten Mash-Ups verwendet, nicht genehmigte Remixe von zwei Künstlern.

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Wie sah das ›Außenrum‹ der »Crude Oil«-Ausstellung aus? Groß angekündigt gab Banksy die Location erst spät und ausschließlich auf seiner Homepage bekannt79, um die Spannung zu erhöhen und den ›Underground‹-Ruf vorangegangener Ausstellungen aufrechtzuerhalten. Auf den Zusammenhang zwischen der zunehmenden Eventisierung von Kunstorten und Konsumprodukten wurde bereits eingegangen. Dieses Marketing-Prinzip spiegelt die Konsumkultur wider: »Etliche Branchen und Anbieter haben sich bereits darauf eingestellt, daß für manche Konsumenten der Weg zur Ware das Ziel ist, weil sie dann auf jeder Party mit Anekdoten und konsumistischen Varianten einer Odyssee aufwarten können.«80 Vor Ort gab es bei »Crude Oils« lange Warteschlangen: Nur vier bis sechs Besucher durften zeitgleich für wenige Minuten die Heiligen Hallen der Ausstellung besichtigen, weil 164 echte Ratten in dem kleinen Galerie-Raum herumliefen und nicht von Besucherströmen verletzt werden sollten81: »[Y]ou spend half the time making sure you don[‘]t step on a rat or get one up your trouser leg, you sign a disclaimer on the way in about what might happen to you by way of rat. They were only letting in about 4 people at a time so not to endanger the rats and so you sort of became exhibits yourself with all the other people watching you avoid being consumed.«

82

Banksy kreiert eine Situation, wo die Betrachter wie die Ratten zugleich Betrachtete sind. Er schafft eine theatrale Zoo-Situation, wo alle sich gegenseitig anschauen. Dadurch vermenschlicht er die Ratten wie er die Ausstellungsbesucher zu Betrachtungsobjekten, Zootieren macht, sowohl für die Besucher draußen wie drinnen für die Ratten. Diese Inszenierung erinnert aufgrund der Regeln und der Interaktion zudem an Happenings von Allan Kaprow in den 1960er Jahren. Banksy inszeniert seine Ausstellung übergebührlich und führt vor, dass auch ganz gewöhnliche Kunstausstellungen immer inszeniert sind: Das Event, das Sehen-und-Gesehen-Werden, der von Banksy zitierte Goldrahmen steht oft im Vordergrund, nicht die Gemälde selbst. Diese sind nur ein Teil dieser Ausstellung, welche neben dem Gesichtsinn wegen der Ratten auch fast alle übrigen Sinne anspricht: Besucher beschrieben, dass der Gestank (Geruchssinn) von Tag zu Tag zunahm, dass Ratten die Beine hochkriechen wollten (Tastsinn) und Laute von sich gaben (Hörsinn).83 79 Vgl. Blog-Einträge verschiedener User vom 18. bis 25. Oktober 2005 auf http://www. darrenbarefoot.com/archives/2005/10/banksy-crude-oils-and-rats.html (Gesichtet: 4. Februar 2010). 80 Ullrich 2006, S. 56. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd. 83 Vgl. ebd.

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Als Vorläufer hinsichtlich der »Crude Oils« muss der Situationist Asger Jorn genannt werden, der Ende der 1950er Jahre vergleichbare Gemälde vom Flohmarkt in Teilen übermalte84, sodass ihn Klein in einem Atemzug mit den Adbustern der 1990er Jahre nannte.85 Diese gelten neben den Situationisten als wichtige Beeinflusser (auf Techniken und ihren davon untrennbaren Inhalten) der Street Artists.86 Im Gegensatz zu Jorns Flohmarktabwandlungen und etwa Duchamps Mona Lisa, »LHOOQ«, steht bei Banksy jedoch formal wie inhaltlich oft eine humoristische Verbesserung in Form einer inhaltlichen Aktualisierung dieser Bilder, nicht deren rein ikonoklastische Ironisierung oder Zerstörung im Vordergrund.

84 Vgl. etwa Jorns Gemälde »Nocturne III« (1959), »The Avant Garde Does Not Surrender« (1962) oder »Choux« (1961). 85 Klein 2000, S. 283. 86 Vgl. Blanché 2010, S. 32.

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L)

D ER

ÄUSSERE

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R AHMEN »The real damage on our environment is not done by graffiti writers and drunken teenagers but by big business and lazy arts executives, exactly the people who put gold framed pictures and landscapes on their walls and try to tell the rest of us how to behave.«

87

BANKSY

Abb. 14: Banksy, Gold frame (gerahmte Zeichnung). Banksy vs. Bristol Exhibition 2009.

Quelle: UB.

Nicht nur die Inhalte der Gemälde stellen einen Zusammenhang zwischen Konsum und Kunst her, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird. Auch in ihrer Präsentation lässt sich diese Verbindung finden. Ein wichtiger Teil dieser Inszenierung ist der Goldrahmen. Er ist bei Banksy als Macht- und Statussymbol von Obrigkeiten zu verstehen, viele »Crude Oils« sind daher ironisch-protzig in Gold gerahmt (Abb. 14 und 15).

87 Banksys Statement zitiert von Steven Lazarides in Channel 4-Beitrag von Emily Rubin zur »Crude Oils«-Ausstellung vom 12. Oktober 2005.

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»Does anyone actually take this kind of art seriously?« fragt ein betont linkisch ausgeführtes Strichmännchen in seiner Comic-Sprechblase auf fleckigem Holzuntergrund in einem Werk (Abb. 14) der »Banksy versus Bristol Museum«-Ausstellung 2009. »Never underestimate the power of a big gold frame« antwortet ein anderes. Ein ähnliches Strichmännchen ist auf ähnlich schäbigem Untergrund gezeichnet, um den Kontrast zum Rahmen zu erhöhen, und blickt in der gleichen Ausstellung (wiederum in einen prächtigen Goldrahmen gefasst) auf ein Preisschild über 10.000 britische Pfund, das sich tatsächlich am Rahmen befindet und sagt: »You must be kidding me!« (»Du machst dich über mich lustig!«). Banksy will dem Betrachter bewusst machen, dass Kunstprodukte wie andere Produkte oft deshalb teuer verkauft werden, weil sie ansprechend ›verpackt‹ sind und präsentiert werden, etwa in einem Goldrahmen. Ist alles, was einen Goldrahmen hat, Kunst und/oder wertvoll? Wer beschließt, ob etwas Kunst oder wertvoll ist? Wer verwendet Kunst als Statussymbol? Welche persönliche, finanzielle Interessen haben diese Personen unter Umständen? Was kaufen wir und warum? Gekauft hat den größten Teil der »Crude Oil«-Ausstellung passenderweise der ›teuerste lebende Künstler‹, Damien Hirst88, dessen Kunst ähnliche Fragen, jedoch mit völlig anderen Mitteln aufwirft und der später seinen »Diamond Skull« auf ähnliche Weise theatral präsentieren wird. »Die Vermittlungsmedien der zeitgenössischen Kunst, die Rahmung und institutionelle Präsentation der Werke erfüllen die Aufgabe der Wertkennzeichnung, sie fungieren als klassischer goldener Rahmen, der Kostbarkeit anzeigt.«89 Banksy will, dass der Betrachter seine Meinung (und deren Entstehung) zu Kunst und Wert hinterfragt. Zugleich will er bewusst machen, dass dieser Schritt weg vom Fokus auf den Inhalt, hin zur Inszenierung die zeitgenössische Konsumgesellschaft widerspiegelt. »Der Rahmen war sehr viel kunstvoller geworden als das Kunstwerk selbst.«90, schreibt auch Grunenberg über Kaufhäuser, bei denen sich die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Konsumprodukt wegbewegte hin zu den vielfältigen Assoziationen, die »durch unterschwellige Werbung, exotische Auslagen oder opulente Verpackungen raffiniert geweckt wurden.«91 Konsum funktionert nur, indem mittels Inszenierung immer wieder neue Bedürfnisse erzeugt werden. Neben dem Goldrahmen ist die Galerie der größere, äußere Rahmen von Banksys Werken. Er wählte einen Laden mit bis zum Boden verglaster Fensterfront, ein Schaufenster, von dem aus man alles sehen konnte, was innen passiert. Schaufenster sollen zum Konsumieren anregen, was bei Kunstgalerien bedeutet, zum Kauf 88 Vgl. Colin Gleadell: Market news: Hirst buys and sells. Daily Telegraph Online vom 18. Oktober 2005. 89 Schneemann 2002, S. 275. 90 Grunenberg 2002, S. 23. 91 Ebd.

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der Gemälde. Auch im Falle der »Crude Oils« war dies der Fall, Banksy hatte das Ziel, seine Werke zu verkaufen. Zugleich macht Banksy dies durch die Überbetonung des Schaufensters und das Kreieren der beschriebenen Zoo-Situation bewusst. Als Street-Art-Künstler ist Banksy ›der Rahmen‹ des Kunstwerks besonders wichtig: Im Falle eines illegalen Stencils ist dies im weiteren Sinne die Umgebung/das Stadtviertel, im engeren die konkrete Straße oder die jeweilige Mauer, auf die gesprüht wird. Parallel dazu bildet im Museum der Bau den ›Rahmen‹ – bei der Galerie die Schaufensterfront im weiteren Sinne, der (goldene?) Bilderrahmen jeweils im engeren. Dieser Rahmen wie die vorher beschriebene Inszenierung ist untrennbar mit den Gemälden verbunden, deren Wirkung und Aussage sie unterstützen und wiederholen. Er ist ein fast gleichwertiger Teil von Banksys Kunst. Wenn man den ›Rahmen‹ weglässt, bleiben zwar immer noch in sich Sinn ergebende Werke übrig, diese werden jedoch, ihres Kontextes beraubt, oft nur noch als eindimensionale Scherze wahrgenommen und abgetan. Ein Ausstellungsbesucher formuliert dies folgendermaßen: »Banksy’s work was […] exciting, but I think each individual work doesn[‘]t really have much merit, but as a whole it is a great experience[.]«92

M)

R ATTEN 93

»Es lebe die Ratte! Die Vernunft geht in den Untergrund.« HORST JANSEN

Bevor im Folgenden einzelne Werke analysiert werden, wird kurz auf das erwähnte Motiv der Ratte eingegangen, da die 164 lebendigen, frei herumlaufenden Ratten zum »Crude Oils«-Ausstellungskonzept gehörten und Ratten außerdem bei Banksy eines der am häufigsten verwendeten Bildmotive sind. Er äußerte sich im Rahmen der Ausstellung folgendermaßen: »Rats represent the triumph of the little people, the undesired and the unloved. Despite the efforts of the authorities they survived, they flourished and they won.«94 Banksy sieht in den Ratten die Menschen, wie er auch in seinen Stencils die Ratte oft vermenschlicht. Wie an anderer Stelle ausgeführt, sind Ratten als Alter

92 Anonymer User am 25. October 2005 auf http://www.darrenbarefoot.com/archives/2005/ 10/banksy-crude-oils-and-rats.html (Gesichtet: 4. Februar 2010). 93 Inschrift auf einem Druck von Horst Jansen. 94 Banksys Statement zitiert von Steven Lazarides in Channel 4-Beitrag von Emily Rubin zur »Crude Oils«-Ausstellung vom 12. Oktober 2005.

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Ego Banksys beziehungsweise als Metapher für Außenseiter wie Graffiti-Sprüher zu verstehen.95 Ratten werden gemeinhin in der westlichen Kultur96 als negativ angesehen, sie sind seit jeher bekannt als Überträger von Krankheitserregern: »Rats symbolize all that’s raw, putrid and vile in our throwaway, decadent, dirty culture (even if they’re actually rather cute to look at). They spread disease. They thrive because we can’t be bothered to throw our fast food cast-offs into a bin, because our rubbish piles up on every street corner, because we have too much, but know the value of nothing.«

97

Die Anwesenheit von Ratten ist ein Zeichen für die Überreste unseres Konsums, sie leben vom Dreck einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Für Lacan ist eine Hochkultur zunächst eine Kultur, die eine Müllkippe hat.98 Insbesondere im Englischen findet man das Wort rat in vielen, fast immer negativen Bedeutungen. In Zusammenhang mit der »Crude Oils«-Ausstellung und dem Gestank der Ratten ist ›to smell a rat‹ zu erwähnen, ›den Braten riechen‹, also etwas Verdächtiges, zukünftig Gefährliches wahrnehmen, was einen dazu zwingt zu reagieren. Wie im Folgenden ausgeführt wird, kann dieser ›Braten‹ mit Begriffen wie Umweltzerstörung und globaler Erwärmung in Verbindung gebracht werden. Die provozierenden Ratten in der »Crude Oils«-Ausstellung holen die Realität der Straße von draußen in den Galerieraum. Durch ihre Anwesenheit und ihren Gestank entlarven sie den White Cube, den Galerieraum stellvertretend für andere Orte der Kunstpräsentation als unwirklich, künstlich, inszeniert, lebensfeindlich. Sie können als Versuch gesehen werden, Kunst und Leben zu verbinden.

N)

G IFTMÜLLFASS – »C RUDE O IL « (2005)

Wie die Ausstellung selbst trägt ein Werk darin den Titel »Crude Oil« (Abb. 15). Es basiert auf dem Gemälde »The Singing Butler« (Abb. 16) des Briten Jack Vettriano, welches im Jahr vor der »Crude Oil«-Ausstellung mit großem Medienecho für 740.800 Britische Pfund versteigert wurde und als eines der meistverkauften

95 Siehe hierzu Blanché 2010, S. 101. 96 Trägern des chinesischen Sternzeichens Ratte werden Eigenschaften wie Ehrlichkeit oder Kreativität zugesprochen. 97 Vgl.

http://www.darrenbarefoot.com/archives/2005/10/banksy-crude-oils-and-rats.html

(Gesichtet: 4. Februar 2010). 98 Vgl. Jaques Lacan: Meine Lehre [1967]. Wien/Berlin 2008.

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Postkartenmotive in Großbritannien gilt99, das von Kunstkritikern jedoch als Kitsch abgetan wird.100 Auf Vettrianos Gemälde ist ein tanzendes Paar am Strand zu sehen, über dem von rechts ein Diener im Anzug einen schwarzen Regenschirm hält, während mit wenig Abstand daneben eine Dienerin mit weißer Schürze ebenfalls einen Schirm hochhält. Sie greift an ihren kleinen weißen Hut, der aufgrund des Windes wegzufliegen droht. Die herrschaftlichen Tänzer sind eine Dame in rotem knöchellangem Kleid und ein Herr im Anzug. Vettrianos Gemälde zeigt offensichtlich ein reiches Paar, weil es sich zwei Bedienstete leisten kann. Trotz des schlechten Wetters lassen sie es sich nicht nehmen, am Strand zu tanzen. Abb. 15: Banksy, Crude Oil (Gemälde), London 2005.

Quelle: Steve http://www.artofthestate.co.uk/Banksy/Banksy_crude_oils_crude_ oil.htm (Gesichtet: 12. März 2011).

99

Vgl. BBC News Online: Painter brushes off ‘copy’ claims. BBC News Online vom 3. Oktober 2005.

100 Vgl. etwa den Diskussionsbeitrag von Niru Ratnam in Cedar Lewisohn: The Great British Art Debate. In: Art & Music. The Saatchi Gallery Magazine. Ausgabe 2. Herbst 2010, S. 25.

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Abb. 16: Vettriano, The Singing Butler (Gemälde), 1992.

Quelle: http://www.vettriano-art.com/the-singing-butler/ (Gesichtet: 12. März 2011).

Banksy ersetzt in »Crude Oil« die abseits stehende Dienerin durch zwei Figuren in olivgrünen Ganzkörper-Schutzanzügen und Gasmasken, die gerade ein Metallfass bewegen, auf dem ein orangenes Gefahrensymbol »T+« für toxic (sehr giftig) erkennbar ist, ein Totenschädel. In weiter Ferne am Horizont ist hinter ihnen ein von Banksy ebenfalls hinzugefügtes havariertes Schiff, wohl ein Öltanker, auszumachen. Das Tankerwrack und das Giftmüllfass rufen Bilder von Ölpest und Giftmüllskandalen wach, die in regelmäßigen Abständen die Medien beschäftigen. Laut einer Studie des Nationalen Forschungsrats der USA gelangen jedes Jahr durch menschliche Hand 700.000 Tonnen Erdöl in die Weltmeere.101 Man kann sagen, dass Banksy mit dem Vettriano-Gemälde von 1992 ironisch die hedonistischen, konsumorientierten 1980er und 90er Jahre kritisiert. Banksys Gemälde könnte auch eine Zeitungskarikatur zum letzten Tankerunglück sein: Obwohl ihre Umwelt und ihr Strand bereits vollkommen durch Ölpest oder Giftmüll verseucht sind, hört dieses wohlhabende Pärchen nicht auf, einzig an sein Vergnügen zu denken. Banksy führt diese Idylle als falsch und scheinbar vor, man kann in der von ihm kritisierten Haltung eine Schuldzuweisung sehen. Um hemmungslosen und unverantwortlichen Konsum (von Leuten wie dem tanzenden Paar) auf gleichem Level zu halten, kommt es immer wieder zu Umweltkatastrophen, weil Öltransport billig bleiben muss und daher verantwortliche Öl-Firmen etwa bis 2005 immer noch EU-Häfen mit ihren 20 Jahre alten Einhüllenöltankern anfahren konnten, die bei einer Havarie im Vergleich zu den neueren Zweihüllentankern ungleich mehr Öl auf einmal ins Meer leiten.102 Damit kann man das Gemälde als Kritik an großen Konzernen und einer globalen Politik sehen, die in die-

101 Vgl. Holger Kroker: In die Ozeane fließen jährlich 700 000 Tonnen Öl. Welt Online vom 7. Januar 2005. 102 Vgl. Arte.tv: Erdöl um jeden Preis? Arte.tv vom 29. August 2008.

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sem Fall nicht agiert, sondern reagiert. Das verschlossene Öl-Fass ist zugleich allgemeiner als ein ›gedeckeltes‹ Problem zu verstehen, dass trotz seiner Offensichtlichkeit ignoriert wird. Man muss das Gemälde vor dem Hintergrund des Irakkrieges sehen, der als Krieg um Öl wahrgenommen wurde. Zudem kritisiert Banksy in seinem Gemälde die gleichgültige Haltung von Menschen, die millionenfach Postkarten und Reproduktionen eines Gemäldes wie »The Singing Butler« kaufen und schätzen, welches – positiv formuliert – eine genießerische Lebenseinstellung trotz widriger Umstände propagiert. Negativ formuliert verschließen derartige Kunstkonsumenten ihre Augen vor offensichtlichen Problemen und richten sie weiterhin mit Scheuklappen auf vermeintliche Idyllen – Dekadenz im Untergang. Banksy formuliert dies folgendermaßen: »The vandalized paintings reflect life as it is now. We don’t live in a world like Constable’s Hay Wain anymore and if you do there’s probably a travelers camp on the other side of the hill.«103 Abb. 17: Banksy, Toxic rat (Stencil), London 2005.

Quelle: Banksy 2006. S. 97.

103 Banksys Statement zitiert von Steven Lazarides in Channel 4-Beitrag von Emily Rubin zur »Crude Oils«-Ausstellung vom 12. Oktober 2005.

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Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Tanz und Untergang findet man im Refrain von »Beds are burning«, einem Song der australischen Band Midnight Oil von 1987: »How can we dance when our earth is turning?/How do we sleep while our beds are burning?«. Das Motiv des Giftmüllfasses thematisiert Banksy ebenfalls in einer illegalen Schablone, die er um 2004 sprühte (Abb. 17). Sie zeigt eine Ratte, die ein Fass auskippt, das mit dem Gefahrensymbol »X« für gesundheitsschädliche Stoffe versehen ist. Abb. 18: Banksy, Pier Preassure (Installation), Brighton 2010.

Quelle: Screenshot von Banksys Youtube-Video, hochgeladen 30. August 2010. http://www.youtube.com/watch?v=4hjIuMx-N7c (Gesichtet: 12. März 2011).

Der ausfließende Inhalt ist giftig grün. Banksy kritisiert die fragwürdige Haltung von Konzernen und Einzelpersonen, die, um Geld für die kostenpflichtige und aufwändige Entsorgung von Sonder- oder Giftmüll zu sparen, diesen stattdessen illegal in der Natur entsorgen oder aus Profitgier fahrlässig mit Sicherheitsbestimmungen umgehen, wie dies etwa 2010 bei der British-Petrol-Katastrophe der Fall war, anlässlich der Banksy das ironische Werk »Pier Preassure« (Screenshot Abb. 18) fertigte. Es zeigt eine elektrische Kinderschaukel in Form eines Delfins zeigt, der über einem BP-Ölfass samt schwarzer (auslaufendes Erdöl imitierender) Pfütze am legendären Vergnügungspark-Pier der Seestadt Brighton tatsächlich von Kindern benutzt wurde, die (wie in Banksys Video ersichtlich) wie ihre Mutter der BPAnspielung nicht gewahr werden104, sondern wie das Paar in »Crude Oil« trotz allem fröhlich und gedankenlos weiterkonsumieren.

104 Vgl. Banksys Video »Pier Preassure«. Hochgeladen auf Youtube am 30. August 2010.

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O)

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M ONET « (2005)

Nicht weit entfernt vom »Crude Oil«-Ausstellungsraum in der National Gallery in London hängt »The Water-Lily Pond« von Monet aus dem Jahre 1899. Der Ortsbezug kann als Kritik an der traditionellen Institution National Gallery gelesen werden, wenn man Banksys Version näher betrachtet. Banksy wandelte das Gemälde zu »Show me the monet« (Abb. 19) ab, indem er zu Monets Seerosen-Teich mit Brücke einen Straßenverkehrskegel und zwei Einkaufswägen hinzufügte, die offenbar Vandalen in den Teich geworfen haben. Obwohl Banksy sich selbst aufgrund seines illegalen Sprühens als Vandale bezeichnet und Einkaufswägen nicht positiv sieht, würde er wohl keinen in einen Seerosenteich werfen. Vielmehr kritisiert er die Haltung vieler Konsumenten, die zwar Einkaufswägen für längere Distanzen benutzen, doch anschließend zu faul sind, den Wagen zurück zu bringen und ihn stattdessen in den nächsten Teich werfen. Dies kann als symptomatisch für Konsum ohne Verantwortungsbewusstsein verstanden werden. Abb. 19: Banksy, Show me the Monet. (Gemälde,) London 2005.

Quelle: Steve. http://www.artofthestate.co.uk/Banksy/Banksy_crude_oils _show_me_the_monet.htm (Gesichtet: 12. März 2011).

Banksy zeigt, dass unsere heutigen Teiche eher wie in »Show me the monet« aussehen statt, wie vor 100 Jahren in Monets Bild: »The Jack Vettriano, Hopper and Monet pieces which are re-worked here can be bought in their original form for a couple of quid in Frameworks and the like. They adorn millions of

122 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST walls, with the artist’s name and the work’s title at the bottom as a little reminder! What meaning do those pictures have in the context of being bought for next to nothing to fill a space on the living room wall? Some owners of these prints can look out of their window and see jobs hurling chairs, shopping trolleys in canals and cooling towers, and there they are in Banksy’s work readymade, and reflecting the reality of where these pictures hang.«

105

Zugleich kann man die behandelten »Crude Oils« als Aufruf verstehen, sich bewusst zu machen, dass Meisterwerke wie die Monets zu reinen Dekorationsgegenständen wurden. »Very quickly a painting is turned into a facsimile of itself when one becomes so familiar with it that one recognizes it without looking at it.«106 Die leichte Reproduzierbarkeit als abgewandeltes Gemälde führt auch die Einzigartigkeit von Gemälden als Objekte generell ad absurdum sowie ihre damit einhergehenden übergebührlich hohen Preise und ihre von Banksy als anmaßend empfundene Präsentation mit überzeitlichem Anspruch in der renommierten National Gallery. Diese verdient mit Monet gut an den vielen Postkarten und Drucken, aus Monet wird Money, wie Banksy auch im Titel »Show me the monet« verdeutlicht, der gleichlautend mit »Show me the money« ist, ein Satz, der Erpressern oder Drogendealern in Film und Fernsehen oft in den Mund gelegt wird und insbesondere mit dem bekannten Hollywoodfilm »Jerry Maguire« von 1996 verbunden wird.107 Auch wenn er in letzterem Kontext von zwei fast befreundeten Geschäftspartnern verwendet wird, kann er gemeinhin als Slogan einer kapitalistischen Gesellschaft gesehen werden, die nicht auf Vertrauen fußt, sondern ›auf Sicht‹ fährt, an schnelles und eventuell unlauter verdientes Geld denkt, um noch mehr konsumieren zu können. Der Einkaufswagen ist ein typischer Gegenstand der Gegenwart. Er wurde 1937 erfunden108 und ist ein Synonym für Shopping oder Konsum geworden. Der »Shopping Trolley« bei Banksy ist nicht nur ein Verweis auf real existente Einkaufswagen, sondern auch auf das Internet-Icon auf Online-Einkaufsseiten wie Amazon, die ebenfalls einen stilisierten Einkaufswagen zeigen. Damit wurde das Bild des Einkaufswagens auch jenseits des tatsächlichen Objekts ›Einkaufswagen‹ stellvertretend für Konsum. 105 User Doubleshinys Kommentar vom 9. Januar 2007 zu Francesca Gavin: No hope in Westbourne Grove, London. bbc.co.uk vom 20. October 2005. 106 Robert Rauschenberg im Interview mit Dorothy Seckler. New York 21. Dezember 1965. 107 Zudem ist es der Titel von fünf Spielshows in verschiedenen Ländern der Welt etc. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Show_Me_the_Money (Gesichtet: 26. Januar 2010). 108 Vgl. Catherine Grandclément: Wheeling One’s Groceries Around the Store: The Invention of the Shopping Cart, 1936-1953. In: Warren Belasco und Roger Horowitz (Hgg.): Food Chains: From Farmyard to Shopping Cart. Pennsylvania 2008, S. 233-251.

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Bereits 1970 verwendet der amerikanische Pop-Art-Künstler Duane Hanson einen Einkaufswagen in seiner Skulptur »Supermarket Lady« (Abb. 20), wo eine hyperrealistische Puppe in Gestalt einer übergewichtigen, rauchenden Hausfrau mit prallvollem Einkaufswagen in einer imaginären Kassenschlange steht. Abb. 20: Hanson, Supermarket Lady(Plastik), Ludwig Forum Aachen 1970.

Quelle: http://www.kultur-online.net/files/exhibition/05_Duane-Hanson.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Der Einkaufswagen transportiert hier Zeichen von Konsum und Überfluss: »On the one hand, confection items, family-size packages, pre-cooked food, and the shopping cart are of course undeniably emblematic of affluent society. On the other hand, through their advertisement-covered packaging – the multitude of slogans and writing in loud colors such as pink, neon-orange – these items are for Hanson, precisely because of their ‘obtrusiveness’ and profanity, an aesthetic challenge.«109 Der Betrachter der »Supermarkt Lady« steht mit ihr in der imaginären Schlange. Die Kunstgalerie wird mit dem Einkaufswagen zum Supermarkt. Hanson weist ähn-

109 Annette Lagler: Duane Hanson. Supermarket Lady, 1970. Ludwig Forum für Internationale Kunst. Aachen 2006.

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lich wie Banksy auf die zunehmende Kommerzialisierung von öffentlichen Museen sowie auf das Produkthafte von Kunst hin. Überfluss und Leere der Konsumgesellschaft lässt auch in Cattelans surrealem Objekt »Less Than Ten Items« von 1997 assoziieren – einem überlangen Einkaufswagen , der in etwa dreimal soviel fasst wie ein konventioneller. Der Titel bezieht sich auf die in Großbritannien üblichen Kleinkassen, wo man sich mit weniger als zehn Produkten anstellen soll. Diese mobile Skulptur konnte der Besucher durch ein Museum/eine Galerie schieben wie durch einen Supermarkt. Auch Cattelan verweist hier auf das Museum als kommerziellem Ort, als Supermarkt und lädt den Besucher dazu ein, die anderen Kunstwerke an der Wand in der Galerie wie Waren auf Regalbrettern zu sehen. Cattelan kommt Banksys konsumkritischer Haltung am nächsten. Fleurys »ELA 75 K. Easy. Breezy. Beautiful« von 2000 ist ein vergoldeter Einkaufswagen auf einem auf Hochglanz polierten, sich drehenden, silbern spiegelnden Podest. Wie ein Goldenes Kalb, ein Fetisch des Konsums steht dieser gewöhnliche, doch vergoldete Readymade-Gegenstand leicht erhöht wie etwas Anbetungswürdiges da. Kritisieren Hanson durch die negative Darstellung, Cattelan durch die ironische Übergröße sowie die Aufforderung zur Aktion und Banksy durch Motiv und Form der Anbringung Konsum, lässt sich Fleurys Werk auch rein unkritisch beobachtend, ja verherrlichend deuten. Es feiert den passiven, anbetenden Konsumenten. Durch die Betonung des Selbstverständlichen, nämlich des Einkaufswagens, überhöht sie diesen Gebrauchsgegenstand und gibt ihm eine ironische Brechung, die als kritisch ausgelegt werden kann. Banksy stört in »Show me the Monet« eine Natur-Idylle des 19. Jahrhunderts, die Shoppingwahn und Straßenverkehr nicht kennt, und daher laut Banksy veraltet ist. Dennoch bedienen sich alte Naturdarstellungen, die als romantisch empfunden werden, und Werbung, die für die zeitgenössische Konsumkultur steht, laut Ullrich derselben Effekte: »Ein nüchterner Blick auf die Kunst der Moderne wird auch erkennen lassen, daß man sich in ihr zum Teil derselben Effekte bediente wie später in der Werbung. Schon die Erfolge der Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert waren einem Bedürfnis nach Projektionsflächen geschuldet: weite Himmel, Meereswellen, zerklüftete Bergrücken, das waren Sujets in die sich jeder hineinträumen konnte. Die BMW- Werbung ist seit Turner und Blechen vielfach vorweggenommen, mit dem einzigen Unterschied, daß der einstige Rezipient von vornherein wußte, nur träumen zu können, während der Konsument die fixe Idee nicht loswird, das Geträumte durch einen Kaufakt doch Realität werden lassen zu dürfen.«

110 Ullrich 2006, S. 117.

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Banksys »Show me the Monet« steht im ironischen Gegensatz zu zeitgenössischer Werbung mit kitschigen Naturaufnahmen ebenso wie zu Ölschinken mit Naturdarstellungen aus dem 19. Jahrhundert. Für den politischen Künstler Banksy sind Konsum-Träume wie veraltete Landschaftsidyllen jeweils verlogen und Ausdruck einer hedonistischen, rein lustorientierten Konsumkultur.

P)

D AS T ESCO -S UPERMARKT -M OTIV DIE E INKAUFSTÜTE

i)

Street Art im Museum – »Discount Soup Can« (2005)

UND

Abb. 21: Banksy, Discount Soup Can (Siebdruck), Museum of Modern Art New York 2005.

Quelle: Banksy 2006. S. 178.

Ein weiteres »Crude Oil«, ein Siebdruck diesmal, hängte Banksy 2005 ungefragt ins Museum of Modern Art in New York, wo es sechs Tage unentdeckt blieb. Auf dem von Banksy gefälschten Hinweisschildchen stand der Titel »Discount Soup

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Can« (Abb. 21).111 Später war eine andere Version in der »Crude Oils«-Ausstellung zu sehen. Es zeigt eine graue Tomatenbüchse mit weiß-blau-rotem Etikett und der Aufschrift »TESCO value Cream of TOMATO SOUP 400g BEST BEFORE END: SEE CAN END«.112 Sowohl vom Motiv als vom Größenverhältnis, der Technik, dem Titel und dem Ort her bezieht sich Banksy auf Warhols 32-teilige Siebdruckserie »Campbell’s Soup Cans« von 1962, welche sich im selben Museum befindet.113 Damit stellt Banksy wie bei seiner Street Art einen Ortsbezug her, der sich nicht nur thematisch auf Pop Art bezieht, die im gleichen Museum hängt, sondern auf ein konkretes Werk. Banksys Intention war, Warhols Suppendosen zu karikieren und durch seine illegale Häng-Aktion zu provozieren. Banksy bildet hier bereits verfremdete bzw. ironisierte Realität ab, die selbst zum Konsumprodukt wurde und damit zu einer Karikatur ihrer selbst. Warhol entfachte selbst in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Diskurse, was Kunst ist und ob ein Konsumprodukt wie »Campbell’s Soup Cans« Kunst ist.114 Banksy verbeugt sich mit diesem Werk vor Warhol, zu dessen Œuvre er formal wie inhaltlich immer wieder bewusste Bezüge herstellt.115 Wie dieses sind viele »Crude Oils« Bestandteil und quasi Requisite einer größeren Kunstaktion Banksys: Er schmuggelte Werke ins Natural History Museum und die Tate Gallery in London, den Louvre in Paris sowie in vier bedeutende New Yorker Museen.116 Straße wie Museum sind als öffentlicher Raum zu sehen. Ebenso wie seine Schablonenmotive installierte er einige Crude Oils illegal, was daher im weiteren Sinne als Street Art gezählt werden kann. Alle geben vor, etwas Anderes – nach Meinung Banksys – Veraltetes zu sein, das er ›updated‹, wie Manco es 2002 formuliert.117 Die illegale Anbringung wie ihre fotografische und teils filmische Dokumentation ist mindestens gleichwertig mit dem Objekt. Wie bei Land Art sind diese ›Spuren‹ die eigentlichen Träger der Rezeption dieser Werke. Wie sind Banksys Museumsschmuggel-Kunstaktionen hinsichtlich Konsum zu bewerten? »Art’s the last of the great cartels[.] […] A handful of people make it, a handful buy it, and a handful show it. But the millions of people who go look at it don’t have a say.«118 Banksy wendet den Wirtschaftsausdruck Kartell auf Kunst an, wie er etwa das Konsumsymbol Einkaufswagen in die Kunststätte Museum bringt. Er 111 Vgl. Banksy 2006, S. 179. 112 Ebd. Siehe auch Banksy 2004. O.S. 113 Vgl. http://www.moma.org/collection/browse_results.php?object_id=79809 (Gesichtet: 8. Dezember 2007). 114 Vgl. David Bourdon: Warhol. New York 1989, S. 110. 115 Vgl. hierzu Blanché 2010, S. 70, 98-100. 116 Darunter befand sich auch das MoMA. Vgl. Howe 2005. 117 Vgl. Manco 2002, S. 78. 118 Banksy zitiert bei Howe 2005.

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kombiniert seinen Willen aufzufallen, zu provozieren, seinen Namen bekannt zu machen mit einem ironischen Kommentar zum weitverbreiteten »das kann doch jeder«Vorwurf an moderne Kunst, indem er aktiv und gegen traditionelle Kunstinstitutionen, unabhängig von ihnen und damit ganz Kind seiner von Web 2.0 und user generated content bestimmten Gegenwart Kunst schafft, die die klassische Kunst, den Kunstmarkt und die klassischen Kunstorte karikiert. Sein Kartell-Kommentar zeigt, dass die Passivität der (Kunst-)Konsumenten mit etwas Mut leicht die elitäre Allmacht der (Kunst-)Konzerne lächerlich machen oder gar brechen kann und sollte. Repräsentiert »Campbell’s« insbesondere eine bekannte Suppenmarke, die in ihrer Banalität und Bekanntheit für Massenkonsum und die schlichte Ästhetik von Industriedesign steht, so geht Banksys »Discount Soup Can« einen Schritt weiter. Tesco steht in Großbritannien, Asien und Osteuropa – nicht jedoch in den USA, wo Banksy sie ins Museum hängte, wo sie weitgehend unbekannt ist119 – für Billigkonsum schlechthin: »One pound in every seven spent in Britain is handed over to Tesco.«120 Tesco war 2007 weltweit der drittgrößte Einzelhändler, in Großbritannien stand der Konzern an erster Stelle.121 Er etablierte in allen Sparten billigere Eigenmarken, die wie im Falle von Banksys »Discount Soup Can« entweder als die Billigmarke »Tesco Value« oder die gehobene No-Name-Marke »Tesco’s Finest« bezeichnet wird. Wenn man sich Macht und Bedeutung von Tesco bewusst macht, bekommt das Werk einen anderen Stellenwert, der nicht nur ein (im inhaltlichen wie formalen Sinne des Wortes) Abklatsch Warhols ist. Banksy macht mit der Tesco-Dose etwas auf den ersten Blick Banales zum Bildgegenstand, gegen das Warhols Campbell’s teuer aussieht. Campbell’s ist in Zeiten von Discountern eine Luxusmarke geworden, nicht nur aufgrund Warhols Verherrlichung hat sich ihr Status im Laufe der letzten 50 Jahre geändert, wie sich der Status von Warhols Abb. der Dose änderte, von der Provokation zum kaum mehr hinterfragten Klassiker. Heute ist Warhols Kunst längst Teil des Kulturkanons geworden, was Warhol ab den späten 1970er Jahren selbst durch die endlose Wiederholung nicht nur der Suppendosen in seinen Reversal-Drucken thematisierte/ kritisierte/ verherrlichte. Banksy ist sich der Banalität dieses Bildgegenstandes wie seines kunstgeschichtlichen Vorgängers, der Campbell’s Dosen, bewusst: »After sticking up the picture I took five minutes to watch what happened next. A sea of people walked up stared and moved on looking confused and slightly cheated. I felt like a true modern artist.«122 119 Auch hier zielt Banksy weniger auf das konkrete Publikum vor Ort sondern auf das Internet-Publikum im Netz, d.h. die Tat an sich und seine Dokumentation sind ihm wichtiger als das Werk/Objekt selbst. Vgl. hierzu das Kapitel »IKEA Punk«. 120 Lawson 2009, S. 21. 121 Vgl. Rachel Sanderson: Timeline-Tesco’s rise to world’s third largest retailer. Nachrichtenagentur Reuters Online vom 27. Novmber 2007. 122 Banksy 2006, S. 180.

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Banksy liefert einen ironischen Kommentar zum häufigen Vorwurf an ›moderne‹ Kunst: ›Das kann ich auch‹. Dem stimmt er einerseits zu, andererseits versucht er, Warhol zu übertreffen, indem er vorführt, wie Warhol und andere als »modern artist[s]« bezeichnete Künstler seiner Ansicht nach den Betrachter veralbern, ein gängiges Klischee, das Banksy bedient und zugleich zu widerlegen versucht, indem er nicht nur das Sujet auf den heutigen Stand bringt, sondern auch durch eine Kunstaktion verstärkt. Er will die seiner Ansicht nach banale moderne Kunst und die Allmacht des Kunstmarktes vorführen wie er zugleich Tescos Allgegenwärtigkeit problematisieren will. Banksy zeigt, dass man um 2005 Konzerne wie Tesco künstlerisch wie politisch beachten sollte, wie Warhol in den 1960ern das Design von Campell verherrlichte und zugleich als ein Beispiel von Massenproduktion und dem seit dem Zweiten Weltkrieg stetig anwachsenden Konsum in den 1960ern vorführte. Der Discounter Tesco steht dagegen für die heutige Konsumgesellschaft. Banksy vereinigt hier Kunst(-markt)- mit Konsumkritik und zeigt ihre Gemeinsamkeiten auf, etwa das Blenderische, das Manipulierende, das Diktatorische und das Selbstdarstellerisch-Oberflächliche. ii) Supermarkttüte – »Very Little Helps« (2008) Wesentlich konkreter ist Banksys Kommentar zu Tesco in »Very Little Helps« (Abb. 22), das er zunächst als illegalen Stencil und später als Zeichnung und Druck veröffentlichte123: Zwei Kinder, ein Junge und ein wenig kleineres Mädchen stehen aufrecht mit der Rechten (Linken)124 auf der Brust vor einer Fahnenstange, die im

123 Der Druck »Very little helps« erschien Anfang Dezember 2008 in einer Auflage von 299 Stück. Er misst 374 mal 506 Millimeter. Vgl. http://www.picturesonwalls.com/ images/archive/banksy_vlh_pop.gif (Gesichtet: 7. Februar 2010). Ein Foto der StencilVersion befand sich unter dem Namen »tescoflag.jpg« spätestens ab 26. Juni 2008 auf Banksys Webseite, Fans dokumentierten es erstmals am 3. März 2008. Vgl. http://www. flickr.com/photos/amyeee/2307554918/in/poolbanksy#/photos/amyeee/2307554918/in/ pool-14533014@N00/ (Gesichtet: 9. März 2011). Die Zeichnung »Sketch for Essex Road«, 79cm x 62 cm, Acrylic und Öl auf Leinwand, ist auf den 25. Februar 2008 datiert. Sie wurde für eine Wohltätigkeitveranstaltung versteigert. Vgl. http://www.artbid 4ken.org.uk/artists/banksy/index.html (Gesichtet: 7. Februar 2010). 124 Im Falle des illegalen Stencils (Abb. 22) legen die Kinder die Linke aufs Herz, sonst (Abb. 23) die Rechte, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Banksy beim Stencil das primäre Ziel hatte, die Fahnenstange in Essex Road (Vgl. Titel der Vorzeichnung) in Form der Elektroleitung einzubinden. Aufgrund deren Position brachte er die beidseitig verwendbare Schablone links statt rechts an. Daher wird im Folgenden vom rechten Arm ausgegangen.

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Auge des Betrachters aufgrund einer außen am Haus verlegten elektrischen Leitung entsteht. Abb. 22: Banksy, Very Little Helps (Stencil), London 2008.

Quelle: Banksy.co.uk (Gesichtet: 26. Juni 2008).

Beider Blick geht zu einer als Fahne gehissten schablonierten Tesco-Einkaufstüte, die ein dritter Junge, eine Rückenfigur, soeben hochgezogen hat. Beider Münder sind leicht geöffnet, als würden sie eine Hymne singen oder ein Gelöbnis sprechen. Der mehrteilige Stencil ist mit Ausnahme der blau-rot-weißen Tesco-Einwegtüte gänzlich in Schwarzweiß gehalten, was (ebenso wie die Blickrichtung der Kinder) das Augenmerk auf die Tesco-Tüte richtet. Banksy brachte ihn Anfang März 2008 im ›besseren‹ Londoner Stadteil Islington in einer Straße an, an der gleich zwei Tesco-Märkte wenige hundert Meter in beide Richtungen zu finden sind. Damit bezieht Banksy sich im engeren (mit dem Fahnenmast) wie im weiteren Sinne (die Tesco-Märkte und das Einkaufsviertel) auf die von Läden dominierte Umgebung. Die Deutung des Werkes geht in zwei Richtungen, wie es zwei sehr unterschiedliche Themengebiete wie eine Karikatur verbindet: die Tesco-Einkaufstüte und einen Fahneneid. Die Komposition, Farbwahl wie der Titel setzen einen klaren Schwerpunkt auf die Supermarkttüte.

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Wenige Tage vor der Anbringung von »Very Little Helps« veröffentlichte die Tageszeitung Daily Mail einen Aufruf mit dem Titel »Ban the bags«125, der auf die unnötige und weiträumige Umweltverschmutzung durch gratis Einweg-Plastiktüten in Großbritannien hinweist, die durch Supermarkt-Ketten wie Tesco betrieben wird. Damit kann man das Werk als generelle Zeitkritik an Tesco wie als konkrete Reaktion auf die derzeitige »Ban the Bags«-Diskussion sehen. Plastiktüten bekommt man in Großbritannien nolens volens bei jedem Einkauf ›gratis‹. Neben dem negativen Effekt für die Umwelt sorgt besonders Tesco dafür, dass sie mit ihren bedruckten Plastiktüten Gratis-Werbung betreiben und ihr Logo in den Wohnungen und Straßen Großbritanniens allgegenwärtig machen. Die anfangs papiererne Einkaufstüte existiert schon seit dem frühen 20. Jahrhundert. Gratis wurde sie erst mit dem Aufkommen der Selbstbedienungsläden. Sie wirkt verkaufsfördernd, da sie auch ungeplante Einkäufe ermöglichte und die Kassenabfertigung beschleunigte. Erst ab den 1960er Jahren wurde sie aufgrund sinkender Kunststoffpreise aus Polyethylen gefertigt.126 Für Banksy ist die Supermarkttüte Schleichwerbung und negatives Sinnbild der Konsum- oder Wegwerfgesellschaft, da sie Müll repräsentiert, die Kehrseite des Konsums. Zeigt Banksy in »Discount Soup Can« eine Parodie auf die Kunstgeschichte mit leicht politischem konsumkritischen Anklang, ist »Very little helps« eine ätzende Anklage an das Quasi-Monopol einer Supermarktkette, deren Verantwortungslosigkeit der Umwelt wie der Zukunft ihrer Käufer gegenüber in Banksys Augen nur von Tescos rücksichtslosen Gewinnstreben übertroffen wird. Wenn man vom Tesco-(Tüten-)Slogan »Every Little Helps«127 den ersten Buchstaben weglässt, bleibt der von Banksy gewählte Titel. Zum einen bezieht er sich auf eine nicht kommerzielle Verbraucherschützer- und (Ex-)Tesco-MitarbeiterSelbsthilfe-Webseite gleichen Namens.128 Damit macht Banksy diese bekannter, da Fans, wenn sie das Werk über eine Internet-Suchmaschine finden wollen, unter den ersten Treffern auch diese Seite sehen. Banksy will, dass sich Konsumenten über einen Konzern informieren, bei dem fast jeder in Großbritannien regelmäßig einkauft, um aufgeklärtere, aktivere Verbraucher zu werden. »Very Little Helps« kann verschieden übersetzt werden, positiv mit »[schon] sehr wenig hilft«, ambivalent mit »sehr wenig [im Sinne von: fast nichts] hilft«. Wenn sich Verbraucher über Tesco informieren würden, stießen sie auf weitere, universellere Kritikpunkte, die nicht nur auf Tesco, sondern auf viele Großkonzerne 125 Sean Poulter und David Derbyshire: Banish The Bags: The Mail launches a campaign to clean up the country ... and the planet. Daily Mail Online vom 27. Februar 2008. Banksys Zeichnung ist kurioserweise auf den 25. Februar 2008, also davor datiert. 126 Vgl. König 2008, S. 250. 127 Englische Redewendung die zu Deutsch in etwa ›Kleinvieh macht auch Mist‹ bedeutet. 128 Vgl. http://www.verylittlehelps.com/ (Gesichtet: 5. Februar 2010).

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zutreffen. Beide haben mit Kindern zu tun. Der Titel kann auch mit »sehr kleine Hilfen« übersetzt werden. Mit Letzterem kann ein Bezug zu einem Tesco-Skandal um Kinderarbeit in Bangladesch hergestellt werden.129 Das Thema Kinderarbeit ist immer auch ein Konsumthema, da Kinder meist als billige Arbeitskräfte von westlichen Konzernen in Entwicklungsländern eingesetzt werden, um in den Industrieländern Produktionskosten niedrig und damit die Gewinne hoch zu halten. Doch auch als Käufer werden Kinder von Konzernen wie Tesco manipuliert. Letztere ziehen ihre Vorteile daraus, dass Kinder Marketingmechanismen noch wenig durchschauen, ebenso wie viele Erwachsene oder Alte, die in dieser Hinsicht ›wie Kinder‹ sind.130 Der zweite Themenkomplex in »Very Little Helps« handelt von dem Fahneneid, den die Kinder offensichtlich leisten. Viele Kinder in Amerika sprechen jeden Morgen in der Schule einen Eid auf die amerikanische Flagge: »The Pledge of Allegiance to the Flag: ›I pledge allegiance to the Flag of the United States of America, and to the Republic for which it stands, one Nation under God, indivisible, with liberty and justice for all.‹, should be rendered by standing at attention facing the flag with the right hand over the heart. When not in uniform men should remove any non-religious headdress with their right hand and hold it at the left shoulder, the hand being over the heart.«

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In Großbritannien schwören Kinder nicht jeden Morgen einen Eid auf den Union Jack. Dennoch steht die Parallele aus mehrerlei Gründen im Raum. Zum Einen weisen die britische und die amerikanische Flagge die gleichen Farben wie die TescoFirmenfarben auf. Des Weiteren spendete Banksy im März 2009 eine weitere Version von »Very little helps« (Abb. 23) für einen wohltätigen Zweck, die abgesehen von den Farben keinen Bezug mehr auf Tesco enthält. Hier schwören die Kinder auf eine Unterhose, ein beliebtes England-Souvenir, also ein Konsumprodukt, die das Muster des Union Jack aufweist.132 Ob Tesco-Tüte oder Unterhose, in beiden Fällen macht sich Banksy über den Vorgang des Fahneneides und damit über Nationalismus lustig wie er vor dessen Gefahren warnt, weil 129 Vgl. Waliur Rahman: Bangladesh ‘child labour’ probe. BBC News Online vom 11. Oktober 2006. 130 »Amongst the most vulnerable [being manipulated by advertising] I include the older pre-teens, youth […] and those with fragile self identity.« Lodziak 2002, S. 64. 131 Vgl. US Office of the Law Revision Council: http://uscode.house.gov/download/pls/ 04C1.txt (Gesichtet: 7. Februar 2010). 132 Es handelt sich um eine Unterhose, weil bei der Wohltätigkeitsauktion Prominente ihre Unterhosen versteigerten. Union-Jack-Unterhosen sind ein beliebtes Souvenir und an vielen Kommerziellen Marktständen und Läden zu finden. Vgl. Simon Hattenstone: Take 10: Celebrity pants. The Guardian Online vom 21. März 2009.

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er suggeriert, dass man Kindern eine Einkaufstüte oder ein Kleidungsstück präsentieren könnte und sie würden einen Eid darauf schwören. Abb. 23: Banksy, Very Little Helps (Zeichnung), Benefiz-Auktion Celebrity pants 2009.

Quelle: http://www.flickr.com/photos/artofthestate/ 3383988929/ (Gesichtet: 12. März 2011).

Banksy kritisiert unreflektierten Gehorsam jeder Art. Eine Fahne ist wie eine Unterhose ein Stück Stoff und damit nichts, auf das man schwören sollte, ohne sich der Absurdität dieses Fetischismus bewusst zu sein. Laut Banksys überspitzter Konsumkritik werden naive Menschen wie Kinder mit Werbung und Marketingstrategien ebenso zum Konsumieren verführt wie sie durch früh indoktrinierten Nationalismus manipuliert werden.Unter Umständen ließ sich Banksy zu »Very Little Helps« von dem Gemälde »McDonalds Nation« (Abb. 24) des Amerikaners Chris Woods von 1996 inspirieren, das in dem einflussreichen, konsumkritischen Buch »No Logo« von Naomi Klein abgedruckt ist, welches Banksy sicher kannte.133

133 Vgl. Klein 2000, S. 234.

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Abb. 24: Woods, McDonalds Nation (Öl auf Leinwand), 175.3 x 175.3 cm, 1996.

Quelle: http://www.chriswoodsartist.com/id110.html (Gesichtet: 12. März 2011).

Hier stehen zwei McDonalds-Mitarbeiter vor dem Logo ihrer Firma und sprechen ebenfalls einen Fahneneid. Wie Banksy wenige Jahre später, kritisiert auch Woods Fastfoodkonsum und den Einfluss großer Konzerne auf die (in Woods Fall amerikanische) Nation, weil diese rein von wirtschaftlichen Interessen geleiteten Firmen teils so mächtig und einflussreich wurden wie eine Armee. Die Kombination des amerikanischen Fahneneids mit dem britischen Konzern Tesco weist zudem auf das ›besondere Verhältnis‹ Großbritanniens zu den USA hin, wo jeder neue britische Premier zuerst den amerikanischen Präsidenten besuchte und die USA wirtschaftlich im Irakkrieg, der selbst im Volk äußerst umstrittenen war, treu oder blind (je nachdem, wen man fragt) unterstützte.134

134 Diese Haltung änderte sich laut SZ vom 2. Juli 2010 mit dem kurz zuvor stattgefundenen Regierungswechsel. Vgl. Wolfgang Koydl: Mehr EU, weniger USA. SZ Online vom 2. Juli 2010. Mittlerweile [2012] scheint das ›besondere Verhältnis‹ jedoch wieder hergestellt.

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iii) Essentials und Non-Essentials – Einkaufstüte und Religion Abb. 25: Banksy, We don’t need anymore heroes, we just need someone to take out the recycling (Grafik), London 2003-2005.

Quelle: Banksy 2006. S. 203.

Das Motiv der Einkaufstüte verwendet Banksy öfter, jedoch sonst nur in legalen Arbeiten.135 Die dort verwendeten Tüten sind faltbare Papptüten wie sie in Boutiquen verwendet werden statt Supermarkt-Einkaufstüten. Dies zeigt den Unterschied zwischen Essentials und Non-Essentials, auch wenn es im Supermarkt auch Non-Essentials gibt, gibt es in der Boutique tendenziell nur Non-Essentials. Lawson schreibt 2009: »Of the £ 228 billion we spend every year in Britain, more than half is spent on non-essentials.«136 Nicht-Essentielles ist also wichtiger als Essentielles, ein Paradox, das in der Konsumgesellschaft zur Normalität wurde. Banksys

135 In einem frühen Interview sagt Banksy, dass er komplexere Sachverhalte eher in anderen Medien denn in Street Art behandelt. Vgl. Jackson 2000. 136 Vgl. Lawson 2009, S. 13. Natürlich lassen sich derartige Zahlen immer in Frage stellen und was essentiell ist, kann man ebenso zur Debatte stellen.

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Schwerpunkt auf Tesco illustriert, dass auch Konsumzeichen wie die Supermarkttüte, die zunächst mit Essentials assoziiert werden, dringend auf Alternativen beziehungsweise auf versteckte Manipulationen hin untersucht werden müssen. Eine klassische antike Marmorstatue versah Banksy 2009 mit zeitgemäßem Outfit und Boutique-Einkaufstaschen sowie riesiger Sonnenbrille, so dass sie an die Konsumikone Paris Hilton erinnert137, die auf die Frage antwortete, warum sie so erfolgreich sei: »Because I’m a brand like no one else«. Tatsächlich ist Paris Hilton eine eingetragene Handelsmarke.138 Wurden früher Götter als moralisches wie optisches Ideal angebetet, werden heute Celebrities gefeiert, die es sich finanziell leisten können, stellvertretend für den Normalverbraucher unendlich zu konsumieren, lautet die ironische Aussage Banksys. Im Fall Hiltons fußt ihre Bekanntheit hauptsächlich auf dem (finanziellen) Erbe ihrer Familie. Banksy beschäftigte sich bereits 2006 mit Hilton, als er in einer Kunstaktion 500 ihrer Debüt-CDs heimlich in mehreren britischen Läden durch Repliken ersetzte, auf deren Cover statt Songtitel »Why am I Famous?«, »What Have I Done?« and »What Am I Here For?« stand. Im Inlet war ihr Kopf durch den ihres Schoßhundes ersetzt oder neben einer Schaufensterpuppe mit Hiltonkopf stand zu lesen: »Thou shalt not whorship false idols«.139 Die Puppe »Hilton« wurde zur pseudogriechischen Gipsstatue mit Einkaufstasche, die ihr Attribut ist. Sie ist ein False Idol, nicht nur weil sie statt Marmor aus Gips ist, sondern weil ihre Bekanntheit nicht auf Können oder Leistung basiert, sondern sie in erster Linie berühmt dafür ist, reich und allgegenwärtig zu sein. Banksy spiegelt hier die Konsumgesellschaft, in der sich das Individuum durch Konsum(ieren) definiert und an perfekten Konsumierenden wie Hilton orientiert und an der Kaufkraft der Wert einer Person gemessen wird, nicht an deren Fähigkeiten. In einem in mehreren Fassungen ausgeführtem Werk Banksys von 2003140 (Abb. 25), findet sich der gekreuzigte Jesus mit ausgebreiteten Armen, jedoch fehlt das Kreuz, weshalb die Vorlage wohl ein Foto einer typischen, geschnitzten JesusFigur aus einem Herrgottswinkel sein könnte. In beiden Händen hält Banksys Jesus Boutique-Einkaufstaschen, aus denen mehrere (Überfluss-)Konsumgegenstände herausragen. Erkennbar sind mit Schleifen verpackte Geschenke, eine Sektflasche, 137 So auch Tim Adams: Banksy: The graffitist goes straight. In: The Observer, Guardian Online vom 14. Juni 2009. 138 Vgl. Lawson 2009, S. 29. 139 Das Bibelzitat zum Überflusskonsum, der Geschichte rund um das Goldenen Kalb taucht auch in Damien Hirsts Werk »The Golden Calf« auf und wird im gleichnamigen Kapitel näher behandelt. 140 Dieses Einzelstück wurde auf der Santa’s Ghetto Ausstellung 2003 gezeigt. 2005 gab Banksy einen motivgleichen, wenn auch neu gestalteten Siebdruck (Editon von 82) heraus.

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eine Zuckerstange sowie die charakteristischen Ohren einer Mickey-Mouse-Figur. Die Tatsache, dass der bereits tote Christus immer noch krampfhaft am Luxus festhält, lässt Assoziationen an ›Das letzte Hemd hat keine Taschen‹ zu und mahnt, dass Überflusskonsum letztendlich nichtig ist. In »Wall and Piece« druckt Banksy das Werk in einer zweiten Version von 2005 ab, diesmal mit der Inschrift »We don’t need any more heroes, we just need someone to take out the recycling.«141 Wie bei den »Crude Oils« aktualisiert Banksy hier das traditionell christliche Motiv von Jesus am Kreuz mit zeitgemäßen Gegenständen. Die Geschenke wie die Tatsache, dass das Motiv 2003 und 2005 in der Santa’s Ghetto Weihnachtsausstellung hing, lenken die Richtung der Deutung auf eine Kritik der Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes (Christi Geburt). Mit »no more Heroes« ist Jesus gemeint. »we just need someone to take out the recycling« klingt flapsig und erinnert an den vielzitierten Konflikt zusammenlebender Paare oder Wohngemeinschaften, wer den Müll wegbringt. Die Bildunterschrift kann so verstanden werden, dass eine konsumorientierte Welt heute einen Weltenretter dafür bräuchte, um konkret das Müllproblem, beziehungsweise die negativen Seiten unseres Konsums generell zu lösen, damit die (westliche) Welt bedenkenlos weiter konsumieren kann. Das Werk kann jedoch auch allgemeiner verstanden werden, so schreibt etwa Stallabrass über die YBAs: »For such artists, it is clear that we are living in a time of twilight of ideals: […] Not only gods but heroes have been put into not-so-genteel retirement. […] Artists are among the failed heroes, naturally.«142 Die Tatsache, dass Überflusskonsumprodukte im Bildteil sich als Müll (»the recycling«) im Textteil wiederfinden, illustriert die Kurzlebigkeit und fehlende Nachhaltigkeit unserer Konsumgesellschaft. Auch ein Zusammenhang mit Benjamins These von Kapitalismus als Religion kann hergestellt werden: Das ursprünglich religiös motivierte Weihnachtsfest ist oft eher Anlass, viele Konsumgüter zu kaufen, eventuell um sich Liebe und Zuneigung sowie ein gutes Gewissen zu erkaufen, da man, überspitzt formuliert, übers Jahr vor lauter Geldverdienen keine Zeit für sich und seine Lieben hatte. Das Dargestellte in diesem Werk befragt damit ironisch das Werk selbst, welches ja kurz vor Weihnachten zum Verkauf steht und mit großer Wahrscheinlichkeit selbst ein Weihnachtsgeschenk werden könnte. Damien Hirst verwendete das von Banksy zur Verfügung gestellte Werk 2009 als Requisite in einem britischen Kinofilm, wo Hirst als art curator im Abspann geführt wurde. Die Satire »Boogie Woogie« persifliert die Londoner Kunstszene und insbesondere die YBAs. »Christ with Shopping Bags« schmückt das Arbeitszimmer des betrügerischen, sexsüchtigen, allmächtigen Kunstsammlers, wohl ein Zerrbild Saatchis. Die Verwendung des Werkes in diesem Zusammenhang betont zum Einen 141 Vgl. Banksy 2006, S. 202. 142 Stallabrass 2006, S. 143.

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die Etabliertheit Banksys und damit auch von Street Art, der sich die Wohnung eines Sammlers mit Matisse und Brâncuúi teilt. Zum Anderen macht es die Diskrepanz zwischen dem konsum- und gesellschaftskritischen Inhalt des Bildes und dem konsumverherrlichenden, dekadenten Besitzer von »Christ with Shopping Bags« aufmerksam. Über viele Jahrhunderte wurden hauptsächlich religiöse Themen wie ›Der Gekreuzigte‹ oder ›Maria mit dem Kinde‹ behandelt. Heute ist ein Großteil der Bilder, die wir täglich sehen, kommerzieller Natur: »Researchers have run an experiment to count the number of brand messages we see in a day. […] [T]he answer is a staggering average of 3,500.«143 Banksy kombiniert noch in einigen anderen Werken die beiden Ideologien Religion und Kapitalismus. In »Sale Ends Today« sieht man Renaissance-Klageweiber nicht vorm Gekreuzigten, sondern vor einem Schild, das verkündet, dass heute der Schlussverkauf endet, was für die Frauen offenbar ebenso wichtig und schlimm ist wie früher der Tod Jesu. Das 2009er »Crude Oil« mit dem Titel »Silent Night« zeigt eine Madonna mit Jesuskind. Der Titel passt nicht nur zu Christi Geburt und Weihnachten, sondern dazu, dass die Mutter Gottes einen iPod trägt, also mit Ohrhörer Musik hört. Sie kann ihren Sohn also nicht hören, der jedoch nach dem Musikspieler greift, also auch Musik konsumieren will oder auch das Konsumprodukt iPod als Weihnachtsgeschenk will. Dieses an Werbung erinnernde Gemälde thematisiert ironisch die Isolation von Eltern und Kindern voneinander durch übermäßigen Medienkonsum und spielt auf die schon genannte Strategie an, Werbung mit der traditionellen Wichtigkeit anderer Bereiche aufzuladen, etwa durch Verwendung eines adelnden Goldrahmens oder eine religiöse Darstellung.

Q)

I NSTALLATION – T HE V ILLAGE P ETSTORE C HARCOAL G RILL

AND

»The Village Petstore and Charcoal Grill« war eine temporäre Installation verschiedener dreidimensionaler Werke, die im Oktober 2008 in einem leerstehenden Ladengebäude in New York zu besichtigen war.144 Der Großteil dieser Installation war – leicht abgeändert – im Sommer 2009 in der »Banksy versus Bristol Museum«Ausstellung zu sehen.145

143 Vgl. Lawson 2009, S. 74. 144 Vgl. Marc Schiller: The Village Pet Store And Charcoal Grill Opens in New York City. Woostercollective.com vom 9. Oktober 2008. 145 Einzelne Teile zeigte er zudem bei der Londoner Premiere seines Filmes »Exit through the gift shop« im Februar 2010.

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Abb. 26: Banksy, The Village Petstore and Charcoal Grill [Außenansicht] (Installation und Webseite), New York 2008.

Quelle: http://www.woostercollective.com/villagepetstore.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Banksy kündigt normalerweise seine Ausstellungen auf seiner Webseite an, worauf er diesmal verzichtete. Nirgends stand sein Name geschweige denn wurde konstatiert, dass es sich überhaupt um eine Ausstellung handelt.146 Der Grund dafür liegt in der Natur der Ausstellung, die erfolgreich vorgab (und auf den ersten Blick auch so wirkte), eine echte Zoohandlung in der absurden Kombination mit einem GrillSchnellrestauant zu sein, in dem ›lebende‹ Tiere oder Tierprodukte zu sehen waren. Wie Kommentare von Anwohnern und Passanten in Nachrichtenvideos belegen, hielten diese die Installation im New Yorker East Village (Abb. 26) tatsächlich (zunächst) für eine Zoohandlung147, da Banksy erst vier Tage nach Eröffnung auf der tonangebenden Street-Art-Seite Woostercollective.com die Ausstellung als solche und seinige bestätigte. Am selben Tag schaltete er die gleichnamige Webseite thevillagepetstoreandcharcoalgrill.com, auf der man mehrere Videos und Fotos sehen kann148, welche die meisten ›Tiere‹ zeigen.149 Die Videos waren auch auf einer Vi-

146 Einzig die angegebene Email-Adresse enthielt das Wort »bansco«, was als Hinweis auf Banksy diente. 147 Vgl. Heather Alexander: Banksy opens bizarre ‘pet shop’. BBC News Online Video vom 10. Oktober 2008. 148 Bei Redaktionschluss dieser Untersuchung war die Seite noch online. 149 Im Folgenden werden ausschließlich die wichtigsten Installationsteile, nämlich die, welche Banksy auch Online präsentierte, behandelt. Andere wie die Tarantel im Kau-

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deoplattform zu finden, wo sie bis zur Veröffentlichung dieser Arbeit je nach Video 10.000 bis 100.000 Mal angesehen worden sind.150 Im Laden selbst hatten nur etwa 20 Besucher gleichzeitig Platz, man konnte jedoch Tag und Nacht durch die Schaufenster die meisten Ausstellungsstücke betrachten. Damit ist die Ausstellung wie auch Banksys Street Art tendenziell eher als virtuell zu bezeichnen, da sowohl was die zeitliche Dauer als was die Anzahl der Besucher anbetrifft, die Zahl der Besucher online die der real vor Ort befindlichen bei Weitem übertrifft. Abb. 27: Banksy, The Village Petstore and Charcoal Grill [Innenansicht mit Aufsehern] (Installation und Webseite), New York 2008.

Quelle: http://miphol.com/muse/2008/10/10/The%20Village%20Pet%20Store% 20and%20 Charcoal%20Grill.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Statt gesprühter oder bemalter Leinwände zeigte Banksy bei seiner ersten151 New Yorker Einzelausstellung bewegte Tierplastiken, sogenannte Animatronics, Tierroboter, die ein gewisses (relativ natürlich wirkendes) Bewegungsrepertoire aufweisen, das wiederholt wird. Im Falle von »Village Petstore and Charcoal Grill« handelte es sich um Animatronics, die Tiere – etwa einen Leoparden und einen Affen – oder Tierprodukte wie Chicken Nuggets oder Würste imitieren. Die (eigentlich unbeweglichen) Tierprodukte bewegen sich wie die Tiere, aus denen sie hergestellt gummiautomat und der Spielzeugdelfin im Schleppnetz werden aus Platzgründen weggelassen. 150 Vgl. http://www.youtube.com/user/banscopetstore (Gesichtet: 7. Februar 2010). Videos wie Webseite waren bis zur Veröffentlichung dieser Untersuchung 2012 online. 151 Banksy machte etwa um 2000 mehrere Sprühreisen nach New York und nahm 2002 an einer Gruppenausstellung teil. Vgl. Banksys Ausstellungen und Aktionen im Anhang.

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wurden oder wie solche, an die sie nach ihrer Verarbeitung erinnern, eine Wurst etwa bewegte sich wie eine Schlange. Beaufsichtigt wurde die Installation von wechselnden, von Banksy engagierten Aufsehern (Abb. 27), die sich als Verkäufer dieser fiktiven SchnellrestaurantZoohandlung ausgaben.152 Diese kommen in Videos zur Sprache, wo sie die Tierinstallationen kommentieren, wobei sie offenbar angewiesen worden sind, so zu tun, als ob es sich um echte Tiere handelt. Höchstwahrscheinlich waren ihre Kommentare von Banksy vorgegeben. Authentisch war selbst der Geruch, der laut BBC mittels Bärenurin erzeugt wurde, ein kommerziell verwendeter Lockstoff, den normalerweise Jäger verwenden, um Bären zu fangen. Die Videos sind ohne Ton, bis auf eines, das Banksy gesondert zeitweilig auf banksy.co.uk veröffentlichte, das Zoogeräusche imitierte. So hörte man nicht nur Tiergeräusche, sondern auch kleine Kinder und andere Zoobesucher. Als Banksy Teile der Installation in Bristol zeigte, verzichtete er auf den Geruch, ließ dafür wieder Tiergeräusche vom Band kommen, die an Zoo oder Dschungel erinnerten. Damit spricht Banksy fast alle Sinne an und versucht wiederum, ›Realität‹ im Galerieraum zu erzeugen. Die Teilinstallationen – einzelne oder Gruppen von Animatronics – befinden sich jeweils in einem Käfig und bilden gemeinsam die fiktive ›Fastfood-Zoohandlung‹. Aus Platzgründen und um Wiederholungen zu vermeiden, wurde die Analyse auf die signifikantesten Teilinstallationen beschränkt. Stärker noch als in anderen Ausstellungen Banksys ist hier statt einer Ansammlung einzelner Ausstellungsstücke ein Werkkomplex oder eine Installation zu sehen. Ein direkter Bezug zur Umgebung ist durch das Wort »The Village« im Titel gegeben, welches auf das New Yorker (in die Jahre gekommene) Künstlerviertel Greenwich Village anspielt. Dort befindet sich eben das ehemalige, zum Ausstellungsraum umfunktionierte Geschäft zwischen Restaurants, Bars und anderen kommerziellen Läden. Banksy stellt nicht irgendwo in New York, sondern in einer Gegend aus, wo es viele Kreative gibt, wo seine Kunst also auch wahrgenommen wird. Banksy bezeichnet die Installation als Street Art: »If its art and you can see it from the street, I guess it could still be considered street art.«153 Mit »If it’s art« spielt Banksy darauf an, dass – wie oft bei Street Art – in Frage gestellt wird, ob es sich überhaupt um Kunst handelt, oder ob sie denn überhaupt als Kunst erkannt wird. Weniger aufmerksamen Passanten entgeht mit Sicherheit Street Art wie auch 152 Dies ist mehreren Videos und Fotos zu entnehmen, wo die mit braunen Schürzen bekleideten Aufseher teils auch befragt werden. 153 Banksy zitiert bei Marc Schiller: Banksy Talks About The Village Pet Store and Charcoal Grill. Woostercollective.com vom 9. Oktober 2008. Dies ist das erste und einzige Mal, dass Banksy den Begriff Street Art verwendet. Normalerweise bevorzugt er ›Graffiti‹, da für ihn der Begriff ›art‹ negativ behaftet ist.

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eine Zoohandlung, da hier Kunst außerhalb eines gewohnten Kunstkontextes präsentiert wird, wo der Betrachter weniger als solcher zu bezeichnen ist, vielmehr als Passant. Es ist das erste Mal, dass Banksy statt Graffiti den Begriff Street Art tatsächlich verwendet, bezeichnenderweise für eine Indoor-Ausstellung, die auch fast der Galeriekunst zugeordnet werden kann. Banksy stellt damit die von vielen Street Artists als einengend empfundene Kategorie Street Art in Frage und erweitert sie. »The Village Petstore and Charcoal Grill« klingt absurd, zeigt jedoch die Mehrdeutigkeit von Beziehungen des Menschen zum Tier auf, die – stark vereinfacht – entweder Haustier oder Nahrungsmittel und teils sogar beides sein können. Im allen analysierten Fällen sind Tiere Konsumgegenstände oder repräsentieren Schattenseiten von Konsum. Banksys Haltung erscheint in dieser Ausstellung in erster Linie moralisch-aktivistisch. Der leichte, warme, karikierende Humor seiner früheren Werke weicht schwarzhumorig-bitterem, etwas einseitigem Zynismus, der teils die Metaebene in der Deutung der klaren und teils platten Botschaften der Teilinstallationen fehlen lässt, die sich jedoch auf die Umstände der gesamten Installation verschiebt. Man darf die Teile dieser Ausstellung nicht als einzelne Werke betrachten, sondern muss »The Village Petstore and Charcoal Grill« als eine Art Gesamtkunstwerk sehen, dessen Teile unterschiedliche Aspekte behandeln. Banksy geht hier über seine sonst hauptsächlich genutzten Medien Schablone, Druck und Malerei hinaus und inszeniert ein konsumkritisches Happening. Eine theatrale Kombination von an sich banalen Bonmots bietet auch Damien Hirsts Kunst, dessen Serienkunst nur in größerem szenischem Zusammenhang Sinn macht.

R)

F ASTFOODKONSUM – »N UGGETS «

UND

»S AUSAGES «

Im Video »Nuggets« wird ein Schaukäfig (Abb. 28 und 29) gezeigt, in dem ein kleiner Hühnerstall mit falschem Hahn zu sehen ist, vor dem mehrere Chicken Nuggets stehen. Diese panierten Hühnerteile der Fastfoodkette McDonalds werden normalerweise in verschiedene Plastikschälchen mit Soßen ›gedippt‹. Banksy ließ Animatronics bauen, die wie Chicken Nuggets aussehen, sich jedoch wie Küken verhalten und auch Füße wie diese aufweisen. Zwei ›picken‹ in eine Wegwerf-Plastikdose mit Soße, ein anderes ›schlüpft‹ gerade aus einem Ei, seine Panade wirkt noch fast flüssig. Ein Viertes reibt sich an der Stallwand. Banksy äußert sich zum Konzept der Installation folgendermaßen: »New Yorkers don’t care about art, they care about pets. So I’m exhibiting them instead. I wanted to make art that questioned our relationship with animals

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and the ethics and sustainability of factory farming, but it ended up as chicken nuggets singing.«154 Banksy karikiert hier den Umstand, dass Küken gemeinhin als etwas sehr Positives, Reines und Schönes angesehen werden, Hühner jedoch oft in Legebatterien und Käfigen ein klägliches Dasein fristen, um schließlich konsumiert zu werden. Indem Banksy Hühnerprodukte in einer vermeintlichen Zoohandlung zeigt, macht er bewusst, dass wir manche Tiere schlachten und andere, teils ähnliche, als Haustiere halten. Zudem macht Banksy das durch die industrielle Verarbeitung abstrakt zum Chicken Nugget gewordene Huhn wieder zu einem konkreten Tier. Er zeigt dem Betrachter, dass die abstrakte Form den Konsumenten oft vergessen lässt, dass er eine vormals lebendige Kreatur zu sich nimmt. Banksy folgert ironisch, dass sie sich dann wohl auch Küken mit Panade vorstellen. Der Titel »Nuggets«, Goldstücke, verweist auf die Tatsache, dass mit goldbrauner Panade versehenen, oft (als minderwertig anzusehenden) Fleischresten laut König ein Wohlstandsimage verliehen wurde: »Seinen Aufstieg verdankt das Hühnerfleisch der erfolgreichen Implementierung eines Gesundheitsimages und einer kräftigen Preisreduzierung aufgrund industrialisierter Produktionsmethoden.«155 In den letzten fünfzig Jahren hat sich der Fleischkonsum in den westlichen Ländern laut Lawson verfünffacht und wurde damit nicht nur zu einem Gesundheitsproblem, da eine Ernährung, die in erster Linie auf Fleisch basiert, einseitig ist. Früher gab es den sprichwörtlichen Sonntagsbraten einmal die Woche, weil Fleisch teuer und selten war. Heute leben etwa doppelt so viele Hühner wie Menschen auf der Erde. Deren Zucht und Haltung (wie die von Schweinen und Rindern) erfordert wesentlich mehr Energie und verursacht damit einen erheblich höheren CO²-Ausstoß als vegetarische Nahrung: »One acre of land yields an average 20 kilos of usable protein from meat, but 35 kilos of corn and 161,5 kilos of soya beans. Such inefficiency makes it harder to feed the world’s people.«156 Ähnlich äußert sich Susan McHugh von der University of New England in Zusammenhang mit Banksys Installation:

154 Banksy zitiert bei Marc Schiller: Banksy Talks About The Village Pet Store and Charcoal Grill. Woostercollective.com vom 9. Oktober 2008. Der Kommentar ist pointiert formuliert, tatsächlich sangen die Nuggets jedoch nicht, auch kam keine Musik vom Band. 155 Vgl. König 2008, S. 111. 156 Lawson 2009, S. 101.

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Abb. 28: Banksy, Nuggets (Teilinstallation), New York 2008.

Quelle: http://www.artnewsblog.com/images/banksy-pet-store. jpg (Gesichtet: 12. März 2011). »As meat moves from sacrificial object to status symbol, dietary garnish to staple, the flycovered wares of slaughtering butchers to the refrigerated, plasticwrapped supermarket item it symbolizes even as it transforms modern societies. And meat eating has reached a boom phase; with world consumption scheduled to double by 2050, it has become an index of global consumerism as well as its problems.«

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Banksy weist durch seine vordergründig witzigen und eindimensional wirkenden Werke auf wichtige und zeitspezifische Konsumphänomene hin, die in Zusammenhang mit globalen Problemen wie Klimaerwärmung und Hunger stehen, wenn man von den direkten Folgen wie ungesunder Ernährung, Wegwerfgesellschaft und Massentierhaltung absieht. Für Zygmunt Bauman ist Fastfood zudem als Synonym für Vereinsamung in einer Konsumgesellschaft zu sehen:

157 Susan McHugh: Revolting Nuggets and Nubbins. In: Antennae, Ausgabe 8, Nr. 2, Winter 2008, S. 14-19.

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Abb. 29: Banksy, Nuggets (Teilinstallation), New York 2008.

Quelle: Mikion. http://www.flickr.com/photos/35468141096@N01/2925957929/ (Gesichtet: 12. März 2011). »Es ist anzunehmen, dass die ›unbeabsichtigte Folge‹ von ›Fastfood‹, ›Essen zum Mitnehmen‹ oder ›Fertiggerichten‹ (oder vielleicht auch deren ›latente Funktion‹ und der wahre Grund für die unaufhaltsame Zunahme ihrer Beliebtheit) entweder darin besteht, das Versammeln um den Familientisch überflüssig zu machen und damit dem gemeinsamen Konsum ein Ende zu bereiten, oder durch einen Akt der Kommensalität, des gemeinsamen Konsums, den Verlust der lästigen Merkmale des Knüpfens und Bestätigens von Banden, die er einst hatte, die in der flüchtig-modernen Konsumgesellschaft jedoch irrelevant oder sogar unerwünscht geworden sind, symbolisch zu bekräftigen. ›Fastfood‹ ist dazu da, die Einsamkeit 158

einsamer Konsumenten zu schützen.«

Auch im Video »Sausages« behandelt der ausgebildete Metzger159 Banksy das Thema Tierkonsum. In mehreren, an Schlangenterrarien (Abb. 30) erinnernden, beleuchteten Glasschaukästen befinden sich Animatronics, die sich wie Schlangen bewegen, jedoch wie unterschiedliche Würste aussehen. Auf dem Boden der Terrarien liegen Sand, kleine Äste und handflächengroße Steine. Im ersten ist ein artifizieller Hot Dog zu sehen, also eine Brühwurst im Brötchen, die in diesem zuckt und sich bewegt. Im Zweiten kommt eine Brühwurst zaghaft und langsam aus einer Art

158 Zygmunt Bauman: Leben als Konsum. Hamburg 2009 [Originalausgabe 2007], S. 103. 159 Vgl. Manco 2002, S. 76.

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Höhle und berührt eine andere, die wiederum in einem Hot-Dog-Brötchen liegt. Die zärtlich-absurde Szene erinnert an einen Kuss. Abb. 30: Banksy, Sausages (Installation), New York 2008.

Quelle: http://www.woostercollective.com/banksyhotdogs.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Das dritte Terrarium zeigt wiederum zwei Hot Dogs, beide haben Senf auf der Oberseite, einer scheint an einer wie ein Wasserspender verkehrt herum aufgehängten Senfflasche links im Käfig zu ›nuckeln‹. Rechts befindet sich eine Wasserschale, aus der eine Wurst ›trinkt‹, beziehungsweise die ihren ›Kopf‹, ihr Ende, hineintaucht. Im vierten sind auf einem flachen Stein fünf sehr kleine, zuckende Würstchen zu sehen, im fünften Terrarium daneben eine einzelne, sehr große Wurst, wohl eine Salami. Sie liegt halb auf einem Stein, halb auf dem Sandboden. Neben ihr steht eine größere Trinkschüssel mit Wasser rechts im Käfig. Das eine Ende der Wurst bewegt sich sehr langsam und träge, das andere ist in Scheiben geschnitten. Der letzte Käfig zeigt eine Streichwurst in durchsichtiger Plastikverpackung, auf der ein Etikett mit der Aufschrift »Bologna« klebt. Auch sie bewegt sich, wobei ihr Ende an der Scheibe wetzt, was ein leises quietschendes Geräusch entstehen lässt. Auch bei dieser typisch amerikanischen bologna sausage (auch baloney/boloney) handelt es sich um eine ebenso populäre wie billig produzierte, Hot-Dog-ähnliche Wurst, die »beef, pork, turkey, chicken, or a combination« dieser Fleischsorten enthalten kann. Sie besteht aus Fleischresten (beziehungsweise -abfall) und ist daher besonders billig und abstrakt (man sieht kaum Fleischstruktur). Diese ist in Amerika als Stereotyp für billige und minderwertige Speisen sozial Schwächerer be-

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kannt.160 Im Laden liegen zudem als Dekoration (unverkäufliches) abgepacktes Hunde- und Katzenfutter, Tierspielsachen, Billigwurst in Scheiben für (laut Preisschild) unter einem US-Dollar und in den Regalen Dosenfleisch (SPAM). Bologna und SPAM sind beide für schlechte Qualität161 berüchtigt und können als Synonym für schlechte, verantwortungslose Ernährung gesehen werden. Das Wurst-Geschehen in den Terrarien ist absurd, da die Animatronics sich nicht einmal wie die Tiere bewegen, aus denen die Produkte hergestellt werden, die sie repräsentieren. Obwohl sie sich (wohl aufgrund ihrer Form) eher wie Schlangen bewegen, erinnern sie aufgrund der Größe und der Aufbewahrungskäfige an Hamster, Meerschweinchen oder andere Kleintiere, die als Haustiere gehalten werden. Der englische, leicht humoristische Ausdruck ›Sausage Dog‹ für Dackel findet sich in diesen ›Hot Dogs‹ wieder und die quantitativ überwiegenden Hot Dogs in der Ausstellung können als Anspielung auf den Ausstellungsort, New York, verstanden werden, für den sie als typisch gelten. Der vorgebliche, von Banksy angeleitete Zoohändler kommentiert folgendermaßen: »They’re actually rescue dogs. We use rescue dogs that escaped from Nathan’s Hot Dog Eating Contest.«162 Damit spielt er auf die fragwürdige Praxis des Hot-Dog-Wettessens an, das von einem der ältesten amerikanischen (New Yorker) Hot-Dog-Ketten namens Nathan’s jährlich veranstaltet wird, wo innerhalb von 12 Minuten möglichst viele Hot Dogs ›gegessen‹ werden sollen. Der Rekord lag 2008 bei 68 Hot Dogs.163 Banksy übt damit Gesellschaftskritik an pervertiertem Essverhalten, das weder mit Genuss noch mit dem Stillen von Hunger (Konsum im ursprünglichen Sinne) zu tun hat und das vor dem Hintergrund der Tatsache, dass täglich Tausende in ärmeren Ländern verhungern, auch zynisch genannt werden kann. »If you listen carefully, you can hear them bark«164, sagt Banksys Ladenaufsicht zudem über die Hot Dogs. Dieser Scherz spielt mit dem Namen dieses Sandwiches und enthüllt zugleich die Ambivalenz von Verhältnissen zwischen Mensch und Tier, wo der Hund Haustier und zugleich Name für ein Fastfood-Wurst-Sandwich 160 So bezeichnet der amerikanische Comedian Jim Gaffigans etwa in seinem Sketch über die Bologna-Wurst deren Konsumenten als white trash. 161 Vgl. etwa Monty Pythons Spam Song oder die zweite Bedeutung von baloney (foolishness). 162 Toni Sengal: [Banksy Pet Store NYC FOX TV]. Fox 5 News Video. Auf Youtube gestellt am 15. Oktober 2008. http://www.youtube.com/watch?v=egbZRSctwKc (19. Februar 2010). 163 http://www.nathansfamous.com/PageFetch/getpage.php?pgid=38 (Gesichtet: 19. Februar 2010). 164 Toni Sengal: [Banksy Pet Store NYC FOX TV]. Fox 5 News Video. Auf Youtube gestellt am 15. Oktober 2008. http://www.youtube.com/watch?v=egbZRSctwKc (19. Februar 2010).

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ist, wie ein Fisch Goldfisch im Aquarium und Fischstäbchen sein kann. Der Zusammenhang zwischen Hot Dogs und Hunden als Haustieren kam Banksy angeblich folgendermaßen: »Banksy said, his inspiration came from seeing a Chihuahua wearing a diamond necklace. That is quite common here in New York. They love their dogs. He said he saw that dog walking past a homeless person and never quite recovered from it. He wanted to make some points 165

how we treat animals and how we spoil some and turn others into hot dogs.«

Banksy überspitzt seine Kommentare wie seine Werke absichtlich, um seinen Standpunkt ›rüberzubringen‹: Menschen behandeln teils andere Menschen, etwa Obdachlose, nicht nur ›wie Hunde‹, sondern schlechter und vermenschlichen andererseits Hunde mit Diamanten, wieder andere machen Hunde zu Hot Dogs. Banksy thematisiert neben den genannten, konkreten Aspekten auch Käfighaltung und das Betrachten von Tieren wie Ausstellungsgegenstände in Zoos und Tierhandlungen, was durch das jammernde Schaben der Wurst an der Scheibe verdeutlicht wird. Die Wurst wirkt trostlos und eingesperrt, das Geräusch, das sie macht, wenn sie ihr Ende an der Scheibe reibt, klingt wie ein kläglicher Hilferuf. Banksy erinnert daran, dass Tiere in Zoos aus ihrem natürlichen Umfeld herausgenommen wurden, um gegen Eintrittsgeld zur Schau gestellt, visuell konsumiert zu werden. Insbesondere Platzmangel und Einsamkeit kann oft schwere Folgen für die Psyche der Tiere haben. Banksy thematisierte diesen Umstand des Eingesperrt-Seins und der Hilflosigkeit von Zootieren öfter. So brach er in Zoos unter anderem in Melbourne, London, Bristol oder Barcelona ein, wo er etwa Affen und anderen Tieren Pappschilder gab, auf denen unter anderem steht: »Help me nobody will let me go home«. Neben seinem Unterhaltungswert verschwimmt bei »The Village Petstore and Charcoal Grill« auch die Grenze zum Tierschutzaktivismus. »When graffiti artists began painting trains they were people who had no voice in a New York ghetto. Painting zoo’s is similar in that it’s painting for creatures who can’t express themselves in any other way.«166 Zugleich kann das eingesperrte Tier als Sinnbild für den einsamen, modernen Konsumenten insbesondere in einer Großstadt wie New York gesehen werden.

165 BBC Online: Video. 15. Oktober 2008. http://www.youtube.com/watch?v=kFQ04c6 mrtA (19. Februar 2010). 166 Vgl. Banksy im Interview mit Carey 2002.

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Abb. 31: Banksy ,Leopard (Teilinstallation), New York 2008.

Quelle: http://www.woostercollective.com/villagepetstore2.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Auf den ersten Blick ist im Video »Leopard« ein gefährliches, eingesperrtes Zootier (Abb. 31) zu sehen, das nervös mit dem Schwanz zuckt. Der Betrachter sieht einen Leoparden auf einem Baumstamm liegen. Der zuckende Schweif des Tieres schwingt unruhig hin und her. Von der anderen Seite (im Laden) ist zu erkennen, dass Banksy ein Animatronic diesmal (Abb. 32) in einen Mantel aus (eventuell falschem) Leopardenfell einbauen ließ, der für die Bewegung des Schweifs sorgt, wie für das Heben und Senken des Brustkorbes. Auch dieses ›Tier‹ fristet sein ›Dasein‹ in einem viel zu kleinen Käfig, weshalb es wohl so nervös wirkt. Ein weiterer Grund ist, dass Banksy wie bei seinen Schablonen auch beim Leoparden Klischees bedient: Der Betrachter erwartet wohl von einer Raubkatze, dass sie gefährlich wie im Fernsehen aussieht, weil etwa träges Herumliegen uninteressant wirkt und daher eventuell weniger angesehen wird. Das Hauptaugenmerk ist hier auf die Pointe, die Tatsache gelenkt, dass es sich um einen Mantel handelt.

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Abb. 32: Banksy, Leopard (Teilinstallation), New York 2008.

Quelle: Tokyohanna.http://www.flickr.com/photos/johannaonvideo/2932193597/ Gesichtet: 12. März 2011).

Banksy weist darauf hin, dass Raubkatzen und andere Tiere, die man im Zoo wegen ihrer Schönheit bestaunt, anderswo wegen ihres Pelzes oder ihrer Haut gejagt werden, damit Luxuskonsumgegenstände wie Pelzmäntel oder Krokodillederhandtaschen aus ihnen gemacht werden können. »I took all the money I made exploiting an animal in my last show and used it to fund a new show about the exploitation of animals.«167 Banksy spielt mit dem Zitat auf seine »Barely legal«-Ausstellung von 2006 an, wo er das Sprichwort »There’s an elephant in the room« in die Tat umsetzte und einen lebendigen, mit unschädlichen Farben besprühten Elefanten ausstellte. Dafür bekam er wie schon 2003 bei der »Turf War«- und 2005 bei der »Crude Oils«-Ausstellung Schwierigkeiten mit Tierschutzaktivisten, obwohl er betont, immer alle Richtlinien zur Haltung von Tieren befolgt zu haben.168 167 Vgl. Banksy bei Schiller: Banksy Talks About The Village Pet Store and Charcoal Grill. Woostercollective.com vom 9. Oktober 2008. Zugleich kann dieses Zitat als Rechtfertigung verstanden werden, dass Banksy, der Konsumkritiker, sein verdientes Geld auch ›gut anlegt‹, in neuen Werken nämlich, um Kritik von Seiten derer abzuwenden, die ihm ›Sell out‹ vorwerfen. Vgl. hierzu das Schlusskapitel in Blanché 2010. 168 Vgl. etwa Paul Vallely: Banksy: The joker. The Independent Online vom 23. September 2006.

150 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

Meist repräsentieren Tiere bei Banksy einzelne menschliche Eigenschaften positiver wie negativer Art, die er in Frage stellt. Bei »The Village Petstore and Charcoal Grill« verwendet er Maschinen, die Tiere repräsentieren, um das ambivalente Verhältnis des Menschen zum Tier vorzuführen und Widersprüche aufzudecken. In den folgenden Beispielen sind Tiere wieder als Metaphern für Menschen zu verstehen.

T)

K INDER , K ONSUM

UND

K OSMETIK – »R ABBIT «

Abb. 33: Banksy, Rabbit. (Teilinstallation), New York 2008.

Quelle: http://www.soothbrush.com/wp-content/uploads/2008/10 /banksy-pets-9.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Im Video »Rabbit« ist ein weißer Hasenroboter (Abb. 33) in authentischer Größe zu sehen, der sich die Krallen feilt und in einem Puppenspiegel ansieht. Das Weiß des Kaninchenfells ist rein und unschuldig wie ein Kind oder ein Häschen, das aus dem Zylinder eines Zauberkünstlers gezogen wird oder dasjenige, welches putzig durch Carrolls »Alice im Wunderland« läuft. Das Häschen im Käfig hat stark geschminkte, blinzelnde Augen und trägt eine Perlenkette. Es kann als Anspielung auf die traurige Rolle von Versuchskaninchen in Labors verstanden werden. Laut Gesetz werden in Europa zwar Tiere schon seit 1986 nicht mehr für ›dekorative Kosmetika‹ verwendet/missbraucht, eine Grauzone zwischen der Kosmetik- und der Pharma-Industrie hinsichtlich tatsächlicher rein ›wissenschaftlicher‹ Verwertbarkeit dieser Versuche muss jedoch angenommen werden.169 »Rabbit« kann zudem als ironisch-kritischer Kommentar auf (Kosmetik-)Werbung und Mode gesehen werden, wenn man das Häschen als Metapher für eine junge Frau oder ein 169 Vgl. Tina Baier: Kaninchen für die Kosmetik. SZ Online vom 18. Juni 2009.

B ANKSY

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Mädchen sieht, die oder das perfekt geschminkten Models nacheifern will. Diese Deutung wird durch die abgeänderte Fassung des »Rabbit« in Bristol (Abb. 34) verstärkt, wo Banksy an den Spiegel Fotografien von jungen, weiblichen Celebrities und Models klebte, die schlank, gut angezogen und perfekt geschminkt waren. Nicht nur die Versuchs-Tiere müssen (unter Umständen) leiden. Auch die Frauen und weiblichen Kinder und Teenager, die die Produkte benutzen, stehen unter dem Druck, so perfekt wie die Stars auszusehen, die von Kosmetikfirmen oder Modedesignern ausstaffiert werden. Kinder und Jugendliche können synonym für leicht zu beeinflussende Konsumenten genannt werden. Banksys Konsumkritik an Kosmetikfirmen weist auf vielfältige, negative Folgen von Kosmetikwerbung im Besonderen und Schönheitsprodukten im Allgemeinen hin. Nicht nur kaufen Kinder unter Umständen schneller und mehr Dinge, die sie nicht brauchen, die eventuell gesundheitsschädlich sind und für die sie zu jung sind. Im »British Journal of Developmental Psychology« von 2005 wird berichtet, dass 60 Prozent der Mädchen zwischen sieben und zehn Lippenstift tragen und 50 Prozent zwischen fünf und acht Jahren gerne dünner wären.170 »90 percent of fourteen-year-old girls now regularly wear makeup. Mintel, the market research company, recommended that firms should place vending machines for their products (makeup marketed to young girls) in schools and cinemas to target teenage consumers. Fiveand six-year-old girls have been reported arriving at schools with sexy thongs and lacy bras. They may start out as the exception to the rule, but peer group pressure soon kicks in and 171

makes this activity acceptable.«

Werbung, die Erwachsene normalerweise durch ihre jahrelange Erfahrung mit Medien durchschauen, suggeriert Kindern und Jugendlichen in der identitätsbildenden Phase ihres Lebens, dass sie durch den Konsum bestimmter, Erwachsenen vorbehaltener Dinge (Drogen wie Zigaretten oder Alkohol, Kleidung jedoch auch Schminke) erwachsener wirken und so mittels Konsum ihre Identität ausbilden können. Je nach Hintergrund und Alter kann man nicht alle Kinder und Jugendlichen als naiv, unbedarft und gefährdet ansehen wie man umgekehrt nicht jeden Erwachsenen trotz jahrzehntelangen Fernseh- und Werbungskonsums für unverführbar halten darf. Generell kann »Rabbit« als Sinnbild eines »grenzenlosen Selbstoptimierungsimperativs« (Ulrich Bröckling) der heutigen Jugend gesehen werden. Die Ökonomie drängt immer tiefer in die Lebenswelt der Jüngeren, jeder soll bis in die letzten

170 Vgl. Olivia Gordon: Salons boom as girls yearn to grow up fast. The Observer Online vom 15. Juni 2008. 171 Lawson 2009, S. 144.

152 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST

Winkel seiner Seele und seines Körpers zum Unternehmer in eigener Sache werden.172 Abb. 34: Banksy, Rabbit (Teilinstallation), Banksy vs. Bristol Museum Ausstellung 2009.

Quelle: UB.

Banksy verwendet hier ein Tier-Surrogat, ein künstlerisches Ausdrucksmittel, dass seit den 1980er Jahren vielfältig genutzt wurde.173 Der Begriff ›Surrogat‹ bezeichnet urspünglich in Notzeiten ein erschwinglicheres Ersatzprodukt für ein Luxuskonsumprodukt.174 Dabei kann man immer schwerer zwischen intellektuellem Interesse auf der einen Seite, also »Schönfinden und Habenwollen« (Wolfgang Ullrich) von 172 Tanjev Schultz: Die lauernde Angst vor dem Absturz. Shell-Jugendstudie 2010. SZ Online vom 14. September 2010. 173 Vgl. das Kapitel: Das Surrogat in Thümmel 1997, S. 62-68. 174 »Substitute und Surrogate [bereiteten] den späteren Konsum des echten Produktes in der Wohlstandsgesellschaft vor.« König 2008, S. 107.

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Konsumproduktenauf der anderen Seite, aber auch von Kunst oder eben von Tieren unterscheiden. Banksys ›Tierhandlung‹ stellt ähnlich wie Street Art einen inhaltlichen wie örtlichen Bezug zum nahen Kinderzoo in Manhattan her, der »künstliche Steine, Bäume und Tierstimmen anbietet und [wo auch] Tierroboter gefüttert werden können […].« Zoos dieser Art sieht Schneemann als Gegenstück zum Trend, im Kunstmuseum immer mehr »genuinen Marmor und Flussschlamm von Richard Long« zu zeigen, da dort der Anspruch herrscht, »Erfahrungen zu ermöglichen, die in der Alltagswelt durch Surrogate verstellt sind […], um die paradoxe Forderung nach Wahrhaftigkeit im Kunstwerk [zu] erfüllen.«175 Der Zoo wurde zum Streichelzoo oder zur Zoohandlung und hat ebenfalls wie das Kunstmuseum seinen »Exit through the gift shop«, wie der Titel von Banksys Street-Art-Dokumentarfilm lautet. In einer Konsumgesellschaft, einer material world zählt das Material, das materiell Echte, dass mit dem künstlerisch Wertvollen gleichgesetzt wird und dies sollen bereits die Kinder an Zootierrobotern lernen. Man kann in Banksys Tierrobotern die Parallelen zwischen der Kommerzialisierung von Kunst und die von Zoos ebenso sehen wie das eigentlich Kindische und Kindliche des konsumgesellschaftlichen Anspruchs, alles Haben und Anfassen zu wollen.

U)

M EDIENKONSUM – »P RIMATES « »Das Fernsehen ist nicht nur ein Element der Konsumgesellschaft, es wirkt auch als ihr Verstärker.«

176

WOLFGANG KÖNIG, HISTORIKER

Im Video »Primates« ist ein Roboter in Gestalt eines Schimpansen (Abb. 35) zu sehen. Er trägt einen Kopfhörer und sieht fern. Das Programm zeigt zwei kopulierende Schimpansen in einem Sender für Dokumentationen. Die lebensechte Maschine bewegt Kiefer und Augen, sie ›atmet‹ schnell, beziehungsweise hebt und senkt die Brust. In der Hand hält der Affe eine Fernbedienung, zu seinen Füßen liegen eine Pizzaschachtel mit Pizzaresten sowie ein Einweggetränkebecher einer Fastfoodkette, eine leere Zigarettenschachtel und eine verbeulte Getränkedose, auf der sein Fuß ruht. Man kann »Primates« als Karikatur von Pornografiekonsum und Kritik an Fastfoodkonsum auffassen, eher kommentiert Banksy jedoch Medienkonsum und Vereinsamung in der Großstadt. Dieser wiederum eingesperrte, dem Menschen sehr ähnliche Affe ist hier als Metapher für den modernen, technisierten Konsumenten

175 Schneemann 2002, S. 278. 176 König 2008, S. 232.

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zu verstehen. Wie dieser wirkt der Schimpanse, als spüre er sein Gefängnis nicht, da er sich nicht bewegt. Banksys Ladenaufseher kommentiert ihn folgendermaßen: »Er ist ziemlich stark, aber manchmal schleiche ich mich ran und bringe ihm eine neue Bierdose und Zigaretten. Wenn er die hat, ist er zufrieden wie jeder andere Mann auch.«177 Abb. 35: Banksy, Primates (Teilinstallation) New York 2008.

Quelle: Raymond. http://www.flickr.com/photos/doc18/2945828289/ (Gesichtet: 12. März 2011).

Alkohol und Zigaretten sind Synonyme für Betäubungsmittel. Eigentlich ist der Affe oder der Mensch (»wie jeder andere Mann/Mensch auch«), den er repräsentiert, »ziemlich stark«, wenn er und seine Wut jedoch durch Fernseh- und Betäubungsmittelkonsum ›betäubt‹ sind, wird er »zufrieden«. Banksy kritisiert diese angebliche Zufriedenheit als eine betäubt-künstliche. Der Affe sitzt im Gefängnis des Konsums und wirkt mit Fertigpizza und Dosenbier einsam und verwahrlost, ohne sich dessen bewusst zu sein. Was Lagler über Hansons »Supermarket Lady« (Abb. 20) sagte, kann man auf Banksy anwenden: »[He] is interested in reality, in the true, unspec-

177 Spiegel TV-Beitrag zur Ausstellung: [Banksy opens a pet shop in New York]. Auf Youtube gestellt am 23. Oktober 2008. http://www.youtube.com/watch?v=0GIc7Hp QoBE (19. Februar 2010).

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tacular life of people, shaped by quiet desperation, restlessness, boredom, and loneliness.«178 Zugleich will Banksy wachrütteln und dem Betrachter den Spiegel, statt des Fernsehers, den Klein als »collective mirror«179 bezeichnet, vorhalten und ihm zeigen, dass er sich – durch Brot und Spiele ruhiggestellt – »zum Affen macht«, der im Zoo-Gefängnis sitzt: Schau dich doch mal selbst an! Affen sind ein häufiges Motiv bei Banksy.180 Der Affe ist ein dem Menschen sehr ähnliches Wesen, das oft, als Synonym für minderbemittelt und dumm, als Schimpfwort verwendet wird. Wie Ratten stellt Banksy dieses oft negativ konnotierte Tier meist positiv dar.181 In diesem Fall steht der Primat jedoch negativ oder bedauernswert für einen primitiven Menschen, der primär seine Grundbedürfnisse Essen, Trinken und Sex jeweils mit Ersatzstoffen befriedigt. Die Gesamtkomposition mit Fastfood, Zigaretten und Alkohol kritisiert auch unreflektierten Konsum generell, quantitativ und qualitativ. Dieser verspricht schnelle Bedürfnisbefriedigung, hat jedoch teils gefährliche Nebenwirkungen wie Abhängigkeit, Krebs oder Fettleibigkeit.

V)

D ER F ERNSEHER

Der Fernseher als Objekt kann bei Banksy als Ausdruck von Medienkonsum gelesen werden, zugleich ist der Fernseher selbst ein Konsumprodukt, das in einer Konsumgesellschaft als Prestigeobjekt fungiert, und auf den teils der Tagesablauf und das Familienleben inklusive Essen abgestimmt wird. Pornografie ist eine Form des Medienkonsums. Medien werden in Erwartung einer Belohnung und eines Nutzens konsumiert. Laut Schramm wird im Falle der den Unterhaltungssendungen zugeordneten Pornografie wird eine unmittelbare Belohnung in Form von sexueller Spannung erwartet.182 Da die von Banksy gezeigten »Affen-Pornos« aus einer Tierdokumentation stammen, würden sie für einen Menschen eher als Informationssendung der Wissensvermittlung dienen. Die harmlose, natürliche Darstellung lässt darauf schließen, dass Banksy die Installation nicht als

178 Vgl. Annette Lagler: Duane Hanson. Supermarket Lady, 1970. Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen. 2006. 179 Klein 2000, S. 108/109. 180 Vgl. Blanché 2010, S. 87-90. 181 Vgl. ebd. 182 Vgl. Wilbur Schramm: The nature of news. In ders.: Grundfragen der Kommunikationsforschung. München 1986. Erstmals veröffentlicht in: Journalism Quarterly 26. (1949) S. 259-269.

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pornografiekritisch gedacht hat, sondern eher humoristisch die Menschenähnlichkeit illustrieren wollte. Abb. 36: Banksy, There’s all this noise...but you ain’t saying nothing (Graffiti), Bristol 1999.

Quelle: http://www.bristolbeat.co.uk/artists/banksy/images/big/banksy1.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Das Motiv des Fernsehers verwendete Banksy bereits Ende der 1990er Jahre in der freihand gesprühten illegalen Gemeinschaftsarbeit mit Lokey »There’s all this noise...but you ain’t saying nothing« (Abb. 36). Zu sehen ist ein Fernseher vor einem urbanen Hintergrund mit Hochhäusern. Aus dem Gerät kommen grüne Wellen und leere183 Sprechblasen. Davor sitzen ergeben einige Tiere (Ratten oder Hunde?), während etwa ein dutzend Menschen stumm und benommen mit geöffneten Mündern und erschrecktem Gesichtsausdruck zusehen. Ein Kind hat ein TV-Gerät als Kopf, einem anderen ›raucht‹ im wörtlichen Sinne der Kopf. Der Titel findet sich als Inschrift über dem Geschehen. Der Fernseher ist negativ dargestellt als eine Maschine, die laut ist und die Menschen, insbesondere Kinder, einlullt und zu passiven, kontrollierten Konsumenten macht. Hier geht der junge Banksy noch nicht über klassische Medienkritik hinaus, was nicht heißt, dass er unrecht hat. Beim Medium Fernsehen stehen wenige Programmanbieter einem Massenpublikum von mehreren Millionen Zuschauern oder Konsumenten gegenüber. »Das Fernsehen« hat großen Einfluss auf den Konsumenten, quantitativ (2009 sah etwa der Bundesdurchschnittsbürger täglich 208 Minuten fern184) und qualitativ – Banksy konkretisiert meist nicht die Gefahren etwa hinsichtlich Inhalt oder Quan183 Diese waren nicht immer leer, laut Banksy übermalte der Besitzer den provokanten Inhalt: »Sky TV made me smoke crack«. Vgl. Mitchell 2000, S. 69. 184 Vgl.

http://www.ard.de/intern/basisdaten/fernsehnutzung/fernsehnutzung_20im___

23220 _3Bberblick/-/id=55024/bxj2vh/index.html (Gesichtet: 24. Februar 2010).

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tität, er verweist eher auf die Gefahren der ›Abstraktion‹ der Welt durch das ›vermittelnde‹ Medium Fernsehen. Abb. 37: Banksy, No Ball Games (Gemälde), 91 x 91.5 cm, Selfridges/Dreweatts Auktion London 26. Februar 2009.

Quelle: http://www.ukstreetart.co.uk/wp-content/uploads/2009/02/ banksy-noball-450x312.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

So sieht man in einem Benefiz-Siebdruck von 2009 (Abb. 37) Kinder mit einem Fernsehgerät ›Ball‹ spielen, in dem ein Ball abgebildet ist, was als ironische Reaktion auf tatsächlich existente Kitsch-Illusionsvideos von brennenden Kaminfeuern und Aquarien zu verstehen ist und Realitätsverlust als Gefahr bei Kindern aufzeigt, die in welcher Form auch immer extremen TV-Konsum aufweisen. Unreflektierter Bilderkonsum generell wird thematisiert, »Ceci n’est pas un basketball« möchte man mit Magritte sagen. Das Leid wird im Fernseher abstrakt und damit nicht mehr wahrgenommen, wie man in einer Banksy-Zeichnung (Abb. 38) sehen kann. Hier sitzt eine westliche Klischee-Familie in einem beschaulichen Heim vor dem Fernseher, wo ein hungerndes farbiges Kind zu sehen ist, das vor einer leeren Schüssel kauert. Der Fernseher zeigt Nachrichten: »[Ear]thquake 40.000 fear of dea[th]«. Darunter steht der Kommentar eines Familienmitgliedes: »Oh my god – that’s the exact same bowl we got in the kitchen!« Die Fernsehkonsumenten sehen in dieser sarkastischen Karikatur Banksys nur noch das Vertraute, die Schüssel, alles andere wird selbst in den Nachrichten ›ausgeblendet‹. Man kann dieses Werk als Schlüssel zu Banksys Arbeitsweise lesen: er verwendet stets vertraute Gegenstände, Tiere, Personen, weil er weiß, dass er seine nicht unbedingt gewillten Betrachter da abho-

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len muss, wo sie stehen: In einer Welt der Überinformation und Bilderflut werden seine ›Klischees‹ wahrgenommen. Abb. 38: Banksy, Oh my god – that’s the exact same bowl we got in the kitchen! (Bleistiftzeichung), Banksy vs. Bristol Museum Ausstellung 2009.

Quelle: UB.

Fernsehen wurde in den 1960er Jahren zum Massenmedium und damit Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung. Man muss hier unterscheiden zwischen dem Fernsehen als Medium und dem Fernseher als Metapher für Fernsehkonsum. »Die Künstler sind also nur ›exemplarische Zuschauer‹, sie arbeiten mit der FernsehKiste als Symbol für das gesamte Massenmedium, und statt selbst Sendungen zu machen, verarbeiten sie das normale TV-Programm.« 185 In Hamiltons Collage »Just what is it, that makes today’s home so different, so appealing« von 1956 ist der Fernseher ein neutrales Massenkonsumprodukt unter vielen anderen. Von Fontana und anderen wurde Fernsehen als Medium in den 1950er Jahren freudig begrüßt. In den 1960er Jahren gab es auch neben überwiegend kritisch-aggressiven Positionen, die sich gegen die Machtzunahme des Fernsehens richten, auch neutral-kontemplative. Mit der langsam finanziell erschwing185 Dieter Daniels: Fernsehen – Kunst oder Antikunst? Konflikte und Kooperationen zwischen Avantgarde und Massenmedium in den 1960er / 1970er Jahren. Medien Kunst Netz 2004.

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lich werdenden Videotechnik Mitte der 1960er Jahre entstand die Videokunst186, die an dieser Stelle nicht näher behandelt wird, da es sich bei Banksys Videos eher um Dokumentationen seiner temporären Installation handelt und auch »Primates« trotz des verwendeten Fernsehers eher das Fernsehgerät als Metapher für Medienkonsum oder Konsumprodukte nutzt, als Videokunst zu schaffen.

W)

D ER K ÜNSTLER

ALS

M ASTURBATOR

Den Affenroboter vor dem Fernseher in »The Village Petstore and Charcoal Grill« setzte Banksy in der zweiten Fassung (Abb. 39 und 40) in Bristol in einen vordergründig völlig anderen Kontext. Diesmal ist der Schimpanse als Maler mit Barett vor seiner Staffelei im Käfig zu finden. Er malt eine kitschige Südseestrandszene mit Palmen (Abb. 39). Die Kenntnis der ersten Fassung lässt mehrere Schlüsse zu. Entweder Banksy konnte oder wollte den ersten Kontext nicht beibehalten oder er wollte die beiden Versionen bewusst zueinander in Beziehung setzen, was er durchaus öfter in Ausstellungen macht.187 Zensur ist eher auszuschließen, da Banksy in der Bristol-Ausstellung ein wesentlich drastischeres Werk zeigte, einen Bischof in Sadomaso-Lederdress und mit heraushängendem Penis, der mit zwei Lutschern offensichtlich Kinder verführen will und an kirchliche Missbrauchsskandale erinnert. Um den Zusammenhang zwischen dem ›klassischen‹, d.h. realistisch malenden Maler und dem Affenporno-konsumierenden Schimpansen zu erläutern, ist ein Blick auf die Behandlung des Maler-Motives bei Banksy notwendig, das er seit 1998 in verschiedenen Medien immer wieder aufgreift.188 Meist (Abb. 71) ist ein wohl französischer189 Plein-Air-Maler190 des 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts zu sehen, den er altmodisch-klischeehaft gekleidet öfter mit Barett, Schnauzbart und Palette vor einer Staffelei abbildet. Was variiert, ist das Modell und das Werk, welches er im Begriff ist zu schaffen.

186 Alle Ausführungen zur Fernsehgeschichte bei Daniels 2004. 187 Dies gilt sowohl für seine Street Art, wo er immer wieder Werke am gleichen Ort schafft, die sich aufeinander beziehen, wenn man die früheren Versionen kennt, als auch innerhalb seiner Ausstellungen, wo er bewusst für Besucher, die öfter kommen, im Laufe der Zeit der Ausstellung Details abwandelt oder ersetzt. Vgl. Blanché 2010, S. 75-95. 188 Vgl. etwa Wright 2007, S. 43. 189 Darauf deutet das angehängte ›e‹ im Titel »nobartiste«, wie der verwendete, typische französische Stereotyp des Malers mit Barett, gezwirbeltem Schnauzbart und (teils) Zigarette. 190 Auf Plein-Air deutet der Sonnenhut in Abb. 41 hin.

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Abb. 39: Banksy, Monkey (Teilinstallation), Banksy vs. Bristol Museum Ausstellung 2009.

Quelle: UB.

Letzteres steht in jedem Fall wie bei einer Karikatur in Kontrast zu dem, was der Betrachter erwartet, eine Landschaft, ein Portrait etwa. So schreibt der abgebildete Künstler in einer Version in ungelenker Graffiti-Manier »art sucks« auf die (Lein-) wand, in einer anderen »Banksy« oder in zwei Weiteren namens »nobartiste«191 (Abb. 41) Graffiti-Tags sowie mit wenigen Strichen einen ejakulierenden Penis. Damit lassen sich Bezüge zu Graffitisprühern, Banksy selbst (durch das Schreiben seines Namens) und zum Affenporno-schauenden Schimpansen herstellen. Denn auch dieser schaut Pornos, und ›masturbiert‹ eventuell wie ein Künstler auf eine Leinwand statt ›relevante‹ Kunst zu schaffen. Banksy zeigt das satirische Persiflieren von Kunst und zugleich das Nachäffen der Natur, das jeder klassische Maler betreibt.192 191 Der Slang-Begriff ›nob‹ (wohl von noblesse) bedeutet, dass es sich bei dem Künstler um ›einen der besseren Leute‹ handelt, oder dass dieser sich zumindest dafür hält. 192 »Steen is accompanied by a monkey with brush and palette, surely in double reference to the painter as ape of nature and to the comic charge of Steen’s works, akin to that of Tenier’s simians.«, schreibt Mariet Westermann in The Amusements of Jan Steen (Zwolle 1997, S. 23) über Letzteren, der auf einem Porträt mit einem Affen mit Palette dargestellt ist.

B ANKSY

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Abb. 40: Banksy, Monkey (Teilinstallation), Banksy vs. Bristol Museum Ausstellung 2009.

Quelle: UB.

Masturbation, auch geistvoll verbrämte, sieht Banksy im Affen vorm Fernseher wie im typischen Künstler und in sich selbst. Sie steht metaphorisch als Ersatz dafür, sich wirklich mit anderen zu beschäftigen, geistig wie körperlich. Diesen Gedanken kann man auch in dem Werk, dass Banksy auf die letzte Seite des von ihm selbst herausgegebenen Künstlerbuches »Wall and Peace« lesen, wo ein hübsches Mädchen sagt: »Oh my god, that’ so cute the way you just draw on stuff and think about yourself all the time«. Zugleich stellt er damit Graffiti-Sprüher wie sich selbst auf dieselbe, wenn auch teils negative Stufe wie den ›klassischen‹ Künstler. Die Rolle der Malerei oder generell Kunst und die ›Motive‹ (im doppelten Sinne) des Künstlers werden thematisiert. Banksy sieht den Fernseher im ersten Teil der Ausstellung als Mittel, sich nicht (oder nur im vom Fernseher ›übertragenen‹ Sinne) mit der Realität zu beschäftigen, was dieser ›abstrakt‹, da nur medial vermittelt macht. Diese Ver-›mittel‹-ung nimmt ihr die Wirkung und sorgt dafür, dass der Fernsehzuschauer nur konsumiert, anstatt selbst aktiv zu werden. Eventuell funktioniert für Banksy auch der Umkehrschluss, er will ein kritisch-politischer Künstler sein, der humoristisch das Abstrakte wieder konkret macht. Banksy beschäftigt sich ähnlich wie der Dadaist Picabia in »Portrait de Cezanne, Renoir et Rembrandt« von 1920 mit der Rolle des Künstlers beziehungsweise der Malerei zwischen Nachahmung (Cezanne, Renoir et Rembrandt) und Kritik (Dada). Picabia befestigte einen ausgestopften Affen auf einer Leinwand, vollzog also die ironisch-›unübertrefflichste‹ Form der Nachahmung. Dieser Affe hält seinen Schwanz, nach vorne zwischen die Beine geklemmt, in der Hand, so dass die

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Assoziation von Masturbation entsteht.193 Aussage wie Mittel sind ähnlich wie bei Banksy: Nachahmung wird mit Masturbation gleichgesetzt. Abb. 41: Banksy, Nobartiste (Stencil), London 2007.

Quelle: Banksy.co.uk (Gesichtet: 21. Januar 2010).

193 Wie im Deutschen ist ›la Queue‹ als Schweif und Schwanz zugleich ein Ausdruck für Penis. Vgl. zu den Ausführungen über Picabia George Baker: The Artwork Caught by the Tail. Cambridge/ MA 2007, S. 5-8.

5) Damien Hirst

A)

D IE »N ATURAL H ISTORY «-S ERIE – »T HE P HYSICAL I MPOSSIBILITY OF D EATH OF S OMEONE L IVING « (1991)

IN THE

M IND

Abb. 42: Hirst, The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living (Tigerhai, fünfprozentige Formaldehydlösung, Glas, Stahl, Silikon), 2170 x 5420 x 1800 mm, 1991.

Photography by Prudence Cuming Associates © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012. Privatbesitz: Charles Saatchi (1991-2004), Steven A. Cohen (seit 2004).

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Hirst wurde 1992 mit einem Werk aus der »Natural History«-Serie bekannt, »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« (Abb. 42).1 Dabei handelt es sich um einen lebendig wirkenden, toten Tigerhai, der in einer mit konservierendem Formaldehyd gefüllten, allansichtigen, unterteilten Glasvitrine mit Edelstahlrahmen schwimmt. Seine Präsentation erinnert an die Zurschaustellung von toten Tieren in naturhistorischen Museen, wovon sich der Titel der Serie ableitet: Natural History. Dieser ist zweideutig. Konservierung in Formaldehyd wird heute (2012) und wurde wie auch schon zur Entstehungszeit (1991) als altmodischhistorische wissenschaftliche Methode angesehen, die zudem für Tiere dieser Größenordnung immer völlig unüblich war.2 Sowohl die Art der Konservierung wie das Gezeigte sind also in einem (pseudo-)historischen wie (pseudo-)wissenschaftlichen Kontext zu sehen. »[…] [Hirst] zeigt, dass die wissenschaftlich systematisierte Natur, wie sie sich mit präparierten Relikten in Dioramen und Vitrinen präsentiert, ebenfalls gebaut und ›drapiert‹ ist. Natur wird als kulturelle Konstruktion und Projektionsfläche menschlicher Vorstellungen vorgeführt, die Zeitideologien unterworfen ist. Die inszenierten Tiere sind Objekte von Präsenta3

tion, von Anschauung und von Ausstellungsästhetik.«

Mit zoologisch-medizinischen Techniken betreibt Hirst »Wissenschafts-Mimikri«4, um »Spekulationen über und jenseits wissenschaftlicher Erklärungsmodelle anzustellen, wobei […] [die Präparatsobjekte Hirsts, Anm. UB], nachmodernen Auffassungen entsprechend, weniger den Charakter von Beweis- als von ›Zweifel‹-Stücken annehmen.«5 Mit Hilfe von Assistenten legte Hirst anfangs selbst weitere Tiere in Formaldehyd ein, hauptsächlich Nutztiere wie Kühe, Schweine oder Schafe. Später (bis 20096) besorgten dies ausschließlich Helfer nach seinen Anweisungen. Hirst stellte 1

Hirst bekam von seinem Förderer Saatchi 50.000 Pfund für die Ausführung des 1992 fer-

2

Vgl. Thümmel 1997, S. 121.

tiggestellten Werkes. Vgl. Muir 2009, S. 44-45. 3

Ullrich 2004, S. 6. Dieses Zitat wurde vom Autor auf Hirst umgedeutet. Ullrich sprach eigentlich von dem zeitgenössischen Künstler Mark Dion, der wie Hirst (über den Ullrich im selben Absatz schreibt) präparierte Tiere verwendet und wie Hirst eine Serie Natural History nennt.

4

Wenzel 2005. [S. 4]

5

Ebd. [S. 5-6]

6

Bis zur Veröffentlichung dieser Untersuchung sind nur vereinzelt neuere Werke dieser Serie von Hirst ausgestellt worden, der 2008 bekannt gab, die Produktion dieser Serie einzuschränken. Ein Beispiel mit dem passenden Titel »End of an Era« von 2009 ist im Ausstellungskatalog Pop Life. Kat Ausst. Tate Modern 2010. Auf S. 176 zu sehen.



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nicht nur ganze Tiere aus, sondern auch gehäutete Kuhköpfe oder längsgeteilte Tiere, deren Hälften in jeweils einer Vitrine allumsichtig zu betrachten sind. Er betont, dass er alle Tiere von Schlachthäusern, Zoos oder ähnlichen Einrichtungen bekommt, nachdem sie aus anderen Gründen getötet wurden oder auf natürlichem Wege verschieden, also nicht ›für die Kunst‹ starben.7 Dennoch sind sie oft Manifestation oder Medien menschlicher Gewalt, auch wenn sie nicht durch oder für den Künstler starben. Konstante Elemente sind bei Hirsts Natural History-Serie, dass mindestens ein totes Tier(-teil) in Formaldehydlösung in mindestens einer rechteckigen Glasvitrine eingelegt wird, die allumsichtig betrachtet werden kann. Hirst variiert Präsentation, Anzahl und Gattung der Tier(teil)e, ob sie als ›lebend‹ oder tot aussehend konserviert wurden sowie Anzahl, Form, Größe, Farbe und Material der Vitrinen. Diese (wie jede) Serie lässt sich inhaltlich nicht an einem Objekt, sondern erst in der Gesamtschau erfassen. Hirst betont in Interviews immer wieder, dass er einen »zoo of dead animals« schaffen will.8 Thümmel leistete 1997 in ihrer auf Hirsts Hai ›gemünzten‹, mit »›Shark Wanted‹ – Untersuchungen zum Umgang zeitgenössischer Künstler mit lebenden und toten Tieren am Beispiel von Damien Hirst« betitelten Doktorarbeit eine erste kunsthistorische Analyse dieser Serie. Der Konsumaspekt der Natural HistoryWerkgruppe wird hier nur kurz angeschnitten, wohl weil er 1998 in Hirsts Werk und deren Rezeption (noch) keinen so dominanten Stellenwert hatte. Dass Hirsts Werke weniger in Zusammenhang mit Begriffen wie ›Tod‹ oder ›Provokation‹, sondern mit finanziellen Rekorden behandelt wurden, ist erst seit etwa 2004 verstärkt der Fall, wo er die selbst gestaltete Einrichtung seines geschlossenen EdelRestaurants »Pharmacy« für 11 Millionen britische Pfund verkaufte.9 Seit dieser Zeit haben auch Titel und Materialien, die Hirst verwendet, eine deutliche Verlagerung in Richtung von Themen erfahren, die mit Geld und Wert zu tun haben, was mit »For the Love of God« 2007 einen ersten Höhepunkt erfuhr. Tiere im Naturhistorischen Museum stellt man nicht aus, als ob sie tot wären (etwa mit heraushängender Zunge auf dem Rücken liegend), sondern man gibt vor, dass sie lebendig seien. Der wissenschaftliche Anspruch und die Art der Präsentation werden von Hirst zitiert, übererfüllt und damit als potenzielle Täuschung vorgeführt.10 Viele Werke der »Natural History«-Serie zeigen Tiere so kunstvoll präpa7

Vgl. Thümmel 1997, S. 242.

8

Vgl. Hirst im Interview mit Mirta D’Argentio. In: Kat. Ausst. Damien Hirst. The Agony and the Extasy. Selected works from 1989-2004. Napoli 2004, S. 134.

9

Vgl. BBC News Online: Hirst restaurant sale makes £11m. BBC News Online vom 20. Oktober 2004.

10 Hier sei nochmals angemerkt, dass Tiere in Formaldehyd einzulegen bereits zu Beginn der Serie 1991 eine veraltete, historische Methode wissenschaftlicher Untersuchung dar-



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riert, dass sie lebend und eher wie ein dreidimensionales Foto aussehen – im Moment gefangen. Dies gilt auch für das hier behandelte »Golden Calf« (Abb. 43), wobei aufgrund der geschlossenen Augen der Zustand des Kalbes zwischen Leben, gefrorenem ›Augenblick‹, Schlaf oder ›des Schlafes Bruder‹, dem Tod, im Unklaren gelassen wird: »Suspended between live and art, Damien Hirst’s images find no peace.«11 Hirsts Kunst imitiert Leben, er bildet nicht ab. Der Unterschied zu einem Foto ist, dass dieses ›ab‹-bildet und damit dem Betrachter durch mediale Vermittlung Distanz gewährt, die er jedoch kaum und nur durch das Glas der Vitrine hat, wenn er Hirsts Formaldehyd-Kadavern gegenüber steht. Der anfängliche Schrecken des Betrachters angesichts der toten Tiere wird besiegt und verwandelt sich laut Meschede in Staunen, weil der Schrecken innerhalb der Vitrine einen QuarantäneRaum gefunden habe, der sich von dem des Betrachters unterscheidet12, der immer Innen und Außen thematisiert. Hirst schätzt an Glas, dass es gefährlich / schneidend sein kann, solide wie fragil, den Betrachter zugleich abhält und ihm Durchblick gewährt.13 Das kühle, harte, vom Menschen geschaffene Rechteck der Vitrine hebt zudem das Paradox zwischen dem weichen organischen Lebewesen auf, das fast zum Streicheln einlädt, und zugleich der Tatsache, dass es tot, also erschreckend, abstoßend und unheimlich ist. Die verwendeten Nutztiere sind ›von Natur aus‹ einzigartig, dennoch werden sie im täglichen Leben selten so wahrgenommen, eher als Rohstofflieferant. Dieser Unterschied zwischen Individuen ist im Englischen noch frappanter als im Deutschen: aus der einzelnen cow wird abstraktes beef, aus dem pig wird pork, nur das sheep oder lamb bleibt lamb (Lammfleisch).14 Hirst stellt beides zugleich dar: Jedes konkrete Tier ist Repräsentant seiner Gattung wie aller Tiere, zugleich gibt Hirst individuellen Tieren, die durch und für den Menschen starben, ihre Individualität zumindest als Tier einer Gattung zurück, im Gegensatz zum massenweise produzierten Stück Fleisch. Zugleich bildet er mehr menschliche Vorstellungen vom Tier stellt, die längst durch andere Techniken ersetzt wurde. Dies ist jedoch, wie auch die Tatsache, dass Wissenschaftler nie derart große Tiere wie ein Kalb in Formaldehyd einlegen würden, eher einem Fachpublikum bekannt. Vgl. Thümmel 1997, S. 121. 11 Ebd. S. 16. 12 Vgl. Friedrich Meschede: Weder die Liebe, noch der Tod, aber das Staunen davor. In: Kat. Ausst. Damien Hirst. 1995, S. 32/33 und Jerry Saltz: More Life. The Work of Damien Hirst. In: Art in America 6. 1995, S. 84. 13 Vgl. Napoli 2004, S. 70. 14 Ähnlich formuliert Ullrich 2004, S. 3: »Vermutlich fällt es doch gerade wegen des fehlenden Blicks [des toten, verarbeiteten Tieres, Anm. UB] leichter, Tiere in handlich verpackten Stücken, also als Filet, Kotelett, Keule etc., zu kaufen und nicht als Kalbsköpfe oder komplette Hühner.«



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ab als das Tier selbst: »Und tatsächlich wurde das Tier immer im Bezug zum Menschen wahrgenommen und benutzt, um Kommentare über den Menschen zu formulieren […].«15 An Massenproduktion und -konsum und damit Spiegel der Konsumgesellschaft erinnert das haltbarmachende Formaldehyd, das wie durchsichtiges Öl oder Salzlauge das tote Tier zur Büchsenfleischkonserve macht, zum Eingemachten. »I use formaldehyde because it is dangerous and it burns your skin. If you breathe it in it chokes you and it looks like water. I associate it with memory.«16 Die optische Ähnlichkeit des giftigen und ätzenden Formaldehyds mit dem ursprünglichen Lebensraum etwa des Hais, Wasser, gilt nicht mehr für die Nutztiere. Hirst erinnert damit werkimmanent immer an »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« und mehr noch an das für Nutztiere übliche Los: konserviert werden, um länger konsumiert werden zu können. Dies gilt auch für den Hai, dessen Haut und andere Körperteile vom Menschen konsumiert werden, der zum Freizeitvergnügen gejagt wird und dessen größter Feind der Mensch ist. Dennoch gilt der Hai eher umgekehrt als ein dem Menschen gefährlich werdendes Tier, ein Ruf, der durch Filme wie »Der weiße Hai« unterstützt wurde. Haie werden als unerwünschter Beifang in Schleppnetzen internationaler Fischfirmen gefangen, mehr als 50 Millionen Tiere pro Jahr.17 Hirsts »Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« erinnert an die in den Medien propagierte vermeintliche Gefahr durch Haie und führt vor (oder benutzt) Klischees rund um dessen metaphorische Bedeutung, die alle um Gefahr und Tod kreisen, wie etwa der des Kredithais, ein Sinnbild, wo die Blutgier mancher Haie auf Geldgier von zweifelhaften Kreditgebern übertragen wird. Gleichzeitig ist jedoch eine allgemeinere Deutung des Hais als Sinnbild der hedonistischen 1990er Jahre möglich, was den Finanzmarkt generell wie den Kunstmarkt anbetrifft, oder gar als Selbstportrait Hirsts. »The capture and preservation of a fourteen-foot Shark reveals the way in which the idea of nature as wilderness – personified by the Shark – has become flattened into a logo. Though »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« tells us nothing about Sharks and the way they behave in their native habitats, it reveals a great deal about the society of the spectacle.«18 Das ARTnews Magazine erklärte 1992 zu »The Year of the Shark«19, 1994 veröffentlichte die Saatchi Gallery »Shark Infested Waters« und Thompson publizierte 15 Ebd. S. 2. 16 Hirst 1997, S. 298-299. 17 Leonard Compagno, Marc Dando, Sarah Fowler: Sharks of the World. Princeton Field Guides. Princeton und Oxford 2005, S. 45. 18 Rosenberg 2011, S. 2. 19 James Hall: The Year of the Shark. In: Artnews 91/10 vom Dezember 1992, S. 72.



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2008 »The $12 Million Stuffed Shark«, so Rosenberg. Lawson sieht blutgierige Haie in anderem Zusammenhang als Sinnbild für den Konsumenten: »When blue Sharks are caught […], curious fishermen have cut open their stomachs to watch how the smell of their own blood triggers a feeding frenzy so that they gorge on their own entrails. There we have it. Our attitude towards the planet. We are so hooked on consuming that we have been destroying the planet and ourselves.« 20 Die Tatsache, dass der Millionär Saatchi das Werk 1991 in Auftrag gab, führte zu der Assoziation, dass Hirst ein ironisches Porträt seines konkreten berüchtigten Förderers und Sammlers schuf, dem immer wieder vorgeworfen wurde, Kunst hauptsächlich als Spekulationsobjekt zu verwenden und der damit ein typischer Vertreter seiner Zeit war. Passenderweise ist der wissenschaftliche Name von Haien Selachii, was eine auffällige Ähnlichkeit zu Saatchi aufweist.21 »Saatchi fictionalized by the Saatchi Collection is – a gorging consumer of art, swimming remorselessly up the Thames, toward the Tate Modern.«22 Auch Wu verwendet diese Gleichsetzung von Hirsts Hai und Saatchi: »As a corporate executive Charles Saatchi is indeed the very epitome of the enterprise culture of the Thatcher decade. Like the cold-eyed Shark in the work of his protégé, Damien Hirst, he has been swimming freely in the waters of the Thatcherite free market.«23 Der Zusammenhang zwischen Massenproduktion, inszenierter Verkaufspräsentation, Konsum und Kunst findet sich schon bei Koons24, dessen Vitrinen Hirst bereits 1985 eben in der Saatchi Gallery sah, die ihn beeinflussten und mit Armans und Beuys’ Vitrinen in den 1960er Jahren als Vorläufer der »Natural History«-Serie zu sehen sind: »Unlike some historical precedents, such as the work of Arman or that of Jeff Koons in the 1980s, where the inclusion or accumulation of objects in transparent containers formulates and contexualizes a critical analysis of consumer society. Hirst uses materials on a level that is both literal and symbolic, oscillating continuously between the two and reconstructing the relationships between individuals in an existential context.«

25

20 Lawson 2009, S. 103. 21 Vgl. Capri Rosenberg: The Apocalyptic Spectacle: Damien Hirst and the Crisis of Meaning. Vortrag auf der 99. CAA Konferenz in New York. 11. Februar 2011, S. 2. 22 Jonathan Jones: He’s Gotta Have It, (Part Two) In: The Guardian vom 4. April 2003, zitiert nach Rosenberg 2011. 23 Chin-tao Wu: Privatising Culture: Corporate Art Intervention since the 1980s. London 2003, S. 301. 24 Napoli 2004, S. 98, 161. 25 Mario Codognato: Warning Labels. In: Napoli 2004, S. 31.



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Diesem Zitat von Codognato muss hinzugefügt werden, dass etwa Koons Staubsaugervitrinen durchaus auch als Verherrlichung, nicht nur als »critical analysis of consumer society« zu verstehen sind, ebenso wie dies für viele von Hirsts Arbeiten gilt. Weitere Einflüsse sind der Minimalismus eines Donald Judd sowie Bruce Nauman, Richard Serra, Janis Kounellis, sowie Duchamps Readymades26: »Damien Hirst is a bit pop, a bit minimalist, and a bit conceptual.«27 Hirst selbst nennt immer wieder Bacons Gemälde als Einfluss für seine Vitrinen.28 Bacon isoliert oft mittels gemalter Rahmen seine verletzten menschlichen Kreaturen und Fleischmassen, die Hirst teils sogar eins zu eins in Vitrinenkunst zu übersetzen versuchte.29 Während Bacon Gefühle malt, zitiert Hirst nur. Bei allen Werken der »Natural History«-Serie erzeugt das Zusammenspiel der durchsichtigen Flüssigkeit Formaldehyd mit dem Vitrinenglas den optischen Effekt, dass das Tier im Auge des Betrachters zu springen scheint, wenn man um die Ecke der Vitrine geht, beziehungsweise, dass man gleichzeitig zwei Ansichten bekommt. Dies gilt auch für »The Golden Calf« (Abb. 43). Hirsts Werk bekommt durch diese dramatische Illusion eine gewisse Theatralität30, die schon durch die Inszenierung in der ›Schaufenster‹-Vitrine zum Ausdruck kommt. Codognatos Aussage, dass Hirst Materialien wie den Hai, das Vitrinenglas oder das Formaldehyd wörtlich wie sinnbildlich verwendet31, gilt für die ganze »Natural History«-Serie.

B)

»T HE G OLDEN C ALF « (2008)

»The Golden Calf« ist ein toter Jungbulle mit rein weißem Fell, der aufrecht in einer mit Formaldehyd gefüllten gläsernen Vitrine steht. Seine Augen sind geschlossen. Auf dem leicht gesenkten Haupt ist mit zwei goldenen Klammern eine Scheibe aus Gold angebracht, Hufe und Hörner sind mit Abgüssen aus 18karätigem Gold ersetzt worden.32 Der Edelstahlrahmen der querrechteckigen Glas-

26 Vgl. Eduardo Cicelyn: The Agony and the Ecstasy. In: Napoli 2004, S. 19. 27 Ebd. 28 Vgl. Ebd. S. 15, 19. 29 Vgl. Carol Vogel: Damien Hirst and Lever House: In New York, a $10 million ‘School’. New York Times Online vom 12. November 2007. 30 Eduardo Cicelyn: The Agony and the Extasy. In: Napoli 2004, S. 18. 31 Vgl. Mario Codognato: Warning Labels. In: Napoli 2004, S. 31. 32 Sotheby’s: Damien Hirst. Beautiful Inside My Head Forever. Kat Ausst. London 2008. Heft »Golden Calf«, S. 74 und Siehe auch Band 3, S. 77, wo Hirst schreibt: »Remove hooves and horns and cast in solid gold and replace«.



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vitrine ist mit polierten Goldplatten besetzt und steht auf einer mannshohen Plinthe aus graumeliertem Carrara-Marmor.33 Abb. 43: Hirst, The Golden Calf (Jungbulle, Formaldehydlösung, Edelstahl, Gold, Glas, Silikon, Carrara-Marmor), 215,4 x 320 x 137,2 cm. (mit Plinthe: 398,9 x 359,5 x 167,6 cm) 2008, Privatbesitz.34

Quelle: © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.

»The Golden Calf« bezeichnet im Gegensatz zu den meisten Werken Hirsts im Titel das, was zu sehen ist – nämlich ein Kalb, das (zumindest teilweise) aus Gold besteht. Der Titel lässt nicht nur – wie sonst bei Hirst – weitere nicht auf den ersten Blick ersichtliche Assoziationen zu, sondern er wiederholt, was zu sehen ist. So sind seine »Twelve Disciples«, also die Jünger Jesu, zwölf gehäutete Kuhköpfe in Formaldehyd. 33 Siehe Maev Kennedy: Golden calf, bull’s heart, a new shark: Hirst’s latest works may fetch £65m. Onlineausgabe des Guardian vom 28. Juli 2008. Der Sockel gehört zum Werk und wurde mit ihm versteigert, allerdings war (wohl aus Platzgründen) in der Verkaufsausstellung nur die Vitrine selbst zu betrachten. 34 Angeblich hat François Pinault den Zuschlag erhalten. Pinault ist der Eigentümer des Auktionshauses Christie’s und ein langjähriger Sammler Hirsts. Vgl. Mike Brennan: Damien Hirst: Beautiful Inside My Bank Account Forever... modernedition.com vom September 2008.



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Sie haben die religiöse Anspielung nur im Titel und der Anzahl der Einzelobjekte.35 Im Begleitheft zu »The Golden Calf« ist in vorauseilendem kunstwissenschaftlichen Gehorsam die bekannteste Bibelstelle zitiert, in der es vorkommt: 1. And when the people saw that Moses delayed to come down out of the mount, the people gathered themselves together unto Aaron, and said unto him, Up, make us gods that shall go before us; for as for this Moses, the man who brought us up out of the land of Egypt, we wot not was become of him. 2. And Aaron said to them, Break off the golden earrings, which are in the ears of your wives, of your sons, and of your daughters, and bring them unto me. 3. And all the people break off the golden earrings, which were in their ears, and brought them unto Aaron. 4. And he received them at their hand, and fashioned it with a graving tool, after he had made it a molten calf: and they said, These be they gods, O Israel, which brought thee up out of the land of Egypt. 5. And when Aaron saw it, he built an altar before it; and Aaron maid proclamation, and said, Tomorrow is a feast to the Lord. 6. And they rose up early on the morrow, and offered burnt offerings, and brought peace offerings; and the people sat down to eat and drink, and rose up to play. 36

Exodus, the Bible, Chapter 32.«

Hirst verwendet eine »alte Geschichte«, indem er sie teils abbildet, teils selbst nachvollzieht. Materialien wie Herstellungsprozess sind wie beim Hai »literal and symbolic«37 zugleich͘ Hirst erschafft tatsächlich ein Goldenes Kalb, statt nur die biblischen Worte zu illustrieren, ebenso wie er tatsächlich in »St. Sebastian Exquisite Pain« in Anlehnung an die Sebastianslegende ein vormals lebendiges Wesen (einen Stier) an einen Pfahl fesselt und mit Pfeilen durchbohrt. Das biblische Wort, das die Anbetung des Goldenen Kalbes beschreibt, wurde über Jahrhunderte in der christlichen Ikonografie immer wieder in ein (Sinn-)Bild übersetzt. Hirst wiederholt dies und geht zugleich den umgekehrten Weg. Er vollzieht in der Realität nach, was die Bibel erzählt, indem er macht, was dort geschrieben steht, nämlich eine Statue eines Goldenen Kalbes herstellen, sein Kalb ist gleichzeitig eine Statue oder Abbildung desselben: »Hier verdichtet sich die Problematik der Verwechslung von Gegenstand und künstlerischem Abbild in der Re-

35 Thümmel 1997, S. 210. 36 Vgl. Sotheby’s 2008. Ebd. Heft »Golden Calf«, S. 3. In dieser Quelle wird 2. Mose 32,14 zitiert. Eine weitere Bibelstelle, 1. Kön. 12,28-30, spricht von zwei Goldenen Kälbern, die angebetet werden. 37 Mario Codognato: Warning Labels. In: Napoli 2004, S. 31.



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zeption zeitgenössischer Kunst zur Spannung zwischen Physis und Thesis, zwischen Natur und Setzung, Materialwert und Nennwert.«38 Damien Hirst erweist mit »The Golden Calf« einer langen kunstgeschichtlichen Tradition Referenz. Er macht dies überdeutlich, indem er im Begleitheft eine Reihe dieser Vorläufer abdruckt und sich damit selbst in eine Reihe mit Botticelli oder Poussin stellt. Im Unterschied zu diesen stellt er das Sujet nicht als Gemälde, Skulptur oder sonstige Abbildung dar, sondern verwendet ein Kalb, das teils stellvertretend fürs Ganze, für Kunst steht, wirklich aus Gold gegossen ist, wie es gleichzeitig stellvertretend für das Echte, das Leben auch ein reales Kalb ist. In der Bibel ist das Goldene Kalb ein Synonym für ein Götzenbild, das verbotenerweise angebetet wird.39 Hirst schafft mit dem Goldenen Kalb das Sinnbild des Bilderverbots, ein Paradox in sich, das Künstler seit dem Mittelalter umgingen, indem sie die Anbetenden mit abbildeten, also nicht selbst ein Goldenes Kalb schufen, sondern nur die Bibel-Geschichte illustrierten. Dass ein gegossenes Kalb, insbesondere ein männliches, zum Synonym des Götzenbildes wurde, hat mehrere Gründe. Ein Kalb kann ein Jungstier sein, was bei Hirsts »The Golden Calf« offensichtlich der Fall ist. Der Penis des Tieres ist gut sichtbar. Seine Geschlechtlichkeit ist nicht – wie bei vielen Darstellungen der Kunstgeschichte – versteckt oder nur angedeutet, sondern wird betont (Abb. 44). Der Stier (wie der Penis) ist ein altes Zeichen für (männliche) Aggressivität, Sexualität, Stärke und Vitalität.40 Diese Charaktereigenschaften werden seit Menschengedenken bewundert, erstrebt, respektiert und gefürchtet. Oft werden sie heidnischen Göttern zugeschrieben, etwa Jupiter, der in Gestalt eines schönen, wilden Stiers die Jungfrau Europa raubte.41 Hirsts »Golden Calf« wirkt jedoch nicht aggressiv, eher passiv und verletzlich, da seine Augen geschlossen sind und die offensichtliche Massigkeit seines Körpers im Widerspruch zu der Tatsache steht, dass seine Vorderhufe fast schweben, da sie (wie auch bei anderen Werken der Serie) kaum den Boden zu be-

38 Schneemann 2002, S. 276. 39 Ex 20,1-5: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!« 40 Vgl. den ambivalenten Wettergott Adad oder Hadad in Mesopotamien, dessen begleitendes Symboltier ein Stier war, und sich durch »Eingeweideschau« bei Opfertieren »offenbarte«. Vgl. Brigitte Groneberg: Die Götter des Zweistromlandes. Kulte, Mythen, Epen. Stuttgart 2004, S. 234, 238-239. Auch im Gilgamesch-Epos (ca. 18. Jahrhundert v. Chr.) taucht ein Himmelsstier auf. Vgl. Walther Sallaberger: Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition. München 2008, S. 61-67. 41 Ov. Met. II 833-875.



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rühren scheinen (Abb. 45).42 Titel wie Sujet beziehen sich zwar auf die Bibel, wobei ›der Tanz um das goldenes Kalb‹ längst eine Redensart geworden ist – auch im Englischen (to worship the golden calf).43 Abb. 44: Hirst, The Golden Calf (Plastik), 2008.

Quelle: Photographed by Prudence Cuming Associates. © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.

Abb. 45: Hirst, The Golden Calf [Detail](Plastik), 2008.

Quelle: © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.

42 Vgl. Hirst im Interview mit Mirta D’Argentio. In: Napoli 2004, S. 134. Vgl. auch Thümmel 1997, S. 177. 43 Die gegenwärtige Bedeutung ist jedoch vom religiösen Kontext weitgehend gelöst. Ebenso verfuhr Hirst bei der Redensart »Pigs might fly« (2008), die nicht aus der Bibel stammt. Diese Formaldehydarbeit zeigt ein eingelegtes Schwein mit Flügeln, das in der Flüssigkeit schwebt, also zu fliegen scheint. »Pigs might fly« ist eine Redensart, um etwas Unmögliches auszudrücken. Vgl. Hirst im Interview mit Liebs 2010. Vgl. Michael Quinion: Pigs might fly. worldwidewords.org O.J.



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Obwohl Titel und Darstellung, wie erwähnt, einen Bezug zur Tradition anderer goldener Kälber der Kunstgeschichte liefern, ist »The Golden Calf« weit davon entfernt, ein rein religiöses Sinnbild zu sein: »By borrowing biblical images you’re investing the work with an added kind of weight.«44, sagt Burns zu Hirst. Dem stimmt Hirst zu. Als Burns jedoch behauptet, Hirst sei Teil der langen Tradition christlicher Bilder und bestätige diese, wendet Hirst ein, dass Religion nicht mehr ihren früheren Stellenwert habe, er jedoch an dem interessiert sei, was ihre Rolle als Sinnstifter einnehmen würde, da Menschen schließlich an etwas glauben wollen.45 Laut Hirst könnte Kunst den Platz von Religion einnehmen, Burns wendet jedoch ein, dass Geld und Kunst in seinen Werken eins wurden. Hirst ist sich bewusst, dass »The Golden Calf« auch als Metapher für den erläuterten Zusammenhang zwischen momentanem Niedergang von Religion und mit dem zeitgleichem Aufstieg des Kapitalismus einhergeht: »And then when you think about all the reverences to the art market, to the stock market, and cash, and belief, and religion kind of falling apart…«46 Hirst ist sich der immer noch vorhandenen Kraft eines Bildes (das in diesem Fall aus der christlichen Mythologie und Ikonografie kommt) und der daraus resultierenden Provokation bewusst. Man kann hier im doppelten Sinne des Wortes von ›Ausschlachtung‹ sprechen. Provokationen gehören zu Hirsts Image und werden von seinen Anhängern und (potenziellen) Käufern/Betrachtern fast erwartet. Blasphemie wie der kontrollierte Schock über den Kadaver (ein weiteres Hirst’sches Paradoxon) sind einkalkulierte Nebeneffekte der »Natural History«-Serie, die dem einzelnen Werk zusätzliche Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Der Schock bei »The Golden Calf« hält sich in Grenzen, da Hirst dafür bekannt ist, auf diese Art und Weise zu schockieren, ein Prinzip aus der Welt des Marketings und des Konsums: »Große Gefühle gibt es nur noch unter Bedingungen, die Ellen Berscheid als controlled exposure situation [kursiv im Original, Anm. UB] beschrieben hat. Man lässt sich überraschen und aufregen – kann aber jederzeit rausgehen oder abschalten.«47 Im Gegensatz zu den kunstgeschichtlichen Vorgängern wurde »The Golden Calf« nicht für einen religiösen Kontext geschaffen, sondern um von einem reichen Sammler gekauft zu werden, weniger, um von einer Privatperson in einem Museum, also in einem profanen Kontext, nur betrachtet zu werden. Dieser Umstand wird im Werk von Hirst berücksichtigt. Er geht auf den Betrachter ein, der für ihn lange eher ein potenzieller Käufer seiner Kunst war, weniger ein kontemplierender Museumsbesucher ›alter Schule‹, der betrachten will. Hirsts Anhänger betonen, 44 Vgl. Sotheby’s 2008. Band 1, S. 21. 45 Sotheby’s 2008. Band 1, S. 22. 46 Hirst im Interview mit Haden-Guest 2008, S. 157. 47 Bolz 2002, S. 94.



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dass er den Museumsbetrieb nicht braucht.48 Tatsächlich stellt er bis zum Abschluss dieser Arbeit 2012 wesentlich weniger in öffentlichen Institutionen aus als in kommerziellen Galerien, trotz seiner großen Tate Retrospektive. Seine Reputation als Künstler ist ein Resultat von Verkaufsausstellungen. Hirst will verkaufen, er produzierte seine Serien mit einem Heer von Assistenten in dreistelligen Stückzahlen, was an Warhols Factory erinnert.49 Daher wird im Folgenden der Begriff (potenzieller) Käufer/Betrachter für den Betrachter von Hirsts Kunst, auf den dieser intensiv eingeht, angewendet. Hirst ist wichtiger, dass die Metapher vom Goldenen Kalb (über-)funktioniert oder in Frage gestellt wird, als dass er etwa Gotteslästerung begehen oder Religionskritik üben will. Dies wird deutlich, wenn man sich die Titel und Inhalte zweier Werke der »Beautiful Inside My Head Forever«-Auktion ansieht: »The Mirror of Midas« und »The Mirror of Judas« sind gleich groß und zeigen jeweils eine goldene beziehungsweise silberne mit Schmetterlingen oder Diamanten besetzte Leinwand.50 Die Titel unterscheiden sich nur durch zwei Buchstaben, die entweder einen mythologischen König oder einen christlichen Verräter assoziieren lassen. Hirst exerziert Titel wie Bedeutungshülsen formal durch: Die silberne Farbe lässt sich auf das Silbergeld beziehen, das Judas für seinen Verrat bekam, das Gold auf den Umstand, dass alles zu Gold wurde, was Midas berührte, was zu dessen Tod führte. Midas und Judas tauchen zudem noch in 13 weiteren goldenen und silbernen Gemälden der Auktion auf. In beiden Fällen, Judas wie Midas, geht es jedoch nicht um Religion, sondern um die Gefahren, die Reichtümer bergen, in diesem Fall Verrat und Tod. Wenn Hirst Reichtum in seinen Werken behandelt, spricht er einerseits von sich selbst, dem Künstler, dem Verrat an der Kunst vorgeworfen wird, der angeblich ausverkauft hat, von dem jedoch auch positiverweise gesagt wird, dass alles, was er anfasst, zu Gold wird. Wie beim Goldenen Kalb gibt es diesen positiv besetzten Ausspruch auch im Englischen, »the Midas touch«. Zum anderen verwendet Hirst, was aktuell um ihn herum ist, in den 1980er Jahren found objects von der Straße, mit zunehmendem persönlichen Reichtum jedoch Gold und Silber. 48 »Museums are for dead artists. I’d never show my work in the Tate. You’d never get me in that place.« Hirst zitiert sich selbst 2012, wo er auf ein Interview mit David Bowie 1996 Bezug nimmt. Hirst im Interview mit Sean O’Hagan: Damien Hirst: ›I still believe art is more powerful than money‹. Guardian Online vom 11. März 2012. Vgl. auch Sarah Thornton: In and out of love with Damien Hirst. Making sense of spots, sharks, pills, fish and butterflies. The Art Newspaper Online vom 23. Oktober 2008. 49 So die Kunsthistorikerin Gilda Williams in Zusammenhang mit Hirst. Zitiert bei Sarah Thornton: In and out of love with Damien Hirst. Making sense of spots, sharks, pills, fish and butterflies. The Art Newspaper Online vom 23. Oktober 2008. 50 Vgl. Sotheby’s 2008. Band 3, S. 16,17,22,23.



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Hirst versucht, die Ambivalenz von Metaphern und Sprichwörtern vorzuführen, weil er Metaphern ablehnt: »I feel ridiculous being metaphorical anyway, but it’s unavoidable.«51 Das Goldene Kalb wird einerseits als Metapher für die übergebührliche Verehrung von Macht und Reichtum gesehen, andererseits kann man es positiv verstehen, wie der Ausdruck ›sich selbst ein Bild machen‹ belegt, der zudem impliziert, dass das Verbot, sich ein Bild zu machen, von Autoritäten stammt, die in Frage gestellt werden können oder müssen. Abb. 46: Hirst, The Golden Calf. Drawing (Zeichnung), 2008.

Quelle: Photographed by Prudence Cuming Associates © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.

Dies wird deutlich, wenn man sich eine (Instruktions-)Zeichnung zum »Golden Calf« näher ansieht (Abb. 77). Hirsts Inschrift »don’t go worshipping false idols!« bezieht sich auf das Dritte Gebot Gottes. Hirst ironisiert diesen Umstand jedoch, indem er dahinter eine Zeile aus dem bekannten 1990er Jahre Nummer-Eins-Hit-Song »Waterfalls« stellt: »don’t go chasing waterfalls!«. Der Song lässt eine Mutter die Zeilen »Don’t go chasing waterfalls, please stick to the rivers and the lakes that you’re used to« sagen, deren Sohn mit Drogen handelt und sich mit HIV ansteckt, weil er ihren Rat nicht befolgte. Hirst setzt damit postmodern Gottvater und sein »don’t go wors-

51 Hirst 1993. IV S. 62. An anderer Stelle sagt er: »Metaphor seems to me false and I don’t see the work as false.« Hirst 1993, S. 132.



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hipping false idols!« mit dem Rat einer Mutter aus einem Popsong in Beziehung, was je nach Ansicht beide als moralische Lebenshilfen auf dieselbe Stufe stellt, aufwertet oder das Gesagte als nicht ernstzunehmende Binsenweisheit abwertet. »The Golden Calf« ist damit genauso von Popkonsumkultur wie von Religion beeinflusst. »Meaning is a shaky evidence we build out of scraps, dogmas, childhood injuries, newspaper articles, chance remarks, old films, small victories, people hated, people loved; perhaps it is because of our sense of what is the case is constructed from such inadequate materials that we 52

defend it so fiercely, even to the death.«

Dieses Zitat geht in eine ähnliche Richtung wie Hirst, weil es Lebensweisheiten oder Dogmen mit Inhalten von Popsongs oder »old films« gleichsetzt und damit die Subjektivität und Unsicherheit beider (oder das Gegenteil) thematisiert.53 Hirst reflektiert damit die postmoderne Gegenwart, wo die traditionelle Art von Rationalität eines allgemeingültigen und absoluten Erklärungsprinzips wie Religion oder Subjekt in Frage gestellt wird. Was gibt Sinn? Was soll man ›anbeten‹? Wenn man in der Postmoderne nicht mehr an Religionen, den Fortschritt der Wissenschaft oder Marxismus glaubt, dann eventuell an Kapitalismus, das »goldene Kalb« der Konsumgesellschaft.

C)

M ATERIAL M ATTERS – T IER , G OLD UND V ITRINE

Das präparierte Kalb in »The Golden Calf« ist Bedeutungsträger der (im Auge des Betrachters generierten) Darstellung des biblischen Goldenen Kalbes. Da es sich um ein vormals lebendiges Wesen handelt, wäre es nicht ganz richtig, vom Kalb als ›Material‹ wie etwa Gold zu sprechen. Ganz falsch wäre dies auch nicht, da mit »bildhauerischen Mitteln […] das haltlose Gewebe [dieses Kalbs, Anm. UB] in eine Form gebracht [wird], die der Mechanik des Körpers und den Vorstellungen von Lebendigkeit enspricht.«54 Zudem steht, wie Ullrich betont, die »leibliche Anwesenheit des singulären Tieres […] nicht für das Tierindividuum, sondern für eine bestimmte Spezies oder das Phänomen Tier an sich. Das Einzelwesen wird zum Exempel und zum Repräsentanten einer Kategorie und damit zum Bild, das immer nur den Menschen und seine Vorstellungen von Natur zeigt.«55

52 Salman Rushdie: Imaginary Homelands: Essays and Criticism 1981-1991: Essays and Criticism, 1981 to 1991. London 1992, S. 12. 53 Auf diesen Umstand wird in Zusammenhang mit Hirsts Butterfly Paintings eingegangen. 54 Wenzel 2005. [S. 2.] 55 Ullrich 2004, S. 5.



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Hirst führt mit der Verwendung des toten Kalbes vor Augen, dass das menschliche Töten immer ein brutaler und erschreckender Akt ist, selbst wenn er dem Nahrungsmittelkonsum oder dem Schutz des (eigenen) menschlichen Lebens dient. Menschliches Überleben steht heute bei Tierschlachtungen selten im Vordergrund. Meist werden Tiere eher aus Vergnügen oder Luxusgründen getötet, ihr Tod hat ›Freizeitwert‹ oder sie sollen konsumiert werden. Dies wird dem Betrachter meist nur bei expliziten Sachverhalten wie Stierkämpfen bewusst. Wie bei »The Golden Calf« sorgt hier ein männliches Rind mit seinem Tod für Freizeitunterhaltung, zu der Kunst heute oft gezählt wird. »Die Leute essen Fleisch, regen sich jedoch über Stierkämpfe auf«, so Hirsts Vorbild Francis Bacon.56 War früher der Sonntagsbraten« aus finanziellen Gründen noch die Ausnahme, wird heute in der westlichen Kultur oft täglich Fleisch gegessen, weil Rind oder Schwein dank industrieller ›Erzeugung‹ erschwinglich und allverfügbar wurden. Für McHugh ist der stetig steigende Fleischkonsum »an index of global consumerism as well as its problems.«57 Auch Hirst sagt: »For me the cow is the most slaughtered animal in the history of the world, that’s why I like to use it.«58 und der Rohstofflieferant Kuh sei nur »walking food«.59 Neben seiner Darstellung als Goldenes Kalb war ein Rind insbesondere als Opfertier oft Gegenstand von Abbildungen. »Wahrscheinlich hat die wirtschaftliche Bedeutung des Rindes in vielen Zeiten und Kulturen zu seiner ins Kultische reichenden Verehrung geführt.«60 Laut Thümmel sind Rinder die »säkularisierte[n] Opfertiere der heutigen Gesellschaft«.61 Hier wird der Zusammenhang zwischen Religion und Konsum deutlich. Die Kuh ist in beiden Fällen Teil eines Ritus. Schon die notwendige Betonung, dass es sich bei dem Lebewesen Kalb nicht einfach um künstlerisches ›Material‹ handelt, führt unser ambivalentes Verhältnis zu Nutztieren vor. Sie erscheinen bei Hirst eher als industriell hergestelltes Readymade denn als Lebewesen. Readymades waren bei Duchamp oder Warhol massenproduzierte Dinge wie Waschmittelkartons oder Flaschenhalter, nicht jedoch Lebewesen. Die Kuh kann als Synonym für pervertierte/n Massenproduktion und -konsum beziehungsweise die Entfremdung des Menschen von der Natur verstanden werden. Hirst verwendet immer wieder Rinder, so bereits 1994 »Mother And Child Divided«, wo eine Mutterkuh und ein Kalb jeweils längshalbiert (»divided«) in je zwei Vitrinen zu sehen sind. Im Zuge des zeitgleich auftretenden BSE-Skandals der 56 Bacon in David Silvester: Gespräche mit Francis Bacon. München 2009. 57 Susan McHugh: Revolting Nuggets and Nubbins. In: Antennae, Ausgabe 8, Nr. 2, Winter 2008. S. 14-19. 58 Damien Hirst zitert bei Thümmel 1997, S. 100. 59 Ebd. S. 186. 60 Vgl. Ebd. S. 100. 61 Ebd.



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1990er Jahre zeigte sich durch Rinder das pervertierte Gesicht des Konsums, wo aus Gründen der Wirtschaftlichkeit Rinder ungewollt zu Kannibalen wurden, weil sie das Mehl ihrer Artgenossen verfüttert bekamen und infolgedessen an Rinderwahnsinn erkrankten.62 Später wurden sie eben deshalb geschlachtet, was sie zu modernen Opfertieren unserer Konsumgesellschaft macht.63 Thümmel meint in Zusammenhang mit »Mother And Child Divided«, dass der Mensch ein gestörtes Verhältnis zur Umwelt, nicht nur zum Tier, auch zu seinen Mitmenschen hat.64 Dieses Verhältnis wird am menschlichen Konsumverhalten verdeutlicht. »Das Tier wird als Produkt vorgeführt, das allein menschlichen Interessen dient, zum einen im Waren- zum anderen im Kunstkreislauf. Indem Hirst zumindest unterschwellig die Ökonomisierung und Anonymisierung der Massenschlachtungen thematisiert, zwingt er jedoch den Betrachter, die bisherige Art der Nutzung und des Missbrauchs zu überdenken.«65 Andererseits ist Hirsts Werk aufgrund seiner positiven und dekorativ-ästhetischen Präsentation ohne Zeichen von Tod, Krankheit oder Verletzung der Tiere weit davon entfernt, nur polit-aktivistisch konsumkritisch zu sein. Er stellt eine Deutung in diese Richtung zur Verfügung, kontrastiert sie jedoch mit der Art der Präsentation: »And so if, on the one hand, he can take full advantage of social and cultural contradictions, from which he unleashes the power of his spectacular and shocking images, on the other hand he seems to want to criticize the modern mechanism of reproduction of aesthetic value, al66

most as if he were proposing a romantic experience of art.«

Hirst setzt den Betrachter in eine Position, in der Voyeurismus (das schön präsentierte Kalb ansehen) mit konventionellen, liberalen Vorstellungen (tote Tiere im Museum sind abstoßend) kollidiert.67 Hirst interessiert das Ambivalente von Nutztieren, ohne zu werten: »Animals become meat. That’s abstract.«68 Die Rolle der toten Kuh in Hirsts Werk hat sich seit »Mother And Child Divided« verändert. Was in den Zeiten von BSE verstörend und provokativ war, ist 20 62 Der Zusammenhang zwischen BSE und Tiermehrfütterung wird zwar auch in Frage gestellt, ist jedoch unter Fachleuten meist Konsens. Vgl. Die Zeit: Rinderwahn – BSE ist besiegt – beinahe. Zeit Online vom 21. April 2009. 63 Vgl. Jessica Ullrich: Die gewalttätige Bildwerdung des Animalischen. Tiere als Medien von Gewalt. Kunsttexte Ausgabe 3 – Kunst Medien vom 30. Mai 2004, S. 1. 64 Vgl. Ebd. S. 192. 65 Ullrich 2004, S. 5. 66 Cicelyn in Napoli 2004, S. 22. 67 Stallabrass 2006 sagt dies über Hirsts YBA-Kollegin Sarah Lucas, S. 94. Diese Aussage lässt sich jedoch auch auf Hirst anwenden. 68 Hirst 1997, S. 299.



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Jahre später Hirsts eingetragenes ›Markenzeichen‹, nämlich dass die Schönheit der Darstellung mit der Hässlichkeit des Materials kollidiert, wodurch zunächst ein ungutes, ›interessantes‹ Gefühl bleibt. Da die ›Marke‹ Hirst seit etwa Mitte der 1990er Jahre etabliert ist, tritt sie etwas in den Hintergrund, an die Provokation wird nur wie mittels eines Label erinnert. Sie hat sich jedoch abgenutzt, ebenso wie Manzonis oder Ofilis »Artist’s Shit« oder Gilbert & Georges explizite Nacktdarstellungen immer weniger schocken. Exkremente und Pornographie sanktionieren die teils betont an Kitsch grenzende ›Schönheit‹ dieser Werke immer noch und umgekehrt, sie werden mit den Jahren jedoch vertrauter und weniger verstörend.69 Das ursprünglich schockierende an den toten Tieren war ihre Unmittelbarkeit und damit die Unmittelbarkeit von Hirsts Kunst im Gegensatz zu Foto, Film oder abbildender Malerei.70 Seine Kunst ist einerseits dekorativ, elaboriert und bewusst gut verkäuflich gestaltet71, andererseits hat er dieses »desire for realism«72, welches ihn vor der Klassifizierung in Kitsch und Dekoration bewahrt.73 Hier ist es nicht Adornos Prise Kitsch, die Kunst genießbar macht, sondern die Prise Kunst, die Hirsts, aber auch schon Koons Kitsch ungenießbar und damit zu Kunst macht.74 Auf eine Frage nach »The Golden Calf« äußert sich Hirst zunächst zu früheren Werken, in denen er Rinder verwendet: »It works on many levels. I was working on cow things, and mad cow disease came out, and it became very topical and very at the moment. It’s kind of a happy accident. But it makes it all the more important.«75 Der angebliche zeitliche ›Zufall‹ wie bei BSE kam Hirst auch bei »The Golden Calf« zu Hilfe. Die Auktion der »Beautiful Inside My Head Forever«-Ausstellung mit seinem signifikantesten Werk, »The Golden Calf«, begann an dem Tag, als die Lehman Brothers Investmentbank in den USA die größte Firmenpleite in der amerikanischen Finanzgeschichte brachte und damit zum Inbegriff der seitdem andauernden Finanzkrise wurde.76 Obwohl Hirst weder den Rinderwahnsinn noch die Finanzkrise vorhersagen konnte, kann man dennoch sagen, dass seine Werke den Zeitgeist widerspiegeln, der von Begriffen wie Konsumgesellschaft oder Gewinnmaximierung dominiert wird, wo viele also ein »Goldenes Kalb anbeten«.77

69 Vgl. Stallabrass 2006, S. 112. 70 Vgl. Stallabrass 2006, S. 169. 71 Vgl. Ebd. S. 112. 72 Wallis in: Muir/Wallis 2004, S. 98. 73 Vgl. Stallabrass 2006, S. 112. 74 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. GS 7. Frankfurt/ Main 1970, S. 356. 75 Hirst im Interview mit Anthony Haden-Guest 2008, S. 157. 76 Vgl. Sam Mamudi: Lehman folds with record $613 billion deb. MarketWatch Online vom 15. September 2008. 77 Die SZ bezeichnet den Künstler Hirst als »Symbol für die Krise«. 10/11. April 2010, S. V2/8.



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Neben dem Kalb ist Gold der dominierende Bestandteil des »Golden Calfs«. Hufe, Hörner und der Kopfaufsatz sind aus purem Gold gegossen, auch der Edelstahlrahmen der Vitrine ist mit Goldplatten belegt. Im Gegensatz zu Gemälden eines Goldenen Kalbes wird Gold verwendet statt nur abgebildet, wie auch das Kalb selbst vorhanden ist, statt einer Abbildung. Da es sich bei Hufen und Hörnern um Abgüsse handelt, sind sie der Teil des »Golden Calfs«, der repräsentativ für das ganze Tier wie in der Bibel aus Gold sind. Als Abguss bildet damit das Gold dennoch die Hufe und Hörner und damit stellvertretend das ganze Kalb ab. Gold ist als seltenes wertvolles und unvergängliches Material Synonym für »Kostbarkeit, Reinheit, auratische Wirkung und Sinnhaftigkeit gleichzeitig«.78 Wer (wie Hirst) ein Goldenes Kalb schafft oder (wie der Betrachter) es »anbetet«, beziehungsweise den oft dargestellten und zitierten »Tanz ums goldene Kalb« aufführt, verehrt Macht, repräsentiert durch den Stier, und materiellen Reichtum (Gold) übergebührlich. Wie Aron in der Bibel von den Israeliten Goldohrringe bekam, erhielt Hirst durch den Verkauf seiner Kunst Millionen, die es ihm erst ermöglichten, ein Goldenes Kalb herzustellen, dem die Betrachter/potenziellen Käufer ihre Aufwartung machen. Hirst führt diesen vor, dass sie (wie Hirst selbst) eine ›kleine‹ Blasphemie begehen und dass sie durch den Besuch in der Galerie ein Goldenes Kalb anbeten, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Für Benjamin behält der Kunst-«Sammler immer etwas vom Fetischdiener [...] und [hat] durch seinen Besitz des Kunstwerks an dessen kultischer Kraft Anteil«.79 Wie Thümmel bemerkte, wird »der Ausstellungsbesucher auf seine Rolle als Betrachter verwiesen, da sich ihm [...] plötzlich die Frage aufdrängt, was er eigentlich hat sehen wollen, warum er gekommen ist.«80 Mit der Abwesenheit des Menschen in Hirsts Werken thematisiert der Künstler das Verhältnis des Betrachters zum Werk, da der Betrachter diese Rolle im Werk selbst einnimmt. Die plötzlich inflationär auftretende Verwendung von wertvollen Materialien wie Gold oder Diamanten bei Hirst ab etwa 2005 zeigt einen radikalen Schritt weg von seinen YBA-Wurzeln, wo er eher Dreck und Abfall (Zigarettenstummel, medizinischer Abfall, tote Tiere vom Abdecker) zu ›Gold‹ machte, wobei man diese Metapher mit verbessern, sowie mit ›zu Kunst machen‹ wie mit ›zu Geld machen‹ übersetzen kann, was die Vergleichbarkeit von Geldwert, ästhetischem Wert oder Kunstwert zeigt. Über Hirst wird nahezu immer in Zusammenhang mit Geld berichtet, ästhetischer Wert und Geldwert gehen in der öffentlichen Meinung normalerweise zusammen.81 »Das Diktum, aus Dreck Gold zu machen, bezieht sich auf die Leistung der Künstler, die Stofflichkeit zu verwandeln. Gleichzeitig wird mit diesem Satz der kommerzielle Erfolg 78 Schneemann 2002, S. 276. 79 Benjamin 1936, S. 22. 80 Thümmel 1997, S. 75. 81 Vgl. Stallabrass 2006, S. 81.



182 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST kommentiert. Das Gold als Material gewinnt im Prozess eine neue doppelte Bedeutung. Zum einen dient es als Indikator einer Wertschätzung und zum anderen als Referenz für die gesellschaftliche Übereinkunft über das, was wertvoll ist, das heißt, es dient als Äquivalenz82

Instrument für die Bemessung des Wertzuwachses.«

Zugleich thematisiert diese ungewöhnliche Verschiebung von Arte-Povera-Materialien zum exakten Gegenteil eine immerwährende Krise der Kunst: Die konträren Positionen sind l’art pour l’art auf der einen Seite und der rein auf finanziellen Gewinn ausgerichtete, materielle Kunstmarkt auf der anderen. Hirst sagt, dass für ihn Kunst heilen kann wie eine Religion und dass Kunst und damit ästhetischer Wert höher anzusiedeln ist als Geldwert.83 Kunst stand zu allen Zeiten zumindest auch im Dienste der Mächtigen, früher gaben hauptsächlich Kirche und Adel Kunst in Auftrag, um Religion und weltliche Macht zu propagieren. Noch früher war das Kunstwerk als Kultwerk Teil religiöser Rituale. Wie der Einfluss von Religion ist auch der der Kirche als einstiger Hauptauftraggeber für Künstler quasi ersetzt worden. Heute stehen Künstler, wenn sie von ihrer Kunst leben wollen, vor dem Dilemma, entweder Kunst für wohlhabende Sammler oder für (meist staatliche) Institutionen wie Museen zu schaffen. Ohne Antworten zu geben, stellt »The Golden Calf« die Frage, was mehr wert ist, Kunst oder Geld, beziehungsweise, welche Art von Wert heute der wichtigere ist, der finanzielle oder der ästhetische Wert, Kunst oder Leben. Hirst sagt, jeder Gegenstand sei genau so viel wert, wie jemand bereit sei, dafür zu zahlen.84 Die Sonnenscheibe auf der Stirn des Kalbes ist ebenfalls aus Gold. Im Begleitheft sind zwei mögliche Vorbilder für Hirst aus der Pop- und Konsumkultur zu sehen, die eine derartige Scheibe aufweisen. Eines ist auf einem Filmstill aus dem Cecil-B.-De-MilleMonumentalfilm »Die Zehn Gebote« von 1956 zu sehen, das andere stammt von dem christlichen Digital-Kitsch-Künstler Ted Larson aus dem Jahre 2006.85 Beide Darstellungen sind aus der Popkultur und im Vergleich zu anderen Goldenen Kalb-Darstellungen neueren Datums wohl das Resultat einer Mischung christlicher Ikonografie mit altägypischen Darstellungen der freilich weiblichen Muttergöttin Bat oder Hathor, die ebenfalls mit Kuhhörnern und Sonnenscheibe abgebildet wurde (Abb. 47), gelegentlich »die Kuh von Gold«86 genannt wurde und mit dem Sonnengott Re verheiratet war. 82 Schneemann 2002, S. 279. 83 Vgl. Hirst im Interview mit Burn. Sotheby’s 2008. Vol. 1, S. 19. 84 Vgl. Hirst in Jessica Berens: Freeze: 20 years on. Guardian Online vom 1. Juni 2008. 85 Vgl. Sotheby’s: Damien Hirst. Beautiful Inside My Head Forever. Kat Ausst. London 2008. Ebd. Heft »Golden Calf«, S. 14, 24. Dass Hirst eher populäre Low-Art Darstellungen als Vorbilder abbilden lässt, kann man als Hirst’sches Understatement lesen, der auch in Interviews oft intellektuelle oder tiefgründigere Deutungen seiner Werke unterwandert. 86 E. Naville: The XIth dynasty temple at Deir el Bahari. Bd. III. London 1907-13. Pl. 9 B, 31 zi$tiert bei Bonnet 1952, S. 279.



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Sie war Totengöttin, Göttin der Liebe, des Friedens, der Schönheit, des Tanzes, der Kunst und der Musik.87 Hathor kann eventuell als Vorläuferin des biblischen goldenen Kalbes gesehen88 und mit dem als Sonnenscheibe dargestellten ebenfalls altägyptischen Sonnengott Aton in Verbindung gebracht werden, der als erster monotheistischer Gott gilt.89 Dieser wirkte nach Freud auf die Entwicklung des jüdischen Monotheismus, da der Religionsstifter Mose den Israeliten auf dem Auszug aus Ägypten »die vergeistigte Aton-Religion« nahe gebracht habe.90 Abb. 47: Triade mit 15. oberägyptischen Gau (Hasengau). Boston Museum, Inv.-Nr. 09.200.

Quelle: http://de.academic.ru/pictures/dewiki/84/TriadStatue DepictingHareNome GoddessHathorAndMekaura_Museum OfFineArtsBoston.png (Gesichtet: 12. März 2011).

87 Vgl. Hans Bonnet: Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. Hamburg 1952, S. 277-282. 88 Joachim Hahn erläutert Für- und Gegenstimmen eines altägyptischen Einflusses auf das Biblische Kalb. Siehe ders.: Das ›Goldene Kalb‹ : die Jahwe-Verehrung bei Stierbildern in der Geschichte Israels. Frankfurt 1980, S. 314-326. 89 Siehe Bonnet 1952, S. 59-71, insbesondere S. 66-67. 90 Vgl. Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel, S. 223. Zitiert bei Assmann: Thomas Mann, S. 190.



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Mit der Sonnenscheibe liefert Hirst also (neben Gold und den kunstgeschichtlichen Aspekten des Goldenen Kalbes) eine weitere Anspielung für klassisch gebildete Betrachter, indem Hirst der Kunstgeschichte Referenz erweist. Seine Popzitate sind analog dazu an andere, vielleicht jüngere, eher durchs Fernsehen gebildete Betrachter gerichtet. Ein weiterer Stichwortgeber ist die gläserne Vitrine. Im Gegensatz zu Kunstobjekten, die zwar in Vitrinen oder Schaukästen aufbewahrt werden (so auch Hirsts »For the Love of God«), aber eigentlich unabhängig davon sind (und etwa auch ohne Vitrine fotografiert werden), ist bei Hirsts Formaldehydarbeiten der Schaukasten integraler Bestandteil des Werkes. Wie ein Reliquienschrein oder Sarg werden Hirsts Vitrinen nach seinen genauen Vorgaben extra für das jeweilige Tier hergestellt. Im Gegensatz zu einer Reliquie kann jedoch die Vitrine wie das Tier jederzeit ersetzt werden91, wie das etwa bei »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« passierte.92 Eine Vitrine ist wie ein Reliquienschrein, ein gläserner Sarg für das tote Tier: »We get put into boxes when we die because it’s clean, and we get put into a box when we are born. We live in boxes.«93 Dieses Zitat illustriert, dass die Formaldehydtiere als Metaphern für den Menschen gesehen werden sollen und die Vitrinen als Haus oder (Lebens-)Raum zu verstehen sind, was Assoziationen an den Ausdruck ›Gläserner Mensch‹ weckt, ebenso wie er in Zusammenhang mit Nutztieren und Menschen die Vitrine als Käfig, einen engen Stall wie eine Legebatterie erscheinen lässt. 94 Die Allgemeinheit der Darstellung lässt aufgrund der Tatsache, dass Hirst Nutztiere, also Schlachtvieh oder tierische Rohstofflieferanten verwendet, auch eine konsumkritische Deutung zu. Für Thümmel wertet die Vitrine das Tier auf oder ab, je nachdem, ob man sie als Sinnbild für tierische Massenproduktion, als Readymade oder Konservendose im Gegensatz zur Einzigartigkeit der Kunstproduktion wie des individuellen jeweiligen Tieres sieht95, oder ob das Tier durch die Vitrine wie bei einem Denkmal durch den Sockel geadelt wird.96 Die Vitrine kann bei Hirst auch als Schaufenster gesehen werden.97 Eine solche Vitrine präsentiert etwas Zum-Verkauf-Stehendes gut sichtbar, zugleich trennt sie den Betrachter davon. Dadurch soll ein Bedürfnis geweckt werden, das Werk zu be91 Thümmel 1997, S. 208. 92 Vgl. Carol Vogel: Swimming With Famous Dead Sharks. NY Times Online vom 1. Oktober 2006. Hirst sagt aus, dass er noch oft im Nachhinein an Werken arbeiten würde, die bereits im Besitz eines Sammlers seien. 93 Hirst 1997, S. 292. 94 Vgl. Codognato in Napoli 2004, S. 32. 95 Vgl. Thümmel 1997, S. 187. 96 Vgl. Ebd. S. 185. 97 Vgl. Ebd. S. 78-81.



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sitzen, und dieses für die Konsumkultur sehr typische Bedürfnis sichtbar zu machen. Als erster Eindruck soll der Betrachter bei »The Golden Calf« staunen wie vor einem Schaufenster. Die Tatsache, dass der Betrachter aus seiner Erfahrung weiß, dass dieses Tier tot ist, kollidiert mit dessen ästhetischer Präsentation, die nicht nur durch die Glasvitrine an ein fein drapiertes Konsumprodukt in einem Schaufenster erinnert. »Das Fensterglas eliminiert Geruch, Geräusch und Tastsinn und führt zur Ästhetisierung der Ware. Das Ding verflüchtigt sich zum Bild, das die Begehrlichkeit des Konsumenten wecken soll.«98 Hirst wählt ausschließlich perfekt schöne makellose tote Tiere, die stets in bestem Licht präsentiert werden. Die Entlarvung dieser Wahrnehmungskollision kommt nicht durch den Inhalt, sondern den Ort der Präsentation. In einem Naturkundemuseum oder in einem Schlachthaus wäre ein totes Kalb nichts Ungewöhnliches. In einer Galerie wird der Betrachter jedoch mit seiner Erwartungs- und Konsumhaltung konfrontiert.99 Die Vitrine als kleines Schaufenster verweist wie der Goldrahmen auf das große Schaufenster, die Galerie, die im Grunde genommen auch nur ein Laden ist, um Konsumprodukte, Kunstwerke, zu verkaufen.100 Man kann hier eine kunstgeschichtliche Parallele zu Manets »Nana« von 1877 ziehen. Das Gemälde, welches eine Prostituierte mit Blick auf den Betrachter samt wartendem Freier zeigt, wurde vom Pariser Salon abgelehnt, was Manet dazu veranlasste, die käufliche Dame in einem Schaufenster eines der neu gestalteten Kaufhäuser auszustellen. Sowohl die Prostituierte wie das Gemälde selbst sind als Konsumprodukte identifiziert, präsentiert vom »pimp, client and salesman« 101 Manet. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, noch einmal auf den Vergleich der Vitrine mit einem Reliquienschrein zurückzukommen. Marx spricht vom Fetischcharakter der Ware.102Bei »The Golden Calf« findet sich ein Götzenbild in einem Schau(fenster)kasten inszeniert. Zu Marxens Zeiten wurde das Wort ›Fetischismus‹ in erster Linie als Begriff im Rahmen von Studien zu ›primitiven‹ Religionen genutzt, der »Fetischismus der Warenwirtschaft« kann daher ironisch als das Glaubenssystem »kapitalistischer Gesellschaften« verstanden werden. Benjamin vergleicht den profanen Schönheitsdienst, den der Besucher einer Kunstgalerie leistet, mit einem Gottesdienst.103Kunstausstellungen dienen heute eher der Freizeitgestaltung denn der Bildung, als shopping extension. Kunst und Kommerz in Kunstaus-

98

Mark C: Taylor: Duty-Free-Shopping. In: Shopping 2002, S. 42/43.

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Vgl. Thümmel 1997, S. 78-81.

100 Stallabrass 2006, S. 190. 101 Catherine Wood: Capitalist Realness. In: Pop Life. Kat Ausst. London 2009, S. 49/50. 102 Karl Marx: Das Kapital Bd. 1. Marx Engels Werke Band 23. Berlin 1990, S. 89. 103 Benjamin 1936, S. 23.



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stellungen und Museen gehen Hand in Hand.104 Die Verkommerzialisierung eines Glaubenssystems findet sich schon im neuen Testament, wo Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt: »Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus!« (Joh 2,16). Wie Jesus die Gebetsstätte frei von Kommerz machen will, betreibt dies auch die »l’art pour l’art«-Bewegung, die Benjamin als eine Theologie der Kunst bezeichnet.105 Dieser Zusammenhang zwischen Kunst, Religion und Kommerz findet sich im »Golden Calf« in vielfacher Ausprägung: die echte Götzenbild-Kuh, die wie eine Reliquie in einem an einen Reliquienschrein erinnernden Schaufenster gezeigt wird, wird in einem Kontext zwischen Kunstbetrachtung und Verkaufsausstellung, einem quasi-religiösen wie wörtlichen Tanz ums Goldene Kalb inszeniert. Dies wird deutlich, wenn man das Publikum näher betrachtet, welches an diesem Tanz tatsächlich teilnimmt. Dieses Publikum steht im Gegensatz zum Publikum, welches Hirsts Werke primär auf (Foto-)Reproduktionen erfährt. In der Ausstellung geht es auch um ein »Midas«-Publikum als potenziellen Käufer, welches, um ›einen Hirst‹ kaufen zu können, reich sein muss und mit den Freuden wie Gefahren des Reichtums vertraut ist. Dieses Publikum zur Zeit der Wirtschaftskrise kennt die Anspielungen Hirsts auf Religion (wie beim »Golden Calf«) in dieser Kunstauktionsausstellung, ist jedoch nicht mehr übermäßig religiös, sondern glaubt an andere Werte, wie den Warenwert des Kunstwerks, den Hirst ebenfalls in Frage stellt. So schreibt Dietrichsen über eben diese Ausstellung Hirsts: »Die Pointe der aktuellen Situation ist sicher, dass mitten in der größten Krise ausgerechnet die traditionell als bodenloseste unter den Wertanlagen geltende bildende Kunst von der Flucht in die Sachwerte profitiert. Der notorische Damien Hirst hat dafür denn auch ein besonderes Mittel gefunden, um diesen Umstand zu nutzen (oder zu persiflieren). Er appliziert echtes Gold auf sein unfassbar idiotisches goldenes Kalb und echte Diamanten auf einen Totenschädel. Er versucht ausgerechnet für die Kunstware zu erzwingen, was auch bei anderen Waren nicht geht, nämlich ‚dem Wert auf die Stirne zu schreiben, was er ist.‘ Manche Autoren beschrieben sein Auktionsspektakel als beißende Kritik am Kunstmarkt. So wie jede Hinrichtung auch eine Kritik an der Todesstrafe darstellt, oder? Aber das ist genau das Merkmal des zyklischen Denkens. Es kann prinzipiell zwischen der Ausführung einer Tat und ihrem 106

distanzierenden Zitat nicht mehr unterschieden werden.«

104 Vgl. Stallabrass 2006, S. 181. Dies ist in Großbritannien unter Umständen noch ausgeprägter als etwa in Deutschland, da dort der Großteil der Museen eintrittsfrei ist und Umsatz nur über den Museumsshop oder temporäre Ausstellungen möglich ist. 105 Benjamin 1936, S. 23. 106 Diedrich Diedrichsen: Hausbesuch beim Finanzkapital. Die Zeit Nr. 40 vom 25. September 2008, S. 64.



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Diedrichsen spricht von »Auktionsspekakel«, der Begriff wie das ganze Zitat betonen ebenfalls das Inszenierte der Ausstellung als das eigentlich aussagekräftig Künstlerische. Neben den (potenziellen) Betrachtern ›tanzen‹ in diesem Ausstellungsritual die anderen Kunstwerke um »The Golden Calf«. Sie alle dienen (wie auch das Publikum) dem Konsum, dem sie ihre Ehre erweisen. Damit kann man die 223 Werke als Personifikationen ihrer Betrachter sehen, wie bei jeder Kunstausstellung der Betrachter neben den Werken auch die anderen Betrachter konsumiert, ›sieht und gesehen wird‹. Dies wiederum kann als Spiegel unserer Zeit verstanden werden, wo der Mensch selbst ein Konsumprodukt, eine Ich-AG, ein Promoter seiner selbst ist. Ebenso spiegelt der auf Hochglanz polierte, mit echtem Gold vergoldete Vitrinenrahmen, wörtlich wie im übertragenen Sinne, den ›Midas-Betrachter‹ und seinen Status wider.107 Hier lassen sich wiederum Parallelen zu mittelalterlichen kostbar in Gold und Diamanten gefassten Reliquien ziehen, die auch Repräsentationszwecken dienten. Zugleich jedoch betonten sie die Relevanz des Dargestellten, für das nur die wertvollsten Materialien gut genug waren. Schaufenster wie Bilderrahmen lenken den Blick auf die Ware, präsentieren diese und sollen ihre Wirkung steigern. Die Rahmenfarbe unterscheidet bei Hirsts »Twelve Disciples« (1994, zwölf gehäutete Kuhköpfe in Formaldehyd) Judas von den anderen: sein Rahmen ist schwarz, wie die Seele des Verräters. Im Unterschied zu »The Golden Calf« wird hier wie bei »Mother and Child Divided« der religiöse Bezug rein durch den Titel hergestellt. Auch findet sich noch kein Bezug zu (Überfluss-)Konsum und Geld, der über den des »most slaughtered animal« hinausgeht. Die Vitrine mit dem Kalb steht auf einem schlichten Renaissance-Marmorsockel. Im Begleittext wird betont, dass es sich um Carrara-Marmor handelt, welcher als besonders wertvoll gilt und die längste Tradition hat.108 Neben der mit dem Gold konform gehenden Überhöhung mittels des wertvollen Materials Marmor109 liefert er einen weiteren Bezug zur Kunstgeschichte: Carrara-Marmor wurde bereits in der Antike verwendet und von Bildhauern wie Michelangelo bekannt gemacht.110 Ein ähnlicher, längsquaderförmiger Sockel ist in einem Gemälde Botticellis zu sehen,

107 Die Rahmenfarbe beziehungsweise das Rahmenmaterial korrespondiert bei Hirst oft mit dem Inhalt der Vitrine. 108 Luciana und Tiziano Mannoni: Marmor, Material und Kultur. München 1980, S. 180207. 109 In der Ausstellung »New Religion« 2005 zeigte Hirst eine übergroße weiße Tablette aus Marmor: The Eucharist, Edition of 50, 2005, 64x170x170cm. In: New Religion. Kat. Ausst. London 2005. O.S. 110 Vgl. Luciana und Tiziano Mannoni: Marmor, Material und Kultur. München 1980, S. 198.



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das im Begleitheft zu »The Golden Calf« reproduziert ist111, und daher als Inspiration für Hirst fungiert haben kann.112 Es ist das erste Mal, das Hirst einen Sockel in einem Werk der »Natural History«-Serie verwendet. Man kann dies wie die Verwendung des Goldes als manieristisches Element sehen, das Hirsts in die Jahre gekommene Serie bereichert, jedoch Aspekte wie die pseudo-wissenschaftliche Präsentation und die damit verbundene Deutung in den Hintergrund drängt. Wie (unter Umständen) die Vitrine, erhöht und adelt der Sockel das Kalb, er verstärkt dessen dramatisch-theatrale und quasi-religiöse Präsentation. Im Gegensatz zur Vitrine ist er jedoch nicht uneingeschränkter Bestandteil des Werkes, was man an der Tatsache sehen kann, dass es autorisierte Abbildungen ohne Sockel gibt.113 Das Werk erscheint mit seinen vier Metern Höhe allein schon durch die Größe imposant. Durch Quantität wird hier ähnlich wie in der Werbung Wichtigkeit ›erzeugt‹. Ein hoher Preis, eine gewisse Größe, Lautstärke oder Anzahl erzwingen Aufmerksamkeit. Wiederum muss der Betrachter selbst entscheiden, ob Hirst dies tut, um zu beeindrucken oder/und um Mechanismen, die unsere Aufmerksamkeit erregen, bewusst zu machen. Hirst entscheidet sich beim Konzipieren des »Golden Calfs« wie bei den Spot, Spin oder Butterfly Paintings dafür, betont nicht zu malen, beziehungsweise hier ein traditionell malerisches Thema in eine Plastik zu übersetzen. Er steht meist zwischen zweiter und dritter Dimension. Immer wieder betonte Hirst, er sei ein »sculptor who wants to be a painter«114 und ›übersetzt‹ etwa sein Maler-Idol Bacon in 3D, für seinen Diamond Skull wird reflexhaft der Gedanke an das Memento Mori holländischer Stilllebengemälde zitiert, sein »Golden Calf« unterlegt er im Beiheft in vorrauseilendem kunsthistorischen Gehorsam mit malerischen Glaubwürdigkeitsspendern wie Botticelli und Poussin. Dies machte etwa Bernini bei seiner Statue des Heiligen Laurenzius, ein bis dato überwiegend malerisch umgesetztes Thema115: Laurenzius’ Peiniger müssen bei Bernini ebensowenig wie die Bogenschützen bei Hirsts »St. Sebastian« oder die Anbetenden beim »Golden Calf« dargestellt werden. Die Wirkung wird dadurch unmittelbarer, dramatisch-theatraler, weil der Betrachter näher am Geschehen ist, ja die Rolle oder zumindest die Perspektive des Peinigers oder Götzendieners einnehmen muss. Er befindet sich sozusagen ›mit im Bild‹. 111 Vgl. Sotheby’s 2008. Golden Calf, S. 16-17. 112 Andere Versionen wie die von Poussin (ebd. abgedruckt, S. 22) zeigen statt einem Sockel jedoch meist eine Säule, auf der das angebetete Kalb steht. 113 Vgl. Sotheby’s 2008. Golden Calf. [Cover]. 114 Hirst in Napoli 2004, S. 206. Im Englischen gibt es den Unterschied zwischen Skulptur und Plastik nicht, dieser Unterschied muss durch Adjektive wie hewn (gehauen) oder moulded (geformt) zu sculpture hinzugefügt werden. Hirst fertigt jedoch nur Plastiken. 115 Vgl. Charles Avery: Bernini. München 2001, S. 31.



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K UNSTA( U ) KTION – DIE »B EAUTIFUL I NSIDE M Y H EAD F OREVER «-AUSSTELLUNG

Letztendlich ist »The Golden Calf« eher ein Objekt in einer als Kunstperformance inszenierten Verkaufsausstellung Hirsts, wo es (wie bereits ein Jahr zuvor der »Diamond Skull«) die Rolle eines Zugpferdes einnimmt.116 Bei der Verkaufsausstellung »Beautiful Inside My Head Forever« im Auktionshaus Sotheby’s (5. bis 15. September 2008) handelt es sich nicht um eine von vielen Ausstellungen seiner Karriere.117 Die Tatsache, dass ein Künstler den unüblichen Weg, Werke direkt für eine Auktion herzustellen, wählt, besitzt in der Kunstgeschichte keine vergleichbaren Vorbilder. Normalerweise werden neue Werke erst in einer Galerie ausgestellt, die den Künstler vertritt und meist 50 Prozent des Erlöses behält. Auktionshäuser bieten im Normalfall Werke des sekundären Marktes an, das heißt der Auktionserlös geht an den vorigen Besitzer des Werkes. Durch Wohltätigkeitsauktionen wie Red 2008 hatte Hirst genug Erfahrung mit Auktionshäusern wie Sotheby’s sammeln können und wusste sich mit letzterem auf besonders günstige Bedingungen zu einigen. Hirst ging dabei ein nicht geringes Risiko ein. Zum einen gab es im Vorfeld Gerüchte, seine Galeristen hätten noch hunderte unverkaufte ›Hirsts‹ auf Lager118, zum anderen gilt es als riskant, den Kunstmarkt gleichzeitig mit 223 Werken eines Künstlers zu ›fluten‹, weil dies den Preis drückt.119 Man kann wohl eher von ›Angriff ist die beste Verteidigung‹ sprechen, zugleich machte Hirst die Auktion zu einer Plattform/einem Medium seiner Kunst(-performance). Obwohl dieser Schritt Hirsts für seine Galeristen nicht wirklich von finanziellem Vorteil war, unterstützten sie ihn bei dieser Kunsta(u)ktion und boten auf die meisten Lose mit.120 Der Kunstkritiker Ben Lewis sieht dies als Bestätigung für seine These, dass Sammler und Galeristen derartige Auktionen mit hohen Preisen unterstützen müssen, da der Wert ihres eigenen Hirsts oder Warhols sinken würde, wenn eine Auktion ihres Künstlers ein finanzieller Misserfolg würde.121 Ähnlich äußert sich Stallabrass.122

116 Hirst im Interview mit Anthony Haden Guest 2008, S. 157. 117 Im Gegensatz zu den Jahren davor und danach war es die einzige Soloausstellung Hirsts 2008, abgesehen von einer zweiten Präsentation von »For the Love of God« von 2007. 118 Vgl. Sarah Thornton: Damien Hirst is rewriting the rules of the market (2) Are primary dealers becoming cuckolds? The Art Newspaper Online vom 1. August 2008. 119 Vgl. Cristina Ruiz: Revealed: the art Damien Hirst failed to sell. The Art Newspaper Online 23. August 2008. 120 Vgl. Sunday Times: Hirst dealers bolster prices at record sale. The Sunday Times Online vom 21. September 2008. 121 Vgl. Ben Lewis: The great contemporary art market bubble. Video. 2008. 90 min. 122 Vgl. Stallabrass 2006, S. 190.



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Durch eine weltweit angelegte Marketingaktion schaffte es Hirst jedoch, viele Neukäufer zu erreichen123 und genau zum rechten Zeitpunkt die bis dato größte Kunstauktion eines lebenden Künstlers anzuberaumen, als mit einem Knall die Weltwirtschaft zusammenbrach, der mit dem datumsgleichen Konkurs der Lehman Brothers Investmentbank seine sichtbarste Ausprägung erfuhr: Am 15. September 2008 wurde »The Golden Calf« für 10,3 Millionen Pfund an einen unbekannten, privaten Telefonbieter verkauft124, also etwa in der Mitte des Schätzpreises von acht bis zwölf Millionen. Dies war der bis dato höchste Preis für ein Einzelwerk eines lebenden Künstlers, der je bei einer Auktion erzielt wurde.125 Das Sprichwort vom Golden Calf wurde hier auf den Kunstmarkt übertragen, der wiederum synonym für die Weltwirtschaft zu verstehen ist. Für sein Happening suchte sich Hirst nicht die Galerie aus, die eher verschleiert, dass sie eigentlich nur ein Verkaufsladen ist, sondern das Auktionshaus, das freimütig zugibt, ›meistbietend‹ zu verkaufen. Man kann Hirst die Rolle des Aron oder des Moses aus der Bibel zukommen lassen: Ist Hirst Kritiker oder Hohepriester des Konsums? Letztendlich lässt er den Betrachter oder Konsumenten entscheiden. Hirst zu unterstellen, dass er die (potenziellen) Käufer/Betrachter hinters Licht führte, würde diesen Dummheit unterstellen. Vielmehr verriet Hirst seinen Zeitgenossen mit dieser Kunsta(u)ktion ganz banal, dass sie tatsächlich ein Goldenes Kalb anbeten. Auch danach spiegelt Hirst die Zeit, diesmal der Rezession: Er fertigte nach dieser A(u)ktion zum ersten Mal in seiner Karriere Gemälde von eigener Hand in geringer Zahl, statt mit 160 Mitarbeitern hunderte Werke in kurzer Zeit zu produzieren: »Hirst has also finally gained control of the supply aspect of his own market, by putting a stop to his previous factory practice of churning out large quantities of Spot, Spin and Butterfly paintings. He has now gone to the other extreme by doing the paintings himself. This strategy certainly creates a sense of scarcity, but it is still to be seen whether this is a permanent transition or just a strategy to calm down a jittery market place.«

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Nach kurzzeitigem, durch die weltweite Finanzkrise bedingtem Einbruch wurden schon bald wieder größere Summen für zeitgenössische Kunst ausgegeben. Man kann sagen, dass Hirst konzept-künstlerisch Mechanismen vorführt, mit denen (scheinbar?) wichtige und wertvolle Dinge von der Werbung oder meinungsbildenden Organisationen wie Museen mit wissenschaftlichem Anspruch (oder Autoritäten generell) prä123 Vgl. Sarah Thornton: In and out of love with Damien Hirst. Making sense of spots, sharks, pills, fish and butterflies. The Art Newspaper Online vom 23. Oktober 2008. 124 Wohl handelt es sich um den Besitzer des Auktionshauses Christie’s François Pinault. 125 Vgl. Arifa Akbar: A formaldehyde frenzy as buyers snap up Hirst works. Onlineausgabe des Independent vom 16. September 2008. 126 Arttactic: Damien Hirst: Market Resurrection? Arttactic.com Ausgabe Oktober 2009.



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sentiert oder inszeniert werden. Er führt vor, dass daher unsere Betrachtung von Kunst und der Welt teils von »überkommene[n] Wahrnehmungsprozesse[n] und Beurteilungsmuster[n]«127 bestimmt sind, die es zu hinterfragen gilt oder die ihre Gültigkeit verlieren (beziehungsweise verloren haben). Dazu gehört Religion, jedoch auch der Glaube an die Heilsversprechen des Überflusskonsums. Wie schon erwähnt, kann man die Hirst’sche Auktionsausstellung als Kunstperformance sehen, in der das »Golden Calf« als eine Art Requisite die Hauptrolle spielt. Eine ähnliche Meinung vertrat Greer in einem Artikel kurz nach der Ausstellung: »Damien Hirst is a brand, because the art form of the 21st century is marketing. To develop so strong a brand on so conspicuously threadbare a rationale is hugely creative – revolutionary even.« 128 Ähnlich äußerte sich zudem Tate-Modern-Kurator Nicholas Cullinan: »The works [of the Beautiful Inside My Head Forever«-auction, Anm. UB] arguably doubled as props for the performance that constituted the main artwork – the auction itself, as a kind of gesamtkunstwerk, given a further fin-de-siecle feel dramatised by the deals and hammers being struck as Lehman Brothers went bust and Meryll Lynch was bought in a fire sale.«

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Tatsächlich ist ein ganzer Raum von Hirsts Retrospektive in der Tate Modern 2012 seiner »Beautiful Inside My Head Forever«-Auktion gewidmet130, was ebenfalls den Installationscharakter dieser Auktion als eigenständige Kunstaktion unterstreicht. Lewis wehrte sich gegen diese Sichtweise der »exhibition-auction as marketing and media/communications performance art«: »And in their climax – a room of Hirst’s gold-plated works from his Sotheby’s auction last year – the gallery texts have the temerity to claim that the greed-fuelled auction sale was a work of performance art in itself. That’s just the same as Stockhausen calling 9/11 a work of art.«131 Wem man nun zustimmt, hängt davon ab, wie eng oder weit man ›Kunst‹ definiert und Moral miteinbezieht. So schließt auch Lewis’ Artikel mit »not everything done by a great artist is art, let alone great art.«132 Auch ist nicht alles , dem ein Kunstkritiker den Kunstcharakter abspricht, ›Nicht-Kunst‹. Lewis unterstellt Hirst 127 Vgl. Thümmel 1998, S. 81. 128 Vgl. Germaine Greer: Germaine Greer Note to Robert Hughes: Bob, dear, Damien Hirst is just one of many artists you don’t get. Guardian Online vom 22. September 2008. 129 Nicholas Cullinan: Dreams that money can buy. In: Pop Life. Kat Aust. Tate Modern 2009, S. 75. 130 Farah Nayeri: Hirst to Get First U.K. Retrospective at Tate for Olympic Year. Bloomberg Online vom 3. März 2011. 131 Ben Lewis: Pop Life sells its soul for the big bucks. Evening Standard Online vom 1. Oktober 2009. 132 Ebd.



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Geldgier, vergisst aber, dass eventuell nicht nur das Angebot eines teuren Kunstwerks in Frage zu stellen ist, sondern eher die Tatsache, dass dieser hohe Preis nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen wird. Sein Vergleich mit Stockhausen133 ist nicht falsch, auch Hirst sorgte mit einer ähnlichen ›11. September‹-Bemerkung für Furore.134 Beide geben an, falsch verstanden worden zu sein.135 Problematisch ist weniger die Tatsache als die Begründung, mit der Lewis der A(u)ktion den Kunstcharakter abspricht, nämlich weil Hirst geldgierig sei. Hirst Geldgier zu unterstellen ist ebenso einfach wie überflüssig, weil dies die Beweggründe und Ansprüche des Künstlers einseitig negativ überbewertet, ähnlich wie das Interview dies positiv tut. Die Frage ist vielmehr, was seine Kunst leistet. Wenn man Lewis Argumentation folgen würde, wäre nur wichtig, was der Künstler will, nicht was beim Betrachter ankommt. Dieser hitzige Diskurs bestätigt die Signifikanz der A(u)ktion rund um das Goldene Kalb für unsere Zeit wie innerhalb der Kunstgeschichte.

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Damien Hirsts »For the Love of God« ist ein mit 8601 reinen Industriediamanten besetzter, lebensgroßer Platinabguss eines menschlichen Schädels.136 Von diesem ließ Hirst nur die leicht gereinigten Zähne in den Abguss einsetzen.137 In der rechten

133 Stockhausen: »Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat. Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. [...]« MusikTexte 91, S. 76. 134 Hirst: »The thing about 9/11 is that it’s kind of an artwork in its own right. It was wicked, but it was devised in this way for this kind of impact. It was devised visually.« Zitiert nach Rebecca Allison: 9/11 wicked but a work of art, says Damien Hirst. The Guardian Online vom 11. September 2002. Auch Banksy äußerte sich in einem Interview ähnlich: »September 11 was an amazing spectacle, very symbolic. In terms of terrorism nothing has ever come close. No amount of bombing people in little holes in Afghanistan will ever compare to that.« Vgl. Banksy im Interview mit Jim Carey: Creative Vandalism. Squall Magazine. 30 May 2002. 135 Karlheinz Stockhausen: Message from Professor Karlheinz. stockhausen.org vom 19. September 2001. Vgl. auch Guardian: Hirst apologises for calling 9/11 ‘a work of art’. The Guardian Online vom 19. September 2001. 136 Vgl. William Shaw: The Iceman Cometh. Onlineausgabe der New York Times vom 3. Juni 2007. 137 Vgl. Will Self: To die for. Onlineausgabe des Telegraph vom 2. Juni 2007.



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Oberkieferhälfte des Originalschädels fehlte der äußere Vormahlzahn.138 »For the Love of God« weist an derselben Stelle eine Zahnlücke auf (Abb. 49). Hirst wollte sie ursprünglich mit einem Goldzahn füllen, hatte jedoch schließlich ›Mut zur Lücke‹.139 Der Platinschädel ist aus 32 Platinplatten zusammengesetzt, die mit tausenden handgelaserten Löchern versehen sind, in denen die Diamanten befestigt wurden.140 Auf der Stirn des Platinschädels ist mittig ein großer, tropfenförmiger rosafarbiger Diamant angebracht. Er wiegt 52,50 Karat und ist von 14 birnenförmigen, ebenfalls rosa Diamanten eingefasst, die größer als die übrigen sind.141 Ihre Farbe ist D, die reinste Farbe, die Diamanten aufweisen können. Abb. 48: Hirst, For the Love of God (Platin, Diamanten, menschliche Zähne), 17.1 x 12.7 x 19.1 cm, 2007, anonymes Privatkonsortium.

Quelle: Photographed by Prudence Cuming Associates © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.

138 Nach dem FDI-Schema: Prämolar (Vormahlzahn) 14. 139 Siehe Jeremy Lovell: Hirst covers cast skull in diamonds. Onlineausgabe der Nachrichtenagentur Reuters vom 1. Juni 2007. 140 Vgl. Self 2007. 141 Vgl. Thomas Kielinger: Damien Hirst. Der teuerste Schädel aller Zeiten. Onlineausgabe der Welt vom 5. Juni 2007.



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Abb. 49: Damien Hirst, For The Love Of God, 2007.

Quelle: Photographed by Prudence Cuming Associates © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.

»For the Love of God« wurde erstmals im Juni 2007 in Hirsts Einzelausstellung »Beyond Belief« in der White Cube Gallery gezeigt.142 Seither wurde er 2008 im Rijksmuseum in Amsterdam143 und 2010/2011 im Florenzer Palazzo Vecchio144 ausgestellt und soll Kernstück von Hirsts (zum Zeitpunkt dieser Untersuchung geplantem) Museum in London werden.145 Der alternative Titel lautet »The Diamond Skull«. Wie »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« in Publikationen meist als »Hai« oder »Hai in Formaldehyd« bezeichnet wird, spricht selbst der Künstler in Interviews vom »Diamond Skull«.146 Dieser Titel betont die Wichtigkeit des Materials für die Rezeption und fasst seine Hauptbedeutungsträger prägnant zusammen – Diamanten und ein Totenschädel. »For the Love of God« ist im Gegensatz zu den meisten Werken Hirsts zunächst kein Objekt einer Serie. Das Motiv des Totenschädels taucht bei Hirst jedoch schon Ende der 1990er Jahre meist als Teil eines (menschlichen) Skeletts auf, von da an

142 http://www.whitecube.com/exhibitions/beyond_belief/ (Gesichtet: 20. August 2010). 143 Die Ausstellung lief 1. November bis 15. Dezember 2008. 144 Vgl. Art Daily: The Diamond Encrusted Skull by Damien Hirst on Display at Palazzo Vecchio. artdaily.com vom 30. November 2010. 145 Rosie Millard: Damien Hirst in line to open his first gallery in Hyde Park. Evening Standard Online vom 15. Juni 2010. Hirst erhielt den Zuschlag nicht, baut jedoch einen Gebäudekomplex im Londoner Viertel Vauxhall um. Vgl. Sean O’Hagan: Damien of the dead. The Observer Online vom 19. Februar 2006. 146 Auch Hirst verwendet diesen Titel im Interview mit Anthony Haden Guest: Damien Hirst – fresh from auctioning of more than 200 pieces of his work. In: Interview Magazine. Dezember 2008, S. 157.



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verstärkt in unterschiedlichen Serien und Medien, so ab 2005147 in späten Spin Paintings (etwa der »Beautiful Inside My Head Forever«-Ausstellung 2008) oder den meisten Blue Paintings von 2006 bis 2009. Danach folgen fotorealistische Schädeldarstellungen, sowie 2011 eine Art Miniaturversion des »Diamond Skulls«, bei der Hirst analog einen Babykopf mit Diamanten versah: »For Heaven’s Sake« von 2008.148 »For the Love of God« wird gemeinhin als Plastik angesehen. In der vorliegenden Untersuchung wird jedoch die These verfolgt, dass das Kunstwerk eher die Inszenierung des »Diamond Skulls« ausmacht. Die genannte These fußt auf der im vorigen Kapitel ausgeführten, von Bankowsky, Gingeras und Wood ebenfalls formulierten Annahme, dass es sich bei der »Beautiful Inside My Head Forever«Auktion um ein Kunstwerk handelt. Dafür spricht zum Einen, dass mögliche Vorbilder aus der älteren und jüngeren (Kunst-)Geschichte Schädel oder Vergleichbares eher als Requisite in Ritualen oder Kunstaktionen verwendeten, zum anderen, dass, wie gezeigt wird, die Wirkung und große Aufmerksamkeit, die diesem Werk zuteil wurde, primär mit der Information zusammenhängt, dass »For the Love of God« 15 Millionen Pfund in der Herstellung kostete und (angeblich) für 50 Millionen Pfund verkauft wurde – sei es auch (teils) an den Künstler selbst: Hirsts Galerie hatte offenbar Schwierigkeiten, einen Käufer zu finden. Als The Art Newspaper dies berichtete und angab, das höchste Gebot läge bei nur 38 statt 50 Millionen149, beeilte sich Hirsts Galerie zu berichten, ein »anonymes Käuferkonsortium« hätte den Schädel für die geforderten 50 Millionen Pfund erstanden.150 Später wurde bekannt, dass dieses Konsortium zumindest aus Hirst selbst, seinem Finanzmanager Frank Dunphy, seinem Galeristen Jay Jopling151 sowie dem ukrainischen Millionär und Kunstsammler Viktor Pinchuk besteht. Angeblich wurde bar bezahlt, es gibt keine Unterlagen, was zu Vermutungen führte, dass eventuell gar kein Geld geflossen ist.152 147 »Hirst plans […] a red and black spin painting […] with a human skull in the middle […].« Jo Tuckman: The bell tolls for Hirst’s tried and tested work. The Guardian vom 24. Oktober 2005. 148 Vgl. Madeleine O’Dea: Damien Hirst’s Opening at Gagosian Hong Kong. Artinfo.com vom 21. Januar 2011. 149 Glen Owen und Polly Dunba: Did Damien Hirst really sell diamond skull for £50m? Daily Mail Online vom 9. September 2007. 150 Linda Sandler: Hirst Sells Skull for $100 Million, Manager Says. Bloomberg.com vom 27. August 2007. 151 Cristina Ruiz: Diamond skull will go to auction if it fails to sell, says Damien Hirst. The Art Newspaper Online vom 20. Oktober 2008. 152 John Pancake: The Art World’s Shark Man, Still in the Swim. The Washington Post vom 10. Mai 2009.



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Nach Aussage Hirsts geht die Wahl des Titels »For the Love of God« auf einen Ausruf seiner Mutter zurück. Als sie hörte, was er mit dem Totenschädel vorhatte, rief sie angeblich: »For the Love of God, what are you going to do next?«153 Aus der Übersetzung von »For the Love of God« mit »Um Gottes Willen« ist ersichtlich, dass der Sprecher nicht gutheißt, was den Ausruf auslöste. Hirst geht mit dieser autobiografischen Angabe auf ein Bedürfnis der Kunstberichterstattung ein, die oft fragt: Was will uns der Künstler sagen? Welche Einflüsse bewegten ihn? Hirst spielt dieses Spiel mit, es ist Teil seiner Schädel-Performance, autobiografischen wie kunstgeschichtlichen Hintergrund (den Aztekenschädel, Memento Mori) selbst anzusprechen, weil dies neben Preis und Namen des Künstlers als zusätzliches Qualitätsmerkmal gilt. Hirst erweist sich als »kunstvolle[r] Arrangeur [...] der Versatzstücke unserer Projektionen.«154 Weitere (diesmal autobiografische), das Werk ›legitimierende‹ Anspielungen liefert Hirst ungefragt selbst, indem er den Hintergrund seines Verhältnisses zu Diamanten erzählt: »[Damien Hirst] runs through a standardized biography of the artifact – his mother serving on a jewelery stall in Leeds’s covered market; his childhood realization of the stones’ totemic significance: pure beauty as ultimate wealth; his acknowledgement of what others might think«155 Dieser autobiografische Ansatz mag Hirsts frühe enge Verbindung zu Dingen und ihrem Wert zeigen. In Zusammenhang mit seiner Biografie wäre noch zu nennen, dass der junge Damien mit dem Gesetz in Konflikt kam, weil er Dinge stahl, was auch in Richtung eines Auslotens von Grenzen interpretiert werden kann, die mit Reichtum und Moral zu tun haben. »For the Love of God« besteht neben dem Schädel, seinen Materialen, Titel, Herkunft und seinem Preisschild über 50 Millionen Pfund aus einer überinszenierten Medienkampagne. Man wird dem »Diamond Skull« jedoch nicht gerecht, wenn man ihn ausschließlich als geschickte Marketingaktion bewertet, wie das insbesondere die Massenmedien taten. Was man davon jedoch verwenden kann, ist die Sichtweise, dass es sich eben mehr um eine Aktion, bei welcher das Werk im Mittelpunkt steht, statt um eine Plastik handelt. Dies wird ersichtlich aus der Tatsache, dass keine Publikation umhin kommt, den Preis und die Umstände seines ›Verkaufs‹ zu nennen.

153 Vgl. Shaw 2007. 154 Schneemann 2002, S. 288. 155 Vgl. Self 2007.



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Abb. 50: Skull with mosaic Mixtec-Mexica (menschlicher Schädel, Turkis, Lignit, Eisenpyrit, Muscheln und Leder), ca. 1500, 19,5 x 12,5 x 12cm. British Museum.

Quelle: UB.

Eine rein moralisch-kritische Untersuchung des Werkes in der Tradition der l’art pour l’art würde konstatieren, dass »For the Love of God« banal ist. Da jedoch dieses Werk »alte Bildungsideale, gesellschaftskritische Potenz und moralische Läuterung«156 eben in Frage stellt (beziehungsweise ad absurdum führt), werden sie dem »Diamond Skull« ebensowenig gerecht. Der hier gewählte Ansatz versucht, beide Positionen zu verbinden, da »das Dilemma der Reduktion der Kunst auf die goldene Moral ebenso groß wie die Reduktion auf ihren Verkaufswert«157 ist. Spielen wir also zunächst Hirsts Spiel mit. Mit wertvollen Materialien überzogene Schädel von Menschen oder Tieren wurden in der (Kunst-)Geschichte oft in Ritualen und Kunstaktionen verwendet: »[A]cross cultures and times, people subconsciously consider the Skull the home of humanity. It is where our words come from and our emotions are shown. And what would better a way to embrace that for eternity than to inlay precious jewels and metals?«158 Hirst gibt an, von einem »Aztec turquoise Skull« im British Museum 156 Schneemann 2002, S. 287. 157 Ebd. S. 288. 158 Kambiz Kamrani: Damien Hirst’s diamond encrusted Skull & Jeweled Skulls in Archaeology. Anthropology.net vom 1. Juni 2007.



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beeinflusst worden zu sein.159 Wohl handelt es sich um »Skull with mosaic« etwa aus dem Jahre 1500 (Abb. 50), einem menschlichen Schädel, der mit Edelsteinen belegt ist, jedoch nicht mit Diamanten, sondern mit Türkis, Lignit, Pyrit und Muscheln.160 Dieser wurde in religiösen Ritualen der Azteken mit einem Lederband um die Hüfte gebunden und repräsentierte den Gott der Krieger, Machthaber und Zauberer, Tezcatlipoca, was mit »Rauchender Spiegel« übersetzt werden kann.161 Indem Hirst ein derartiges Vorbild angibt, stellt er sein Werk in einen überzeitlichen Kontext, der das Werk mit zusätzlicher Bedeutung auflädt. Die Tatsache, dass der Aztekenschädel wie eine Requisite in einem Ritual verwendet wurde, kann man auch für »For the Love of God« konstatieren. Dies wird deutlich, wenn man sich weitere, formal sehr ähnliche, mögliche Vorbilder ansieht. Ebenfalls religiösen, wenn auch christlichen Hintergrund hat »For the Love of God« in mittelalterlichen Reliquien, wie im diamantbesetzten Schädel des Heiligen Eutyches (Abb. 51), der in der Franziskanerkirche in Salzburg aufbewahrt wird. Ein Schädel repräsentiert einen konkreten Verstorbenen und abstrakt den Tod selbst. Wird bei der Reliquie des Heiligen Eutyches die Wirkung und Wichtigkeit der (angeblich) echten Knochen des Heiligen durch die wertvollen Diamanten verstärkt, ist bei »For the Love of God« umgekehrt der Schädel und damit der Memento-Mori-Gedanke der ›Aufhänger‹ dafür, einem 50 Millionen-Kunstwerk eine Form zu geben. Dennoch wurde der Schädel nicht wirklich mit Preisschild präsentiert. Die Art seiner Inszenierung changiert zwischen der von Waren und Kunst. Das fehlende Preisschild ist umgekehrt in Luxus-Läden ein Zeichen dafür, dass die Zurschaustellung von Kunst die von Waren beeinflusste. Was Ullrich über Präsentation von Luxuswaren schreibt, gilt auch für den »Diamond Skull«: »Die Waren werden wie Exponate präsentiert: einzeln freigestellt, angestrahlt wie in einer Schatzkammer, dargeboten als Unikate. […] Die Stücke sollen am besten gar nicht als Waren auffallen. Um der Kontrastierung treu zu bleiben, könnte man hierin eine katholische Variante des Konsums erkennen, erinnert der Umgang mit den Dingen doch an die Verehrung von Reliquien. Das einzelne Produkt – ein Schuh, eine Handtasche, eine Armbanduhr – verkörpert dann die Marke im Ganzen. In ihm versammelt sich exemplarisch alles, was zu deren Image 162

gehört.«

159 BBC News Online: Hirst unveils £50m diamond skull. BBC News Online vom 1. Juni 2007. 160 Vgl. Colin McEwan, Leonardo López Luján Hgg.): Moctezuma: Aztec Ruler. Kat. Ausst. British Museum. London 2009. 161 Ebd. 162 Ullrich 2006, S. 183.



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Abb. 51: Schädel des Heiligen Eutyches.(Ca. 378 bis ca. 454) Franziskanerkirche Salzburg.

Quelle: http://farm3.static.flickr.com/2338/1758979895_ 97b92a0a3c_o.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Die christliche Reliquie, der Schädel, kann auch ohne Diamanten angebetet werden, diese verstärken und betonen den ideellen Wert lediglich. »For the Love of God« würde jedoch ohne die wertvollen Materialien nur ein gewöhnlicher anonymer Totenkopf sein. Zu dem tränenförmigen rosa Stein ist Hirst laut Selbstaussage von der ComicFigur Tharg the Mighty inspiriert worden.163 Auf der Stirn hat Tharg die »Rosette of Sirius« (Abb. 52). Hirst liefert hier eine Anspielung an kommerzielle Popkultur, die jedoch ›tiefere‹ Anspielungen birgt. Die »Rosette of Sirius« wie der Rosa Stein ähneln auffällig einem sogenannten Dritten Auge, das in vielen Kulturen und Religionen eine Rolle spielt und auch beim Menschen biologisch in Form der lichtempfindlichen Zirbeldrüse nachgewiesen ist, die sich hinter der Stirn befindet.164 Im Hinduismus etwa wird es als Tilak(a) (zu deutsch: Zeichen, Markierung) genanntes religiöses Segenszeichen (Abb. 53) in Form eines roten Punktes von Männern und Frauen auf der Stirn getragen.165 163 Hirst im Interview mit Hans Ulrich Obrist in Kat. Ausst. Beyond Belief. 2007. O.S. Dieser Superheld wurde 1977 von Alan Grant kreiert. Er taucht in der Erstausgabe des Science Fiction-Comicmagazins »2000 AD« erstmals auf. Vgl. Alan Grant: 2000 AD. Volume 1. London 26. Februar 1977. 164 Vgl. Annette Bolz: Das dritte Auge. Die Zeit Online vom 18. November 1994. 165 Ein Tilaka kann je nach Form Religionszugehörigkeit bedeuten und auch an anderen Körperstellen vorkommen, am Häufigsten jedoch an der Stirn.



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Abb. 52: Tharg the Mighty (Cartoonfigur), seit 1977.

Quelle: ©2000AD.http://media.comicvine.com/uploads/2/ 20087/377122-178999- tharg-the-mighty_large.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Abb. 53: Tilak[a].

Quelle: Venkatraman S. https://lh6.googleusercontent.com/ _DBBAX40dSa8/S0FMVAhI_xI/AAAAAAAAES8/ueIQb v4KMK0/s512/DSC_0027.JPG (Gesichtet: 12. März 2011).

Wie die Sonnenscheibe bei Hirsts »The Golden Calf«, die an ähnlicher Stelle am Kopf befestigt ist, kann man auch den rosa Diamanten als zusätzlichen kommerziel-



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len Schmuck sehen oder vielseitig (religiös) interpretieren166, in »For the Love of God« setzt er einen starken optischen Akzent, der an Figuren der Popkultur ebenso wie an ein vormals religiöses Zeichen erinnert, welches heute eher Schmuck ist. Zugleich stellt der religiös assoziierte Diamant eine Verbindung zum Wort »God« im Titel her. Neben Azteken- und Heiligenkult vergangener Tage lassen sich auch der Día de los Muertos (Tag der Toten, vgl. Abb. 54) am 2. November in Mexiko als mögliche Einflüsse auf »For the Love of God« zitieren. An diesem wichtigsten, aus vorchristlicher Tradition stammenden Feiertag Mexikos kommen nach altmexikanischem Glauben die Toten zum Ende der Erntezeit zu Besuch und feiern mit den Lebenden ein fröhliches Wiedersehen mit Musik, Tanz und gutem Essen. Abb. 54: Candyskulls, 2010.

Quelle: http://littlestmartha.files.wordpress.com/2010/10/ candyskulls.jpeg (Gesichtet: 12. März 2011).

Der Umgang der Mexikaner mit dem Tod wirkt auf westliche Kulturen befremdlich, da der Tod nicht tabuisiert wird. Er wird als etwas angesehen, vor dem man sich nicht zu fürchten braucht, etwas, dem man jederzeit mit Humor begegnen 166 In Zusammenhang mit Konsum sei das Bindi genannt. Der Übergang vom genannten religiösen Tilak zum dekorativen Bindi, das nur von Frauen getragen wird, ist fließend. Bindi heißt zu deutsch Punkt oder Tropfen, was dem tropfenförmigen Diamanten in »For the Love of God« entspricht. Bedeutete es früher teilweise, das die es tragende Frau verheiratet war, wird es heute vielfältig nur noch als Schmuck verwendet. Der Punkt auf der Stirn wurde also vom religiösen Zeichen zum Konsumprodukt.



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kann. Alltägliches in Mexiko wie La Calzada del Hueso (Die gepflasterte Knochenstraße) und La Barranca del Muerto (Die Todesschlucht) wurde so in Relation mit dem Tod gebracht. Der Tod ist allgegenwärtig und ein Teil des Lebens. Besonders deutlich wird das in der Zeit eben rund um die Días de los Muertos, wenn die Calaveras, Skelette aus Pappmaché, Gips oder Zucker (Abb. 54), in allen möglichen Alltagssituationen dar- und in den Straßen und Geschäften aufgestellt werden. Hirst, der einen Zweitwohnsitz in Mexiko hat, inszeniert seinen »Diamond Skull« mit einer ähnlich makaberen Mischung aus Tod und Ironie (der grinsende Schädel) und strahlendem Protz-Optimismus (die Diamanten): »I think that the way that I deal with death is a bit Mexican. In England people hide or shy away from death and ideas about it, whereas Mexicans seem to walk hand in hand with it,« […] [Hirst] said, a week before the country celebrates the departed on the Day of the Dead. »In that way I feel a bit liberated here.«167 Das Makaber-Kitschige, Ironische und Massentaugliche sowie die Verwendung in Ritualen dieser Skulpturen findet sich auch in »For the Love of God« wieder. Hirst geht es jedoch mehr um Wert an sich und seine künstliche Generierung als um mexikanische Folklore, die ihm als Referenz jedoch sehr willkommen ist. In der europäischen Kunst ab dem 19. Jahrhundert wurde der Totenschädel etwa von Van Gogh, Ensor oder Cézanne verwendet, später etwa von Schiele, Munch, Picasso, Dali oder Dix: »Although its form recurs in the paintings and sculptures of Western art – from the danses macabres and ars moriendi of the Middle Ages to Baroque iconography – what prevails in art is life and its positive values. Death is not the main subject in art: it is overshadowed by life.«168 Diese Ausführungen Paparonis schwingen in Hirsts Schädel mit, wobei sein Umgang mit dem Schädel eher an den von Warhol erinnert: »One of the first artists [in the 1970s] to emphasize this subject [of the Skull, Anm. UB] was Andy Warhol who, by presenting it as if it were an x-ray, underlined its power as a mass image, not dissimilar in form to a commercial logo or an advertising poster.«169 In der Werbung, Populär- oder Konsumkultur finden sich reihenweise Beispiele von Totenschädeln. Etwa die Heavy-Metal-Szene schmückt sich seit den 1980er Jahren gerne mit Totenköpfen, die Materialien aufweisen, die zumindest wertvoll aussehen sollen. In den Medien Film und Theater sind Schädel aus wertvollen Materialien als Synonym für (Erstrebens-)Wert(es) in Kombination mit einem dunklen, aber aufregenden Geheimnis zu verstehen. 2008 jagt etwa der Filmheld und Aben167 Hirst im Interview mit Jo Tuckman: The bell tolls for Hirst’s tried and tested work. The Guardian vom 24. Oktober 2005. 168 Demetrio Paparomi: Peity and Rebellion. In ders. (Hg.): Erectica. The Transcendent and the Profane in Contemporary Art, S. 16. Hier finden sich auch weitere Künstler, die den Schädel ab 1970 in ihre Arbeit integrierten. 169 Ebd.



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teuerer-Archäologe Indiana Jones einem Kristallschädel hinterher. Es gibt jedoch auch ähnlich gelagerte Abenteuerfilme mit Titeln »Curse of the Golden Skull« (2005), »Pirate Kids II: The Search for the Silver Skull« (2006), »Nancy Drew: Legend of the Crystal Skull« (2008). Ein Plakat von 2010 zu der Oper »La Traviata« (Abb. 55) zeigt einen Schädel aus Diamanten, der sich auf die todkranke ExEdelprostituierte Violetta bezieht, die all ihren Reichtum verkauft um mit Alfredo leben zu können, der sich jedoch schämt und selbst Geld verdienen will, da er nichts von ihrer Krankheit weiß. Ein britisches TV-Ehedrama von 1989 heißt »Diamond Skulls«. Hirst verwendet also eine klischeehafte Darstellung von diamantnen Schädeln (die auch aus falschen oder anderen wertvollen Materialien sein können) aus der Popkultur. Abb. 55: La Traviata (Werbeposter) München 2010.

Quelle: http://cdn2.venyoobot.de/images/gj/wu/gjwuvz_300 _423.jpg (Gesichtet: 12. März 2011).

Sie ist für ihn Mittel zum Zweck, um seiner Kunstaktion ein Gesicht zu geben. Nicht nur inhaltlich bezieht sich Hirst auf Warhol und seinen logohaften Umgang mit dem Motiv des Schädels, auch formal-konzeptuell, was die Diamanten anbetrifft, stand Warhol Pate. Als ähnlich ambivalente direkte Vorläufer können etwa dessen »Gems«-Siebdrucke von 1979 verstanden werden, die je einen Diamanten zeigen, deren Farbe Diamantenstaub enthält und – unter phosphoreszierendem Licht betrachtet – strahlend schimmert.170 Hirst fertigte Diamond-DustSiebdrucke von »For the Love of God«-Fotos an, die etwa zusammen mit Warhols

170 Pop Life. Kat Ausst. London 2009, S. 14, 94-97.



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Dollar-Sign ausgestellt wurden.171 Auch wenn Warhol das wertvolle Material und die Inszenierung im Galerieraum anwendet, um das Konsumobjekt ›Diamant‹ und dessen Glänzen zu feiern, geht Hirst einen Schritt weiter, indem er Materialkosten, Verkaufspreis, die quasi-sakrale Ausstellungssituation und Inszenierung für Presse und Öffentlichkeit noch wesentlich verstärkt, beziehungsweise zum eigentlichen Gegenstand seines Werkes macht. Auch bildet Hirst weniger ab als noch Warhol, er zeigt vielmehr Diamanten, einen Platinabguss und echte Zähne eines wirklichen Totenschädels, statt nur per Diamantstaub und Siebdruck zu erinnern. »For the Love of God« steht jedoch auch in der neueren Tradition etwa eines Duchamp, mit dem genannten »Tzanck Check« ein (falsches) Finanzdokument schuf, das heute wesentlich mehr finanziellen ›Wert‹ hat, als die 115 US-Dollar, die auf ihm verzeichnet sind. Er gab es seinem Zahnarzt Tzanck, einem Kunstsammler, um seine Rechnung zu begleichen. Das in langwieriger Handarbeit geschaffene ›falsche‹ Dokument mit der Aufschrift ›ORIGINAL‹ thematisiert das Verhältnis von Kunst und Geld sowie (wenn auch umgekehrt zu Duchamps Readymades) die Beziehung zwischen von individueller Meisterhand geschaffener und maschinell hergestellter Kunst. »Just as the paper money and checks we use in everyday transactions are fiduciary and do not embody any value themselves, Duchamp’s checks destroy any illusions we may still have had about the intrinsic value of art. Instead, its value is based on a discursive context which initiates the production of belief.«172 Yves Klein lud 1958 leeren Raum als »Zones of Immaterial Pictorial Sensibility« mit Bedeutung auf. Er verkaufte diese ›Leerräume‹ für 20, 40, 80, 160 Gramm Gold, wobei der Käufer die Hälfte des Goldes in die Seine werfen und die Quittung verbrennen musste. Klein bekam die andere Hälfte.173 1961 ließ Manzoni 90 Abfüllungen (angeblich) seiner Exkremente à 30 Gramm mit dem Tagespreis für 30 Gramm Gold aufwiegen und verkaufen.174 Beides lässt an alchemistische Bemühungen denken, wertlose Materialien ›zu Gold‹ zu machen, also künstlich mit finanziellem oder ideellem Wert aufzuladen, wobei beide Arten von Wert schwer trennbar sind.

171 »For the Love of God, Laugh is one of a series of four editioned screen prints of the diamond skull.This particular edition is unique with a layer of alluring diamond dust framing the image whilst alluding to the original object.« Vgl. »Damien Hirst // Andy Warhol«. Ausstellung in der Gow Langsford Gallery, Auckland. 5. – 15. Februar 2008. http://www.gowlangsfordgallery.co.nz/exhibitions/pastexhibitions/hirstwarhol.asp (Gesichtet: 1.März 2011). 172 Olav Velthuis: Duchamp’s Financial Documents:Exchange as a Source of Value. Tout Fait. The Marcel Duchamps Studies Online Journal. Vol. 1/ Ausgabe 2. Mai 2000. 173 Vgl. Martin Gayford: Give me the Money. In: Apollo. Heft Juli-August 2007, S. 79. 174 Vgl. Schneemann 2002, S. 280.



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Die genannten Konzeptkunstbeispiele des 20. Jahrhunderts haben mit »For the Love of God« gemeinsam, dass sie das Verhältnis des Betrachters oder Käufers zum Objekt, insbesondere Vertrauen in den finanziellen und/oder ästhetischen Wert von Kunst thematisieren und teils ironisieren. Bei allen steht nicht so sehr ein Objekt im Mittelpunkt der Rezeption, sondern eine (Verkaufs-)Handlung, beziehungsweise die Beziehung und Interaktion des Künstlers mit den (potenziellen) Käufer/Betrachtern. Hirst hingegen verschleiert »For the Love of God« bewusst als Skulptur. Obwohl sein »Diamond Skull« häufig hinsichtlich des Memento-Mori-Gedankens und seiner Anspielungen an (neuere wie ältere) Kunstgeschichte gedeutet wird, sind dies eigentlich nur von Hirst gewollte Anspielungen, die die Kunstaktion mit zusätzlicher Bedeutung aufladen (sollen), jedoch eigentlich nicht zentral für die Aussage sind. Dies gilt auch für die Wörter »Love« und »God« im Titel. So schreibt Hirst 1997 «God and love are just dumb words to go in between people and fears, or to connect people to other people.«175 Diese Wörter sind wiederum Assoziationshüllen, die mit dem Werk in Verbindung gebracht werden und je nach individuellem Betrachter-Hintergrund wie Reizwörter in Werbebotschaften beliebig mit Bedeutung gefüllt werden oder nicht. Schon 2006 betitelte Hirst eine Ausstellung in Mexiko ähnlich mit »The Death of God«. Beide Titel klingen wiederum nach »Bedeutsamkeit ohne Bedeutung«, in der Masse betrachtet enthüllt sich jedoch ihre Wahllosigkeit, die mittels erzwungener und gewollter, angeblicher Tiefe assoziativer Titel ironisch vorgeführt wird. »The Love of God« klingt zudem fast wie »The Laugh of God«, was auch der Titel einer künstlerisch-ironischen Antwort von 2007 des polnischen Künstlers Peter Fuss auf den »Diamond Skull« ist.176 Sein aus billigen Ersatzmaterialien gefertigte Hirst-Persiflage sollte auf die prekäre Lage der vielen polnischen Gastarbeiter in Großbritannien aufmerksam machen, die als billige Arbeitskräfte dienen.177 Ebenfalls mit günstigen Imitatsteinen besetzt, ist ein von der britischen, der Street Art nahe stehenden Künstlerin Laura Keeble (geboren 1977) gestalteter und »For the Love of God« zitierender Schädel, welchen sie für ein Foto betitelt »Forgotten Something?« (Abb. 56) zusammen mit einem Müllsack in einer Vitrine vor dem Eingang der White Cube Gallery am letzten Tag der Ausstellung von Hirsts

175 Hirst 1997, S. 37. 176 Fuss schuf im selben Jahr wie Hirst sein »For the Laugh of God« (20 x 15,5 x 21 cm). Dieser Plastikschädel ist mit 9870 Diamanten imitierenden Glassteinen belegt und kostete 1000 englische Pfund. http://peterfuss.com/forthelaughofgod/index.html (Gesichtet: 20. August 2010). 177 http://modelatoreng.blogspot.com/2007/06/peter-fuss-for-laugh-of-god.html (Gesichtet: 20. August 2010).



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Schädel drapierte.178 Dieser auf den Müll geworfene Schädel spielt auf Duchamps Readymade »Fountain« an, das ebenfalls im Abfall endete und betont wie auch Fuss’ Antwortwerk die Diskrepanz zwischen Kunst und Wert sowie die zwischen als Kunstobjekt deklarierter Kunstaktion in einer Konsumkultur: Abb. 56: Keeble, Forgotten Something? (Installation), London 2007.

Quelle: © Laura Keeble http://img1.artweb.com/users/897/28595_untitled. jpg (Gesichtet: 12. März 2011). »The Damien Hirst ›For the love of God‹ was for me, all about the experience and trying to contemplate standing in a room with an object that is worth £50 million, the security and theatricals of it all. When I created the skull install I wanted to take away the theatricals, the value, the experience that I had and see what the skull would look like without all the theatre. How would that reflect the experience I had? What questions would it raise? It was the only way I could envisage a realistic-like placement outside of security etc for the skull.«

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Auch ihr in mühsamer Kleinarbeit hergestellter Schädel ist in erster Linie Requisite einer Kunstaktion, was sie zugleich bei Hirsts »Diamond Skull« feststellt.

178 Vgl. artasty.com: Interview with Laura Keeble. artasty.com 2007. 179 Keeble zitiert auf artasty.com: Interview with Laura Keeble. artasty.com 2007.



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Abb. 57: Gregory, Trust in Me –Skulker – Old Carou – A nod’s as good as a wink – You Know my Restistance is low – Where’d you get Them Peepers? Strut my Stuff (7 menschliche Schädel, mit (Halb-)Edelsteinen be setzt), alle 7 Werke 2003.

Quelle: In the darkest hour the maybe light. Works from Damien Hirsts Murderne Collection. Serpentine Gallery. Kat. Ausst. London 2006. O.S.

Auch aus dem direkten künstlerischen Umfeld Hirsts gibt es zwei skulpturelle Vorbilder für den »Diamond Skull«, die jedoch mit der Hirst’schen Kunstaktion wenig gemeinsam haben und daher eher als optische, nicht als ›wesentliche‹ Vorbilder bezeichnet werden müssen. Der britische Bildhauer John LeKay (geboren 1961) fertigt seit 1993 regelmäßig Totenschädel aus Kristall, die nach Aussage LeKays von alten Mayaschädeln beeinflusst wurden.180 Er stellte 1993 gemeinsam mit Hirst in New York aus und behauptet 2007, ihn zu »For the Love of God« inspiriert zu haben.181 LeKay verwendet jedoch keine echten Schädel oder Teile davon, wie etwa der Bildhauer Stephen Gregory (geboren 1952). Von dessen, mit verschiedenen Materialien wie Halbedelsteinen belegten, echten Totenschädeln von 2003 befinden sich sieben (Abb. 57) in Hirsts eigener Sammlung.182 All diese Beispiele haben formal viel mit »For the Love of God« gemein. Herstellungskosten, Verkaufswert und mediale Inszenierung spielen hier jedoch im Vergleich zum »Diamond Skull« keine elementare Rolle.

180 »This is the very first one that was inspired by an ancient Mayan crystal skull. […] I showed this paradichlorobenzene crystal skull with in the project room at the Cohen Gallery in 1993.« John LeKay zitiert auf http://www.johnlekay.com/ JohnLeKay.GALLERY.htm (Gesichtet: 27. Novmber 2009). 181 Vgl. Dalya Alberge: My old friend Damien stole my skull idea. Times Online vom 27. Juni 2007. 182 Vgl. In the darkest hour there maybe light. Works from Damien Hirsts Murderne Collection. Serpentine Gallery. Kat. Ausst. London 2006. O.S.



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Bei »For the Love of God« wird das Verhältnis zum Objekt hinsichtlich seiner Originalität untersucht. Damien Hirst hat wie im genannten Falle LeKays immer wieder mit Plagiatsvorwürfen zu kämpfen. Er äußert sich dazu folgendermaßen: »Before I went to Goldsmiths, I sort of tried to be original. But then there’s just so much in the world, and so much of it is derivative. Everything comes from somewhere […]. At Goldsmiths we were kind of freed. You don’t have to worry about that! If it looks good, it is good. […] It’s an amalgam, a mish-mash of everything you’ve ever seen before. If you are constantly creating things you are getting loads of ideas from everywhere. I think there’s only one idea and that was fucking painting your hand red in blood and stamping it on the cave wall. And then, after that, we’ve all just ripped that off and copied it. But what I think is probably different about our generation is that we never felt the need to be original. That kind of frees 183

you up to do what you want. »

Wenn es bei »For the Love of God« tatsächlich um das Objekt des Schädels statt seiner künstlerischen Performance gehen würde, hätten LeKays oder Gregorys Werke wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhalten. Auch Hirst selbst fertigte vor »The Diamond Skull« Totenschädel aus Silber, »The Fate of Man« (2005), ohne dass diesen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde.184 Die Wirkung des Schädels macht nur Sinn, wenn man sie als Kunstaktion betrachtet, wie etwa den Beuys’schen Friedenshasen auf der documenta 7 im Jahr 1982, den der Künstler mittels Umschmelzung einer kunst- und wertvollen alten Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen gewann. Durch die Zerstörung dieses alten Herrschaftsund Machtsymbols schuf er mit Hilfe einer gewöhnlichen Osterhasenbackform eine Skulptur, die er schließlich für 777.000 DM verkaufte. Der Betrag errechnete sich aus exakt dem doppelten des geschätzten Werts der Krone nach dem Materialgewicht und wurde von Beuys dazu verwendet, 7000 Eichen in Kassel zu pflanzen.185 Wenn man (absurderweise) den Materialwert von Öl und Leinwand eines Picassogemäldes einem Verkaufspreis von 140 Millionen Pfund entgegenstellt, wären 50 Millionen für »For the Love of God« enorm günstig, der ja schon 15 Millionen in der Herstellung kostete. Hirst spiegelt den Zeitgeist, wenn er den Wert des Kunstwerkes so sehr in Beziehung zum Herstellungswert setzt. Weil in der postmodernen Konsumgesellschaft Religion und andere Ideologien immer weniger Sinn stiften, in der Kunst angeblich ›nichts neu‹ ist und der »Tod des Autors« proklamiert wurde, bleibt zumindest das Material/das Materielle, id est Geld, als Träger von Bedeutung glaubhaft. Letztlich ist jedoch ein Geldschein nur ein Stück Papier und der prakti183 Hirst im Interview mit Haden-Guest 2008, S. 155. 184 »The fate of man« (2005), Schädel aus Silber (Edition von 25). Damien Hirst. Kat. Ausst. New Religion. London 2005. O.S. 185 Vgl. Schneemann 2002, S. 284.



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sche Wert von Gold und Diamanten limitiert.186 Solange jedoch eine große Anzahl Menschen auf ihren Tauschwert vertraut, bleiben diese Dinge mit Bedeutung aufgeladen. Eine Finanzkrise wie die gegenwärtige führt jedoch vor, dass diese Bedeutung und das Vertrauen in Geld nicht immer auf Tatsachen fußt. Für Hirst ist »[m]oney […] a tool. It works like a key and you run into a problem, when the tool is over worshiped.«187 Unter Umständen ist es jedoch umgekehrt, dass Kunst das Medium für Geld ist, oder dass man zumindest den Unterschied zwischen den Wert-«Währungen« Geld und Kunst nicht mehr feststellen kann. »Something’s worth what anybody else is prepared to pay for it.«188, sagt Hirst im gleichen Zusammenhang. Dies gilt auch für nicht finanziellen, ästhetischen oder moralischen Wert, Ullrich spricht von der Indeterminiertheit: »Neben dem Schmuck verspricht die Kunst ähnliche Jokerqualitäten wie Geld. Sie ist der einzige Bereich, der seit rund zweihundert Jahren nicht mehr über den Gebrauchswert, sondern ausdrücklich als ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ bestimmt wird. In kunstphilosophischen Texten finden sich seit dem späten 18. Jahrhundert bevorzugt Adjektive wie ›unerschöpflich‹, ›vieldeutig‹ und ›unergründlich‹, um die besonderen Eigenschaften der Kunst – ihre Indeterminiertheit – zu beschreiben.«

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Sie wird zu etwas Unendlichem aufgeladen, das – in den Worten Friedrich Schillers – so verfaßt sei, »daß verschiedene Menschen (...), ja, daß derselbe Mensch in verschiedenen Zeiten von derselben Sache ganz verschieden gerührt werden kann«.190 Sobald also, was in einer Konsumgesellschaft der Fall ist, »die dringlicheren Bedürfnisse befriedigt sind, ist Geld nicht mehr nur Zahlungsmittel, sondern genauso ein Stimulans wie ein aufgeladenes Markenprodukt. Ein Markenartikel muß dann sogar erst eigens so entwickelt werden, daß er die Konkurrenz gegen den TopJoker Geld bestehen kann.«191 Hirst schuf genau solch ein Objekt, dass zwischen Markenartikel, Kunstwerk und Geld oszilliert. Im Englischen kann »I don’t buy that« heißen, dass man etwas nicht kauft, jedoch auch, dass man etwas nicht glaubt, eine Redewendung die in etwa dem Deutschen »das kauf ich dir nicht ab« entspricht. Wenn Hirst sagt, »A lot of artists have 186 Hirst argumentiert ähnlich in Napoli 2004, S. 236. 187 Hirst in: Muir/Wallis 2004, S. 82. 188 Napoli 2004, S. 236. 189 Ullrich 2006, S. 114. 190 Vgl. ebd. Siehe auch Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Nationalausgabe. Bd. 20. Weimar 1962, S. 377378. Zitiert bei Ullrich 2006. 191 Ullrich 2006, S. 60.



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problems with money. I have had a lot of problems coming in terms with money. For me I have to believe that art is a more powerful currency than money.«192, dann meint er, dass der ideelle Wert von Kunst den finanziellen in seinen Augen übertrifft. Analog spricht Ullrich von Veredelung des Geldes durch Kunst: »In anderen Fällen ist es gerade ein hoher Preis, der einem Produkt mehr Verheißungspotential verleiht. Ihn deuten Kunden als Beleg für Potenz, die in einem Artikel steckt. Im Extremfall – etwa bei Schmuck oder Kunst – erscheint die Ware dann sogar als Symbol des Geldes oder, noch bemerkenswerter, als dessen Veredelung.«193 Diese ideelle Bedeutung ist enorm wichtig und wird nicht nur durch den finanziellen Wert kreiert, sondern umgekehrt, auch durch die Art ihrer Präsentation. Hirst betont in verschiedenen Interviews, dass er fürchtete, etwas Wertvolles zu schaffen, das jedoch wie wertloses Imitat wirkt: »I was very worried for a while, because if it looked like bling – tacky, garish and over the top – we would have failed. But I’m very pleased with the end result. I think it’s ethereal and timeless.«194 Neben den genannten möglichen Vorbildern Hirsts aus der Kunstgeschichte muss man auch bling nennen, auch wenn Hirst versuchte, den Schädel gerade nicht so aussehen zu lassen, was ihm jedoch nicht restlos gelungen ist und was wohl auch nicht so beabsichtigt war. Dieser aus der amerikanischen HipHop-Szene stammende Ausdruck steht für (meist) unechte, protzig-geschmacklose Schmuckstücke, die als deutlich zur Schau gestelltes Statusobjekt den Reichtum des Trägers verdeutlichen sollen. Bling ist bezeichnenderweise von dem Geräusch abgeleitet, mit dem etwa in Fernsehwerbungen der Effekt von besonderem Glanz untermalt wird.195 Auch Ullrich zieht eine Linie von diesem Werbelichtblitz zur Präsentation von Konsum in der Tradition religiöser Ikonografie: »Dank eines Lichtblitzes soll der Betrachter das abgebildete Produkt etwa als besonders frisch und strahlend im Gedächtnis behalten. Dabei ist meist unklar, ob die Lichtstrahlen ein Reflex auf glatter Oberfläche sind oder vom Produkt selbst ausgehen und ihm immanente Energie abgeben. Da jedoch in beiden Fällen Reinheit und Neuheit – und damit zwei Haupteigenschaften der Virginität – assoziiert werden, brauchen sich die Grafikdesigner auch um keine eindeutig-plausible Inszenierung zu bemühen. […] So belebt ein Lichtkranz um das 196

beworbene Produkt die alte Tradition der Heiligenscheine wieder.«

192 Napoli 2004, S. 236. 193 Ullrich 2006, S. 64. 194 Hirst zitiert bei Shaw 2007. 195 Vgl. Aaron Peckham: Bling und Bling Bling. In: Ders.(Hg.): Urban Dictionary. Kansas City 2005, S. 45. 196 Ullrich 2006, S. 87.



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Der Begriff bling verweist auf die (HipHop-)Konsumkultur, die Prestige hauptsächlich an der Größe des zur Schau gestellten Reichtums misst. Auch wenn der Reichtum, der hohe Preis, im Falle des »Diamond Skulls« ›echt‹ ist und dieser eventuell auch nicht billig aussieht, bleibt er ein Zeichen für die Konsumkultur, das man je nach jeweiligem soziokulturellem Hintergrund positiv und negativ verstehen kann. Ullrich spricht in Zusammenhang mit dem Bling-Lichtblitz von Virginität, Reinheit und Neuheit. Sein Beispiel stammt aus der Kosmetikwerbung. Auch die Diamanten auf »For the Love of God« wirken wie eine Parodie auf eine Gesichtscreme, die perfekt glänzt, abgesehen von der Tatsache, dass sie einen Totenschädel schmückt. Damit schaut der Betrachter wiederum sich selbst, seiner Zukunft und seiner Ausrichtung auf Konsum ins grinsende ›Gesicht‹: »Der Einbruch der Theatralität in den Alltag, den wir eigentlich meinen, wenn wir von Postmoderne reden, zeigt, daß wir die Angst vor Schein und Simulation verloren haben. Auch zu sich selbst entwickeln die Menschen ein theatrales Verhältnis. Die Amerikaner sprechen von self-fashioning. Gemeint ist damit, daß Existenzfragen heute ästhetisch behandelt werden. Das Leben wird zum Stoff eines Kunstwerks; es ist ein permanenter Selbstversuch, der den 197

Konsum als hohe Kunst betrachtet.«

Im Auge des Betrachters verschwimmt der Unterschied zwischen ideellem und materiellem Wert: der enorme Preis des Werkes, eine Buchveröffentlichung nur über ein einzelnes brandneues Werk mit einem (Werbe[?]-)Aufsatz eines renommierten Kunsthistorikers (Rudi Fuchs), eine PR-Kampagne und schließlich eine quasireligiöse Inszenierung im Galerieraum: »Der Raum ist schwarz, lichtlos in seiner ersten Wirkung. Man betritt ihn jeweils in einer Gruppe von zehn Besuchern wie eine Kaaba des Kunst-Mekkas London. Vorsicht, nicht schieben. Leise, bitte. Einige der Besucher, schlurfenden Schrittes, scheinen zu stolpern, stoßen ineinander. Es dauert eine Weile, ehe das Auge sich gewöhnt hat an die Lichtquelle im Zentrum, diesen Gegenstand in seinem Glasgehäuse, auf den ein Strahlenbündel von oben 198

nieder scheint, ihn überirdisch verklärend.«

Auch wenn hier der Glaskasten nicht wie bei den Formaldehydarbeiten zum Werk zu gehören scheint (und daher auf autorisierten Fotos fehlt), ist er doch Teil der Inszenierung. Alles, was im vorherigen Kapitel über Glas, Schaufenster und das geführte Betrachten von Konsumgegenständen gesagt wurde, gilt auch hier. Der »Diamond Skull« wurde strategisch als ›Zugpferd‹ von Hirsts Einzelausstellung »Beyond Belief« ausgestellt, also wie das »Golden Calf« als Vorzeige-Stück ver197 Bolz 2002, S. 96. 198 Kielinger 2007.



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wendet, dem der meiste Platz in Pressetext und Werbung sowie die meiste mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Der Künstler generiert strategisch ›Bedeutung‹ und/oder führt dem Betrachter vor, was diesen seine eigenen Wertmaßstäbe und ihre Entstehung und Beeinflussung durch Werbung hinterfragen lässt: »If anyone but Hirst had made this curious object, we would be struck by its vulgarity. It looks like the kind of thing Asprey or Harrods might sell to credulous visitors from the oil states with unlimited amounts of money to spend, little taste, and no knowledge of art. I can imagine it gracing the drawing room of some African dictator or Colombian drug baron. But not just anyone made it – Hirst did. Knowing this, we look at it in a different way and realize that in the most brutal, direct way possible, For the Love of God questions something about 199

the morality of art and money.«

Wie Dorment treffend bemerkt, geht es um die Moral des Kunstmarkts an sich und damit um die Moral des übermäßigen Konsums generell. »It is an ultimate status symbol, a challenge and an irony. The most plutocratic of oligarchs would hesitate for a moment before signing a cheque for £50m for a brand new work of art, straight out from the studio. This is a joke on the theme of ‘For the man who has everything’ – a death’s head by one of the most celebrated living artists.«200 Hirst schafft das ultimative Kunst-Konsumprodukt mit dem Ziel, die Grenzen des Marktes wie der öffentlichen Meinung über ›Wert‹ auszuloten. Indem er zeigt, dass er damit »davonkommen« kann, führt er den Zeitgeist des (fast) grenzenlosen Geldausgebens für Konsumprodukte vor, der mit der Finanzkrise 2008 sein vorläufiges Ende fand, an dem Hirst sich wiederum orientierte: Wenn der Kunstmarkt für Gegenwartskunst wie 2007 Rekorde in Millionenhöhe verzeichnet, schafft Hirst das teuerste Kunstwerk eines lebenden Künstlers, den »Diamond Skull«. »Damien Hirst’s diamond-encrusted Skull from two years ago now looks like the perfect artefact to draw the line between the excess of the recent past and the frightful times coming our way.«201 Das glitzernd-böse Grinsen des Schädels verweist zugleich auf die harten Zeiten, die kommen werden, die Finanzkrise. Er drückt generell den Hochmut des unreflektierten Konsums aus, direkt vor dem Fall. 2009 in der Rezession malt Hirst 199 Richard Dorment: For the love of art and money. Onlineausgabe des Daily Telegraph vom 1. Juni 2007. 200 Martin Gayford: Give me the money: Damien Hirst’s 50m [pounds sterling] skull is a refreshingly self-conscious example of the way that artists transform base materials into lots of money. In: Apollo Juli-August 2007. 201 Stryker McGuire: This time I’ve come to bury Cool Britannia. The Observer vom 29. März 2009.



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mit eigener Hand Ölgemälde, anstatt mit Herstellungskosten in zweifacher Millionenhöhe zu protzen und hunderte von Werken durch seine zeitweilig 160 Angestellten wie am Fließband zu produzieren, er entließ gar ein Reihe von Mitarbeitern.202 Doch auch 2007 wurde schon ein wenig die moralische Seite von Kunst angesprochen – wieder in Zusammenhang mit dem Material, den Kosten der Herstellung und dem Kaufpreis statt dem abgebildeten Inhalt: Hirst betonte etwa, dass es sich bei den Diamanten nicht um sogenannte Blutdiamanten aus ärmeren Gebieten Afrikas handelt, deren Herstellung oft mit der Ausbeutung der Einheimischen zusammen hängt, beziehungsweise, deren finanzieller Erlös zum Kauf von Waffen verwendet wurde.203 Auch ist er sich der politischen Verantwortung bewusst, dass nämlich der hohe finanzielle Wert des »Diamond Skull« unter Umständen ernste Folgen haben kann: »That’s when you stop laughing […] You might have created something that people might die because of. I guess I felt like Oppenheimer or something. What have I done? Because it’s going to need high security all its life.«204 Jedoch auch die ›saubere‹ Konsumprodukt-Produktion kann moralisch verwerflich gesehen werden, weil übermäßiger Reichtum laut Dorment immer auch die Frage nach sozialer Verantwortung laut werden lässt: »This is something I’ve often wondered about when I read of the fantastic prices private individuals pay for works by Picasso, Klimt and Warhol. How do these people sleep at night, knowing that the hundred million they just spent could have endowed schools, built hospitals, eradicated diseases and alleviated hunger? Don’t they think about the morality of pouring so much wealth into something as dead as a diamond necklace, a painting, a private jet?«

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Das Werk stellt die Frage nach ›unterlassener Hilfeleistung‹ zugunsten eines Konsumgegenstandes. Macht sich im Endeffekt derjenige ›schuldig‹, der das Werk kauft, oder der, der es anbietet? Hirst schreibt in seinem Katalogbeitrag »why cunts sell shit to fools«: »It’s your fault. You’re buying it.«206 Im Titel verteilt er die »Schuld« gleichmäßig auf Künstler und Galeristen (cunts), die Kunst (shit) an Sammler (fools) verkaufen. Das genannte Zitat belegt zudem, dass es bei »For the Love of God« um den (potenziellen) Käufer/Betrachter geht, der direkt in die Verantwortung genommen wird, die Hirst ablehnt, wie aus einem Zitat des Kunstkritikers Will Self hervorgeht:

202 Vgl. Liebs 2008. 203 Vgl. Marcel Hänggi: ›Blutdiamanten? Kaufe ich!‹ Weltwoche vom 11. Januar 2001. 204 Hirst bei Shaw 2007. 205 Dorment 2007. 206 Hirst in: Muir/Wallis 2004, S. 85.



214 | KONSUMKUNST – KULTUR UND K OMMERZ BEI B ANKSY UND DAMIEN HIRST »When, on the way to Hatton Garden, I’d suggested to Hirst that some people might find it crass, this unprecedented condensation of wealth, in the light of so much human suffering for a want of a few quid, he muttered gnomically, ›Dunno, mate, it’s unavoidable really... I mean, I think it offers people hope.‹ But the following day he sent me a text message: ›When you asked me yesterday about all the money that was spent on the Skull when people are starving, I was just thinking that people don’t really mind money being spent on beautiful things, it’s ugly things that are a problem and there are plenty of ugly f***ing buildings in the world that 207

cost way more than the Skull.‹«

Dieser Sachverhalt ist insofern interessant, als Hirst offenbar zunächst um eine Antwort verlegen war und bis zum nächsten Tag darüber nachdachte. Hirsts später Einwand ›hinkt‹ insofern, als Gebäude zumindest einen praktischen Nutzen haben, und nicht nur reine Konsumgüter sind. Er thematisiert und ironisiert ›Angebot und Nachfrage‹ beziehungsweise den sogenannten Snob-Effekt. Hohe Preise für einen Picasso oder Van Gogh entstehen (auch) aufgrund deren andauernder Wichtigkeit und Rezeption innerhalb eines Kunstkanons und aufgrund bekannter Provenienz, die adelt. Der Ruf dieser Werke entstand und wuchs über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Hirsts »For the Love of God« negiert(e) diesen Prozess, beweist, dass oder stellt zumindest in Frage, ob man ihn negieren kann und erklärt damit diese Art, Bedeutung zu kreieren, für frag-«würdig«, auch wenn (oder gerade weil) Hirst sich (wie ausgeführt) durch Medieninszenierung, Anspielungen auf Kunstgeschichte, Sich-in-eine-Reihe-mit-den-Klassikern-stellen und den hohen Verkaufspreis auf diesen Prozess bezieht. Dies wird deutlich, sieht man sich die erst kurze, wenn auch (im doppelten Sinne des Wortes) hochkarätige Provenienz des Schädels an, die nur aufgrund seines Medienechos und der Bekanntheit seines Erschaffers zustande kam. 2008 und 2010 wurde Hirsts Skull in traditionellen wie hochsymbolischen Kunstorten als Kernstück in einer von Hirst kuratierten Ausstellung von klassischen Memento-Mori-Werken der hauseigenen Sammlung gezeigt, also sein Platz im kunsthistorischen Kontext als zukünftiger Klassiker betont. Man kann das Rijksmuseum wie den Palazzo Vecchio mit Markenorten wie der Autostadt Wolfsburg oder Niketown vergleichen: die einen sind Kunststädte, die anderen Markenpilgerstätten von Firmen, wobei wiederum religiöse, konsumkulturelle und künstlerische Aspekte verschmelzen: »Solche Kunststädte in der Stadt sind keine Verkaufsflächen, sondern Schauplätze einer religiösen Inszenierung des spirituellen Mehrwerts. Markenprodukte besetzen Ideen, um sie schließlich zu ersetzen.«208 In Hirsts Fall müsste man sagen, seine Werke besetzen wie Markenprodukte Ideen, mit dem Ziel, sie zu ersetzen oder ihre potenzielle Ersetzbarkeit zu themati207 Self 2007. 208 Bolz 2002, S. 91.



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sieren. »Statt also neue Themen oder Motivvarianten zu kreieren, verläßt sich die Konsumkultur parasitär darauf, daß von anderswo emotional aufgeladene Inhalte geliefert werden. Warenästhetik und Werbung sind somit in ihrem Charakter reaktiv; um selbst als Kultur durchzugehen, bleiben sie auf das angewiesen, was lange allein als Kultur galt.«209 Mit »anderswo« meint Ullrich klassische Kultur wie Kunst, Literatur, Musik und Film. Analog dazu verfährt Hirst, wenn er etwa mittels der Medien und ehrwürdiger Provenienz seinen Schädel mit Wert auflädt. Rijksmuseumsdirektor Wim Pijbes äußerte sich in Zusammenhang mit der Präsentation des »Diamond Skull« in einem Interview mit dem Titel »To what extent have marketing and publicity become art?« folgendermaßen gegenüber Journalisten: »Of course, there’s always this aspect that if a high prestige museum puts a work in an exhibition, and makes a catalogue, that people will come. It will push the value of the work of art. That’s the system. When you write about it, the same happens.« Darauf antwortet ein Journalist, dass es sogar egal wäre, was sie schreiben würden. Dem widerspricht Pijbes nicht.210 Der Rijksmuseumsdirektor gibt damit zu, dass man im Grunde genommen jedes Werk oder Ding für Kunst erklären kann und dass der Museumskontext ›von Haus aus‹ Bedeutsamkeit hinzufügt, völlig unabhängig vom Werk. In Zukunft (nach 2011) soll der »Diamond Skull« das wichtigste Werk in Hirsts eigenem geplanten Museum in London werden, wo es das einzige Objekt sein wird, für das Eintritt verlangt wird.211 Auch hier trägt die Inszenierung zur Wichtigkeit bei und umgekehrt. Die Kunstaktion rund um »For the Love of God« stellt eine Reihe von elementaren Fragen, ohne sie zu beantworten: Wer kann beweisen, dass es sich tatsächlich um 15 Millionen britische Pfund Herstellungskosten handelte? Wer, dass das (von den Diamanten verdeckte) Platin, alle Diamanten oder Zähne ›echt‹ sind? Führen hohe Material- und Herstellungskosten automatisch zu hohem ideellem Wert? Wie kann man sicher sein, dass Hirst das Werk tatsächlich für 50 Millionen verkaufte oder überhaupt verkaufte? Wie rechtfertigt man einen Preis von 50 Millionen? Wie misst man den ideellen Wert eines Kunstwerkes und wer bestimmt, was (gute/anerkannte) Kunst ist/wird? »For the Love of God« stellt zusammenfassend in Frage, was ›echt‹ oder ›original‹ ist, thematisiert Glauben und Vertrauen in den Wert von Objekten und wie dieser Wert erschaffen wird, in materieller wie künstlerischer Hinsicht. 209 Ullrich 2006, S. 198. 210 R.J. Preece: Damien Hirst’s diamond skull at the Rijksmuseum (Amsterdam): Behind the scenes. To what extent have marketing and publicity become art? In: ADP magazine 1(1): Aspirations vom 1. Juni 2009. 211 Rosie Millard: Damien Hirst in line to open his first gallery in Hyde Park. Evening Standard Online vom 15. Juni 2010.



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Das Einzigartige, Beispielhafte, was Hirst anders macht im Vergleich zu allen genannten Vorgängern und Einflüssen, also das Künstlerische an der Kunstaktion »For the Love of God« ist, dass Hirst vorführt, dass und wie Wert und Bedeutung generiert werden, nicht nur konkret auf dem Kunstmarkt, sondern generell. Abb. 58: Hirst, In and Out of Love (White Paintings and Live Butterflies), 1991. Primer on canvas with pupae, steel, potted flowers, live butterflies, Formica, MDF, bowls, sugar-water solution, fruit, radiators, heaters, cool misters, air vents, lights, thermometers and humidistats. Dimensions variable.

Quelle: Photographed by Prudence Cuming Associates. © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.

Abb. 59: In and Out of Love (Butterfly Paintings and Ashtrays), 1991. Butterflies and household gloss on canvas, painted MDF, steel, Formica, MDF, ashtrays, cigarette packets and cigarettes. Dimensions variable.

Quelle: Photographed by Stephen White. © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012.



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B UTTERFLY P AINTINGS (1991-2008)

Damien Hirst schuf die Serie Butterfly Paintings (etwa Abb. 60 und 62) von 1991 bis 2008. Alle Teile der Werkgruppe sind mit monochromer Lackfarbe bemalt; auf jedem Gemälde sind mindestens ein bis mehrere hundert tote Schmetterlinge oder deren Flügel befestigt. Falter unterschiedlicher Art und Größe wurden tot in die noch nasse Farbe gedrückt und so aufgeklebt. Zu einem großen Teil handelt es sich um farbenprächtige Tagfalter; die einzelnen Tiere berühren sich nicht. Butterfly Paintings sind Collagen, die wie erwähnt Ähnlichkeit mit Rauschenbergs Combine paintings aufweisen. Wie diese verbinden sie Gemälde mit aufgeklebten reliefartigen dreidimensionalen Elementen. Butterfly Paintings unterscheiden sich durch Titel, Größe, Farbe und Form der Leinwand212, zusätzlich aufgeklebte Elemente sowie Anzahl, Sorte, Größe und Anordnung der Schmetterlinge (beziehungsweise Schmetterlingsflügel). Hirst entwickelte die Butterfly Paintings aus seiner ersten Installation »In and Out of Love« (Abb. 58 und 59) von 1991.213 In einem zweigeschossigen ehemaligen Reisebüro, strategisch nahe an der renommierten Gegenwartskunstgalerie D’Offay (wo Hirst arbeitete) im Zentrum Londons konnte der Besucher von Hirsts erster Soloausstellung dem vollständigen Lebenszyklus von tropischen Schmetterlingen beiwohnen. Im klimatisierten Obergeschoss befanden sich Blumenkästen, Schüsseln mit Zuckerwasser als Nahrung und weiße Leinwände mit aufgeklebten verpuppten Raupen, aus denen während der Ausstellung malaiiische Falter schlüpften, herumflogen, sich paarten, Eier legten und starben.214 Ein leerstehender Laden, in dem man Konsumprodukte kaufen konnte, wurde zur temporären Galerie, einem Laden für Kunst. Im kokonartigen Raum oben herrschte künstlich geschaffenes Leben – temporär. Unten konnte man – nur für kurze Zeit! – farbenfrohe, monochrome Leinwände oder Konsumprodukte mit toten Schmetterlingen darauf kaufen. Oben schwirrten diese noch lebendig herum, paarten sich und starben, was im übertragenen Sinne auch unten die farbenfrohe, kurzlebige, affektierte, snobistische, trendhörige Londoner Kunstszene, die Nächtschwärmer (social butterfly heißt soviel wie Partygänger im Englischen), die Kunstkonsumenten machen, die Szene, die Butterfly Paintings konsumiert, wie die tropischen Falter oben das Zuckerwasser aus den gleichen Schalen konsumierten, die unten mit den Kippen, nach einer Party zu Ende konsumierten Zigaretten gefüllt sind.

212 Leinwände von Butterfly Paintings sind meist rechteckig oder rund, haben jedoch auch ungewöhnlichere Formen wie Herzen, Ovale, et cetera. 213 Vgl. Thümmel 1997, S. 34-35. 214 Vgl. Thorton 2008(2) und Octavia Nicholson: Damien Hirst. Oxford 2009.



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Auf die Frage, ob es Parallelen gab zwischen der Ausstellung und »Charles Saatchi with young artists, getting to them when they’re unknown and cheap, collecting them and watching the value rise,« antwortete Hirst, »As far as I’m concerned, that’s a perfect reading of it. I mean, I was aware of butterflies and collections, and art collectors.«215 Auch wenn Hirst Interviewpartnern oft nach dem Mund redet, belegt das Zitat, dass die Installation im zeitgenössischen Kontext vor 20 Jahren auch als Satire auf den Kunstmarkt gelesen wurde. Die Butterfly Paintings im Untergeschoss verkaufte Hirst einzeln und entwickelte nach dem gleichen Prinzip ab 1994/95 die ersten zwölf eigenständigen Butterfly Paintings216. Sie alle weisen wenige, vollständige Falter auf, die ungleichmäßig über die Leinwand verteilt sind. Man kann die Gemäldeserie als kommerziell verwertbaren Ableger oder Spin-off der Installation »In and Out of Love« bezeichnen, ein aus Marketing und Werbung abgeleitetes Prinzip. Ähnliches gilt auch für die zunächst site specific angelegten Spot Paintings und die aus einem Happening hervorgegangenen Spin Paintings. Selbst die Kunsta(u)ktion »Beautiful Inside My Head Forever« entwickelte sich aus dem Erfolg seiner Versteigerungen rund um Hirsts Pharmacy-Restaurant und seiner Benefizauktion Red, wo Hirst das mediale Potenzial bewusst wurde, aus einer Auktion eine Kunstaktion zu machen. Hirst wählte mit der Verwendung von Schmetterlingen eine universelle, meist positive Metapher, die ebenso zeitlos wie unabhängig vom soziokulturellen Kontext international und überzeitlich verständlich ist. Schmetterlinge sind gemeinhin synonym für klein, leicht, harmlos und unbedeutend. Im Deutschen können Menschen ›schwärmerisch‹, also kurzzeitig auf wirklichkeitsferne Weise für etwas begeistert und ›flatterhaft‹, also unstet sein. Ein Schmetterling ist unbedeutend, ein Flügelschlag kann jedoch metaphorisch große Wirkung zeigen: Als Schmetterlingseffekt (butterfly effect) bezeichnet man den Sachverhalt, dass in manchen Systemen kleine Ursachen große, meist unvorhersehbare Wirkungen haben können. »To break a (butter)fly (up)on a wheel« heißt soviel wie ›mit Kanonen auf Spatzen schießen‹, wieder wird das Kleine, Verletzliche, Harmlose von Schmetterlingen betont. Im antiken Griechenland wurden Schmetterlinge mit einem dem Wort für Psyche oder Seele verwandtem Wort bezeichnet. Schon im Altertum war der Schmetterling sowohl Sinnbild für die menschliche Seele als auch für Flatterhaftigkeit und Leichtlebigkeit. Elfen wurden oft mit Schmetterlingsflügeln dargestellt, ebenso der Gott des Schlafes, Somnus.217 In der frühchristlichen Kunst war der Schmetterling

215 Hirst/Burn 2001, S. 20-21. 216 Ebd. S. 40. 217 Jan Bazant: Hypnos. In: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC). Supplementum 2009. Düsseldorf 2009, S. 643–645. Vgl. auch Engelbert Kirchbaum SJ (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonografie. Bd. 1, S. 95 [Eintrag Amor und Psyche]



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wegen seiner Metamorphose (Raupe, Verpuppung und Schmetterling) ein Auferstehungssymbol. Der wie leblose Zustand der Raupe in der Verpuppung und ihr Schlüpfen als wunderschöner Schmetterling wurde als Wiedergeburt verstanden.218 Falter und/oder Puppen sind folglich auf zahlreichen Grabmalen zu finden. Auch in protestantischen Vanitas-Darstellungen wie Barockstillleben war die Raupe, die sich zum Schmetterling wandelt, ein Symbol für Auferstehung und Erlösung. Schmetterlinge waren damit die einzige Ausnahme, die nicht wie alle anderen Insekten Sinnbild für das Böse waren.219 Um 1800 griff der Klassizismus auf diese antike Tradition zurück, der Schmetterling wurde wieder zu einem populären Symbol der Grabmalkunst. Daneben verkörperten nach wie vor die in zahlreichen Varianten auftauchenden, ebenfalls geflügelten Engel das Hinübergleiten in eine andere Welt. Auch sie zeigten sich in der Zeit um 1800 auf den Grabmälern als Todesboten und Wegbegleiter – und repräsentierten nun das Bild vom sanften Tod. Eine weitere, inflationäre Verwendung erfuhr das Motiv des Schmetterlings im Kitsch, insbesondere seit dem Biedermeier, wo nicht nur über Gebühr glückliche Kinder, Katzen oder Hunde begannen, Schmetterlingen hinterher zu jagen oder letztere sich auf ersteren niederließen, etwa in Spitzwegs »Der Schmetterlingsjäger« von 1840. Das Motiv des Schmetterlings unterstreicht in dieser ›Feel Good‹-Kunst gemeinhin weltfremd-nostalgisch-unbeschwerte, sommerlich-«süße« Naturidyllen. All die genannten Verwendungen und Assoziationen rund um die zyklische Struktur und Flüchtigkeitsdeutung des Schmetterlingsmotives fließen in die Butterfly Paintings ein. Was Hirst jedoch fundamental etwa von Vanitas-Stillleben, Kitschpostkarten und Grabmälern unterscheidet, ist, dass er nicht lebendige Schmetterlinge abbildet, sondern tote verwendet. Der tote Schmetterling bei Hirst ist als Metapher für den Menschen, der früher oder später sterben muss, also als Memento Mori des 20. Jahrhunderts zu sehen. Hirst will die naturwissenschaftliche Realität in die Kunst holen, wiederum um die Lücke zwischen Kunst und Leben zu schließen. Er macht mit den toten Schmetterlingen deutlich, dass weder die Raupe in der Verpuppungsphase starb noch dass der geschlüpfte Schmetterling ›wieder aufstand‹, wie in der Antike angenommen, er zeigt, dass der Schmetterling letztendlich schön, aber tot ist.

sowie Bd. 4, S. 115. [Eintrag Schmetterling]. Freiburg/Breisgau 1968. Sonderausgabe 1994. 218 Für die historischen Ausführungen über Schmetterlinge vgl. Hermann Levinson und Anna Levinson: Vögel und Schmetterlinge als Erscheinungsform der menschlichen Seele. – Ein zoologischer Streifzug durch die Kulturgeschichte. – Naturwissenschaftliche Rundschau 58/ 2005, S. 531-536. 219 Auf diesen Umstand wird im Unterkapitel Fly Paintings eingegangen.



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Der zoologische Ausdruck für den erwachsenen Schmetterling lautet imago (in der Mehrzahl: imagines) was im Lateinischen ›Bild‹ heißt.220 Im Englischen (image) ist die Verwandtschaft noch deutlicher auszumachen. In der Tat weisen Schmetterlinge, insbesondere ihre Flügel, Parallelen zu Bildern, etwa Gemälden auf. Beide sind relativ flach und fast zweidimensional und einige Falter bilden tatsächlich ab, indem sie Mimikry und Mimese betreiben, also Tarn- oder Warnmuster annehmen, etwa eines Blattes oder von Baumrinde oder die Augen eines größeren und gefährlicheren Tiers, um Fressfeinde abzuschrecken.221 Hirst klebt also Bilder (imagines) auf Bilder (monochrome Gemälde). Damit verschwimmt wie bei der NaturalHistory-Serie der Unterschied zwischen dem Ab-›bild‹-en und dem ›als-Materialverwenden‹ von Schmetterlingen. Hirst sanktioniert mit den Butterfly Paintings auch das menschliche Bedürfnis nach Idylle und positiven Gefühlen, nach Kitsch, indem er diesen liefert, jedoch durch den Tod der Tiere ironisch bricht und damit auch für anspruchsvolle Kunstinteressierte ›salontauglich‹ macht. Auch Gilbert & Georges farbenfrohe großformatige zusammengesetzte Hochglanzfotoarbeiten weisen den selben Gegensatz zwischen Inhalt und Präsentation auf: schöne bunte Farben und klare ästhetischangenehme Struktur und Präsentation werden mit oft explizit-provokativen Darstellungen und Titeln kontrastiert, die bei Gilbert & George oft sexueller Natur sind. Dies wirkt selbst, wenn die toten Tiere fehlen, wenn Hirst nach dem öffentlichkeitswirksam proklamierten Ende der Butterfly-Painting-Serie 2008 ab 2010 dazu überging, Siebdrucke und fotorealistische Gemälde von Schmetterlingen in Ausstellungen zu zeigen. Der (potenzielle) Käufer/Betrachter kennt die Butterfly Paintings, an welche die neuen Abbildungen erinnern. Auch hier kommentiert Hirst das dem Konsum verwandte Sammeln. Bei näherer Ansicht wirken die der Serie den Titel gebenden Schmetterlinge wie gerade auf die Farbe geflogen, auf der sie kleben blieben. Sie wirken wie ›auf den Leim gegangen‹, wohl weil sie von der strahlenden Farbe geblendet wurden, die sie anzog ›wie Motten222 das Licht‹ (like moths to the flame). Auch der Betrachter geht jemandem oder etwas zunächst ›auf den Leim‹. Von weitem erzeugen Butterfly Paintings zunächst, aufgrund der Farbgebung wie Blüten für Schmetterlinge, und (manche) zudem wegen ihrer symmetrischen Anordnung, ein rein positives ästhetisches Erlebnis. Der Betrachter wird vom schönen Schein (im doppelten Sinne von hell scheinen und trügerisch scheinen) der bunten und strahlenden Butterfly Paintings angezogen. Diese eventuell falschen und gefährlichen Verheißungen kön220 Besonders im Süddeutschen gibt es analog den rustikalen Ausdruck ›Mannsbild‹ für einen Mann in den besten Jahren. 221 Vgl. hierzu etwa Klaus Lunau: Warnen, Tarnen, Täuschen. Mimikry und andere Überlebensstrategien in der Natur. Darmstadt 2002, S. 64-65, 15-116. 222 Motten werden umgangssprachlich meist mit Nachtfaltern gleichgesetzt.



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nen wie Werbung eine süße farbenfrohe und verheißungsvolle Falle sein, etwa in Form eines massenproduzierten Konsumproduktes und Luxusartikels wie eines Butterfly Paintings. Zugleich können die Verheißungen des Butterfly Paintings, der Blütennektar für die ›Spezies des Kunstsammler-Schmetterlings‹ sein, der zur Gruppe der Konsumenten gehört. Zudem stellt der Betrachter erst bei näherer Ansicht fest, dass tote Tiere als Material verwendet wurden. Dies löst oft Abscheu oder zumindest Zwiespalt aus, der aus dem Widerspruch zwischen Tod und Schönheit wie Harmonie der Präsentation resultiert. Dieser Zwiespalt entlädt sich oft in Form von Wut in Richtung des Künstlers, der die Tiere angeblich ›für die Kunst‹ getötet hat.223 In Wirklichkeit wurden die extra dafür in London gezüchteten, tropischen Schmetterlinge, die eine kurze Lebensspanne haben, erst nach ihrem Ableben aufgesammelt.224 Hirst betont dies, um der einseitigen Deutung entgegenzuwirken, er wolle bloß schocken. 2003 erwähnte er in einem Interview, dass er nun der größte Schmetterlingsimporteur Großbritanniens sei und drei Leute nur mit der Herstellung der Serie beauftragt habe.225 Schmetterlinge werden für Hirst quasi industriell gezüchtet oder massenproduziert. Damit dreht sich das Prinzip um, das Hirst bei der Natural-History-Serie angeblich anwendet, nämlich Tiere erst zu kaufen, wenn sie anderweitig, etwa durch Krankheit, verendet sind. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen found objects und readymades. Der Schmetterlingszüchter wird Zulieferer von Hirsts Kunstproduktionsfirma. Zudem wird der Tierkonsum der westlichen Welt auf eine ironische Spitze getrieben, die Natur wird zum Rohstofflieferanten der Kunst: »Hirst has engaged in an exploration of the commodification of nature, the culture of collecting and the art market that began subtly, and grew more and more critical as this aspect of his work continued to be ignored.«226 Die drei von Rosenberg genannten Aspekte sind (nicht nur) in den Butterfly Paintings unabdingbar miteinander verwoben. Im Rahmen seiner »Romance in the Age of Uncertainty«-Ausstellung 2003 in London variierte Hirst diese in die Jahre gekommene Serie und schuf Butterfly Wing Paintings (Abb. 62).227 Wie der Name schon sagt, werden nun Schmetterlingsflügel und nicht die ganzen Insekten aufgeklebt. Zudem wich die zufällige 223 Vgl. Fiachra Gibbons: Hirst accused of sadism over butterfly collage. The Guardian online vom 15. August 2003. 224 Hirst betont, dass kein Tier extra für seine Kunst sterben musste. Vgl. Hirst zitiert bei Vogel 2007. 225 Waldemar Januszczak: Interview: Damien Hirst. Times Online vom 24. August 2003. 226 Rosenberg: The Apocalyptic Spectacle: Damien Hirst and the Crisis of Meaning. 99. CAA-Konferenz. Vortrag in New York am 11. Februar 2011, S. 1. 227 Vgl. Sarah Thornton: In and out of love with Damien Hirst. Making sense of spots, sharks, pills, fish and butterflies. The Art Newspaper Online vom 23. Oktober 2008.



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Verteilung symmetrischen Strukturen und regelmäßigen bunten Mustern aus unterschiedlich farbigen und großen Flügeln, die an Mandalas oder Kaleidoskope erinnern. Auf diese Weise bleibt die Hintergrundfarbe wenig sichtbar und wirkt wie Blei-Stege in gotischen Kirchenfenstern. Die Titel der Butterfly Wing Paintings enthalten analog dazu religiöse Anspielungen wie Namen von Kathedralen, Psalmen oder andere Begriffe, die religiöse Zusammenhänge assoziieren lassen. In der Endphase der Serie, 2006 bis 2008, lässt sich eine manieristische Tendenz bei den Butterfly Paintings feststellen, wie dies auch bei allen anderen Langzeitserien Hirsts der Fall ist. Einzelne Butterfly Paintings weisen nun auch Dinge wie Messerklingen, Diamanten oder religiöse Kleinodien auf. Statt des knallbunten Haushaltslacks als Hintergrundfarbe verwendete Hirst in dieser Zeit gelegentlich Gold- oder Silberlack, mit dem manchmal auch die Schmetterlinge selbst besprüht wurden. Zudem gibt es in dieser manieristischen und (noch mehr) selbstreferenziellen Spätphase der Butterfly Paintings gelegentlich Überschneidungen mit anderen Hirst-Serien wie den Spot und Spin Paintings, so dass einige Werke beiden Serien zugerechnet werden können. Alle genannten Variationen der Serie existierten bis zum Schluss parallel.228 i) »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« (2006) Das Diptychon »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« von 2006229 besteht aus zwei gleichgroßen kreisrunden schlicht weiß gerahmten Leinwänden, von denen eine monochrom rosa und eine hellblau bemalt ist. Auf beiden sind jeweils 18 Schmetterlinge unterschiedlicher Größe und Farbigkeit aufgeklebt, deren ›all over‹-Anordnung keiner Symmetrie zu folgen scheint. Außerdem sind Skalpell-, Rasier- und Teppichmesserklingen auf der Leinwandoberfläche befestigt. Die prächtigen Schmetterlinge bei Hirst sind ebenso vermeintlich perfekt, ein Zeichen für Luxus, Schönheit, Gegenwart, abgesehen von der Tatsache, dass sie tot sind. Die schönen, wenngleich toten Schmetterlinge weisen auf die Nichtigkeit des Konsums von schönen Dingen hin, wie etwa Gemälde mit schönen, toten Schmetterlingen darauf. Man sieht Hirsts Schmetterlingen ihren Tod nicht an, jedoch weist die Tatsache, dass sie auf Gemälden kleben, darauf hin, dass Konsum für Schönheit

228 Vgl. Sotheby’s: Damien Hirst. An Interview with Tim Marlow. Onlinevideo auf Sothebys.com, August 2008. 229 Das Werk wurde 2006/07 auf der vom British Arts Council veranstalteten YBAGruppen-Ausstellung »Aftershock: Contemporary British Art 1990-2006« im chinesischen Guangzhou und Bejing ausgestellt.



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letztendlich eitel und nichtig ist, weil ›das letzte Hemd keine Taschen hat‹, ein Sprichwort, das Hirst oft zitiert.230 Abb. 60: Hirst, Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who LikeGirls, Like Girls, Like Boys (Schmetterlinge, Skalpell-Klingen, Rasierklingen,Teppichmesserklingen und Haushaltsfarbe auf Leinwand), Diptychon,Durchmesser à 213,4 cm, 2006.

Quelle: © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012. In: Kat. Ausst. Aftershock: Contemporary British Art 1990-2006. London 2006. S. 83.

Die unterschiedliche Größe und Form der Falter auf den Gemälden steht zudem für Einheit und Vielfalt zugleich. Dennoch sind nicht die der Serie den Titel gebenden Schmetterlinge beim ersten Eindruck übermäßig dominant, sondern von weitem eher die monochromen Farben der Leinwände. In den gleichen Farben rosa und hellblau und mit ähnlichen Titeln schuf Hirst schon 1996 das Spot Painting-Diptychon »Blue For Girls And Pink For Boys«231, das je eine Leinwand nur mit rosaroten oder nur mit hellblauen Spots zeigt. 2008 führte er schließlich als Triptychon »Happy, Boys, Girls« aus232, bei dem es sich wiederum um ein Butterfly Painting handelt. Die blaue Leinwand erinnert an einen Sommerhimmel, in dem die aufgeklebten Schmetterlinge sich zu tummeln scheinen, besser heben sie sich jedoch gegen den etwas helleren rosa Hintergrund der anderen Leinwand ab, der an den Farbeindruck einer rosaroten Brille

230 Vgl. Hirst etwa im Interview mit Haden-Guest 2008, S. 157. 231 Vgl. Hirst 1997, S. 190. 232 Letzteres enthält noch eine dritte, orange Leinwand, deren Farbe an den Begriff ›Happy‹ im Titel anspielt. Vgl. Sotheby’s 2008. Band 1, S. 96.



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erinnert. Letztere wie der Sommerhimmel lassen ebenfalls positive Vorstellungen assoziieren. Rosa und Blau lassen an stereotype Farbzuweisungen bei weiblichen und männlichen Säuglingen denken und damit an beide Geschlechter generell, was durch den Titel, der jeweils das Wort »Girls« und »Boys« aufweist, unterstützt wird. Hirst stellt in einem Interview zudem eine Verbindung zwischen der Farbkombination Rosa-Hellblau und einigen seiner Vitrinenwerke her, die jeweils Adam und Eva im Titel haben.233 Diese und andere Farbklischees (etwa, dass Wasserhähne für Kaltwasser blau, für Warmwasser rot sind234) verwendet, übererfüllt und bricht Hirst zugleich. Auch einzeln jedoch wirken diese Farben hinsichtlich ihrer Bedeutung für Konsum besonders. Laut Thornton verkaufen sich (vorwiegend) rote und blaue Gemälde auf Kunstauktionen mit Abstand am besten.235 Zusammengehörige Kunstwerk-Teile beziehen sich immer aufeinander und bestärken sich gegenseitig236, ein Prinzip, das auch in der Werbung in Kombination mit Rot und Blau konsumfördernd eingesetzt wird, etwa bei dem Zahnpasta-Doppel Elmex (rote Tube) und Aronal (blaue Tube) oder bei Gauloises-Zigaretten, wo die blauen Packungen für stärkere und die roten für schwächere Zigaretten stehen: »Girls are sold pink and boys blue because the brain latches onto such easy symbols.«, schreibt Lawson über Konsumstrategien.237 Wie die Serie der Butterfly Paintings als Beispiel für alle anderen Serien Hirsts an Massenproduktion erinnert, macht dies im Kleinen auch jede Mini-Serie und jedes Diptychon: »I’ve always done pairs. I thought that art exists somewhere between the unique and the mass produced objects, Mona Lisa und Coke Can.«238 Skalpell-, Rasier- und Teppichmesserklingen lassen wie der Titel daran denken, dass das genannte Hellblau-Rosa-Baby-Schema später im Leben komplizierter wird oder sogar eskaliert. Messer können für Gewalt und Verletzungen stehen, sowohl seelische, die sich »Boys and Girls« in der Liebe zufügen, als auch physische, etwa Eifersuchtsszenarien und Selbstmord, sowie das sogenannte ›Ritzen‹, sich selbst verletzen mit einem Messer. Hirst vereinigt wie in seiner »Natural History«-Serie Organisches, Weiches und Natürliches mit industriell Gefertigtem, Hartem, Eckigem – Säugetiere und Schmetterlinge auf der einen und Vitrinen-Stahlrahmen und Messer auf der anderen Seite, das vom Menschen Geschaffene, Todbringende oder Lebensrettende und das von der Natur oder von Gott Geschaffene, Kreatürliche. Die unterschiedlichen Messertypen lassen im Falle des Skalpells Medizin, Wissen233 Vgl. Napoli 2004, S. 172. 234 Vgl. Ebd. S. 161. 235 Vgl. Sarah Thorton: Seven days in the art world. New York 2008, S. 24. 236 Vgl. Napoli 2004, S. 129. 237 Lawson 2009, S. 147. 238 Hirst zitiert in Napoli 2004, S. 129.



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schaft und Lebensrettung wie auch Bereiche des täglichen Lebens assoziieren, etwa die Rasier- und Teppichmesserklingen. Falter sind verschwenderisch bunt, um das andere Geschlecht zu beeindrucken, ebenso wie Männer und Frauen dem begehrten Geschlecht auffallen wollen. Dafür investieren sie viel Zeit und Geld in Kleidung und Körperpflege, wie etwa das Rasieren von Gesicht und Beinen mittels Rasiermesser. Manche begeben sich sogar ›unters Messer‹, das Skalpell, um (wieder) schön zu werden. Sie wollen attraktiv sein und bleiben, ›umschwärmt‹ sein, werden und bleiben, wenn man beim Bild des Schmetterlings bleiben möchte, der nicht altert, was der Wunsch des perfekten Konsumenten ist. Schmetterlinge machen den Betrachter vergessen, dass auch sein Leben kurz ist, und dass es eventuell noch anderes gibt außer schön geschmückt zu sein. Die durchgehend überpositiven Titel der asymmetrischen Butterfly Paintings – alle um 1995 Entstandenen weisen etwa das Wort ›love‹ auf – erinnern an triviale Texte von leicht konsumierbaren Popsongs. Der Titel »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« bezieht sich auf den (Titel und) Refrain des Popsongs »Girls and Boys« der britischen Band Blur aus dem Jahr 1994239: »Looking for girls who are boys who like boys to be girls who do boys like they’re girls who do girls like they’re boys«, den Hirst nicht genau zitiert, sondern eher einen subjektiven Eindruck paraphrasiert, den man hat, wenn man versucht, den schnell und undeutlich gesungenen Songrefrain mitzusingen, wo nur jeweils die Worte ›boys‹ und ›girls‹ betont und damit am verständlichsten sind. Eine nicht wörtliche Übernahme lässt die Deutung des Werkes allgemeiner und weiter erscheinen. Abb. 61: Blur, Girls and Boys. Musikvideo. 1994. Länge: 4,14 Minuten (Regisseur: Kevin Godley). [Screenshot].

Quelle: © EMI, Food Records.

239 Ebenso: Kat. Ausst. Aftershock: Contemporary British Art 1990-2006. London 2006, S. 79.



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Assoziationen von »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« gehen vom Titel wie von der Farbigkeit in Richtung zwischenmenschlicher (Sexual-)Beziehungen, wobei der verschachtelte Titel wie der Songrefrain und die betont verwirrende Art, wie er von Blur vorgetragen wird, zudem auf deren Komplexität hinweist, weil man die einzelnen Teile unterschiedlich aufeinander beziehen kann. Eine Lesweise spricht von Mädchen, die Jungs ›mögen‹, die wiederum Jungs ›mögen‹, die auf Mädchen ›stehen‹, die aber auf Mädchen ›stehen‹. Der Titel spielt einerseits auf homo- wie heterosexuelle Beziehungen an sowie die Probleme und Verwicklungen, die auftauchen können, wenn man nicht weiß, ob das begehrte Gegenüber Männer oder Frauen attraktiver findet.240 Das englische Wort like kann ›mögen‹ heißen, jedoch auch ›wie‹ bedeuten, was wiederum auf Kleidung und Aussehen bezogen werden kann: Mädchen die sich ›wie‹ Jungs anziehen (»like boys«) und umgekehrt. Dies steht im Zusammenhang mit wie im Kontrast zu der schematischen und einfachen Einteilung von Jungs und Mädchen zu Beginn ihres Lebens, wo Mädchen rosa und Jungs hellblau tragen. Hirst inszenierte für Blur 1995 das Musikvideo zu dem Song »Country House« und ist mit den Bandmitgliedern seit ihrer gemeinsamen Zeit am Goldsmiths befreundet. Das Musikvideo zu »Girls and Boys« beginnt mit einer Einstellung, die Schmetterlinge um eine flackernde Glühbirne fliegend zeigt (Abb. 61) und dann immer wieder kurze Einstellungen, wo sich nackte und kahlgeschorene Menschen küssen, während Schmetterlinge auf ihren Köpfen sitzen.241 Auch hier wird das Flatterhafte und Schwärmerische, was Schmetterlinge und liebende Menschen im Video haben, schon ausgedrückt, das Hirst dann als Variation seiner etwa zeitgleich mit dem Song entstandenen Serie über zehn Jahre später aufgreift. Auch andere Werktitel Hirsts wie das erwähnte »In & Out of Love« sowie »Hallo Space Boy« von 1995, »I Can See Clearly Now« (1991) oder »My Way« von 1990/91 sind von Popsongs geborgt.242 Mit der Anspielung auf diese und deren Musikvideos erweist Damien Hirst der Popkultur Referenz, die eine Konsumkultur 240 Ähnliche konträre Assoziationen weckt der Titel des erwähnten rosa-blauen Spot Paintings »Pink for Boys, Blue For Girls«. 241 Siehe Kevin Godley [Regisseur]: Girls and Boys. Musikvideo. 1994. Länge: 4,14 Minuten. 242 »In & Out of Love« ist der Titel mehrerer Songs und Alben etwa von The Supremes (1967) oder Bon Jovi (1985). »Hallo Space Boy« ist eine Single von David Bowie und The Pet Shop Boys aus dem selben Jahr wie das Hirst-Werk »Beautiful, Hello SpaceBoy«, »I Can See Clearly Now« ist ein von Johnny Nash 1972 geschriebener, von vielen anderen Interpreten nachgespielter Song. Für seine erste Serie von Medizinkabinetten verwendete er alle Songtitel des »Nevermind The Bollocks«-Album der britischen 1970er Punk-Band Sex Pistols. Vgl. Hirst 1997, S. 196, 207-218, 257.



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ist. Das Popzitat ist wie früher das Bibel- oder Ovidzitat für den zeitgemäß kulturell gebildeten Betrachter: Der Künstler zeigt Verbindungen auf zu dem, was gerade gemeinhin bekannt ist und unser Leben prägt.243 Viele Popsongs haben eingängige Melodien und Texte, die wie Werbung schnell im Gedächtnis bleiben. Daher werden sie oft in der Werbung verwendet, durch diese bekannt gemacht oder umgekehrt. Hirsts Werktitel erinnern an Comics, B-Movies244 oder Geschichten hinter bekannten Musiktiteln245, Aphorismen, Versatzstücke aus Popsongs und Werbeslogans, die man kennt und immer wieder hört und sieht, so dass sie für uns ebenso selbstverständlich und vertraut wurden, wie dass Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungs steht. In seinem Künstlerbuch von 1997 räumte Hirst bon mots, Zitaten und Titeln teils ganze Seiten ein und damit den gleichen Platz und die gleiche Wichtigkeit wie Abbildungen seiner Werke246, dasselbe lässt sich über Banksy sagen. Hirsts Titel sind oft sehr kompliziert und verschachtelt oder sehr einfach, wobei die einfachen bislang immer überwogen, noch mehr zunahmen und damit immer mehr der leicht konsumierbaren Schlagwortsprache der Werbung ähneln, auf die sie sich oft beziehen. Die runden Leinwände lassen bei »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« aufgrund der titelgebenden »Boys« und »Girls« sowie den Babyfarben Rosa und Blau zudem den Bauch einer Schwangeren assoziieren, oder den Ausdruck für Verliebt-Sein ›Schmetterlinge im Bauch‹, der im Englischen eine leicht andere Bedeutung als im Deutschen aufweist: ›Butterflies in your stomach‹ bezieht sich eher auf eine generelle, auch negative oder ambivalente Nervosität, etwa bei einem Rendezvouz oder einer bevorstehenden öffentlichen Rede. Kreisrunde Leinwände finden sich häufig in Hirsts Œuvre, neben Butterfly Paintings auch in Spot – oder besonders in Spin Paintings. Man kann bei »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« an übergroße Smarties (bunte Schokolinsen) oder Pillen denken, die optisch ähnlich mit Genussmittel-, Drogen oder Medikamentenkonsum assoziiert werden können. Da es bei Hirst eher auf das Konzept und das Verhältnis Konsumobjekt-Gemälde statt der Darstellung ankommt, impliziert eine runde Leinwand auch oft, dass es keine Rolle spielt, ob sie richtig herum aufgehängt wird. Eine runde Leinwand

243 Vgl. Muir/Wallis 2004, S. 97. Ebenso Stallabrass, der angibt, dass die Leute heute nicht mehr Mythologie, die Bibel oder Dante lesen. Vgl. Stallabrass 2006, S. 304. 244 Vgl. Stellabrass 2006, S. 157. 245 So verweist das Graffiti »Helter Skelter« in Hirsts Vitrine »Pursuit of Oblivion« von 2004 auf den Beatles-Song, der angeblich den Massenmörder Charles Manson zu seinen Bluttaten inspirierte. Wallis in: Muir/Wallis 2004, S. 103. 246 Vgl. Hirst 1997.



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erinnert immer an eine Drehbewegung, einen Umstand, den Hirst durch den gelegentlichen Einbau von Motoren zum Drehen der Leinwände noch verstärkt. Wie auch bei anderen Werken ist »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« zugleich das, was es abbildet und kommentiert: Ein schönes, nichtiges Konsumprodukt mit knalligen Bonbonfarben, Titeln wie Popsongs oder Werbeslogans, das dem Betrachter einfache Assoziationshülsen – scheinbar wahllos zusammengeworfen – präsentiert. Dabei stehen die Schmetterlinge nicht zwingend im Vordergrund, sie sind nur die Klammern, die Hirsts ironische Konsumklischeesammlung zusammenhalten. Abb. 62: Hirst, Devotion, 2003, Butterflies and household gloss on canvas, 96.06 x 60.24 in (2440 x 1530 mm)ŘŚŝ

Quelle: Photographed by Stephen White. © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, DACS 2012. Kat. Ausst. Romance in the Age of Uncertainty. Jay Jopling/White Cube (London) London 2003. O.S.

247 Vgl. die Abb.in Napoli 2004, S. 185.



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ii) »Devotion« (2003) »Devotion« (Abb. 62) ist ein Beispiel für Hirsts symmetrische, auch Butterfly Wing Paintings genannte Unterart der Serie.248 Auf einer hoch-ovalen, schwarz gestrichenen Leinwand sind symmetrisch bunte Schmetterlingsflügel angebracht, die kaleidoskop- oder mosaikartig die ganze Bildfläche bedecken, sich jedoch nicht berühren und so immer schwarze Farbzwischenstege frei lassen. Die dominierenden Farben der Flügel sind dunkelblau, gelb und weiß. Die ornamentale Struktur von Wing Paintings wie »Devotion« steht im Widerspruch zu den vollständigen Schmetterlingen der regulären Butterfly Paintings. Letztere wirken wesentlich lebendiger, was zum Einen der Tatsache geschuldet ist, dass es sich um vollständige Tiere handelt, nicht nur um Flügel, also noch mehr Tier-«Material«, wie bei »Devotion«, obwohl auch hier meist beide Flügel eines Tieres nahe zusammen gelegt werden. Zum Anderen wirkt auch ihre wie zufällige, aufgestreute Position wesentlich ›natürlicher‹ als die in geometrische Muster gepressten »Wings«. Es gibt also Ordnung und Unordnung sowie Gewalt, sowohl qualitativ, da man den toten Tieren die Flügel ausreißen muss, als auch quantitativ, da die Wing Paintings wesentlich mehr Falter ›verbrauchen‹, weil fast die ganze Leinwand bedeckt ist. Hirst macht durch die Reduzierung auf Flügel, Masse, ausgerissene Flügel und ornamentale Struktur die Parallele der Wing Paintings zu massenhafter Produktion von Konsumprodukten deutlich. Wollte er vorher noch die Illusion des angeblich Natürlichen und Lebendigen durch die ganzen Tiere und ihre wie zufällige Anordnung erwecken, zeigt er nun, was Schmetterlinge für ihn sind: Naturmaterial. Auch die inhaltliche Komponente änderte sich: verwendete und zeigte Hirst bei den Butterfly Paintings Schmetterlinge auf einer Leinwand, so verwendet er bei den Wing Paintings das Tiermaterial Schmetterlingsflügel, um ornamentale Muster zu zeigen. Dabei verschiebt sich der Fokus vom Eindruck ihrer Form zu dem ihrer Farbe, zugleich tritt die monochrome Farbfläche in den Hintergrund, ihr Eindruck wird von der Farbe zur Form, zu Stegen zwischen den Flügeln. Eine Konsequenz für den Betrachter ist, dass er sich mit den Farbflächen repräsentierenden Tiermaterial-Flügeln im Gegensatz zu den vollständigen Tieren nicht mehr so sehr identifizieren kann. Eine Identifikation ist bis zu einem gewissen Grad dennoch möglich, da der Betrachter die ursprünglichen Butterfly Paintings kennt und zudem immer noch sieht, dass es Tiere, also Individuen waren, was Hirst erreicht, indem er bei den Wing Paintings die Flügelpaare vieler Falter weiterhin als Einheit auftreten lässt, soweit die ornamentale Struktur dies zulässt.

248 Vgl. Romance in the Age of Uncertainty. Kat. Ausst. White Cube, London 10. September bis 19. Oktober 2003.



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Schmetterlinge bilden Schwärme, diese bewegen sich oft gemeinsam in eine Richtung. Laut Reynolds funktioniert jeder Schwarm unter anderem nach der Regel der »Separation« (Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt), was man in den Butterfly Paintings wiederfinden kann, wo die Falter sich nie berühren. Manche Schwärme bilden geometrische Formationen, etwa ein ›V‹. Die an ein Individuum erinnernden Flügelpaare bilden ebenfalls Formationen, die ein großes Ganzes bilden, wenngleich sich die Formationen und deren Regeln fundamental von Schwarmregeln unterscheiden. Auch die einzelnen Falter der Butterfly Paintings ›fliegen‹ etwa nur zusammen, jedoch nicht zwingend in eine Richtung. Der Sozialwissenschaftler Zygmunt Bauman spricht vom Schwarm der Konsumenten in der heutigen Konsumgesellschaft, ein Bild, das man in den Butterfly Paintings wiederfinden kann: »In einer flüchtig modernen Konsumgesellschaft tritt zunehmend der Schwarm [kursiv im Original] an die Stelle der Gruppe [kursiv im Original], die mit Anführern, hierarchisch abgestufter Autorität und einer Hackordnung ausgestattet ist. [...] Schwärme müssen sich nicht mit Hilfsmitteln belasten, um ihr Überleben zu sichern; sie kommen zusammen, lösen sich auf und finden erneut zusammen, von Gelegenheit zu Gelegenheit, jedes Mal geleitet von anderen, sich immerzu verändernden Anlässen, und angezogen von wechselnden und beweglichen Zielen.«

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Für Bauman konsumiert jeder für sich, auch wenn er gemeinsam mit anderen konsumiert, weshalb Konsum eine sehr einsame Tätigkeit sei.250 Auch Hirsts Schmetterlinge sind ›gemeinsam einsam‹, was durch ihre räumliche Trennung voneinander sichtbar wird. Derartige Konsumenten-Schwärme findet man etwa bei der Eröffnung neuer IKEA-Filialen, auf die Banksy im Ikea-Punk anspielte, bei der Veröffentlichung eines neuen Harry-Potter-Bandes oder beim Sommerschlussverkauf, wo Leute versuchen, ein Schnäppchen zu ›erhaschen‹, ein Wort, das ebenfalls an Schmetterlinge denken lässt. Schmetterlinge werden daher auch oft in der Werbung verwendet, etwa in einem Poster des Modedesigners Alexander McQueen, der Schmetterlinge vielfach für Muster und Designs verwendete (Abb. 63). Wie Hirst steht (nicht nur McQueens) Mode zwischen Kunst und Konsum, auch wenn der Designer im Vergleich zum Künstler traditionell der Ware näher steht. Beide verwenden Schmetterlinge für eine ihrer Produktlinien, der Künstler Hirst etwa auch für nach seinen Gemälden entworfene Kleidung. Das Leichte, Unbeschwert-Sommerliche und zugleich Tiefgründig-Sein-Wollende findet sich auch in McQueens Poster wieder. 249 Zygmunt Bauman: Leben als Konsum. Hamburg 2009 [Engl. Originalausgabe 2007], S. 101. 250 Vgl. Ebd. S. 102.



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Abb. 63: Poster for Alexander McQueen Spring Summer 2011 collection. Model: Sasha Pivovarova.

Quelle: © Alexander McQueen. http://www.designscene.net/wpcontent/uploads/2011/01/Alexander-McQueen-Spring-Summer2011-DesignSceneNet-02.jpg (Gesichtet: 12. März 2010).

Hirst ›fängt‹ die ›schwärmerische‹ Stimmung eines Konsumrausches (wie ein Sammler mit dem Schmetterlingsnetz) ein und bannt es in seine Butterfly Paintings, die wie fotografische Momentaufnahmen, gefrorene Realität aussehen: »Am besten kann man [...] [Schwärme] sich als immer wieder kopierte Bilder von Andy Warhol ohne Original vorstellen oder mit einem Original, das nach Gebrauch weggeworfen wurde und weder auffindbar noch wiederherstellbar ist. Jede Einheit eines Schwarms ahmt die Bewegungen aller anderen nach und führt sie doch alleine aus, von Anfang bis zum Ende und in allen ihren Teilen (Im Fall von konsumierenden Schwärmen besteht die solchermaßen ausgeführte Aufgabe im Konsumieren).«

251 Ebd. S. 101.



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Baumans Verweis auf »Bilderschwärme« der Konsumkultur lässt sich auch auf Butterfly Paintings übertragen, nicht nur der Falter im Werk selbst. Auch »Devotion« enthält alle Informationen dieser Serie. Gemeinsam verstärken sich die Imagines (Schmetterlinge) auf den Images (den Gemälden). Bis zu einem gewissen Grad kann man sogar alle Serien Hirsts gemeinsam als Schwarm sehen. Fragwürdig ist jeweils die Menge an Butterfly(Painting)s, Hirst bestärkt darin und stellt zugleich in Frage, dass allein schon eine große Anzahl, etwa Kunstwerke, sich selbst als wichtig und bedeutend sanktioniert. Auch dies findet sich laut Bauman im Bild des Konsumenten-Schwarmes wieder: »Im Fall von denkenden und fühlenden Menschen ist das Beruhigende am Fliegen im Schwarm, dass man sich in der Menge [kursiv im Original] sicherer fühlt: die Überzeugung, dass die Richtung des Schwarmes richtig gewählt sein muss, weil ein erstaunlich großer Schwarm ihr folgt; die Annahme, dass so viele fühlende, denkende Menschen nicht gleichzei252

tig getäuscht werden können.«

Ihrer Individualität beraubt, beziehungsweise auf ausgerissene Flügel-Paare reduziert, können diese gemeinsam einsamen Massenbestandteile nur noch gemeinsam schwärmen. Solche Konsumentenschwärme (teils auch in ornamentalen Anordnungen) fanden sich historisch zunächst auf religiösen Abbildungen, dann auf staatlichen Fotografien, also all dem, was Individuen eint und einte und finden sich heute bei Demonstrationen und bei Massenkonsum-Events wie Fußballspielen, Public Viewing oder Popkonzerten, den Konsum-Ritualen der sonst oft entfremdeten Individuen einer Konsumgesellschaft. Analog zu den Wing Paintings sind etwa Moles und Thomas’ Aufnahmen von arrangierten Menschenmassen aus den 1910er Jahren (Abb. 64) zu sehen. Bei dem abgebildeten »The Human U.S. Shield« wurden im wahrsten Sinne des Wortes Zighunderte für Propagandazwecke instrumentalisiert.253 Der Titel »Devotion«, zu Deutsch ›Andacht‹ oder ›Hinwendung‹, stellt einen christlich-religiösen Bezug her, der durch die einer gotischen Kirchenfensterrose ähnelnden Form unterstützt wird. Schon »Girls, Who Like Boys, Who Like Boys, Who Like Girls, Like Girls, Like Boys« erinnert durch die Tatsache, dass es sich um ein Dyptichon handelt, an christliche Andachtsbilder. Hier geht der religiöse Bezug jedoch nicht über die formale Anspielung hinaus. Butterfly Wing Paintings wie »Devotion« beziehen sich wesentlich stärker auf christliche Ikonografie, wobei dies in ihrer Spätphase um 2008 einen manieristischen Höhepunkt erreichte, da Hirst statt assoziativer Titel wie eben »Devotion«, 252 Bauman 2009, S. 102. 253 Metropolitan Museum of Art in New York: The Human U.S. Shield. In: Collections Photographs auf metmuseum.org (Gesichtet: 4. März 2011).



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»Absolution« oder »Forgiveness« (wie noch 2003) nun konkrete, real existente Kirchenbuntglasfenster mit Schmetterlingsflügeln ›nachbauten‹ ließ und/oder sie nach biblischen Psalmversen benannte. So zeigt ein Werk das Rosenfenster der Kathedrale zu Durham, das Hirst im Begleitheft mit abdrucken lässt. Abb. 64: Mole und Thomas, The Human U.S. Shield (Gelatin silver print),32.5 x 26.4 cm, 1918.

Quelle: http://images.metmuseum.org/CRDImages/ph/weblarge/DP109571.jpg (Gesichtet: 12. März 2010).

Kirchenfenster hatten nicht nur die Aufgabe, Kirchen zu schmücken und biblische Ereignisse zu erzählen. Die farbenprächtigen Glasfenster etwa des Mittelalters erzeugten eine mystische und feierliche Stimmung und wurden überwiegend in Kirchenbauten verwendet. Ihre Aufgabe war es (wie die des Goldgrundes in Gemälden), den Gläubigen die Bedeutung des göttlichen Lichts näher zu bringen. Sie sollten zugleich den weltlichen Reichtum und die Macht des Stifters repräsentieren. Letzteres trifft auch auf die Hirst-Gemälde zu, die aufgrund des hohen Preises der ›Marke Damien Hirst‹ als Statussymbole gelten. Ebenso wie Religion kann die Be-



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trachtung beziehungsweise der Kauf eines Butterfly Paintings ein Bedürfnis befriedigen, ein positives Gefühl geben. Der katholisch erzogene Atheist Hirst verwendet dazu christliche Ikonografie, die für ihn nur eine »old story« repräsentiert.254 Aufgrund der Tatsache, dass Religion so lange Zeit als Sinngeber fungierte, kann sie nun auch den neuen Sinngeber Konsum in einer Galerie repräsentieren. Dies wird durch die sakrale Präsentation verstärkt, teils hat man auf Fotos oder von weitem tatsächlich den Eindruck, in einer Kirche zu stehen (Abb. 65). Wie Kirchenfenster sind auch die sie imitierenden Butterfly Paintings perfekt schön, symmetrisch und dekorativ. Im Gegensatz zu ihren religiösen Vorbildern wurden sie geschaffen, um gekauft, »übers Sofa«255 gehängt, also konsumiert zu werden. Was andere Künstler durch schockierende oder düstere Inhalte oder Übergröße bewusst versuchen zu verhindern, scheint Hirst vordergründig zu forcieren. Er will gar nicht unbedingt ins Museum, sondern eben »übers Sofa«. Durch die betonte und fast ins Absurde gehende Übererfüllung angeblicher Wünsche potenzieller Käufer/Betrachter sind seine Werke nicht nur perfekt schön, sondern zugleich auch als kritischer Kommentar zum Perfekt-Schönen oder zum Kunstkonsum per se zu sehen. Wer einen Hirst kauft, ist zugleich Teil des Konzepts – der Käufer wird auf seine Rolle als Konsument verwiesen. Die Tatsache, dass er bereit ist, viel Geld für ein derartiges Gemälde auszugeben, entlarvt ihn und er kann sich selbst im Abbildungsteil wiedererkennen, etwa im Titel der bereits genannten 15 »Midas« oder »Judas«Gemälde, zwei Figuren aus Bibel und Mythologie, deren Erfahrungen mit Reichtum durchaus ambivalent sind. »Devotion« ist selbst ein schönes, perfektes ›Ding‹, das viel Geld kostet, was auch für die darauf geklebten Schmetterlinge gilt. Menschen sammeln sie, weil sie schön und selten sind und weil es viele unterschiedliche gibt, die in einer Sammlung oder Serie kombiniert ein größeres ästhetisches Erlebnis bieten denn als Einzelstück. Jedes Bild weist eine ›Sammlung‹, eine Collage von bis zu mehreren Hundert Faltern auf. Das Werk ist selbst Sammlerobjekt, was durch die Tatsache verstärkt wird, dass es Teil einer Serie ist, die wiederum Teil mehrerer Hirst-Serien ist. Eine Serie impliziert immer, dass ein Exemplar nicht nur einzeln, sondern auch in Kombination mit anderen Butterfly Paintings, also durch Reihen, Wiederholungen und Variationen ein und desselben Gegenstandes, Themen beziehungsweise durch ein System von konstanten und variablen Elementen oder Prinzipien, eine ästhetische Wirkung erzeugen will.

254 Sotheby’s: Damien Hirst. An Interview with Tim Marlow. Onlinevideo auf Sothebys.com vom August 2008. 255 Hirsts Vertriebsfirma nennt sich »over the sofa«.



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