Konstruktion von Wirklichkeit: Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive [Reprint 2013 ed.] 3110182262, 9783110182262, 9783110919325

In recent discussions, increasing attention has been focussed on the question of how knowledge and the interpretation of

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Konstruktion von Wirklichkeit: Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive [Reprint 2013 ed.]
 3110182262, 9783110182262, 9783110919325

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Abschied von „historischer Wirklichkeit“. Das Realismusproblem in der Geschichtswissenschaft
Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?
Kann Geschichte wahr sein? Zu den narrativen Geschichtsphilosophien von Hayden White und Frank Ankersmit
Historisches Wissen und historische Wirklichkeit: Für einen „internen Realismus“
Testing Social Theories: Validation, Practice and Reality
Wie stark ist der „schwache“ Realismus?
History and Reality in the Interpretation of Biblical Texts
Geschichte als Kommunikationsgeschichte: Überlegungen zur Medienwissenschaft
Die Mythen be (ver-/ent-) sorgen
„Zechen auf fremde Kreide“? Philosophisch-theologische Überlegungen zur Angewiesenheit der historischen Vernunft auf die Sinnvorgaben des biblischen Monotheismus – Eine Rückfrage an Jan Assmann
Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums: Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive
Eschatologie und Historik. Ein theologischer Beitrag zu 1 Kor 15
Augenzeugenschaft, Geschichtsschreibung, Biographie, Autobiographie und Evangelien in der Antike
Abstracts
Stellenregister
Autorenregister
Personen- und Sachregister
Verzeichnis der mitwirkenden Autoren

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Konstruktion von Wirklichkeit

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle • H.-P. Müüer

Band 127

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Konstruktion von Wirklichkeit Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive

Herausgegeben von Jens Schröter mit Antje Eddelbüttel

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018226-2 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Die meisten der in diesem Band versammelten Beiträge wurden für das Symposium „Deutungen von Wirklichkeit - erkenntnistheoretische Voraussetzungen und Geltungsansprüche religiöser und philosophischer Interpretationsmodelle" verfasst, das vom 4.-6. Oktober 2002 in der Evangelischen Akademie Loccum stattfand. Ziel dieses Vorhabens war es, unterschiedliche Zugänge, Wirklichkeit zu interpretieren und für diese Interpretationen Wahrheits-, zumindest aber Geltungsansprüche zu erheben, miteinander ins Gespräch zu bringen und auf ihre - impliziten oder expliziten - Prämissen hin zu befragen. Der Anstoß kam von theologischer Seite: Im Rahmen einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Mercator-Gastprofessur von Bernard Lategan am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg im Wintersemester 2000/2001 entstand die Idee des Projektes. Wir waren uns schnell darüber einig, dass ein solches Vorhaben nur in einem interdisziplinären Rahmen sinnvoll durchzuführen sei. In einer nächsten Phase trat Jörn Rüsen in die Planungen ein und hat durch Vorschläge zur inhaltlichen und organisatorischen Durchführung - und selbstverständlich nicht zuletzt durch seine Teilnahme - maßgeblich zum Gelingen eines inspirierenden Treffens in überaus angenehmer Atmosphäre beigetragen. Dr. Wolfgang Vögele, damals noch Leiter der Evangelischen Akademie Loccum, inzwischen Direktor der Evangelischen Akademie Berlin, hat sich mit Engagement und Interesse um die Organisation der Tagung bemüht und auch selbst an ihr teilgenommen. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Die Finanzierung wurde durch die Evangelische Akademie Loccum, die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche sowie durch das Kulturwissenschaftliche Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen gewährleistet. Allen drei Institutionen sei an dieser Stelle ebenfalls ein herzlicher Dank ausgesprochen. Für die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge in einem Sammelband wurden die Manuskripte im Anschluss an die Diskussionen auf der Tagung in Druckfassung gebracht und in elektronischer Form bereitgestellt. Die dabei gezeigte Kooperation von Seiten der Teilnehmer des Symposiums sei an dieser Stelle ausdrücklich hervorgehoben. Hans-Jürgen Goertz, der bei der Tagung selbst leider nicht dabei sein konnte, hat seinen Beitrag dennoch druck-

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Vorwort

fertig gemacht und fur den Band zur Verfügung gestellt. Die Artikel von Chris Lorenz sind zuvor bereits in englischer Sprache erschienen: Historical knowledge and historical reality. A plea for „internal realism", in: History and Theory 33 (1994), 3, 297-327; reprinted in: B. Fay, Ph. Pomper and R.T. Vann (eds.), History and Theory. Contemporary readings, London 1998, 342377 sowie: Narrativism, positivism and the „metaphorical turn", in: History and Theory 37 (1998), 3, 309-329. Für die hier vorgelegte Publikation wurden sie grundlegend überarbeitet und von Christian Grüny ins Deutsche übersetzt. Die organisatorische Arbeit lag nahezu ausschließlich in den Händen meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Antje Eddelbüttel. Sie hat nicht nur die Druckvorlage erstellt, sondern auch die notwendige Korrespondenz mit Verlag und Autoren gefuhrt und das Projekt bis zu seiner Vollendung mit großer Zuverlässigkeit und nie nachlassendem Einsatz begleitet. Dafür gebühren ihr Dank und Anerkennung. In der letzten Phase hat sich auch Astrid Hotze, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin an meinem Leipziger Lehrstuhl, an Manuskript- und Korrekturarbeiten beteiligt. Auch ihr sei für ihr großes Engagement herzlich gedankt. Bei der Erstellung der Register haben Nina Schumann und Ulfert Sterz mitgewirkt, denen ebenfalls zu danken ist. Den Herausgebern der Reihe „Theologische Bücherei Töpelmann" danke ich für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe, dem Verlag Walter de Gruyter, insonderheit Herrn Dr. Albrecht Döhnert, für die unkomplizierte und freundliche Zusammenarbeit.

Leipzig

Jens Schröter

Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis Einleitung

Hans-Jürgen Goertz Abschied von „historischer Wirklichkeit". Das Realismusproblem in der Geschichtswissenschaft

V VII IX

1

Jörn Riisen Faktizität und Fiktionalität der Geschichte Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?

19

Chris Lorenz Kann Geschichte wahr sein? Zu den narrativen Geschichtsphilosophien von Hayden White und Frank Ankersmit

33

Chris Lorenz Historisches Wissen und historische Wirklichkeit: Für einen „internen Realismus"

65

Anton A. van Niekerk Testing Social Theories: Validation, Practice and Reality

107

Michael Moxter Wie stark ist der „schwache" Realismus?

119

Bernard C. Lategan History and Reality in the Interpretation of Biblical Texts

135

Vili

Inhaltsverzeichnis

Werner H. Kelber Geschichte als Kommunikationsgeschichte: Überlegungen zur Medienwissenschaft

153

Irmgard Wagner Die Mythen be (ver-/ent-) sorgen

169

Georg Essen „Zechen auf fremde Kreide"? Philosophisch-theologische Überlegungen zur Angewiesenheit der historischen Vernunft auf die Sinnvorgaben des biblischen Monotheismus Eine Rückfrage an Jan Assmann

179

Jens Schröter Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums: Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive

201

Eckart Reinmuth Eschatologie und Historik. Ein theologischer Beitrag zu 1 Kor 15

221

Detlev Dormeyer Augenzeugenschaft, Geschichtsschreibung, Biographie, Autobiographie und Evangelien in der Antike

237

Abstracts

263

Stellenregister Autorenregister Personen-und Sachregister

273 277 283

Verzeichnis der mitwirkenden Autoren

295

Einleitung Jens Schröter Die Geistes- und Kulturwissenschaften befinden sich gegenwärtig in einer Situation, die dazu herausfordert, ihre Orientierungsfunktion zu überdenken. Die durch den Konstruktivismus ausgelöste Frage, wie sich unsere Interpretationen von Wirklichkeit und Geschichte zur Realität verhalten, auf die sie sich beziehen und die sie mit Sinn - und damit zugleich mit Vorgaben fur unser Handeln - versehen, fordert dazu heraus, Geltungsansprüche neu zu formulieren. Wie von immer schon sprachlich vermittelten Konstruktionen zur außersprachlichen Wirklichkeit gelangt werden kann, ist dabei ein Problem, das gegenwärtig von erheblicher Brisanz ist. Beigetragen hat zu dieser Verschärfung der erkenntnistheoretischen Problematik, die für Philosophie, Geschichtswissenschaft und Theologie gleichermaßen von Belang ist, nicht zuletzt eine zunehmend als pluralistisch wahrgenommene Welt, die der Frage nach der Orientierungskraft von Sinnentwürfen besondere Dringlichkeit verleiht. Zugespitzt könnte angesichts dieser Situation gefragt werden, ob nicht jeder sinnstiftende Entwurf seine eigene zeitliche und kulturelle Begrenztheit bereits im Ansatz zu berücksichtigen hätte. Ob sich die Wirklichkeit, die wir konstruieren, nicht auch anders verstehen, die Geschichte, die wir entwerfen, nicht auch anders erzählen ließe, ist ein Thema, dessen Aktualität sich gerade dann nicht abweisen lässt, wenn man die radikal-konstruktivistische Leugnung einer außersprachlichen Wirklichkeit mit den Autoren der hier vorgelegten Beiträge nicht teilt. Dass das Ernstnehmen der Ambivalenz einer Wirklichkeit, die sich menschlichem Erkennen nur gebrochen erschließt, der letztlich angemessenere Weg sei, mit unseren vorläufigen und fragilen Deutungen umzugehen, ist dagegen eine These, die im Horizont der Überlegungen liegen könnte, die die Autoren dieses Bandes vorstellen. Es liegt auf der Hand, dass sich daran weiterreichende Fragen nach Wert- und Handlungsorientierungen anschließen, da sinnstiftende Entwürfe in der Regel auf dem Anspruch basieren, Wirklichkeit als ganze zu interpretieren und darauf ihren Wahrheitsanspruch gründen. Bei den im Folgenden dokumentierten Diskursen stehen insbesondere drei Fragen im Vordergrund: Wie beziehen sich Deutungsmodelle auf außersprachliche Wirklichkeit? Wie wird Geschichte als ein unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit orientierender Rahmen konstruiert, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet?

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Jens Schröter

Welchen Beitrag hat die christliche Theologie zur Deutung von Wirklichkeit und zum Verständnis von Geschichte beizusteuern? Mit diesen Fragen sind die generelle erkenntnistheoretische Problematik, die sich mit dem Wirklichkeitsbegriff verbindet, deren geschichtstheoretische Spezifikation sowie schließlich der sich vor den biblischen Schriften verantwortende Zugang zum Sinn geschichtlicher Wirklichkeit in den Blick genommen. Ist der Verweis auf eine als verbindlich anerkannte metaphysische Instanz, die Sinn garantiert, keine für das interdisziplinäre Gespräch vorauszusetzende Option, stellt sich die Frage nach der Plausibilisierung von Wirklichkeitsdeutungen. Verstehen wir unter Geschichte nicht die Betrachtung der Vergangenheit, sondern das Verstehen der Gegenwart als geschichtlich gewordener, rückt die je besondere Wahrnehmung der eigenen Kultur auf neue Weise in den Blick. Erhebt christliche Theologie den Anspruch, wahrheitsfähige Aussagen über Wirklichkeit und Geschichte zu formulieren, begibt sie sich in den Diskurs mit konkurrierenden Deutungsmodellen, angesichts derer sich ihre Perspektive auf Geschichte und Wirklichkeit zu bewähren hat. Die Aktualität dieser Fragestellungen wird durch die je eigenen Zeitprobleme, mit denen wir es zu tun haben, konkret und führt die in verschiedenen Kulturen geltenden Wertüberzeugungen, ihre Voraussetzungen und Geltungsansprüche vor Augen. Für den europäischen Kontext wäre etwa auf den seit einigen Jahren im Gang befindlichen Einigungsprozess, einschließlich der daraus resultierenden Neubestimmung des Verhältnisses ost- und westeuropäischer Länder, zu verweisen. Wie dies - auch jenseits neu geordneter ökonomischer Verhältnisse - zu einer Geschichte führen kann, die als gemeinsame begriffen wird, ist noch längst nicht ausgelotet. Auf andere Weise haben die Veränderungen in der südafrikanischen Gesellschaft zu einem Nachdenken über die Möglichkeiten, Geschichte jenseits separater „Teilgeschichten" als gemeinsames Projekt zu definieren, gefuhrt. Geschichte erweist sich angesichts dessen als identitätsstiftender - und veränderbarer Entwurf, Wirklichkeit zu verstehen und sich in dieser zu bewegen. Die Ereignisse des 11. September 2001 waren zur Zeit der Entstehung der Beiträge dieses Bandes unmittelbar präsent und drückten Überlegungen wie den skizzierten unausweichlich ihren Stempel auf. Die Rede, die Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14. Oktober in der Frankfurter Paulskirche hielt, liegt dabei im Umkreis der hier diskutierten Fragen. Habermas sprach damals von der Notwendigkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Wissen und forderte, religiöse und ethische Wertvorstellungen dürften in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht eliminiert werden, sondern müssten in eine Sprache, die dem Gemeinwesen zugänglich ist, übersetzt werden, um zur Orientierung beizutragen. In ähnlicher Weise hat Jan Assmann in Überlegungen darüber, wie sich der 11. September auf unser Geschichtsbild auswirken wird, die geschichtswissenschaftlich zentrale Kategorie der Erinnerung auf-

Einleitung

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gegriffen, um die Frage zu bearbeiten, wie sich Gegenwart in ihrem Verhältnis zu zurückliegenden Ereignissen verstehen und von daher auch im Blick auf die Zukunft gestalten lässt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Oktober 2001). Im Horizont des eingangs Gesagten lassen sich beide Äußerungen so aufgreifen, dass sie die Notwendigkeit vor Augen fuhren, die Bezugspunkte sowie die Reichweite derjenigen Sinnentwürfe, die die Grundlage unseres Glaubens und Handelns darstellen, erkenntnis- und geschichtstheoretisch zu reflektieren. Welche Ereignisse, Texte und kulturellen Vorgegebenheiten unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit prägen, welche „Mythen" für unsere Konstruktion von Identität leitend sind und wie wir zugleich kritisch und bewahrend mit ihnen umgehen, sind Fragen, die sich gegenwärtig neu ins Bewusstsein drängen. Der Blick auf kulturell bedingte, auf unterschiedlichen „Mythen" basierende Wirklichkeitskonstruktionen lässt fragen, ob sich Geltungsansprüche auf Meta-Erzählungen gründen können oder ob nicht längst eine Vielzahl untereinander allenfalls locker verbundener Geschichten entstanden ist, die die Rede von der Geschichte obsolet erscheinen lässt. Wie mit einem solchen Befund - sollte er zutreffen - umzugehen wäre, ist gegenwärtig strittig und kann nur in Diskursen bedacht werden, die die Herausforderungen der Postmoderne, die als Beliebigkeit zu qualifizieren bestenfalls eine grobe Verkürzung wäre, ernst nehmen und mit der Notwendigkeit vermitteln, auch in einer Situation der Unübersichtlichkeit Deutungsmodelle zu entwickeln. Angesichts dieser Überlegungen war von Beginn an deutlich, dass ein Symposium zu dem skizzierten Problemkreis nur als interdisziplinäre Veranstaltung sinnvoll sein kann. Wenn - worüber vielleicht Konsens erzielt werden kann - kein allgemein verbindliches, erst recht kein unveränderliches Bild von „der" Geschichte existiert - und vielleicht auch nicht anzustreben ist - , sondern wir uns aus unterschiedlichen Perspektiven um die Interpretation von Wirklichkeit bemühen, sollten die je spezifischen Deutungsleistungen sowie ihr jeweiliger Beitrag zu Kulturen, die menschliches Leben ermöglichen, miteinander ins Gespräch gebracht werden. Aus ethischer Perspektive schließt sich hier die Suche nach solchen Modi der Sinnbildung an, die den Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts sowie den aus dem technischen Fortschritt resultierenden ethischen Herausforderungen Rechnung tragen. Hierin könnte eine besondere Aufgabe der Geisteswissenschaften gesehen werden. Für christliche Theologie entsteht dabei die Frage nach einem spezifisch theologischen Zugang zur Geschichte: Was sind Aspekte einer biblisch begründeten Geschichtsauffassung? Wie geht das Christentum im Zeitalter der Moderne mit der Herausforderung um, vom Sinn der Geschichte zu sprechen, wenn nicht einfach auf Gott als Subjekt verwiesen werden kann, das die Einheit garantiert? Wie lässt sich eine christliche Sicht auf die Geschichte als

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Jens Schröter

kommunikabler Entwurf in gegenwärtige Diskurse um die Deutung der Wirklichkeit einbringen? Die hier abgedruckten Beiträge nähern sich diesen Fragekreisen in drei Schritten. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Wirklichkeit aus geschichtswissenschaftlicher Sicht. HansJürgen Goertz problematisiert in seinem einleitenden Beitrag, den Titel des Bandes aufnehmend, den Wirklichkeitsbegriff der Geschichtswissenschaft. In Auseinandersetzung mit einem am erkenntnistheoretischen Realismus ausgerichteten Verständnis, das historische Wirklichkeit mit Wahrheit identifiziert, wird der Begriff der „Rekonstruktion" der Vergangenheit einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Goertz plädiert dafür, die Rede von „historischer Wirklichkeit" zu sistieren, da sie sich nicht konsequent genug von der erkenntnistheoretisch unzureichenden Vorstellung gelöst habe, vergangene Wirklichkeit wiederherstellen zu können, wogegen Wirklichkeit in Wahrheit doch nur „im Zeitmodus der Gegenwart" existiere. Goertz vertritt damit eine Position, die sich dem Konstruktivismus zurechnen lässt und historische Wirklichkeit konsequent als sprachliche Konstruktion begreift, ohne jedoch deren Anhalt an der außersprachlichen Wirklichkeit zu leugnen. Der Beitrag von Jörn Rüsen geht ebenfalls auf den Wirklichkeitsbegriff ein und bezieht ihn auf das Gespräch von Geschichtswissenschaft und Theologie. Ausgehend von der Historik als einer Disziplin, die „fachübergreifende Gesichtspunkte des historischen Denkens" formuliert, hält er zunächst - in Analogie zu den Ausführungen von Goertz - fest, dass historische Wirklichkeit stets den Charakter der Konstruktion trägt, die der Historiker aufgrund des ihm zuhandenen Materials erstellt. An dieser Stelle liege zugleich der Schnittpunkt von Historie und Fiktion, insofern die Repräsentation der Vergangenheit in der Gegenwart stets fiktionalen Charakter besitzt. Angesichts des daraus resultierenden „Wirklichkeitsverlustes" der Historie stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der vergangenen zur gegenwärtigen Wirklichkeit auf neue Weise. Rüsen beantwortet sie so, dass er die Unterscheidung von Fachwissenschaft, die historisches Wissen erzeugt, und Lebenspraxis, die von Interessen, Orientierungsbedürfnissen und Funktionen der kulturellen Orientierung bestimmt ist, die als Sinnproduktionen nicht hinreichend beschrieben wären, einführt. Ist mithin Deutungsarbeit selbst Teil der gewordenen Wirklichkeit, vollzieht sie zugleich eine „objektive" und eine „subjektive" Geschichte. An dieser Stelle könnte ein Ansatz für den Diskurs zwischen Theologie und Geschichtswissenschaft liegen, die sich gleichermaßen - wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive - auf diese „unvordenkliche Wirklichkeit" beziehen. Der erste Beitrag von Chris Lorenz setzt sich mit den Ansätzen einer narrativen Geschichtsphilosophie bei Hayden White und Frank Ankersmit auseinander. Er indiziert bei beiden Autoren eine ungenügende Reflexion des Verhältnisses von historischer Erzählung und historischer Forschung, die zur

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Folge habe, dass ihr Narrativismus lediglich eine Negation bzw. Umkehrung der positivistischen Geschichtsbetrachtung sei. Die Frage, ob historische Erzählungen mit der Klassifizierung als „metaphorisch" und „fiktional" dann hinreichend erfasst sind, wenn ihnen damit die Möglichkeit, wahrheitsfähige Aussagen zu formulieren, abgesprochen werden soll, wird von Lorenz negativ beantwortet. Sein Hinweis auf Ricoeur deutet dagegen an, in welcher Richtung eine produktive Vermittlung von historischer Erzählung und Wahrheit historischer Aussagen zu suchen wäre. Diese Frage wird in dem zweiten Beitrag weiter verfolgt. Dieser befasst sich mit dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Philosophie. Am Beispiel des deutschen Historikerstreites in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts und in kritischer Wendung gegen die Aufgabe des Wahrheitsanspruchs in der postmodernen Geschichtswissenschaft wird dafür plädiert, am Anspruch des Historikers, von einer wirklichen Vergangenheit zu sprechen, festzuhalten, über die er wahrheitsfähige Aussagen zu formulieren habe - und auch könne. Dazu sei eine philosophische Reflexion der historischen Arbeit (doing history) notwendig. Diese erhellt, dass ein radikaler Skeptizismus dem erkenntnistheoretischen Status von Geschichtsentwürfen nicht gerecht wird, die sich dagegen mit den Konzepten des Fallibilismus und Kontextualismus wesentlich adäquater erfassen ließen. Lorenz plädiert vor diesem Hintergrund fur einen „internen Realismus" als dritten Weg jenseits von Objektivismus und Relativismus. Damit tritt ein weiterer Schwerpunkt des Bandes, nämlich der geschichtsphilosophische, in den Blick. Dieser wird durch die Beiträge von Anton van Niekerk und Michael Moxter vertieft. Van Niekerk betont, dass 'social theories' in zu Naturwissenschaften analoger Weise getestet werden müssten, um sich als wahrheitsfähig zu erweisen. Es gebe keine abstrakte Wirklichkeit „an sich", weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften. Theorien - im Sinne des hier geführten Diskurses ließe sich auch sagen: Deutungen von Wirklichkeit - müssten sich durch die Praxis bewähren und unterlägen deshalb einer 'logic of validation rather than of verification' und seien an der immer schon sprachlich vermittelten Wirklichkeit zu überprüfen. Michael Moxter nimmt - in ähnlicher Weise wie Chris Lorenz - im Anschluss an Hilary Putnam - den Begriff des „internen Realismus" auf, der einen fruchtbaren Weg zwischen metaphysischem Realismus und Antirealismus aufweise. Die Frage, was dies für „Deutungen von Wirklichkeit" bedeutet, wird damit unter das Vorzeichen derjenigen gestellt, was eigentlich die Wirklichkeit sei, die da gedeutet wird. Damit ergibt sich ein Bezug zu den durch Goertz, Rüsen und Lorenz angesprochenen Fragen. Moxter betont, dass der Unterschied zwischen Wirklichkeit und deren Deutung festzuhalten sei und nicht verwischt werden dürfe. Unter Bezugnahme auf Putnam und Habermas plädiert er deshalb fur das Konzept eines „schwachen Realismus", den er auch als „nachmetaphysisch" bezeichnet und der es vermag, am Wirk-

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Jens Schröter

lichkeitsbegriff trotz der Verabschiedung des „naiven Realismus" festzuhalten. Der Beitrag von Bernard Lategan nimmt heutiges Verständnis von Wirklichkeit vor dem Hintergrund gravierender Verschiebungen der Wahrnehmung von Raum und Zeit sowie den Veränderungen, die die 'network society' mit sich gebracht hat, in den Blick. Angesichts dessen sei es nicht länger möglich, von einer Wirklichkeit zu sprechen. In kritischer Auseinandersetzung mit Gerd Theissen wird danach gefragt, was dies für die Interpretation biblischer Texte bedeutet. Lategan fordert, die Orientierung an Bultmanns berühmtem „Dass" aufzugeben, bei der immer noch die Vorstellung einer historischen Realität, die es aufzudecken gelte, im Hintergrund stehe. An deren Stelle sollte, wie Lategan anhand des Deuteronomiums als 'memorial literature' sowie der Rezeption der Abrahamfigur bei Paulus darlegt, das Konzept einer kreativen Erinnerung treten, die an der Deutung der Gegenwart, nicht an der Feststellung eines sicheren Faktums der Vergangenheit, ausgerichtet ist. Werner Kelber lenkt den Blick auf ein vergleichsweise vernachlässigtes Feld: die mediale Vermittlung von Geschichte. Die sich wandelnden Kommunikationsformen - von der überwiegend mündlichen über die schriftliche bis hin zur elektronischen - beeinflussen auch die Weisen, in denen mit der Vergangenheit und deren Zeugnissen umgegangen wird. Die Kommunikationsweisen sind deshalb, wie Kelber in einem weitgespannten Überblick über Geschichte als Kommunikationsgeschichte ausführt, von hermeneutischen Fragen nicht zu trennen. Dass Konstruktion von Geschichte immer auch mit der Entstehung nationaler „Mythen" als „Deutungsmuster, die im historischen Geschehen erfahrene Kontingenz kognitiv zu bewältigen" suchen, einhergeht, wird im Beitrag von Irmgard Wagner deutlich. Sie zeigt, dass Mythen veränderbar sind, neuen geschichtlichen Erfahrungen angepasst werden können und so Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart konstruieren. Auf diese Weise leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Identitätsstiftung, der von der Frage nach der Faktizität der Ereignisse, auf die sich die Mythen beziehen, zu unterscheiden ist. Was dies im Blick auf den 11. September bedeutet, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. Wichtig jedoch ist Wagners Feststellung, dass Mythen nicht nur eine stabilisierende, sondern auch eine kritische Funktion für das Selbstverständnis von Gemeinschaften ausüben können. Georg Essen setzt sich mit Jan Assmanns in dessen Buch „Moses der Ägypter" vorgebrachten Kritik am biblischen Monotheismus sowie seinem Plädoyer fur eine Hinwendung zum sog. „Kosmotheismus" auseinander. Der von Assmann gewiesene Ausweg, die - angebliche - Intoleranz des mosaischen Monotheismus zu umgehen, ist nach Essen keine Lösung, sondern läuft de facto in eine pantheistische Richtung, die sich der Wahrheitsfrage nicht mehr konsequent stellt. Wahrheit sei, gerade wenn sie vor dem Hinter-

Einleitung

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grund des biblischen Zeugnisses verstanden werde, geschichtlich-konkret und eröffne genau deshalb auch die Möglichkeit, Zukunft im Horizont der erfahrenen Befreiungs- und Rettungstaten Gottes zu denken. Die verbleibenden Beiträge befassen sich mit der Frage nach Geschichtskonstruktionen vor dem Hintergrund urchristlicher Deutungen von Geschichte angesichts des Wirkens und Geschicks Jesu Christi. Jens Schröter notiert die bereits in der Antike diskutierte Verhältnisbestimmung von Geschichtsschreibung und Dichtung, die darauf verweist, dass sich beide hinsichtlich ihres Referenzbereiches überschneiden. Vor diesem Hintergrund wird die Entstehung eines eigenen Geschichtsverständnisses im Urchristentum anhand zweier Beispiele in den Blick genommen: der Konstruktion der Geschichte Jesu im Markusevangelium sowie der Paulusrezeption in der Apostelgeschichte anhand der Areopagrede. In beiden Fällen wird deutlich, dass die Rezeptionsvorgänge einerseits Anhalt an tatsächlichen Ereignissen haben, andererseits jedoch erst in der Einbindung in deutende Entwürfe zu ihrem Ziel gelangen. Eckart Reinmuth fragt anhand einer Auslegung von 1 Kor 15 danach, was die Interpretation neutestamentlicher Texte zu einer theologischen Historik beizusteuern habe. Er betont, dass es insbesondere die „eschatologische Qualifikation geschichtlicher Wirklichkeit" sei, die eine am urchristlichen Geschichtsverständnis orientierte Perspektive auf die Geschichte einzubringen habe. Der abschließende Beitrag von Detlev Dormeyer thematisiert die Frage nach dem Beitrag einer an der urchristlichen Wahrnehmung von Geschichte orientierten Perspektive für gegenwärtige Geschichtsschreibung. Der Einsatzpunkt liegt bei der antiken Geschichtsschreibung (Herodot, Thukydides), die sodann zur jüdischen (Josephus) und urchristlichen Historiographie (Lukas) in Beziehung gesetzt wird. Besonderes Augenmerk liegt weiter auf den zur antiken Historiographie gehörigen bzw. ihr nahe verwandten Gattungen der Biographie und Autobiographie. In dieses Spektrum lassen sich auch die Evangelien einordnen, was Dormeyer insbesondere an Lukas zeigt, der sowohl eine biographisch-historische Jesuserzählung als auch die erste historische Monographie christlicher Provenienz verfasst hat. Die Richtungen der pragmatischen sowie der dramatisch-pathetischen Geschichtsschreibung, die sich gleichermaßen auf Herodot zurückführen lassen, indizieren dabei eine Spannung, die sich bis in die Gegenwart hinein feststellen lässt. Die hier vorgelegten Beiträge stellen den Bereich dessen, was wir mit „Wirklichkeit" und „Geschichte" meinen, in den Horizont erkenntnis- und geschichtstheoretischer Reflexionen. Dabei warten sie nicht mit fertigen Konzepten, auch nicht mit einem Konsens auf. Ihr Ziel ist es jedoch, durch die in den einzelnen Beiträgen formulierten Positionen Fragen zu diskutieren und Felder abzustecken, auf denen das Gespräch zukünftig fruchtbar weiterge-

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Jens Schröter

fuhrt werden kann. Dabei lassen sich durchaus Konturen eines gemeinsamen Rahmens erkenntnistheoretischer Prämissen im Umgang mit Wirklichkeit vergangener wie gegenwärtiger - erkennen. Wenn der hier angestoßene Diskurs dazu fuhrt, die interdisziplinäre Diskussion über die angesprochenen Fragen anzuregen bzw. zu intensivieren, hätte er sein Ziel erreicht.

Abschied von „historischer Wirklichkeit". Das Realismusproblem in der Geschichtswissenschaft Hans-Jürgen Goertz „Wirklichkeit" ist ein Begriff, der inflationär gebraucht wird. Niemand hat darauf eindringlicher hingewiesen als der Literaturwissenschaftler Johannes Kleinstück in seiner Abhandlung zur Kritik eines modernen Sprachgebrauchs (1971): „Auch Literaturhistoriker sollten sich überlegen, was sie schreiben, und selbst sie sollten beim Umgang mit der Wirklichkeit Vorsicht walten lassen."1 Für Allgemeinhistoriker gilt das erst recht. Kleinstück mahnt nicht nur zur Vorsicht, sondern kommt auch, nachdem er eine Stilblüte oder Unachtsamkeit aus Feuilleton, Wissenschaft und Literatur an die andere gereiht hat, zu dem Schluss: „die Wörter 'Realität' und 'Wirklichkeit' klingen uns so schön, dass wir in seliger Gedankenlosigkeit mit ihnen Gaukelspiele treiben". 2 Sie erzeugen „nur den Schein des Begreifens" und vernebeln das Denken.3 Der Wirklichkeitsbegriff kann Verschiedenes meinen. Das lässt sich mit zahlreichen Beobachtungen an der Alltags- und Wissenschaftssprache belegen, auch an der Sprache der Literaten. Auf diese Belege muss hier aber verzichtet werden, nur auf einen Aspekt, der fur die Geschichtswissenschaft besonders interessant sein dürfte, soll noch hingewiesen werden, auf die Beziehung nämlich zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit: „Die Wirklichkeit des Verwirklichten wird nicht nur durch die ihm vorausgehende, es voraussetzende und bedingende Möglichkeit relativiert, sondern auch durch die Möglichkeit der Veränderung, die sich ihrerseits unausgesetzt verwirklicht. Wenn ich sage, die Mauer steht, dann drücke ich mich zwar verständlich, aber nur sehr unvollkommen aus; sie ist nämlich in einem ständigen Prozess des Wandels begriffen, sie bewegt sich — sie verwittert, bröckelt ab, zerfallt; sie hat niemals gestanden, auch nicht in dem Augenblick, als der Maurer sie für fertig erklärte; sie war niemals so verwirklicht, wie sie sein sollte, sondern strebte immer schon dem Haufen Geröll zu, als der sie eines Tages daliegen wird, und von dem es eines Tages heißt, dass er eine Mauer war." 4

1 2 3 4

J. Kleinstück, Wirklichkeit und Realität. Kritik eines modernen Sprachgebrauchs, Stuttgart 1971, 19. A.a.O., 40. A.a.O., 61. A.a.O., 83.

2

Hans-Jürgen Goertz

Noch einmal: Der Wirklichkeitsbegriff changiert; er ist nicht eindeutig, sondern vieldeutig. Er ist von geradezu vagabundierender Heterogenität, mehr noch: Er bringt nicht zum Ausdruck, was er zu erfassen vorgibt.

1. Den Historiker muss das auf den ersten Blick nicht berühren. Für ihn ist „Wirklichkeit" kein geschichtlicher Grundbegriff-jedenfalls nicht, wenn wir in den Geschichtlichen Grundbegriffen von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck nachschlagen. Dort findet sich weder ein Artikel zu „Wirklichkeit" noch zu „Realität". Auch in geschichtstheoretischen Abhandlungen taucht dieser Begriff, sieht man die Sachregister durch, nicht oft auf, so dass sich der Eindruck von einem inflationären Gebrauch dieses Begriffs nicht bestätigt. Also stellt sich die Frage, warum der Wirklichkeitsbegriff der Historiker überhaupt zu einem Thema gemacht wird. Die Antwort möchte ich als These formulieren: Entgegen allem Anschein ist der Begriff der Wirklichkeit, genauer der historischen Wirklichkeit, für die Geschichtswissenschaft von fundamentaler Bedeutung. „Historische Wirklichkeit" ist ein Sammelbegriff dessen, was untersucht wird und worauf die Arbeit, die in der Geschichtswissenschaft geleistet wird, hinausläuft: die Komplexität einer vergangenen Situation, Begebenheit oder eines Sachverhalts, die Intensität und Dichte der historischen Zusammenhänge. Wirklichkeit ist das Kürzel für alles, worauf der Historiker sich bezieht, wenn er Vergangenes erforscht und beschreibt. „Wirklichkeit" ist nicht nur der Gegenstand, der untersucht wird, sondern auch der Gegenstand, nach dem sich die Methoden richten, die angewandt werden, um Licht in das Dunkel des Vergangenen zu bringen. Der „historischen Realität" bzw. der „vergangene(n) Wirklichkeit" auf ihr gemäße Weise nahe zu kommen, ist das unumstößliche Ziel „wissenschaftlich gereinigter Erkenntnis" , wie sie sich vom „traditionellen Geschichtsbewusstsein" absetzt. So hat sich Hans-Ulrich Wehler in programmatischem Ton vor Jahr und Tag geäußert.6 Wie im Historismus von einem approximativen Wahrheits- und Objektivitätsverständnis die Rede war, dem sich der Historiker verpflichtet wusste, geht es in der historischen Sozialwissenschaft, wie sie von Wehler konzipiert wurde, um ein approximatives Wirklichkeitsverständnis. Je näher der Historiker der historischen Wirklichkeit kommt, umso überzeugender sind offensichtlich die Ergebnisse seiner

5 6

O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972-1994. H.-U. Wehler, Geschichtsbewusstsein in Deutschland. Entstehung, Funktion, Ideologie, in: ders. (Hg.), Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, 18.

Abschied von „historischer Wirklichkeit"

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Arbeit. „Historische Wirklichkeit" ist der letzte Trumpf, der ausgespielt wird, wenn es gilt, die Seriosität der eigenen Wissenschaftlichkeit unter Beweis zu stellen. Für Wehler ist die historische Wirklichkeit das Vorgegebene, auf das der Historiker sich bezieht, das er zu erfassen und darzustellen versucht. Sie ist nicht der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse, wohl aber ihr Gegenstand und Ziel. Wenn es allgemein heißt, dass der Historiker auf der Suche nach der historischen Wahrheit sei, die mit Hilfe einer Analyse und Interpretation der Quellen gefunden werden könne, dann ist immer gemeint: Auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit. Wahrheit ist die Übereinstimmung der Aussage des Historikers mit der historischen Wirklichkeit. So verschmelzen Erkenntnistheorie und Ontologie miteinander. Es stellt sich die Aufgabe zu erkennen, was war, wie umgekehrt das, was war, dem Historiker fordernd nahe legt, wie es zu erkennen sei. Deshalb kann es kaum erstaunen, dass Frank Ankersmit keine grundsätzliche Differenz zwischen der Geschichtsschreibung, die sich dem Historismus verpflichtet weiß, und der historischen Sozialwissenschaft zu sehen vermag, obwohl diese einst angetreten war, die epistemologischen und konzeptionellen Grundlagen der historistisch geprägten Geschichtswissenschaft zu überwinden. 7 Wehler denkt immer noch in den Bahnen eines erkenntnistheoretischen Realismus, dem es darum geht, mit allen uns zur Verfugung stehenden Erkenntnismitteln und sozialwissenschaftlich geschliffenen Erklärungsmodellen ein getreues, wenn auch perspektivisch in den Blick genommenes Bild von der Wirklichkeit zu zeichnen. Dabei konzentriert sich Wehler auf die gesellschaftlichen Strukturen, die das Handeln der Menschen einst bestimmten. Sie konstituieren die Wirklichkeit, die er sucht. Das sind nicht Strukturen, die nachträglich der Vergangenheit eingezogen werden, um ihr chaotisches Erscheinungsbild zu ordnen und erkennbar zu machen, wie Max Weber in neukantianischer Manier meinte, sondern Strukturen, die ihr immanent sind. Wehler folgt hier nicht Weber, der ansonsten sein Lehrmeister ist. Wie Thomas Mergel und Thomas Welskopp, die gerade dabei sind, sich von ihren Vätern der Sozialgeschichte zu verabschieden, kritisch bemerkten, vertritt Wehler vielmehr einen „Strukturrealismus", der einem positivistisch orientierten Historismus, den er doch überwinden wollte, nachempfunden ist.8 In der allgemeinen, nicht fachphilosophisch geführten Diskussion um das Realismusverständnis kann zwischen einem naiven, positivistisch orientierten und einem reflektierten Realismus unterschieden werden, der neben dem Gegenstand, der gegeben ist, auch die Bedingungen berücksichtigt, unter denen eine Erkenntnis dieses Gegenstandes überhaupt erst möglich ist. Wehler ließe 7 8

F.R. Ankersmit, History and Tropology. The Rise and Fall of Metaphor, Berkeley/Los Angeles/London 1994, 175. T. Mergel/T. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, 23.

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sich, in bonam partem interpretiert, dem reflektierten Realismus zuordnen. Dieser Realismus verfolgt die Strategie, Vergangenes zu rekonstruieren, der naive Realismus hingegen, Vergangenes mimetisch zu reproduzieren. In beiden Realismuskonzepten wird aber letztlich eine Trennung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt vorgenommen: das eine Mal sozusagen im Gegenstandsbereich, dann spricht man davon, dass etwas sich „realhistorisch" vollzogen habe, das andere Mal im Bewusstsein, in der Einbildungskraft oder in analytischen Erkenntnisoperationen. Für die reflektierte Betrachtungsweise steht die Beteuerung Wehlers, dass auch er in der Gefolgschaft Max Webers konstruktivistisch arbeite. 9 Allerdings favorisiert er keinen erkenntnistheoretischen, sondern nur einen methodischen Konstruktivismus. Er konstruiert ein Analyseinstrumentarium, mit dessen Hilfe er „historische Wirklichkeit" rekonstruiert. Der methodische Konstruktivismus wird eingesetzt, um die „Macht der realhistorischen Konstellationen" zu erfassen. 10 Das Ergebnis ist also kein Konstrukt, wie im erkenntnistheoretischen Konstruktivismus, sondern die Rekonstruktion der vergangenen Wirklichkeit. Wehler denkt in der Tradition eines erkenntnistheoretischen Realismuskonzepts. Deutlicher als Wehler spricht Jörn Rüsen davon, dass sich die Konstruktivität historischer Arbeit auf die Begrifflichkeit des Historikers bezieht und nicht auf das Ergebnis der Analyse oder Interpretation des historischen Sachverhalts: „Die historische Begriffsbildung wird der Direktive unterworfen, nach deutlichen Gesichtspunkten der Bedeutungsverleihung in Distanz zu den Quellen konstruktiv zu verfahren." 11 Das Ergebnis ist jedoch nicht Konstruktion, sondern mit konstruierten Erkenntniswerkzeugen erreichte „Rekonstruktion der Vergangenheit", wie der zweite Band seiner Grundzüge der Historik heißt, aus dem eben zitiert wurde. Meint aber „Rekonstruktion" nicht, dass etwas Gewesenes mit den Mitteln unserer Zeit nachgebaut wird, sich also nach dem Aufbauplan von einst zu richten hat? Doch gerade diesen Aufbauplan zu erkennen, wäre nach neuerer Einsicht schon ein konstruktiver Akt. Rekonstruktion kommt dem Abbildcharakter historischer Darstellung im

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H.-U. Wehler, Kommentar, in: T. Mergel/T. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft (s. Anm. 8), 364. 10 H.-U. Wehler, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts, 1945 - 2000, Göttingen 2001, 72. — Eine andere Konsequenz aus Webers Nähe zum Neukantianismus zog Ernst Troeltsch: „Die Zergliederung und Zusammenschau des wesentlichen geistigen Gehaltes einer Epoche ist diejenige Aufgabe, in der die kritische Tatsachenforschung des Historikers und die konstruktive (!) Phantasie des Philosophen zusammentreffen, wo der Historiker zum Philosophen und der Philosoph zum Historiker werden muss. Für den Historiker ist es der Abschluss und Höhepunkt (!) seiner die großen geschichtlichen Gebilde ergründenden Forschung, fur den Philosophen ist es die Grundlage und Voraussetzung seiner Bildung von Normen und Werturteilen" (Ernst Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, in: Preußische Jahrbücher 128, 1907, 1). Troeltsch hat die Konstrukt i v s t der historischen Aussage nicht auf die Methode beschränkt. 11 J. Rüsen, Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986 , 84ff.

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Geiste des Historismus immer noch sehr nahe, Konstruktion folgt einer anderen Epistemologie. Auch in seinem neueren Sammelband zu Geschichte im Kulturprozeß (2002), in dem er mit viel Verständnis auf die Diskussion um den linguistic turn eingeht, lehnt er doch den konstruktiven Charakter der Geschichtsschreibung ab. 12 Selbst Lucian Hölscher, der von der Konstruktivität historischer Ereignisse überzeugt ist, vermag nicht auf die „historische Wirklichkeit" zu verzichten. Sie ist der „erkenntnisleitende Fluchtpunkt", der sicherstellen soll, dass sich „verschiedene Geschichtserzählungen auf dieselbe geschichtliche Realität beziehen lassen, um überhaupt wahrheitsfähig im Sinne der historiographischen Forschung zu sein." 13 Im Grunde weicht Hölscher dem Problem aus, das sich mit der historischen Referentialität heute stellt.

2. Wer sich um die „vergangene Wirklichkeit" bemüht, stößt auf Schwierigkeiten. Welche Wirklichkeit ist gemeint? Ist es diejenige, welche die historischen Akteure als ihre Wirklichkeit wahrnahmen, oder ist es die Wirklichkeit, die diese Akteure bestimmte, von ihnen selber aber nur bedingt durchschaut bzw. wahrgenommen wurde? Wenn wir davon ausgehen müssen, dass die „vergangene Wirklichkeit" nur aus erfahrungsgespeisten Äußerungen über wirklichkeitsrelevante Sachverhalte erhoben werden kann, dürfte es trotz aller Anstrengung nicht möglich sein, den subjektiven Faktor auszuschalten. Selbst bei seriell produzierten Quellenbeständen ist das nicht möglich. Ein objektiver Tatbestand, sollte er überhaupt erfasst werden können, dürfte nur über die subjektiv entworfenen und abgefassten Dokumente erreichbar sein. Die Wirklichkeit, die erreicht werden könnte, wäre nur eine von Überlieferung zu Überlieferung „fortlaufende Deformation" der ursprünglichen Wirklichkeit, wie Paul Valéry, ein Vorbote der Postmoderne, meinte. 14 Was zu einer Zeit wirklich war, sagt nicht das eine oder andere Dokument, sondern wird erst als Ergebnis dieser Dokumente und ihrer weiteren Verarbeitung entstehen - ganz im Sinne einer Diskurstheorie, die nicht darauf abzielt zu erfassen, was ist, sondern was entstehen wird. Der Historiker muss, ob er will oder nicht, den Wirklichkeitsstand verpassen, den zu erfassen er sich vorgenommen hat.

12 J. Rüsen, Geschichte im Kulturprozeß, Köln/Weimar/Berlin 2002, 1 (Vorwort). 13 L. Hölscher, N e u e Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, 30. 14 Michel Jarrety, Écritures der Geschichte, in: K.A. Blüher/J. Schmidt-Radefeldt (Hg.), Forschungen zu Paul Valéry (Recherches Valéryennes 13), Kiel 2000, 13.

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Dieses Argument wird von einem anderen ergänzt. Was „Wirklichkeit" ist, kann ein Diskurspartner in einer bestimmten Situation überhaupt nicht wissen, denn der Zeitraum, der als Wirklichkeit gefasst wird und wie eine Erzählung einen Anfang und ein Ende hat, ist in dem Moment, in dem eine diskursive Aussage über die Wirklichkeit gemacht wird, noch nicht abgeschlossen. Eine Aussage eines Diskurspartners über die Wirklichkeit, in der er steht, lässt sich nur post fest erfassen. Und genau das tut der Historiker. Er weiß mehr, als in den vom Diskurspartner hergestellten Texten oder Dokumenten steht. Ist es dann aber noch sinnvoll, davon zu sprechen, dass etwas „wirklich" war - in dem Sinne, dass eine wahre bzw. verbindliche Aussage über einen vergangenen Sachverhalt gemacht wird? Es ist, genau betrachtet, nur eine Aussage über einen Sachverhalt möglich, die nicht eine Aussage über eine „historische" Wirklichkeit, sondern allenfalls über eine „geschichtliche" Wirklichkeit ist, d. h. über einen Zusammenhang zwischen dem, was sich einst zutrug, und demjenigen, der sich die Aufgabe stellt, zu erforschen und darzustellen, was sich einst zutrug. Das ist eine Aussage über die Beziehung, in der ein Berichterstatter zum Berichtsinhalt oder ein Historiker zum Untersuchungsgegenstand steht, d. h. eine Aussage über das Problem, das die Vergangenheit, die es zu erforschen gilt, ihm bereitet. So ist es sinnvoll, davon zu sprechen, dass die Geschichtswissenschaft im Grunde keinen Gegenstand, sondern, wie Otto Vossler meinte, nur Probleme habe, die zu bearbeiten sind, letztlich nicht Probleme, sondern das Problem, das Vergangenheit fur uns ist.15 Es geht also um die Beziehung zwischen einer Vergangenheit und dem, der sie befragt. Wirklichkeit existiert im Zeitmodus der Gegenwart. Ist es dann überhaupt angebracht, auf dem Begriff der „historischen" Wirklichkeit zu bestehen? Was vergangen ist, ist nicht wirklich, wie es stricte dictu keinen Sinn macht, von einer zukünftigen Wirklichkeit zu sprechen. Niemand weiß, was das sein könnte. So macht es auch keinen Sinn, vergangene Wirklichkeit zum eigentlichen Erkenntnisgegenstand bzw. Referenten des Historikers zu erklären, zum Garanten dafür, dass zwischen Fakten und Fiktionen unterschieden werden könne. Vorweggenommen hat diesen Gedanken schon Paul Valéry. Über ihn schreibt Michel Jarrety in seiner Abhandlung Valéry devant la littérature: „Valéry sieht keinen Unterschied zwischen der Vergangenheit und dem Diskurs über die Vergangenheit, da in seinen Augen die vergangene Wirklichkeit keine Wirklichkeit mehr ist, sondern nur noch eine écriture, die das seltsame Vermögen besitzt, etwas bezeichnen zu können, was nicht mehr existiert."16

15 O. Vossler, Geschichte als Sinn, Frankfurt a.M. 1983, 28; vgl. auch H.-J. Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einfuhrung in die Geschichtstheorie, Reinbek b. Hamburg 1995, 80 - 94: „Wissenschaft ohne Gegenstand". 16 M. Jarrety, Écritures (s. Anm. 14), 8.

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„Historische Wirklichkeit" wäre nicht-wirkliche Wirklichkeit — ein Nonsens-Begriff. Ähnlich hat Reinhart Koselleck die Schwierigkeit beschrieben, vor der wir stehen, wenn es gilt, die vergangene Wirklichkeit zu erfassen. Diese Schwierigkeit liegt seiner Meinung nach in dem Paradox, dass das neuzeitliche Geschichtsverständnis sowohl das Geschehen, wie es sich einst zutrug, als auch die Deutung dieses Geschehens meint. Es ist das Paradox, „daß eine Geschichte, die sich im Verlauf der Zeit erst generiert, immer noch eine andere ist als jene, die rückwirkend zu einer Geschichte erklärt wird". 17 Die „wirkliche" Geschichte ist immer noch im Entstehen begriffen, während die wissenschaftlich zu deutende sozusagen „stillgelegt" wird, um überhaupt erfasst werden zu können. Da die Deutung sich mit dem Ereignis verbindet, geht die „erzählte Historie" in der „wirklichen" Geschichte auf. Eine Wirklichkeit außerhalb ihres gedeuteten Zustands ist nicht erfassbar. Wirklichkeit lässt sich nur erfassen, sofern erfassbar ist, dass ich mich dabei beobachte, wie ich etwas Vergangenes beobachte. Und dieses Sich-Selbst-Beobachten, Niklas Luhmann spricht von „Selbstreferenz" 18 , geschieht vor dem Horizont des noch Uneingelösten. Was Geschichte wirklich ist, lässt sich erst an ihrem Ende sagen — noch nicht. Das Paradox, von dem Koselleck spricht, ist nicht aufzulösen. Die res gestae sind immer schon die historia rerum gestarum in einem noch nicht abgeschlossenen Sinn. Beide voneinander zu trennen, ist nicht möglich. Der Historiker muss mit dem Paradox leben, dass er die Geschichte erforscht, der er in Gegenwart und Zukunft selber angehört, nicht die Geschichte, die von ihm absieht, die Geschichte an sich. Das ist der eigentliche Grund, warum er die „historische Wirklichkeit", in der von ihm abgesehen wird, tatsächlich immer schon verpasst. Um es paradox auszudrücken: Er kommt zu spät, weil er sie zu früh erforscht.

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Die geschilderte Schwierigkeit, „historische Wirklichkeit" in den Blick zu bekommen, deutet an, wie problematisch es geworden ist, sich als Historiker noch einem traditionellen Realismus verbunden zu fühlen. Ein solches Realismusverständnis ist in Philosophie, Soziologie, Linguistik und Kunst beispielsweise längst kritisiert, zerrüttet oder aufgegeben worden. Von den Realismuskonzepten des 19. Jahrhunderts bzw. einer Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt hatten sich die Phänomenologie Edmund 17 R. Koselleck, V o m Sinn und Unsinn der Geschichte, in: K..E. Miiller/J. Riisen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek b. Hamburg 1997, 88. 18 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, 6 4 u.ö.

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Husserls oder die Ontologie Martin Heideggers, schließlich auch Wahrheit und Methode Hans-Georg Gadamers getrennt und die Frage nach der Wirklichkeitserkenntnis in ein neues Licht gerückt. Auf andere Weise, aber mit ähnlichem Ergebnis gilt das auch für Ernst Blochs Ontologie des „Noch nicht". Spätestens mit dieser philosophischen Neuorientierung hätte die Geschichtswissenschaft ihre theoretische und methodische Erkenntnisgrundlage kritisch überprüfen müssen. Doch das ist nicht geschehen; sie blieb hinter der neueren wissenschaftstheoretischen Entwicklung zurück. Als Beispiel für die bildende Kunst mag der Expressionismus gelten, der mit dem Abmalen der Natur gebrochen hat. Bereits die Vorläufer der vielfältigen Ausdrucksformen der so genannten Moderne in der Malerei haben sich vom traditionellen Realismus verabschiedet und die Weichen für einen avantgardistischen Aufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestellt. Einen solchen Abschied hat Vincent van Gogh beispielsweise in einem Brief an seinen Bruder 1885 formuliert: „Angenommen, ich muß eine Herbstlandschaft malen, Bäume mit gelben Blättern. - Gut was kommt es denn schon darauf an, falls ich sie als - eine Symphonie in Gelb auffasse, ob meine gelbe Grundfarbe dasselbe Gelb der Blätter hat oder nicht - darauf kommt es nur wenig an. Vieles, alles kommt auf mein Gefühl für die unendliche Verschiedenheit von Tönen aus derselben Familie an. - Wenn Du dies fiir eine gefährliche Neigung zur Romantik hältst, für eine Untreue gegenüber dem „Realismus", ein - peindre de chic - fur eine größere Liebe zur Palette des Koloristen als zur Natur, nun, que soit."

Und weiter unten erläutert er seinen Gedanken noch einmal in großen Buchstaben: „FARBE DRÜCKT AUS SICH SELBST HERAUS ETWAS AUS; das kann man nicht entbehren, davon muss man Gebrauch machen. Was schön wirkt, wirklich schön - ist auch richtig."19 Auf die Landschaft, auf Natur und Wirklichkeit wird nicht verzichtet. Die Wirklichkeit, so scharf sie beobachtet werden muss, wird aber nicht abgebildet, sondern neu geschaffen. So wurden die Weichen für eine Kunst gestellt, in der Gegenstände verfremdet, Gesichter stilisiert und Landschaften zu amorpher Farblichkeit umgestaltet wurden. Es folgten bald Konzepte des Surrealismus, in dem Gegenstände, aus ihren Zusammenhängen gelöst, dabei waren sich aufzulösen, oder wie in der gegenstandslosen Kunst vollends verschwinden. 20 Von diesem Antirealismus, der sich oft aber als ganz realistischer Ausdruck seiner Zeit verstand, haben sich Historiker nicht anregen lassen. Sie haben sich solche Bilder nicht einmal als eine Herausforderung an ihren mimetischen Realismus angeschaut, wenn sie sich überhaupt angesehen haben, was in Ausstellungen der Avantgarde präsentiert wurde. Um niemandem zu nahe zu treten: Mit dem

19 Vincent van Gogh, Briefe, ausgew. und hgg. von C. Captijn-Müller/W. Jung, Stuttgart 2001, 186f. 20 Zum Wirklichkeitsverständnis in der modernen Malerei siehe die diversen Stellen bei: U. M. Schneede, Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001.

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Begriff der .entarteten Kunst' konnten sie wohl mehr anfangen als mit dieser Kunst selbst. Eine zeitgenössische, nicht weniger nachdenkenswerte Variante hat der spanische Maler Antoni Tàpies formuliert: „Den Fanatikern des Realismus habe ich oft gesagt, daß es die Realität in der Malerei nicht gibt; sie existiert einzig und allein im Kopf des Betrachters. Kunst ist ein Zeichen, ein Ding, das die Realität in unserer geistigen Vorstellung wachruft. So sehe ich auch keinen Gegensatz zwischen Abstraktion und Figuration, solange sie jene Idee von Wirklichkeit in uns evozieren. Die Realität, die das Auge uns zeigt, ist nur ein armseliger Schatten der Wirklichkeit." 21

Der Ort, an dem Wirklichkeit Gestalt annimmt, ist nicht das Kunstwerk, sondern der Betrachter - mit Hilfe des Kunstwerkes, aber außerhalb desselben. Genaugenommen wird das Kunstwerk aber vom Betrachter sogar fortgeführt, so dass es diesen mit einschließt, seine Kreativität stimuliert und auch ihn zum Künstler macht. Nicht die Realität, sondern allein die Vorstellung von Realität, die aus der Abwesenheit von Realität entsteht, kommt in der Partizipation des Betrachters am Werk des Künstlers zum Zuge - in geradezu vagabundierender Vielfältigkeit. Mit diesen Argumenten, die sich an einfachen Überlegungen zu den Schwierigkeiten orientieren, den .Gegenstand' der Geschichtswissenschaft zu finden, sind wir an die Grenze dessen gestoßen, was Historiker zumeist zu akzeptieren bereit sind. Die Schwierigkeiten mimetischer Reproduktion historischer Wirklichkeit werden zwar oft gesehen, auch wird mit ihnen auf reflektierte Weise umgegangen, doch der Schrecken, den der so genannte linguistic turn ausgelöst hat, ist zu groß, als dass man bereit wäre, die Erkennbarkeit der historischen Wirklichkeit ganz aufzugeben. Typisch ist das Argument, das Georg G. Iggers ins Feld gefuhrt hat: „Die zunehmende Bedeutung der Rolle der Sprache und damit verbunden, der semiotischen Aufgabe der Geschichtsschreibung bedeutet, daß die Vorstellungen von historischer Wirklichkeit und von menschlicher Intentionalität viel komplexer werden, nicht aber, daß sie abhanden kommen." 2 2

Gegen die .postmoderne Theorie' gewandt, schreibt er: „Sie schoß über ihr Ziel in dem Moment hinaus, als sie nicht nur zeigte, wie schwierig es ist, die Wirklichkeit mit all ihren Widersprüchen zu verstehen, sondern radikal verneinte, daß es überhaupt eine Wirklichkeit gebe. Die Geschichtswissenschaft ist durch sie zu größerer Um-

21 A. Tàpies, Die Praxis der Kunst, St. Gallen 3 1997, 33. Vgl. auch A. Sommer, „Den Geist in Schwingungen versetzen". Zum Verhältnis von Betrachter und Bild im Werk von Antoni Tàpies, in: A. Sommer/A. Franzke (Hg.), Tàpies - Werke auf Papier 1943-2003, Kunsthalle Emden, Emden 2003, 23-31. 22 G.G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. 2., durchges. Aufl. mit einem Nachwort, Göttingen 1996,94.

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sieht gezwungen worden. Sie braucht aber nicht ihren Anspruch aufzugeben, daß sie wirkliches Leben, wie perspektivisch auch immer, rekonstruiert." 3

Stimmt es eigentlich, dass die Wirklichkeit im neueren Denken preisgegeben wurde, die historische Referentialität sich also auflöst, oder erfährt sie vielleicht nicht doch nur eine andere Deutung? Dieser Frage bin ich in meiner Unsicheren Geschichte an den Arbeiten Hayden Whites und Frank Ankersmits, Michel Foucaults und der Radikalen Konstruktivisten nachgegangen. 24 Jetzt nur ganz kurz: Hayden White hat in Metahistory und in nachfolgenden Aufsätzen deutlich gemacht, dass eine Aussage, die es verdient, eine historische Aussage genannt zu werden, nur eine Aussage sein kann, die Rechenschaft über Sinn und Bedeutung eines vergangenen Vorgangs abzulegen weiß. Und das geschieht in der Form einer Erzählung, die sich an den uns möglichen Redeweisen (Tropen) orientiert.25 Alles andere, etwa eine Aussage über Tatsächlichkeit, wäre noch keine historische Aussage. So unterscheidet Ankersmit etwa zwischen einem .statement' und einer Erzählung. 26 Dass beide aber von der Faktizität des Geschehenen ausgehen, darüber kann es keinen Zweifel geben. Der Historiker weiß, wie Otto Vossler schreibt, zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm Meister zu unterscheiden. Der eine hat tatsächlich gelebt, der andere ist eine Gestalt der Fiktion. 27 So sehr die Erzählung ein fiktionales Werk ist, heißt das noch nicht, dass jede historische Erzählung nichts als Fiktion sei, also jeder Faktizität entbehre. Die Verwendung fiktionaler Mittel dient der Erkenntnis dessen, was sich zutrug. Mehr ist damit nicht gemeint. Ein wenig anders steht es mit der Diskurstheorie, die Michel Foucault entwickelt hat. Um es auch hier nur kurz und bündig zu sagen: .Wirklichkeit' ist bei Foucault nicht das bereits Vorhandene bzw. Gegebene, auf das der Historiker sich beziehen könnte. Sie entsteht vielmehr dort, wo Diskurse gefuhrt und wo um die Kontrolle der Diskurse gerungen wird, auch um die Kontrolle von Beziehungen, in denen Subjekte, die sich in diesen Beziehungen konstituieren, miteinander um die Macht ringen, die Wirklichkeit zu gestalten. Darüber hat sich Foucault ausfuhrlich in seiner Ordnung des Diskurses geäußert und dieses Konzept verschiedentlich weiterentwickelt. 28 In der Diskursanalyse fällt das Augenmerk nicht auf individuelle Äußerungen, Ein23 A.a.O., 95f. 24 H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. 25 H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1994. — Ders., Auch Klio dichtet. Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986. - Ders., Die Bedeutung der Form. Erzähl strukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1990. 26 F. Ankersmit, History and Tropology (s. Anm. 7), 38 u.ö. - Vgl. dazu H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte (s. Anm. 24), 32-52. 27 O. Vossler, Geschichte als Sinn (s. Anm. 15), 80. 28 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991.

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fälle und Meinungen, sondern auf allgemeine, den Autoren zumeist nicht bewusste Regeln, die allem Geäußerten (positivistisch gesprochen) zugrunde liegen und angeben, was zu einer bestimmten Zeit zu denken und zu sagen möglich ist. Sie schaffen auch die Voraussetzung dafür, Wirklichkeit zu erfassen und zu verändern. Diskurse nehmen an Wirklichkeit teil, die nur in sprachlich-diskursiver Form erkennbar ist, und sie schaffen Wirklichkeit. Das geschieht nicht in zwei Akten, sondern in ein und demselben Akt. Das aber heißt: Die .Wirklichkeit' kann im Diskurs nicht unmittelbar zur Sprache gebracht werden, denn sie ist noch nicht auf der Höhe der Zeit. Erst in einem langwierigen, machtorientierten Diskurs, in dem nicht nur gesprochen, sondern auch im Kontext von Institutionen gehandelt wird, „gewinnt das Wirkliche Form für jene, die versuchen, es zu denken und zu lenken: zugleich aber konstituieren sie sich selbst dabei als Subjekte, die in der Lage sind, das Wirkliche zu erkennen, zu analysieren und gegebenenfalls zu verändern. Dies sind die >Praktiken € S U

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Operatives Geschichtsbewusstsein

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Fungierendes Geschichtsbewusstsein

Hinsichten der Deutung (Theorien, Perspektiven, Kategorien)

1 : semantische Strategie der Symbolisierung 2: kognitive Strategie der Erzeugung historischen Wissens 3: ästhetische Strategie der historischen Repräsentation 4: rhetorische Strategie des Angebots historischer Orientierung 5: politische Strategie der kollektiven Erinnerung Schema der disziplinaren Matrix der Geschichtswissenschaft

14 Darüber zuletzt J. Riisen, Disziplinare Matrix, in: S. Jordan, (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, 61-64. Im folgenden wird dieses Strukturschema ergänzt und erweitert.

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Geschichtliches Denken wird durch fünf Faktoren konstituiert: Erkenntnisinteressen, die aus Orientierungsbedürfnissen der menschlichen Lebenspraxis angesichts der Erfahrung zeitlicher Veränderungen entstehen; Deutungshinsichten auf die Erfahrung zeitlicher Veränderungen in der Vergangenheit; im Rahmen dieser Deutungshinsichten gewinnt die Vergangenheit den Charakter einer für die Gegenwart bedeutungsvollen Geschichte; Regeln, nach denen die Erfahrung der Vergangenheit in die bedeutungsverleihende Perspektive der Gegenwart eingearbeitet werden; Formen der Repräsentation, in denen die in die deutungsverleihende Perspektive eingearbeitete Erfahrung der Vergangenheit lebendig dargestellt wird; Funktionen der kulturellen Orientierung in der Form einer zeitlichen Richtung der menschlichen Lebenspraxis und des menschlichen Selbstverhältnisses (Identität). Die fünf Faktoren können sich natürlich im Laufe der Zeit verändern, aber ihr Verhältnis, ihr systematischer Zusammenhang, in dem sie wechselseitig voneinander abhängen, bleibt der gleiche. Dieser systematische Zusammenhang regelt sich nach einem übergeordneten Kriterium, das für seine Kohärenz sorgt. Dieses entscheidende Kriterium kann als ,historischer Sinn' identifiziert und ausgelegt werden. 15 Es entscheidet darüber, was und wie von der Erfahrung der zeitlichen Veränderung in der Vergangenheit Sinn und Bedeutung für die kulturelle Orientierung der menschlichen Lebenspraxis in der Gegenwart gewinnt und in eine handlungsleitende Zukunftsperspektive hinein ausgearbeitet werden kann und muß. Das Relationsgefüge der fünf Faktoren läßt sich schematisch auf fünf Strategien der historischen Sinnbildung hin konzeptualisieren und ausdifferenzieren: Im Verhältnis zwischen Interessen und Hinsichten entfaltet sich die semantische Strategie der historischen Symbolisierung; diese Strategie gibt dem historischen Denken grundsätzlich Sinn und Bedeutung für das menschliche Handeln und Leiden. Hier werden die Sinnkriterien entwickelt, die über Eigenart und Funktion des historischen Denkens, über seine konkrete Ausgestaltung in dem ihm vorgegebenen kulturellen Kontext entscheiden. Hier wird konzipiert, was .Geschichte' ist. Im Verhältnis zwischen Hinsichten und Methoden entfaltet sich die kognitive Strategie der Erzeugung historischen Wissens; diese Strategie kann unter bestimmten Bedingungen der Modernität den .wissenschaftlichen' (akademisch-disziplinären) Charakter des historischen Denkens ausmachen, der auf dem Methodenarsenal der historischen Forschung beruht. Im Verhältnis zwischen Methoden und Formen der Repräsentation entfaltet sich die ästhetische Strategie der historischen Repräsentation; hier gewinnt das aus der Erfahrung gewonnene historische Wissen eine Form, in der es ein Element der kulturellen Kommunikation über die zeitliche Dimension 15 Vgl. dazu J. Rüsen, Geschichte als Sinnproblem, in: ders., Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln 2001, 7-42.

Fiktionalität und Faktizität der Geschichte

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des menschlichen Lebens wird. Das Wissen über die Vergangenheit gewinnt die Züge des gegenwärtigen Lebens; es wird mit dessen Kräften ausgestattet, mit denen das menschliche Bewußtsein die Lebenspraxis bewegt. Im Verhältnis zwischen den Formen der Repräsentation und den Funktionen der kulturellen Orientierung entfaltet sich die rhetorische Strategie der Adressierung historischen Wissens und historischer Deutung an die Lebenspraxis. Sie wird zur Waffe für den politischen Machtkampf geschmiedet. Im Verhältnis zwischen den Funktionen der kulturellen Orientierung und dem Interesse an der Deutung der Vergangenheit als Geschichte entfaltet sich die politische Strategie der kollektiven Erinnerung. Hier wird das Werk der Historiker in den Kampf um Macht und Anerkennung des gesellschaftlichen Lebens einbezogen; hier fungiert es als Mittel der Legitimierung oder Delegitimierung aller Formen von Macht und Herrschaft; und hier wirkt es als Medium kollektiver und individueller Identitätsbildung. Im Lichte dieses strukturanalytischen Modells wird deutlich, daß die These vom konstruktiven Charakter der für das historische Denken maßgebenden Sinnkriterien nur eine Dimension dieses Denkens betrifft, eine andere aber ausblendet. Das läßt sich an der schematischen Unterscheidung zwischen Lebenspraxis und Fachwissenschaft aufweisen. Interessen und Funktionen sind Vollzugsweisen realer menschlicher Lebenspraxis und lassen sich nicht als Sinnproduktionen der menschlichen Subjektivität hinreichend beschreiben. Im Gegenteil: In dieser Dimension des historischen Denkens generiert sich gleichsam der historische Sinn in die Subjekte hinein und macht sie erst zu dem, was sie als historisch denkende sind. Ihre Lebensverhältnisse schlagen auf die Weise ihres Denkens, ihres Umgangs mit der Zeiterfahrung und auf die Modi ihrer narrativen Vergegenwärtigung der Vergangenheit durch. Hier ist das menschliche Geschichtsbewußtsein in seiner sinnbildenden Tätigkeit alles andere als konstruktiv; hier wird es geradezu erst konstruiert. Es läßt sich als fungierend bezeichnen und teilt mit dem Lebenszusammenhang, dessen Funktion es ist, dessen lebendige Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu sind die Praktiken der Deutung, der methodisch geregelten Erfahrungsverarbeitung und der Gestaltung des historischen Wissens durch die Dominanz tätiger Subjektivität bestimmt. Im Unterschied zum fungierenden ließe sich hier von einem reflexiven Geschichtsbewußtsein reden. Es tritt dem wirklichen Lebenszusammenhang gegenüber, erhebt sich über ihn, geht deutend mit ihm um und macht aus der Wirklichkeit der Lebenswelt den Schatten historischer Faktizität. Fungierendes und reflexives Geschichtsbewußtsein werden durch einen dritten Modus miteinander vermittelt: den operativen, in dem die historische Deutungsarbeit zum kulturellen Element der menschlichen Lebenspraxis selber wird, und zwar auf eine dieser Deutung selber nicht mächtige Weise. Die wirklichkeitsenthobene Deutung kehrt sozusagen in die Wirklichkeit zurück, läßt sich auf sie ein.

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Jörn Rüsen

Im Vermittlungszusammenhang zwischen fungierendem, reflexivem und operativem Geschichtsbewußtsein vollzieht sich ein Lebensprozeß der Geschichtskultur, in dem die historische Deutungsarbeit des menschlichen Geschichtsbewußtseins seine eigene innere Temporalität und Historizität hat. Mit dieser Geschichtlichkeit ist sie über alles historische Denken hinaus einem zeitlichen Wandel anheim gegeben, der nur retrospektiv eingeholt, aber nie deutend beherrscht werden kann. Man könnte von einer Unvordenklichkeit der zeitlichen Bewegung des Geschichtsbewußtseins als Modus seiner eigenen Geschichtlichkeit reden. Hier liegt auch der Grund dafür, warum Geschichte permanent neu gedacht und geschrieben werden muß. Denn die jeweils geleisteten Deutungen werden im Zusammenhang ihrer Orientierungsfunktion der zeitlichen Dynamik der menschlichen Lebenspraxis auf eine selbst kontingente Weise ausgesetzt - kontingent im Verhältnis zur zeitlichen Ordnung der geschichtlichen Erkenntnis. Wie nimmt sich im Vermittlungszusammenhang der drei Modi, in denen das menschliche Geschichtsbewußtsein seine historische Sinnbildungsarbeit vollzieht, der Wirklichkeitsbezug des historischen Denkens aus? Zusammenfassend läßt sich diese Frage als Dialektik von Konstruiertheit und Konstruktion beantworten. Das historische Denken verdankt sich einem Einschlag wirklicher Lebenspraxis in die Bewußtseinsleistung der diese Praxis vollziehenden Subjekte (im Feld der Strategien der kollektiven Erinnerung). Hier ist Geschichte immer schon wirklich, bevor sie historisch gedacht wird. Natürlich nicht als explizite Geschichte, d.h. in der Form einer narrativen Explikation von Zeitverläufen, sondern in der geballten Kraft innerer und äußerer Lebensumstände, in denen die Vergangenheit gegenwärtig ist, gegenwärtig im Gewordensein dieser wirklichen Verhältnisse, Umstände und Bedingungszusammenhänge. 16 Diese Wucht lebensweltlicher Wirklichkeit gerät im Gerede vom konstruktiven Charakter des historischen Wissens aus dem Blick. Geschichte ist also vor aller Deutung der Vergangenheit schlechthin gegenwärtig und wirklich. Sie .konstruiert' ihre Konstrukteure, die in sie lebensgeschichtlich .geworfen' sind (um Heideggers ausdrucksstarken Begriff zu verwenden). Sie fordern als Druck der Verhältnisse die von ihm Belasteten auf, durch Deutungsarbeit mit ihm fertig zu werden. Die Menschen müssen sozusagen diesen Druck ihrer Wirklichkeit lebensdienlich erleichtern, indem sie die lebensbestimmenden Umstände und Verhältnisse kulturell so deuten, daß sie in ihnen absichtsvoll handeln und Leiden aushalten können.

16 David Carr hat unmißverständlich darauf aufmerksam gemacht, daß Geschichte als kulturelles Phänomen ein integraler Bestandteil sozialer Realität, lebensweltlicher Wirklichkeit ist: ders., Narrative and the Real World. An Argument for Continuity, History and Theory 25 (1986), 117-131; ders., Die Realität der Geschichte, in: K.E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung - Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahmehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997, 309-327.

Fiktionalität und Faktizität der G e s c h i c h t e

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Um dieser Lebensdienlichkeit willen erhebt sich die menschliche Subjektivität in ihren kulturellen Deutungsleistungen über die Vorgaben ihrer Lebensumstände und -Verhältnisse. Dann in der Tat beginnt sie zu .konstruieren', indem sie Deutungshinsichten entwickelt, auf methodische Weise Erfahrung mobilisiert, Darstellungsformen entwickelt und mit empirischem Wissen über die Vergangenheit füllt. In diesem Schritt über die Wucht der gegebenen Verhältnisse hinaus, in denen die Vergangenheit als Gewordensein der Gegenwart mächtig und wirklich ist, verliert sich diese Wirklichkeit im Schatten der Empirie von Quelleninformationen. Auf der anderen Seite zugleich wird sie zu den rhetorischen und ästhetischen Strategien sublimiert, mit denen die Erfahrung der Vergangenheit auf aktuelle Lebensverhältnisse bezogen und orientierungsstark gemacht wird. Die Wirklichkeit der Lebenswelt setzt sich sozusagen in die Bedeutungsqualifikation der historischen Perspektive und in die Gestaltungskraft narrativer Repräsentation der Vergangenheit hinein fort. Sie wird zur wirksamen Kraft der Konstruktion, die sich die menschliche Subjektivität ja nicht aus einem Nirgendwo transzendentaler Konstituiertheit holt, sondern im Vollzug der Lebenspraxis immer schon hat. Konstruiert werden und Konstruieren sind abstrakte Entgegensetzungen, in denen ihr innerer Zusammenhang verdunkelt wird. Das, was man den Sinn des historischen Denkens nennt, das also, was über seine kulturelle Besonderheit und historische Konkretion entscheidet, liegt der Unterscheidung zwischen Konstruiertsein und Konstruieren selber noch voraus und zugrunde. Sinn ist der menschlichen Subjektivität unvordenklich eingeprägt und zugleich Inbegriff aller Prägungen, die sie mit sich selbst und ihrer Welt vornehmen muß, um leben zu können. Im Denk- und Deutungsprozeß verflüchtigt sich die lebensweltliche Wirklichkeit dieses Sinns zum Material, zu den .Gegenständen' dieser Deutung. Zugleich aber bleibt sie in dieser Deutung selber mächtig. Ihr Ausmaß an Wirklichkeitssinn entscheidet darüber, ob und wie sie gelingt oder nicht. Sie ist ein wesentlicher Bestimmungsgrund dafür, was mit den Subjekten geschieht, die sie als kulturelle Orientierung ihres Handelns und Leidens praktisch vollziehen. Man kann diese durchgängige Wirklichkeit im Vermittlungszusammenhang von Konstruiertheit und Konstruktion des historischen Denkens wieder strukturanalytisch auseinanderlegen. Dann wird deutlich, wie die zwei Pole je fur sich zur Erscheinung gebracht und angesprochen werden können.

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Jörn Rüsen

Konstruiertheit Die Menschen schaffen handelnd und leidend Vergangenheit sich und ihren Nachkommen eine Welt u u Kette der Generationen: tatsachen-bestimmte .objektive' Zusammenhänge, 'Kausalität des Schicksals' Geschichte Ji u Die Menschen leiden und handeln unter gewordenen Bedingungen und Umständen Gegenwart ihrer Welt Konstruktion Sinnbildung durch Erinnerung und Gegenwart Geschichtskultur u u Kette der Generationen: wertbestimmte .subjektive' Einstellungen Geschichte u u Aus Geschäften wird Geschichte Vergangenheit (Konstruiertheit und Konstruktion der Geschichte) Historisches Denken vollzieht eine .objektive Geschichte', indem es die gewordenen Bedingungen und Umstände, unter denen es geschieht, in der Art und Weise seiner Zuwendung zur Vergangenheit und Aufarbeitung ihres Erfahrungsbestandes gleichsam ratifiziert. Mit dieser .objektiven' Geschichte eignen sich die Subjekte die in der Realität ihrer gewordenen Lebensumstände selber immer schon wirksame Vergangenheit geistig an, um dadurch in und mit ihr tätig sein zu können. In dieser Tätigkeit vollzieht sich zugleich eine .subjektive' Geschichte, indem im denkenden Rückgriff auf die Erfahrung der Vergangenheit zukunftsgerichtete normative und werthafte Einstellungen, Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen den Blick auf die Erfahrung der Vergangenheit bestimmen und diese in der Perspektive ihres Blickes ,aus Geschäften zur Geschichte' wird, um Droysens bekannte Formulierung aufzugreifen. 17 Das historische Denken ist ein Vollzug beider Geschichten zugleich und zumal. In diesem Vollzug ereignet sich auf unvordenkliche Weise Wirklichkeit diesseits der Unterscheidung zwischen Konstruktion und Konstruiertheit, zwischen Norm und Tatsache, zwischen Faktizität und Fiktionalität. Es ist eine offene Frage, wie diese Wirklichkeit zu denken wäre. Allemal müßte es so geschehen, daß sie sich in diese zwei Modi und in ihren inneren Vermitt17 J. G. Droysen, Historik (Historisch-kritische Ausgabe Bd.l, hgg. v. P. Leyh), StuttgartBad Cannstatt 1977, 69 und passim.

Fiktionalität und Faktizität der Geschichte

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lungszusammenhang auseinanderlegt und dabei eine zeitliche Dynamik entfaltet, der das historische Denken immer schon auf der Spur ist, ohne ihrer je Herr werden zu können. Was bedeutet das für das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Theologie? Die Geschichtswissenschaft ist der Sinnkriterien, von denen sie immer schon Gebrauch macht, kognitiv nicht mächtig, wenn sie den Informationsgehalt der Quellen zu sinn- und bedeutungsvollen Geschichten ausarbeitet, die im kulturellen Leben ihrer Gegenwart eine Orientierungsfunktion ausüben können. Sie bringt in das Sinngeschehen der Kultur ihrer Zeit freilich sinnrelevante Gesichtspunkte und Denkweisen ein, fur die sie als Wissenschaft selber steht und mit der sie auch eine besondere, nur durch sie zu realisierende Funktion ausübt: Begrifflichkeit, Erfahrungskontrolle, methodische Regelung, argumentative Diskursformen etc. Zusammengefaßt ließe sich hier von Rationalität oder - wenn man den Zusammenhang dieses Denkens mit dem kulturellen Geschehen seiner Zeit mit berücksichtigt, auch von Vernunft sprechen. Diese Vernunft ist als Erkenntnisfähigkeit und Erkenntnisleistung freilich auf die Unvordenklichkeit einer Wirklichkeit des Sinns angewiesen, der als Bedingung der Möglichkeit fur die Geltungsansprüche des historischen Denkens angenommen werden muß. Was macht Sinn wirksam? Schon die Einprägung der Wirklichkeit in das historische Denken hinein ist ein Sinngeschehen, ein Geschehen, in dem historischer Sinn generiert wird. Ohne diese seine unvordenkliche Wirklichkeit könnte er das historische Denken nicht so in den mentalen Operationen des Geschichtsbewußtseins bestimmen, wie es zur Erfüllung seiner kulturellen Orientierungsfunktion notwendig ist. Ohne ihn wären Denken und Vernunft und die ganze konstruktive Tätigkeit der menschlichen Subjektivität vorab schon sinnlos, denn ohne ihn hätten sie den Wirklichkeitsbezug nicht, den das historische Denken im Wechselspiel zwischen Erkenntnisinteresse und Orientierungsfunktion konstitutiv auszeichnet. Die Unvordenklichkeit dieses Sinnes als Element lebensweltlicher Wirklichkeit des menschlichen Leidens und Handelns - das schließt säkulares und religiöses Denken vorgängig zusammen. Die Religion gibt dieser Unvordenklichkeit eine eigene Sinnqualität. Ihr gegenüber hält sich das säkulare historische Denken zurück, aber letztlich schöpft es aus ähnlichen Sinnquellen. Das lehrt ein Blick in die Geschichte des historischen Denkens. 18 Wir würden über die Eigentümlichkeit und die unterschiedlichen kulturellen Manifestationen des historischen Denkens (in Wissenschaft, Öffentlichkeit, Literatur, Kunst und eben auch in der Religion) mehr wissen, wenn der geschichtstheoretische Blick diese Sinnquelle näher ins Auge faßte. Dazu freilich bedarf es einer interdisziplinären Konstellation der Geschichtstheorie, 18 Vgl. J. Rüsen, Historische Methode und religiöser Sinn - Dialektische Bewegungen in der Neuzeit, in: ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, 9-42.

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Jörn Riisen

in der die Besonderheit religiösen Sinns, seine Differenz zu Säkularem und insbesondere zu Wissenschaftsspezifischem deutlich würde. Zugleich aber würde auch das Gemeinsame an Sinnhaftigkeit sichtbar, das Theologie und Geschichtswissenschaft zu Manifestationen einer der Kulturen macht, zu der sie beide gehören.

Kann Geschichte wahr sein? Zu den narrativen Geschichtsphilosophien von Hayden White und Frank Ankersmit1 Chris Lorenz I.

Einleitung

Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, einige Grundannahmen dessen herauszuarbeiten und zu kritisieren, was ich als „metaphorischen Narrativismus" bezeichnen werde. Dabei werde ich die recht unterschiedlichen Philosophien der Geschichte von Hayden White und Frank Ankersmit unter diesem Titel zusammenfassen.2 Es ist ihren Arbeiten - u n d denen einiger

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Ich danke Jörn Riisen (Bielefeld/Essen) und Kxijn Thijs (Potsdam) für Kommentare. Für aktuelle Überblicke zur Philosophie der Geschichte vgl. Allan Megills Einleitung zu Ewa Domanska, in: dies., Encounters. Philosophy of history after postmodernism, Charlottesville 1998, 1-13; B. Fay, Introduction: the linguistic turn and beyond in contemporary theory of history, in: B. Fay u.a. (Hg.), History and theory. Contemporary readings, Oxford 1998, 1-13; vgl. H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie der historischen Referentialität, Stuttgart 2001. Ihre wichtigsten Bücher sind: H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991; ders., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart, 1986; ders., Die Bedeutung der Form. Erzähl strukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M 1990; ders., Figurai realism. Studies in the Mimesis effect, Baltimore/London 1999. F. R. Ankersmit, Narrative Logic. A Semantic Analysis of Historian's Language, Groningen 1981/ Den Haag 1983; ders., Denken over geschiedenis: Een overzicht van moderne geschiedsfilosofische opvattingen, Groningen 1984; ders., De navel van de geschiedenis. Over interpretarte, representarte en historische realiteit, Groningen 1990; ders., History and Tropology. The Rise and Fall of Metaphor, Berkeley 1994; ders., De Spiegel van het verleden. Exploraties I: Geschiedtheorie, Kampen 1996; ders., De macht van representarte. Exploraties II: Cultuurfilosofie & esthetical, Kampen 1996; ders., Macht door representarte. Exploraties III: Politieke filosofie, Kampen 1997; ders., Aesthetic Politics. Political Philosophy beyond Fact and Value, Stanford 1998; ders., Historical representation, Stanford 2002. Ich beziehe mich auf die Narrative Logic-Ausgabe von 1981. In einem kürzlich geführten Interview hat Ankersmit geäußert, daß alle seine späteren Werke im Grunde auf Narrative Logic aufbauen, welches er als "still the best thing I ever wrote" bezeichnet. Vgl. Domanska, Encounters, 70.

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Chris Lorenz

Vorgänger wie William Walsh und Louis Mink - zu verdanken, daß die Philosophie der Geschichte sich in der jüngsten Vergangenheit von Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie entfernt und sich der Ästhetik und Rhetorik angenähert hat. Diese Bewegung war eine bewußte Reaktion auf die positivistische Auffassung der (Sozial-) Wissenschaften, die die Jahrzehnte davor geprägt hat. Ich werde hier die Position vertreten, daß der metaphorische Narrativismus sowohl als Frontalangriff auf den Positivismus als auch, was entscheidend ist, in gewisser Hinsicht als dessen Umkehrung verstanden werden kann, wodurch er bestimmte Grundannahmen mit ihm teilt. Ich werde nicht versuchen, Whites und Ankersmits metaphorische Narrativismen in toto in den Blick zu bekommen, sondern mich auf zwei begriffliche Probleme konzentrieren, die so viel Aufmerksamkeit erregt wie Verwirrung gestiftet haben.3 Der erste Punkt ist ihre These, daß aufgrund der

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Da mein Hauptziel darin besteht, die begriffliche Struktur des metaphorischen Narrativismus zu analysieren, werde ich die historische Entwicklung des Denkens von White und Ankersmit außer Betracht lassen bzw. in den Fußnoten darauf eingehen. Ankersmit selbst hat Whites Metahistory als Kuhnsche Revolution der Philosophie der Geschichte gefeiert: "Tropology is for history what logic and scientific method are for the sciences". Ankersmit, History and Tropology, 8f. In seinem Aufsatz „Statements, Texts and Pictures" entwickelt Ankersmit allerdings die These, daß ein piktorales Verständnis des historischen Textes einem literarischen Verständnis, wie es von White entwickelt wird, vorzuziehen ist. Vgl. Ankersmit u. Kellner (Hg.), New Philosophy of History, 213-240. Vor kurzem hat Ankersmit übrigens in Historical Representation, 52-56, meine Kritik an seine Positionen zurückgewiesen und mich als "empiricist" entlarvt und meine Position als "inverted narrativism". Für die Diskussion Whites vgl. L. Kramer, Literature, Criticism, and Imagination. The Literary Challenge of Hayden White and Frank LaCapra, in: L. Hunt (Hg.), The New Cultural History, Berkeley 1989, 97-128; N. Carroll, Interpretation, History, and Narrative, in: The Monist 73 (1990), 134-167; P. Roth, Hayden White and the Aesthetics of History, in: History of the Human Sciences 5 (1992), 17-35; W. Kansteiner, Hayden White's Critique of the Writing of History, in: History and Theory 32 (1993), 273-296; J. Zammito, Are We Being Theoretical Yet? The New Historicism, The New Philosophy of History and 'Practicing' Historians, in: Journal of Modern History 65 (1993), 793814; zwei Ausgaben von Storia della Storiografia (Geschichte der Geschichtsschreibung) - 24 (1993) und 25 (1994) - die sich mit Whites Metahistory beschäftigen; P. Ricoeur, Geschichte und Rhetorik, in: H. Nagl-Docekal (Hg.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt a.M. 1996, 107-126; S. Kohlhammer, Die Welt im Viererpack. Zu Hayden White, in: Merkur - Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 52 (1998), 9-10, 898-907; H. Nagl-Docekal, Läßt sich die Geschichtsphilosophie tropologisch fundieren? Kritische Bemerkungen zu Hayden White, in: Österreichische Zeitschrift fur Geschichtswissenschaften 4 (1993), 466-476; R.T. Vann u.a., Forum: Hayden White: Twenty-Five Years on, in: History and Theory 37 (1998), 143194; Ν. Carroll, Tropology and narration, in: History and Theory 39 (2000), 396-404; E. Domanska, Hayden White, in: H. Bertens/J. Natoli (Hg.), Postmodernism. The Key Figures, Cambridge 2002, 321-326. Zu Ankersmit vgl. Η. Kellner, Narrativity in History: Post-structuralism and Since, in: History and Theory, Beiheft 26 (1987) (The Representation of Historical Events), 18-22; P. Zagorin, Historiography and Postmodernism. Reconsiderations, in: History and The-

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narrativen Form der Geschichte der Korrespondenzbegriff der Wahrheit auf historische Erzählungen, anders als auf die individuellen Aussagen, aus denen sie sich zusammensetzen, nicht angewandt werden kann; historische Erzählungen werden daher von ihnen als „fiktional" und/oder „metaphorisch" beschrieben. Der zweite Punkt ist ihre These, daß Erzählungen sich selbst begründen und daß dieser narrative Begründungsmodus eine kausale Erklärung ausschließt. Beide Thesen erscheinen vielen praktizierenden Historikern kontraintuitiv und verdienen daher eine genauere Untersuchung. Es hat guten Sinn, den metaphorischen Narrativismus in beiderlei Hinsicht als Gegenposition zum Positivismus zu betrachten. Zum einen hat sich der metaphorische Narrativismus in Opposition zum kleingeschriebenen Positivismus der Tatsachen, also dem Empirismus entwickelt. Zum anderen entstand er in Opposition zum Positivismus im emphatischen Sinne, also der Subsumtionstheorie (covering-law view) der Erklärung. Die Metapherntheorie der Geschichte stellt einen ausdrücklichen Angriff auf die Grundsätze von Positivismus und analytischer Philosophie dar. Erstens weisen White und Ankersmit die Annahme zurück, daß eine Erzählung nichts als eine Ansammlung individueller beschreibender Aussagen ist und ihre Logik von diesen her verstanden werden kann. Diese Grundannahme der analytischen Philosophie - die noch von Arthur Danto in seinem einflussreichen Buch Analytische Philosophie der Geschichte verteidigt wurde4 - landet so im Mülleimer der Geschichte und wird durch den Begriff der autonomen Erzählung ersetzt. Die Narration wird nun als autonome sprachliche Entität begriffen, deren formale Eigenschaften die Ebene deskriptiver Aussagen (einzelner Existenzurteile) transzendieren, auch wenn sie sich aus solchen Aussagen zusammensetzt. White und Ankersmit vertreten eine Autonomie des Narrativen, da Erzählungen ihrer Ansicht nach Eigenschaften aufweisen, die sich nicht auf diejenigen ihrer Aussagen reduzieren lassen. White zufolge ist die Plotstruktur von Erzählungen eine dieser irreduziblen Qualitäten. Er charakterisiert die historische Erzählung daher als „fortgesetzte Metapher" 5 . Ankersmit geht

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ory 29 (1990), 263-296; ders., History, the referent and narrative, in: History and Theory 38 (1999), 1-24; ders., Rejoinder to a postmodernist, in: History and Theory 38 (1999), 201-209; Zammito, Are we theoretical yet?; R. Graf, Interpretation, Truth, and Past Reality. Donald Davidson meets history, in: Rethinking History 7, 3 (2003), 387-402; vom Verf., Het masker zonder gezicht. F.R. Ankersmits filosofie van de geschiedschrijving, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 97 (1984), 169-194, und ders., Historisches Wissen und historische Wirklichkeit: für einen internen Realismus, in diesem Band. A. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M. 1974. Dantos Analyse der historischen Erzählung wurde in Deutschland übernommen von Jürgen Habermas in: Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1976, und von Jörn Rüsen in seinem Grundzüge einer Historik, Göttingen 1983-89. H. White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: ders., Auch Klio dichtet, 112.

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davon aus, daß dieselbe M e n g e an A u s s a g e n aus unterschiedlichen Perspektiven a u f unterschiedliche W e i s e verbunden w e r d e n kann - w a s zu unterschiedlichen Inteipretationen oder narrativen Substanzen (später historische Repräsentationen genannt) fuhrt. Entscheidend ist fur die Narrativisten hier, daß w e d e r die Plotentwicklung noch die Perspektive in der Wirklichkeit verortet w e r d e n kann, sondern d e m sprachlichen U n i v e r s u m der Erzählung angehören. Es ist der Historiker, der die Vergangenheit einer sprachlichen, literarischen Struktur unterwirft - der in der Vergangenheit nichts Wirkliches entspricht. 7 W e r das vergißt, wird auf die „Fiktion der Darstellung des Faktischen" hereinfallen, w i e Whites berühmte Formulierung lautet. 8

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Vgl. Ankersmit, Historical representation, in: History and Tropology, 97-125. Um Verwirrung zu vermeiden, sollte festgehalten werden, daß Ankersmits Repräsentationsbegriff sich grundlegend von demjenigen Rortys unterscheidet. Rorty setzt Repräsentation in der Erkenntnistheorie mit einer Spiegelung der Dinge im Geist des Subjektes gleich und entwickelt von dort aus seine antirepräsentationalistische Position. Ankersmit lehnt sich demgegenüber an Gombrich, Goodman und Danto an und bestimmt Repräsentation nicht als Spiegelung, sondern als nicht kodifizierte Weise der Ersetzung eines Objekts durch seine symbolische Repräsentation. Sobald der Repräsentationsprozeß kodifiziert wird, verliert er als Repräsentation an Interesse und wird in den Bereich der Erkenntnistheorie relegiert. Nun ist Rortys Repräsentationsbegriff nicht unproblematisch, da jede Repräsentation Repräsentation fìir ein Subjekt ist. Grundlegend für die Repräsentation ist nicht Spiegelung, sondern eine Beibehaltung der Struktur bei gleichzeitiger Reduktion und Ableitung von Komplexität. Vgl. dazu T. Mormann, Ist der Begriff der Repräsentation obsolet?, in: Zeitschrift fìir philosophische Forschung 51 (1997), 349-366. Whites Argument gründet sich auf die von ihm unterstellten Unterschiede zwischen Leben und Geschichten. „Leben werden gelebt und Geschichten erzählt", so White (und Mink). Sie schließen daraus, daß Geschichten über gelebtes Leben sich von diesem strukturell unterscheiden und das Leben daher nicht in Geschichten „hineinkopiert" werden kann . Für eine grundlegende Kritik dieses bemerkenswerten Arguments vgl. Carroll, Interpretation, History, and Narrative, 144f. Anders als Ankersmit spielt White bisweilen mit dem Begriff der „narrativen Wahrheit". Angesichts seines Beharrens darauf, daß der Historiker literarische Strukturen allererst einführt, kann White narrative Wahrheit offensichtlich nicht nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit interpretieren. Es bleibt daher unklar, was „narrative Wahrheit" bedeuten könnte. In „Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie" in: Die Bedeutung der Form, 65, stellt er lediglich fest, daß seine literarische Analyse historischer Texte „die generelle Frage nach der .Wahrheit' der Literatur selbst" aufwirft. Weiter unten (66) schreibt er, daß „den spezifisch literarischen' Aspekt der historischen Erzählung" zu ignorieren bedeute, „auch jede Art von .Wahrheit', die sie auf metaphorische Weise vermitteln könnte, zu ignorieren". Zuvor (63) aber hieß es: „Die .Wahrheit' der .narrativen Form' aber kann sich nur indirekt, das heißt durch Allegorese zeigen. Was sonst könnte involviert sein, wenn eine Ereignisreihe als Tragödie, Komödie, Farce usw. dargestellt wird?" In ders., 'Figuring the Nature of the Times Deceased': Literary Theory and Historical Writing, in: R. Cohen (Hg.), The Future of Literary Theory, New York/London 1989, findet sich dieselbe Ambiguität: "Stories are told or written, not found. And as for the notion of a 'true' story, this is virtually a contradtiction in terminis. All stories are fictions. Which means, of course, that they can be true only in a metaphorical sense and in the sense in

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Sowohl White als auch Ankersmit begreifen die metaphorische Qualität von Erzählungen als deren - emergente - Grundeigenschaft. White geht hier weiter: Ihm zufolge haben Narrationen eine metaphorische Struktur und sind (fortgesetzte) Metaphern; nach Ankersmit fungieren Narrationen lediglich als Metaphern. Beide Autoren behaupten, daß das Schreiben einer historischen Erzählung wesentlich darin besteht, Perspektiven zu erschaffen, wie es Metaphern tun: Auf diese Weise stiften sie Ordnung im Chaos der Phänomene und erklären sie (was das bedeutet, wird noch zu betrachten sein). 9 Aus diesem Grund, so die Folgerung, stellen metaphorische Beschreibungen gleichzeitig Erklärungen der so beschriebenen Phänomene dar, und Erzählungen sind selbsterklärend,10 Beide Autoren betonen wiederholt, daß es der Historiker ist, der die realen Phänomene dieser Ordnung unterwirft, und daß sie nicht in diesen selbst liegt und durch Forschung oder induktive Schlüsse gefunden werden kann. Dieser Zug - die Identifikation der Geschichten von Historikern mit den Ereignissen „auferlegten" Metaphern - bildet den Kern der modernen narrativistischen Philosophie der Geschichte. Die Behauptung, daß historische Erzählungen sich durch ihren selbsterklärenden Charakter auszeichnen, unterscheidet Ankersmits und Whites Spielart des .metaphorischen' Narrativismus von Paul Ricceurs Verteidigung des Narrativismus. Auch wenn Ricoeur ebenfalls die zentrale Bedeutung von Metaphern und Plotstrukturen in der Erzählung betont hat, behauptet er nicht, daß Erzählungen in sich selbsterklärend sind oder daß Geschichte nicht wahr sein kann."

which a figure o f speech can be true. Is this true enough?" Vgl. Carroll, Interpretation, History and Narrative, 135f. 8 White, Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen, in: Auch Klio dichtet, 145-160. 9 Die Annahme, daß die Vergangenheit ein bloßes Chaos von Phänomenen ist, ist eine wichtige Voraussetzung des metaphorischen Narrativismus. Die radikal konstruktive Dimension der „Narrativierung" der Vergangenheit wird so plausibel gemacht. Für eine Kritik dieser Annahme und eine realistischere Perspektive vgl. vom Verf., Historisches Wissen und historische Wirklichkeit: fur einen internen Realismus, in diesem Band. 10 Anders als für Ankersmit ist für White die metaphorische Erklärung oder Erklärung neben formaler Schlußfolgerung und ideologischer Implikation. Der Einfachheit halber werde dies hier ausklammern und mich auf die Erklärung durch narrative Strukturierung konzentrieren. 11 Zu Ricoeurs Position vgl. sein dreibändiges Zeit und Erzählung, München 1986-91, und den Text von Michael Moxter in diesem Band.

38 II. Narrativismus

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als umgekehrter Positivismus (I): Narrativismus kehrung des „ Positivismus der Tatsachen "

als Um-

Der metaphorical turn der narrativistischen Philosophie der Geschichte stellt einen Frontalangriff auf die Fundamente des Positivismus (im alltäglichen und emphatischen Sinne) dar.12 In diesem Abschnitt werde ich mich dem Angriff auf den Positivismus der Tatsachen oder Empirismus zuwenden. Sowohl White als auch Ankersmit identifizieren diesen Typ von Positivismus mit den Überzeugungen „traditioneller" Historiker. Aus „traditioneller" Sicht ist die narrative Darstellung ein Nebenprodukt der historischen Forschung. Das Verhältnis des Historikers zur Vergangenheit ist damit ähnlich dem des Schallplattenspielers zur Schallplatte.13 Daher vertreten „traditionelle" Historiker - immer noch laut White und Ankersmit - die Auffassung, daß die Wahrheit ihrer Erzählungen ein bloßes Nebenprodukt der Wahrheit ihrer Forschung ist: Erzählungen werden im wesentlichen als Entitäten ohne eigenes Organisationsprinzip begriffen. 14

12 Ankersmits Philosophie ist in bezug auf die Metapher systematischer als Whites. Vgl. Ankersmit, Narrative Logic, Kap. 7 ("Narrative Substances and Metaphor"). Für Whites Position vgl. ders., Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 112: „Der .Gesamtzusammenhang' irgendeiner gegebenen .Serie' von historischen Fakten ist die Kohärenz einer Geschichte (story), doch die Kohärenz wird nur dadurch erreicht, daß die ,Fakten' auf die Erfordernisse der Geschichtenform (story form) zugeschnitten werden. [...] Es ist diese vermittelnde Funktion, die es uns erlaubt, von einer historischen Erzählung als fortgesetzter Metapher zu sprechen." Ewa Domanska hat Whites Metahistory als "a revolt against the positivist approach to history" charakterisiert. Vgl. Domanska, Hayden White, 324, und dies., Hayden White: Beyond Irony, in: J.Stiickrath/ J. Zbinden (Hg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricoeur, Baden-Baden 1997, 116. 13 Zu Ankersmits Position und dem Vergleich des Historikers mit einer Plattennadel vgl. De navel van de geschiedenis, 20f. Zu White vgl. Anm. 16. 14 Vgl. White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, 41: „Für den narrativen Historiker besteht die historische Methode in der Untersuchung der Dokumente, um entscheiden zu können, welches die wahre oder plausibelste Geschichte ist, die sich aufgrund des gegebenen Beweismaterials über die Ereignisse erzählen läßt. So verstanden ist eine wahre narrative Schilderung nicht das Produkt der poetischen Talente des Historikers wie im Falle der narrativen Schilderung imaginärer Ereignisse, sondern das notwendige Resultat des richtigen Gebrauchs einer historischen .Methode'. Die Form der Diskurses, die Erzählung, fugt dem Inhalt der Darstellung nichts hinzu, sie ist vielmehr ein Abbild der Struktur und der Prozesse der realen Ereignisse. Insoweit als diese Darstellung den geschilderten Ereignissen gleicht, darf sie als wahre Darstellung betrachtet werden. Die in der Narration erzählte Geschichte ist eine .Mimesis' der Geschichte, die in irgendeinem Bereich der historischen Realität erlebt wurde. Da sie deren genaue Imitation ist, kann sie als wahre Darstellung gelten."Zu Whites Auffassung des Verhältnisses von Chronik und Erzählung vgl. 60: „Im historischen Diskurs dient die Erzählung dazu, eine Liste von geschichtlichen Ereignissen, die andernfalls nur eine Chronik wäre, in eine Geschichte umzuwandeln." Es ist allerdings aufschlußreich, daß der erste Historiker, der eine systematische Abhandlung über das Schreiben der Geschichte

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Wenn wir den metaphorical turn in der narrativistischen Philosophie der Geschichte in seiner Ablehnung dieser Spielart des Positivismus betrachten, fällt eines auf: Der Narrativismus, der von White und Ankersmit vertreten wird, stellt eine bloße Negation oder Umkehrung der traditionellen positivistischen Perspektive dar; er erbt daher deren grundlegende begriffliche Struktur. Ich beziehe mich hier auf zwei charakteristische begriffliche Entgegensetzungen: Erstens zeichnen sich beide Positionen durch eine spezifische Argumentationslogik aus, die Richard Bernstein treffend als „Entweder-oderLogik" oder Cartesian Anxiety bezeichnet hat. Diesem (ursprünglich theologischen) Argumentationsschema zufolge sind Beliebigkeit und Chaos die einzige Alternative zu einer festen Fundierung: Entweder haben Wissensansprüche in den empirischen Daten ein sicheres Fundament, oder sie sind beliebig, bloße Hirngespinste. Die einzige Alternative zur Fundierung und ihr einziger Gegensatz ist damit die Phantasie,15 Wie wir noch sehen werden, wird dieses Argument von White und Ankersmit dazu benutzt, historischen Erzählungen einen nicht-kognitiven Status zuzuweisen. 16 Zweitens beziehe ich mich auf die Entgegensetzung buchstäblicher und figurativer Sprachverwendung. Denn der Positivismus hatte jede Form des fígurativen, metaphorischen Sprachgebrauchs aus der Wissenschaft - die Geschichte eingeschlossen - verbannt, da er davon ausging, daß, während die wörtliche, deskriptive, referentielle Sprache uns Informationen über die Wirklichkeit vermittelt, die metaphorische Sprache aus „bloßen Worten" besteht, aus denen wir nicht das geringste über die Wirklichkeit schließen können. Nur dem buchstäblichen Sprachgebrauch (in Form von Propositionen) wurden so ein kognitiver Status und Wahrheitsfahigkeit zugebilligt: Wissen ist entweder propositional verfaßt, oder es ist keines. Diese - von Empirismus und Positivismus vorausgesetzte - Entgegensetzung von buchstäblicher und metaphorischer Sprache bleibt im „metaphorischen" Narrativismus in umgekehrter Form erhalten: Deskriptive Aussagen oder Propositionen werden nun als bloße Informatio-

vorgelegt hat - Johann-Gustav Droysen mit seiner Historik -nicht im geringsten in dieses „traditionelle" Bild paßt. 15 Vgl. R. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism, Oxford 1983, 16-25, insbes. 18: "Either there is some support for our being, a fixed foundation for our knowledge, or we cannot escape the forces of darkness that envelop us with madness, with intellectual and moral chaos." Ein "anything goes"-Skeptizismus ist damit die einzige Alternative zu einem begründungstheoretischen Ansatz (foundationalism). 16 Ähnlich geht White mit seiner Entgegensetzung von Rhetorik und Beweis vor: Weil historische Erzählungen rhetorisch strukturiert sind, können sie keinen Wahrheitswert haben. Diese Entgegensetzung geht auf Nietzsches Sprachbegriff zurück und ist von Carlo Ginzburg in History, Rhetoric and Proof, Hannover/London 1999, überzeugend kritisiert worden. Vgl. Anm. 19.

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nen behandelt, die kaum philosophische A u f m e r k s a m k e i t verdienen, während die metaphorische Sprache z u m Kern der Sache aufgewertet wird. 1 7 I n f o l g e d e s s e n vertauschen auch Erkenntnistheorie und Ästhetik in der Philosophie der G e s c h i c h t e ihre Plätze: D i e Erkenntnistheorie - die bis dahin als das täglich Brot der analytischen Philosophie der G e s c h i c h t e g e g o l t e n hatte hat ausgedient und wird durch die Ästhetik ersetzt. 1 8 Ich w e r d e im f o l g e n d e n die T h e s e vertreten, daß dies damit zusammenhängt, daß der Narrativismus eine weitere tiefe begriffliche D i c h o t o m i e des P o s i t i v i s m u s beibehält, nämlich diejenige z w i s c h e n „objektiver" empirischer B e o b a c h t u n g und „subjektiver" Interpretation. In diesen Gegensätzen, so m e i n e T h e s e , lebt die klass i s c h e begründungstheoretische Entgegensetzung v o n episteme und doxa fort. D i e erwähnte Entweder-oder-Logik kann dort beobachtet werden, w o der metaphorische Narrativismus die Erzählung in den B l i c k nimmt: Entweder ist die Erzählung des Historikers ein bloßes Nebenprodukt seiner Forschung, w i e e s die „traditionelle" positivistische A u f f a s s u n g w o l l t e , oder sie hat überhaupt nichts mit der Forschung zu tun. Entweder sind die Erzählungen der Historiker empirisch begründet, w i e es die „traditionelle" positivistische A u f -

17 Vgl. White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, 66, zum Verhältnis von wörtlichem und figurativem Sprachgebrauch und der Unmöglichkeit, diesen auf jenen zu reduzieren. In der Diskussion mit seinen Kritikern in: Literary Theory and Historical Writing, 22f., relativiert White alle jene begrifflichen Entgegensetzungen, die für seine tropologische Theorie so wichtig sind - zwischen dem Wörtlichen und dem Figurativen, zwischen referentiellen und nichtreferentiellen Dimensionen der Sprache und zwischen Tatsache und Fiktion - , und reinterpretiert sie als Kontinuum. Ich werde aber hier die These vertreten, daß die Hauptthesen des metaphorischen Narrativismus an der Entgegensetzung der Faktizität des wörtlichen und der „Fiktionalität" des figurativen Sprachgebrauchs hängen, da Whites Entweder-oder-Argumentation diese Entgegensetzungen voraussetzt. Ein Kontinuum reicht hier nicht aus. Vgl. Kansteiner, White's Critique of Writing of History, 286, der dasselbe Problem in den späteren Texten Whites findet: "White's decision to introduce a more dialectical element into his structuralist methodology implies a renegotiation of the status of the fact with regard to the plot structures of the historical text. Once the strict separation of the two levels is canceled, his earlier radical epistomological relativism is undermined. The proposed continuum can be interpreted all the way towards the pole of factual accuracy. Thus the possibility of representational transparency, shown out the front door, returns through the back." 18 Ankersmit zieht diesen Schluß explizit, wenn er in den späten Achtzigern das Vokabular der Repräsentation einfuhrt; vgl. Ankersmit, Historical Representation, in: History and Tropology, 102: "The suggestion [of the vocabulary of representation] is rather that the historian could meaningfully be compared to the painter representing a landscape, a person, and so on. The implication is, obviously, a plea for a rapprochement between philosophy of history and aesthetics." Vgl. auch 105f., wo er die Wissenschaft mit einer „kodifizierten Repräsentation" identifiziert und die Epistemologie auf diesen Bereich beschränkt. Historische und künstlerische Repräsentation sind hingegen, so Ankersmit, "indifferent to epistemology". Indem er die Erkenntnistheorie für den Bereich der Wissenschaft als weiterhin zuständig betrachtet, distanziert er sich auch von Rorty. Vgl. Ankersmit, Van theorie naar verhaal. Richard Rorty over taal en werkelijkheid, in: ders., De macht van representatie, 183-218.

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fassung wollte, oder sie haben überhaupt keinen empirischen Grund und sind das Produkt literarischer Phantasie. Entweder ist die Sprache der Wirklichkeit gegenüber transparent und referentiell, wie es die „traditionelle" positivistische Auffassung wollte, oder die Sprache ist selbstreferentiell und opak. Dieselbe Logik der Umkehrung kann bei Whites und Ankersmits Positionen zum Wahrheitsanspruch von Erzählungen beobachtet werden. Indem sie die Auffassung zurückweisen, daß die Wahrheit einer Erzählung ein Nebenprodukt der historischen Forschung ist, negieren sie schlicht den Wahrheitsanspruch der Erzählung insgesamt. Diesen Folgerung lehne ich ab, denn solange wir daran festhalten, daß die Geschichte eine Wissenschaft und keine Kunstform ist, ist die Wahrheitsfähigkeit historischer Erzählungen eine zentrale Voraussetzung. Ginzburg hat daher vollkommen recht, wenn er Whites und Ankersmits Positionen mit einer Nietzscheanischen Konzeption von Sprache als arbiträre menschliche ,Erfindung' zusammenbringt, ihm entgeht aber die entscheidende Rolle, die das empiristische Vokabular für sie spielt.19 Indem sie den Empirismus umkehren, haben White und Ankersmit ihn nun aber bewahrt und nicht überwunden. Dieser umgekehrte Empirismus erfüllt im metaphorischen Narrativismus eine wichtige Funktion, denn die Plausibilität seiner zentralen Thesen zur Fiktionalität der Erzählung bleibt abhängig von ihrer impliziten Entgegensetzung zum Empirismus. Wie Noël Carroll bemerkt hat, setzt Whites Gleichsetzung jeder Interpretation mit imaginärer Konstruktion und literarischer Erfindung die Möglichkeit eines Wissens ohne Interpretation voraus - und das ist reiner Empirismus. Auf ähnliche Weise setzt sein Argument, daß Erzählungen als solche fiktional sind - da sie die Vergangenheit nicht wie Fotografien und Reproduktionen einfach spiegeln - , eine empiristische Abbildtheorie des Wissens und eine empiristische Theorie der Wahrheit als einfache Korrespondenz voraus.20 Carroll hat daher voll-

19 Ginzburg zitiert in History, Rhetoric and P r o o f , 10, Nietzsche: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen." F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 3, München 1956,314. 20 Vgl. etwa White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 108f.: „Aber es ist falsch, eine Geschichtsdarstellung als ein Modell ähnlich einem maßstabsgetreuen Modell eines Flugzeugs oder eines Schiffs, einer Landkarte oder einer Photographie aufzufassen. Denn wir könne die Adäquatheit dieser letzteren Art von Modell nachprüfen, indem wir hingehen und uns das Original ansehen und unter Anwendung der notwendigen Übersetzungsregeln sehen, inwieweit es dem Modell tatsächlich gelungen ist, Aspekte des Originals wiederzugeben." Vgl. weiterhin Interpretation und Geschichte, in: Auch Klio dichtet, 64, w o von „traditionellen" Historikern und ihrer Vorstellung die Rede ist, daß sie ihr Material interpretieren müssen, „um die bewegliche Struktur von Bildern

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k o m m e n recht, w e n n er White als „heimlichen Empiristen" bezeichnet, der im B a n n e einer schlechten Abbildtheorie der Sprache stehe, aber er verkennt die zentrale Funktion des Empirismus in Whites p h i l o s o p h i s c h e m Gebäude: O h n e Empirismus gibt es schlicht und einfach keine plausiblen Argumente für die Grundannahmen des metaphorischen Realismus. 2 1 Ein ähnliche Kritik kann an Ankersmits Spielart d e s metaphorischen Narrativismus geübt werden. A u c h Ankersmit führt d i e s e l b e merkwürdige überholte empiristische Abbildtheorie des W i s s e n s als Kontrastfolie zu seiner e i g e n e n P o s i t i o n ein, um s o seiner Metapherntheorie Plausibilität und philos o p h i s c h e s Profil zu verleihen. 2 2 A u f g l e i c h e W e i s e wird der Kontrast z w i s c h e n Erzählungen und Reproduktionen oder S p i e g e l n bemüht, u m ersteren einen k o g n i t i v e n Status abzusprechen und eine Brücke v o n der Geschichte zur Literatur zu schlagen. 2 3 A u c h in seiner Philosophie wird ein erstaunlich schlichter R e a l i s m u s eingeführt, um realistische Interpretationen v o n Erzählungen i n s g e s a m t zu diskreditieren. D i e Korrespondenztheorie der Wahrheit wird v o n ihm nur als Spiegeltheorie v e r s t a n d e n . 4

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konstruieren zu können, in der sich die Form des historischen Prozesses widerspiegeln soll". Vgl. auch ders., Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, 41: „Die Form der Diskurses, die Erzählung, fugt dem Inhalt der Darstellung nichts hinzu, sie ist vielmehr ein Abbild der Struktur und der Prozesse der realen Ereignisse. Insoweit als diese Darstellung den geschilderten Ereignissen gleicht, darf sie als wahre Darstellung betrachtet werden. Die in der Narration erzählte Geschichte ist eine , Mimesis ' der Geschichte, die in irgendeinem Bereich der historischen Realität erlebt wurde. Da sie deren genaue Imitation ist, kann sie als wahre Darstellung gelten." (meine Hervorh.) Vgl.A. Carroll, Interpretation, History and Narrative, 138ff., und Bernsteins grundlegende Kritik des metaphysischen Realismus oder Objektivismus. Bernsteins Beobachtung, daß diese Art des Realismus „keine lebendige Option" mehr ist, trifft den Nagel auf den Kopf. Wir sollten uns daher die Frage stellen, welche Funktion diese „tote" Option im metaphorischen Narrativismus erfüllt. Vgl. Bernstein, Beyond Objectivism and Realism, 12. Carroll, Interpretation, History and Narrative, 147f. Ich halte es daher fur falsch, wie Carroll von „empiristischen Resten" (147) bei White zu sprechen. Auch in seinen späteren Texten hält Ankersmit daran fest, „wissenschaftliche" Sprache mit „Transparenz" (oder „kodifizierter Repräsentation") zu identifizieren, um einen Gegenbild zur Nichttransparenz und „Opazität" der historischen Sprache (oder „unkodifizierten Repräsentation") aufzubauen. Vgl. etwa History and Postmodernism, in: History and Tropology, 162-182. Ankersmit, Narrative Logic, 91 f.: "We cannot glimpse at history. We can only compare one book with another. [...] We do not 'see' the past as it is, as we see a tree, a machine or a landscape as it is. We see the past only through a masquerade of narrative structures (while behind the masquerade there is nothing that has a narrative structure)." Und auf S. 19: "Nearest to the narratio is the novel and amongst all kinds of novels it is, of course, the historical novel that comes closest to the narratio." Ankersmit, Narrative Logic, 83: "[The narrative realist] regards the narratio as a kind of picture of the past: there is a controllable correspondence beween photographs and pictures - taken as a whole as well as in detail - and that part of visible reality depicted by

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A u c h in Whites und Ankersmits Darstellung historischer Forschung zeigt sich ein g e w i s s e r Empirismus. D a sie Erzählung und Forschung einander gegenüberstellen und fur die Ebene der Erzählung einen umgekehrten Empirismus vertreten, kann das nicht überraschen. In Whites Fall kann der Empirismus bis in s e i n e T e r m i n o l o g i e hinein verfolgt werden, w e n n er in seiner Einleitung zu Metahistory historische Ereignisse als „Elemente" und G e schichten als „ K o m p o s i t i o n e n " bezeichnet. 2 D i e Formulierungen sind hier bedeutsam. Er spricht v o n Ereignissen und nicht v o n Fakten; a u f diese W e i s e geht er d e m Problem der Interpretation auf der Forschungsebene aus dem W e g , denn anders als Ereignisse m ü s s e n Fakten in Tatsachensätzen ausgesagt werden. D a er Interpretation mit Narrativierung und Fiktionalisierung gleichsetzt, kann er nur s o der unangenehmen Folgerung entgehen, daß Fakten fiktional sind. 2 6 D a ß das Problem der Interpretation auf der Ebene der

them. And it is believed that there is similar correspondence with the past. I shall call the adherents of this 'picture theory' narrative realists. Narrative idealism, on the other hand, rejects the picture theory." Kein Wunder, daß fur Ankersmit selbst Popper, der sich selbst immer als Realist betrachtet hat, zum Idealisten wird; vgl. Narrative Logic, 97. Vgl. J. Searle, The Construction of Social Reality, London 1995, 199-227, für eine „realistische" Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit. 25 White, Metahistory, 19: „Zuerst werden die Elemente des historischen Feldes durch die Anordnung der zu erörternden Ereignisse in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens zu einer Chronik organisiert; dann wird die Chronik durch die weitere Aufbereitung der Ereignisse zu Bestandteilen eines ,Schauspiels' oder Geschehniszusammenhangs, in dem man klar einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß glaubt unterscheiden zu können, in eine Fabel umgewandelt." In ähnlicher Weise spricht er in einem jüngeren Text von archivarischen „Informationen" über vergangene Ereignisse, die im „historischen Diskurs" geformt werden muß, um „historisch" zu werden; vgl. Literary Theory and Historical Writing, 20, und Kansteiner, White's Critique of the Writing of History, 284: "On the level of the single event/fact White retains an element of positivist stability which stands in contrast to the epistemological arbitrariness that he posits on the second level, the level of the conceptual framework of the historical writing." Allerdings schwankt White hier, denn später nimmt er bisweilen Zuflucht zu einer antipositivistischen, Nietzscheanischen Position. Vgl. ders., Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen, 152, wo es heißt, „daß es nicht so etwas wie eine richtige, ursprüngliche Beschreibung von irgendetwas gibt, die dann die Grundlage für dessen Interpretation abgeben könnte", und schließlich, „daß alle ursprünglichen Beschreibungen irgendeines Bereichs von Erscheinungen immer schon Interpretationen seiner Struktur sind". 26 Gelegentlich läßt White ahnen, daß seine Position paradoxe Konsequenzen hat; vgl. White, A Rejoinder: A Response to Professor Charter's Four Questions, in: Storia della Storiografica (Geschichte der Geschichtsschreibung) 27 (1995), 65: "One cannot transform a ,real event, person, process, relationship of what have you into a 'function' of a discourse without 'fictionalizing' it, by which I mean 'figurating' it. The translation of the stuff of reality into the stuff of discourse is a fictionalizing." In "Literary Theory and Historical Writing" bestreitet er dann wieder ausdrücklich, die Unterscheidung von Tatsache und Fiktion einzuebnen, auch wenn unklar bleibt, worauf sich dies gründet (35). Nun treibt er seine Verteidigung der tropologischen Analyse so weit, daß sie einer erkenntnistheoretischen Position zu ähneln beginnt, die man auch E.H. Carrs What is history? ableiten könnte. Gleichzeitig läßt sich eine Verschiebung von der Fiktionalität

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Forschung in Whites Narrativismus ausgespart wird, ist daher alles andere als zufällig. 2 A u c h in Ankersmits Fall lauert der Empirismus in seiner Darstellung historischer Forschung. N a c h d e m er sich darüber a u s g e l a s s e n hat, daß w i s s e n schaftlichen Theorien und historischen Erzählungen ein ähnlicher Status zuk o m m t , hält er an derselben Stelle inne w i e White, und zwar vermutlich aus denselben Gründen: Er stellt lapidar fest, daß die "theory-ladenness o f empirical facts" nicht auf historische Tatsachen zutrifft, da "historians a l w a y s use a-theoretical, ordinary language" 2 8 . D a m i t entpuppt sich eine empiristische Darstellung historischer Forschung als erkenntnistheoretische Kehrseite der metaphorischen Darstellung der historischen Erzählung. In s e i n e m Eifer, die „traditionelle" Identifikation professioneller Geschichtsschreibung mit der A n w e n d u n g bestimmter Forschungsmethoden und die Vernachlässigung der Darstellung n a c h z u w e i s e n , geht dem metaphorischen Narrativismus die historische Forschung als charakteristisches Merkmal der D i s z i p l i n schließlich insgesamt verloren. 2 9

der Figuration zu ihrer Faktizität feststellen, wodurch die Unklarheit noch vergrößert wird: "If there is no such thing as 'raw facts', but only events under different descriptions, then factuality becomes a matter descriptive protocols used to transform events into facts. Figurative descriptions of real events are not less 'factual' - or , as I would put it, 'factological' - in a different way. Tropological theory implies that we must not confuse 'facts' with 'events'." Es scheint mir eine legitime Frage zu sein, wem diese Verwechslung noch 1990 unterlaufen würde. 27 In ders., Literary Theory and Historical Writing, schreibt White auf S. 20: "Historical discourse does not, then, produce new information about the past, since the possession of both old and new information about the past is a precondition of the composition of such a discourse. Nor can it be said to provide new information about the past insofar as knowledge is conceived to be a product of a distinctive method of inquiry. What historical discourse produces are interpretations of whatever information about and knowledge of the past the historian commands." Auf S. 21 charakterisiert er ausdrücklich "historical discourse as interpretation and historical interpretation as narrativization". In „Interpretation und Geschichte" geht White dem Problem der Interpretation auf der Forschungsebene mit der mehrdeutigen Aussage aus dem Weg, „daß es mindestens zwei Ebenen der Interpretation in jedem historischen Werk gibt: eine, auf der der Historiker eine Geschichte (story) aus der Chronik der Ereignisse konstituiert, und eine andere, auf der er, vermittels eines grundlegenderen Erzählverfahrens fortschreitend die Art der Geschichte (story), die er erzählt, zu erkennen gibt - je nachdem Komödie, Tragödie, Epos oder Satire." (76, meine Hervorh.) Vgl. A. Callinicos, Theories and Narratives. Reflections on the Philosophy of History, Cambridge, Engl., 1995, 76ff. 28 Ankersmit, Narrative Logic, 230f. 29 Dabei sollte festgehalten werden, daß Ankersmit die Komplementarität der Philosophie der historischen Erzählung und der Philosophie der historischen Forschung anerkennt, ohne aber zu sagen, wie sie sich genau zueinander verhalten; vgl. Ankersmit, Narrative Logic, 6-9, und History and Tropology, 2-6.

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III. Narrativismus als umgekehrter Positivismus (2): Narrativismus als Umkehrung der Subsumtionstheorie der Erklärung Aus der Perspektive der Erklärung ist die unmittelbare Konsequenz des "metaphorical turn" am bedeutsamsten, nämlich die Folgerung, daß die Erzählung als sprachliche Entität auftritt, die unabhängig von den einzelnen Aussagen ist, die sie enthält. 30 Die Behauptung, daß diese Erzählungen gleichzeitig Erklärungen dessen darstellen, was in ihren Aussagen beschrieben wird, bricht mit der Subsumtionstheorie der Erklärung - und kehrt sie um. Ankersmits Argumente zu diesem Thema sind deutlicher als Whites, weshalb ich seine Argumentation zuerst in den Blick nehmen werde. Ankersmits Behauptung, Erzählungen seien, wie Metaphern, selbsterklärend, gründet sich auf seine Charakterisierung historischer Interpretationen er nennt sie „narrative Substanzen" oder „Nss" - als selbstbezüglich. Diese etwas paradoxe Charakterisierung folgt aus der bereits angesprochenen konzeptuellen Strategie, die Geschichtsschreibung von der historischen Forschung zu trennen. Idealerweise produziert die historische Forschung wahre, einzelne deskriptive Aussagen, die sich auf die vergangene Wirklichkeit beziehen, und historische Erzählungen bestehen aus Ansammlungen dieser Aussagen. Weit wichtiger ist fur Ankersmit die Standpunktfunktion der Narrative, die aus dem hervorgeht, wie der Historiker die deskriptiven, wahren Aussagen zu einem narrativen Ganzen oder einer Ns organisiert. Jede Ns ist als Summe dieser Einzelaussagen definiert: Die Veränderung einer einzigen Aussage ergäbe eine andere Ns. Daher kann jede Einzelaussage, die eine Ns enthält, als logische Eigenschaft der Ns gelten, da sie eine notwendige Bedingung ihrer Identität darstellt. Das narrativistische Universum entspricht daher im Grunde demjenigen von Leibniz' Monaden, in dem eine logische und damit notwendige - Harmonie herrscht: Erzählungen mit ihrer perspektivierenden Kraft können laut Ankersmit einander nicht widersprechen, sondern sich lediglich voneinander unterscheiden. Die spezifische Identität, die die Vertreter des klassischen Historismus der historischen Wirklichkeit fälschlich zugeschrieben haben, kommt daher, so Ankersmit, den historischen Erzählungen zu. Ankersmits nächster und entscheidender Schritt ist die Ableitung einer explanatorischen Notwendigkeit aus der logischen Notwendigkeit des narrativistischen - sprachlichen - Universums: "Thus, when the past (i.e. not Nss) ist described in terms (of the narrative statements) of Nss, we can say that the past has been explained, because the Nss embodying such an explanation

30 Vgl. allerdings Gormans Kritik von Ankersmits Textholismus in J. Gorman, Philosophical Fascination with Whole Historical Texts; Rezension von Ankersmits History and Tropology, in: History and Theory 36 (1997), 406-415.

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could not have been different. The explanandum (i.e. what falls within the scope of a Ns) is explained by what defines the narratio's scope (i.e. the statements contained in a narratio)."31 "Now we know what was the cause of the échec of the Covering Law Model: a set of singular statements may be sufficient to give a historical explanation."

Mit den empirischen Gesetzen eliminiert Ankersmits Narrativismus auch das Kausalitätsprinzip aus seiner Logik der Erklärung: "Historical understanding is achieved by describing the past with the help of a strong and vigorous Ns and not by the discovery of causal relationships." 33 Wo das positivistische Credo „keine kausalen Bedingungen, keine Erklärung" lautete, behauptet Ankersmits Narrativismus das genaue Gegenteil: Wie auch immer die vom Historiker zur Erklärung herangezogenen Zusammenhänge beschaffen sein mögen, sie sind nicht kausal! (Aber ebenso wie der Positivismus setzt Ankersmit voraus, daß es in der Geschichte nur ein einziges Erklärungsmodell gibt.) Nachdem sie mehr zwei Jahrhunderte unter Humes Bann leben mußten, können narrativistische Historiker nun endlich frei aufatmen. In Whites Narrativismus begegnen wir einer anderen, versteckteren Umkehrung des Positivismus als bei Ankersmit. Whites Erklärungsbegriff ist nicht monistisch, sondern pluralistisch; an formaler Strenge kann er es sicher nicht mit dem Positivismus und mit Ankersmits logischer Analyse aufnehmen. Neben drei Typen von Erklärung, die mit Erzählungen als ganzen zusammenhängen und den Kern seiner Philosophie bilden - Erklärung durch formale Schlußfolgerungen, durch ideologische Implikationen und durch narrative Strukturierung (emplotment) - , erwähnt er in Erzählungen enthaltene Erklärungen, ohne sie näher zu bestimmen. Er erkennt an, daß ,,[i]n einigen narrativen Diskursen [...] Argumente in Gestalt von .Erklärungen' eingebettet sein" 34 können. Aber White zufolge gehören diese Erklärungen nicht zur eigentlichen Erzählung, sondern lediglich zur Chronik, also jenem Typ von Ordnung, den die Ereignisse aufweisen, bevor sie vom Historiker im eigentlichen Sinne „narrativiert" werden.35 Es scheint ganz so, als ob White

31 Ankersmit, Narrative Logic, 245. 32 A.a.O., 246. Whites Position in bezug auf quasigesetzliche Erklärung unterscheidet sich von der Ankersmits, da er einräumt, daß manche („mechanistische") Historiker für Erklärungen auf supponierte Gesetze zurückgreifen. Auch er weist allerdings die positivistische Auffassung zurück, daß die Subsumtion eines Ereignisses unter ein Gesetz eine notwendige Bedingung historischer Erklärung darstellt; vgl. Metahistory, 25-38. 33 Ankersmit, Narrative Logic, 163. 34 White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, 60; vgl. Metahistory, 21, wo er zwischen einer „synoptischen Einschätzung" unterscheidet, die Narrative als Strukturen ganzer Gruppen von Ereignissen betrifft, und Urteilen auf niedrigerer Ebene, die die Verhältnisse zwischen einzelnen Ereignissen betreffen. 35 White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, 63: „Eine derartige Bewertung [eine Erklärung] berührt jedoch nur den Aspekt des historischen Diskurses, der traditionell als seine .Chronik' bezeichnet wird. Eine Bewertung des Inhalts der Erzählung selbst ist dadurch nicht gegeben." Wie Callinicos gezeigt hat, schwankt White

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diese Erklärungsebene der Forschungsphase zuschlägt, was erklären könnte, daß eine weitergehende Analyse fehlt. Das gleiche gilt für die frappierende Tatsache, daß es in Whites Philosophie keine wie auch immer geartete Verbindung zwischen jenen der Ebene der Chronik zugeordneten Erklärungen und den drei Typen der narrativen Erklärung gibt. Wo er erläutert, welche Arten von Zusammenhang uns in der Geschichte begegnen, beschränkt er seine Untersuchung entsprechend auf narrative Verhältnisse, die - auf eine Collingwood erstaunlich nahe Weise im Geist des Historikers verortet werden: „Geschichtsdarstellungen haben daher nicht nur Ereignisse zum Gegenstand, sondern auch die möglichen Mengen von Beziehungen, die diese Ereignisse nachweisbar darstellen. Diese Mengen von Beziehungen sind jedoch nicht den Ereignissen selbst immanent; sie existieren nur im Kopf des Historikers, der über sie nachdenkt." 36

Wie Ankersmits ist auch Whites Narrativismus fur den Sog des Idealismus nur allzu empfänglich. 37 Whites dreiteiliges Schema der vier Erklärungsstrategien resultiert bekanntlich in zwölf Kombinationsmöglichkeiten für Erklärungen. Aber da er nicht behauptet, daß jenes Schema die Erklärungspraktiken erschöpfend darstellt, mag es zahlreiche weitere geben. 38 Paul Ricoeur trifft daher den Nagel

zwischen der Vorstellung, daß die Ereignisse dem Historiker vor ihrer „Narrativierung" in vollkommen unstrukturierter, chaotischer Form begegnen, und derjenigen, daß sie ihm in zeitlicher Ordnung, als Chronik begegnen. Vgl. Callinicos, Theories and Narratives, 74f. 36 White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 115f.; vgl. Ankersmit, Narrative Logic, 117, zu narrativen Substanzen: "Nss function only at the level of words", und sind daher nicht-referentiell. 37 In History and Tropology, 107, behauptet Ankersmit, daß das Vokabular der Repräsentation .jenseits" des Realismus-Idealismus-Problems stehe und daß dieses Problem ein bloßes Produkt der Erkenntnistheorie sei. Damit weist er implizit den „narrativen Idealismus" zurück, den er ursprünglich in Narrative Logic entwickelt hatte: "The inestimable positive achievement of epistemology has been to create in the transcendental ego the indispensable platform that is a prerequisite for all science. Its limitation, however, has been that in attributing all cognitive primacy to the transcendental ego it has effected the melting away of both reality itself and the representation in art and history. Epistemology has thus created the unpleasant dilemma of having to choose betwen a realistic and an idealistic interpretation of scientific knowledge. Moreover, the representation of reality by the individual cognitive subject that is not reducible to a transcendental ego has since been seen as a doubtful enterprise from a cognitive point of view." Dafür, daß er den metaphorischen Narrativismus .jenseits" der Dichotomie von Realismus und Idealismus ansiedelt, bezahlt Ankersmit also damit, ihn .jenseits" der Erkenntnistheorie ansiedeln zu müssen. Ewa Domanska hat Whites idealistische Neigungen zu seinem Lehrer William Bossenbrook und dessen Bewunderung für Idealisten wie Kant, Hegel, Collingwood und Croce zurückverfolgt. Vgl. dies., Hayden White: beyond irony , 106-1 IO. 38 Vgl. Carroll, Interpretation, History and Narrative, 141ff.

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auf den Kopf, wenn er feststellt, daß Whites Narrativismus letztlich zu einer „tropologischen Inflation" fuhrt, die als weitere Weise der Umkehrung der Subsumtionstheorie der Erklärung begriffen werden kann. Statt den Historikern einzuschärfen, dem Weg der Wahren Wissenschaft zu folgen, lehrt White sie, daß alles Streben nach wissenschaftlicher Erklärung müßig ist, da sie es am Ende zu nichts als selbst erschaffenen sprachlichen Konstruktionen bringen werden, die dem Chaos der „Information" der Archive untergeschoben werden. 39 Mit Paul Roth kann man sogar bezweifeln, ob Whites Narrativismus mehr als eine Psychologie der Erklärung (oder ein Klassifikationsschema) ist, und ob er überhaupt irgendeine Logik der Erklärung enthält. Nehmen wir etwa die Erklärung durch narrative Strukturierung, die White als historische Erklärung par excellence zu betrachten scheint. Er erläutert diesen Erklärungstyp in der folgenden Passage: „Als Erklärung durch Modellierung der Erzählstruktur (Handlung) bezeichne ich ein Verfahren, das einer Fabel dadurch .Bedeutung' verleiht, daß sie die Art von Geschichte bestimmt, die erzählt worden ist. Wenn der Historiker im Verlauf der Erzählung seine Geschichte mit der Handlungsstruktur einer Tragödie ausstattet, dann pflanzt er ihr eine bestimmte Erklärung ein; strukturiert er sie als Komödie, so setzt er damit eine andere .Erklärung'. Durch die Gestaltung mittels solcher Grundformen wird eine zunächst im Fabelgerüst geordnete Ereignisfolge allmählich als Geschichte eines bestimmten Typs offenbar." 4 0

White zufolge gewinnt diese Konstruktion ihren „Erklärungseffekt" im historischen Diskurs dadurch, daß der Leser erkennt, welche Bedeutung der Historiker dem Text verleiht.41 Daß aber das Erkennen kulturell gemeinsamer Plotstrukturen und Tropen als Erklärung gelten kann, versteht sich nicht von selbst, und White bringt dafür auch keine Argumente. 42 Solche Argumente

39 Ricoeur, Geschichte und Rhetorik, 121. Ein weiteres Residuum des Positivismus kann in Whites monistischer Annahme gesehen werden, daß jedes historische Narrativ durch eine einzige Plotstruktur „erklärt" wird. McCullaghs Einwände erscheinen hier legitim; vgl. C.B. McCullagh, The Truth of History, London/New York 1998, 127: "As a whole, the French revolution and the life of J.F. Kennedy are neither a romance nor clearly a tragedy. Because an interpretation of these events is meant to characterize them as a whole, neither plot is appropriate." 40 White, Metahistory, 21. 41 White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 121: „Meines Erachtens erfahren wir die .Fiktionalisierung' der Geschichte als eine .Erklärung' aus demselben Grunde, wie wir große fiktionale Literatur als Erhellung einer Welt, in der wir zusammen mit dem Autor leben, erfahren. In beiden Fällen erkennen wir die Formen, mit denen das Bewußtsein die Welt, in der es sich einrichten will, sowohl konstituiert als auch kolonisiert." 42 P. Roth, How Narratives Explain, in: Social Research 56 (1989), 460: "White's concern is not logical but typological", und 461: "White has title to being called, perhaps, the Linnaeus of narrative explanation. However, his typology reveals nothing with regard to

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sind aber nötig, und sei es nur aus dem Grund, daß Whites Auffassungen zur Erklärung durch Metapher und Plotstruktur bei einigen wichtigen Repräsentanten der „traditionellen" Geschichtsschreibung, etwa bei G.R. Elton, Widerspruch provoziert haben. In der Rezension eines Buches von Emmanuel Le Roy Ladurie bemerkt Elton, daß der Autor "believes that metaphors and similes explain things, while in fact they provide only evidence that an explanation has been avoided. No historian should think that he has made a point when he compares the expanding population of Europe to an exploding galaxy, or describes the social structure of a village as a magnetic field."43

Es scheint also, als läge hier bei White ein Problem, denn ein ähnlicher Einwand kann gegen die Erklärung durch narrative Strukturierung gemacht werden.

IV. Historische Erklärung als sprachliche

Operation

Nachdem ich nun den metaphorischen Narrativismus als Ergebnis einer zweifachen Umkehrung des Positivismus analysiert haben, muß gezeigt werden, wie beide Umkehrungen sich zueinander verhalten und was daraus für die Logik der narrativistischen Erklärung folgt. Wenn meine These eines „versteckten Empirismus" in Whites und Ankersmits Darstellung historischer Forschung zutrifft, und wenn es außerdem zutrifft, daß ihre Konzepte historischer Erklärung als direkter Gegensatz zu diesem „versteckten Empirismus" entwickelt werden - und daher an ihn gebunden bleiben - , ist leicht zu sehen, warum die Erklärung durch Metaphern als rein sprachliche Operation verstanden wird und warum der Narrativismus keine Verbindung zwischen der Erklärung durch Metaphern und der tatsächlichen Forschung herstellt. White ist hier am problematischsten, da er immer wieder ausdrücklich Wissen und Interpretation einander gegenüberstellt, wenn er Interpretation als Narrativierung und „Fiktionalisierung" beschreibt. Diese Entgegensetzung geht zurück auf den klassischen Gegensatz von Erkenntnistheorie und Hermeneutik, der sich wiederum vom klassischen Gegensatz von episteme und doxa ableitet. Wie Tom Rockmore zu Gadamers Hermeneutik bemerkt hat, wird mit diesem klassischen Gegensatz der Interpretation der Status einer wissenschaftlichen kognitiven Operation abgesprochen und das Feld subjektiver Überzeugung zugewiesen. Und wie er weiterhin bemerkt, setzt dieser

explanatory logic; about what makes a story an explanation White has nothing to say." Vgl. a. Roth, Narrative Explanation, 1-13. 43 G.R. Elton, Rezension von E. Le Roy Ladurie, The Mind and Method of the Historian, in: London Review of Books 18 (1981), 3, 8.

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Gegensatz wiederum die klassische Gleichsetzung von Wissen mit begründetem, „absolutem" Wissen voraus.44 Diese begriffliche Grundunterscheidung von Whites metaphorischem Narrativismus führt dazu, daß er Erkenntnistheorie und Rationalität insgesamt fallen läßt. Da White voraussetzt, daß narrative, interpretative Strategien nicht-kognitiv sind, kann die Wahl zwischen unterschiedlichen narrativen Erklärungen nichts mit Tatsachenargumenten zu tun haben und auch nicht rational sein. Daher muß Erklärung fur White eine rein sprachliche Operation sein, die ästhetischen oder moralischen Kriterien folgt: Andernfalls müßte sich White wieder mit dem erkenntnistheoretischen Problem adäquater Darstellung auseinandersetzen. Wenn nämlich eine Verbindung zwischen der narrativen Ebene und derjenigen der Tatsachen hergestellt würde, ergäben sich fur Whites Narrativismus - zumindest in seiner ursprünglichen Form - gravierende Inkonsistenzen. 45 Letztlich besteht das Grundproblem von Whites Narrativismus darin, daß er implizit einer begründungstheoretischen Position (foundationalism) und deren ständigem Begleiter, dem Skeptizismus, verpflichtet bleibt (Skeptizismus daher, weil Beliebigkeit sich als einzige Alternative zu sicher fundiertem Wissen darstellt).46 Von hier betrachtet ist es nicht weiter überraschend, daß

44 T. Rockmore, Epistemology as Hermeneutics, in: The Monist 73 (1990), 116. Zu White und der Annahme einer .endgültigen' Wahrheit in der Geschichte vgl. White, Metahistory, 174: „Wir können nicht über diese ironische Haltung hinaus zur Wissenschaft fortschreiten, weil wir innerhalb der Geschichte nicht die letzte Wahrheit über die Geschichte zu erkennen vermögen". Vgl. R. Graf, Interpretation, Truth, and Past Reality. Donald Davidson meets history. 45 Zu Whites diesbezüglichem Problem vgl. den Schluß des vorliegenden Textes und Kansteiner in Anm. 17. Zum Fehlen erkenntnistheoretischer Kriterien neben dem der „Wahrheit" vgl. Carroll, Interpretation, History and Narrative, 160f.: "To be an adequate narrative, indeed to be an adequate historical account of any sort, a candidate needs to do more than merely state the truth (indeed, an historical account could contain only true statements and be judged unacceptable). It must also meet various standards of objectivity." "Like any other cognitive enterprise, historical narration will be assessed in terms of rational standards which, though they are endorsed because they appear to be reliable guides to truth, are not reducible to the standard of truth." White übersieht die Möglichkeit objektiver Standards - etwa Vollständigkeit - , die wahrheitsrelevant sein könnten. "Thus, in evaluating the selections an deletions the narrative historian makes, we need not feel that we must embrace some special standard of truth, like metaphorical truth. Rather, our concern with historical narratives is that they be true in the ordinary sense of truth and that our assessment of their adequacy in terms of standards like comprehensiveness are keyed to determining truth." Vgl. McCullagh, The Truth of History, 13-62, für eine Erläuterung zu Wahrheit und Fairness als Kriterien historischen Wissens und R. Kiesow/D. Simon (Hg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2000. 46 Whites Kritik des „Empirismus" ist zum Programm einer neuen Zeitschrift erhoben worden, Rethinking History (erste Ausgabe Frühjahr 1997) und die Widerlegung des „Empirismus" in der Historiographie hat sich seitdem zu einem blühenden Geschäft entwickelt. Vgl. Alan Munslows Einleitung des Herausgebers in der ersten Ausgabe (Munslow entlarvt da auch meine Position, wie Ankersmit in Anm. 2, als „Empirizis-

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Whites Interpretationsbegriff große Ähnlichkeit mit dem „traditionellen" Interpretationsbegriff hat, dessen Bekämpfung er sich einst verschrieben hatte: In beiden Fällen erscheinen empirisch fundiertes Wissen und Interpretation als Gegensätze. 47 Dies ist die unausweichliche Konsequenz, wenn man Wahrheit und Rationalität nicht anders als gekoppelt an eine unfehlbare Fundierung des Wissens - wie es Wahrheit im Sinne der Abbildtheorie ist - denken kann. Denn eine solche Fundierung gibt es nicht. (Wie ich noch zeigen werde, begegnen uns in der Welt wirklicher Narrative nichts als fehlbare und konkurrierende Wissensansprüche - was sowohl fur Einzelaussagen als auch für Erzählungen als ganze gilt.) Ankersmit geht einen ähnlichen Weg wie White und gerät schließlich in ähnliche Schwierigkeiten. Auch er konstruiert einen Gegensatz zwischen Wissen und Interpretation und schlägt letztere der Ästhetik zu. 48 Es ist daher kein Zufall, daß Ankersmits Narrativismus ein ähnliches Problem aufweist wie derjenige Whites, wenn auch mit einigen Unterschieden. Auch hier wird die Erklärungskraft von Narrativen auf der sprachlichen Ebene verortet, denn Nss sind rein sprachliche Instrumente. Das bedeutet, daß narrative Erklärung als Beziehung zwischen Aussagen und nicht als Beziehung zwischen Aussagen und der Wirklichkeit konzeptualisiert wird. 49 Und da Aussagen auf unterschiedliche Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden können, gibt es immer einer Vielzahl narrativer Erklärungen derselben Mengen von Tatsachenbehauptungen. Natürlich ist auch die Subsumtionstheorie der Erklärung formal, da sie die formalen Kriterien festlegt, die ein Argument erfüllen muß, um als wissenschaftliche Erklärung gelten zu können. Die empirische Angemus"); K. Jenkins, Introduction: On Being Open about Our Closures, in: ders. (Hg.), The Postmodern History Reader, London/New York 1997, 1-36; und ders., On "What is History?" From Carr and Elton to Rorty and White, London/New York 1995. 47 Vgl. White, Interpretation und Geschichte, 70, wo er von seinen Gegnern in der Philosophie der Geschichte als Theoretikern spricht, die zugestehen, daß „in die Darstellung der Vergangenheit durch den Historiker an einem bestimmten Punkt in der Konstruktion der Erzählung Interpretation eingehen kann", und daher empfehlen, „daß die Historiker jene Aspekte, die empirisch fundiert sind, und jene, die auf interpretativen Verfahren beruhen, auseinanderzuhalten versuchen". 48 Vgl. Anm. 5. In bezug auf das Verhältnis zur Hermeneutik - und damit zur Interpretation - zur Ästhetik grenzt sich Ankersmit deutlich von Gadamer ab. Vgl. Ankersmit, Historical Representation, 102: "Meaning has two components: the world, and the insight that it can be represented in a certain way, that it can be seen from a certain point of view. We must therefore disagree with the hierarchical order of representation and hermeneutics when he [Gadamer] writes that 'aesthetics has to be absorbed into hermeneutics.' The reverse is in fact true: aesthetics, as the philsophy of representation, precedes that of interpretation and is the basis for explaining interpretation." 49 Ankersmits Vergleich der Geschichte mit einer Naturwissenschaft, die sich lediglich der (formalen) Mathematik entledigt und nicht der (empirischen) Mittel, die Angemessenheit ihrer Theorien zu testen, läuft auf das Gleiche hinaus. Vgl. De activiteit van de historiá i s , in: ders. u.a. (Hg.), Hermeneutiek en cultuur. Interpretare in de k u n s t - en cultuurwetenschappen, Meppel/Amsterdam 1995, 94f.

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messenheit dieses formalen Erklärungsmodells wird aber dadurch sichergestellt, daß sein explanans ein empirisches Gesetz enthält, aus dem das explanandum logisch abgeleitet werden kann (in Kombination mit Aussagen über die Ausgangsbedingungen). Das formale Modell ist sozusagen über einen kausalen Mechanismus in der empirischen Wirklichkeit verankert (jedenfalls ist es das der Subsumtionstheorie nach).50 Im Falle von Ankersmits formalem Modell narrativer Erklärung fehlt eine solche Garantie der empirischen Angemessenheit der narrativen Erklärung, da diesem Modell zufolge jede beliebige Menge (wahrer) deskriptiver, einzelner Existenzaussagen gleichzeitig Erklärungswert hat. Warum Ankersmit diese Position vertritt, bleibt dabei unklar. Es ist nicht sonderlich schwierig, sich eine Menge wahrer deskriptiver Aussagen zu denken, die überhaupt nichts erklärt; in der Tat kommt dies häufig vor. Sein Sprung von einer logischen Notwendigkeit im Universum der Nss zu einer explanatorischen Notwendigkeit im Universum der Narrative stellt sich so als Salto mortale heraus. Daher ist es wenig überraschend, daß das historiographische Universum nicht die Harmonie von Ankersmits narrativistischen Universum aufweist: Nicht nur geht historischen Erzählungen vielfach ihre angeblich notwendige explanatorische Eigenschaft ab, sondern sie widersprechen einander regelmäßig, statt sich bloß zu unterscheiden. Dies erklärt, warum Historiker es in der Regel für nötig halten, mehrere Erzählungen über den gleichen Gegenstand zu diskutieren und so viel Energie für die Frage aufzuwenden, welche Erzählungen empirisch angemessen sind. Wenn historische Erzählungen lediglich unterschiedene und in sich abgeschlossene sprachliche Universen und nicht empirisch zu rechtfertigende Wahrheitsansprüche darstellten, würde die bloße Tatsache historischer Debatten zu einem Rätsel. Das Verhältnis zwischen wirklichen Erzählungen und Nss bleibt daher in Ankersmits Narrativismus ein ungelöstes Problem. Wenn nun also eine Pluralität von Erklärungen an sich kein Problem darstellt, gilt dies fur eine Pluralität narrativer Erklärungen Whitescher oder Ankersmitscher Machart sehr wohl, denn diese Pluralität ist nicht durch empirische Kriterien beschränkt. Damit scheint im narrativistischen Universum tatsächlich "anything goes" zu gelten, solange nur die einzelnen deskriptiven Aussagen wahr sind. Daß der metaphorische Narrativismus die monistischen und begründungstheoretischen Ideale der Subsumtionstheorie der Erklärung über Bord geworfen hat, führt so zur ihrer Umkehrung: der Anerkennung einer unbegrenzten Vielfalt empirisch unentscheidbarer narrativer Erklärun-

50 An dieser Stelle ist es nicht nötig, den Status der Subsumtionstheorie selbst oder ihre Beziehung zur Disziplin der Geschichte zu untersuchen, da es mir lediglich um ihr Verhältnis zum metaphorischen Erklärungsmodell geht. Für einen Überblick über die Debatte um die Subsumtionstheorie vgl. W. Salmon, Four Decades of Scientific Explanation Minneapolis 1990. Zum problematischen Verhältnis der Subsumtionstheorie zur Geschichtswissenschaft vgl. vom Verf. Konstruktion der Vergangenheit, Kap. 9 und 10.

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gen und der Ersetzung erkenntnistheoretischer durch ästhetische Kriterien. 5 1 Wiederum s e h e n wir die fatale Logik der U m k e h r u n g am Werk. D i e richtige Erkenntnis, daß historische Erzählungen nicht auf in Tatsachenaussagen gefaßtes propositionales W i s s e n reduziert werden können - w i e e s der Empirismus w o l l t e - , wird zur falschen These, daß .daher' historische Erzählungen selbst k e i n e n kognitiven, sondern lediglich ästhetischen und rhetorischen Charakter haben k ö n n e n und überhaupt kein W i s s e n darstellen. D i e d e m Empirismus und seiner U m k e h r u n g im „metaphorischen" Narrativismus gem e i n s a m e Voraussetzung ist, daß alles W i s s e n propositional ist und es nichtpropositionales W i s s e n schlicht nicht gibt. Metaphern, die nicht auf propositionale A u s s a g e n reduziert w e r d e n können, können daher beiden A u f f a s s u n gen z u f o l g e keine k o g n i t i v e Funktion haben. 5 2 D i e fundamentale normative und politische Funktionen der Metaphern in der Geschichtsschreibung bleiben dabei leider bei White und Ankersmit auch v ö l l i g im Dunkel. 5 3 A l s F o l g e dieser v o n empirischen Beschränkungen unbegrenzten „künstlerischen" Freiheit b e k o m m e n s o w o h l White als auch Ankersmits Narrativism u s einen stark subjektivistischen Zug, w a s zu e i n e m gespannten Verhältnis z w i s c h e n d e m metaphorischen Narrativismus und der historischen Praxis fuhrt. 54 Wir k ö n n e n daher die metaphorische Philosophie der Geschichte

51 In bezug auf die Kriterien, nach denen Erzählungen bewertet werden können, hat sich Ankersmits Position über die Jahre deutlich verändert. In Narrative Logic, 239-261, schlägt er die Anwendbarkeit des Popperschen erkenntnistheoretischen Kriteriums der Reichweite vor, um in einer Menge konkurrierender Erzählungen die angemessenste zu bestimmen, auch wenn er dieses Kriterium nicht als wahrheitsrelevant betrachtet (denn Erzählungen können seiner Auffassung nach nicht wahr sein). Seit er zur Postmoderne konvertiert ist - seit etwa 1985 - und sich das Vokabular der „Repräsentation" zu eigen gemacht hat, verwirft er die Erkenntnistheorie zugunsten der Ästhetik. In dem kürzlich (1996) veröffentlichten Aufsatz "De rationaliteit van de geschiedbeoefenig" (Die Rationalität der Geschichte), in: Ankersmit, De spiegel van het verleden, 59-96, scheint er zu einer bescheidenen Rehabilitation des Erkenntnistheorie in der Geschichte zu kommen. 52 E. Fermandois, Kontexte erzeugen. Zur Frage der Wahrheit von Metaphern, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), 427-442, hat argumentiert, daß diese nichtkognitive Auffassung der Metapher falsch ist, auch wenn der Gedanke zutrifft, daß Metaphern als solche nicht-propositionale sprachliche Werkzeuge sind. Man kann eher davon sprechen, daß Metaphern Kontexte propositionalen Wissens erzeugen, als daß sie unmittelbar Propositionen hervorbringen; dennoch kann die .Richtigkeit' oder .Wahrheit' von Metaphern aus der Wahrheit von Propositionen abgeleitet werden. Vgl. insbes. 427-431. 53 Fermandois, Kontexte erzeugen, 431, 436, 439, zeigt dass Metaphern auch Emotionen auslösen können und normative Sichtweisen können verkörpern. Wer ein Mensch „ein W o l f nennt, erzeugt gleicherzeit Ängste, und wer Armut „ein Verbrechen" nennt, thematisiert die normative Frage nach den Verantwortlichen. Dieses nicht-propositionalen Gehalt der Metaphern ist meiner Sicht nach auch fundamental für die Geschichtsschreibung. 54 Vgl. Kansteiner, White's Critique of the Writing of History zu Whites ursprünglicher Position: "Thus White strives to sever any link between the reality of past events and

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nicht als angemessene Analyse der historischen Praxis betrachten. Wir können lediglich versuchen, aus ihren Fehlern zu lernen und zu untersuchen, woher ihre subjektivistische Tendenz rührt. Diese Beobachtung bringt mich zu meinen abschließenden Bemerkungen.

V. Schluß Ich habe die These vertreten, daß die subjektivistische Tendenz der metaphorischen Philosophie der Erzählungen durch ihre Umkehrung der oben benannten zwei Spielarten des Positivismus erklärt werden kann, nämlich des Positivismus der Tatsachen und der Subsumtionstheorie der Erklärung. Da sich beide Formen des Positivismus vom herrschenden Bild der Naturwissenschaft ableiten, verdankt der metaphorische Narrativismus seine wesentlichen Züge seiner Umkehrung des Modells der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. In gewisser Weise wird die Philosophie der Geschichte damit noch immer von den Geistern von Hume, Comte und Hempel heimgesucht, wenn auch in negativer Gestalt. Es ist daher kein Zufall, daß die „metaphorische" Variante des Relativismus in der Philosophie der Geschichte grundlegende Ähnlichkeiten zu ihren nicht-metaphorischen Vorgängern aufweist. 55 Wie ich zu zeigen versucht habe, lassen sich die Grundzüge des metaphorischen Narrativismus, insbesondere sein Hang zum Fiktionalismus und zu einer falschen Parallelisierung von Geschichte und Literatur aus seinem Angriff auf die beiden Flanken des Positivismus erklären. Denn obwohl der metaphorische Narrativismus den Verdienst hat, (wieder)entdeckt zu haben, daß Historiker Texte produzieren und daß die Geschichte daher textuelle Aspekte hat, liegt er falsch in seiner Identifikation der Geschichte mit ihren textuellen Eigenschaften (obwohl White hier, betrachtet man seine Kritik am Textualismus Foucaults und Derridas, nicht ganz konsistent ist).56 Der Grund dafür liegt in einem trivialen, aber grundlegenden Tatbestand, nämlich dem, daß es die Geschichte, anders als alle fiktionale Literatur, mit etwas außerhalb des Textes Liegendem zu tun hat - der wirklichen Vergangenheit. Diese referentielle Eigenschaft historischer Erzählungen erklärt, warum die Konstruktion von Narrativen über die Vergangenheit intersubjektiv kontrolliert und diszipli-

their semantic position in the historiographical text." Die späteren Veränderungen, die White vorgenommen hat, fìihrten zu den angedeuteten Widersprüchen. 55 Vgl. v o m Verf., 'You got your history, I got mine'. Some reflections on truth and objectivity in history, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10 (1999), 563-584. 56 Vgl. White, Das absurdistische Moment in der Literaturkritik der Gegenwart, in: Auch Klio dichtet, 303-328; Kramer, Literature, Criticism and Imagination, 97-128.

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niert wird, denn wie wir uns mit Worten auf Dinge beziehen, ist intersubjektiv geregelt. Anthony Grafton hat in seinem wunderbaren Buch The footnote. A curious history die fundamentale Verbindung zwischen Forschung und Erzählung in der Geschichte vor kurzem folgendermaßen charakterisiert: "In recent years, some scholars have argued, influentially, that history is nothing more than a form of imaginative literature - a narrative like a novel. Others have contradicted them, insisting that historians not only write elegant paragraphs but pursue erudite research. Neither side, however, has answered what seems an essential question: what role does research play in the writing of historical narratives? [...] Modern history is modern precisely because it tries to give a coherent literary form to both parts of the historical enterprise." 57

Daß dieser Bezug nicht selbstverständlich ist, kann nicht als Argument gegen die referentielle Eigenschaft der Sprache gelten, denn Referenz ist niemals etwas einfach Gegebenes. 58 Wäre dies ein Argument, so könnte man auf der gleichen Grundlage die Referenz von Einzelaussagen bestreiten - in der Geschichte, aber auch in allen anderen empirischen Wissenschaften (was nicht einmal White oder Ankersmit behaupten würden). Dasselbe gilt für den Begriff der Wahrheit, denn die Vorstellung, die Wahrheit einzelner Aussagen - im Gegensatz zur Wahrheit einer Erzählung sei selbstverständlich und unstrittig, wie es Abbildtheorien des Wissens nahelegen, kann nicht aufrechterhalten werden. Auf beiden Ebenen hängt die Feststellung von Wahrheit oder Falschheit von fehlbaren, intersubjektiven Übereinkünften ab; der Unterschied zwischen Einzelaussagen und ganzen Erzählungen ist ein gradueller und kein prinzipieller.59 Wie bereits bemerkt ist allerdings Wahrheit allein - anders als White und Ankersmit es auf der

57 Anthony Grafton, The footnote, 23If. Vgl. a. Ginzburg, History, Rhetoric and Proof, insbes. 54-71. 58 Wenn White in ders., Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, 60, eine Unterscheidung zwischen „primären" und „sekundären" Referenten von Narrativen einfuhrt, so ist das ein vergeblicher Versuch, dem Problem der Referenz aus dem Weg zu gehen, das er selbst produziert hat. Der „primäre" Referent wäre die Vergangenheit selbst, der „sekundäre" „die ,plot-Strukturen' (plot structures) der verschiedenen ,Geschichts-Typen', die in einer bestimmten Kultur vorherrschend sind". Das wirkliche Problem liegt natürlich in der Referenzbeziehung zwischen Narrativen und der Vergangenheit, also dem Verhältnis von „primärem" und „sekundärem" Referenten. 59 Die Gleichsetzung von Konvention mit Beliebigkeit, der man in postmodernen Kreisen vielfach begegnet, sollte auf jeden Fall zurückgewiesen werden - außer man ist bereit, auch die gesamte Naturwissenschaft als beliebig anzusehen. Wie Popper 1934 bemerkt hat, erfordert selbst die Anerkennung der elementarsten Beobachtungssätze (Protokolloder Basissätze) Entscheidungen und Übereinkünfte der Wissenschaftsgemeinschaft. Zur Diskussion um den Konventionalismus in der Naturwissenschaft vgl. J. Losee, A Historical Introduction to the Philosophy of Science, Oxford 1980, 159-173, und: I. Lakatos/A. Musgrave (Hg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, Eng., 1970, insbes. 102-116.

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Basis ihrer Abbildtheorie des Wissens nahelegen - kein sonderlich aufregendes empirisches Kriterium, auch wenn es für kognitive Aktivität als solche konstitutiven Wert hat. Dies liegt daran, daß, seit sich episteme als falsches Ideal herausgestellt hat, ihre Abgrenzung zur doxa in sich zusammengefallen ist und Falsifikationstheorien der Wahrheit begründungstheoretische und Abbildtheorien abgelöst haben. Das bedeutet, daß die Erkenntnistheorie seit Poppers Logik der Forschung von 1934 ihr Interesse an unmittelbaren Wahrheitskriterien zugunsten von Kriterien verloren hat, die die relative Qualität von Wahrheitsansprüchen bzw. Wissensansprüchen (in Form von Theorien, Forschungsprogrammen, Paradigmen, oder Narrativen) feststellen lassen können. Mit diesem Ziel hat die Erkenntnistheorie auf Wahrheit zielende {truth-tracking) Kriterien - um Carrolls treffende Formulierung aufzugreifen - wie Reichweite, Erklärungspotential, Genauigkeit usw. - entwickelt, und es sind diese Kriterien, die in der Bewertung konkurrierender Wahrheitsansprüche wirklich zählen. Etwas ist wahr, wenn es den bekannten Tatsachen nicht widerspricht und (noch) nicht falsifiziert worden ist, aber Wahrheit in diesem eher trivialen Sinne ist lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für kognitive Qualität.60 Dies gilt für Einzelaussagen so sehr wie für ganze Erzählungen und Theorien. Weder auf der Ebene einzelner deskriptiver Aussagen noch auf derjenigen der narrativen Organisation dieser Aussagen ist es möglich, die referentielle, deskriptive von der metaphorischen, perspektivierenden Funktion zu trennen, denn jede sprachliche Repräsentation der Wirklichkeit stellt gleichzeitig eine Perspektivierung dar, sei sie als solche erkannt oder nicht. Die einzelnen, deskriptiven Aussagen „1997 gelang es Freiheitskämpfern aus Zaire, Mobutus korrupte Diktatur zu beenden" und „1997 gelang es Rebellen in Zaire, Präsident Mobutus legitime Regierung zu stürzen" beinhalten beide einen bestimmten Standpunkt, nicht weniger als ganze Erzählungen zu diesem Thema. Auf beiden Ebenen geht es nicht um die Anwesenheit oder Abwesenheit (das Entweder-oder) einer Perspektive - in beiden Fällen gibt es keinen view from nowhere. White und Ankersmit scheinen zu glauben, daß die Perspektivierungen auf der Ebene der einzelnen deskriptiven Aussagen unanfechtbar sind und daß auf der Ebene ganzer Erzählungen das Gegenteil gilt. Ihr Argument, daß der Wahrheitsbegriff ausschließlich auf die deskriptiven Einzelaussagen anwendbar ist, folgt unmittelbar aus dieser Voraussetzung. 60 Vgl. N. Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1984, 32: „Die Wahrheit ist alles andere als eine erhabene und gestrenge Herrin; sie ist eine gefügige und gehorsame Dienerin. Der Wissenschaftler, der annimmt, er widme sich ausschließlich der Suche nach Wahrheit, täuscht sich selbst. Er kümmert sich nicht um triviale Wahrheiten, die er endlos herunterleiern könnte; und in den facettenreichen und regellosen Resultaten von Beobachtungen achtet er nur auf Andeutungen übergreifender Strukturen und signifikanter Verallgemeinerungen. Er sucht nach System, Einfachheit, Reichweite, und wenn er in diesen Punkten befriedigt ist, schneidert er die Wahrheit so zurecht, daß sie paßt [...]."

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Warum wir aber diesem nun sattsam bekannten Entweder-oder-Schema folgen sollten, wird nicht weiter begründet. Noch einmal: Wenn es hier Unterschiede zwischen Aussagen und Erzählungen gibt, so sind sie graduell und nicht prinzipiell.61 Die Komplexität des Wahrheitsbegriffs im Falle von Erzählungen (oder wissenschaftlichen Theorien) kann nicht als Argument gegen ihn verwendet werden, denn so lange wir voraussetzen, daß historische Erzählungen sich auf eine wirkliche Vergangenheit beziehen und damit Wissen über diese Vergangenheit darstellen, konstituieren historische Erzählungen Wahrheitsansprüche, die die Philosophie der Geschichte aufzuklären und nicht pauschal abzuweisen hat.62 Wie diese Ansprüche in der Praxis gerechtfertigt werden, ist ein anderes Problem, das uns hier nicht zu beschäftigen braucht, denn die Bedeutung von Wahrheit und ihre Feststellung sind zwei unterschiedliche Probleme. Das gilt für Einzelaussagen so sehr wie fur Erzählungen. Die Bedeutung des intersubjektiven Charakters der Regeln der historischen Praxis (doing history) im Gegensatz zur literarischen (doing literature) kann gar nicht hoch genug angesetzt werden, denn er ist es, der die Geschichte als empirische Disziplin auszeichnet. Anders als Autoren von fiktionalen Texten haben es Historiker mit einem Gegenstand zu tun, dessen Definition öffentlich diskutiert werden kann. Dasselbe gilt fur die Belege, die sie fiir ihre Argumente beibringen, denn aus dem öffentlichen Charakter der Geschichte folgt, daß historische Erzählungen nicht einfach vorgelegt werden können wie ihre fiktionalen Entsprechungen, sondern einer ständigen empirischen und logischen Unterfütterung bedürfen. 63 Diese Charakteristika manifestieren sich im alten Brauch unter Historikern, einander, anders als alle Autoren fiktionaler Texte, für empirische und begriffliche Unangemessenenheiten ihrer jeweiligen Geschichten als ganze zu kritisieren, und nicht lediglich für einzelne Aussagen, die diese Erzählungen enthalten. In den Debatten um Goldhagens Hitler willige Vollstrecker etwa lag ein Problem in der Angemessenheit des Standpunktes, den jene Erzählung enthielt, und nicht etwa bloß in der Wahrheit einzelner Aussagen. Es ist jener regelgeleitete Charakter der Geschichte, die sie zu einem intersubjektiven Unternehmen macht, wie der ehemalige Narrativist Lionel Gossman betont hat: "Historians do apparently believe that there are produ61

McCullagh argumentiert ähnlich in bezug auf die Wahrheitsbedingungen metaphorischer Sprache; vgl.ders., The Truth of History, 62-82. 62 In dieser Hinsicht sind David Coopers Bemerkungen zu Metapher und Wahrheit bedeutsam. Cooper kritisiert j e n e Metaphern- und Wahrheitstheorien, denen es nicht gelingt, zu erklären, warum sich unsere kognitiven Aktivitäten grundlegend an der Wahrheit orientieren; vgl. ders., Truth and Metaphor, in: F.R. Ankersmit/ Mooij (Hg.), Knowledge and Language, 37-49. 63 Dieser Aspekt der Geschichte wird auch von Megill in ders., Recounting the Past, hervorgehoben.

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cers of verification and criteria for judging between different hypotheses and narratives." "Modern historiography, like modern science, is a professionalized and regulated activity in which no individual can any longer imagine that he or she works alone or enjoys a special relationship to the past. In this respect it differs from neoclassical of Romantic historiography." 64 (Es ist kein Zufall, daß viele Anhänger der Postmoderne die romantische Historiographie als Paradigma der Geschichtsschreibung überhaupt betrachten. 65 ) Es ist diese ständige Notwendigkeit von Argumenten (als Konsequenz der Wahrheitsansprüche von historischen Erzählungen), die die Existenz einer historischen Debatte erklärt, die die Geschichte als Disziplin am Laufen hält. Und hier ist es auch, wo die Rationalität der Geschichte verortet werden kann, wie auch Lionel Gossman, Allan Megill und Paul Ricoeur in jüngerer Zeit hervorgehoben haben. 66 Wer also die Geschichte allein durch ihre narrative Form charakterisiert, läßt den Treibstoff außer acht, der sie antreibt: Historiker geben sich nicht mit bloßen Geschichten zufrieden, sie beanspruchen, wahre Geschichten vorzulegen, und dieser Wahrheitsanspruch zeichnet sie aus. Das Grundproblem des metaphorischen Narrativismus als Philosophie der Geschichte ist, daß er diesen Unterschied nicht berücksichtigt, obwohl er den Wahrheitsanspruch der einzelnen Aussagen, die eine historische Geschichte enthält, selbstverständlich anerkennt. Letztlich kann diese Vernachlässigung auf die Unfähigkeit des metaphorischen Narrativismus zurückgeführt werden, das historische Schreiben mit der historischen Forschung zu verbinden. Sowohl White als auch Ankersmit trennen, wie wir gesehen haben, den referentiellen, deskriptiven oder wörtlichen Inhalt von Metaphern von ihrem nicht-referentiellen oder figurativen Inhalt; und beide Autoren bringen die Konstruktion von Narrativen allein mit den nicht-referentiellen Aspekten zusammen. Als Folge dieser Spaltung werden die Probleme von Wahrheit und Referenz ausschließlich der Forschungsphase zugeordnet, während das Problem des Verhältnisses von Forschung und Erzählung in einem philosophischen schwarzen Loch verschwindet. 67 64 L. Gossman, The Rationality of History, in: Between History and Literature, 313, 315. Vgl. a. 309: "The way historians communicate with each other an criticize each other's work suggests that they indeed expect their colleagues to be able to recognize the force of contrary arguments and narratives to adjust their own accordingly - either by developing answers to these arguments or by revising their own." Vgl. auch A. Megill/D. McCloskey, The Rhetoric of History, in: J. Nelson/A. Megill/J. McCloskey (Hg.), The Rhetoric of the Human Sciences. Language and Argument in Scholarship and Public Affairs, Madison, 1987, 228, 235. 65 Vgl. vom Verf. Konstruktion der Vergangenheit, 177-187, und F.R. Ankersmit, The Origins of Postmodern Historiography, in: I. Topolski (Hg.), Historiography beween Modernism and Postmodernism, Amsterdam/Atlanta, 1994, 107-119. 66 Vgl. Anm. 64. Zu Ricoeur vgl. ders., Geschichte und Rhetorik. 67 Die Wiederherstellung dieser Verbindung ist auch Ricceurs Hauptziel in ders., Geschichte und Rhetorik. Er kommt zu dem Schluß, daß White die Verbindung der beiden Komponenten der klassischen Rhetorik - die Theorie der Argumentation und die Theorie der

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Das Verschwinden des Verhältnisses von Forschung und Erzählung ist meiner Ansicht nach fatal für jede Philosophie der Geschichte, denn die Dynamik der Geschichte liegt nur in diesem Verhältnis.68 Warum sollten sich Historiker sonst überhaupt mit Forschung abgeben? 69 Es ist daher aufschlußreich, daß Whites narrativistische Theorie in einer Konfrontation mit praktizierenden Historikern - eine Konfrontation, die der Historiographie des Holocaust entsprang - in ernste Schwierigkeiten geriet. Viele von Whites Grundunterscheidungen, wie etwa diejenige von Chronik und Erzählung und diejenige von „nicht-narrativierten" Ereignissen in der Forschung und ihrer späteren „Narrativierung" in der Geschichtsschreibung, wurden von Historikern wie Christopher Browning, Martin Jay und Carlo Ginzburg scharf kritisiert.70 Whites Narrativismus gründet sich auf zwei Unterscheidungen, die in

Tropen - voneinander abspaltet. Indem er die Geschichtsschreibung ausschließlich mit der Tropologie identifiziert, wird White blind fiir ihre argumentativen Fundamente und ihr Verhältnis zur Erforschung vergangener Wirklichkeit und zur Suche nach der Wahrheit. Als Folge wird die Geschichtsschreibung von der Erkenntnistheorie abgetrennt und geht schließlich in der tropologischen Hälfte der Rhetorik auf. Ricoeur plädiert daher für eine systematische Verbindung beider Komponenten der klassischen Rhetorik und eine Rehabilitation der erkenntnistheoretischen Dimension der Geschichte. 68 Ich habe dieses Verhältnis und die Dynamik der historiographischen Diskussion in: Beyond Good and Evil? The German Empire of 1871 and Modern German Historiography, in: Journal of Contemporary History 30 (1995), 729-765, analysiert. 69 In History and Postmodernism, 172, geht Ankersmit beinahe so weit, der Forschung in der postmodemen Geschichte jede Rolle abzusprechen, indem er die Geschichte ganz in eine Interpretation anderer Interpretationen aufgehen läßt: "The modemist historian follows a line of reasoning from his sources and evidence to an historical reality hidden behind the sources. On the other hand, in the postmodernist view, evidence does not point towards the past but to other interpretations of the past; for that is what we in fact use evidence for. To express this by means of imagery: for the modernist, the evidence is a tile which he picks up to see what is underneath it; for the postmodernist, on the other hand, it is a tile which he steps on in order to move on to other tiles: horizontality instead of verticality." 70 Ich beziehe mich auf ihre Aufsätze in S. Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the "Final Solution", Cambridge Mass. 1992. Vgl. C. Browning, German Memory, Judicial Interrogation, and Historical Reconstruction. Writing Perpetrator History form Postwar Testimony, in: Probing the Limits, 29-32: "As historians have increasingly recognized over the past half-century, there is no clean distinction between 'facts' and 'interpretation', in which the latter emerges as self-evident or is constructed out of the undisputed raw materials of the former." "For the history of one day in Jozefow, as for all history, virtually every 'fact' was an act of interpretation in itself, which is to say that it resulted from a judgment of the historian." "Although I would not disagree that it is the plot that determines the narrative, I would add that the questions being posed shape the plot and narrative together." "In my view there are no distinct and separate categories of attestable fact on the one hand and pure interpretation on the other. Rather there is a spectrum or a continuum." Vgl. a. M. Jay, Of Plots, Witnesses, and Judgments, in: Probing the Limits, 105: Another consideration also militates against unfettered freedom of historians to narrativize arbitrarily, and this concerns the community of others that reads and judges their work." "It is not so much the subjective imposition

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der historischen Praxis nicht auftauchen: erstens diejenige zwischen wörtlicher und figurativer Sprache und zweitens diejenige zwischen dem ausschließlich wörtlichen Sprachgebrauch in der Forschungsphase und dem Gebrauch figurativer Sprache - also von Metaphern - in der Darstellungsphase. Dieselben Unterscheidungen und Voraussetzungen sind, wie wir gesehen haben, grundlegend auch für Ankersmits Narrativismus. Diese Kritik nötigte White, in einem stillschweigend vollzogenen, aber höchst bedeutsamen Schritt die Grundthese des metaphorischen Narrativismus fallenzulassen: die Annahme, daß alle historischen Erzählungen vom Historiker nach Gutdünken narrativ strukturiert werden können, da diese Strukturierung keinen empirischen Beschränkungen unterliegt: "In the case of an emplotment of the events of the Third Reich in a 'comic' or 'pastoral' mode, we would be eminently justified in appealing to 'the facts' in order to dismiss it from the list of 'competing narratives' of the Third Reich."71

Wenn aber die These von der freien Konstruktion einer Plotstruktur {freedom of emplotment) aufgegeben wird, dann muß auch die These fallen, daß Erzählungen - ebenso wie Metaphern - notwendigerweise und ungeachtet der Tatsachen erklärende Kraft besitzen - die andere Säule des „metaphorischen" Narrativismus. 72 Wenn die Tatsachen verhindern, daß das Dritte Reich in beliebige erzählerische Form gebracht werden kann, dann sind auch der Erklärung durch narrative Strukturierung faktische Beschränkungen auferlegt. In Wirklichkeit können Erzählungen, anders als Whites und Ankersmits Philosophien es behaupten, ebenso wie Metaphern falsch sein, wenn sie nichts erhellen, sondern unsinnig sind. Ein Historiker, der Hitler, Stalin oder Pol Pot als ,guten Hirten seiner Herde' bezeichnen würde, würde keine interessante neue historische Interpretation vorschlagen (auch wenn er sicherlich eine angesichts des Kontextes .originelle' Metapher vorschlägt), sondern produziert schlicht historischen Unsinn. Dasselbe gilt für Historiker die Großbri-

of meaning, but rather the intersubjective judgment of meanings that matters." Vgl. a. Ginzburg, History, Rhetoric and Proof, 1, wo es heißt: "Rarely has the chasm between methodological reflection and actual historiographical practice been so pronounced as in the last few decades." Vgl. a. Kansteiner, White's Critique of the Writing of History, 290-293. 71 White, Historical Emplotment and the Problem of Truth, in: Probing the Limits, 40. 72 In White, Historical Text as Literary Artifact, 85, hat White seine ursprüngliche Position deutlich aufgeweicht, ohne sie allerdings aufzugeben: "The important point is that most [meine Hervorh.] historical sequences can be emplotted in a number of different ways [...]."Ankersmits Argument zur Erklärungskraft von Erzählungen gerät in ähnliche Problem wie Whites. Auf der einen Seite behauptet Ankersmit, daß jede Ns per definitionem Erklärungswert hat, auf der anderen Seite heißt es in Narrative Logic, 246, daß eine Ns oder eine Menge von Einzelaussagen "may be [meine Hervorh.] sufficient", um eine historische Erklärung abzugeben.

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tannien statt die Türkei im 19. Jahrhundert als „der kranke Mann Europa's" bezeichnen würden. 73 Der "metaphorical turn", wie ihn White und Ankersmit formuliert haben, ist daher als Philosophie der Geschichte inadäquat und sollte durch Analysen ersetzt werden, die der historischen Praxis angemessener sind 74 . Solche Analysen müssen den metaphorischen und theoretischen Aspekten sowohl der Forschung als auch der Erzählung Rechnung tragen und sich eines Metaphernbegriffs bedienen, der es nicht ausschließt, daß metaphorische Aussagen kognitive Funktionen erfüllen und wahr oder unwahr sein können. Derartige Analysen der Metapher existieren und sind etwa von Mary Hesse, von Lakoff und Johnson und unlängst von Eduardo Fermandois ausgearbeitet worden. 75 Diesen Autoren zufolge kann jeder Sprachgebrauch metaphorischen Charakter haben, weshalb eine klare Trennung von wörtlichem und figurativem Sprachgebrauch sich nicht durchhalten läßt. Mary Hesse hat diese Auffassung, die gleichzeitig eine Verteidigung des Realismus ist, folgendermaßen vertreten: "Just as observation language is theoretical and analogical through and through, but is still the basis for realist descriptions and cognitive inference, so I shall now argue that natural language is metaphoric through and through, an yet has cognitive meaning. I am going to argue that metaphorical meanings have logical priority over literal meanings in a way analogous to the priority of theoretical over .observational' meanings in science." 76

Diese Auffassung gründet sich auf das Argument, daß unsere normale deskriptive Sprache alle möglichen Arten von Metaphern enthält. Eine deskriptive Aussage wie „Whites Theorie hat in der Geschichtsschreibung keinen festen Grund" verbirgt die eingebaute Metapher „Theorien sind wie Gebäude". Der Umstand, daß viele Metaphern nicht (mehr) als solche erkannt werden, ändert daran nichts. Der enorme Vorteil dieser Art der Metaphernanalyse ist, daß sie die kognitive Funktionen der Metaphern anerkannt, dem Wahrheitsanspruch historischer Erzählungen nicht a priori widerspricht und

73 Fermandois, Kontexte erzeugen. Zur Frage der Wahrheit von Metaphern, insbes. 435. Fermandois wendet Nelson Goodmans Begriff der .Richtigkeit' auf Metaphern an und vertritt die These, daß die .Richtigkeit' von Metaphern mit der Wahrheit von Aussagen zusammenhängt, daß aber Metaphern nicht darauf reduziert werden können. 74 Die Philosophie der Geschichte braucht also nach dem 'metaphorical turn' wieder gewissermaßen ein 'factual turn'. 75 Zu Lakoffs und Johnsons Konzept vgl. C. Forceville, Pictorial Metaphor in Advertising, Wageningen, 1994, 27-32; zu Hesses Konzept vgl. M. Hesse, Models, Metaphors and Truth, in: Ankersmit/ Mooij (Hg.), Knowledge and Language, Dordrecht u.a. 1993, 5067; zu Eduardo Fermandois vgl. ders., Kontexte erzeugen. Zur Frage der Wahrheit von Metaphern. 76 Hesse, Models, Metaphors and Truth, 54

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auch keine apriorische Auffassung der Erklärungskraft von Erzählungen als solchen impliziert.77 Meiner Ansicht nach bleiben der Geschichte anders als der Literatur Wahrheitsansprüche wesentlich und können nicht als zufällig abgetan werden. Dieser grundlegende Unterschied sollte Philosophen davon abhalten, Geschichte und fiktionale Literatur für zwei Exemplare derselben Gattung zu halten - nämlich der Erzählung - , von denen die historische Erzählung idealerweise auf unerklärliche Weise mit der Wahrheitssuche zusammenhängt. Für die Philosophie der Geschichte ist dies ein Holzweg. Die stilistischen oder andere textliche Aspekte der Geschichtsschreibung werden dann für die Geschichte selbst gehalten, und als philosophisches Ergebnis dieser Verwechslung wird die Philosophie der Geschichte als Zweig der Ästhetik oder der Literaturwissenschaft behandelt. Das ist im wesentlichen, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschehen ist, und es ist daher kein Zufall, daß viele Bücher zur Philosophie der Geschichte heutzutage in literaturwissenschaftlichen Instituten geschrieben werden.78 Wiederum faßt Anthony Grafton das Wesentliche meines Arguments treffend zusammen: 'The history of historical research cannot be separated from that of historical rhetoric: even the best-informed efforts to achieve that separation distort the developments they seek to clarify. Historical texts are not simply narratives like any other; they result from the forms of research and critical arguments that footnotes record. But only the literary work of composing such notes enables the historian to represent, imperfectly, the research that underpins the text. To study the footnote is to see that strict efforts to distinguish history as art from history as science have only their neatness to recommend them. In the end, they shed little light on the actual development of modern historiography" 79 .

Paradoxerweise zeigt sich also letztlich, daß das Grundproblem der metaphorischen Philosophie der Geschichte bei all der Aufmerksamkeit, die sie den sprachlichen Dimensionen der Geschichte zuwendet, darin liegt, daß sie vergessen hat, die sprachlichen Wurzeln des Wortes „Historie" selbst in den Blick zu nehmen. Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes 77 In White, Literary Theory and Historical Writing, bewegt sich White in diese Richtung, indem er die Unterschiede zwischen wörtlichem und figurativem Sprachgebrauch relatviert, ohne die Konsequenzen für seine ursprüngliche Position zu reflektieren. 78 Vgl. Megill/McCloskey, The Rhetoric of History, 235: "The need is not to abandon epistemological standards. These too are part of the discipline and of its conversation. They mark out a successful attempt to make history, like science, cumulative. Yet at the same time they create an obstacle. History that tries to do without rhetoric loses its contact with the wider conversation of mankind." Vgl. a. J. Nelson/A. Megill/D. McCloskey, Rhetoric of Inquiry, in: Megill/McCloskey (Hg.), The Rhetoric of the Human Sciences, 3-18. 79 Grafton, Footnote, 232f.

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historia ist nämlich nicht Geschichte (story), sondern (Er-)Forschung. Immer wenn historische Erzählungen also als „wahre Geschichten" bezeichnet werden, sollte die Betonung auf dem Adjektiv und nicht auf dem Substantiv liegen.

Historisches Wissen und historische Wirklichkeit: Für einen „internen Realismus" Chris Lorenz "Where there is no theory, no active thought, there is only impression". Hayden White'

Es war einmal ein Bauer, dem ein Exemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft in die Hände fiel. Er öffnete das Buch und begann zu lesen, kam aber nicht sonderlich weit. Nach kurzer Zeit Schloß er das Buch wieder und seufzte: „Seine Sorgen möchte ich haben." 2 Diese Anekdote wurde vor zwanzig Jahren von Christian Meier angeführt, um das schwierige Verhältnis von Historikern und Philosophen zu charakterisieren, wobei die Historiker mit dem Bauern verglichen wurden. Ich werde Meiers Skizze als Ausgangspunkt meiner Untersuchung des Verhältnisses der Geschichte und der Philosophie der Geschichte nehmen. Dabei lautet meine These, daß die historische Praxis (doing history) eine philosophischere Aktivität ist, als die meisten Historiker ahnen, und daß die Anerkennung dieser Tatsache die Reichweite und die Qualität der historischen Diskussion positiv beeinflussen kann. Im Widerspruch zu Geschichtsphilosophen wie Atkinson werde ich behaupten, daß Historiker von der Philosophie profitieren können, da die historische Praxis durch philosophische Einsichten positiv beeinflußt werden kann. 3 Wie ich zeigen werde, ist dies aber nur der Fall, wenn Geschichtsphilosophen die Anliegen professioneller Historiker ernstnehmen - was bedeutet, daß philosophischen Untersuchungen stets tatsächliche Debatten von Historikern als Rohmaterial dienen sollten, wie Philosophen wie Dray und Martin betont haben. 4

1 2 3

4

H. White, Figurai Realism. Studies in the Mimesis Effect, Baltimore and London 1999, viii. Chr. Meier, Narrativität, Geschichte und die Sorgen des Historikers, in: R. Koselleck/W. Stempel (Hg.), Ereignis und Erzählung, München 1973, 571-585. R.R. Atkinson, Methodology. History and its Philosophy, in: W.J. van der Dussen/L. Rubinoff (Hg.), Objectivity, Method and Point of View. Essays in the Philosophy of History, Leiden 1991, 12-22. L. Rubinoff, W. Dray and the Critique of Historical Thinking, in: van der Dussen/ders., Objectivity, 1-11; R. Martin, The Past Within Us. An Empirical Approach to Philosophy of History, Princeton 1989, 3-16.

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Um dies zu verdeutlichen, werde ich den deutschen Historikerstreit in den Blick nehmen. Dabei werde ich das Verhältnis von Geschichte und Philosophie anhand von drei Thesen erläutern: Erstens werde ich - entgegen der verbreiteten postmodernen Mode - daran festhalten, daß Historiker Anspruch auf Wissen von einer wirklichen Vergangenheit erheben; und da alle Wissensansprüche Wahrheitsansprüche darstellen, muß die Legitimierung von Wahrheitsansprüchen sowohl für die Geschichte als auch für die Philosophie der Geschichte von zentraler Bedeutung bleiben - trotz der Wahrheitsallergie der Postmoderne. 5 Zweitens werde ich die These vertreten, daß dieses Plä5

In bezug auf die Bedeutung des Begriffs Postmoderne teile ich Welschs Auffassung, wie er sie in ders., Unsere postmoderne Moderne, Berlin 1997, 1-8, ausfuhrt. Welsch zufolge verbinden postmoderne Positionen 1. „das Mißtrauen gegenüber Metaerzählungen der Geschichte" wie Liberalismus, Marxismus und Modernismus, was auf eine grundsätzliche Ablehnung jeder materialen Geschichtsphilosophie und auf die grundsätzliche Ablehnung hinausläuft, Pluralität auf Einheit zu reduzieren, d.h. Anti-Reduktionismus und Anti-Unitarismus; 2. die Ablehnung der Vorstellung, daß es eine von Subjektpositionen unabhängige Wirklichkeit gibt, d.h. Anti-Objektivismus. Dieser Anti-Objektivismus hat zur Folge, daß eine Diskussion über die Wirklichkeit unabhängig von ihren symbolischen, insbesondere sprachlichen Repräsentationen zurückgewiesen wird. Auch Welschs Unterscheidung zwischen interessanten und vulgären Varianten postmodernen Denkens stimme ich zu. In bezug auf die Postmoderne in der Geschichte ist Rüdiger Grafs Analyse der ,postmodemen Herausforderung' hilfreich, wie er sie in ders., Interpretation, Truth, and Past Reality. Donald Davidson Meets History, Rethinking History 7 (2003), 3, 387-402, insbes. 388-390, ausführt. Graf führt die postmoderne Geschichtsschreibung auf vier Grundvorstellungen zurück: 1. Die Pluralität der Beschreibungen, d.h. die Vorstellung, daß zahlreiche unterschiedliche Geschichten über die gleiche Menge Ereignisse oder Tatsachen erzählt werden können und daß ,daher' Tatsachen Interpretationen nicht determinieren und es ,daher' keinen Unterschied zwischen wahren und falschen Interpretationen gibt; 2. die Textualisierung der Geschichte, d.h. die Vorstellung, daß Historiker es nur mit Texten zu tun haben; da Historiker keinen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit selbst haben, kann die Wahrheit historischer Berichte nicht im Sinne einer Korrespondenz festgestellt werden: Historische Texte können lediglich mit anderen Texten verglichen werden, nicht mit der Vergangenheit selbst; 3. die Dereferenzialisierung der Sprache, d.h. die Vorstellung, daß Worte ihre Bedeutung erhalten, indem sie sich auf andere Worte beziehen, nicht durch ihre Referenz auf eine außersprachliche Wirklichkeit (diese Vorstellung wird in der Regel mit Saussure und Derrida zusammengebracht): ,Daher' können historiographische Texte sich weder auf die Vergangenheit beziehen noch in dem Sinne wahr sein, daß sie der Vergangenheit korrespondieren; 4. Narrativität, d.h. die Vorstellung, daß Erzählungen eine eigene Logik haben, die unabhängig von den Tatsachenaussagen ist, die sie enthalten. .Daher' können Erzählungen nicht wahr oder unwahr sein. Vgl. weiter Chr. Conrad/M. Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994; K. Jenkins (Hg.), The Postmodern History Reader, London 1997. Für eine Kritik vgl. P. Zagorin, Historiography and Postmodernism. Reconsiderations, History and Theory 29 (1990), 263-274; ders., History, the Referent and Narrative, History and Theory 38 (1999), 1-24; vom Verf., 'You got your history, I got mine'. Some reflections on truth and objectivity in history, Österreichische Zeitschrift fur Geschichtswissenschaften 10, 4 (1999) 563-584.

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doyer für eine Rückkehr zu einer Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen (justificationism) für Historiker wie für Geschichtsphilosophen einen Realismus in bezug auf die Vergangenheit voraussetzt. Die Entlarvung des naiven Realismus - oder Objektivismus, wie er oftmals genannt wird - impliziert also nicht automatisch eine Ablehnung des Realismus insgesamt oder die Notwendigkeit, sich dem Idealismus (wie einige Collingwoodianer meinen) oder Ästhetizismus - oder anderen Spielarten des Relativismus - in die Arme zu werfen. 6 Meine dritte These lautet, daß der Typ Realismus, den ich darstellen werde - der sogenannte „interne Realismus" - , es möglich macht, das klassische Problem von Tatsachen und Werten neu zu beleuchten, mit dem sich Historiker und Geschichtsphilosophen so lange herumgeschlagen haben. Diese Untersuchung wird zu dem - bereits von Jürgen Habermas, Jürgen Kocka und Jörn Rüsen gezogenen - Schluß führen, daß die normative Dimension der Geschichte nicht eliminiert werden kann und daher einer rationalen Rechtfertigung bedarf.7

1. Der

Historikerstreit

Der Historikerstreit erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren 1986 und 1987. 8 Sein zentrales Thema war der Ort des Dritten Reiches in der deutschen Geschichte - ein Thema, das bekanntlich von deutschen Historikern seit den späten sechziger Jahren ausfuhrlich und in vielen Formen diskutiert worden ist9. In seinem eruptiven Charakter kann der Historikerstreit als eine 6

7

8

9

Für ein Beispiel des Collingwoodschen Motivs vgl. W.J. van der Dussen, Filosofie van de geschiedenis: Een inleiding [Philosophie der Geschichte: eine Einleitung], Muiderberg 1986, 144-179; zum Problem des Relativismus vgl. R. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism, Oxford 1983, 1-16. Für Literaturangaben vgl. Chr. Lorenz, Die Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997, 400-437. Zum „internen Realismus" vgl. H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1982, 79f. [Der deutsche Übersetzer Putnams wählt hier „Internalismus" und spricht nur gelegentlich von „internen Realisten"; wegen des hier ausdrücklich gewünschten Bezugs zum Realismus wird im vorliegenden Text der Begriff „interner Realismus" beibehalten. Anm. d. Übers.] Die Literatur zu dieser Debatte ist inzwischen unüberschaubar geworden. Als Überblick und Diskussion vgl. R. Evans, In Hitler's Shadow. West German Historians and the Attempt to Escape from the Nazi Past, London 1989; Ch. Maier, The Unmasterable Past. History, Holocaust and German National Identity, Cambridge, Mass. 1988. Die Beiträge zur ursprünglichen Debatte selbst sind versammelt in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, im Folgenden zitiert als Historikerstreit. Auch diese Debatten sind fast unübersehbar geworden. Für Überblicke und Literaturangaben vgl. M. Sabrow, R. Jessen u. K. Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, und N. Berg, Der Holocaust

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Art kollektive „Freudsche Fehlleistung" der historischen Zunft verstanden werden: Er deckte Aspekte auf, die in „normalen" Debatten in der Regel verborgen bleiben. Die Kontinuität mit dem neueren deutschen Opferdiskurs läßt die Wahl dieses Beispiels auch noch im Jahr 2004 gerechtfertigt erscheinen.10 Ich werde mich auf die Hauptprotagonisten konzentrieren und die Debatte als Streit zweier Gruppen schematisieren. Die eine Gruppe scharte sich um Ernst Nolte und Andreas Hillgruber. Die andere Gruppe bestand aus ihren Kritikern, angeführt von Jürgen Habermas, Hans Mommsen und Martin Broszat. Es wird sich zeigen, daß alle diese Historiker ihre Wissensansprüche durch die Berufung auf „Tatsachen", „Wirklichkeit" und „Wahrheit" gerechtfertigt haben; gleichzeitig scheint es, als hätten sie versucht, konkurrierende Wissensansprüche dadurch zu untergraben, daß sie sie als „Werturteile" denunzierten. Der Historikerstreit begann mit einem Artikel des Philosophen und Soziologen Habermas in der Zeit.11 Habermas kritisierte die apologetischen Tendenzen jüngerer Interpretationen des Nationalsozialismus durch westdeutsche Historiker. Nolte und Hillgruber - beide bekannte Spezialisten - waren seine Hauptziele. In seinen jüngsten Texten hatte Nolte vorgeschlagen, die Geschichte des Dritten Reiches aus einer neuen Perspektive zu betrachten. 12 Seiner Ansicht nach war dies nötig, da das alte Bild des Dritten Reiches als Reich des absolut Bösen überholt war. Historiker, die diesem Bild anhingen, verwendeten laut Nolte ein Motiv, das die Nazis selbst eingeführt haben: die Zuschreibung kollektiver Schuld. Der einzige Unterschied bestehe darin, daß die kollektive Schuld den Deutschen statt den Juden zugeschrieben werde. In Noltes Augen verleitete das Negativbild des Dritten Reiches nicht nur zu einem „negativen Nationalismus", sondern produzierte ein SchwarzweißDenken. Dies behindere den Fortschritt der Wissenschaft, da historisches Verstehen von der Anerkennung der diversen Grautöne abhänge.

und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; Sonderband 52 von German Politics & Society 17 (1999), 3: "The dilemmas of commemoration: German debates on the Holocaust in the 1990's". 10 Ich beziehe mich auf die Debatten und Publikationen über die Deutschen als Kriegsopfer, die auf Bernhard Schlinks Der Vorleser, Günther Grass' Im Krebsgang und Jörg Friedrichs Der Brand und Brandstätten gefolgt sind. Zur Entwicklung der deutschen Opferdiskurse vgl. vom Verf.: Bordercrossings. Some reflections on the role of German historians in recent public debates on Nazi history, in: D. Michman (Hg.), Remembering the Holocaust in Germany 1945 - 2000. German Strategies and Jewish Responses, New York 2002, 59-95. 11 J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: Historikerstreit, 62-77. 12 E. Nolte, Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus? Das Dritte Reich im Blickwinkel des Jahres 1980, in: Historikerstreit, 13-36; ders., Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: Historikerstreit, 39-48. Zu seiner Reaktion auf die Kritik und seinem Kommentar zur Diskussion vgl. ders., Das Vergehen der Vergangenheit: Antwort auf meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, Berlin 1987.

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Nolte gab zwei Beispiele seiner neuen Perspektive auf den Kontext, in dem Nazideutschland interpretiert werden sollte: Der Nationalsozialismus im Allgemeinen und die Verbrechen der Nazis an den Juden im Besonderen sollten nicht lediglich im Zusammenhang der deutschen Geschichte betrachtet werden; stattdessen sei eine vergleichende europäische oder sogar globale Perspektive nötig. Der Grund dafür sei, daß die Geschichte des 20. Jahrhunderts in unmittelbarem Sinne zur Weltgeschichte geworden sei; eine Nationalgeschichte jener Periode wäre daher ein reiner Anachronismus. Der übernationale Charakter der historischen Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts verlangte vom Historiker schlicht und einfach eine übernationale Perspektive. Entsprechend konnte Hitler von den Historikern nicht mehr als erfolglose Imitation Bismarcks behandelt, sondern sollte als europäischer „Anti-Lenin" betrachtet werden. Historiker, die diese elementare Tatsache nicht anerkannten, waren Opfer einer traurigen Verblendung. Auf der Grundlage dieses Arguments bestand Nolte darauf, daß die Verbrechen der Nazis an den Juden in die Perspektive anderer Massenmorde des 20. Jahrhunderts gerückt werden müßten, angefangen mit dem Genozid der Türken an den Armeniern, den russischen Massenmorden während und nach der russischen Revolution und in jüngerer Zeit den Massakern in Vietnam, Kambodscha und Afghanistan. Nolte zufolge mußten diese Massaker im Kontext der gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse der Entwurzelung und der Ideologien verstanden werden, die zu ihrer Bewältigung formuliert wurden. Dieser Entwurzelungsprozeß war für Nolte eine Folge des mit der industriellen Revolution beginnenden Modernisierungsprozesses. Grundlegend für jene Ideologien war Nolte zufolge die Vorstellung, die physische Liquidation einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe bilde die Lösung der Probleme der „modernen Zeiten", da diese Liquidation notwendige Bedingung der Utopie sei. Die einflußreichsten dieser „utopischen Vernichtungsphantasien", so Nolte, waren der Marxismus und der Nationalsozialismus gewesen. Dieser Einfluß lag darin begründet, daß erfolgreiche politische Bewegungen sich jene Ideologien zu eigen gemacht und in Rußland nach 1917 und in Italien und Deutschland nach 1922 bzw. 1933 zu Staatsideologien gemacht hätten. In Rußland und in Deutschland wurden jene „Vernichtungsphantasien" später in die Praxis umgesetzt. Nolte zufolge hingen diese Entwicklungen miteinander zusammen, da das russische Beispiel „Ursache" der deutschen Vernichtungspraxis gewesen war. Es lag auf der Hand, daß diese These der kontroverseste Teil von Noltes neuer Perspektive auf die deutsche Geschichte war. Diese Kausalbeziehung zwischen ,Gulag' und .Auschwitz', die er als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung verstand, verortete Nolte im Bewußtsein Hitlers und seiner Kumpane. Es war die Bedrohung durch die russische Revolution und die Angst, ebenso wie das russische Bürgertum vom Bolschewismus vernichtet zu werden, die Hitler zu Auschwitz veranlaßt hatte, schrieb Nolte. Im natio-

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nalsozialistischen Bewußtsein war der Bolschewismus eine jüdische Erfindung und die Sowjetunion ein von Juden beherrschter Staat. Aus diesem Grund identifizierte Hitler den Kampf gegen den Bolschewismus mit dem Kampf gegen die Juden - mit fatalen Konsequenzen fur diese. Noltes Auffassung zufolge sollte der Antisemitismus der Nazis daher als historisch verständliche Transformation ihrer „legitimen" Angst vor dem Bolschewismus gesehen werden. Der traditionelle Antisemitismus spielte dabei überhaupt keine Rolle. Unabhängig davon hatte auch Andreas Hillgruber eine neue Perspektive auf die Geschichte Nazideutschlands entwickelt.13 Wie Nolte schlug auch er vor, diese Episode von Osten aus zu betrachten, und wie Nolte kritisierte er andere für ihre beschränkte Perspektive.14 Mit „Beschränkung" war die Blindheit für die zwei nationalen Katastrophen des zweiten Weltkrieges und ihren Zusammenhang gemeint - die Katastrophe des europäischen Judentums und die deutsche Katastrophe. Letztere bestand in der Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen aus Mittel- und Osteuropa in den Jahren 1944 und 1945, der Besetzung ihrer ehemaligen Heimat durch Rußland und Polen und der deutschen Teilung. Hillgruber zufolge hatten die Historiker die Beziehung zwischen diesen beiden Katastrophen bisher nicht in der angemessenen europäischen Perspektive interpretiert. Sie hätten eine direkte Beziehung zwischen der deutschen und der jüdischen Katastrophe angenommen und jene als Bestrafung für diese durch die Alliierten interpretiert. Diese Auffassung sei irrig, da die jüdische Katastrophe zu jener Zeit, als die Alliierten ihre Pläne für das besiegte Deutschland machten, noch nicht bekannt gewesen sei. Die Deutschlandpolitik der Alliierten konnte daher nicht mit den deutschen Verbrechen an den Juden in Verbindung gebracht werden, sondern mußte auf das sogenannte „Preußenklischee" bezogen werden. Dieses Klischee bestand in der Vorstellung, daß es eine „deutsche Gefahr" in Europa gebe und daß diese Gefahr nur dann verschwinden werde, wenn der militaristische Staat Preußen (mit seinem Kernland östlich der Elbe) mit ihr verschwände. Die jüdische und die deutsche Katastrophe stünden daher in keinerlei kausaler Beziehung zueinander. Dennoch gab es Hillgruber zufolge eine Verbindung zwischen beiden, denn es gab einen verborgenen Faktor, der beide erklären konnte. Diese ver13 A. Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986. 14 Wie wenig die deutschen Historiker selbst nach 1945 die deutsche Geschichte tatsächlich ,νοη Osten aus', geschweige ,νοη Europa aus' geschrieben haben, wurde kürzlich überzeugend von Philip Ther in seinem Aufsatz: Beyond the nation. The relational basis of a comparative history of Germany and Europe, Central European History 36 (2003), 45-73, dargelegt. Die .Westorientierung' der Bundesrepublik, so Ther, wird retrospektiv und ,unhistorisch' von ihnen in die moderne deutsche Geschichte zurückprojiziert. Thers Analyse hat jedoch nichts mit den apologetischen Argumenten Noltes und Hillgrubers zu tun.

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borgene Ursache bestand in der Praxis der Deportation und Liquidation ganzer Bevölkerungen, die aus der im 20. Jahrhundert entwickelten Idee der „ethnischen Säuberung" hervorgegangen war. Stalin und Hitler unterschieden sich von anderen Massenmördern nur durch die Radikalität, mit der sie diese Idee in die Praxis umgesetzt hatten. Die jüdische Katastrophe war die am deutlichsten sichtbare Folge, so daß die deutsche Katastrophe in der Konsequenz in den Hintergrund rückte. Dennoch gehörten beide zum selben historischen Kontext. Wie Noltes suggerierte auch Hillgrubers neue Perspektive eine unmittelbare Verbindung der deutschen Vernichtungspraxis mit der europäischen Geschichte im Allgemeinen. Das heißt nicht, daß Hillgruber das Argument überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, daß Auschwitz ohne Nazideutschland nicht möglich gewesen wäre und daß daher Deutschlands Niederlage absolut wünschenswert war. Dieses Problem wurde jedoch als tragisches Dilemma der deutschen Wehrmacht dargestellt, ein Dilemma ohne jede Hoffnung auf Lösung - ein Dilemma, das die Unterscheidung zwischen der .sauberen' Wehrmacht und den verbrecherischen Nazis selbstverständlich voraussetzte.15 Indem sie die deutsche Bevölkerung gegen die vorrückende Rote Armee verteidigte, ermöglichte die Wehrmacht den Nazis unbewußt und unabsichtlich, mit ihrer mörderischen Praxis in den Konzentrationslagern hinter der Front fortzufahren. Die einzige Möglichkeit für deutsche Historiker, diese Tragödie zu verstehen, war sich selbst in diese Situation hineinzudenken. Der Schlüssel zum historischen Verstehen, so Hillgruber, lag darin, die Situation mit den Augen der deutschen Armee zu sehen und aus dieser Perspektive zu beschreiben, denn das war es, was auch die deutsche Bevölkerung getan hatte. Daher war die Perspektive der Wehrmacht für die Historiker der Ostfront die einzig „realistische". Wie Nolte versuchte auch Hillgruber, seine Perspektive durch einen Appell an die historische Wirklichkeit zu legitimieren. Die hier dargestellten beiden Perspektiven bildeten den Zündstoff fur den Historikerstreit. Diese Kontroverse spaltete die deutschen Historiker insgesamt in zwei Lager: Eher linke Historiker neigten dazu, Habermas' Kritik zu unterstützen. Ihre Beiträge wurden hauptsächlich in der linksliberalen Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht. Historiker konservativer Provenienz gaben eher Nolte und Hillgruber ihre Unterstützung und versuchten, sie gegen die Kritik von Habermas und anderen zu verteidigen. Ihre Beiträge erschienen vor allem in der konservativen Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung. Diese Kontroverse bot im Grunde ein postmodernes Schauspiel. Der feste Boden, auf dem Historiker sich sonst bewegen, verwandelte sich fast gänz15 Seit der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 und die darauf folgenden Kontroversen - d.h. seit 1995 - ist diese Trennung, die in Fachkreisen schon lange als überholt galt, recht problematisch geworden. Auch in diesem Sinne ist der Historikerstreit inzwischen .historisch' geworden.

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lieh in einen Sumpf aus Relativismus und Subjektivität. Alle Säulen der „normalen" Geschichtswissenschaft, wie Quellen, Tatsachen und historische Methoden, versanken spurlos in diesem Sumpf. Selbst die Frage, ob es überhaupt eine wirkliche Diskussion zwischen den beiden Lagern gegeben hat, erschien nicht abwegig: Die Verteidiger von Nolte und Hillgruber bestritten schlicht und einfach die Existenz einer historischen Debatte und sprachen vom „sogenannten Historikerstreit", einer unwürdigen „politisch-moralischen Kampagne" gegen sie oder von der „Habermas-Kontroverse". 16 Der Satz „Deine Wirklichkeit ist nicht die gleiche wie meine" konnte wohl als die einzige »«strittige Aussage der ganzen Auseinandersetzung bezeichnet werden. Was nämlich die eine Partei in dieser Kontroverse als Feststellungen von Tatsachen betrachtete, wurde von der anderen nicht anerkannt und vielfach als politische „Werturteile" diffamiert. Ein Beispiel dafür war die Art, wie die Vernichtung der Juden durch Nazideutschland beschrieben wurde. Die Kritiker von Nolte und Hillgruber betrachteten den quasiindustriellen Charakter der Zerstörung des europäischen Judentums als historisch einzigartig, wodurch sich dieses Ereignis von anderen Massenmorden in der Geschichte unterscheide. Diese Auffassung gründete sich darauf, daß die Nazis zur Erreichung ihres mörderischen Zieles ausdrücklich auf den Apparat eines „zivilisierten" Staates zurückgegriffen haben, während andere Massenmorde in den Wirren von Kriegen und Bürgerkriegen stattgefunden haben. Wer Auschwitz in die vergleichende Perspektive der europäischen oder der Weltgeschichte rücke - wie Nolte und Hillgruber - , lasse dieser Auffassung zufolge den wichtigsten Zug des Nationalsozialismus verschwinden: seine Zerstörungskraft, die sich jedem Vergleich entzieht. Wenn Historiker die deutsche Geschichte als europäische Geschichte neu schrieben, suchten sie nicht nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern mißbrauchten die vergleichende Perspektive mit der politischen Intention, diese traumatische historische Tatsache zu verdrängen. 17 Die Verteidiger Noltes - wie Joachim Fest und Klaus Hildebrand - betrachteten die Einzigartigkeit der Zerstörung, die der Nationalsozialismus angerichtet hat, keineswegs als historische Tatsache; stattdessen führten sie diese These auf eine verspätete Manifestation deutscher „Herrenvolkgesinnung" zurück, da sie letztlich auf die Behauptung einer deutschen Überlegenheit noch dann hinausliefe, wenn es um das Ermorden von Zivilisten geht. 18 16 Nolte, Vergehen der Vergangenheit, 13-68; A. Hillgruber, Jürgen Habermas, Karl-Heinz Janssen und die Aufklärung Anno 1986, in: Historikerstreit, 331-352; I. Geiss, Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit, Berlin 1988. 17 H.-U. Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum Historikerstreit, München 1988, 16f.; Maier, The Unmasterable Past, 83f.; Evans, Hitler's Shadow, 175. 18 J. Fest, Die geschuldete Erinnerung. Zur Kontroverse über die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Massenverbrechen, in: Historikerstreit, 104-113; K. Hildebrand, Das Zeitalter der Tyrannen, in: Historikerstreit, 84-92.

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Entscheidend war fur kritische Historiker wie Hans Mommsen und Martin Broszat auch, daß Deutschland keine monolithische Ein-Mann-Diktatur war; der NS-Staat hätte nicht ohne die aktive Kooperation der konservativen wirtschaftlichen und industriellen Eliten, der Armee und der Bürokratie funktionieren können. Aus ihrer Perspektive zeichnete sich das Dritte Reich nicht durch die bloße Anwesenheit eines ideologischen Wirrkopfes aus, sondern dadurch, daß jener Wirrkopf Oberhaupt des Staates wurde und fur eine kriminelle Politik zwölf Jahre lang die enthusiastische Unterstützung der Eliten und des Staatsapparates gewinnen konnte. Sie betrachteten die Reduktion der Naziverbrechen durch kausale Erklärung aus Hitlers Geisteszustand und seiner Angst vor dem Bolschewismus als politisch motivierten Versuch, die zentrale Rolle jener konservativen Funktionseliten des dritten Reiches zu verschleiern - und gleichzeitig die Verantwortung für das Dritte Reich dem Kommunismus zuzuschieben. 9 Wie zu erwarten war, vertrat Nolte einen anderen Standpunkt. Er erkannte die Kollaboration der konservativen Eliten mit Hitler nicht als historische Tatsache an, da (beinahe) alle Deutschen im Krieg kooperierten - ehemals linke Arbeiter so sehr wie traditionell rechte Eliten. Diesen Eliten eine besondere Verantwortung zuzuschreiben, schiebt ihnen die ausschließliche Schuld zu und war Schwarzweißmalerei. In Wirklichkeit, so Nolte, mißbrauchten jene Historiker das Dritte Reich als Mittel ihrer linken Kritik an der heutigen Gesellschaft. 20 Die Kritiker von Nolte und Hillgruber wiederum bestritten, daß deren wichtigste Tatsachen überhaupt als Tatsachen gelten können. Da Tatsachen Sachverhalte sind, die in wahre Aussagen gefaßt werden können, betreffen Tatsachenbehauptungen sowohl die deskriptive als auch die explanatorische Ebene von Erzählungen. 21 Noltes Tatsachenbehauptung, daß der Nationalso-

19 H. Mommsen, Suche nach der .verlorenen Geschichte'? Bemerkungen zum historischen Selbstverständnis der Bundesrepublik, in: Historikerstreit, 156-174; ders., Neues Geschichtsbewußtsein und Relativierung des Nationalsozialismus, in: Historikerstreit, 174189; M. Broszat, Wo sich die Geister scheiden. Die Beschwörung der Geschichte taugt nicht als Religionsersatz, in: Historikerstreit, 189-196; H.-A. Winkler, Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen, in: Historikerstreit, 256-264; W.J. Mommsen, Weder Leugnen noch Vergessen befreit von der Vergangenheit. Die Harmonisierung des Geschichtsbildes gefährdet die Freiheit, in: Historikerstreit, 300-332. 20 Nolte, Vergehen der Vergangenheit, 57, 88f.; Nolte, „Geschichtslegende", 23; Nolte, „Vergangenheit", 41. 21 Zum Verhältnis von Tatsachen und Wahrheit vgl. D.W. Hamlyn, The Theory of Knowledge, London 1970, 136-142, insbes. 137: "It is true that a fact is what is stated by a true statement, but it does not follow from this that this is the same as the latter; nor would it be true to say that a fact is just what is stated by a true statement. This might suggest that facts do not exist until a statement is made that happens to be true, whereas it would appear that on the contrary there are countless facts that have never been stated and never will be."

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zialismus kausal auf den Bolschewismus zurückgeführt werden konnte, wurde von seinen Gegnern als politischer Humbug abgetan. Hillgrubers Tatsachenbehauptung, daß die jüdische Katastrophe kausal mit einem „verborgenen Faktor" der allgemeinen europäischen Geschichte und nicht allein mit Nazideutschland zusammenhing, erlitt das gleiche Schicksal. Ihre Kritiker betonten die unmittelbare Verbindung von Noltes und Hillgrubers Drängen auf „wissenschaftliche Erneuerung" mit dem konservativen politischen Drang in der Bundesrepublik der achtziger Jahre, „endlich aus Hitlers Schatten zu treten" 22 . Die Stiftung eines Selbstbildes als „normale" Nation wurde als das politische Ziel dieser „neuen Perspektive" auf die deutsche Geschichte betrachtet. Natürlich waren Nolte und Hillgruber einigermaßen ungehalten darüber, daß ihre in ihren Augen ehrenwerten wissenschaftlichen Intentionen derart „mißverstanden" wurden. Daß diese mit apologetischen Absichten verwechselt wurden, zeigte in ihren Augen nur, daß linksideologische Scheuklappen ihren Gegnern die Sicht verstellt hätten. Diese Scheuklappen stünden der Feststellung unbequemer Wahrheiten im Weg, umso mehr, wenn jene Wahrheiten von jemandem mit der „falschen" - also rechten - politischen Überzeugung ans Licht gebracht würden. Die Wissenschaft verlangte laut Nolte aber eine „unpolitische" Haltung und eine Anerkennung der Wahrheit ohne Ansehen der politischen Couleur desjenigen, der sie vertritt. Es sei nämlich unmöglich, daß wahre Wissenschaft dort existiert, wo es „verbotene" Fragen gibt.23 Resümierend kann man festhalten, daß die Differenzen zwischen den beiden Lagern in dieser Diskussion nicht grundlegender hätten gewesen sein können, da sie sowohl deskriptive Aussagen über Tatsachen als auch erklärende Aussagen über Beziehungen zwischen Tatsachen betrafen. Die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen wurde selbst immer wieder Gegenstand einer Debatte, die schließlich mit ungewöhnlicher Schärfe geführt wurde.

22 Diese berühmte Formulierung stammt vom CSU-Politiker Franz Josef Strauß. Zum politischen Kontext der Debatte vgl. D. Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a.M. 1987, und R. Kiihnl (Hg.), Streit ums Geschichtsbild: Die „Historikerdebatte". Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987, insbes. 200-292. 23 Nolte, „Vergangenheit", 45 und „Vergehen der Vergangenheit", 91; Hillgruber, „Frageverbot", 232-238.

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2. Interner Realismus Als Geschichtsphilosoph kann man auf heftige Diskussionen wie den Historikerstreit unterschiedlich reagieren. Zuerst einmal könnte man so reagieren, wie Nolte und Hillgruber es getan haben: In diesem Fall zöge man den Schluß, daß die Debatte keine wissenschaftliche, sondern eine politische gewesen ist. Dieser Schluß setzt voraus, daß die Wissenschaft - im Gegensatz zur Politik - eine sachliche Debatte über Wahrheitsansprüche ist und daß diese Art Debatte - zumindest auf lange Sicht - ein Ende findet, nämlich dann, wenn ein Konsens erreicht ist. Dieser Konsens über die Tatsachen bildet das Fundament wissenschaftlichen Wissens. Man könnte diese Art der Reaktion und diese Auffassung wissenschaftlichen Wissens als objektivistisch bezeichnen, denn sie gründet sich auf das klassische Ideal objektiven historischen Wissens. 24 Dieser Auffassung zufolge wirkt die historische Methode wie ein Filter von Wahrheit und Unwahrheit und damit als Grundlage eines Konsenses der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Noltes und Hillgrubers häufige Berufung auf „die Tatsachen", „die Quellen", „die Wahrheit" und „die Wissenschaft" bezeugen in diesem Fall ihren Objektivismus. 25 Innerhalb dieses Bezugsrahmens ist es nun aber unmöglich, zu verstehen, daß Historiker sich in bezug auf Tatsachen und die Beziehungen zwischen Tatsachen durchaus nicht immer einig sind; ebenso unmöglich ist es, zu verstehen, warum rationale, wissenschaftliche Diskussionen über Tatsachen oftmals irrationalen, politischen Diskussionen über Werte ähneln. Eine zweite Art, wie der Geschichtsphilosoph auf Diskussionen wie den Historikerstreit reagieren könnte, bestünde darin, den Schluß zu ziehen, daß die Geschichte überhaupt keine wissenschaftliche Disziplin ist und kein Wissen hervorbringt. Die Geschichte (im ganzen oder in Teilen) kann dann als individuelle „Kunstform", als „Glaubensakt" oder als „Ausdruck der Kultur" bezeichnet werden, die nicht rational im Sinne (der Wahrheit) von Tatsachenargumenten gerechtfertigt werden kann. Traditionellerweise haben Relativisten so auf Debatten wie den Historikerstreit reagiert, und ihre Reaktion kann als philosophisches Spiegelbild der objektivistischen Reaktion betrach-

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Für eine Definition des traditionellen Objektivismus in der Geschichte vgl. P. Novick, That N o b l e Dream: The "Objectivity Question" and the American Historical Profession, Cambridge 1988, If. Zu den philosophischen Voraussetzungen des Objektivismus vgl. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism, 8f., 19. Die Art Objektivismus, die den Dissens in der Wissenschaft durch den Einfluß von .Politik' und .Werturteilen' erklärt, wurde lange Zeit auch von klassischen Wissenschaftssoziologen w i e Robert Merton und J. Ben-David legitimiert. Für eine Übersicht vgl. N. Stehr und R. König (Hg.), Wissenschaftssoziologie, Opladen 1975. 25 So stellt etwa Nolte seine These, daß Auschwitz eine „Reaktion" und eine „entstellte Kopie" der Ermordung der russischen Bourgeoisie durch die Bolschewisten sei, als reine „Tatsache" dar; Nolte, „Revisionismus", 23 u. Vergehen der Vergangenheit, 73.

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tet werden. 26 Ebenso wie die Objektivisten setzen die Relativisten voraus, daß es in wirklicher Wissenschaft einen Konsens über die Tatsachen und ihre erklärungsrelevanten Beziehungen gibt; da ein solcher Konsens in der Geschichte fehlt, schließen sie daraus, daß die Geschichte (im ganzen oder in Teilen) keine Wissenschaft ist und stufen sie als „Ausdruck der Kultur" ohne Wahrheitsanspruch ein. Dieser Schluß ist unausweichlich, denn, wie Hamlyn gezeigt hat, beinhaltet jeder Wissensanspruch ipso facto einen Wahrheitsanspruch. 27 Innerhalb dieses Modells ist es aber vollkommen unverständlich, wieso Historiker den Brauch pflegen, ihre Wissensansprüche durch Berufung auf die Tatsachen zu rechtfertigen. Wenn die relativistische Auffassung der Geschichte zutrifft, könnten sie ihre Energie fur andere Zwecke besser einsetzen; die wahrheitsgemäße Reproduktion der Tatsachen durch den Historiker würde ebenso wenig etwas zur Qualität seines Werkes beitragen wie das bei Malern und ihren Werken der Fall ist. In beiden Fällen wäre dies weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Qualität. 28 Weder der traditionelle Objektivismus noch der traditionelle Relativismus scheinen also zu erklären imstande zu sein, warum sich Historiker auf Diskussionen wie den Historikerstreit einlassen und warum sie sich auf Tatsachen berufen, wenn sie angegriffen werden. Wenn wir die Geschichte als wissenschaftliches Unternehmen begreifen wollen und das Phänomen einer Wissenschaft ohne Konsens in Betracht ziehen wollen, müssen wir also in der Philosophie nach einem Bezugsrahmen suchen, der jenseits von Objektivismus und Relativismus liegt. Dies ist meiner Meinung nach möglich, wenn wir die Philosophie der Geschichte mit der modernen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zusammenbringen - trotz des Postmodernismus und seiner Allergie gegen das Problem der Wahrheit. Diese Allergie entspringt nämlich einer traditionellen, aber falschen Gleichsetzung der Suche nach Wissen mit der Suche nach Gewißheit. 29 Die Erkenntnistheorie ist gefordert, da dieser Zweig der Philosophie die Möglichkeit des Wissens aufklärt und damit ein Bollwerk gegen alle Spielarten des Skeptizismus ist, des alten wie des neuen. 26

Vgl. Novick, N o b l e Dream, 3, u. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism, 18, zur "Cartesian anxiety". William McNeills Vorschlag, alle Historiographie in "mythistory" umzubenennen - da nichts in der Geschichte wirklich sicher ist - ist ein Beispiel dieser Umkehrung; vgl. W. McNeill, Mythistory and Other Essays, Chicago 1986, 6f., 19. 27 Hamlyn, Theory o f Knowledge, 95-103. 28 Diesem paradoxen Problem sehen sich alle Spielarten des Narrativismus - wie die von Hayden White und Frank Ankersmit entwickelten - gegenüber, die die vom Historiker dargestellte Vergangenheit als Text ohne referentielle Beziehung zu einer wirklichen Vergangenheit betrachten. Für eine hervorragende Untersuchung von H. Whites Metahistory (Frankfurt a.M. 1991) und seine weitere Entwicklung vgl. W. Kansteiner, Hayden White's Critique o f the Writing of History, History and Theory 32 (1993), 273-296. Vgl. weiter J. Zagorin, History, the referent and narrative; Graf, Interpretation, truth and past reality, 390-397. 29 Hamlyn, Theory o f knowledge, 10-16.

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Skeptiker, fur die die Geschichte oft einer ihrer bevorzugten Tummelplätze gewesen ist, stellen die Möglichkeit verläßlichen Wissens insgesamt in Frage.30 Der Kampf gegen den Skeptizismus ist daher der logische Ausgangspunkt jeder Philosophie der Geschichte, die ihren Namen verdient. Und die Philosophie der Wissenschaft - die der Sozialwissenschaften eingeschlossen - ist hier gefordert, da die Charakteristika der Geschichte als Disziplin nur im Vergleich mit anderen Disziplinen erhellt werden können. Diese Disziplinen werden ihrerseits von „ihren" Philosophen theoretisch aufgearbeitet, und hier können die Geschichtsphilosophen es sich nicht leisten, veralteten Theorien nachzuhängen; umso mehr gilt dies, da sie es sind, die den Begriff der Wissenschaft traditionellerweise an andere Disziplinen „verleihen". Da die philosophische Identität der Geschichte oftmals in Abgrenzung zu dem Bild formuliert wird, das man sich von anderen Wissenschaften macht, ist das Risiko von Irrtümern und hohlen Entgegensetzungen groß. Was die Erkenntnistheorie und den Kampf gegen den Skeptizismus angeht, so muß die Philosophie der Geschichte sich mit den postmodernen Versionen des Narrativismus auseinandersetzen.31 Was die Wissenschaftstheorie angeht, muß die Philosophie der Geschichte sich die post-positivistische Auffassung wissenschaftlichen Wissens zu eigen machen. 32 Der Endpunkt des Relativismus kann dann als Ausgangspunkt dienen: die Anerkennung der Tatsache, daß historisches Wissen in den Tatsachen oder der Logik kein sicheres und gleichbleibendes Fundament hat und daher nicht per se einen Konsens voraussetzt. In der modernen Erkenntnistheorie - seit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen - und der modernen Wissenschaftstheorie - seit Poppers Logik der Forschung - hat diese Einsicht nicht zum erkenntnistheoretischen Skeptizismus der Relativisten geführt, sondern zu Fallibilismus und Kontextualismus. 33 Kontextualisten erkennen an, daß alles Wissen relativ zu spezifischen epistemischen Kontexten ist. Und Fallibilisten erkennen an, daß alle Wissensansprüche korrigierbar sind und hypothetischen Charakter annehmen, da es kein sicheres Fundament des Wissens gibt - weder in den Sinnen noch in der menschlichen Vernunft. Der Niedergang des

30 Zum Skeptizismus allgemein vgl. Hamlyn, Theory of knowledge, 23-53; zum Skeptizismus in der Geschichte vgl. D. Kelley (Hg.), Versions of History from Antiquity to the Enlightenment, New Haven 1991, 12f., 264-267, 502. 31 Vgl. vom Verf.: Kann Geschichte wahr sein?, in diesem Band. Auch Rex Martin hat für eine Rückkehr der Erkenntnistheorie in die Philosophie der Geschichte plädiert: Vgl. Objectivity and Meaning in Historical Studies. Towards a Post-analytic View, History and Theory 32 (1993), 25-50; ders. Progress in Historical studies, in: B. Fay u.a. (Hg.), History and Theory. Contemporary Readings, Oxford 1998, 377-404. 32 Vgl. W. Callebaut, Post-positivistic Views on Scientific Explanation, in: J. Duchène u. G. Wunsch (Hg.), L'explication en sciences sociales: la recherche des causes en démographie, Brüssel 1989, 141-196; W. Salmon, Four Decades of Scientific Explanation, Minneapolis 1989. 33 Zur Geschichte dieser Debatte vgl. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativism.

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Begründungsdenkens (foundationalism) fuhrt also nicht notwendigerweise zu einem erkenntnistheoretischen Skeptizismus - wie viele Postmoderne zu glauben scheinen - , sondern zu einer vollkommen anderen, konstruktiveren philosophischen Position. 34 Diese Position mag die Historiker vor den skeptischen Konsequenzen der Postmoderne wie einem Relativismus und Subjektivismus in Erkenntnistheorie und Ethik bewahren. Solange Historiker daran festhalten, Wissen zu produzieren, können Philosophen der Geschichte sich eine Allergie gegen das Problem der Wahrheit und die Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen nicht erlauben, denn dies liefe auf philosophischen Selbstmord hinaus. Das Problem der Rechtfertigung des Wissens bleibt daher erhalten. Das unlösbare - Problem der Fundierung von Gewißheit wird lediglich in das lösbare - Problem der Argumentation um fehlbare Wissensansprüche verwandelt. Das Problem der Rechtfertigung in der Philosophie der Geschichte läuft auf die Frage hinaus, was fur Argumentationsformen sich Historiker bedienen, um ihre Wissensansprüche durchzufechten - oder konkurrierende zu widerlegen - und was für Argumente ex post rekonstruiert werden können. Ein "anti-foundationalism" zwingt Philosophen und Historiker also nicht notwendigerweise dazu, sich von der Erkenntnistheorie zu verabschieden und sich auf „narrativistischen", (oder „metaphorischen", „fiktionalen" oder „ästhetischen") Kurs zu begeben, wie Ankersmit suggeriert hat.35 Ich hoffe zeigen zu können, daß es für die Philosophie einen fruchtbareren alternativen Weg gibt, in dem das Problem der Rechtfertigung nicht eliminiert, sondern ausgeweitet wird, so daß es den normativen Diskurs miteinschließt. Noch attraktiver macht diesen Weg, daß der „faktisch-normative" Doppelcharakter des historischen Diskurses Historikern wie Philosophen schon so lange zu schaffen macht. Er kann durch eine Analyse der kommunikativen Rolle der Sprache erhellt werden. Geschichtsphilosophen, die diesen Weg gehen, lassen zwei Grundüberzeugungen in bezug auf den Charakter wissenschaftlichen Wissens zurück, die Objektivismus und Relativismus miteinander teilen: erstens die Annahme, daß der rationale Konsens den Markstein der Wissenschaftlichkeit bildet, und zweitens die Annahme, daß die Rationalität der Wissenschaft auf formale Weise (d.h. als Algorithmus) oder in Gestalt einer Menge formaler Regeln expliziert werden kann. Jenseits von Objektivismus und Relativismus wird die Existenz rationalen Dissenses in der Wissenschaft und einer grundlegen-

34 Das gleiche gilt für die Philosophie der Sozialwissenschaft; vgl. Bohmans Untersuchung des Skeptizismus in der postmodernen Anthropologie in J. Bohman, New Philosophy of Social Science. Problems of Indeterminacy, Cambridge, Mass. 1991, 103-139. 35 F.R. Ankersmit, The Dilemma of Contemporary Anglo-Saxon Philosophy of History, in: Knowing and Telling History. The Anglo-Saxon Debate, History and Theory, Beiheft 25 (1986), 27; A. Fell, 'Epistemologica!' and 'Narrativist' Philosophies of History, in: van der Dussen u. Rubinoff (Hg.), Objectivity, 82f., übt ähnliche Kritik an Ankersmit.

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den und irreduziblen Pluralität von Perspektiven erkennbar. 36 Dieser „dritte Weg" in der Philosophie der Geschichte jenseits von Objektivismus und Relativismus - ein Weg, den wir Hilary Putnam folgend „internen Realismus" 37 nennen könnten - ermöglicht eine Untersuchung der historischen Praxis, die den Dilemmata entgeht, die überkommene Vorstellungen des Wesens von Rationalität und Wissenschaft hervorbringen. Auf diesem Weg kann die Philosophie der Geschichte explizieren, warum Historiker "still want to call historical knowledge a reconstruction, not a construction simpliciter"38. Wie alle Spielarten des Realismus beruht der „interne Realismus" auf einigen Grundannahmen: erstens daß die Wirklichkeit unabhängig von unserem Wissen von ihr existiert, und zweitens daß unsere wissenschaftlichen Aussagen - unsere Theorien eingeschlossen - sich auf diese Wirklichkeit beziehen. 39 Diese realistische Interpretation wissenschaftlichen Wissens, die zumindest den Erfolg der Naturwissenschaft erklärt,40 muß sich mit zwei Problemen auseinandersetzen, die aus ihrer Konfrontation mit der Wissenschaftsgeschichte hervorgehen. Erstens wird die Korrespondenztheorie der Wahrheit zu einem Problem, denn die Geschichte der Wissenschaft zeichnet sich durch radikale begriffliche Diskontinuitäten aus - wie Thomas Kuhn und andere vertreten haben. Wegen dieser begrifflichen Diskontinuitäten ist es nicht länger möglich, eine Eins-zu-eins-Entsprechung (oder Widerspiegelungsbeziehung) zwischen wissenschaftlichen Aussagen und der Wirklichkeit anzunehmen. Zweitens wird die Referenz wissenschaftlicher Begriffe zu einem Problem: Die historische Tatsache, daß wissenschaftliche Begriffe sich in der Zeit diskontinuierlich verändern - wofür Kuhns berühmte „Paradigmawechsel" Beispiele sind - , macht zum Problem, auf was für Entitäten in der Wirklichkeit sich wissenschaftliche Begriffe beziehen. Auch wenn die Sprache sich verändern mag, bleibt die Wirklichkeit dem Realismus- im Gegensatz zum Idealismus - zufolge doch gleich. So nehmen etwa Ankersmits narrativer Idealismus und Whites Sprachidealismus an, daß der Gegenstand der Geschichte vom Historiker konstituiert wird und keine Referenzbezie-

36 In der modernen Wissenschaftstheorie wurde diese Position am radikalsten und eloquentesten vertreten von P.K. Feyerabend in ders., Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a.M. 1976. 37 Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, 75f. 38 L.O. Mink, On the Writing and Rewriting of History, in: B. Fay, E.O. Golob u. R.T. Vann (Hg.), Historical Understanding, Ithaca 1987, 94. 39 J. Leplin, Introduction, in: ders. (Hg.), Scientific Realism, Berkeley 1984, 2; H. Radder, Het probleem van het wetenschappenlijk realisme, in: M. Korthals (Hg.), Wetenschapsleer, Meppel/Amsterdam 1989, 72f. 40 Vgl. H. Putnam, What is realism?, in: Leplin (Hg.), Scientific Realism, 140: "[And] the typical realist argument against hidden idealism is that it makes the success of science a miracle."

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hung zu einem wirklichen Objekt aufweist. 41 Paradoxerweise kann so die Geschichte der Wissenschaft als zusätzliches Argument dafür benutzt werden, historisches Wissen „intern realistisch" zu betrachten, da sie uns die mangelnde Beständigkeit und „Transparenz" wissenschaftlicher Begriffe gegenüber der Wirklichkeit, die sie beschreiben, vor Augen führt. Traditionellerweise wurde dieser Mangel an Beständigkeit als allein historischen Begriffen eigen betrachtet und daher von Idealisten als Argument dafür benutzt, die Geschichte von der Wissenschaft abzusondern.42 Die beiden Probleme von Korrespondenz und Referenz müssen angegangen werden, denn Realisten gehen davon aus, daß die Möglichkeit von Wissen begründet ist in der Eigenschaft (wahrer) Aussagen, der Wirklichkeit zu korrespondieren, und der Eigenschaft (adäquater) Begriffe, sich auf wirkliche Entitäten zu beziehen. Putnam folgend können wir diese beiden Probleme erhellen, indem wir Korrespondenz und Referenz als Begriffe interpretieren, die ihre Bedeutung aus spezifischen Deutungsrahmen beziehen und relativ zu diesen zu verstehen sind. Die Frage „Was ist tatsächlich gegeben?" alias „Was ist wirklich?" ist jeweils abhängig von den spezifischen sprachlichen Bezugsrahmen und muß innerhalb seines Bezugrahmens verstanden werden. Putnam vertritt den „internen Realismus" folgendermaßen: „Die Perspektive, fur die ich hier eintreten werde, hat keinen unmehrdeutigen Namen. In der Philosophiegeschichte ist sie ein Neuankömmling [...]. Ich werde sie die intemalistische Perspektive nennen, denn es ist kennzeichnend für diese Auffassung, daß sie die Frage ,Aus welchen Gegenständen besteht die Welt?' nur im Rahmen einer Theorie bzw. einer Beschreibung für sinnvoll hält. Es gibt keinen Gottesgesichtspunkt, den wir kennen oder uns mit Nutzen vorstellen könnten, sondern nur die verschiedenen Gesichtspunkte tatsächlicher Personen, die verschiedene Interessen und Zwecke erkennen lassen, denen ihre Beschreibungen und Theorien dienlich sind." 43

41 Auch wenn Ankersmit den Begriff des „narrativen Idealismus", den er in ders., Narrative Logic: A Semantic Analysis of the Historian's Language, Den Haag 1983 entwickelt, in den späten Achtzigern fallengelassen hat, hat er seine Position in bezug auf Referentialität nicht verändert; vgl. Ankersmit, The Reality Effect in the Writing of History. The Dynamics of Historiographical Topology, Amsterdam 1989. Vgl. die ähnlich vorgehende Kritik von W. Walsh in Fact and Value in History, in: M.C. Doeser u.a. (Hg.), Facts and Values. Philosophical Reflections from Western and Nonwestern Perspectives, Den Haag 1986, 57: "If an historian writes 'What followed was a veritable renaissance' there is no observable state of affairs against which a contemporary could have checked the truth of the claim. By contrast ,Jane Austen wrote Emma' and .Napoleon died on St. Helena' might conceivably be accepted on the testimony of eye-witnesses. But though this is an important difference, it does not follow that something like a renaissance exists only in the mind of the person who judges it to have occurred." 42 Das gilt auch fur White und Ankersmit. 43 Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, 75f.; vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1984, 31-34

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Anzuerkennen, daß das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nicht „transparent" ist, fuhrt daher nicht zu dem Lieblingsschluß vieler Postmoderner, daß die Sprache „opak" ist, der Wirklichkeit nicht korrespondieren und sich nicht auf sie beziehen kann, sondern zum „realistischeren" Schluß, daß Referenz und Korrespondenz relativ zu und innerhalb von spezifischen Deutungsrahmen interpretiert werden müssen 44 - wie auch Carlo Ginzburg in seiner Kritik der Postmoderne in der Geschichte angedeutet hat. 45 Daß Referenz und Korrespondenz relativ zu Bezugsrahmen verstanden werden müssen, läßt sich nicht, wie oft suggeriert wird, als Argument gegen diese Begriffe verwenden. Auch wenn die Kritiker der Korrespondenztheorie der Wahrheit überzeugend festgestellt haben, daß Korrespondenz nicht als Kriterium der Verifikation, also zur Überprüfung der Wahrheit begriffen werden kann, bleibt Korrespondenz das Kriterium der Bedeutung der Wahrheit von Aussagen. Wie Wittgenstein gezeigt hat, liegt das daran, daß die Kenntnis der Bedeutung eines Begriffes die Fähigkeit voraussetzt, ihn anzuwenden; dies setzt wiederum ein Wissen darüber, auf welchen Typ Gegenstand sich der Begriff bezieht, und ein Wissen um seine richtige Anwendung in Aussagen voraus. Man kann nur davon sprechen, die Bedeutung einer Aussage richtig verstanden zu haben, wenn man weiß, unter welchen Bedingungen sie als wahr gelten kann, d.h. wann sie den Tatsachen entspricht. Wenn das nicht der Fall wäre, wenn also die Bedeutung eines Begriffs die Kenntnis seiner Wahrheitsbedingungen nicht voraussetzte, könnte ein kompetenter Sprecher z.B. nicht zwischen jemandem, der tatsächlich Schmerzen hat, und jemandem, der Schmerzen vorspiegelt, also zwischen der richtigen und der falschen Verwendung dieses Begriffs unterscheiden. Da kompetente Sprecher die Unterschiede zwischen Begriffen in der Regel sehr wohl kennen, kennen sie in der Regel auch deren Wahrheitsbedingungen. Gelegentliche Fehler widersprechen dem nicht; im Gegenteil, denn der Begriff des Feh-

4 4 Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, 104: „Das Mißliche [ . . . ] ist nicht, daß es keine Entsprechungen zwischen Wörtern oder Begriffen und anderen Entitäten gibt, sondern daß es zu viele Entsprechungen gibt. Um nur eine Entsprechung zwischen Wörtern oder geistigen Zeichen und geistesunabhängigen Dingen herauszugreifen, müßten wir schon einen Bezugszugang zu den geistesunabhängigen Dingen haben." Vgl. Hamlyn, Theory of knowledge, 140: "[Thus] talk of facts and talk of correspondence with fact implies a form o f realism, not in the sense that facts are identical with concrete states o f affairs, but in the sense that a necessary condition o f there being objective truth is that there should be an independently existing world. To say that a statement corresponds to the facts is to say that the statement conforms to whatever standard o f objective truth is applicable." 45 C. Ginzburg, Checking the Evidence. The Judge and the Historian, Critical Inquiry 18 (1991), 79-98. Ginzburg kritisiert die postmoderne Position auch als „umgekehrten Positivismus". Er schlägt vor, historische Quellen als Linsen zu betrachten, statt dem falschen Dilemma aufzusitzen, sie entweder als durchsichtige Glasscheiben - wie im Falle des Positivismus - oder als fensterlose Mauern - wie in der Postmoderne - anzusehen. Vgl. auch C. Ginzburg, History, rhetoric and proof, Hannover und London 1999.

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lers hat Sinn nur in einem Regelkontext, und man kann von Regeln nur sprechen, wenn sie in der Regel richtig befolgt werden. Daß die Korrespondenzbeziehung zwischen einer wahren Aussage und der Welt, auf die sie sich bezieht, ein konventionell verankertes Verhältnis innerhalb eines Deutungsrahmens ist, macht die Begriffe der Referenz und der Korrespondenz also nicht untauglich. Ohne diese Begriffe ist es in der Tat unmöglich, zu verstehen, worüber wir sprechen, wenn wir sprechen.46 Aus der Perspektive des „internen Realismus" können wir verstehen, woher die Anziehungskraft des Idealismus in der Philosophie der Geschichte von Dilthey und Collingwood bis zu H. White und Ankersmit - kommt und warum sie in die falsche Richtung fuhrt. Die „idealistische Versuchung" gründete sich stets auf das Argument, daß die Geschichte als Disziplin - im Gegensatz zu den Naturwissenschaften - es nicht mit einem materiellen Gegenstand zu tun hat und dieser Gegenstand daher allererst mental (Collingwood) oder sprachlich (White, Ankersmit) hervorgebracht werden muß. Da der Geschichte ein materieller Gegenstand fehlt, fehlt den Historikern - anders als den Naturwissenschaftlern - ein unmittelbarer sinnlicher Zugang zu ihren Gegenständen; 47 daher kann historisches Wissen - im Gegensatz zu naturwissenschaftlichem - nicht als Wissen von „Realem" verstanden werden und ist damit „imaginär", „mythisch", „fiktional" etc. Nach dieser traditionellen idealistischen Argumentation ist die Geschichte keine Wissenschaft und kann es auch nicht werden, sondern ist eine Kunstform, eine Ideologie, ein Zweig der Literatur etc. Aus der Perspektive des „internen Realismus" basiert diese Argumentation auf zwei miteinander zusammenhängenden Konfundierungen: erstens der Konfundierung von Materialismus mit Realismus 48 und zweitens der Konfundierung von Empirismus (bzw. der empiristischen Spielart des foundationalism) mit wissenschaftlichem Wissen überhaupt. Die erste hängt mit der Tendenz zusammen, nicht-materiellen Gegenständen die Wirklichkeit abzusprechen, und mit der davon ausgehenden Tendenz, dieser Klasse von Gegenständen lediglich geistigen oder sprachlichen Status zuzubilligen. 49 Dieser „NichtWirklichkeit" wegen ist es Aussagen angeblich unmöglich, jenen Gegenständen zu korrespondieren oder sich auf sie zu beziehen, wodurch sie nicht wahr oder falsch sein können. Da die Gegenstände historischer Erzäh46 Hamlyn, Theory of Knowledge, 53-78, 132-145, insbes. 67: "[T]he use of language presupposes the idea that linguistic expressions have meaning and that meaning cannot be fully elucidated by or reduced to use." 47 Für eine wirkungsvolle Demontage der Vorstellung „unmittelbarer" Beobachtung in der Naturwissenschaft vgl. B. van Fraassen, The Scientific Image, Oxford 1980, 13-19. 48 Dem Realismus - also einer erkenntnistheoretischen Position - zufolge haben die Gegenstände menschlichen Wissens eine von den wissenden Subjekten unabhängige Existenz. Dem Materialismus - also einer metaphysischen Position - zufolge besteht die gesamte Wirklichkeit aus Materie, also existieren ausschließlich materielle Dinge. 49 Vgl. K.-G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1974, 24f.

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lungen - w i e e t w a Feudalismus, Absolutismus, die Renaissance, der Faschismus etc. - in d i e s e (nicht-materielle) Kategorie eingestuft werden, können historische Erzählungen (die aus Z u s a m m e n s e t z u n g e n einzelner Existenzurteile bestehen) nicht wahr oder falsch sein. 5 0 Historische Erzählungen, die „Interpretationen" enthalten, sind dieser S i c h t w e i s e z u f o l g e abzugrenzen von den individuellen einzelnen Existenzaussagen, die Information über „Tatsachen" enthalten; nur letztere können wahr oder falsch sein. A u f der Ebene der Interpretation hat das Problem der Wahrheit daher keinerlei B e deutung für die P h i l o s o p h i e der Geschichte, und entsprechend w i d m e n sich postmoderne Historiker g a n z ihren ideologischen, politischen, sprachlichen oder ästhetischen Untersuchungen historischer Erzählungen. 5 1 D i e z w e i t e Konfundierung ist ein weiteres Erbe eines kruden Empirismus. So w i e die erste Konfundierung aus der Vorstellung entsprang, „ w o m i t kein unmittelbarer Kontakt m ö g l i c h ist, das kann nicht wirklich sein", geht die z w e i t e aus der Vorstellung hervor, „ w a s nicht unmittelbar beobachtet w e r d e n kann, kann nicht g e w u ß t werden" 5 2 . D i e s e Argumentation ist in Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie seit langem verworfen worden, hält sich aber mit erstaunlicher Beharrlichkeit in der Philosophie der G e s c h i c h t e - v o n den deutschen Idealisten über den Relativismus v o n B e c k e r und Beard bis zum Narrativismus v o n H. White und Ankersmit. 5 3 W e n n man sich klar50 Es sollte festgehalten werden, daß Johan Huizinga, der von Ankersmit als einer der intellektuellen Väter des Narrativismus angeführt wird, eine andere Auffassung vertrat. In seinem Aufsatz über den „ästhetischen Charakter" historischer Erzählungen (1905) erwähnt er ausdrücklich die Gefahr, Bilder auf die Vergangenheit zu projizieren, da dies zu ,ßildern, die unwahr sind" (meine Hervorh.), fuhren könne. Vgl. J. Huizinga, Het aesthetische bestanddeel van geschiedkundige voorstellingen, in: ders., Verzammelde Werken VII, Den Haag 1950, 25. 51 Sowohl Ankersmit als auch White vertreten, daß einzelne Existenzaussagen, die Historiker treffen, sich tatsächlich auf die Vergangenheit beziehen und wahr oder falsch sein können, während sie bestreiten, daß dies für Verbindungen jener Aussagen gilt, also für die Ebene historischer Interpretation bzw. Erzählung. Dieselbe Position wird von bekannten Relativisten wie Becker und Beard vertreten. Diese Unterscheidung distanziert den Relativismus von einem vollkommenen Skeptizismus, der die Möglichkeit wahren Wissens in jedweder Form bestreitet. Vgl. vom Verf.: Kann Geschichte wahr sein?, in diesem Band, und 'You got your history, I got mine'. Some reflections on truth and objectivity in history. 52 Vgl. H. White, The Modernist Event, in: ders., Figurai Realism, 66-87 insbes., 71: "However, any attempt to provide an objective account of the event, either by breaking it up into a mass of its details or by setting it within its context, must conjure with two consequences: one is that the number of details identifiable in any singular event is infinitely extensive or at least not objectively determinable. Moreover, the historical event traditionally conceived as an event that was not only observable but also observed, is by definition an event that is no longer observable, and hence it cannot serve as an object of a knowledge as certain as that about present events that can still be observed." 53 White und Ankersmit argumentieren beide, daß historische Erzählungen, weil sie die vergangene Wirklichkeit nicht unmittelbar abbilden, überhaupt keinen Wirklichkeitsbezug haben; daher sind sie selbstreferentiell und können als rein sprachliches Universum

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macht, daß dieser Gedankengang im ganzen auf einer falschen Identifikation von Realismus mit Materialismus und auf einer überholten Erkenntnistheorie beruht, fällt die ganze idealistische Argumentation in sich zusammen. Es ist nicht nötig, daß einzelne Existenzaussagen (oder aus ihnen Zusammengesetztes) sich auf materielle Gegenstände beziehen, um wahr oder falsch sein zu können, und es ist ebensowenig nötig, daß Aussagen über Tatsachen (oder aus ihnen Zusammengesetztes) sich auf konkrete Gegenstände beziehen, damit sie wahr oder falsch sein können. 54 Und genausowenig sind jene Aussagen notwendigerweise „imaginär", „mythisch", „fiktional" oder beliebig, wenn sie nicht in der Sinneserfahrung „fundiert" werden können. 55 Wäre dies der Fall, so müßte angesichts der Tatsache, daß Entitäten wie Quarks und Quasare ebensowenig in der Sinneserfahrung „fundiert" werden können wie Renaissancen und Revolutionen, auch die theoretische Physik als „mythisch" oder „fiktional" gelten. Da Historiker oftmals auf philosophische Ideen zurückgreifen, wenn sie ihre Disziplin reflektieren, sind philosophische Irrtümer in bezug auf die historische Praxis nicht so unschuldig wie gemeinhin angenommen.

betrachtet werden, in dem das Problem der Wahrheit verschwunden ist. Dieser Gedankengang ist die linguistische Variante der von Becker und Beard vor einem halben Jahrhundert vertretenen Argumente. Auch sie argumentierten, daß historische Erzählungen oder „Interpretationen" - , da sie nicht in der historischen Wirklichkeit fundiert werden können, nicht „objektiv" sein können und daher „vorgestellt" , auf einem „Glaubensakt" basierend und gänzlich „subjektiv" (personal) sind. Damals wie heute werden Beliebigkeit und Indifferenz dem Problem der Wahrheit gegenüber als einzige Alternativen zu einer felsenfesten erkenntnistheoretischen Fundierung und einem universalen kognitiven Konsens dargestellt. Vgl. C. Becker, What are Historical Facts, in: H. Meyerhoff (Hg.), The Philosophy of History in Our Time, New York 1959, 132: "Thus the imagined facts and the meaning enter a personal equation. The history of any event is never the same thing to two different persons." S. auch C. Beard, Written History as an Act of Faith, in: Meyerhoff (Hg.), The Philosophy of History in Our Time, 148f.: "His faith is at the bottom a conviction about the movement of history and his conviction is a subjective decision, not a purely objective discovery." Relativistische wie narrativistische Argumente spiegeln den cartesianischen Gedanken wider, daß alles, was nicht objektiv in einer Außenwelt existiert, als subjektive Schöpfung des menschlichen Geistes betrachtet werden muß. Auch die Grundunterscheidung zwischen Tatsachen (außen) und Werten (innen) entstammt dieser "Cartesian Anxiety" (Bernstein). Für eine grundlegende Untersuchung und Kritik des Narrativismus in der Philosophie der Geschichte und seiner Verbindungen zur Literaturkritik vgl. J. Zammito, Are we being Theoretical yet? The New Historicism, the New Philosophy of History and p r a c ticing Historians', Journal of Modern History 65 (1993), 783-814. Erhellend ist auch A.P. Norman, Telling It Like It Was. Historical Narratives on Their Own Terms, History and Theory 30(1991), 119-135. 54 Hamlyn, Theory of knowledge, 139: "It is possible to refer to a thing, without that thing being a concrete physical object (e.g. abstract entities, like justice); similarly for facts." 55 Kansteiner, Hayden White's Critique of the Writing of History, 286, zeigt überzeugend, daß White hier inkonsistent ist: "[Thus] the problem of representational transparency, shown out the front door, returns at the back."

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3. Der interne Realismus und die Interpretation historischer

Debatten

Um die Fruchtbarkeit des „internen Realismus" für die Philosophie der Geschichte zu demonstrieren, werde ich nun versuchen, einige Aspekte des Historikerstreits, die weder vom Objektivismus noch vom Relativismus geklärt werden können, aus dieser Perspektive zu erläutern. Der Ausgangspunkt des „internen Realismus" ist die Erkenntnis, daß all unser Wissen von der Wirklichkeit durch die Sprache vermittelt ist; Wirklichkeit ist fur uns also immer Wirklichkeit innerhalb des Rahmens einer bestimmten Beschreibung. Vom „Dritten Reich" etwa wissen die später Geborenen nicht auf direkte, unmittelbare Weise, sondern nur durch die Beschreibungen von Historikern, die sich auf spezifische zentrale Begriffe gründen. Einige Historiker beschreiben das Dritte Reich in Begriffen einer Führerdiktatur - der deutsche Staat wird dann als einzigartige Ein-Mann-Diktatur beschrieben; andere verwenden die Begrifflichkeit von Faschismus- oder Totalitarismustheorien - der Nazistaat wird dann als eine Form des Faschismus oder als eine Spielart totalitärer Diktatur beschrieben. 56 Mutatis mutandis gilt das gleiche für die Natur, denn unser Wissen von ihr ist vermittelt durch die Beschreibungen der Physiker. Die Beschreibungen verkörpern Standpunkte oder Perspektiven, von denen aus die Wirklichkeit betrachtet wird. Die Perspektiven als solche gehören zum Beschreibungsrahmen und nicht zur Wirklichkeit selbst. Dieser Beobachtung widerspricht nicht, daß uns in der soziohistorischen Wirklichkeit auch auf der Objektebene Perspektiven begegnen, wie Hillgrubers Beitrag zum Historikerstreit so deutlich zeigte. In einem ganz unmittelbaren Sinne könnte man also sagen, daß Historiker Perspektiven auf Perspektiven konstruieren. 57 Das erklärt, warum die Wahl der Perspektive in den Sozial- und Geschichtswissenschaften das Problem der „Parteinahme" hervorbringen kann, wie man ebenfalls an Hillgruber sehen kann (s.u.). Wenn wir von Tatsachen und der Wirklichkeit sprechen, beziehen wir uns also immer auf die Wirklichkeit innerhalb eines spezifischen Beschreibungsrahmens (daher bezeichnen wir diese Auffassung als internen Realismus). Das erklärt, wie es möglich ist, daß verschiedene Historiker in bezug auf einen einzigen Gegenstand - etwa den Nationalsozialismus - durchgängig Unterschiedliches als Tatsachen und unterschiedliche Aussagen als wahr bezeichnen, und wie es daher sein kann, daß in der Geschichte von einem methodisch garantierten Konsens keine Rede sein kann. Erklärt wird dies

56 Vgl. I. Kershaw, The Nazi Dictatorship: Problems o f Perspectives and Interpretation, London 1989, 1-42. 57 Wissenschaftstheoretiker haben in diesem Zusammenhang die Begriffe der , Begriffe zweiter Ordnung' (Alfred Schütz) und der .doppelten Hermeneutik' (Anthony Giddens) eingeführt, um dem symbolisch strukturierten Gegenstand der Humanwissenschaften Rechnung zu tragen. Für die generelle Argumentation vgl. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 5. erw. Aufl., Frankfurt a.M. 1982.

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durch den Umstand, daß Aussagen über Tatsachen und ihre Wahrheit mit ihrem jeweiligen Bezugsrahmen variieren. Man sieht so auch ein, wie mehrere, ja sogar scheinbar inkompatible wahre Aussagen über den „gleichen" Gegenstand möglich sind; Historiker, denen diese Situation ein Rätsel ist, können nun vor erkenntnistheoretischer Verwirrung und Verzweiflung bewahrt werden. 58 Ein Beispiel hierfür gibt Nelson Goodman: Er wies daraufhin, daß die Aussage „Die Sonne bewegt sich immer" wie die Aussage „Die Sonne bewegt sich nie" je nach dem Bezugsrahmen wahr sind. 59 Auf ähnliche Weise können die Aussagen „Auschwitz war ein einzigartiges historisches Phänomen" und „Auschwitz war kein einzigartiges historisches Phänomen" beide wahr sein, je nachdem, welche Phänomene bzw. welche Aspekte von ihnen man vergleicht. Das bedeutet übrigens nicht, daß die Bedeutung von Wahrheit selbst ,relativ' ist, denn Wahrheit wird immer als Korrespondenz zwischen Aussagen und Wirklichkeit aufgefaßt. Es bedeutet nur, daß die Bedeutung von wahrheitsfähigen Aussagen und damit ihre Korrespondenz .relativ' ist zu einem Beschreibungsrahmen. Die bloße Tatsache, daß die Wahrheit in der Wissenschaft nicht einheitlich und ungeteilt ist, muß Historikern keine Bauchschmerzen bereiten oder sie zu skeptischen und relativistischen Schlüssen über den wissenschaftlichen Status der Geschichte veranlassen. (Natürlich ist dies keine Aussage über spezifische Wahrheitsansprüche, denn es geht hier nur um die Möglichkeit unterschiedlicher wahrer Aussagen über denselben Gegenstand. Die Verdienste der einzelnen Wahrheitsansprüche zu beurteilen obliegt nicht den Geschichtsphilosophen, sondern den Historikern selbst.60) Da alle Aussagen über Tatsachen von bestimmten Beschreibungsrahmen abhängen, kann die Behauptung, daß etwas als Tatsache gelten kann, nur bedeuten, daß die betreffende Beschreibung adäquat ist. Bei näherer Betrachtung ist also eine Aussage über Tatsachen nichts anderes als ein Wahrheitsanspruch. Der Grund dafür ist, daß die Begriffe von Wahrheit und Tatsache miteinander zusammenhängen; 61 insofern Historiker sich also auf Tatsachen beziehen, beziehen sie sich auf Wahrheit. Und insofern sie sich auf Tatsachen berufen, um die Angemessenheit der „Interpretationen" zu stützen, die ihre

58 Vgl. William McNeill, Mythistory (Fn. 26). 59 Goodman, Wege der Welterzeugung, 14f. 60 Den meisten Kommentatoren zufolge müssen Nolte und Hillgruber als Verlierer des Historikerstreits gelten: D. Peukert, Wer gewann den Historikerstreit? Keine Bilanz, in: P. Glotz u.a., Vernunft riskieren. Klaus v. Dohnanyi zum 60. Geburtstag, Hamburg 1988, 38-50; I. Kershaw, Neue deutsche Unruhe? Das Ausland und der Streit um die deutsche National- und Zeitgeschichte, in: Landeszentrale für politische Bildung Düsseldorf (Hg.), Streitfall deutsche Geschichte, Düsseldorf 1988, 111-131. 61 Hamlyn, Theory of Knowledge, 135-142, insbes. 135: "[I]ndeed, if one considers what could be the general necessary and sufficient condition of any statement being true, it will appear that the only thing that could be would be that the statement should correspond to fact."

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Behauptungen beinhalten - was sie in der Tat tun, wie selbst eine quasi postmoderne Debatte wie der Historikerstreit zeigt - , kann das Problem der Wahrheit nicht von der geschichtsphilosophischen Tagesordnung gestrichen werden. 62 Behauptungen über Tatsachen können nun aber niemals durch die Wirklichkeit „bewiesen" oder in ihr „fundiert", sondern lediglich argumentativ verteidigt werden. Wie „die Wirklichkeit" aussieht und was „die Tatsachen" sind, bleibt aus diesem Grund immer offen fur Diskussion. Etwas über Tatsachen auszusagen ist bei näherer Betrachtung immer gleichbedeutend mit der Darstellung eines bestimmten Deutungsrahmens und einer bestimmten Perspektive auf die Wirklichkeit. Ich werde nun zum Historikerstreit zurückkehren und mich der Frage zuwenden, was für Einsichten hier aus dieser philosophischen Perspektive gewonnen werden können. Nolte wie Hillgruber behaupteten, daß ihre Perspektiven auf das „Dritte Reich" - also ihr Deutungsrahmen - mit dem „wahren Wesen" des Nationalsozialismus übereinstimmten. Nolte verteidigte seine Perspektive, indem er sich auf den europäischen, wenn nicht globalen Charakter der Geschichte des 20. Jahrhunderts berief, während Hillgruber seine „Wehrmachtsperspektive" mit Berufung auf die Ostfront selbst (oder zumindest deren deutsche Seite) zu stützen versuchte. Aus der Perspektive des „internen Realismus" ist es offensichtlich, warum Nolte und Hillgruber ihre Kritiker nicht überzeugen konnten. Wenn man sich klarmacht, daß die Gestalt der „Wirklichkeit" immer von einem Deutungsrahmen - und damit von einer Perspektive - abhängt, ist es wenig überraschend, daß die Wirklichkeit nicht als Argument fur eine bestimmte Perspektive oder gar für ihre „Notwendigkeit" verwendet werden kann. Dies würde die unmittelbare Übereinstimmung der Wirklichkeit mit einem bestimmten sprachlichen Raster voraussetzen eine Voraussetzung, die mit dem naiven Realismus assoziiert ist und die die Erkenntnistheorie mit dem Empirismus verworfen hat. Es ist genau umgekehrt: Es ist der Historiker, der festzustellen versucht, wie die Vergangenheit „wirklich" ausgesehen hat, indem er seine Perspektive verteidigt. Es ist also der Historiker, nicht die Vergangenheit, der in der Geschichte etwas „diktiert". Das bedeutet nicht, daß die Vergangenheit nicht „wirklich" existiert oder daß der einzelne Historiker ein beliebiges Bild der Vergangenheit „diktieren" kann - wie einige postmoderne Denker zu glauben scheinen. Narrativisten wie White und Ankersmit, die ihre Anregungen aus der Literaturwissenschaft nehmen, gehen sehr weit in diese Richtung, indem sie die totale Autonomie des historischen Textes gegenüber der Vergangenheit betonen. Von ihrer Auffassung aus kann man nun aber nicht erklären, wie es möglich ist, daß Historiker Texte vielfach als historisch unangemessen kritisieren, es sei denn, 62

Vgl. Zammito, Are W e Being Theoretical Yet?, 812: "Veridicality and coherence are indispensable to the practice o f history, but the standards o f appraisal are disciplinary, not abstract."

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sie machen schlicht und einfach falsche Aussagen. Diese Tatsache der historischen Praxis kann nur dann verständlich gemacht werden, wenn man eine referentielle Beziehung zwischen den Texten der Historiker und der wirklichen Vergangenheit voraussetzt - denn ohne diese Beziehung hat der Begriff der Angemessenheit keinen Sinn - , wenn man also der Versuchung widersteht, historischen Texten einen Status einzuräumen, der unabhängig von der Vergangenheit ist, die sie beschreiben. Wer Derridas "il n'y a pas de hors texte" wörtlich nimmt und auf das Schreiben des Historikers anwendet, hat ihm als Historiker nichts mehr zu sagen.63 Als Argument für die Abtrennung der Referenzbeziehung zwischen der Erzählung des Historikers und der Vergangenheit selbst dient die Durchtrennung der Verbindung zwischen der historischen Erzählung und ihrer Grundlage in den Tatsachen. So hat etwa White die Auffassung vertreten, daß Ereignisse wie die Ermordung von John F. Kennedy, die Explosion der Challenger oder der Holocaust (bien étonnés de se trouver ensembles) als paradigmatische Fälle (moderner) historischer Ereignisse angesehen werden sollten.64 Was diesen Typ Ereignis auszeichnet, ist laut White, daß Tatsachenaussagen, die sich auf ihn beziehen, nicht fundiert werden können und daß weitere Forschung die Verwirrung darüber, „was wirklich geschehen ist", vergrößert und nicht reduziert. White nennt dies das „Verdampfen der Wirklichkeit" oder die „Derealisierung" des Ereignisses, woraus sich folgendes ergibt: "It appeared impossible to tell any single authoritative story about what really happened - which meant that one could tell any number of possible stories about it."65 Daraus schließt White - dem bewährten Entwederoder-Schema folgend - , daß, wenn der Gott der „einen autoritativen Erzählung" der Geschichte tot ist, der Historiker von Chaos und Beliebigkeit umgeben ist: "any number of possible stories" kann über die Vergangenheit erzählt werden, scheinbar ohne jede Beschränkung durch Belege und Quellen. Damit interpretiert White die „Unterdeterminiertheit" der historischen Erzählung durch Belege und Quellen denkbar radikal. Das „Verdampfen" der Grenzlinie zwischen Fakt und Fiktion und zwischen Geschichte und Literatur

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Vgl. Ginzburg, History, rhetoric and proof, 1 : "Rarely has the chasm between methodological reflection and actual historiographical practice been s o pronounced as in the last f e w decades." 6 4 White, The Modernist Event. Zu Whites Entwicklung und Inkonsistenzen vgl. Kansteiner, Hayden White's Critique. 65 White, The Modernist Event, 66: "[But] the dissolution o f the event as a basic unit of temporal occurrence and building block of history undermines the very concept o f factuality and threatens therewith the distinction between realistic and merely imaginary discourse. The dissolution of the event undermines a founding presupposition o f Western realism: the opposition between fact and fiction".

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liegt in der logischen Konsequenz dieser bemerkenswerten skeptischen Argumentation. 6 In Ankersmits Texten finden wir einen ähnlichen Argumentationsgang. Wie White versucht er, die Beziehung zwischen historischen Erzählungen und ihrer faktischen Grundlage zu unterminieren. Seiner Auffassung nach läßt sich die Abtrennung der historischen Erzählung von den Belegen am besten in der „postmodemen" oder „neuen" Historiographie sehen: "For the modernist, the evidence is a tile which he picks up to see what is underneath it; for the postmodernist, on the other hand, it is a tile which he steps on in order to move on to other tiles: horizontality instead of verticality." 67 "For the new historiography the text must be central - it is no longer a layer which one looks through (either at a past reality or at the historian's authorial intention) but something which the historiographer must look at,"68

Wie White scheint auch Ankersmit sich nicht daran zu stören, daß die meisten Historiker an der „vertikalen" Auffassung der historischen Quellen festhalten und sich ihr Postulat der „Nicht-Transparenz des historischen Textes" nicht auf diese radikale Weise zu eigen machen. Und die Historiker haben gute Gründe dafür, denn nähmen sie diese philosophischen Thesen ernst, so würde es vollkommen unverständlich, warum sie sich je aufmachen sollten, um tatsächlich zu forschen. Die „Unterdeterminiertheit" historischer Ereignisse durch die Quellen rechtfertigt ihre Trennung nicht im geringsten. Die „mangelnde Transparenz" bringt es lediglich mit sich, daß der Historiker sich nicht direkt auf die Wirklichkeit berufen kann, um seine Erzählung zu stützen, und daher seine Rekonstruktion der vergangenen Wirklichkeit argumentativ vertreten muß - nicht anders als der Paläontologe oder der Geologe. Im

66 Ebd., 73. Nicht weniger bemerkenswert an dieser Argumentation ist, daß sie inkonsistent ist. Während er abstreitet, daß es verläßliches Wissen über die (jüngere) Vergangenheit etwa Kennedy und den Holocaust - gibt, liefert White eine ausfuhrliche Charakterisierung eben jener (jüngeren) Vergangenheit: Während er den Begriff der Tatsache destruiert, versucht er seine Leser von einer Tatsache zu überzeugen, der „Tatsache der Moderne" (fact of modernism). Beides kann man nicht haben. 67 F.R. Ankersmit, Historiography and Postmodernism, History and Theory 28 (1989), 137-153; wiederabgedruckt in History and Tropology, 162-182. Erstaunlicherweise stellt Ankersmit Ginzburgs Der Käse und die Würmer: die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a.M. 1979, als Paradebeispiel postmoderner Historiographie dar, während Ginzburg selbst diese Interpretation explizit zurückgewiesen hat. Vgl. sein Checking the Evidence und History, Rhetoric and Proof, 1-38. 68 F.R. Ankersmit, The Reality Effect in the Writing of History. The Dynamics of Historiographical Topology, Amsterdam 1989, 8. Paradoxerweise hat Ankersmit nun seine „Textfährte" verlassen und eine Untersuchung der „historischen Erfahrung"- unabhängig von ihrem sprachlichen Ausdruck - vorgelegt; vgl. ders., Historism and Postmodernism: A Phenomenology of Historical Experience, in: History and Tropology, 182239. Wenn nun White über das historische Ereignis und Ankersmit über historische Erfahrung philosophieren, fragt man sich, was der Narrativismus uns wohl als nächstes bringen wird.

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Verlauf dieser Argumentation spielt die Rückendeckung durch belegbare Tatsachen eine entscheidende Rolle. Dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen der Geschichte auf der einen und der Paläontologie und der Geologie auf der anderen Seite, denn der Gegenstand der Geschichte ist eine menschliche Vergangenheit. 69 Da Menschen in der Regel ein Interesse daran nehmen, wie ihre Vergangenheit in der Geschichtsschreibung dargestellt wird (da auf diese Weise individuelle und kollektive Identitäten konstruiert werden), sind ihnen die Perspektiven, die dabei im Spiel sind, für gewöhnlich nicht gleichgültig. Daraus folgt, daß es sein kann, daß Geschichten (histories) wahr, aber inakzeptabel sind, da sie mit der Identitätsvorstellung des Publikums konfligieren, an das sie sich richten. Dieser Fall tritt etwa dann ein, wenn entscheidende Aspekte der Vergangenheit als traumatisch erfahren und infolgedessen verdrängt werden. Dieses praktische „Interesse" der Geschichte, mit dem sich Jürgen Habermas, Emil Angehrn, Jörn Rüsen und Herta Nagl-Docekal beschäftigt haben, fehlt in den Wissenschaften, die es mit nichtmenschlichen Gegenständen zu tun haben. 70 Da Putnam seinen „internen Realismus" lediglich im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft entwickelt hat, müssen wir diese Vorstellung eines praktischen Interesses mit dem „internen Realismus" zusammendenken, um zu Realisten der Philosophie der Geschichte zu werden. In Kombination mit einer Sprachanalyse kann diese Version des „internen Realismus" die Untersuchung des Problems der Werte über Objektivismus und Relativismus hinausfuhren, wie ich nun zu zeigen versuchen werde.

4. „Interner Realismus", das Wertproblem und der Historikerstreit Bevor ich einen begrifflichen Rahmen für die Analyse vorschlage, ein paar Worte zum Wertproblem. Das Problem der Werte wird traditionellerweise im Geiste Max Webers und seines „Postulats der Wertfreiheit" interpretiert, auch wenn viele Historiker hier lieber Rankes berühmte Zeilen über die Aufgabe des Historikers zitieren.71 Weber verstand dieses Postulat als methodische 69 Obwohl der Begriff der Geschichte ontologisch neutral ist - so gibt es etwa neben der menschlichen Geschichte eine Geschichte der Erde und eine Geschichte ausgestorbener Tierarten - , beschränke ich meine Verwendung dieses Begriffs hier auf die menschliche Geschichte. 70 E. Angehrn, Geschichte und Identität, Berlin 1985; J. Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge der Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983; H. Nagl-Docekal, Die Objektivität der Geschichtswissenschaft, München 1982; J. Habermas, Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a.M. 1987, 159-180. 71 Für weitere Angaben vgl. R. Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität, in: R. Koselleck u.a., Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 63-77.

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Regel fur Wissenschaftler (als Wissenschaftler), kein Werturteil über einen der untersuchten Gegenstände zu fällen und sich in der Wissenschaft auf die Feststellung von Tatsachen zu beschränken. Mit dem Objektivismus und dem Relativismus war Weber von der „absoluten Heterogenität" von Wert- und Faktenaussagen überzeugt; daher sollte die Wissenschaft, als Reich der Fakten, streng vom Reich der Werte, also von Ethik, Ästhetik und Politik getrennt werden.72 Das Wertproblem wurde von Weber auf der Ebene einzelner Existenzurteile und einzelner Werturteile angesiedelt und nicht auf der Ebene der Deutungsrahmen oder Begriffsschemata, also der Ebene der historischen Erzählungen in toto. Als Folge davon fällt das wichtigste Wertproblem in der Geschichtsschreibung, das mit der Wahl der Perspektive zusammenhängt, aus dem traditionellen Rahmen heraus, wie ich am Beispiel des Historikerstreits zeigen werde. Die normativen Aspekte, die mit der Wahl der Perspektive zu tun haben, sind in der Geschichtsschreibung zentral, da sie es sind, die von Historikern am ausführlichsten diskutiert werden.73 Das bedeutet natürlich nicht, daß es auf der Ebene der Einzelaussage kein „Wertproblem" gibt - sicherlich gibt es das - , sondern nur, daß diese Ebene vergleichsweise unwichtig ist. Wie im Bereich der Erkenntnistheorie muß es auch im Bereich der normativen Betrachtung eine „holistische" und eine „sprachliche Wende" geben, und zwar aus dem gleichen Grund: Wie deskriptive Aussagen in historischen Erzählungen tauchen auch normative Aussagen nicht isoliert auf und bieten sich nicht einzeln dar, denn sie sind auf der konzeptionellen Ebene miteinander verbunden.74 So wie deskriptive Aussagen Theorien der Beobachtung vor-

72 Dieses Problem kann hier nicht in all seinen Aspekten bearbeitet werden; fur eine weitere Behandlung vgl. W. Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik, Tübingen 1971. 73 Für Untersuchungen dieses alten Problems vgl. J. Scott, History in Crisis? The Other Side in History, American Historical Review 94 (1989), 680-692, und A. Megill, Fragmentation and the Future of Historiography, American Historical Review 96 (1991), 693-698. 74 Die „holistischen" und „praktischen" Aspekte der Geschichtsschreibung werden auch hervorgehoben von A. Megill, Recounting the Past: Description, Explanation and Narrative in Historiography, American Historical Review 94 (1989), 627-654, insbes. 647: "Finally, the historian interprets the past - that is, necessarily, views the past from some present perspective. The perspective permeates all that the historian writes." Weiterhin betont er den normativen Aspekt, der mit der Wahl einer Perspektive zusammenhängt: "Since the historical account is necessarily written from a present perspective, it is always concerned with the meaning o f historical reality for us, now - even if, on an explicit level, it seeks to deny that it has any such concern. The extent that the concern with present meaning is dominant, the historian becomes not simply a historian but a social or intellectual critic as well." (647). Analoges findet sich bei T. Ashplant und Α. Wilson, Present-centered History and the Problem of Historical Knowledge, Historical Journal 31 (1988), 253-274.

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aussetzen, setzen normative Aussagen stets Theorien der Moral voraus (die als unproblematisches Hintergrundwissen fungieren). 75 Wenn wir den Historikerstreit unter diesem Blickwinkel betrachten, fällt als erstes Noltes und Hillgrubers fortwährender Versuch auf, das Problem der Werte aus der Diskussion herauszuhalten, indem sie sich auf Webers „Postulat der Wertfreiheit" berufen. Sie bestreiten jeden Zusammenhang zwischen den Perspektiven, die in ihren Erklärungsschemata verkörpert sind, und der Zuschreibung moralischer Verantwortung an eine der beiden Seiten; damit legen sie großes Gewicht auf den grundlegenden Unterschied zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung einerseits und Politik und Ethik andererseits. Diese Argumentation wirkt eher schwach, wenn man sich in Erinnerung ruft, worum es eigentlich ging: Der Angelpunkt des Historikerstreits war schließlich der Ort der Bundesrepublik in der deutschen Geschichte also ihre historische Identität - , und dies war ein politisches ebensosehr wie ein wissenschaftliches Problem. Trotz dieser grundlegenden Tatsache beriefen sich Nolte und Hillgruber beharrlich auf die unüberbrückbare Kluft, die reine wissenschaftliche Fragestellungen von der Politik trennt. Es schien unmöglich zu sein, die Vorstellung eines praktischen Interesses in ihren objektivistischen Begriffsrahmen zu integrieren. Hillgruber stritt dementsprechend schlicht ab, daß seine Wahl der Perspektive der Wehrmacht eine normative Entscheidung beinhaltete. Er stellte seine Entscheidung so dar, als würde sie von der historischen Wirklichkeit selbst diktiert. Der Historiker der Ostfront sah sich ihm zufolge den folgenden Alternativen gegenüber: die Geschichte aus der Perspektive von Hitler, aus der Perspektive der Russen, aus der Perspektive der Insassen der Konzentrationslager oder aus der Perspektive der deutschen Zivilbevölkerung und der Armee zu schreiben, die sie beschützte. Die ersten drei Perspektiven entsprachen nach Hillgruber nicht der Wirklichkeit, da die deutsche Bevölkerung sich nicht mit einer jener Seiten identifiziert hat. Daher blieb die Perspektive der deutschen Armee als einzig „realistischer" Standpunkt des Historikers übrig. 76 Es ist nicht besonders schwierig, die normativen Entscheidungen aufzudecken, die hinter Hillgrubers quasi-faktischer Argumentation stehen, da seine Versuche, die deutsche Armee und Zivilbevölkerung von der Verantwortung für die Naziverbrechen freizusprechen, recht plump waren. Seine

75 Vgl. A. Maclntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1987, und B. Rundle, Facts, London 1993, 82-83.: "The root of the problem is not a gulf between fact and value; rather, the difficulties divide the factual and the conceptual: it is often practically impossible to reconcile conflicting interest [...]." Für eine treffende Formulierung des Verhältnisses von Theorie und Beobachtung vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, 120f.: „Tatsachen sind kleine Theorien, und wahre Theorien sind große Tatsachen." 76 Hillgruber, Zweierlei Untergang, 20-25

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Formulierung des historischen Tatsachen problems hing offensichtlich an der Trennung, die er in seinem Beschreibungsrahmen zwischen (1) Hitler auf der einen und der deutschen Armee und Zivilbevölkerung auf der anderen Seite und (2) der deutschen Armee und Bevölkerung auf der einen und den Insassen der Konzentrationslager auf der anderen Seite machte. Letztere - hauptsächlich Juden, Sinti und Roma, Kommunisten und Sozialisten - waren offenbar nach Hillgrubers Auffassung keine „wirklichen" Deutschen, denn sie werden weder von der Mehrheit der damaligen deutschen Bevölkerung - was ein unbestrittenes historisches Faktum ist - , noch vom deutschen Historiker in den achtziger Jahren als solche gesehen - was seine normative Entscheidung war. Die rein faktische Beschreibung des Dritten Reiches durch den Historiker lief dann schlicht auf eine unkritische Reproduktion der Wehrmachtsperspektive auf die Wirklichkeit hinaus, die normative Definition der „wirklichen" Deutschen und des „wirklichen" Deutschland eingeschlossen. 77 Dieser erstaunliche Standpunkt rührte daher, daß Hillgruber offenbar die (deutsche) Vergangenheit mit dem identifizierte, was angeblich direkt „beobachtbar" war, also den deutschen Quellen - ein bekannter empiristischer Fehler, der in der Diskussion nicht unbemerkt blieb. Indem er Hitler deskriptiv von der deutschen Armee trennte, konnte Hillgruber den Kampf an der Ostfront als „Tragödie" typisieren. Diese Typisierung war normativ belastet, da eine Tragödie voraussetzt, daß beide an einem Konflikt beteiligte Parteien ihr Handeln unter Berufung auf ein ethisches Prinzip rechtfertigen können; außerdem ist der Konflikt zwischen jenen Prinzipien so unlösbar wie unvermeidlich. Auf diese Weise legitimierte Hillgruber 45 Jahre später die Rolle der Wehrmacht, die „Hitlers Krieg" weiterführte, auch nachdem es im Winter 1942/43 offensichtlich geworden war, daß er längst verloren war. Es war konsequent, daß er die wenigen deutschen Militärs, die sich im Juli 1944 tatsächlich gegen Hitler auflehnten, als „unverantwortlich" und „unrealistisch" bezeichnete. 78 Damit war für Hillgruber die historische Wirklichkeit vom Juli 1944 überraschenderweise genau das, was die Hitler unterstützende Mehrheit der Wehrmacht in ihr sah (und wozu sie sie machte), und alle anderen Perspektiven - wie diejenige des militärischen Widerstands, der Lagerinsassen und der Russen - wurden ausgeschlossen. In Noltes Beschreibungsrahmen hüllten sich seine normativen Entscheidungen auch in das Gewand von Tatsachenbeschreibungen, obwohl sie besser verborgen waren als die Hillgrubers. Am bedeutsamsten war hier seine „Tatsachenaussage", daß die Historiographie des Dritten Reiches sich bis dato auf „Zuschreibungen kollektiver Schuld" gründete; infolgedessen be77

Da die Wehrmacht Nazideutschland tatsächlich praktisch definierte, indem sie seine Gegner physisch eliminierte, lief Hillgrubers Haltung auf vollkommene Indifferenz den Opfern gegenüber hinaus. 78 Hillgruber, Zweierlei Untergang, 20f.

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zeichnete er jene Historiographie als „moralistisch" und „den Tatsachen unangemessen" und stellte die dringende Notwendigkeit ihrer „wissenschaftlichen Revision" fest. Nolte wies jede „Zuschreibung kollektiver Schuld" zurück, da diese Argumentationsfigur von den Nazis stammte. Trotz der ausdrücklichen Intention, „innovativ" und „wissenschaftlich" zu sein, wies Noltes Argumentation hier eine gravierende Inkonsistenz auf, die geradezu ins Auge springt: Wiederholt kritisierte er seine Gegner dafür, daß sie seine Argumente wegen ihrer (rechten) politischen Herkunft angriffen, statt sie nach ihrer faktischen Angemessenheit zu beurteilen. Nolte zufolge stellte dies in seinem Fall eine eklatante Verletzung wissenschaftlicher Ethik dar. Wenigstens war dies sein Argument dafür, rechtsradikale Pamphlete (die von anderen Historikern nicht berücksichtigt wurden) als historische Quellen zu verwenden, um die „Angst" der Nazis vor dem Bolschewismus zu dokumentieren. 79 Die Frage nach der historischen Schuld der Deutschen und ihrer Verantwortung für Auschwitz - aus der Perspektive seiner Kritiker das zentrale historiographische Problem - wurde so nicht als Tatsachenproblem gelten gelassen und als „moralistisch" abgetan. 80 Die Trennung von Wissenschaft als Reich der Tatsachen und Politik als Reich der Werte kann also, wie man am Historikerstreit deutlich sehen konnte, in historischen Debatten für gravierende Probleme und Kontroversen sorgen. Die unmittelbare Verbindung zwischen deskriptiven und normativen Urteilen liegt im praktischen Interesse der Geschichte begründet, auch wenn dies ausdrücklich abgestritten wird - wie im Fall von Nolte und Hillgruber. Beide Historiker versuchten, über die Konstruktion einer weniger schmerzhaften historischen Identität eine für die Deutschen annehmbare Geschichte wiederherzustellen, indem sie deren Verantwortung für die von ihnen zwischen 1939 und 1945 verursachten Katastrophen relativierten. Diese direkte Verbindung zwischen Geschichte und Identität erklärt, warum es fruchtlos

79 Nolte, Vergehen der Vergangenheit, 25, 137. Allerdings mißverstand Nolte seine Kritiker. Woran sie Anstoß nahmen, war nicht die Verwendung rechter Propaganda, um den Geisteszustand der Nazis zu dokumentieren - hier ihre Angst vor dem Bolschewismus - , sondern Noltes unkritische Identifikation dieser Propaganda mit der historischen Wirklichkeit und die Aufwertung dieser angeblichen historischen Wirklichkeit zu der Ursache der Massenmorde der Nazis. Für eine vernichtende Kritik von Noltes Verwendung dieser Quellen vgl. Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit?, 147-154, und Evans, Hitler's Shadow, 84f. 80 Damit ignorierte Nolte die grundlegende Tatsache, daß ein Historiker, wenn er das Handeln eines Einzelnen oder eines Kollektivs als dessen Handlungen beschreibt, ihnen gleichzeitig moralische Verantwortlichkeit zuschreibt und eine Identität konstruiert. Diese Identität begreift nicht nur intentionale Handlungen, sondern auch unbeabsichtigte Folgen von Handlungen mit ein. Wie Intentionen rekonstruiert und auf welche Weise unbeabsichtigte Folgen zugeschrieben werden, hängt beides von deskriptiven und normativen Erwägungen ab; daher ist Identität ein gleichzeitig deskriptiver und normativer Begriff. Zu dieser wichtigen Eigenart der Historiographie vgl. Angehrn, Geschichte und Identität, insbes. 60ff.

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ist, ethische Diskussionen vom Territorium der Geschichte zu verbannen, und warum das „Problem der Wertfreiheit" des Historikers so alt wie die Geschichtsschreibung selbst ist.81 Solange und insoweit Individuen und Kollektive ihre Identität aus der Geschichte beziehen, behält die Geschichte diesen praktischen und normativen Charakter. 82 Wie der Historikerstreit gezeigt hat, ist es daher besser, wenn die normativen Standpunkte von Historikern offen vertreten und diskutiert werden, umso mehr, als in vielen historischen Kontroversen konfl¡gierende Aussagen über Tatsachen offenbar in impliziten, konfligierenden normativen Urteilen gründen. Die Rationalität historischer Debatten könnte auf diese Weise vergrößert werden. In den jüdischen Beiträgen zu dieser Debatte - etwa denen von Saul Friedländer und Dan Diner wird dieses Argument explizit ausgesprochen. So argumentieren sie etwa, daß die Geschichte des Dritten Reiches nicht aus der Perspektive der zeitgenössischen Deutschen geschrieben werden sollte - wie Hillgruber vorgeschlagen hatte - , da die Historiographie so deren moralische Indifferenz ihren Opfern gegenüber verdoppeln würde. Die Gewalt, die die Nazis angewendet haben, um ihre Opfer zum Schweigen zu bringen, würde so vom Historiker reproduziert. 83 Die gleiche ausdrückliche Berufung auf beteiligte normative Prinzipien findet sich in Habermas' Beiträgen; ihm zufolge nahm die NolteHillgruber-Gruppe die deutsche Nation als letzten Wert an, während ihre Kritiker der Demokratie den Primat einräumten. Dieses normative Primat der Demokratie war das Fundament ihrer kritischen Haltung den undemokratischen Traditionen in der deutschen nationalen Vergangenheit gegenüber. 84 Im Bezugsrahmen des „internen Realismus" - in seiner erweiterten Form - kann diese Streitquelle offen angegangen und in drei Schritten verständlich gemacht werden. Im ersten Schritt läßt sich die Relativität der „Kluft" zwischen den Bereichen der Tatsachen und Werte zeigen. Im zweiten Schritt wird die Vielfalt der Sprachfunktionen auf der Basis einer allgemeinen Linguistik aufgedeckt. Im dritten und letzten Schritt wird der Begriff des „Er-

81 Vgl. Kelley, Versions o f History, Sff. 82 Wie Rüsen und A n g e h m gezeigt haben, rührt das daher, daß der Begriff der Identität normativ und faktisch zugleich ist; vgl. auch Lorenz, Konstruktion, 400-414. Auch Ann Rigney hat auf die Verflechtung des „Tatsachen-" und des normativen Diskurses in der Darstellung der Geschichte hingewiesen: A. Rigney, The Rhetoric o f Historical Interpretation. Three Narrative Histories o f the French Revolution, Cambridge 1990; vgl. ihre Rezension von Lionel Gossmans in ders., Between History and Literature, History and Theory 31 (1992), 208-222. 83 S o Diner und Friedländer in ihren Beiträgen zu D. Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a.M. 1987. Vgl. auch Friedländers Diskussion mit Martin Broszat in M. Broszat u. S. Friedländer, U m die ,Historisierung des Nationalsozialismus'. Ein Briefwechsel, Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte 36 (1988), 339-373. 84 Habermas, „Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität", 159-189.

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Wartungshorizontes" als Brücke zwischen deskriptivem und normativem Diskurs eingeführt. In bezug auf den ersten Schritt sind bereits alle Argumente vorgebracht worden. Die Vorstellung einer „absoluten Heterogenität" von Tatsachen und Werten und die Forderung nach einer „wertfreien" Geschichtswissenschaft gründen sich letztlich auf die Annahme, daß Urteile über Tatsachen anders als Werturteile in der Wirklichkeit fundiert werden können, und die damit zusammenhängende Annahme, daß die Sprache in der Wissenschaft ausschließlich Repräsentationsfunktion hat. Aus diesem Grund wurde zwischen Tatsachen und Werten ein unüberbrückbarer Abgrund angenommen, wobei Diskussionen über Tatsachen mit rationalen Mitteln entschieden werden könnten, während Debatten über Werturteile in sich irrational seien. All dies leitet sich vom Bild der „Fundierung" ab. Das gleiche gilt fur die Vorstellung, Diskussionen über Tatsachen führten zu einem Konsens, während Debatten über Werte das genaue Gegenbild dazu abgäben. Die Möglichkeit einer Fundierung von Aussagen galt daher als letztgültige Basis der Rationalität. Diese Voraussetzungen fanden sich gleichermaßen bei Objektivisten wie bei Relativisten. 85 Aus der Perspektive des „internen Realismus" verschwindet die begründungstheoretische Basis dieser Dichotomien. Mit der Erkenntnis, daß auch Tatsachenbehauptungen nicht in der Wirklichkeit fundiert, sondern nur argumentativ verteidigt werden können, gehen alle - noch in der jüngsten Vergangenheit so dringend gewünschten - apriorischen „philosophischen Garantien" dafür verloren, daß jedes rationale Publikum sich durch Argumentation zu einem rationalen Konsens zwingen lassen wird. Wenn diese Annahme fallengelassen wird, wird der „unüberbrückbare Abgrund" zwischen deskriptivem und normativem Diskurs von einer Lösung zu einem Problem, das offen diskutiert werden kann. 86 Gleichzeitig wird die Tatsache verständlich, daß 85 Bernstein, Beyond objectivism and relativism, 8: "Objectivism is closely related to foundationalism and the search for an Archimedean point. The objectivist maintains that unless we can ground philosophy, knowledge or language in a rigorous manner we cannot avoid radical scepticism." 86 Vgl. R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a.M. 1991: „Der Gebrauch solcher Ehrentitel wie .objektiv' oder ,kognitiv' ist nie mehr als der Ausdruck der Übereinstimmung von Forschern untereinander (oder der Hoffnung auf solche Übereinstimmung)." (365) Rorty formuliert die These, daß der Vorwurf des .Subjektivismus' die Furcht davor anzeigt, „daß es in Wirklichkeit zwischen Geschmacksfragen und Fragen, die sich durch vorgängig formulierbare Algorithmen lösen lassen, kein Drittes mehr gibt" (366). H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1982: „Wir neigen heute dazu, in bezug auf die Physik zu realistisch [=objektivistisch, CL] und in bezug auf die Ethik zu subjektivistisch zu sein, und diese beiden Tendenzen hängen zusammen. [...] Die Entwicklungen, im Hinblick auf die Physik weniger realistisch und im Hinblick auf die Ethik weniger subjektivistisch zu werden, hängen ebenso miteinander zusammen." (193) N. Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1990: „Dem vielgerühmten Anspruch auf Konsens unter Wissenschaftlern spotten die

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es im historischen Diskurs offenbar bisweilen höchst schwierig ist, faktische von normativen Kontroversen zu unterscheiden - wie man am Historikerstreit und der deutschen Zeitgeschichtsschreibung insgesamt so deutlich sehen konnte und kann. 87 Jenseits von Objektivismus und Relativismus gibt es also nicht länger eine selbstverständliche „Fundierungskluft" zwischen Tatsachen und Werten; daher kann diese Kluft auch nicht als Argument verwendet werden, um die normativen Dimensionen der Geschichtsschreibung aus der Diskussion zu halten. Wenn Historiker den „internen Realismus" in der Philosophie der Geschichte zur Kenntnis nähmen, könnte die Versuchung, normative Urteile als deskriptive Aussagen zu tarnen - von der Noltes und Hillgrubers Aufsätze Zeugnis abgelegt haben - , möglicherweise sogar ganz verschwinden. Das hieße, daß der angeblich „stärkere" (fundierende) Charakter letzterer sich als Illusion herausstellt, da beide Arten von Aussagen der Rechtfertigung durch Argumentation bedürfen. Noltes und Hillgrubers Kritiker schienen sich dessen bewußt zu sein, da sie gegen ihre Gegner offen normative Argumente verwendeten. So argumentierten sie etwa, daß eine nationale deutsche Perspektive angesichts der katastrophalen Auswirkungen, die der deutsche Nationalismus in der Geschichte für die anderen europäischen Nationen gehabt hat, nicht wünschenswert sei. Hillgrubers Vorschlag, die Geschichte der Ostfront neu zu schreiben, wurde auf dieser Grundlage abgelehnt. Ein weiteres Beispiel war die Zurückweisung „wissenschaftlicher" Versuche wie derjenigen Noltes und Hillgrubers, Deutschlands Verantwortung fur Auschwitz abzuleugnen, indem die deutschen Massenmorde in der jüngeren Geschichte quasi-deskriptiv „europäisiert" werden. 88 Die Philosophie der Geschichte fundamentalen Kontroversen, die in fast jeder Wissenschaft wüten, von der Psychologie bis zur Astrophysik." (169) Goodman hält fest, „daß die Linie zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Urteil nicht mit der Linie zwischen subjektiv und objektiv zusammenfällt, und daß jede Annäherung an einen universalen Einklang über irgendetwas Signifikantes die Ausnahme ist" (170). Vgl. weiter B. Rundle, Facts and Values, in: ders., Facts, 55-85; M. Doeser, Can the Dichotomy o f Facts and Values Be Maintained?, in: ders. u.a. (Hg.), Facts and Values, 1-19; A. Maclntyre, Der Verlust der Tugend, 1356; D. Pels, De ,natuurlijke saamhorigheid' van feiten en waarden, in: ders./de Vries (Hg.), Feiten en waarden, 14-44; J. Mooij, Feiten en waarden, in: ders., D e wereld der waarden, Amsterdam 1987, 28-45 87 Sabrow, Jessen u. Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. 88 In Das Vergehen der Vergangenheit, 41, verneint Nolte explizit die Möglichkeit Deutscher, über ,die deutsche Schuld' zu sprechen: „Alle Schuldvorwürfe gegen ,die Deutschen', die von Deutschen kommen, sind unaufrichtig, da die Ankläger sich selbst oder die Gruppe, die sie vertreten, nicht einbeziehen und im Grunde bloß alten Gegnern einen entscheidenden Schlag versetzen wollen." Diese Art kollektive Schuldvorwürfe seien „eine bloße Umkehrung von Hitlers Anklage gegen ,die Juden'" (139). Charles Maier, Unmasterable Past, 83-84, hat Noltes argumentative Strategie zu recht als Entwicklung von Pseudo-Vergleichen, d.h. von "theses, proposed in a pseudo-interrogative mode" kritisiert. Eine Pseudo-Frage "asks not about the truth of a proposition, but whether a proposition can be uttered. It pretends to test a hypothesis but actually tests the limits of

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kann so die Verbindungen zwischen impliziten philosophischen Annahmen der Historiker - wie in dieser Debatte die Trennung von Tatsachen und Werten - und der Weise erhellen, wie sie die Reichweite legitimer wissenschaftlicher Diskussion einzugrenzen versuchen. Auf diese Weise kann sie jene Reichweite vergrößern und so die Rationalität der Debatten anheben. 89 Das zweite Argument, die Analyse des Problems der Werte über Objektivismus und Relativismus hinauszutreiben, kann aus der Linguistik abgeleitet werden. Im Zusammenhang mit dem „internen Realismus" kann es - wie ich oben vorgeschlagen habe - die normativen Aspekte der Historiographie in einem neuen Licht erscheinen lassen. Zentral für diese Argumentationslinie ist die Erkenntnis, daß die Sprache nicht nur als Medium der Repräsentation, sondern auch als pragmatisches Medium der Kommunikation fungiert und so eine performative' Funktion hat.90 Wie Austin und Searle gezeigt haben, können alle sprachlichen Äußerungen als „Sprechakte" betrachtet werden: Jede Verwendung der Sprache ist eine soziale Interaktion. Die paradigmatischen Beispiele sind Sätze wie ,Ich befehle dir...' oder ,Ich verspreche dir...'. Diese Sätze sind keine Repräsentationen oder Darstellungen von Sachverhalten, sondern konstituieren selbst die Handlung des Befehlens und Versprechens. Indem er diese Sätze äußert, vollzieht der Sprecher Befehle und Versprechen. Das gleiche gilt für performative Akte wie den Krieg erklären, Frieden schließen, wählen, Verträge abschließen, heiraten etc. - alles das, was Searle „institutionelle Tatsachen" nennt.91 Daher ist der Sprachgebrauch nicht nur Gegenstand syntaktischer und semantischer Analyse, sondern auch der linguistischen Pragmatik. Jede soziale Interaktion findet in einem Kontext statt, der einen Sprecher - der den „Sprechakt" ausführt - und einen Hörer voraussetzt. In der Geschichte sind die Historiker die Sprecher, ihre Texte Ansammlungen von Sprechakten und ihr Publikum die Hörer. Die Hauptfunktionen von Sprechakten sind es, Kontakte und Beziehungen zu stiften, Informationen zu liefern, Emotionen auszudrücken, zu bewerten, sich zu engagieren und eine ästhetische Rolle zu spielen. Traditionellerweise haben sich kritische Geschichtsphilosophen beinahe ausschließlich mit der Informationsfunktion der in der historischen Sprache enthaltenen Propositionen beschäftigt, da die kritische Geschichtsphilosophie sich ihre Agenda von der analytischen Wissenschaftstheorie mit ihrer Konzentration auf propositionale Erkenntnis und auf die formale Strukacceptable discourse and achieves its effects because liberal societies do not like to limit discourse." Diese letzte Beobachtung Maiers kann als zusätzliches Argument fiir mein Plädoyer verwendet werden, im historischen Diskurs auch normative Probleme zu thematisieren. 89 Das ist auch Ziel von Rüsens Projekt; vgl. Historische Vernunft. 9 0 S. Dik u. J. Kooij, Algemene Taalwetenschap [Allgemeine Sprachwissenschaft], Utrecht 1991, 20-39; J. Searle, Die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit, Reinbek 1997, 69-88. 91 Searle, Die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit, 41-68.

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tur wissenschaftlicher Erklärungen vorgeben ließ. Obwohl die Philosophie der Geschichte seit dem Niedergang der analytischen Wissenschaftstheorie in den sechziger Jahren die wertenden und ästhetischen Dimensionen des historischen Diskurses wiederentdeckt hat, bleibt das Verständnis der normativen Funktion der Sprache des Historikers eher rudimentär. 92 Die Vernachlässigung liegt in Objektivismus und Relativismus begründet, da beide voraussetzen, daß die normative Funktion der Sprache die Repräsentationsfunktion als Folge der angeblich „unüberbrückbaren Kluft" zwischen Tatsachen- und Werturteilen ausschließt. Die normative Dimension im historischen Diskurs wurde daher in der Regel mit dem „Problem der Wertfreiheit" identifiziert. Die Lösung dieses Problem wurde fur gewöhnlich empiristisch darin gesehen, daß der Geist von allem befreit wird, was der Gewinnung wahren Wissens im Wege steht, was auf eine Eliminierung aller Baconschen idola, also aller ideologischen - wertenden - Einflüsse hinausläuft. Obwohl die meisten Historiker ihre Bedenken haben, ob dies je vollständig zu Ende gefuhrt werden kann, wird dies als praktisches und nicht als theoretisches Problem betrachtet. Die normative Funktion der Sprache des Historikers wird so als Bedrohung ihrer Repräsentationsfunktion konzeptualisiert. Die „Verdrängung" der normativen Funktion der Sprache wurzelt im Empirismus mit seiner strikten Trennung von Tatsachen und Werten und seinem begründungstheoretischen Paradigma wissenschaftlichen Wissens. Paradoxerweise sucht der Empirismus auch noch Geschichtsphilosophien heim, die ausdrücklich darauf zielen, ihn zu „überwinden" - wie Hayden Whites Spielart des Narrativismus - , da es in dieser Hinsicht eine bloße Umkehrung des Empirismus ist, alle Formen der Historiographie als „ideologisch" zu bezeichnen. 93 Die Version des „internen Realismus", die ich vertrete, kann dem sterilen Dilemma „Wissenschaft oder Ideologie" entgehen, da sie erkennt, daß die Sprache des Historikers gleichzeitig die repräsentative und die normative Funktion der Sprache erfüllen kann (eben dies geschieht, wenn eine Identität konstruiert wird). 94 Wegen seines „holistischen" Charakters kann

92 Für einen Überblick über den Niedergang der analytischen Wissenschaftstheorie vgl. Salmon, Four Decades o f Scientific Explanation. Für einen Überblick über den Niedergang der analytischen Philosophie der Geschichte vgl. F.R. Ankersmit, De navel van de geschiedenis: Over interpretatie, representatie en historische realiteit, Groningen 1990, 23-43. 93 Vgl. vom Verf.: Kann Geschichte wahr sein?, in diesem Band, 33-61. 94 Rüsen, Historische Vernunft, 78: „Identität, die im Erzählen von Geschichten zur Sprache kommt, ist kein fixer Tatbestand. Wer man ist, hängt auch davon ab, was andere einen sein lassen und was man im Verhältnis zu den anderen selber sein will." Vgl. auch Rorty, Der Spiegel der Natur, 394, der argumentiert, daß der Unterschied zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen voraussetzt, daß, „.wenn alle Fakten einmal bekannt sind', bloß noch das ,nichtkognitive' Einnehmen einer bestimmten Haltung übrig[bliebe] - eine Wahl, die nicht rational diskutierbar sei. [Diese Position] verbirgt, daß die Verwendung eines Systems wahrer Sätze zu Selbstbeschreibung bereits die Wahl einer Ein-

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der „interne Realismus" problemlos anerkennen, daß dieselbe Aussage gleichzeitig unterschiedliche Funktionen erfüllen kann.95 Scheinbar deskriptive Aussagen wie „Stauffenberg war ein echter deutscher Offizier", „Adolf Hitler war ein österreichischer Mischling" oder „Der Kampf an der Ostfront war eine Tragödie" können auch als normative Aussagen interpretiert werden. 96 Die hier bemühten Metaphern enthalten sowohl kognitive als auch normative Gesichtspunkte - was auch von Vertretern der modernen Diskursanalyse wie Ph. Sarasin hervorgehoben wird.97 Damit kann der „grundlegende Unterschied" zwischen Tatsachen- und Werturteilen nicht mehr als selbstverständlich hingenommen und als Argument eingesetzt werden, um die Reichweite der historischen Diskussion zu beschränken. So finden sich in vielen Nationalgeschichten die Metapher des .gelobten Landes', der unerfüllten Nation' oder andere Vorstellungen einer besonderen nationalen Bestimmung', die als Sprechakt des Versprechens betrachtet werden können und sollten - ganz offensichtlich handelt es sich um einen normativen Akt, der sich als Beschreibung von Tatsachen ausgibt, denn ein Versprechen bringt die moralische Verpflichtung mit sich, es zu erfüllen. 98 Die „Wertbe-

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stellung uns selbst gegenüber ist, und daß die Wahl eines anderen Systems wahrer Sätze der Einnahme einer konträren Einstellung gleichkommt." Mooij, "Feiten en waarden", 28-44. Vgl. Bundle, Facts, 66f. Ph. Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, insbes. 191-231, hat die These vertreten, daß die Verwendung bakteriologischer Metaphern im Diskurs über Nationen und Gesellschaften - die Rede von Körpern, in die fremdartige, schädliche Parasiten eindringen und die gegen diese Eindringlinge von außen Verteidigungskriege führen, um ihr Überleben zu sichern - genozidale Praktiken im 20. Jahrhundert erleichtert haben: „Im 20. Jahrhundert waren politischen Diskurse im eigentlichem Sinne .vergiftet' von Metaphern, die im engeren Sinne mit dem Thema des .infizierten Körpers' zu tun haben - das heißt durch Metaphern der Verunreinigung des .Volkskörpers' oder auch der .russischen Erde' durch sogenannte Mikroben, Parasiten und Ähnliches. Solche Sprachformen waren in sehr weitgehender Weise .handlungsleitend', um das Mindeste zu sagen - und man soll es nicht vergessen, daß Menschen, die auf diese Weise zu .Schädlingen' gemacht wurden, in Auschwitz unter einer .Desinfektionsdusche' starben." (194) Die metaphorische Beschreibung von Minderheiten wie Juden, Sinti und Roma ist so verbunden mit dem normativen Appell, sich ihrer zu entledigen. Es ist bemerkenswert, daß Sarasins intelligente Verteidigung der Diskursanalyse in der Geschichte damit einhergeht, daß ihm jedes Verständnis der Kritiker des 'linguistic turn' in der Geschichte wie Georg Iggers, Richard Evans und Roger Chartier fehlt. Auch Sarasin identifiziert naiven Realismus mit Realismus überhaupt und Wahrheit als Korrespondenz mit einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Aussagen und Wirklichkeit, wenn er schreibt, daß die Diskursanalyse, anders als eine realistische' Historiographie, „sich nicht mehr in der Gewissheit wiegen [kann], dass ihre Aussagen in einem zwingenden und daher einzig wahren Korrespondenzverhältnis zu den .Fakten' stehen" (9). Vgl. auch sein Rückgriff auf Munslow auf S. 57. Mit dem performativen Charakter historischer Texte hat sich Quentin Skinner in Visions of Politics, Vol. 1: Regarding Method, Cambridge 2002, beschäftigt.

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haftetheit" und der „wesentlich angreifbare Charakter" (essentially contested character) soziohistorischer Begriffe" - Aspekte der Historiographie, die öfter bemerkt als tatsächlich untersucht worden sind - können auf diese Weise erhellt werden, womit man der Skylla des „wertfreien" Objektivismus und der Charybdis des „ideologischen" Relativismus entgehen kann. Der dritte und letzte Schritt dabei, die Analyse des Problems der Werte in der Historiographie über Objektivismus und Relativismus hinauszutreiben, besteht in der Einführung des Begriffs des „Erwartungshorizontes" in die historische Debatte. 100 Dieser Begriff kann dazu beitragen, zu klären, inwiefern unterschiedliche normative Konzeptionen mit unterschiedlichen Beschreibungen der historischen Wirklichkeit zusammenhängen, da er als Brükke zwischen den „domain assumptions" 101 der Historiker und ihres Publikums dienen kann. Diese domain assumptions, die ihren Ursprung in unterschiedlichen Sozialontologien, ,Denkstilen' oder ,Urideen' haben, können denen politischer Ideologien entsprechen, so daß man sinnvoll von „liberalen", „konservativen" und „marxistischen" Traditionen in der Historiographie sprechen kann und so die historiographischen Kontroversen mit dem politisch-ideologischen Wettbewerb der „Weltbilder" in Beziehung setzen kann. 102 Hier lag Hayden White in Metahistory richtig. Um den „Erwartungshorizont" zu erhellen, müssen wir seine Auswirkungen in den Blick nehmen, indem wir zuerst die Art genauer betrachten, wie Historiker ihre Wissensansprüche vertreten. In der Argumentation von Historikern läßt sich traditionellerweise eine Phase tatsächlicher Forschung von einer Phase der Interpretation und Erklärung unterscheiden. Tatsachen werden in der Regel auf der Basis inferentieller Argumente beurteilt, die mit dem unterschiedlichen Grad zusammenhängen, mit dem sie durch die Quellen gestützt werden; interpretative und explanatorische Behauptungen werden in der Regel auf der Basis von Argumenten bewertet, die die interpretative und

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W. Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society 1955-1956, London 1957, 167-198, insbes. 193: "Recognition o f a given concept as essentially contested implies recognition of rival uses o f it (such as oneself repudiates) as not only logically possible and humanly 'likely', but as of permanent critical value to one's own use or interpretation of the concept in question. [ . . . ] One very desirable consequence o f the recognition of essential contestedness might therefore be expected to be a marked raising of the level of arguments in the disputes o f contestant parties. And this would mean, prima facie, a justification o f the continued competition for support and acknowledgement between the various contesting parties." 100 Für eine genauere Analyse dieses Begriffs vgl. M. Thompson, Reception Theory and the Interpretation o f Historical Meaning, History and Theory 3 2 (1993), 248-273. 101 Vgl. A. Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, London 1970, 3f. 102 Zu Sozialontologien vgl. S. James, The Content of Social Explanation, Cambridge 1984. Im Spiel sind etwa unterschiedliche Begriffe gesellschaftlicher Verursachung. Zu ,Denkstilen' und .Urideen' (Ludwik Fleck) vgl. Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, 196-199.

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explanatorische Kraft zentraler Begriffe vergleichen. 103 Eine Grundstrategie ist in dieser Phase die Eliminierung konkurrierender Argumente. 104 Wie an Debatten wie dem Historikerstreit paradigmatisch beobachtet werden kann, sind in beiden Phasen die Argumente nicht unbedingt „rational zwingend" und fuhren nicht automatisch zum Konsens. 105 Keine Berufung auf „die historische Methode" kann dies verschleiern. 106 Der Begriff des „Erwartungshorizontes" kann einen Aspekt dieses fehlenden Konsens - und damit des Pluralismus - in der Historiographie erhellen, da er uns darauf hinweist, daß Historiker die Vergangenheit nicht in vacuo rekonstruieren, sondern im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum; damit kann die Vielfalt der Perspektiven in der Historiographie auch von der Seite ihrer Rezipienten - Professionelle wie Laien - erklärt werden. Obwohl alle „wissenschaftlichen" Historiker durch die „Wirklichkeitsregel" gebunden sind, sind sie gleichzeitig durch etwas gebunden, das man „Publikumsregel" nennen könnte. 107 Letztere Regel kann zur Erklärung dessen beitragen, wie Historiker den „narrativen Raum" nutzen: Sie kann erhellen, welche von allen möglichen wahren Geschichten (histories) auch als solche akzeptiert wird. Das ist keineswegs trivial, denn Historikern ist es so wenig wie Naturwissenschaftlern um die Wahrheit als solche oder die ganze Wahrheit, sondern lediglich um die relevante Wahrheit zu tun.108 Da die primären Quellen die Art der Rekon-

103 In dieser Phase ist es sinnvoll, zwischen einem problemorientierten Typ der Geschichte (histoire problème), der Erklärungen fur bestimmte, ausdrücklich benannte Hypothesen sucht, und einem interpretativen Typ der Geschichte, der globale und deskriptive Interpretationen zu liefern versucht (histoire total). Bei ersterem besteht die Hauptstrategie im Ausschalten alternativer Erklärungen, bei letzterem im Aufweis, daß bestimmte Begriffe es ermöglichen, disparate Tatsachen zu einem bedeutungsvollen Ganzen zu integrieren. In bereits dichtbesiedelten Nischen der Historiographie geschieht dies in der Regel über die Ausschaltung von Konkurrenten. Zur Verwendung von Quellen und Belegen durch Historiker vgl. P. Kosso, Historical Evidence and Epistemic Justification: Thucydides as a Case Study, History and Theory 32 (1993), 1-14. 104 Vgl. Martin, The Past Within Us, 30-85 105 Auch wenn Tatsachenargumente von anderen Historikern auf der Basis des Konsistenzkriteriums - Konsistenz mit den von den Quellen abgeleiteten und von ihnen gestützten Informationen - beurteilt werden, garantiert dieses Kriterium fur sich genommen noch keinen Konsens. Dieser fehlende Konsens hat auf der Ebene der Quellen zwei Wurzeln: Nicht nur ist möglich, daß unterschiedliche Historiker, die den „gleichen" Gegenstand etwa das Dritte Reich oder den Holocaust - untersuchen, unterschiedliche Quellen benutzen, sondern es ist ebenso möglich, daß unterschiedliche Historiker dieselben Quellen unterschiedlich interpretieren - wie es bei Noltes rechten Pamphleten der Fall war. 106 Für Untersuchungen zum Begriff der „historischen Methode" und seiner Geschichte vgl. C. Meier u. J. Rüsen (Hg.), Historische Methode, München 1988, insbesondere die Beiträge von J. Rüsen, J. Topolski und J. Meran. 107 Die Rezeptionsseite wurde selbstverständlich schon in der klassischen Rhetorik analysiert. In dieser Hinsicht bleibt auch die ,wissenschaftliche' Geschichte der Rhetorik verhaftet. 108 Vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, 32.

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struktion der Vergangenheit nicht unmittelbar „vorschreiben", bieten sie immer genug narrativen Raum für mehrere Erklärungsansätze (dies bleibt der rationale Kern von Whites Metahistory). Welcher dieser Ansätze a priori plausibel erscheint, variiert nicht nur mit den kognitiven, sondern auch mit den normativen Erwartungen des adressierten Publikums. Letzteres ist in der Geschichte der Historiographie gut dokumentiert, insbesondere im Falle „heißer" Kontroversen wie dem Historikerstreit, der „Fischer-Kontroverse" oder die „Goldhagen-Kontroverse". 109 Die kognitiven Erwartungen setzen Grenzen bezüglich dessen, was für eine Art von Faktoren als kausal gelten können - wie etwa Geisteszustände einzelner (s. Nolte) vs. überindividuelle, kollektive Faktoren (s. Mommsen)."° Die normativen Erwartungen setzen Grenzen bezüglich der jeweiligen konkreten Auswahl von Faktoren - etwa Einzelne oder Kollektive - , die als kausal gelten können. Diese normative Entscheidung hängt, wie Dray gezeigt hat, unmittelbar mit der Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Schuld zusammen. 111 Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Nationalität von „Helden und Bösewichtern" in Nationalgeschichten (selbst wenn diese Nationalgeschichten sich als vergleichende, internationale Geschichte tarnen). Es ist also keinesfalls zufällig, daß der konservativen Nolte-Hillgruber-Gruppe zufolge der sowjetische Diktator Stalin letztlich für die Verbrechen seines deutschen politischen „Zwillingsbruders", Adolf Hitler, verantwortlich war. Diese Art der Argumentation - die Vorstellung eingeschlossen, daß Hitler den Krieg im Osten 1941 angefangen hat, um den Krieg verhindern, den Stalin für 1942 geplant hatte - war in konservativen Kreisen der Bundesrepublik

109 Sabrow, Jessen und Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Zur Goldhagen-Kontroverse vgl. auch meine Analyse in Model murderers. Afterthoughts on the Goldhagen method and history, Rethinking History 6 , 2 (2002), 131-151. 110 Natürlich hängen die deskriptive und die explanatorische Ebene konzeptuell miteinander zusammen, aber dennoch ist es sinnvoll, hier eine analytische Trennung vorzunehmen, da die Antwort auf die „Was"-Frage nicht die Antwort auf die „Warum"-Frage bestimmt; vgl. R. Martin, "On Dray's .Conflicting Interpretations'", in: G. Shapiro u.a. (Hg.), Hermeneutics. Questions and Prospects, Amherst 1984, 26: "[T]he characterization of the event to be explained suggests the level, and sets constraints, for what is going to count as the explanation." Für philosophische Argumente vgl. James, Social Explanation, pass.; für die historischen Argumente vgl. etwa die Diskussion über die Rolle Hitlers in der deutschen Geschichte: M. Broszat, Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988, insbes. 11-33, 119-131 u. 227-234; H. Mommsen, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft, Hamburg 1991, insbes. 67-102 u. 184-233. Für eine Diskussion der explanatorischen Rolle des Einzelnen in der Geschichte vgl. Chr. Lorenz u.a., Het historisch atelier: Controversen over causaliteit en contingentie in de geschiedenis, Amsterdam/Meppel 1990. 111 W.H. Dray, Philosophy of History, Englewood Cliffs, NJ 1964, 21-41. Für eine weitere Diskussion und Literatur vgl. L. Pompa, Value and History, in: van der Dussen u. Rubinoff (Hg.), Objectivity, 112-132.

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fest verankert. 112 Ebensowenig zufällig ist es, daß ihre Kritiker diesen historiographischen „Export" der deutschen historischen Verantwortung vehement zurückwiesen, da in liberalen und linken Kreisen der Bundesrepublik die Überzeugung verbreitet war, daß die Deutschen ihre Nazivergangenheit „aufarbeiten" müßten. Historiker nehmen die „Erwartungshorizonte" in ihre Überlegungen auf, da diese weit auseinandergehen und die Rezeption historischer Studien mitbestimmen. Daß die zwei Lager im Historikerstreit ihre Beiträge in Publikationsorganen veröffentlichten, die politisch weit auseinanderlagen und damit ein je unterschiedliches Publikum anzielen, illustriert dies. Die Besonderheit des Historikerstreites im Vergleich mit den meisten anderen historischen Debatten war es, daß diese Erwartungshorizonte weit deutlicher sichtbar waren, als sie dies für gewöhnlich sind.

5. Schluß Ich habe hier zu zeigen versucht, daß es die Aufgabe der Philosophie der Geschichte ist, die Praxis der Geschichte zu erhellen; daher muß sich die Philosophie der Geschichte vor allem mit den Produkten und den Debatten von Historikern auseinandersetzen - ihre impliziten Vorannahmen eingeschlossen. Sie muß die Tatsache erklären, daß Historiker auf der Basis von Forschung Rekonstruktionen einer vergangenen Wirklichkeit erstellen und die Angemessenheit dieser Rekonstruktionen diskutieren; gleichzeitig muß sie erklären, daß diese Diskussionen nur selten zu einem Konsens fuhren und daß daher Pluralismus zu den wesentlichen Charakteristika der Geschichte als Disziplin gehört. Eine Untersuchung des Historikerstreits zeigt, daß die traditionellen Ansätze von Objektivismus und Relativismus nicht mit der Tatsache zurechtkommen, daß Historiker tatsächlich diskutieren; auch zeigt sie, daß in dieser Debatte die unscharfe Trennung zwischen Tatsachen- und Werturteilen eine wesentliche Rolle spielt, da Werturteile nicht Teil einer rationalen Debatte sein sollen. Diese Trennung kann auf überkommene Annahmen in bezug auf die Rationalität der Wissenschaft zurückgeführt werden, die Objektivismus 112 Vgl. Evans, Hitler's Shadow, 138: "How people regard the Third Reich and its crimes provides an important key to how they would use political power in the present and in the future. That is why the neoconservati ves' reinterpretation of the German past is so disturbing. For many if not most of the arguments are derived, consciously or unconsciously, from the propaganda of the Nazis themselves." Maier, Unmasterable Past, 64: "The Nolte-Fest position has given academic credentials to what hitherto was the underground discourse of the Soldatenzeitung or SS-reunions." Für einen Überblick vgl. a. Lüdtke, ,Coming to Terms with the Past': Illusions of Remembering, Ways of Forgetting Nazism in West Germany, Journal of Modern History 65 (1993), 542-572, und vom Verf.: Bordercrossings.

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und Relativismus gemeinsam haben. Der interne Realismus geht in der Historiographie über Objektivismus und Relativismus hinaus, auch wenn der Begriff des praktischen Interesse der Geschichte eingeführt werden muß, um den „internen Realismus" aus dem Bereich der Philosophie der Naturwissenschaften - für den er von Hilary Putnam formuliert worden ist - auf die Geschichte 2X1 übertragen. Mit Hilfe dieses Begriffs und dem damit zusammenhängenden Identitätsbegriff können die normativen Wurzeln des Pluralismus in der Historiographie ans Licht gehoben werden. Zweitens entdeckt eine Untersuchung der Trennung von Tatsachen und Werten deren Wurzeln in Objektivismus und Relativismus; sie muß daher im Lichte des „internen Realismus" einer neuen Analyse unterzogen werden. Diese Analyse, die am Historikerstreit erprobt wurde, zeigt, wie relativ diese Trennung ist und wie unbefriedigend die Versuche geblieben sind, die normative Dimension der Geschichte zu klären: Die Argumente, die normative Diskussion aus dem Bereich legitimer wissenschaftlicher Debatte zu verbannen, sind unbegründet und überholt. Drittens können die Theorie der „Sprechakte" und der Begriff des „Erwartungshorizontes" mit dem „internen Realismus" verbunden werden, um eine angemessenere Erklärung der normativen Aspekte der Historiographie zu liefern. Viertens können Historiker vom „internen Realismus" profitieren, da er ihre Diskussion um die bisher üblicherweise impliziten normativen Fragen erweitern kann, die im Spiel sind. Obwohl also die Geschichtsphilosophen die Produkte und die Debatten der Historiker als Ausgangspunkt und Rohmaterial der Untersuchung nehmen, reproduziert die Philosophie der Geschichte nicht einfach die Auffassungen, die die Historiker selbst von ihrem Fach haben. So muß die Aufgabe der Philosophie der Geschichte meiner Ansicht nach interpretiert werden, um ihre Verbindung mit der Geschichte selbst aufrechtzuerhalten und eine Degeneration philosophischer Untersuchungen zu "tumors which grow incessantly by feeding on their own juices" 113 zu verhindern. Der „interne Realismus" in seiner erweiterten Form bietet sowohl Historikern als auch Geschichtsphilosophen eine „realistische" Möglichkeit, über Objektivismus und Relativismus hinauszugelangen, ohne in die Fehler des Narrativismus zu verfallen, der sich vom Sumpf des Positivismus in den Treibsand der Postmoderne rettet." 4 Die Historiker selbst behaupten, die Vergangenheit darzustellen, halten sich also an die „Wirklichkeitsregel"; die bloße Tatsache, daß uns die Vergangenheit nur durch Deutungsrahmen be-

113 Feyerabend verwendete diese Formulierung, um die Entwicklung der Wissenschaftstheorie zu charakterisieren; vgl. P. Feyerabend, "Philosophy o f Science: A Subject with a Great Past", in: R. Stuewer (Hg.), Minnesota Studies in the Philosophy o f Science, Minneapolis 1970, V, 183. 114 Dieses Argument habe ich in: Kann Geschichte wahr sein?, in diesem Band, 33-63 entwickelt.

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kannt ist, läßt daher nicht den Schluß zu, daß sie selbst eine Beschreibung ist oder als solche betrachtet werden kann." 5

115 Vgl. Zammitos Kritik des „Pantextualismus" und des „intratextuellen Narzißmus" der „neuen" Philosophie der Geschichte und ihrer Tilgung aller Referentialität in historischen Erzählungen in "Are we being Theoretical yet?" und Zagorins ähnlich gelagerte Kritik in „Narrative, history, and the referent".

Testing Social Theories: Validation, Practice and Reality Anton A. van Niekerk One of the most important and persistent problems in the philosophy and methodology of the social sciences relates to the question as to how social theories can be tested, if at all. We all know that to say: "look and see", i.e. "test the theory against reality; see whether it articulates adequately what reality is really like", is not sufficient and suggests simplicity in a situation that is infinitely more complex. In the aftermath of the work of the phenomenologists, the Frankfurt School, hermeneutic philosophy as well as host of social theorists inspired by their profound insights into the complexities of social theories and the way in which theory formation in the human science differ fundamentally from the natural sciences, we realize that social reality is neither entirely theory-independent nor extra-linguistic. Nothing proves this better than the alleged "reality" which is described by the science of history. We all know the standard examples: there was no "First World War" before there was a "Second World War", and the difference, in reality, between the two does not only relate to the fact that a new sequence of numerals in a coined phrase is required after 1 September 1939. The reality of what the First World War in fact was, is fundamentally altered by the events of 193945. In the part of the world where I come from - Southern Africa - it is currently an existential question whether the events of 1980 in the area known as Zimbabwe - the events that brought Robert Mugabe to power - are still to be heralded as "the liberation of Zimbabwe" or, in view of recent events surrounding the eviction of white fanners from their land, possibly as the "downfall of Southern Africa". There are no fixed, unalterable historical facts; historical facts assume reality in terms of a historically situated interpretation. Does this fatally flaw the ability or credibility of history and other human sciences to reveal reality in a theoretically viable way? If this is so, something very similar, however, has to be claimed for the natural sciences. Thomas Kuhn has argued that when we take account of the discontinuous paradigms in which scientists have thought about and experimented with "the facts of nature", our conception of reality is often as muddled and ambiguous as what has just been claimed for history and the social sciences. Kuhn writes:

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"One often hears that successive theories grow ever closer to, or approximate more and more closely to, the truth. Apparently generalizations like that refer not to the puzzle-solutions and the concrete predictions derived from a theory but rather to its ontology, to the match, that is, between the entities with which theory populates nature and what is 'really there'. Perhaps there is some other way o f salvaging the notion o f 'truth' for application to whole theories, but this one will not do. There is, I think, no theory-independent w a y to reconstruct phrases like 'really there'; the notion of a match between the ontology o f a theory and its 'real' counterpart in nature n o w seems to me illusive in principle." (Kuhn 1970: 2 0 6 )

He therefore asserts that, "when Aristotle and Galileo looked at swinging stones, the first saw constrained fall, the second, a pendulum...What occurs during a scientific revolution is not fully reducible to a reinterpretation o f individual and stable data...A pendulum is not a falling stone, nor is oxygen dephlogisticated air. Consequently, the data that scientists collect from these diverse objects are....themselves different." (Kuhn 1970: 121)

The upshot of Kuhn's momentous contributions is, without doubt, that the very concept of "reality", also in the natural sciences, is far from unproblematic. What I would like to achieve in this paper, is to explore how, in spite of what has just been said about the seeming correlations between human and natural sciences regarding problems of ontology, the testing of social theories differ from that of theories in the natural sciences. On the basis of what will be found in this regard, I shall conclude with short remarks about its implications for the idea of "reality" as used in the human sciences. In conceptions about the rationality of science, particularly the one developed by the so-called "critical rationalists" (Karl Popper, William Warren Bartley III and Hans Albert), testability replaces justifiability as the most important criterion of rationality. This follows these thinkers' acceptance of Hume's criticism of the alleged inductive logic of science, and their espousal of a deductive logic in which the idea of testability in the sense of falsifiability or refutability is proposed. That testability represents a more legitimate key to the understanding of the rationality of science than verifiability/justifiability, is not self-evident and has, in well documented debates, been criticized.' However, I will accept the claim that testability represents the key to scientific rationality, and will rather raise the question as to how such testability ought to be understood in the case of social sciences that are distinguished by their propensity to develop and advance social theories, particularly in the case of sociology, social anthropology and political science.

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Cf. in this regard Chalmers 1982: 38-76 and Lakatos 1982.

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What does testability in the sense of falsifiability mean? Bartley identifies 4 "checks" or "means of eliminating error by criticizing our conjectures and speculations": 1. The check of logic: is the theory in question consistent? 2. The check of sense observation: is the theory empirically refutable by some sense observation? And if it is, do we know any refutation of it? 3. The check of scientific theory: is the theory, whether or not in conflict with sense observation, in conflict with any scientific hypotheses? 4. The check of the problem: what problem is the theory intended to solve? Does it do so successfully? (Bartley 1964: 158-59) Some of these, particularly the first and the last, are applicable to social theories without too much difficulty. The problem with critical rationalism, however, is its claim (a typically positivist one, in spite of other differences from positivism) that empirical refutation means exactly the same in both natural and social sciences. This claim is problematic for a number of reasons. One of the most important objections was formulated by Charles Taylor in a well known article that has influenced my thinking on this problem significantly (Taylor 1985: 91-115). The fact is that empirical refutation in the case of social theories seldom entails observations of an object that exists independently from our pre-theoretical and theoretical understanding of that object. To quote Taylor in this regard: "[Social theories] all claim to tell us what is really going on. This was the analogy with natural science. But the disanalogy emerges when w e see what introducing social theory brings about. The case is different here, because the common-sense view which theory upsets or extends plays a crucial, constitutive role in our practices. This will frequently mean that the alteration in our understanding which theory brings about can alter these practices; so that, unlike with natural science, the theory is not about an independent object, but one that is partly constituted by self-understanding." (Taylor 1985: 98, my italics)

What does theory achieve? By and large, it corrects our common-sense understanding of things and how they work, thereby often enabling us to cope better with the world of our experience. Ideally, theory acquaints us with the regularities operative in the phenomena under investigation, and theory relates to practice in the sense that "we apply our knowledge of the underlying mechanisms [of our field of experience] in order to manipulate more effectively the features of our environment" (Taylor 1985: 92). In the social sciences, there is a constant temptation to take the theories of the natural sciences as a model for social theory, i.e. to try and discover the underlying processes and mechanisms of society, and to try to figure out how this knowledge might provide a basis for a more effective planning of social life (Ibid). However, the disanalogy with natural science is quite compelling. The most important difference between theory formation in the natural and social

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sciences relates to the fact that, in the case of the social sciences, we normally have a common-sense understanding of what it is we try to elucidate theoretically. To quote Taylor again, "There is always a pre-theoretical understanding of what is going on among the members of a society, which is formulated in the descriptions of self and other which are involved in the institutions and practices of that society." (1985: 93)

Examples of these include decision-making by majority vote, the institution of hiring employees on the basis of free contractual arrangements, the nationalistic basis of international relations and conceptions of the family as core unit of social institutions. Two insights are of pivotal importance for the way in which I understand the testability of social theories. The first is the relevance of H.L.A. Hart's (cf. Hart 1948) analyses of juridical argumentation for an understanding of the validation procedures of the social sciences. Hart's incisive analyses of the logical peculiarities and status of phrases used in juridical contexts (e.g. phrases like "he did it", "we had a contract" or "she trespassed") show convincingly that these statements - appearances to the contrary - are not descriptive, but ascriptive, mainly because of their defeasibility. The ascriptive status of statements requires a context in which judgement, in view of the assessment of evidence, has to be passed as to whether a certain phrase is appropriate. Hart's strong and interesting point is that juridical parlance proves that we must be cautious of expressing "obstinate loyalty to the persuasive but misleading logical ideal that all concepts must be capable of definition through a set of necessary and sufficient conditions" (Hart 1949: 178). A consideration of the defeasible character of legal concepts shows "how wrong it would be to succumb to the temptation offered by modern theories of meaning to identify the meaning of a legal concept, say 'contract', with the statement of the conditions in which contracts are held to exist since owing to the defeasible character of the concept such a statement, though it would express the necessary and sometimes sufficient conditions for the application of 'contract', could not express conditions which were always sufficient." (Hart 1949: 181)

We can (following Ricoeur's utilization of Hart's insights) distinguish between a logic of verification operative in the natural sciences and a logic of validation operative in the social sciences (cf. for such a distinction Ricoeur 1981: 215). Juridical argumentation, according to Hart, is not simply deductive-nomological; it is not simply a matter of the application of general laws to specific cases. It has to do with decisions that have to be taken in view of specific circumstances. Similarly, the "findings" of a court of law are not made with the definitiveness of a "scientific verification". They are much rather the outcomes of validation procedures that yield validation as some-

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thing "beyond reasonable doubt". Hart explains with reference to the law of contracts: "There is a contract in the timeless sense of 'is' appropriate to judicial decisions. Secondly, since the judge is literally deciding that on the facts before him a contract does or does not exist, and to do this is neither to describe the facts nor to make inductive or deductive inferences from the statement of facts, what he does may be either a right or a wrong decision or a good or bad judgement and can be either affirmed or reversed and (where he has no jurisdiction to decide the question) may be quashed or discharged." (Hart 1949: 182, his italics)

This represents a kind of rationality that is polemical in nature', each finding and decision is, in principle, challengeable in the form of an appeal. When social theories are tested, it seems to me that the validating evidence often has this characteristic, and that makes this kind of testing significantly different from the case in the natural sciences. The second insight on which I would like to draw when explicating central features of the testing of social theories, is Charles Taylor's claim that social theories are, in the end, only satisfactorily tested against practice. A successful social theory, according to Taylor, formulates the norms, values and goods of a practice; these goods will be realised if the practice is based on the theory. If it turns out that a practice modelled on a certain theory does not produce these goods and values, the theory will have been refuted. Says Taylor: "What makes a theory right, is that it brings practice out in the clear; that its adoption makes possible what is in some sense a more effective practice" (Taylor 1985: 104). Before these claims are explicated, a few explanatory remarks are in order. What is a practice? Alasdair Maclntyre provides a well known definition: "any coherent and complex form of socially established cooperative human activity through which goods internal to that form of activity are realised in the course of trying to achieve those standards of excellence which are appropriate to, and partially definitive of, that form of activity, with the result that human powers to achieve excellence and human conceptions of the ends and goods involved, are systematically extended." (Maclntyre 1982: 175)

Maybe it's better to stick with Taylor's own, simplified conception of a practice, given in one of his other publications: "ways that we regularly behave to/before each other, which (a) embody some understanding between us and which (b) allow of discrimination of right/wrong, appropriate/inappropriate" (Taylor 1984: 22). Social theory can effect practice because it can alter our self-descriptions, and our self-descriptions can be constitutive of our practices. According to Taylor, one of the things social theory does, is to make the self-understandings which constitute social life explicit (1985: 105). It can for instance be shown that the Western liberal democracies in which most of us live are deeply influenced by assumed theoretical positions. Taylor, a well known

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apologist for communitarianism, grudgingly refers to these positions as the "atomistic" view of democracy: the idea that individuals are complete and self-sufficient entities that are able to make rational decisions about their own good entirely on their own and without recourse to the traditions and social contexts from which they emerge and that co-constitute their identities (cf. also Taylor 1984: 26). It proves how thoroughly social theory has influenced practice. Writes Taylor: "Our society is a very theory-prone one. A great deal of our political life is related to theories. The political struggle is often seen as between rival theories, the programs of governments are justified by theories, and so on. There has never been an age so theory-drenched as ours." (1985: 106)

The fact that theories play an important role in constituting our self-definitions and our institutions, might create the impression that social theories are hardly to be distinguished from ideologies in which our self-interests are primarily promoted. If this is the case, the idea of validating a social theory threatens to become humbug. I would nevertheless like to argue that the idea of validating a social theory, even in its self-defining use, does make sense and is, in an important sense, primary, because, as Taylor states, "what is involved in such validation will frequently be essential to confirming a theory, even as an adequate description/explanation" (1985: 109). Taylor's important idea in this regard is that a social theory is validated by the practice which it informs. The reason is that a theory, as argued earlier, formulates norms, values and goods that could, in principle, be realized by a practice based on these entities. If it turns out that the practice modelled on a certain theory does not realize these goods and values, the theory might well be labelled "irrational". For example, socialist societies modelled on classical socialist theories compromised the rational status of these theories in that the practices which they generated demonstrated that the goods and values which they formulated and propagated - freedom, general welfare, equality, etc. were hardly attainable or realizable within their ambit. The same, to use another example, was true for apartheid in South Africa: while the theory acclaimed values such as self-determination, separate freedoms and the protection of minority identities - even white prosperity - the practice based on the theory gave no evidence of such outcomes. Taylor uses the image of the map of a certain terrain to illustrate what is meant by the validation of social theories. Maps are not reliable because they reveal the facts as closely as possible; a map is of necessity a model imitating the original only in certain respects, but necessarily not in others. Maps are rather reliable because they help us get around, to orientate ourselves. They assist us in moving around less haphazardly. "In sum", Taylor argues,

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"I want to say that, because theories which are about practices are self-definitions, and hence alter the practices, the proof of the validity of a theory can come in the changed quality of the practice it enables. Let me introduce terms of art for this shift of quality, and say that good theory enables practice to become less stumbling and more clairvoyant."(1985: 111)

Let me conclude by making a few remarks about what these insights into the nature and criteria for testing social theories might teach us about the nature of the reality that is being discovered and described in social theorising. There is nothing in abstracto to postulate about "reality as such", either in the social or in the natural sciences. The shortest definition of reality that I would like to venture, is "that which matters to us", i.e. that which appears to us in such a way that it challenges us to interpret it in the continuing narrative of our historical existence. In this sense, reality matters in as much as it appeals to us to respond; it is a challenge to a response. That something attains the status of "the real" for us, and what that reality is, is, in addition, inevitably determined by how that given practically functions in a historical and socially conditioned situation or context.2 All reality is linguistically mediated. One is, in this regard, reminded of a well known statement by Gadamer: "The linguistic analysis of our experience of the world is prior, as contrasted with everything that is recognized and addressed as beings. The fundamental relation of language and world does not, then, mean that the world becomes the object of language. Rather, the object of knowledge and of statements is already enclosed within the world horizon of language... The linguistic nature of the human experience of the world does not include making the world into an object." (Gadamer, 1967:426, 408)

And elsewhere: "Being that can be understood is language...That which can be understood is language...The historical consciousness, in fact, also involved mediation between past and present...For man's relation to the world is absolutely and fundamentally linguistic in nature, and hence intelligible. Thus hermeneutics is...a universal aspect of philosophy, not just the methodological basis of the human sciences." (Gadamer, 1975:432-433)

Language, in addition, is not merely a contingent instrument by means of which we articulate a reality that is, in itself, already meaningful. In as much as reality, as argued above, is a challenge to a response, it only comes to fruition or sustained duration in the spoken and written word. What is real for us, only attains form, definition and concrete stature when we, as language users, point it out, name it or articulate it in words. One of the fundamental differences between the nature of the reality described in the human sciences, as compared to that of the natural sciences, is our pre-theoretical acquaintance with what is being described on the basis of 2

I draw, for these insights, on Van Peursen 1972. For an illuminating exposition of Van Peursen's ideas in this book, cf. Rossouw undated.

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our familiarity with these entities in ordinary language. That simply implies that the way reality is linguistically constituted, is more fundamentally demonstrable in the human sciences than in the natural sciences. If what has just been claimed for the relation between language and reality, particularly in the human sciences, is true, we must bear in mind the force of indirect language and its reality-constituting potential. Two points that, to my mind, are of particular significance to the question of the reality articulated by theology, may be mentioned in this regard. The first is the insight into the radically metaphorical nature of talk about God. One is reminded of Jüngel's claim: "Gott ist ein sinnvolles Wort nur im Zusammenhang metaphorischer Rede. Es wird sofort sinnlos, wenn man die connexio verborum nicht metaphorisch verstehen will" (Jüngel 1974: 110). Let us also recall Ricoeur's profound insight into the cognitive power of the metaphor: "A discourse which makes use of metaphor has the extraordinary power of redescribing reality...metaphor not only shatters the previous structures of our language, but also the previous structures of what we call reality. When we ask whether metaphorical language reaches reality, we must then assume that this reality as redescribed is itself novel reality. With metaphor we experience the metamorphosis of both language and reality." (Ricoeur

1973: 110-111) This raises, anew, the question, of the reality-constituting potential or force of the successful metaphors of theology - those metaphors that seemingly withstood the test of time and that articulate the collective wisdom of the confessional tradition. The second point is the question as to what the status of the word "God" itself is; is it a fiction of the imagination, a convention to hold society together (Durkheim), an idealized recollection from early childhood (Freud) or a projection of an idealized self (Feuerbach)? In the idiom of what has been argued up to now, the one possibility that I personally find quite intriguing is that suggested by Paul van Buren in an almost forgotten book: God as the "final possibility of language", resp. "God" as that which the faithful see and, because of a lack of any other adequate term, articulate, when they reach the limits of the metaphorical "language platform" on which we all are and move around (cf. Van Buren 1972). My last remark brings us back to the significant point, earlier argued, about practice being an important criterion for the testing of social theories. In this regard, one is reminded of Anthony Giddens's fruitful insight into the so-called "double hermeneutic" embedded in the structure of the human/social sciences. This means that these sciences are not only constituted within a tradition or a "language game"; the symbolically structured objects and events that are studied by the human sciences are themselves constituted by their location within complexes of beliefs and practices, values and norms - in short, within language games or traditions (Warnke, 1987: 109). This

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simply means that social theories are not only efforts to explicate the nature of social practices; in fact, their very elucidation of these practices can have a profound, transformative effect on these practices. As Giddens himself formulates it: "The reflexivity of modern social life consists in the fact that social practices are constantly examined and reformed in the light of incoming information about those very practices, thus constitutively altering their character" (Giddens 1991: 38). This phenomenon, as indicated in the cited passage, is the outcome of the "deeply disturbing" insight into the fallibility of all knowledge in modernity, including that of the natural sciences, as indicated by Popper's work on falsifiability (cf. Popper 1959 and 1963). Giddens quotes Popper's claim that "all science rests upon shifting sands". He says: "In science, nothing is certain, and nothing can be proved, even if scientific endeavour provides us with the most dependable information about the world to which we can aspire. In the heart of the world of hard science, modernity floats free" (Giddens 1991: 39). In the social sciences, it is not only a fact that our theories are, in the end, tested by practices, which, as earlier quoted definitions indicate, are highly complex phenomena in the social world. To add to this complexity, these practices are themselves transformed by the theorising about them. Giddens illustrates this by referring to, e.g., how the discourse about economics influences people's economic behaviour, and by showing how suicide statistics, which is normally gleaned from the work of coroners, are influenced by coroners' own readings of and interpretations of those very statistics, and by concepts and theories which purport to illuminate the nature of suicide. "It would not be unusual" writes Giddens, "to find a coroner who had read Durkheim" (Giddens 1991: 42). In addition, we can refer to the way in which polling can influence the behaviour of voters - even to the point of persuading them to deliberately lie to pollsters, as was dramatically illustrated in the British general election of 1992. This consistent feedback- and potentially transformative loop from theory to practice and back is a unique feature of the social sciences in comparison to the natural sciences. The only point that I want to highlight in this regard, is what we can learn from this phenomenon about the nature of the reality that we study in the social sciences. This is a reality that in no way can be divorced from the flux of historical forces that, almost daily, impinge on it. It is also a reality of which no sense can be made independently from the linguistic and theoretical framework within which it necessarily has to be interpreted. The plain fact, Philip Wheelwright writes somewhere, "is that not all facts are plain". Nowhere is this more apparent than in the efforts to understand the factual basis, and thus presupposed ontology, of the human sciences. What reality is, is, in this instance, hardly something which can ostentively be indicated or "found". What reality is rather assumes the character of the outcome of a process of negotiation between individuals, society and the

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world. This, it seems to me, is the implication of the point made earlier that the human sciences have a logic of validation rather than verification - a logic wherein the nature of facts are never established conclusively, but in a way that, at best, resembles a series of progressive settlements rather than final outcomes. The settlements can always - analogously to the verdicts of a court of law - be challenged, found to be faulty and redefined or -established. The best we can seemingly hope for is that the outcomes of these negotiations will be a series of progressive, rather than retrogressive, settlements!

Summary To sum up, I have argued in this paper for a number of claims: 1. Testing does play an important role in establishing the rationality of the social sciences. 2. The logic of the social sciences is a logic of validation rather than of verification. The quasi-empirical claims that support social theories, have the character of ascriptions rather than descriptions; their meanings are open to a process of reassessment analogical to the validation procedures of juridical processes, and can at best be established "beyond reasonable doubt". 3. Social theories are co-constitutive of practices and can be tested against the extent to which the practices which they inform, deliver the goods and values foreseen by these theories. 4. Reality is that what matters to us and challenges us to respond. Abstracted from the contexts in which reality requires an articulation within the ambit of a socio-historical context, there is little to say about it. 5. All reality is linguistically mediated. 6. The human sciences distinguish themselves from the natural sciences on the basis of the nature of their pre-theoretical familiarity with the reality they express. 7. The intimate link between language and reality creates significant possibilities for the way theology may understand the reality it wishes to express. 8. The idea of a double hermeneutic complicates our understanding of the nature of social reality significantly, and, in conjunction with the idea that these sciences have a logic of validation, rather than verification, suggests the idea that reality in the social world must be understood as a series of negotiated settlements.

Testing Social Theories

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Wie stark ist der „schwache" Realismus? Michael Moxter Von „Deutungen der Wirklichkeit" soll im Folgenden die Rede sein und zwar unter dem Gesichtspunkt, wie es mit der in dieser Genitivverbindung vorausgesetzten Unterscheidung selbst bestellt ist: Was wird aus dem Begriff der Wirklichkeit, wenn diese nur im Modus der Deutung und damit nur in der pluralisierten Gestalt von Deutungen zu haben ist? Diese Frage ist gewiss nicht neu, und zu ihr kann hier auch nur eine Bestandsaufnahme mit einigen Akzentsetzungen unternommen werden. Aber wenn in diesem Band nach den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen gefragt wird, welche die Diskussion des Leitthemas mitbestimmen, so lohnt sich m. E. ein Blick auf unterschiedliche Varianten eines schwachen, aber in abgeschwächter Gestalt vielleicht überzeugenden, Realismus.

/. Putnams Unterscheidung zweier Arten des Realismus Als metaphysischer Realismus stellt sich eine Position dar, wenn sie zumindest einige, gegebenenfalls aber alle, Behauptungen der folgenden Liste teilt: a) Es gibt eine bestimmte Anzahl erkenntnis- bzw. sprachunabhängiger Gegenstände, zu denen sowohl logische Individuen als auch allgemeine Sachverhalte gerechnet werden können'. (Die Welt kann sowohl als Summe aller Dinge, wie als Gesamtheit aller Sachverhalte beschrieben werden.) b) Zwischen unseren Begriffen und den Gegenständen besteht ein festes, eindeutiges Verhältnis, das .Referenz' genannt wird. c) Zwischen Aussagen und Sachverhalten lässt sich ein in der Referenz fundiertes Verhältnis feststellen, das als Korrespondenz, als Übereinstimmung zweier logisch voneinander unabhängiger Seiten (intellectus/res bzw. signum/res) zu begreifen ist. Die Relation der Übereinstimmung ist dabei im selben Sinn real wie ihre Relate selbst. Erkenntnis ist folglich die richtige Abbildung der sprachunabhängigen Realität. d) Es gibt eine und nur eine wahre und darum allseitige Beschreibung der Welt.

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Vgl. H. Putnam, Realism with a Human Face, Cambridge 1992, 27.

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e) Selbst wenn die menschliche Erkenntnis aufgrund ihrer Endlichkeit keine vollständige Abbildung leisten kann, sondern stets in perspektivischer Verzerrung verbleibt, so schließt das nicht aus, sondern setzt im Gegenteil voraus, dass die Wirklichkeit als das erkannt werden kann, was sie ist. Endliche menschliche Perspektiven verweisen nämlich auf God's point of view als den Inbegriff aller Perspektiven unter Abziehung von Perspektivität. (Dass der Bezug auf den Gottesbegriff einer der Gründe ist, warum von „metaphysischem" Realismus gesprochen wird, leuchtet ein, doch ist eine solche ontotheologische Voraussetzung nicht zwingend. Funktionale Äquivalente sind vorstellbar.) f) Besteht Erkenntnis in einer solchen Übereinstimmung zwischen der mentalen Repräsentation und der äußeren Welt, so impliziert dies die Sprachunabhängigkeit unserer Begriffe, welche deshalb zum intellectus unmittelbar gehören, ihm eingegeben sind und ihn befähigen, sich auf die Realität zu beziehen, wie auch immer die dabei benutzten sprachlichen Ausdrücke schillern mögen. .Morgenstern' und ,Abendstern' haben unterschiedliche Intensionen oder Konnotationen, aber dieselbe Bedeutung oder Extension. 2 g) Die Identität der Bedeutung ist der Garant fur die Übersetzbarkeit unterschiedlicher Sprachen ineinander. Der sprachliche Ausdruck ist ein äußeres Bezeichnungsmittel fur einen sprachunabhängigen Begriff. h) Fragen nach der Wahrheit bzw. Wirklichkeit und Fragen nach der subjektiven Berechtigung, etwas als wahr anzunehmen, sind durch eine logische Kluft geschieden. Denn es kann rational gerechtfertigt ('justified') sein, etwas für wahr zu halten, auch wenn es sich später als falsch erweist. i) Das Wort „Realität" hat eine absolute Interpretation. Es ist Platzhalter für das, was unabhängig von jeder Interpretation ist. Die in dieser Liste beschriebene Position kann man als eine aktualisierte Variante dessen verstehen, was bei Kant „transzendentaler" oder „dogmatischer Realismus" hieß. Kant definierte diesen als die Annahme, die menschliche Erkenntnis richte sich nach den an-sich-selbst-gegebenen Dingen. Dieser starke Begriff der Erkenntnis erwies sich Kant allerdings als zu schwach, um die radikale Skepsis eines David Hume abzuwehren. Deshalb wählte Kant die überraschende Strategie, mit einem abgeschwächten Anspruch eine stärkere Begründung zu erreichen: Unter der Bedingung unhintergehbarer subjektiver Konstitution, folglich unter Preisgabe des Anspruchs, Dinge an sich selbst erkennen zu können, hat Kant einen „empirischen Realismus" fundiert. 3 Es zeichnet diesen Realismus aus, gerade durch Konstitutionsleistungen des Subjektes die bloße Beliebigkeit subjektiver Setzungen auszu-

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Vgl. L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus (Kritische Edition, hgg. v. B. McGuinness/J. Schulte) Frankfurt a.M. 1989, Satz 3.203: „Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung". Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 369ff.

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schließen. Die Abschwächung des transzendentalen Realismus zugunsten eines transzendentalen Idealismus, der einen bescheideneren Realismus nach sich zieht, verleiht unseren Begriffen allererst Bestimmtheit, fundiert unhintergehbare Regeln und Verfahren fur die Wissenschaft. Die Strategie eines dritten, kritischen, Weges zwischen Dogmatismus und Skeptizismus übernimmt auch Hilary Putnam, freilich nun unter der Voraussetzung, dass einige der kantischen Hintergrundsannahmen nicht mehr tragfähig sind und zu einer Revision zwingen. Vor allem die Unterstellung unerkennbarer Dinge-an-sich-selbst wird verworfen, die kritische Begrenzung aber beibehalten, und der Realitätsbegriff wird fundiert und zwar jetzt unter dem Titel „interner Realismus" bzw. „pragmatischer Realismus". Aus der Perspektive dieses dritten Weges stellen sich der metaphysische Realismus und der ihm entgegengesetzte Antirealismus als zwei Seiten desselben Fehlers dar. Beide verzeichnen den Gebrauch unserer Sprache durch ein unangemessenes Gesamtbild. Denn sie meinen einen archimedischen Punkt beziehen zu können, der zugleich innerhalb wie außerhalb unserer sprachlichen Unterscheidungen liegen soll. Beide behandeln nämlich die sprachliche Differenz ,real/fiktiv' als eine, die auch unabhängig von unserer Art und Weise zu unterscheiden verwendet werden kann und darum, sei es in fundierender, sei es in desillusionierender Absicht auf einen externen Gegenhalt sprachlicher Unterscheidungen verweist. Die Pointe des dritten Weges liegt dann in dem Nachweis, dass eine interne und unhintergehbare Beziehung zwischen unseren sprachlichen Unterscheidungen und unserem Wirklichkeitsbezug besteht und diese dem Realitätsgehalt unserer Rede gleichwohl nicht schadet. Im einzelnen liest sich das so: Sprachliche Unterscheidungen, wie sie in den Reihen ,fiktiv' / .eingebildet' / .erfunden' / .konstruiert' / .konstituiert' / .erzeugt'/ .gemacht' einerseits und ,real' / .empirisch' / .faktisch' / .gegeben'/ .vorgefunden' /, natürlich' / .historisch' andererseits artikuliert werden, sind so mit unserem Wirklichkeitsbegriff verwoben, dass sich die Rede von einer sprachunabhängigen Realität nicht in einer allgemeinen Fassung aufrecht erhalten lässt.4 Die Frage, wie sich die Sprache auf die Wirklichkeit beziehe, macht - gleichsam aus der Totalen betrachtet - keinen Sinn. Denn es gibt weder eine einheitliche Theorie der Referenz sprachlicher Ausdrücke noch eine allgemein definierbare Beziehung zwischen der Totalität der Fakten und den in beliebig wählbaren Sprachen artikulierten Beschreibungen. Nur mit dem Blick auf den Sprachgebrauch in unterschiedlichen Situationen und auf die in ihnen jeweils einschlägigen Prozeduren lässt sich Referenz erläutern. Aber diese Kontextbezogenheit darf nicht überinterpretiert werden: Zwar lässt sich eine Antwort auf die Frage, was real ist, nicht unabhängig von den Grundbegriffen geben, mit denen eine kulturelle Praxis operiert, aber aus dieser Behauptung folgt nicht, dass alles, was unter Verwendung dieser

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Vgl. Putnam, a.a.O., 28.

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Begriffe über die Welt gesagt wird, allein durch die Zugehörigkeit zu einer Kultur bestimmt würde. Die These besagt nur, dass es keinen externen Ort gibt, von dem aus man die Bedeutung von ,real' oder ,existent' zunächst sichern könnte, um sie dann allererst zum Gebrauch freizugeben. Entsprechend kann man keine Angaben machen, wie viele Gegenstände in einer gegebenen Menge zu finden sind, bevor man nicht festgelegt hat, was als Gegenstand zählen soll. Nur intern, nur mit Bezug auf eine Theorie der Beschreibung, sind solche Fragen und die zugehörigen Antworten sinnvoll. Insofern gilt: "IVe cut up the world into objects when we introduce one or another scheme of description"6. Ein Beispiel aus dem Bereich der historischen Wissenschaften kann hier vielleicht hilfreich sein. Der Begriff der Reform lässt sich nicht unabhängig von der Überzeugung verwenden, dass die Resultate einer Reform als Verbesserungen und nicht als Rückschritte erscheinen. Aber die interne Beziehung, die hier besteht, verbaut uns nicht die Möglichkeit, eine Reform von dem zu unterscheiden, was nur deren Namen trägt. Entsprechend ist auch der Begriff der Wahrheit mit den Standards des Verlässlichen intern verknüpft. Aber die Behauptung, Wahrheit sei nichts anderes als eine Frage sozialer Übereinstimmung, stellt eine Fehlbeschreibung dieses Begriffs dar. Obwohl wir nur in unseren Sprachen (intern) auf Wirklichkeit Bezug nehmen, obwohl keine klare Demarkationslinie zwischen dem objektiv Gegebenen und dem subjektiv Hinzugefugten gezogen werden kann, unterscheiden wir bessere und schlechtere, angemessenere und unangemessenere, zutreffende und falsche Behauptungen über die Welt. Dass die Unterscheidung von intern/extern nicht extern zu fundieren ist,7 macht sie keineswegs hinfällig. Nach Putnam lässt sich die Differenz zwischen .subjektiv' und ,objektiv' bzw. zwischen .Deutung' und ,Wirklichkeit' folglich immer nur so ziehen, dass sie eine interne Unterscheidung bleibt, so sehr sie gerade das Andere gegenüber einem bloßen Subjektivismus zu bezeichnen versucht. Die Gegenstände der Erkenntnis "are as much made as discovered, as much products of our conceptual invention as of the 'objective' factor in experience, the factor independent of our will"8. Putnams These: Erkenntnisobjekte "do not exist independently of conceptual schemes" stellt eine sinnkritische Selbstbe-

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Vgl. H. Putnam, The Many Faces of Realism, Illinois 1987, 20; ders., Reason, Truth and History, Cambridge 1981, 54: "Denying that it makes sense to ask whether our concepts 'match' something totally uncontaminated by conceptualization is one thing; but to hold that every conceptual system is therefore just as good as every other would be something else". H. Putnam, Reason, 52. D.-M. Grube beschreibt den Weg Putnams als einen Internalismus, der sich von der Binnen- zur Außenperspektive vorarbeitet. Vgl. D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, 199. H. Putnam, Reason, 54.

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schränkung 9 dar, w e i l n i e m a n d angeben kann, w a s die Formulierung "independently o f conceptual s c h e m e s " besagen soll, ohne begriffliche Schemata dabei vorauszusetzen. D a s aber besagt gerade nicht - dies macht Putnams Position zu e i n e m internen R e a l i s m u s - , dass es keine "experiential inputs to k n o w l e d g e " 1 0 gäbe. S o w e i t die Z u s a m m e n f a s s u n g der Position. Der B e z u g auf den in d i e s e m Band diskutierten Problembestand 1 1 kann nun in einer knappen T h e s e zus a m m e n g e f a s s t werden: W e n n dies s c h o n fur die Erkenntnis der Natur b z w . die sie grundbegrifflich tragenden Unterscheidungen gilt, um w i e v i e l mehr dann auch für die auf Geschichte und Kultur b e z o g e n e n hermeneutischen bzw. historischen W i s s e n s c h a f t e n .

II. Der epistemologische

Tun-Ergehen-Zusammenhang

bei

Habermas

Bei Putnam b e g e g n e t auch eine Unterscheidung, die Habermas j ü n g s t ( 1 9 9 9 ) als Buchtitel g e w ä h l t hat: die Unterscheidung v o n Wahrheit und Rechtfertigung 1 2 . Mit ihr verbindet Habermas eine partielle Korrektur seiner konsenstheoretischen Wahrheitsdefinition, für die w i e d e r u m ein Putnamzitat den B o den bereitet: "Truth cannot simply be rational acceptability for one fundamental reason; truth is s u p p o s e d to be a property o f a statement that cannot be

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Anders wohl Grube, der meint, Putnam gebe „de facto alle Ansprüche auf Objektivität in einem zumindest halbwegs robusten Sinn a u f ' a.a.O., 201. 10 H. Putnam, Reason, 54. 11 Chris Lorenz hat mit analytischem Blick für die Aporien des Historikerstreites die Bedeutung erörtert, die Putnams interner Realismus flir die historische Wissenschaft und die Geschichtstheorie hat, vgl. C. Lorenz, Historical Knowledge and Historical Reality. A Plea for "Internal Realism", History and Theory 33 (1994), 297-327; wiederabgedruckt in: B. Fay et al., History and Theory. Contemporary Readings, London 1998, 342-377. Im Mittelpunkt steht dabei die Überwindung des naiven Realismus (Objektivismus) und des skeptizistischen Relativismus zugunsten eines als fallibel und kontextbezogen verstandenen Wissens. Dabei legt Lorenz einen Schwerpunkt auf die fact/valueDifferenz, so dass sein Text auch an den Werturteilsstreit anknüpft. Können wir uns auf Realität nur im Horizont kultureller Beschreibungen beziehen, so kollabiert diese Differenz, weshalb Lorenz umgekehrt die unhintergehbaren normativen Momente jeder Historiographie herausstellt. Ich habe den erhellenden Text leider erst nach Fertigstellung meines Vortrages zur Kenntnis genommen, so dass hier neben weitgehender Übereinstimmung nur der Punkt genannt sei, auf den es mir besonders ankam und den ich mit anderen Mitteln zum Zuge zu bringen versuche: Lorenz betont, postmoderne Narrativisten wie White "cannot explicate how it is possible that historians often reject texts as historically inadequate. This fact of historical practice can only be made comprehensible if one presupposes a referential relationship between the texts of historians and the real past" (a.a.O., 356). 12 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1999.

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lost, whereas justification can be lost."13 Die pragmatische Voraussetzung, die Bedeutung des Begriffs müsse im Horizont möglicher Handlungen erläutert werden können, wird zwar nicht infrage gestellt, aber in einer Weise zum Zuge gebracht, die am Prae der Wahrheit gegenüber den Rechtfertigungen festhält. Eine vollständige Ersetzung des traditionellen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs durch eine Konsenstheorie erscheint als ein Bedeutungsverlust, insofern diese den Wahrheitsbegriff an die intersubjektive Übereinstimmung aller Wahrheitssuchenden anpasst. Um dies zu vermeiden, aber gleichzeitig die in der Begründung der Konsenstheorie einst energisch für undurchführbar erklärte metaphysische Wahrheitstheorie nicht nachträglich wieder in Kraft zu setzen, folgt Habermas der Strategie Putnams: zwar kann Wahrheit nur diskurs- und konsens/nfórw, darum aber doch nicht allein aufgrund von Konsens fundiert werden. Deshalb lehnt sich seine neue Überlegung zum Wahrheitsbegriff an Putnams internen Realismus an, dessen Pointe Habermas darin sieht, „daß die Bedingungen der Objektivität von Erkenntnis nur im Zusammenhang mit den Bedingungen der Intersubjektivität einer Verständigung über das Gesagte analysiert werden können" 14 , ohne dass man deshalb annehmen dürfte, Wahrheit sei nichts anderes als eine hier und jetzt erzielte Übereinstimmung aller bzw. nichts anderes als die Übereinstimmung in einer idealen Diskursgemeinschaft. Wahrheit habe nämlich - so heißt es nun - einen unbedingten, jeden Konsens überschreitenden Charakter.15 Um dieser Unbedingtheit willen lässt sich Wahrheit nicht auf die Kontexte vernünftiger Rechtfertigung reduzieren, im Blick auf die ihr Begriff freilich erläutert werden muss. Wiederum gilt also: Was nur im Kontext möglicher Rechtfertigungshandlungen eingeführt werden kann, entspringt darum doch nicht allein aus diesem Kontext. Folglich gilt auch: „Der Kontextualismus bringt ein Problem zu Bewußtsein, für das der kulturelle Relativismus eine falsche, weil performativ selbstwidersprüchliche Lösung präsentiert" 16 . Hatte sich die Kritik am mentalistischen Repräsentationsmodell der Erkenntnis in das Argument zusammengefasst, die zweistellige Relation zwischen einer subjektiven Vorstellung und der extramentalen res müsse in eine dreistellige Relation überfuhrt werden, durch die auch die pragmatische Dimension Berücksichtigung findet, so erhält das Handeln des Interpreten nun eine neue Funktion. Es geht nicht einfach um irgendeinen Zeichengebrauch, sondern um ein intelligentes, problemlösendes Verhalten. Die pragmatische Bedeutungstheorie wird in den Horizont einer Praxis gestellt, die es selbst

13 H. Putnam, Reason, 55. 14 J. Habermas, a.a.O., 238. 15 Vgl. Putnam, Reason, 56 mit J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 7ff; 16; 50f. A m steilsten wohl die Formulierung: „Es ist das Ziel von Rechtfertigungen, eine Wahrheit herauszufinden, die über alle Rechtfertigungen hinausragt" (53). 16 J. Habermas, a.a.O., 245.

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schon mit Wirklichkeit zu tun hat. Dem entspricht ein Erfahrungsbegriff, der auf Verschränkung von Konstruktion und Widerfahmis hinausläuft. 17 Das Moment der Widerfahmis tritt bei Habermas in erster Linie in der sozialen Dimension auf und zwar in Gestalt der Einwände anderer, die eine bisher als richtig unterstellte Überzeugung und damit die ihr entsprechende Praxis problematisieren. Insoweit besteht Kontinuität zur frühen Fassung der Habermasschen Konsenstheorie. Aber der Streit um Argumente ist nun nicht mehr der einzige Ort. Denn in der zeitlichen Dimension unserer Praxis, im Rückblick auf uns selbst, bescheinigen wir uns mitunter Lernerfolge. Solches Lernen ist nach Habermas keine soziale Anpassung an die durch keine eigenen Einwände erschütterbare Meinung der Diskursgemeinschaft, in der wir uns gerade befinden. Vielmehr ist es Resultat einer in der räumlichen Dimension erzielten „Verarbeitung von Enttäuschungen im intelligenten Umgang mit einer riskanten Umwelt" 18 . Diese Formulierung, in der sich Habermas' Überlegungen zum Realitätsbegriff bündeln lassen, zeigt, was sich im Übergang von einer ontologischen zur pragmatischen Wahrheitstheorie geändert hat und was nicht: Der Abschied vom Repräsentationsmodell schließt uns nicht in den Binnenraum diskursiv zu erzielender Übereinstimmungen ein. Indem der sprachpragmatische Ausgangspunkt mit einer Theorie intelligenten Verhaltens verbunden wird, ergibt sich ein diskursexterner, rechtfertigungsunabhängiger Anker. Dieser besteht darin, dass auch bisher unwiderlegte Überzeugungen scheitern können: Innerhalb der stets sprachlich vermittelten Weltzugänge „bringt sich die Realität [...] zur Geltung, sobald eine eingewöhnte Praxis [...] scheitert,19 Während die ideale Kommunikationsgemeinschaft jede Meinung problematisieren und beliebig lang allein nach vernünftiger Akzeptanz suchen kann, bekommt der in Handlungszusammenhängen Stehende Wirklichkeit gleichsam zu spüren. Freilich ereignet sich dies nicht in einem subjektiven Realitätsgefuhl, sondern nur in der Praxis und nur via negationis. Wo theoretische Annahmen über die Wirklichkeit in Gestalt einer Praxis auftreten, können sie sich als hinfällig erweisen. Nicht in Gestalt einer Abbildung, nicht im Modus der Theorie, aber als Fall einer intelligenten Praxis gibt es gleichsam eine Probe auf die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit heißt riskant, weil sie gleichsam interveniert. Der stets konstruktive Zugang subjektiv konstituierter Erfahrung verschränkt sich insoweit mit einem ,,passive[n] Moment der Erfahrung von praktischem Scheitern oder Gelingen" 2 . Der Begriff des Lernens bzw. der (Selbst-)Korrektur trägt das ganze Gewicht der Argumentation. Zum Sinn beider Begriffe gehört die Unterstellung, dass sie nicht nur als Anpassung kognitiver Dissonanzen zu interpretieren 17 18 19 20

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

43. 36. 20. 36.

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sind. Indem wir von Lernen sprechen, bestätigen wir einen Fortschritt in der Erkenntnis. Lernen wir durch Scheitern, so hat sich an der Undurchführbarkeit einer Absicht oder der Unhaltbarkeit einer Überzeugung die Wirklichkeit gleichsam als ein Gegenspieler erwiesen. „Aus pragmatistischer Sicht ist die Wirklichkeit nichts Abzubildendes; sie macht sich einzig in den Beschränkungen, denen unsere Problemlösungen und Lernprozesse unterworfen sind, performativ - als das Ganze der verarbeiteten und der zu erwartenden Widerstände - bemerkbar."21

Die Behauptung, dass sie sich selbst bemerkbar macht, indem sie sich unseren Vormeinungen entzieht, rechnet gleichsam mit einer Offenbarungsqualität der Wirklichkeit. Der Richtwert des Wirklichen ist der Widerstand, womit einer alten erkenntnistheoretischen Tradition entsprochen werden kann, nach der der Gegenstand im ursprünglichen Sinn als etwas galt, was dawider ist, was dagegen steht. 22 Oder mit Habermas formuliert: „In der Faktizität von Beschränkungen, an denen wir uns im täglichen wie im experimentellen Umgang reiben, bringt sich der Widerstand der Objekte zur Geltung, auf die wir Bezug nehmen, wenn wir von ihnen Tatsachen behaupten".23

Der Vorrang der Realität wird hier also anerkannt und zwar sogar unter Verwendung ursprünglich sensualistischer Metaphern wie reiben und stoßen. 24 Allerdings wird dieser Vorrang nicht ontologisch gefasst, sondern als ein quasi legislatorischer Akt dem Paradigma gegenseitiger Anerkennung intersubjektiver Freiheit angepasst: Die Wirklichkeit legt der Praxis Beschränkungen auf. 25 Der nachmetaphysische Wirklichkeitsbegriff ist so ein Gegenwirkungsbegriff. Seinen „Realismus nach der sprachpragmatischen Wende", der erklären soll, „wie die Annahme einer von unseren Beschreibungen unabhängigen, für alle Beobachter identischen Welt mit der sprachphilosophischen Einsicht zu vereinbaren ist, daß uns ein direkter, sprachlich unvermittelter Zugriff auf die ,nackte' Realität versagt ist"26, versteht Habermas als „Option fur einen .schwachen' Naturalismus" 27 . Es handelt sich um einen Paralleltitel zu Putnams »internen Realismus', weshalb die diesbezügliche Arbeitsgemeinschaft 21 A.a.O., 37. 22 „Wir finden aber, daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl oder beliebig" bestimmt sind (Kant, KdrV A 104. Hervorhebung von mir). 23 Ebd. 24 Habermas spricht auch von sinnlich gewachsenem Kontakt mit der Realität (245). 25 Cf. a.a.O., 41. 26 A.a.O., 8. 27 Nach a.a.O., 13. Anm. 12, ist sie der „tieferliegende Grund" für Differenzen zwischen Apel und Habermas.

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beider Autoren - von jedem etwas entborgend - hier unter dem Begriff schwacher Realismus' zusammengefasst wurde. .Naturalistisch' nennt Habermas seine Variante eines internen Realismus, weil er diesen auf ein evolutionsbiologisches Fundament stellt: „Diese Auffassung beruht auf einer einzigen metatheoretischen Annahme: daß ,unsere' [...] Lernprozesse vorgängige evolutionäre Lernprozesse', die ihrerseits die Strukturen unserer Lebensformen hervorgebracht haben, in gewisser Weise nur fortsetzen."28

Vorgängig ist die Realität also nicht nur darin, dass sie uns mitunter scheitern lässt, sondern vor allem aufgrund des Sachverhaltes, dass sie schon vieles scheitern ließ, dessen Überwindung unsere Lebensformen historisch geprägt hat. Zum internen Realismus gesellt sich also ein Naturalismus, der nun allerdings abgeschwächt werden muss gegenüber der unwillkommenen Folge einer Reduktion auf bloße Anpassungsprozesse. Habermas will weder Verstehen durch Erklären ersetzen noch Erkenntnis objektivistisch fassen, sondern er „begnügt sich [...] mit der grundsätzlichen Hintergrundannahme, daß die organische Ausstattung und die kulturelle Lebensweise von homo sapiens einen natürlichen' Ursprung haben und grundsätzlich einer evolutionstheoretischen Erklärung zugänglich sind."29 Der Naturalismus besteht allein darin, dass Natur durch Kultur hindurchgreift, so dass sich in der entscheidenden Hinsicht „Kontinuität zwischen Natur und Kultur" 30 zeigt. Man kann diese Kontinuität auch als Präexistenz einer Kultur des Lernens im Naturprozess interpretieren - womit man dann allerdings den schwachen Naturalismus als einen in cognito operierenden Idealismus enttarnt hätte.31 Doch dies nur nebenbei. Zur Habermasschen Variante des Realismus gehört schließlich auch eine partielle Rechtfertigung unserer alltäglichen realistischen Intuitionen: „Dem Realismus der Alltagspraxis entspricht ein - freilich nur performativ mitlaufender - Begriff von unbedingter Wahrheit, von Wahrheit ohne epistemischen Index." 32 Diese Realismusdimension gehört zur Bodenfunktion der Lebenswelt, die bei Putnam unter dem Titel common sense beschrieben wird. Bei Habermas dagegen besteht eine Dialektik zwischen Diskurs und Lebenswelt. Einerseits wird der Diskurs überhaupt nur in Kraft gesetzt, weil die in der Lebenswelt als selbstverständlich vorausgesetzten Gewissheiten sich in Krisensituationen als nicht länger tragfähig erweisen. Insofern müssen die Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt auf Selbstverständigungsprozesse umgestellt werden. Im Diskurs jedoch zeigt sich, dass diesseits der definiti28 29 30 31 32

A.a.O., 37. A.a.O., 38. A.a.O., 39. Vielleicht finden sich hier Spuren der frühen Schellingstudien. A.a.O., 52. Putnam spricht im Blick auf die alltägliche Einstellung von einem .realism with a small r'.

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ven Einsicht einer idealen Diskursgemeinschaft alles Wissen fallibel bleibt. Deshalb übernimmt die Lebenswelt, die zuvor als Problem erschien, nun die Funktion einer Lösung. Im Alltag, können wir „nicht allein mit Hypothesen, also durchgängig fallibilistisch leben" 33 . Alltägliches Handeln lässt weder einen auf Dauer gestellten Wahrheitsvorbehalt noch permanente kritische Selbstprüfung zu. Man ist auf \ìanà\ungsgewissheiten angewiesen, wenn man denn handeln will. Deshalb erlaubt Habermas die Rückkehr in die Lebenswelt: Wenn die Arbeit des Diskurses getan ist, ergibt sich eine „Lizenz zur Rückkehr in die Einstellung von Handelnden" 34 bzw. eine „Lizenz für die Rückkehr zu einem naiven Umgang mit der Welt" 35 . Man darf sich also im Handeln wieder zu Gewissheiten ermutigen, zumindest zu solchen Überzeugungen, die das Feuer der Diskussion überstanden haben und vorerst nicht widerlegt wurden. Mit solchen fragilen Gewissheiten kann man sich abfinden, weil sie ihre Kraft überhaupt nicht der Einlösung von Geltungsansprüchen, sondern dem Handeln selbst verdanken. Wer lebensweltlich mit der Welt zurechtkommen wolle, so lautet dann das Fazit, könne nicht umhin, Realist zu sein. 36 M. E. sind drei Gesichtspunkte dieses nachmetaphysischen Realismus auch für die Diskussion des Wirklichkeitsbegriffs der historischen Wissenschaften und der Theologie interessant und bedeutsam: erstens die aufs Scheitern bezogene, indirekte Rolle der Wirklichkeit, zweitens der festgehaltene Unbedingtheitscharakter der Wahrheit, der als Platzhalter der realistischen Intuition dient, und drittens die aus der Verschlingung von Theorie und Praxis hergeleitete Rehabilitierung einer Alltagswirklichkeit. Alle drei Hinsichten sollten dazu verhelfen, auch der in diesem Band geführten Diskussion gegenüber der Verführungskraft reiner Konstruktivismen gleichsam die Ohren zu versiegeln. Gerade die starken Argumente, die sich gegen einen naiven Realismus richten, reichen nicht aus, um den Wirklichkeitsbegriff insgesamt zu desavouieren.

III. Zum Streit zwischen Realismus und Fideismus Strategien des Abbaus eines starken Realismus und des gleichzeitigen Aufbaus eines schwächeren, aber unaufgebbaren Wirklichkeitsbegriffs begegnen auch in religionsphilosophischen Kontexten. Auf die damit verbundenen Diskussionszusammenhänge sollen hier einige Hinweise gegeben werden.

33 A.a.O., 255. 34 Vgl. a.a.O., 261. 35 A.a.O., 53. 36 Vgl. a.a.O., 262.

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Die Kritik des metaphysischen Realismus lief darauf hinaus, dass keine Beschreibung der Wirklichkeit von Basissätzen ausgehen kann, die - noch durch keine Interpretation kontaminiert - einfach nur protokollieren, was dann in einem nächsten Schritt zum Bezugspunkt unter sich strittiger Deutungen gemacht werden kann. Die Interpretationen der Wirklichkeit, mit denen wir es in Weltsichten und religiösen Symbolsystemen zu tun haben, lassen sich nicht - wie es die Dichotomie zwischen Faktum und Werturteil suggeriert - als Interpretiertes und Deutung in zwei unabhängige Seiten zerlegen. Darum lässt sich in einer Deutung keine Basisaussage so herauspräparieren, dass sie als interpretationsunabhängige Grundlage zum Ausgangspunkt für Begründungsschritte gewählt werden könnte, welche die Interpretation als Ganze rechtfertigen. Man begreift nicht, wie eine Wirklichkeitsdeutung funktioniert, wenn man den Punkt sucht, bis zu dem alles Wahrnehmung und ab dem der Rest Deutung ist. Weil dem theologisch die Überzeugung entsprechen kann, dem Zirkel von Glaubenssätzen sei nicht zu entkommen, mündet die hier vorgestellte Realismuskritik in eine Position, die Fideismus genannt wird. Dieser geht davon aus, dass sich Glaubenssätze nur graduell und intern unterscheiden, nicht aber mit Aussicht auf begründungslogischen Erfolg in Basissätzen fundieren lassen. Insbesondere erhält der Satz „Gott existiert" begründungstheologisch keine basalere Rolle als Aussagen über die Erschaffung der Welt oder andere Bekenntnisaussagen. Der theologische Realist vertritt dagegen die bedeutungstheoretische These, der Ausdruck ,Gott' bzw. der propositionale Gehalt des Satzes ,Gott existiert' zeichne einen Referenten aus, der unabhängig von den religiösen Vollzügen und ihren sprachlichen Redeformen identifiziert oder verifiziert werden kann. Der Realist folgt der Logik: 'we cannot believe in God unless there is a God to believe in'. 37 Solch theologischer Realismus zielt auf eine von der Praxis des Glaubens selbst logisch unabhängige Existenz- bzw. Wirklichkeitsbehauptung, die als Legitimation dieser Praxis in Anspruch genommen werden soll. Er rekurriert auf eine zwischen Glauben und Skepsis, aber auch zwischen unterschiedlichen Religionen, gleichsam schwebende Realitätsaussage, welche die für alle identische Bedeutung auch unabhängig von den Interpretationen des Glaubens darlegen soll. Dementsprechend behandelt er den Ausdruck „Gott" in Analogie zum logischen Namen oder zu kennzeichnenden Identifikationen. Aus phänomenologischer Perspektive kann man diesen Versuch des Realisten als das Unternehmen beschreiben, den Glaubensgegenstand auch unabhängig vom Glaubensakt als das zu identifizieren, worauf sich der Glaube richtet. Darin läge allerdings ein Verstoß gegen die phänomenologische Generalthese der Untrennbarkeit von noesis und noema, also ein Verstoß gegen den Intentionalitätsbegriff. Ein auf eine vergleichbare Pointe zielendes Ar37

Phillips, On really believing, in: Proceedings. Seventh European Conference on Philosophy of Religion, Utrecht 1988, 83.

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gument findet sich - im Horizont einer ganz anderen Denktradition - bei Peter Winch. Winch diskutiert den Sinn einer Aussage, die den religiösen Kultus eines Naturvolkes mit der Bemerkung erklärt: „Sie blicken vor jeder Jagd auf die Berge, um ihren Göttern Verehrung zu bezeigen". Diese Bemerkung erläutere den begrifflichen Zusammenhang zwischen der rituellen Handlung und der Gottesvorstellung dieses Volkes und verbinde die Praxis und ihre Handlungsgründe intern. Demgegenüber ist die Aussage „Sie blicken auf die Berge, um jagdbare Tiere ausfindig zu machen" zwar formal gleich aufgebaut, sie hat aber einen anderen Status. Sie folgt einer anderen Tiefengrammatik, weil man dem Ausdruck „Tiere" auch unabhängig von den Handlungsgewohnheiten der Stammesmitglieder Sinn geben kann. Deshalb handele es sich bei ihr um einen anderen Typus der Erklärung. 38 Der Punkt dieser Unterscheidung ist nicht die positivistische Überzeugung, dass Tiere existieren und Götter nur vorgestellt werden, sondern vielmehr, dass zwischen Tier und Jagd ein externer Zusammenhang, zwischen Gott und Gottesverehrung dagegen ein interner Zusammenhang besteht. Winch erläutert das mit einem weiteren Beispiel: Schreibt jemand Jahr um Jahr einen Bittbrief an die diplomatische Vertretung eines Landes, so besteht ein interner Zusammenhang zwischen dieser Tätigkeit und einer Existenzunterstellung: Denn ginge er nicht von der Existenz einer Botschaft des entsprechenden Landes mit einer angebbaren Adresse aus, würde er seine Tätigkeit alsbald einstellen. Dies wäre dann eine Konsequenz des Umstandes, dass er nicht mehr an die Existenz der Botschaft glaubt. Im religiösen Glauben verhalte es sich dagegen anders: Stelle jemand das Beten ein, weil er nicht mehr an Gott glaubt, so sei dieses Aufgeben der Praxis ein Aspekt des Verlustes seines Glaubens. Der Zusammenhang zwischen dem, was man glaubt, und dem, was man in diesem Glauben tut, stellt sich also anders dar als die Beziehung zwischen Annahmen über das Bestehen von Sachverhalten und den auf diese bezogenen Handlungen. Deshalb unterläuft dem theologischen Realisten bei dem Versuch, die Wirklichkeit des Glaubens im Paradigma theoretischer Behauptungen über das Bestehen von Sachverhalten zu beschreiben, ein Kategorienfehler. Der Glaube wird in einer Weise dargestellt, die das Phänomen unterbestimmt, so sehr es durch Angleichung an den Prozess theoretischer Erkenntnis gesichert werden soll. Die Kritik an der Parallelisierung von Glauben und Wissen zielt also nicht auf einen inferioren Status, sondern auf eine andere Art des Wirklichkeitsbezugs. Das wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir einen Blick auf Wittgensteins Kritik des Gedankens der Abbildung der Wirklichkeit werfen und zwar im Kontext seiner Kritik der Mimesistheorie. Ob etwas ein Bild ist oder nicht, entscheidet sich nicht an den objektiven Qualitäten, nicht an einem Set von Ähnlichkeiten, die zwei Dinge der Welt teilen, sondern an dem, was

38 P. Winch, Versuchen zu verstehen. Übersetzt von J. Schulte, Frankfurt a.M. 1992, 156.

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Wittgenstein eine Methode der Projektion nennt. Sie und nicht die Abbildung, die nur eine ihrer Varianten ist, macht das Bild zum Bild. „Nehmen wir die .Erschaffung Adams'. Bilder von Michelangelo, die die Erschaffung der Welt zeigen. Im allgemeinen erklärt nichts so gut die Bedeutung von Worten wie ein Bild, und ich denke, daß Michelangelo so gut war, wie man nur sein kann, und sein Bestes getan hat (he did his best), und hier haben wir nun das Bild von der Gottheit, die Adam erschafft. Wenn wir je so etwas sähen, würden wir das sicher nicht fiir die Gottheit halten. Das Bild muß auf eine ganz andere Art gebraucht, aufgefaßt werden, wenn wir diesen Mann in dem merkwürdigen Laken ,Gott' nennen sollen ... Es ist ganz klar, daß die Rolle von Bildern biblischer Gegenstände und die Rolle des Bildes, auf dem Gott Adam erschafft, total verschieden voneinander sind. Man könnte fragen: ,Hat Michelangelo gedacht, daß Noah in der Arche so ausgesehen hat, und daß Gott bei der Erschaffung Adams so ausgesehen hat?' Er hätte nicht gesagt, daß Gott oder Adam so ausgesehen haben, wie sie auf seinem Bilde aussehen."39

Nach Wittgenstein haben wir es hier mit einem Bild zu tun, das nicht auf Ähnlichkeitsregeln beruht: Michelangelo meint nicht, dass Gott so aussieht, aber nicht deshalb, weil er meint, dass Gott anders aussieht. Ginge es um ein originalgetreues Porträt, so wäre Michelangelo gewiss so gut, wie man nur sein kann, aber dies zeichnet sein Bild nicht aus. Während es zur Projektionsregel von Abbildungen gehört, dass derselbe Gegenstand auch anders gezeigt werden kann, weshalb Abbilder durch andere Bilder ersetzbar sind, hat die Frage nach der Möglichkeit anderer Schöpfungsbilder im Blick auf die Sixtinische Kapelle hier einen völlig anderen Sinn. Denn dieses Bild verdient den Satz: „Das ganze Gewicht liegt in dem Bild". In einem präzisierungsbedürftigen Sinne gilt nach Wittgenstein sogar: „Gott ist in dem Bild". Die Wirklichkeit Gottes liegt nicht hinter dem Bild, sondern dieses ist selbst Teil der Wirklichkeit, um die es ihm zu tun ist. Der Gebrauch von Bildern kann also unterschiedlich sein, so dass eine abstrakte, gleichsam apriorisch unterstellte Abbildungstheorie den Phänomenen nicht gerecht wird. Es handelt sich bei dieser Deutung um eine Parallelformel zu der Losung, unter der oben das Referenzproblem diskutiert wurde: weg von einer vorgeformten Theorie der Abbildung als einer Ähnlichkeit zwischen Gegenstand und logischem Bild und hin zur Beschreibung des vielfältigen Gebrauchs, den wir von der Sprache (und den Bildern) machen. Entsprechend wäre im Blick auf die in diesem Band entfaltete Fragestellung zu folgern: Keine Festlegung einer allgemeinen Beziehung zwischen religiösem Glauben und seinem Gegenstand, zwischen Deutung und Wirklichkeit, sondern Rekonstruktion der jeweiligen Projektionsweisen! Die Aufgabe liefe darauf hinaus, die unterschiedlichen Weisen zu beschreiben, in denen Interpretationen unseren Umgang mit der Wirklichkeit orientieren. So lautet zumindest der methodische Vorschlag Peter Winchs: 39 L. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, Göttingen 1971, 100.

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„Wenn wir verstehen wollen, in welcher Weise ein Ideensystem mit der Wirklichkeit zusammenhängt, gehen wir am besten so vor, daß wir die wirkliche Anwendung dieser Ideen im Leben untersuchen, anstatt unsere Aufmerksamkeit sozusagen auf das zu heften, was das eigentümliche Wesen der Entitäten, auf die sie sich beziehen, ausmacht."40

Die Zuständigkeit fur diese Frage obliegt nicht einer allgemeinen und speziellen (regionalen) Ontologie, sondern der historischen Wissenschaft selbst.

IV. Interpretation und Widerstand Auch die religionsphilosophische Variante des Internalismus muss keinen Relativismus nach sich ziehen, der das Härtesiegel des Wirklichkeitsbegriffs zugunsten weicher, miteinander nicht vermittelbarer Interpretationswelten auflöst. Denn die Einsicht in die methodische Undurchführbarkeit des naiven Realismus besteht nicht in der Statuierung eines Antirealismus. Dieser will aus der Unmöglichkeit, unabhängig von den Interpretationen die Wirklichkeit als solche in den Blick zu nehmen, den Schluss ziehen, Wirklichkeit sei nichts anderes als ein Produkt der Interpretation oder unserer Konstruktionen. Der Fehler des naiven Realismus wird damit nur noch einmal gemacht. Zwischen einem naiven Realismus und einem großzügigen Konstruktivismus, der den stolzen Namen der symbolischen Form gleichsam auf Flaschen zieht und überall heterogene, individuelle Deutungen, Perspektiven und kulturelle Sinndimensionen identifiziert, brauchen wir den Raum für eine historische Arbeit, die den Wandel der Deutungssysteme rekonstruiert und damit den Blick für ihre Veränderungssensibilität schärft. Dass es Deutungen mit Wirklichkeit zu tun haben, zeigt sich nämlich an den Irritationen, die zur Korrektur oder zumindest zur Variation zwingen. Die Schnittstelle mit der Wirklichkeit ist deshalb an den Umgestaltungsprozessen zu ermitteln, denen religiöse Interpretationswelten und kulturelle Wirklichkeitssichten ausgesetzt sind. Die Umformungsprozesse religiöser Traditionen, beispielsweise die Analyse ihrer Krisenphänomene, könnten der Gegenstand einer historischen und kritischen Phänomenologie der Wirklichkeitsdeutungen sein. Hans Blumenberg hat die Undurchführbarkeit eines perspektiveunabhängigen Zugangs zur Realität mit der Bemerkung kommentiert: „ Wirklich ist, was nicht unwirklich ist"41. Der Satz scheint tautologisch zu sein, er erhält aber seinen Sinn, wenn man ihn als Regel eines indirekten Verfahrens liest. Um die Sache etwas anschaulicher zu machen, möchte ich die Auskunft zitieren, die die kleine Sammlung Blumenbergs „Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie" enthält: Realität sei, so heißt es dort, was 40 Vgl. P. Winch, a.a.O., 180. 41 H. Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989, 806.

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übersehen werden kann, aber sich dann um so schmerzlicher als das Unübergehbare meldet. 42 Das ist ein Kommentar zum Brunnensturz des Protophilosophen Thaies. Auch Blumenberg ist offenbar der Überzeugung, dass wir solange in einem Verhältnis zur Wirklichkeit bleiben, wie wir ins Stolpern geraten können. Das zeigt sich am Übergang von der antiken Theorie (Himmelsbeobachtung) zur Lebenswelt, aber auch an den Stolpersteinen, die durch Theoriearbeit erst zutage gefördert werden. Deutungen sind keine Hindernis freien Selbstläufer. Sie unterliegen Restriktionen, weil sie immer wieder neu einleuchten müssen. Darum sind sie anfallig gegenüber dem, was in ihnen bisher unberücksichtigt blieb. Man kann Deutungen der Wirklichkeit als Ordnungsvorschläge verstehen, die Unbestimmtheit ab- und Bestimmtheit aufbauen. Was sich diesem Prozess widersetzt oder ihm entgeht, was also die Ordnungen nicht auffangen können oder was in ihnen nicht aufgeht, zählt zur Präsenz des Außerordentlichen. Es bildet ein Residuum 43 des Widerständigen. Als solches zeigt sich das, was nicht unwirklich ist. Fazit: Wie die Wirklichkeit immer schon interpretiert ist, so ist sie auch in unseren Interpretationsprozessen nicht unwirksam. Deshalb kann sich die Wirklichkeit, welche die neutestamentlichen Texte zu deuten versuchen, zwar nicht unabhängig von den Deutungen, wohl aber in ihnen zeigen: als Prozess anhaltender Umdeutung, als Kontinuität der Neuinterpretation bzw. als Korrektur von Kommunikation durch Kommunikation.

42

H. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a.M. 1 9 8 7 , 6 6 . 43 „Der Richtwert der Wirklichkeit ist das Nichteinholbare" (ebd.).

History and Reality in the Interpretation of Biblical Texts Bernard C. Lategan 1. Introduction We live in a time of an increased awareness of the existence of multiple realities and of a growing need to understand how these realities originate and how they relate. This awareness is nurtured by, amongst others, three recent developments. Firstly, the continuing exploration and redefinition of physical space and time, leading to new attempts to conceptualise reality and to comprehend more fully what constitutes the 'universe'. Secondly, the impact of globalisation and the emergence of the 'network society' which affected our experience of space (the elimination of distance) and of time (the displacement of sequence). We have come to realise that different 'realities' do not only exist next to each other, but that they are often superimposed - and that we may inhabit more than one at the same time. The 'network society' is not an alternative to 'normal society', but straddles it (cf. Castells 1996). Conventional concepts of reality are ill suited to deal with these shifts. Thirdly, we live in a time of fundamental and rapid social transformation. New social and political entities are taking shape before our eyes - a united Germany, a democratic South Africa, an expanding European Union, a new hegemony of American power. Not only are many 'worlds' and many 'realities' emerging, but these are also constantly changing, resulting in still further iterations. We are in a unique position not only to observe - in 'real time' as it were - how these changes occur, but also how they are interpreted and how they are remembered. We are witnessing how memories are being formed, layer by layer, but also how they are augmented, contextualised and adjusted in an ongoing process of sense-making, set in motion by new events, new perspectives and new demands for understanding. In a very perceptive essay, Rüsen (2003) argues that yesterday can indeed become better. He does not imply the denial or deliberate falsification of the past, but refers to the constant revision of our memory of the past brought on by our experiences in the present with a view to future possibilities. To mention two contemporary South African illustrations: The transformation of the Day of the Covenant on the 16th of December to the Day of Remembrance and the joint celebration of the African National Congress and the National Party of their respective founding days recently in Bloemfontein. Both these

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examples involve a substantial re-interpretation of the past, driven by the desire for a more inclusive understanding of events - events that in their original setting were actually incongruent and oppositional. To these two, many comparable examples from other parts of the world could be added. Riisen points out that not only is memory susceptible to modification, but that it is also driven by a different interest: Die Erinnerung legt demgegenüber Wert auf Sinn und nicht auf Faktizität. But the more fluid the memory of the past becomes, the more we need a stable anchor point. We still insist on the 'truth' in, behind, underneath the contingency of history. It is not without reason that the important South African Commission headed by Desmond Tutu was called the 'Truth and Reconciliation Commission'. The determination to penetrate obtusification and to lay bare the truth was a fundamental aspect of the philosophy (and theology) of the work of the TRC. For justice sake, for the sake of reconciliation, the truth about the past had to be revealed. The lid had to be taken away to make visible what was hidden. To put it differently - what was remembered (officially or unofficially) was expected to be in accordance with what really happened to victims. Memory, truth and reality were expected to tally with one another. However, as the work of the Commission progressed, it soon became clear that the truth they were looking for is multifaceted, complex, segmented, partial, interest-laden. The TRC itself was forced to distinguish between more than one type of truth, more that one form of reality. Eventually, they worked with at least four notions of 'truth': Factual or forensic truth, personal or narrative truth, social or 'dialogue' truth, and healing or restorative truth (cf. Wallerstein 1999 and the TRC Report, Vol. 1,110-114). Factual truth is defined by the Commission as 'factual, corroborated evidence, ... obtaining accurate information through reliable (impartial, objective) procedures ... ' - more or less what positivist historians would call truth. The findings of the Commission at this level were intended to 'reduce the number of lies that can be circulated unchallenged in public discourse'. By personal truth the TRC meant the truth of victims telling their stories. The stories were 'insights into pain', created a kind of 'narrative truth' and could be considered as an act of 'restoring memory'. Social truth was closest to the goal of the Commission. By interaction and debate, the Commission sought 'to transcend the divisions of the past by listening carefully to the complex motives and perspectives of all those involved.' It was seen as 'a basis for affirming human dignity and integrity'. Finally, healing truth is 'the kind of truth that places facts and what they mean within the context of human relationships - both amongst citizens and between the state and its citizens.' It was for these reasons that the Commission insisted not merely on knowledge but on acknowledgement. 'Acknowledgement is an affirmation that a person's pain is real and worthy of attention. It is thus central to the restoration of the dignity of victims.'

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And yet, the mode through which all these different forms of truth were revealed by victim and perpetrator alike was that of narrative - it was through the stories so many told and shared that what was hidden came to the light. We shall return to this aspect later. Besides different forms of truth, recent social transformations in different parts of world also highlighted the different functions of memory that accompany these transitions. To mention five of the most prominent (adapting a classification proposed by Marek Ziolkowski 1 ): 1. The restoration of memory of what was previously hidden, blurred, or suppressed. Examples from the South African context would be the newly discovered role of black people in the 1899-1902 Anglo-Boer war or the untold stories during the apartheid era (cf. Elsa Joubert's Poppie Nongena). 2. Memory as a tool of deeper comparative reflection, of the critical analysis of the 'normal' and what is 'taken for granted'. Examples would be the different ways history was told and taught in the different communities of South Africa, the difficulties experienced to cope with a new reality and the presuppositions that still shape perceptions of what 'reality' and 'normality' is. 3. Memory as a means for emotional and evaluative reassessment of the past and present - pride in what has been achieved, regret at what is lost. Recent Polish history provides striking examples of this function. 4. Memory as stimulus and basis for the restoration of the former state of affairs. This function is prominent in former absolutistic societies where the change to an open and highly competitive society can result in a compelling longing for the past and an attempt to reinstate the old order. In Africa the example will be the restoration of land to former owners or original inhabitants. 5. Memory as the ability to reconceptualise and reconstruct the future - a future that cannot consist of the mere restitution of the past. That past, in the case of South Africa at least, is irrevocably lost. It is also not the replacement of one past (or one memory) by another. None of the imagined or real pasts are suitable to serve as the basis for the future. What is required is a new creation, which is therefore eschatological in nature. But exactly because is is new and without precedent, there is an urgent need of a sense of continuity, of identity. In this respect memory has a very specific function - it recalls and reinterprets those experiences, events, myths and perspectives on which this new, unprecedented, unfamiliar future can be built. In order to fulfill this fuction, memory often

1

Unpublished paper presented at the meeting of the Transformation Initiative Project in Stellenbosch, April 2000.

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has to go back further - beyond the memory of the recent (and in the case of South Africa, the unredeemable) past. This does not mean the denial or suppression of the recent past, but going further back to find a positive link, a positive memory on which to build. In the case of a heterogenous society, this fifth function of memory becomes all-important. It is indeed a case of 'hoping backwards and remebering forwards.' What has been said so far illustrates the rediscovery of the dynamic and vibrant nature of historical memory and its orientation towards the future. The intense methodological reflection which took place in the disciplines of history and literary studies has provided a basis to deal with memory and history in a constructive and future-oriented way. It is therefore all the more surprising that theology, and more specifically New Testament studies, have only been marginally part of these developments. Both the methodological framework and the tools to deal with the situation are apparently lacking. In the next section we shall analyse this phenomenon and try to find reasons for this state of affairs.

2. New Testament studies and 'historical reality ' Since its earliest beginnings, the study of the New Testament was confronted with the phenomenon of history, with the nature of historiography and with the interpretation of the past. This was inevitable for a discipline concerned with the study of 'historical religion', which implied the ability to interpret historical events and historical documents. In the course of the nineteenth century, the encounter with history took a radical turn (cf. Kümmel 1958: 358-62). Utilising the insights of the Enlightenment, the New Testament documents and their origins in the first century became the object of radical historical scrutiny. The authenticity of these texts and the validity of their claims came under attack. Suddenly the Christian faith found itself under siege - the very pillars on which its self-understanding rested were eroded with each new radial historical investigation of its origins. Nowhere else was the struggle so intense and so visible as in the famous 'quest for the historical Jesus' - a quest that dates back to the work of Reimarus and Strauss in the middle of the nineteenth century and made prominent by Albert Schweitzer's classical study .Geschichte der Leben-JesuForschung.' After having gone through at least five phases in the course of its torturous history (cf. Theissen & Merz 1997:22-30), the quest still rages on unabatedly. The most prominent example in recent years is the work of the so-called 'Jesus seminar'.

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It is not the intention of this analysis to review the quest as such, but to highlight the epistemological issues involved when scholars engage with the literature of the New Testament and what concept of 'reality' informs the debate. For this purpose I shall make use of the work of Gerd Theissen, one of the most prominent and most respected New Testament scholars working in the field of Jesus research. His book ,Der historische Jesus' (with Annette Merz as co-author) is considered to be the definitive study of the subject at the moment. Theissen also published a very interesting article in 1996, entitled 'Historical scepticism and the criteria of Jesus research - or my attempt to leap across Lessing's yawning gulf. The results of the article are summarised in his Jesus book (pp. 120 -122).

3. Theissen's attempt to swim across Lessing's ditch Theissen's point of departure is the classical statement of Lessing about the ,garstig breiten Graben' that yawns between cogent truths of reason (.notwendige Vernunftswahrheiten') and contingent truths of history (.zufällige Geschichtswahrheiten') and his contention that the latter can never serve as the basis of the former. The gulf between them is unbridgeable and Lessing was therefore unable to jump across the chasm. When Theissen has another attempt at what he calls the 'theological sport of long jumping across Lessing's gulf (1996: 147), he suggests that in order to succeed, the discipline should be changed from athletics to swimming. He invites the reader to jump into the ditch and not across it. We need to learn to swim in the cold water of history in order to make it across. He then suggests a number of ways in which we can improve our swimming skills to ensure that we reach the other side safely. Once again, the intention is not to analyse Theissen's highly original imagery and his proposals in terms of the theological issues driving Jesus research. Rather, our focus is on the concept of history informing his approach, on the underlying epistemological presuppositions and on the view of reality that his readers are expected to share. He begins by redefining the gulf as the contrast between faith as 'absolute certainty' and the uncertainty of historical knowledge (1996: 147). Whether faith is accurately described as 'absolute certainty' is a matter we shall have to discuss later. According to Theissen, the gulf has deepened, lengthened and widened since the time of Lessing. Historical source criticism has become more radical and in the process, increased the suspicion that all historical knowledge is potentially 'erroneous' (149). The divide has lengthened by becoming a maze of ditches. Even it we had a 'correct historical picture' of Jesus, we would still be plagued by the fact that all we know about Jesus is

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part of a historical context where nothing is 'absolute.' 'Historical relativism threatens the uniqueness of Jesus.' The gap has widened because of an increasing realisation of the remoteness and otherness of Jesus. 'The historical scholar fears nothing more than to modernise Jesus' (149). These preliminary remarks already give an indication of the dominant features of Theissen's understanding of history and of historical reality. His use of phrases like 'absolute certainty', 'erroneous', 'correct historical picture' and the fear of 'modernising' the past, signal his indebtedness to historical positivism, one of the strongest influences in the development of New Testament scholarship. At the same time, there are clear signs of a historical consciousness that wrestles with the dynamic nature of historical memory. This dialectic becomes even more pronounced when Theissen develops his alternative criteria for Jesus research. His positivist presuppositions are the most noticeable when he describes the ultimate aim of Jesus research. It is to 'get closer to Jesus' (175), to seek for 'certainty in dealing with the historical Jesus' (150), to arrive at 'certainties' (151) that we are dealing with 'real history' (155), to establish 'authentic Jesus material' (157), to extract from the mixture of coherencies and incoherencies the historical reality (161), to 'arrive at a historical reality behind our sources' (161), to 'get behind the Christian images of Jesus shaped by Easter and find the historical reality before Easter' (162). In these formulations there is apparently no awareness of the stringent reexamination of the concept of history and of historiography that has characterised the discipline of history since the decline of positivism (see for example Rüsen 1993, Ankersmit 1983, 1986, White 1973, Iggers 1996, Straub 1998, Goertz 1995, 2001). One reason for this lack is that the very emergence of New Testament studies as a critical discipline was closely linked to the acceptance of the historical-critical method, which soon became the dominant approach. The positivist bias inherent in this approach was also taken over often without conscious reflection. Despite the positivist vestiges of the tradition Theissen has inherited, his own research and his specialist knowledge of the subject prompts him to develop an alternative set of criteria, exactly because of the limitations the traditional approach. His choice to swim rather than to jump is already indicative of a different intent. But does he succeed in his attempt? Theissen concedes that certainty never arises solely from external data, but 'always from an agreement between our internal axiomatic beliefs and more or less random data' ....'Certainty' is experienced when these axiomatic beliefs are 'confirmed' by external data (150). In acknowledging the 'préexistence' of axiomatic beliefs, the possibility is opened to understand the processing of historical data as a 'sense-making' operation. For Theissen, these axiomatic beliefs are not innate, but acquired historically. Three are of specific importance: The experience of human fallibility,

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which means that all sources are produced by imperfect human beings and therefore susceptible to error. Secondly, the discovery of historical relativity, which means that all events are analogous and can be traced back to other events. Thirdly, the remoteness and strangeness of the past, which means it cannot be approached at will and that the urge to modernise it must be resolutely resisted. For each of these beliefs Theissen develops a set of criteria to deal with the sources available for Jesus research. In each case the criteria are formulated in dialectical form. Because of the fallibility of the sources, both agreements (coherencies) and disagreements (incoherencies) can be useful to detect reliable (historical) data. The human inability to give a genuine account of truth implies the equal inability to refashion everything in the sources according to certain interests and intentions (155). Both the coherence of sources (Quellenkohärenz) and contradictions to Christian tendencies {Tendenzwidrigkeit) can be useful indicators for the researcher. As far as the second belief is concerned, that of historical relativism, it is important to realise that the idea that everything is related to everything else is only possible if we are able to distinguish one 'thing' from another 'thing'. Theissen therefore approaches historical relativity with the axiomatic belief in individuality (164). In terms of criteria, this means that similarities and dissimilarities again provide important clues: Where there is correspondence between the Jesus tradition and its historical (Jewish) context (Kontextentsprechung), this might point to reliable information. But at the same time, differences with the historical context may contain important clues to understand the individuality of Jesus (the criterion of Individualität). The third axiom, that of historical remoteness and otherness, seems to defy any attempt to overcome distance and is reinforced by the ingrained resistance against the 'sacrilege in historical scholarship' to modernise remote cultures instead of 'understanding them in their own context and in themselves' (170). But here again Theissen sees a dialectic at work: 'It is only by insisting on the remoteness of the historical tradition that proximity can be discovered. In this proximity, historical traditions can be seen to give expression to the same kind of cultural activity in which people are involved today'. It is only remoteness that can make us realise the constructed nature of historical world as well as that of our own world (171). This is what we share with past and future generations. And then the remarkable acknowledgement: 'It is the human cultural activity of giving an inner meaning to the world. We never live in a natural environment but in a constructed world of our very diverse interpretations and convictions, institutions and techniques' (171). In essence, Theissen is acknowledging the sense-making nature of historical memory. And yet, his own historical-critical training and the fixation on finding 'the reality' behind the texts and other historical evidence prevent him from drawing the consequences from this insight. The categories and

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arguments he uses are intended to convince sceptics in a historical-critical mould (cf. 1997: 96-120) and not really suitable for dealing with the fuller aspects of historiography. Instead, he ends with a dialectical solution himself. While making the courageous move to dive into the cold water of Lessing's ditch and swimming in it, rather than attempting to jump across, while having the re-assurance of a life-belt of a carefully rearranged set of suitable and reliable criteria, while expressing his confidence in the sources we have at our disposal and getting 'closer to Jesus', he ends surprisingly on a hypothetical note. 'All our knowledge, including the greatest certainty, is hypothetical.' He continues: Ί believe that not only our knowledge but also our life as a whole is of a hypothetical nature. The flow of life is a process of trail and error which seeks to meet the basic God-given conditions of reality. Therefore, I frequently say that the world and life in general is a hypothesis which seeks to correspond to God. Our knowledge, the New Testament and the Christian religion is part of this. Everything is hypothetical and can be surpassed. This is precisely why I can be reconciled with the hypothetical nature of our knowledge and faith' (175).

4. The legacy of Bultmann 's Dass The unqualified acceptance of the hypothetical nature of all knowledge does not tally with the seemingly unstoppable urge to get 'behind the texts' to reach the rock-bottom of 'historical reality'. Theissen's brave and imaginative attempt to cross the ditch of Lessing in a different way has been informed by other forces that have long dominated New Testament research, especially in Germany. Without going into the subtleties of the history of Jesus research, its is important to remember that Theissen is two generations down the line from the most influential New Testament scholar of the last century, Rudolf Bultmann. He radicalised New Testament studies not only with his program of the Entmythologisierung of the NT message, but also in trying to put a halt to the interest in the historical Jesus by shifting the attention to the kerygmatic Christ. According to his famous statement it is not the Was (that is, the historical details), but the 'Dass ' (that is, the mere fact) of Jesus' life that is of critical importance for faith. That was Bultmann's own attempt to navigate Lessing's ditch. His (highly significant, as we shall see) emphasis on the kerygma, was a recognition of the nature of NT texts as preaching material and their disqualification as historical sources. But this move was not a rejection of historical interest, but a dialectical separation of message (significance, sense) from history (facts, data). He himself indulged in historical research, but steadfastly denied that the results of this research have any significance for the faith of believers.

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The practical effect of Bultmann's move was that the historical paradigm remained in tact in so far as the investigation of the documents of the first century was concerned. The focus of Bultmann's Entmythologisierungsprogramm was the modern reader of these texts and how their message could be made meaningful for people here and now. However, the consequences of his correct insight that the texts of the New Testament in themselves were already interpretations of reality (viewed from the perspective of faith) were never fully realised. The result was that the urge to go behind the texts soon surfaced again. It was Bultmann's very own students who rebelled against his concentration on the 'Dass ' and who started the movement that became known as the 'new' quest of the historical Jesus. Ernst Käsemann led the onslaught with his famous lecture in Marburg in 1953, entitled Das Problem des historischen Jesus. To prevent naïve, charismatic imagery taking root around Jesus, NT scholarship had the serious obligation to determine whether the message of cross and resurrection had an 'Anhalt ', a foothold in the pre-easter preaching of Jesus (cf. Theissen 1997: 26). Käsemann was convinced that a ,kritischgesichertes Minimum ' of genuine Jesus tradition could be found, making use of several criteria, of which a basic one was die 'criterion of differentiation' {Differenzkriterium) - the principle we have already encountered in our discussion of Theissen.

5. Käsemann 's theological justification of the historical-critical method On closer inspection, it is clear that more is at stake here. In the case of Käsemann, he not only finds the historical-critical method the most appropriate tool to use for Jesus research, but he sanctions the method as such on theological grounds. He does so in true polemical and provocative style in an essay entitled , Vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese ' (Käsemann 1967). For the purpose of our discussion, it is helpful to analyse his basic argument, especially as his concept of 'reality' plays an important role in this regard. It is clear from the outset that Käsemann develops his apology for the historical-critical approach with a very specific opponens in mind. This opponent is illusion, in all its many guises. The location of the gospel is human reality and any method used to interpret its foundational texts should lead us back to this reality., Historische Kritik verspricht und gewährt Wirklichkeitsnähe ' (260). This is his basic premise - historical criticism both promises and guarantees closeness to reality. From the context is clear that this reality is the reality as (re)constructed by means of historical investigation There are many factors that either cover up or distract from this reality - pious elabora-

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tions of Jesus' basic message, polemic interests, church doctrine or fantasies ascribed to the Spirit. The moment we make the doctrine of inspiration a surrogate for eyes and mind (.Ersatz fur Augen und Vernunft'), we are on the wrong track (261). We have no better way to penetrate the reality of the past than employing the historical method. Käsemann laments the loss of discipline and rigor in the exegetical practice of his day, for: .Geprüfte Wirklichkeit wird niemanden geschenkt' (261). In insisting on this clearing up and sobering responsibility, Christian theology shows its affinity with and indebtedness to the Enlightenment (261 ). Cutting through the underbrush of ecclesial and dogmatic tradition leads to the (Lutheran) distinction between Schrift (the Bible as written document) and Evangelium (the gospel message contained in the written document) and to an understanding of the Canon as in principle and in practice 'open'. In the same critical and eclectic way that the New Testament deals with the Old, the New should be treated (267). Bultmann's program of de-mytholgising is therefore nothing new, but goes back to the Enlightenment. What is different, is that he did not want to eliminate what did not fit a modern understanding of the world, but to interpret these 'mythical' elements in the tradition to make them existentially meaningful. In this respect, Bultmann is merely following Luther and is it no wonder that the latter occupied such a central place in the early phases of Bultmann's development. Here the real link between the historical-critical method and New Testament studies is to be found (273). Luther's protest against the obtusification through ecclesial overlayering of the Pauline message of justification through faith and his willingness to apply radical surgery is at the heart of the Reformation. , Vergessen ist fast überall, dass die Reformation traditionskritisch erwuchs, und, ärgerlich, dass historische Kritik notwendig Traditionskritik ist' (275). Bultmann's insistence on the role of existential decision-making as part of the hermeneutical process indicates his indebtness to the heritage of Luther (276). The theological justification, or better still, the sanctification of the historical-critical method by Käsemann, thus rests squarely on its perceived ability to guarantee closeness to (historical) reality {Wirklichkeitsnähe). This ability safeguards theology from becoming docetic, from having to submit to a sacrificium intellectus, from taking the sacred out of the domain of the profane, from making Christ a mere metaphysical symbol. ,Das Recht der historischen Kritik liegt theologisch darin, dass sie durch den die Gemeinde beherrschenden Doketismus hindurchbricht' (281). The result is the .Aufdeckung geschichtlicher Realität.' The only safeguard against an illusionary understanding of faith is to reveal that reality in which people originally came to faith. .Historische Kritik muss sich damit begnügen, uns dahin zurückzuführen, wo Menschen einst gefragt und gezweifelt, geglaubt und verleugnet haben, als sie die Botschaft vom Heil hörten' (281).

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Although Käsemann's statement dates from 1967, the same spirit is to be found in Theissen's confidence in and reliance on 'historical reality'.

6. The continuing resistance to acknowledging the sense-making nature of biblical texts Why are leading interpreters of the New Testament apparently unable or unwilling to acknowledge the sense-making aspect of historiography and why the continuing quest for the reality 'behind the text'? A complex of interrelated considerations informs this attitude, of which three are especially influential. Firstly, the truth of the gospel message is made dependent on the truth of the historical events underpinning the message. Secondly, the discovery of the Geschichtlichkeit of biblical texts, that is, the realisation that these documents are by their very nature historically conditioned. Thirdly, the rationalistic and positivistic legacy of the Enlightenment that fed the confidence that historical inquiry will eventually reveal truth and reality. The result was a restricted methodology that was not able to do justice to all aspects of the texts. When we try to determine why this deficit was allowed to develop, we find a clue in what Theissen calls the ingrained resistance against the 'sacrilege in historical scholarship' to modernise remote cultures instead of understanding them in their own contexts (1996: 170). This aversion to 'modernise' and this insistence on keeping one's distance from the distant past may be inspired by a laudable respect for the past, but leads to a structural blindness to the fact that the tendency to 'modernise' cannot be exorcised from any process of understanding. This is in fact the driving force behind the production of the very texts the NT exegete has to interpret. 'Modernising' in the sense of sense-making is not restricted to subsequent operations that are performed on the text once the text is there, but is the cause that led to the emergence of the text in the first place. There is no 'uninterpreted' reality. The NT texts as we have them are already a specific selection from a multiplicity of events, already a specific configuration among many other possibilities. It is the unwillingness/inability to accept the nature of these texts as 'noninnocent phenomena' that prevents the recognition of their nature as constructs - constructs that are not designed as windows to the 'reality behind them', but as statements of communication in their own right. In essence, it is the inability to accept the sense-making nature of NT texts themselves - and not only of their interpretation. Is it possible to take a different approach to historiography and the issue of historical 'truth'? Speaking from the perspective of New Testament studies itself, one of the basic problems of traditional hermeneutics is its inability to

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get beyond the historical aspect of textual communication and to take into account also the structural and pragmatic dimensions of this process (cf. Lategan 1984). The totality of the Sprachereignis (Fuchs) or Wortgeschehen (Ebeling) needs to be taken seriously and needs to be accounted for methodologically before justice can be done to the historical memory resulting in these texts. The fear of 'modernising' ancient texts by not interpreting them in their own contexts has resulted in a kind of blindness about the way these ancient texts themselves came into being, namely as a process of making sense of the momentous events surrounding the life and death of Jesus. The historical-critical method - which is a 'modern' methodology par excellence - and its foisting of a modern concept of historical truth on texts that were conceived under different circumstances and with different communicative goals in mind, made it difficult to do justice to the comprehensive nature of its own basic material. The whole issue of the 'linguistic turn' and its farreaching implications for referentiality and for epistemology has clearly not been internalised by the exponents of the historical-critical method (cf. Goertz 2001: 11-16, Conrad & Kessel 1994: 19-25). According to Rüsen, both the recognition that historical studies form part of the struggle to understand the present situation and the truth claims which historical studies as a scientific discipline make, allowing us to trust what is said of the past, should be held together (Rüsen 1993: 50-51). The tension between subjective involvement and objective truth should be maintained. 'Subjectivity generates questions out of the experience of present times, which lead to the past and its treasures of experience. Subjectivity brings the experience of the past into the eyes of the historians. Thus, it leads to the primary sources and makes the objectivity of source information possible' (1993: 54). The key to a different approach is to be found in a re-assessment of the nature of biblical text themselves. In two concluding sections we shall take an example from both the Old and the New Testament to illustrate very briefly what this entails.

7. Deuteronomy as memorial literature Hardmeier has promoted the concept of the Torah as 'memorial literature' (cf. Hardmeier 2000 and 2002). The opening verses of Deuteronomy provide important clues to the understanding of biblical texts and what memory in this context entails. First of all, the book is presented as narrated speech - as an oral performance that is subsequently passed on in the form of written speech. This means that narration is the primary way of performing recollection. The historical details of the context in which the speech is performed are

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kept to a bare minimum. It is a speech that Moses gives on the day before Israel crosses the Jordan under Joshua's leadership. What is remembered and made present is the way in which Moses expounds the Torah. It is an exemplary performance of a Torah teaching. But this oral teaching is then written down. This second transformation is intended for the performative presentation and repetition in the future of the oral teaching of Moses - and not to serve as a documentation of a past that is them simply added to archival records. Writing down is also not for the purpose of preserving the beginnings of Israel as a people, in order to confirm its identity. Rather, everything is arranged in order to let the performative process of Torah teaching become present in the medium of writing and in the narrative of recollecting, to bring the listening public into the narrated scene in such a way that they participate in the 'today' of these beginnings. The making present through narration has exactly the same function as the initial narration. Biblical literature is in this sense a unique cultural-historical phenomenon which Hardmeier calls 'memorial literature'. The function of recollection is made clear in Deut. 3:21 f. Here Moses reminds his audience of what he told Joshua, the designated leader of the trek into West Jordan. Moses referred to previous deeds of deliverance by God in order to encourage Joshua to put his trust in God also for the new and risky task that lies ahead. God is not portrayed abstractly as benevolent and gracious, but his concrete acts in history are recalled, thus constructing an analogy for the future. Hardmeier maintains that we cannot talk about the God of the Hebrew Bible and Christian Scriptures in any other way than in this mode of performative recollection. It is a mode of communication that creates analogies and parables for the present and future by establishing similes with past events. It is a narrative form of recollection which is applied to a continuously corresponding practice in the present and future. God becomes present and comprehensible only in a performative act. The reading of these texts is at the same time a specific kind of critical thinking. It focuses on a relationship with the invisible God that is strictly bound to specific situations. It does not foster empirical/descriptive or mathematical/scientific forms of symbolic comprehension of reality as a web of connections and relationships. In diverse ways, these philosophical and scientific forms of thought symbolically reconstruct worlds, states of affairs and entities, in order to be able to engage with them as objects. By contrast, the memorial literature is concerned with a practical kind of critical thinking - one which fosters a realistic perception of risks and opportunities in otherwise disturbing situations and in the face of troubling problems: it does so by minimizing a 'closing of the mind' that results from either fear or hubris. In doing so, this memorial thinking thus also stands outside the hermeneutical correlation between pre-judgement and grasping reality.

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Significant experiences of self, time, and God are paradigmatically thought together in a form that binds them together in narrative - in order to minimize fear of the future.

8. Paul's reconfiguration of the memory of Abraham In much the same way Paul revisits the history of Abraham in his letter to the Galatians. Paul thus refers to past events not to record history, but to make a theological point. What appears on the surface as narrative, is in function and intent argumentative. His use of history for hermeneutical purposes is even more prominent in the second example where he makes his argument by offering a reinterpretation of Israel's understanding of the Abraham story (Galatians 3: 15-18). At the heart of the resistance to Paul's preaching was his specific understanding of the nature of the gospel and his treatment of non-Jewish converts as a result of this understanding. His changed perception was - ironically the consequence of the success of his preaching, not among Jews, but among Gentiles. To his surprise, many non-Jews were attracted to his message, who became devoted members of the new movement. But their presence also caused problems - they were uncircumcised and not versed in Jewish customs, more specifically with regard to their knowledge of the Torah and the way of life prescribed by it. Conversions of Gentiles occurred throughout Jewish history and were certainly not exceptional in themselves. But the normal practice in such cases was that converts were circumcised and expected to adopt the Jewish way of life. It was exactly this expectation that was challenged by Paul's personal experience with the non-Jews who accepted the gospel. This experience forced him to re-examine the fundamental precepts of the Christian faith and its fundamental precepts. Did salvation depend on a certain way of life, on the observance of certain religious customs and liturgical practices - or on the trust in God and on the faithful acceptance of his promises? In his personal life and in his struggle to establish the church, especially in Galatia, Paul came to the firm conviction that it only can be the latter (cf. Gal. 3:1-5). The problem was how to convince his fellow apostles and his opponents in the church of the correctness of this conclusion. This was in direct opposition to the dominant view at that time. Paul shows his ingenuity by turning this dominant understanding of Jewish history upside down. He does so not by attacking it, but by revealing its inadequacy. In the traditional view, the orientation is towards Moses and the focus is on the giving of the Torah at Sinai. Paul challenges this view by offering an alternative point of orientation, namely Abraham. 'If the opponents, along with Judaism, based salvation exclusively upon the revelation of the

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Torah on Mount Sinai, Paul is interested exclusively in the promise to Abraham' (Betz 1979: 158-9). The apostle does not dispute the importance Sinai and the Torah, but he refuses to grant them foundational status. He does so by polemically separating what Judaism has tried to hold together - Abraham and the Torah. If the latter is so constitutive to Judaism, the fact that Abraham did not know it becomes a problem. Paul is on solid ground here - all the biblical accounts make it quite clear that the Torah does not feature in Abraham's calling and the promises made to him (Genesis 12-22). Judaism has tried to solve this dilemma in various ways: By claiming that Abraham knew the Torah instinctively, or from secret writings or through a special revelation (Betz 1979: 158). Paul tears the conflation of Abraham and the Torah apart - a conflation that in the course of tradition became an unquestioned premise. The Genesis account does indeed accord to Abraham a unique position and a foundational role in defining the subsequent relationship between God and his people. But this relationship is not based on the Torah. It is based on God's side on his promises and his covenant and on Abraham's side on his trust in God and his acceptance of the promises. This is what constitutes Paul's 'righteousness'. In other words, Paul turns the traditional Jewish view upside down: instead of attributing to Abraham a foreknowledge of the Torah, Paul deprives the Sinai Torah of any significance.'(Betz 1979: 159). The Torah that comes 430 years later cannot cancel God's promises to Abraham nor redefine the basis of his righteousness before God. The important point for our discussion is that the whole of Paul's argument is based on history - that is, on a specific interpretation of Israel's history. The dominant Jewish interpretation with its focus on Moses and the Torah can be understood as mimesis 1 in terms of Ricoeur's distinction. It is what Rüsen calls the Vorgabe with which Paul is confronted. He is not writing Israel's history for the first time and he is not even writing a new history. He discloses the inadequacies and inconsistencies of the Vorgabe and makes visible what is already there in history, but what has long remained hidden from view. In doing so, he offers an alternative reading of history (mimesis 2). This opens a new perspective and which provides the theological justification of treating non-Jewish believers as first class citizens in the community of faith. Paul does not dispute the accepted sequence or major events of the history of Abraham. He also does not revise this history, nor does he write a new or alternative history. What he does do, is to bring into sharp focus what has been overlooked by the dominant tradition, but which always had been there - the Torah-less nature of Abraham's calling, promise and covenant with God. Once again he is not interested in recording history, but to make a crucial theological point. Not only does it enable his to shift the focus from Moses to Abraham as the real founder of faith, but allows him to exploit to

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the full the significance of temporal priority. The fact the Abraham comes before Moses, confirms the unassailable position of Abraham. What follows more that four hundred years later could in no way annul the existing covenant with Abraham. Thus the way is opened to for gentiles to assume a position of equality in the community of believers, contrary to the prevailing view.

9. Conclusion Changes in the understanding of physical time and space, coupled with changes in the understanding of sequence and distance in the network society and reinforced by recent experiences of major social change have thus contributed to a new awareness of the existence of multiple realities and to a new understanding of the construction of reality. These developments have both epistemological and methodological consequences and pose very specific challenges for our understanding of 'reality'. The case of biblical material, the strong historical dimension of these texts and the expectation that critical analysis will unveil the 'reality' behind the documents can obscure the sensemaking nature of these texts and their performative intent. The alternative approach is to fully accept their 'sense-making' nature, thereby honouring their historical character while at the same time making methodological provision for all aspects of the process of understanding. The reality from which they originate should be read in the light of the reality proposed by the text in order to make sense of the reality of the present and thereby opening the possibility to imagine a reality of the future.

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Geschichte als Kommunikationsgeschichte: Überlegungen zur Medienwissenschaft Werner H. Kelber „Die Materialität der Kommunikation ist in erster Linie eine Materialität ihrer Medien." Jochen Schulte-Sasse „Materialitäten der Kommunikation sind ein modernes Rätsel, womöglich sogar das moderne." Friedrich Kittler

Das in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorwiegend in der angloamerikanischen Kultur- und Humanwissenschaft aufgebrochene Kommunikationsdenken dürfte von der Suggestivkraft der gegenwärtigen Medienerfahrung nicht ganz unbeeinflusst gewesen sein. Jedenfalls fällt es auf, dass die drei in den USA kanonisch gewordenen Werke, welche medien- und kommunikationsbewusste Kulturgeschichte betreiben, alle um 1960 herum veröffentlicht wurden: Walter Ongs monumentales Buch Ramus: Method and the Decay of Dialogue, Albert Lords Singer of Tales und Eric Havelocks Preface to Plato} Unter dem Eindruck des zunehmend mit dem Siegeszug der elektronischen Medien verbundenen technologischen Informationsschubes, welcher die Transformation der modernen Lese- und Schriftkultur in die audiovisuellen Telekommunikationsmedien vorantrieb, begann man rückblickend, geschichtliche Parallelen und epochengeschichtliche Einschnitte (neu) wahrzunehmen. Mehr oder weniger bewusst von der gegenwärtigen elektronischen Kommunikationsrevolution ausgehend, unternahm man es, die Materialität der Medien zu thematisieren und vergangenes Geschehen nach den Modalitäten und Trägern der Kommunikation zu befragen. Mein Beitrag ist von dem Bewusstsein geprägt, dass in der westlichen Welt, und zunehmend auf globaler Ebene, eine technisch-kulturelle Umstrukturierung in Gang gekommen ist, welche an die mit der Erfindung des PrintMediums im 15. und 16. Jahrhundert verbundenen revolutionären Umbrüche im religiösen, sozialen und politischen Leben der westlichen Geschichte erinnert. Es ist deutlich geworden, dass Bildschirm, Computer und Internet

1

W.J. Ong, Ramus: Method and the Decay of Dialogue, Cambridge, Mass. 1958; A.B. Lord, The Singer o f Tales (Harvard Studies in Comparative Literature 24), Cambridge/Mass. 1960; E. Havelock, Preface to Plato, Cambridge,Mass. 1963.

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neuartige Forschungs- und Diskursmöglichkeiten geschaffen haben, bislang nicht oder wenig bekannte Sinndimensionen und Wirklichkeitskonstruktionen ermöglichen und die Formen, in welchen sich Gesellschaften und Völker Identität und Repräsentation erschaffen, verändern. Von der gegenwärtigen Medienrevolution inspiriert, beruft sich der vorliegende Beitrag auf die in allen Humanwissenschaften bekannten, klassischen Werke Ongs, Lords und Havelocks sowie auf Autoren, welche den kommunikativen und medientechnischen Ansatz weitergeführt haben, wie John Miles Foley, Elizabeth Eisenstein, Mary Carruthers, Jack Goody, Michael Giesecke und viele andere.2 Im Falle Ongs handelt es sich dabei um eine einzigartige sprach-, kultur- und philosophiegeschichtliche Analyse der von dem französischen Humanisten und Philosophen Pierre de la Ramée unter dem Einfluss der Print-Revolution inszenierten intellektuellen Reform, welche auf Veränderungen im Verständnis der Logik im 16. Jahrhundert basierte und den Übergang von antiker und mittelalterlicher Geistesgeschichte zur frühen Moderne in Europa anzeigt. Lord hat das Verdienst, auf der Grundlage jahrelanger Feldstudien im serbokroatischen Sprach- und Kulturraum die Homerische Frage wieder erneut ins Spiel gebracht und dabei die Humanwissenschaften, insbesondere in den USA, mit der kulturellen Eigenständigkeit primärer Mündlichkeit konfrontiert zu haben. Havelocks genialer Plato-Interpretation gelang es, den Philosophen am Schnittpunkt von mündlichen und schriftlichen Interaktionen zu verorten und dabei das für Humanwissenschaftler stets peinliche Problem der platonischen Verbannung der Dichter aus dem Staat in einem völlig neuen Licht erscheinen zu lassen. Foley, in gewissem Sinne in der Nachfolge Lords, hat das epochale mündliche Erbe in der klassischen Antike, in altenglischen Traditionen und in der gegenwärtigen serbokroatischen Kultur in groß angelegten Werken expliziert. Carruthers leistete entscheidende Beiträge zu einer neuen Sicht mittelalterlicher Manuskriptkultur, welche sie als eine noch vorwiegend der Gedächtniskultur zugehörige Kulturstufe interpretierte. Goody reflektierte aus anthropologischer Sicht über die Folgen der Einfuhrung chirographischer Systeme in bislang noch der Mündlichkeit zugehörigen Entwicklungsstufen. Eisenstein und Giesecke schließlich haben das historische Verdienst, uns die epochalen

2

J.M. Foley, Immanent Art. From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic, Bloomington, 1991; ders., How to Read an Oral Poem, Urbana 2002; E. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe, 2 vols, New York 1979; M. Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, New York 1990; dies., The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, New York 1998, 400-1200; J. Goody (Hg.), Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1968; ders., The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977; M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M. 1991.

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Auswirkungen der Print-Revolution in allen Lebenslagen und allen nur erdenklichen Einzelheiten vor Augen geführt zu haben. Was allen diesen Studien gemeinsam ist, ist die Thematisierung von Medientechniken und Medienmutationen, welche sich in ihrer Gesamtwirkung durchaus in Richtung eines Denkmodells auswerten lassen, das Geschichte als Kommunikationsoder Mediengeschichte verständlich zu machen sucht. Prinzipiell geht das hier forschungsgeschichtlich vorgestellte Paradigma der Kommunikationsgeschichte von der Einsicht aus, dass alle Medien, nicht nur das uns neuerdings gegenwärtige elektronische Medium, mit gewissen kulturgenerativen Dynamiken assoziiert sind. Dabei ist es geraten, von allen vereinfachenden, monokausalen Ansätzen vorsichtigen Abstand zu nehmen. Medien sind per definitionem interaktiv und in vielfältigen Modalitäten am Kulturschaffen beteiligt. Sie leisten effektive und besonders wahrnehmbare Arbeit an Kulturschwellen, in geschichtlichen Phasen und Situationen, in denen die Transmission und Transmutation von Traditionen eindrucksvoll vor Augen steht. Oder sie erstellen die technisch-sprachlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich Wissen organisiert und sich gewissermaßen seiner selbst bewusst wird. Nicht zuletzt obliegt es Medien, auf kognitive Fähigkeiten Einfluss zu nehmen, indem sie Denkmuster anregen, ausschalten oder verändern. Der Sachverhalt wurde von Ong in einem bekannten, eindrucksvollen Aphorismus zum Ausdruck gebracht: "Writing restructures consciousness." Medien und Medientranspositionen, so unsere These, können geschichtsträchtige und geschichtsfördernde Folgen nach sich ziehen, indem sie an sprachlich-kulturellen und psychologisch-kognitiven Umsetzungen interaktiv beteiligt sind. Im engeren Sinne beschränkt sich der Begriff der Kommunikationsmedien auf Mündlichkeit und die nachfolgenden Informationsstufen, welche durch chirographische Veräußerlichung, typographische Standardisierung und elektronische Entmaterialisierung gekennzeichnet sind. Im weiteren Sinne beinhaltet Kommunikationsgeschichte auch die sogenannten außerverbalen Transportmedien wie etwa Automobil, Eisenbahn und Flugzeug, welche nicht nur eine zunehmende Dissoziation von Raum und Zeit zur Folge haben, sondern auch das Tempo geschichtlicher Prozesse progressiv beschleunigen. Ihnen allen kommt im Sinne der Medienfunktionen mediale, vermittelnde Bedeutsamkeit im Zivilisationsprozess zu. Die vorliegenden Überlegungen müssen sich auf die Kommunikationsmedien im engeren Sinne beschränken. Generell lässt sich Kommunikationsgeschichte unter der Perspektive mündlicher, chirographischer, typographischer und elektronischer Informationssysteme als ein Prozess sowohl zunehmender Technisierung wie auch progressiver Komplexifikationen begreifen. Nur im oberflächlichsten Sinne darf diese so verstandene Geschichte aber als ein nach einem evolutionären 3

W.J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London/New York 1982, 78-116.

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Muster ablaufender Prozess angesehen werden. Häufig ist es gerade das Auftreten eines neuen Mediums und dessen fruchtbare Interaktion mit den vorangehenden Medien, das sich als besonders geschichtsträchtig erweist. Aber es ist wiederum kaum möglich, diese Interaktionen in den Griff zu bekommen, es sei denn, es besteht ein gewisses Vorverständnis über das autonome Potential eines jeden Mediums und über die geschichtliche Abfolge einzelner Medienstadien. Es liegt auf der Hand, dass sich in Geschichte als Kommunikationsgeschichte vielfaltige Interessen und Fragen kreuzen. Aber prinzipiell darf behauptet werden, dass zunehmende Technisierungs- und Komplexifizierungsprozesse vom Paradigma der Kommunikationsgeschichte nicht wegzudenken sind. Was Technisierung anbelangt, so darf bereits die Schreibkultur, und nicht erst das Print-Medium, in ihrer Anwendung von Werkzeugen und Materialien als eine Technologie bezeichnet werden, welche gesprochene Sprache nicht schlechthin auf anderer Ebene fortsetzt, sondern vielmehr als bewegungslose Materie einfriert. Form und Funktion der verbalen Kommunikation sind dabei einer radikalen Umstrukturierung unterworfen, denn nichts weniger als eine Transponierung von zeitbedingter in raumbedingte Sprache ist erfolgt. Der im Sprechakt bestehende Zustand der Gleichzeitigkeit von Sprecher, Kommunikation und Hörer wird dabei gestört und aufgehoben. Autoren schreiben in der Abwesenheit von Lesern, und Leser lesen in der Abwesenheit und oft nach dem Verscheiden der Autoren. Im Vergleich zur oralen Sprechkultur und ihrer chirographischen Verarbeitung bedeutete die Drucktechnik eine bislang nie dagewesene Mechanisierung der Sprache, welche vom oralen Sprachraum der Biosphäre abstrahiert und auf der Grundlage artifizieller, metallisch konstruierter Lettern eine neue Materialitätsbasis der Kommunikation erstellte. „Vervielfältigung (multiplicatio) ist einer der Hauptpunkte im Lob der neuen Erfindung." 4 Als Folge der technisch ermöglichten Duplikationsfahigkeit und der perfekten räumlichen Formatierung von Sprache gelang es der technologischen Revolution des 15./16. Jahrhunderts sowie aller nachfolgenden Jahrhunderte, den europäischen Markt mit Druckprodukten von nahezu überirdischer Ästhetik, Proportionalität und bislang nicht erlebter gleichgeschalteter Unterschiedslosigkeit zu überschwemmen. Kraft der elektronischen Medialität ist es Sprache schließlich gelungen, sich von ihrer materiellen Gebundenheit an Raum und Zeit zu lösen und sich gewissermaßen in der Immaterialität eines ephemeren, transitorischen Seins zu bewegen. Als flimmernder Energiefluss, mehr denn je dem Einfluss des Autors entzogen, nur einen Fingerdruck vom Vergessen getrennt, transzendiert die elektronische Schrift alle bislang mit Sprache assoziierten Raumund Zeitvorstellungen. Paradoxerweise ist es gerade das durch und durch 4

J.-D. Müller, Der Körper des Buches. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1 9 8 8 , 2 0 5 .

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technisch-elektronische Medium, welches die Entmaterialisierung der Sprache, ihre Entbindung von Körperlichkeit, geradezu auf die Spitze treibt. Es ist heute weithin üblich, narrative und rhetorische Gattungen bei der Geschichtsschreibung in Anrechnung zu bringen. Historiographische Operationen sind nicht nur von Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart motiviert, sondern sie sind unvermeidlich an gegenwärtige literarische Gattungen, rhetorische Konventionen und kommunikative Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten gebunden. Hayden White hat auf diesem Gebiet für unsere Generation entscheidende Beiträge geleistet.5 Dem setzen wir hinzu, dass historiographische Rezeptionsgeschichte nicht nur von narrativen und rhetorischen Konventionen, sondern auch von der Materialität der Kommunikationsmedien geprägt ist. Man bedenke nur, in welch hohem Maße die mit der Schreib- und Druckkultur ermöglichte Speicherfähigkeit geschichtliche Reflektion überhaupt erst ermöglicht hat. Aber man muss noch einen Schritt weiter gehen. Nicht nur historiographische Rezeptionsgeschichte, sondern historische Prozesse selbst sind von den Kommunikationsmedien geprägt und zum Teil sogar konstituiert. Die Kommunikationstechniken sind ein unumgänglicher Faktor, sowohl in der Produktion wie in der Rezeption von Geschichte. Was nun die sich sowohl in der Produktion wie in der Rezeption abzeichnenden kommunikativen Komplexifikationsprozesse anbelangt, so gilt es zu bedenken, dass historische Medienstufen weder unverbunden nebeneinander stehen noch in diskreter Isolierung aufeinander folgen. Nur in ganz oberflächlichem Sinne ist Mediengeschichte auf Serialität angelegt, denn vorangehende Kommunikationsmedien werden durch neue Medientechniken nicht einfach verdrängt oder gar ausgeschaltet, sondern sie bedingen und durchdringen einander in mannigfaltiger Weise.6 So ist es ratsam, über das Modell einer chronologischen Abfolge von Medienstufen hinauszudenken und sich Verflechtungen verschiedener Medientechniken, dichtere und globalere Kommunikationsnetze und zunehmend komplexere Datenkompressionen vor Augen zu führen. Beispielsweise absorbierte und transformierte die Manuskriptkultur Formen und Performanzen oralen Diskurses, wobei im Zuge einer zunehmenden Dominanz der Print-Kultur der in der Antike privilegierten Rhetorik im 17. und 18. Jahrhundert das akademische Recht und die disziplinare Eigenständigkeit aufgekündigt wurden. Und so funktioniert im postmo-

5 6

H. White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1973; ders., The Tropics of Discourse, Baltimore/London 1978. W.J. Ong (The Presence of the Word. Some Prolegomena for Cultural and Religious History, New Haven/London 1967) hat die komplexen und oft paradoxen Medienprozesse subtil zum Ausdruck gebracht: "each succeeding stage does not destroy but builds on and thereby reorganizes and reinforces the preceding stage" (104); "a new development at first only exaggerates a condition which it will later eliminate" (239); "the successive stages in the development of the media can be reinforcing, as has been seen, even when they alter balances of the sensorium" (282).

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dernen elektronischen Zeitalter das digitale Medium in Interaktion mit noch aus der Schriftkultur stammenden linguistischen und technischen Gepflogenheiten, wobei überraschenderweise eine sogenannte sekundäre, elektronisch manipulierte Oralität freigesetzt wurde. Auf lange Dauer gesehen, eröffnet sich uns damit eine Mediengeschichte zunehmender medialer Verflechtungen, kommunikativer Überlagerungen, linguistischer Durchkreuzungen, Rückkoppelungseffekte und kultureller Innovationsschübe - alles Prozesse, welche dazu angetan sind, den Komplexitätsgrad von geschichtlichen Abläufen und deren historiographischer Rückerinnerung zu intensivieren, sind doch beide unvermeidbar mit Kommunikationsmodalitäten assoziiert. Medien treten vermittelnd bei der Schaffung von Systemen der Wissensspeicherung auf: sie schaffen Rahmenbedingungen, innerhalb welcher Erkenntnis- und Erinnerungsvermögen stattfinden können, sie setzen psychische und mentale Energie frei, die in traditionellen Kommunikations- und Speicherungssystemen brach gelegen haben mag, sie sind vermittelnd an der Mobilisierung des Sensoriums beteiligt, sie tragen mit zu unterschiedlichen hermeneutischen Perspektiven bei, sie helfen, verschiedene Zugänge zur Vergangenheit zu bahnen und vieles mehr. Zusammenfassend gilt, dass die zunehmende Technisierung und technologisch manipulierte Intermedialität aller Kommunikationsmedien den Geschichtsablauf zunehmend intensiviert, akzeleriert und kompliziert hat. Die Erfahrungen, welche unsere Generation mit dem Computer, in der Entwicklung der digitalen Technik und mit Systemintegration gemacht hat, sind an früheren Medienschwellen und an vorangehenden Medienstufen zumindest ansatzweise und zum Teil mit unverkennbarer Deutlichkeit bereits ans Licht getreten. So lassen sich Phänomene wie die Vermittlung zunehmender Speicherkapazitäten, die Verdichtung der Kommunikationsnetze, eine Kombinierung verschiedener Medientechniken, die progressive Informations· und Datenexplosion und eine rasante Beschleunigung der Informationsweitergabe als ein geschichtlicher Prozess verstehen, der mit der alphabetischen Erfindung erstmals in Gang gekommen war und seither seinen zunehmend labyrinthischen Lauf genommen hat. Je länger der Weg durch die Geschichte, so dürfen wir resümieren, umso verschlungener die Formen medialer Kommunikation und umso vielgestaltiger die Modalitäten historiographisch-memorialer Rückbesinnung. Kultureller Gewinn und Verlust sind dabei gleichermaßen zu konstatieren. Differenziertere Erschließung der menschlichen Denk- und Handlungsräume wird um den Preis von teilweise hohen kulturellen Verlusten erkauft. Plato hat Geschichte als Kommunikationsgeschichte lange vor uns durchlitten. Seine ernsthaften Bedenken gegenüber der gerade ins Bewusstsein getretenen neuen Schreibkultur einerseits und seine philosophische Zielsetzung andererseits, welche ohne chirographische Technik undenkbar gewesen wäre, sind seither symptomatisch fur die

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zwiespältige Mediengeschichte geworden. Es handelt sich um eine Geschichte, die von Fortschritt, Integrationsprozessen und Erweiterung der Erinnerungs- und Vorstellungsräume sowie von Entfremdungen, Erosion und Realitätsverlusten geprägt ist. Geschichte als Kommunikationsgeschichte steht in unverkennbarem Gegensatz zu Geschichte als Ideengeschichte, welche sich rein auf die immateriellen, ideellen Werte und Inhalte konzentriert. Die von der Kommunikationsgeschichte geforderte Fokussierung auf Medien und Materialität ist umso unkonventioneller, als beide Begriffe bis vor kurzem aus der herrschenden Wissenschaftspraxis ausgesperrt und von keiner Begriffsgeschichte historisch erforscht zu sein scheinen. In den klassischen, theologischen und philosophischen Werken über Hermeneutik, von Schleiermacher bis zu Gadamer, haben Medienwissenschaft und die damit angesprochenen Begriffe von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Materialität und Technologie, Körperlichkeit und Sinnstiftung weder eine Stimme noch einen systematischen Ort gefunden. Hermeneutik ist traditionell streng textbezogen, wobei Text als Ideenträger ohne Berücksichtigung seiner materiellen Basis angesehen wird. Und doch wird man Kittler rechtgeben müssen, wenn er behauptet: „Es gibt erstens keinen Sinn wie Philosophen und Hermeneuten ihn immer zwischen den Zeilen gesucht haben, ohne physikalische Träger. Es gibt zum anderen aber auch keine Materialitäten, die selber Information wären und Kommunikation herstellen könnten." 7

Die Vorstellungen etwa, wie sie vom französischen Sprachwissenschaftler Marcel Jousse erarbeitet worden waren, dass nämlich Oralität niemals in rein verbalen Kontexten existiert, sondern immer auch eine somatische Komponente in sich trägt und dass Sprache und mündliche Performanz in der Bilateralität des Körpers konstituiert sind, sind der gegenwärtigen Mündlichkeitsforschung zwar durchaus bekannt, aber dieses Grundwissen um mündlichen Stil und Diktion hat in der Literaturgeschichtsschreibung kaum Eingang gefunden. 8 Zwar ist es richtig, dass der mündlichen Tradition nahestehende griechische, altenglische und moderne serbokroatische Texte von der gegenwärtigen Mündlichkeitsforschung völlig neu erschlossen worden sind, 9 aber es muss auch betont werden, dass die moderne Literaturkritik nur geringes Interesse an Folkloristik und Mündlichkeitsforschung gezeigt hat. Dass litera-

7 8

9

F. Kittler, Signal-Rausch-Abstand, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität, 342. M. Jousse, Études de Psychologie Linguistique. Le Style Oral, Rythmique et Mnémotechnique chez les Verbo-Moteurs, Paris 1925; ders., L'Anthropologie du Geste, Paris 1974; ders., La Manducation de la Parole, Paris 1975; ders., Le Parlant, la Parole et le Souffle, Paris 1978. J.M. Foley (Hg.), Comparative Research on Oral Traditions. A Memorial for Milman Parry, Columbus 1985; ders., Traditional Oral Epic. The Odyssey, B e o w u l f , and the Serbo-Croatian Return Song, Berkeley 1990.

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rische Texte auf ihre materiellen Grundlagen und Bedingungen befragt werden, ist wohl mehr die Ausnahme als die Regel. Es ist unbestreitbar, dass „die Literaturgeschichtsschreibung unter der Dominanz der Geistesgeschichte zunehmend auf das sprachliche Kunstwerk' oder .Wortkunstwerk' als eine geistige Entität zurückging, für deren wesentliche Züge den ökonomischen, technischen und sozialen Kommunikationsbedingungen ihrer Entstehungszeit keinerlei Bedeutung mehr beigemessen wurde." 10 Inwieweit Verschriftlichung als solche, typographische Standardisierung und Verobjektivierung, die Formatierung der gedruckten Seite oder der Energiefluss elektronischer Schrift die Sinnproduktion vermittelnd anzuregen imstande seien, sind Gedanken, welche der literaturkritischen Forschung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durchaus ferne liegen. Nun ließe sich einwenden, dass die Geschichtsschreibung in Bezug auf ihre herrschenden Topoi gewissermaßen in der Materialität menschlichen Daseins verwurzelt ist und sich daher auf materialer Ebene zu bewegen genötigt sieht. Wirtschaftliche Dynamiken und ihr Beitrag zum sozialen Wandel, Strukturen und Veränderungen politischer Entitäten, technischer Fortschritt in der Kriegsfuhrung, biologische Revolution in der Landwirtschaft - diese und zahllose andere Themen scheinen Historiographie unerbittlich auf den Boden sogenannter historischer Tatsachen zu verweisen. Doch das ist es nicht, was hier mit Medien und Kommunikation, Materialität und Medialität, angesprochen ist. Was vielmehr vom Historiker gefordert ist, ist eine Reflexion sowohl über die in der Geschichte herrschenden und Geschichte erzeugenden Kommunikationsmodi wie auch über die im historiographischen Reflexions- und Rezeptionsprozess fungierenden Kommunikationstechniken und deren Beteiligung an der Repräsentation von Wirklichkeit. Denn so sehr White zuzustimmen ist, dass Geschichtsschreibung prinzipiell mit narrativen und rhetorischen Gattungen arbeitet, so sehr muss auch betont werden, dass Repräsentation der Wirklichkeit prinzipiell nicht realisierbar ist, ohne durch bestimmte Medien gefiltert zu werden. Die Herausforderung besteht darin, einer tiefsitzenden, mentalen Einstellung entgegen zu treten, Oralität, chirographische Literalität, typographische Technologie und elektronische Materialität als solche außer Acht zu lassen oder zu marginalisieren, obgleich es doch an besonderen Epochenschwellen wie dem Beginn der Alphabetisierung der griechischen Sprache, der Renaissance und Reformation oder der Postmoderne unbestreitbar klar geworden ist, dass Ideenrevolutionen und Traditionsbrüche zutiefst in Mediendynamiken begründet lagen. Die etwa im Zusammenhang mit der technologischen Revolution des 15. und 16. Jahrhun-

10 R. Rosenberg, Die Sublimierung der Literaturgeschichte oder: ihre Reinigung von den Materialitäten der Kommunikation, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität,

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derts unternommenen Studien haben die sinngebende Medialität der typographischen Technik mit überzeugender Deutlichkeit vor Augen geführt. Vielleicht lassen sich die hier angeregten Medienreflexionen theologisch so ausdrücken, dass sie eine Abwendung von augustinischer und eine Zuwendung zu thomistischer Hermeneutik implizieren. Was Augustin betrifft, so darf man unterstellen, dass er mit der Einfuhrung der signum - res Dichotomie seinen wohl bedeutsamsten und einflussreichsten Beitrag zum gesamten westlichen und insbesondere christlich-theologischen Sprachdenken geleistet hat.11 Wie er vor allem in De Doctrina Christiana und De Magistro ausführte, ist mündliche und schriftliche Sprache gleichermaßen zeichenhaft, indem sie über sich hinaus auf die res, die dem sprachlichen signum entsprechenden Realitäten, hinweist. In diesem Sinne fungiert Sprache als signum, welches abgesehen von dem Eindruck, den es in der Sinneswahrnehmung hinterlässt, etwas entsprechend Anderes in unser Bewusstsein eintreten lässt. Wissen um diese anderen Dinge ist stets von größerer Bedeutsamkeit als die Zeichenhaftigkeit der Sprache selbst. Entsprechend dieser Theorie kommt Sprache eine transitorische und nicht mediale Bedeutsamkeit zu. In ihrer zeichenhaften Funktion wird Sprache in einen Status der Vorläufigkeit oder Überständigkeit verwiesen, der hintan gestellt wird, sobald die res erreicht bzw. ins Bewusstsein getreten sind. Die Dinge sind anders im thomistischen Sprachdenken gelagert. Nach Thomas gilt, dass omnis nostra cognitio a sensu initium habet}2 Demnach hat alles menschliche Denkvermögen seinen Anfang und Grund im Sensorium und der in ihm operierenden Sinneswahrnehmungen. In der Diktion der Moderne gesprochen, wird hier Leiblichkeit gewissermaßen als Ursprung und Sitz allen Denkvermögens und aller Sprachlichkeit angesehen. Dabei werden Zusammenhänge von sprachlicher Materialität, Sinneswahrnehmung, Gedächtnisfähigkeit und Sinnproduktion impliziert. Entsprechend dieser Theorie sind sensibilia, und man darf sagen: somatische Sprachbedingungen, Grund und Ausgangspunkt allen Denkens, auf die man immer erneut zurückgreifen muss, da sie mediale und nicht transitorische Bedeutsamkeit haben. Dass Sinnproduktion mit den technischen Bedingungen der Medien- und Sinnproduktion zusammenhängt, mit Schreibgeräten und Schriften, mit Performanz und Ritualen, mit Körperlichkeit und verschiedenartigen Dimensionen des Materialen, sind Gedanken, welche mit großem theoretischen Ernst erstmals 1987 in einem interdisziplinären Kolloquium in Dubrovnik vor einem Kreis geladener Humanwissenschaftler, Biologen, Soziologen und Theaterfachleute abgehandelt wurden.

11 G. Manetti, Theories o f the Sign in Classical Antiquity (trans. Christine Richardson), Bloomington/Indianapolis, 1993, 157-168: Augustine; J. Engels, La doctrine du signe chez Augustine, Studia Patristica 6 (1962), 366-373; R.A. Markus, St. Augustine on Signs, Phronesis 2 (1957), 60-83. 12 Thomas Aquino, Summa I, 1, quaestio 1.

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Die Konferenz war von außerordentlichen Ambitionen beflügelt, wie sie Miklós Szabolcsi in seinem Schlusswort zum Ausdruck brachte: „Hier fand die Suche nach einem neuen discours statt, denn wir alle vertraten die Ansicht, daß die alten kritischen Theorien und Lösungen nunmehr unzulänglich sind und nicht mehr zu befriedigen vermögen." 13

Damit wurde das Thema der Materialität der Kommunikation geradezu als Wegbereiter zu einem neuen Paradigma in den Humanwissenschaften erkoren. Inzwischen weithin bekannt, haben die unter dem Titel Materialität der Kommunikation veröffentlichten Arbeiten dennoch in den Human- und Kulturwissenschaften nur geringfügig Einlass gefunden. Immerhin ist es dem Kolloquium gelungen, die Problematik der Sinndimension neu zu thematisieren, indem man Sinnprozessen in ihren kommunikativen Trägern, somatischen Modalitäten und technischen Bedingungen auf die Spur zu kommen suchte. Die Frage, der wir uns am Schluss stellen müssen, ist die der eigentlichen geschichts- und kulturproduktiven Funktion der Medientechniken. Wie lässt sich die behauptete These veranschaulichen und präzisieren, historische Prozesse seien von den Kommunikationsmedien und deren zunehmender Technisierung geprägt und teilweise sogar konstituiert, und wie kann man die Funktion der Medien im Geschichtsprozess genauer definieren? Zwei Beispiele müssen genügen. Zum einen eröffnet die etwa vom 12. bis 14. Jahrhundert sich erstreckende mittelalterliche Philosophie und Theologie der Scholastik ungeahnte Einblicke in die mediale, kulturschaffende Funktion der Medien. Ein charakteristisches Merkmal der scholastischen Methode war es, biblische, patristische und philosophische Autoritäten vergleichsweise nicht nur nebeneinander, sondern einander gegenüberzustellen. Dieses Zusammentragen und Vergleichen der Autoritäten ist mit der bekannten Methodik thomistischer Dialektik verbunden, welche das Material auf der Basis von Frage (questio) und Antwort (responsio oder disputado) untersuchte. Es ist sicherlich richtig, dass diese Methode aus dem akademischen Unterricht des Mittelalters erwachsen ist und ihre Anwendung in der Scholastik dazu diente, der Vernunft die Möglichkeit zur Lösung von Widersprüchen zu geben. Bekanntlich ging es letztlich darum, Vernunft und Offenbarung in einen theologisch vertretbaren Einklang zu bringen. All das sind grundlegend bekannte Tatsachen, wie sie sich der traditionellen philosophiegeschichtlichen Anschauungsweise darstellen. 14

13 M. Szabolcsi, Neue Ernsthaftigkeit, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität, 910. 14 M. Grabman, Die Geschichte der scholastischen Methode, 2 Bd.e, Berlin 1909-11, Neudruck 1956.

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Nun lässt sich die scholastische Dialektik aber auch vom mediengeschichtlichen Gesichtspunkt aus in eine neue Perspektive einfangen. So ist das Zusammentragen der Autoritäten, von den Interpreten der Heiligen Schrift und den autoritativen Entscheidungen der Päpste, Bischöfe und Konzilien bis hin zu den Vätern nicht zuletzt von Interessen geleitet, welche im Zusammenhang mit einer rapiden Intensivierung chirographischer Produktion, einem sich daraus ergebenden intellektuellen Pluralismus und einer die mittelalterliche Synthese bedrohenden Orientierungslosigkeit stehen. Die Zusammenstellung disparater Stimmen, das leidenschaftliche Abwägen und Vergleichen unterschiedlicher Aussagen, die Konfrontierung widersprüchlicher Autoritäten und der Wunsch, Klarheit in der intellektuellen Polyphonie zu finden, sind alles Erscheinungen, welche im Zusammenhang mit einer chirographischen Revolution des Hochmittelalters gesehen werden können, welche die Textbasis philosophischer und theologischer Arbeit zunehmend verunsicherte. Peter Abälard hatte den Sachverhalt ganz klar im Prolog von Sic et Non zum Ausdruck gebracht: seine unter großen Mühen zustandegekommene Sammlung von 150 Vätersentenzen sei von der Unmenge von Manuskripten (tanta verborum multitudine) bedingt, welche untereinander nicht nur unterschiedlich, sondern sogar widersprüchlich zu sein scheinen {non solum ab invicem diversa verum etiam invicem adversa videantur). Nach dieser Aussage war es nicht zuletzt die information explosion, welche Abälard veranlasste, die Masse des Materials zu sichten, um Klarheit zu schaffen. 15 Natürlich war es ein Grundanliegen der Scholastik, Vernunft und Glaube in Einklang zu bringen. Überdies ist es unbestreitbar, dass Format und Fragestellungen (questiones) in der dialektischen Methode einen rein formalen Akt darstellen, wobei die in der Tradition sicher verankerten Autoritäten nie ernsthaft in Frage gestellt zu sein scheinen. Ganz im Stile der klassischen Rhetorik scheinen die Antworten nicht stringent aus der disputatio entwickelt zu sein, sondern bereits implizit in der questio zu liegen bzw. in ihr vorweggenommen zu sein. Und doch handelt es sich bei Abälard um wesentlich mehr als um einen sich nach formalen, rhetorischen Regeln abspielenden Vorgang. Obwohl es keineswegs bestritten werden soll, dass philosophisch gesehen die Scholastik um die Problematik von Vernunft und Glaube rang und dass rhetorisch gesehen sich das gesamte Disputationsverfahren in einem traditionsgesicherten Rahmen abwickelte, so darf von mediengeschichtlichen Gesichtspunkten aus behauptet werden, dass die dominante scholastische Thematik samt ihren benutzten Methoden und angestrebten Lösungen unausweichlich in die Medienproblematiken des Hochmittelalters verstrickt war. So lag die Schwierigkeit, eine Lösung der scholastischen Grundthematik

15 Abälard, Sic et Non, I, 1-2.

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anzustreben, nicht nur an einer hochbrisanten philosophisch-theologischen Grundproblematik, sondern auch an einer zunehmenden Textüberschwemmung, welcher die der noch gängigen rhetorischen Konventionen verpflichtete Dialektik nicht gewachsen war. Theologisch-philosophische Problematik und Medienproblematiken stehen im Falle der Scholastik in einer produktiven Wechselwirkung. Das zweite Beispiel handelt von der Print-Kultur des 15. und 16. Jahrhunderts, wobei ich mich auf die gedruckte Bibel und ihre kulturproduktive Bedeutsamkeit beschränke. Die durch die Druckpresse ermöglichten Vervielfältigungsprozesse führten zu einer bis dato nie dagewesenen, rasanten Verbreitung der Bibel über ganz Europa. Wie kein anderes Buch im Westen förderte die durch die Druckpresse technisierte Bibel eine Lesekultur und trug damit wesentlich zu einem rasch wachsenden Leserpublikum in Europa bei. Laien lasen, diskutierten und interpretierten nun die Bibel. Das Lesen der Bibel wurde zu einem identitätsstiftenden Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die Verbreitung der Druckbibel und ein die Heilige Schrift rezipierendes und rezitierendes Leserpublikum schufen neue Machtverhältnisse zwischen den kirchlichen Autoritäten, Luther, dem Übersetzer und Herausgeber, und einem breiten Publikum. Bezeichnenderweise war Luthers Herausgabe des Neuen Testaments im September 1522 mit äußerst obszönen, antipäpstlichen Bildern ausgestattet. 16 Dieser Vorgang bestätigte eine Grundregel mediengeschichtlicher Dynamiken, nach welchen Repräsentanten des neuen Mediums geneigt und imstande sein können, die traditionellen Autoritäten herauszufordern. Kaum war das Print-Medium auf den Plan getreten, benutzte Luther die durch die neue Technologie gesteigerte Autorität des Neuen Testaments, um sie gegen die des Papstes auszuspielen. Nicht minder bemerkenswert ist aber, dass sein antipäpstliches Neues Testament alsbald im eigenen Lager auf heftige Kritik stieß, so dass er sich genötigt sah, die polemischen Bilder in den zahlreichen nachfolgenden Ausgaben wieder zu entfernen. Wären diese bildhaften Polemiken vor der Erfindung der Druckkunst erschienen, so wären sie wohl kaum über einen begrenzten Raum theologischer Spezialisten verbreitet worden. Aber das neue Medium durchbrach den esoterischen Zirkel theologischer Disputationen und Formalitäten und wandte sich erstmals an die Öffentlichkeit eines Leserpublikums, welches sich räumlich über Gebiete erstreckte, die zu einem späteren geschichtlichen Zeitpunkt Europa genannt werden sollten. In diesem, durch das Print-Medium expandierten Kommunikationsraum sah Luther die Chance, die Kirche als institutionelles Kontrollorgan umgehen zu können und sich in kaum je dagewesener rhetorischer Aggressivität an die breite Öffentlichkeit zu wenden. Auf der anderen Seite aber sah er sich plötzlich nicht nur theologischen Experten, sondern einem breiten

16 M.U. Edwards Jr., Printing, Propaganda, and Martin Luther, Berkeley 1994.

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Leserpublikum gegenüber, aus dem nun seinerseits kritische Stimmen zu hören waren. Zwar hatte das Print-Medium ihn in die Lage versetzt, die durch die neue Technologie verobjektivierte Autorität des Neuen Testaments in aller Öffentlichkeit gegen die alte Autorität auszuspielen, aber andererseits hatte das neue Medium in der wachsenden Leserschaft gewissermaßen den Nährboden fur eine Kritik von unten geschaffen. Die durch die Druckbibel geschaffenen Probleme beschränkten sich keineswegs auf den innerkirchlichen Raum. Wie nie zuvor war nun durch die technisch ermöglichte rasante Verbreitung der Bibel der Interpretation freier Raum gegeben. Theologische Dispute, bislang so weit wie möglich vom Volke fern gehalten und auf einen Kreis von Experten beschränkt, wurden nun unter das Volk getragen und brachten einen bis dahin in diesem Sinne nie gekannten, aus religiösen Disputen erwachsenden Unfrieden unter die sich herausbildenden ethnischen Volkseinheiten. In der Tat wurde nun die Print-Bibel zu einem Kristallisationspunkt der Herausbildung moderner europäischer Sprachkulturen und ethnischer Identitätsbildungen und damit zu einem bedeutsamen Gründungsmoment nationaler, europäischer Staatenbildung. Aber indem die Print-Bibel Disput und Unfrieden unter die Völker brachte, war sie am Zerfall der mittelalterlichen Einheit des Heiligen Römischen Reiches und dessen Fragmentierung in Nationalstaaten mitbeteiligt, alles Prozesse, welche alsbald auf einen sich über 30 Jahre erstreckenden Religionskrieg herausliefen, der große Teile Europas der Verwüstung preisgab, wie sie in diesem Ausmaß Europa bislang kaum bekannt gewesen war. An diesen Beispielen soll die kulturgenerative und unter Umständen epochale Bedeutsamkeit der Materialität der Kommunikation ad bonam et ad malam partem am Höhepunkt des Mittelalters und im Übergang zur Moderne angezeigt werden. Medien erscheinen hier nicht als isolierte Materialitätsträger von Daten, Ideen, Potentialen, welche monokausal und deterministisch historische Dynamiken auslösen - und schon gar nicht als neutrale Agenten geschichtlicher Prozesse, sondern vielmehr als mediale, zunehmend technisierte Kräfte, die in produktiver Interaktion mit zahlreichen anderen kulturellen Faktoren geschichtsproduktiv wirksam werden. Es geht bei der Thematik von Geschichte als Kommunikationsgeschichte nicht um eine Diastase von einer medienfreien Faktizität, welche in nachfolgenden geschichtsinterpretierenden Rezeptionsprozessen versprachlicht wird. Es geht eben gerade nicht um nicht-konstruierte Faktizität, welche interpretierenden Konstruktionen unterworfen wird. Vielmehr werden unter dem Gesichtspunkt von Kommunikationsgeschichte Geschichte selbst und deren memoriale, historiographische Verarbeitung als kommunikative Konstruktionen angesehen. Die geschaffenen Medien trugen wesentlich dazu bei, neue Wirklichkeiten zu konstruieren, sowohl in Bezug auf sogenanntes historisches Geschehen wie auch in Bezug auf historische Repräsentationen. Die konstruierten Medien vermitteln Geschichte und tragen damit dazu bei, uns

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als geschichtliche Produkte zu konstruieren. Und wenn wir Geschichte schreiben, konstruieren wir somit als bereits Konstruierte. Vielleicht darf man letztlich sagen, dass es bei der Thematik von Geschichte als Kommunikationsgeschichte um ein komplexes Wechselverhältnis von Konstruieren und Konstruiertsein geht.

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Die Mythen be (ver-/ent-) sorgen Irmgard Wagner Die Frage nach der Besorgung der Mythen hat Wesentliches beizutragen zu den Leitfragen des Symposions. Wenn es um den Zugriff der Sprache - des kognitiven und symbolischen Vermögens - auf Außersprachliches geht Empirie, Erfahrung, Erlebnis, Realität, Wirklichkeit oder wie sonst genannt dann fällt den Mythen als imaginativen und narrativen Bearbeitungen kollektiver Kern-Erfahrungen eine bedeutsame Rolle zu. Eine grundlegende Erkenntnis Jacques Lacans betrifft die anscheinend unüberbrückbare Kluft zwischen Empirie (le Réel) und kognitiv-sprachlicher Verarbeitung (le Symbolique). Das irreduzibel Reale traumatischer Erfahrungen - Lacans Beispiel ist der Tod, und zwar der Tod Anderer, da der eigene Tod nicht erfahren werden kann - kann vom Individuum allein nicht kognitiv-sprachlich verarbeitet werden. Statt dessen muss auf Phänomene kollektiver Gestaltung - das Reservoir des Kollektiv-Symbolischen - zurückgegriffen werden. Lacan erwähnt Rituale, Sitten und Gebräuche, Denkmäler usw.1 Die Mythen, von denen hier die Rede ist und die Lacan nicht erwähnt, gehören zu diesem Reservoir an kollektiven Symbolen. Dabei stehen Mythen als narrative Komplexe dem sprachlich kommunizier-, interpretier- und kritisierbaren Bereich einer Kommunität - dem Diskursiven - sehr viel näher als die essentiell nichtsprachlichen Rituale, Gebräuche und Monumente. Wenn zweitens nach der Orientierungsfunktion von Geschichte gefragt wird, so liefern dazu die hier intendierten Mythen ihren eigentlichsten Beitrag. Diese Mythen nämlich sind nicht außerweltlicher Art; es geht nicht um Götter, Kosmos und den Ort des Menschen darin. Sondern sie handeln von innerweltlichen Bezügen, von konkret und spezifisch auf die je nationale Vergangenheit bezogenen Erfahrungsdeutungen. Es sind Deutungsmuster, mittels derer eine Kommunität die im historischen Geschehen erfahrene Kontingenz kognitiv zu bewältigen - versprachlichen, verstehen - versucht. Zum Wesen der Mythen gehört Variierbarkeit2, und so werden auch die nationalen Mythen abgewandelt, ja neu erfunden, je nachdem, wie wider1

2

Dazu vgl. I. Wagner, Historischer Sinn zwischen Trauer und Melancholie. Freud, Lacan und Henry Adams, in: K.E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung, Reinbek 1997, 41 lf. Überzeugend erläutert von Franz Fühmann, Karl Kerenyi folgend, in dem Essay „Das mythische Element in der Literatur"; knapp und eindringlich dargestellt in Franz Kafkas Parabel „Prometheus".

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oder gefährlich die zu bewältigende Kontingenzerfahrung ist. Im Amerikanischen gibt es den zum Klischee gewordenen Vorwurf, ein Diskussionsgegner "reinvents history". Genau das machen die Mythen; sie rekonstruieren Vergangenheit von den Bedürfnissen der Gegenwart her. Das macht sie problematisch, und eben deshalb müssen sie be- (ver-/ent-)sorgt, d.h. im öffentlichen Diskurs verhandelt werden. Andererseits hat die Variierbarkeit auch den Vorteil, dass „Meistererzählungen" im Bereich der nationalen Mythen auf Dauer nicht unverändert fortbestehen. Sie werden im Laufe der Zeit und der Ereignisse narrativ abgewandelt, sind also im wahren Sinne keine Meistererzählungen mehr. Infolge ihrer Diskursivität und damit Kommunizierbarkeit innerhalb einer sprachlich organisierten Kommunität leisten nationale Mythen einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsstiftung des Kollektivs. Die Kulturwissenschaft spricht von Gründungsmythen, denen eine konstitutive Funktion im Selbstverständnis der Nationen zugeschrieben wird. In dem Wie solch nationaler Selbstverständigung spielt eine ganz wichtige Rolle das jeweilige Medium oder die Pluralität der Medien - der Kommunikation. Die Art der Öffentlichkeit - Ex- oder Inklusivität, Medienspezifik je nach Technik und Publikum (Druck, Bühne, Film, TV, Internet usw.), Manipulierbarkeit - übt entscheidenden Einfluss aus auf Gestaltung und Wirkung der Mythen. Die folgende Betrachtung eines US-amerikanischen Gründungsmythos soll diese Vorgänge veranschaulichen. Eine Kontingenzerfahrung höchst widerfährlicher Art war für die USA der 11. September 2001. Was dieses Ereignis allerdings im kulturhermeneutischen Sinn bedeutet, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt - ein Jahr später noch lange nicht klar. Zunächst las man allerorten: nichts mehr wird sein wie vorher. Klar ist nur, dass etwaige Veränderungen eher im Verborgenen, noch nicht an der diagnostizierbaren Oberfläche liegen.3 Zwei Phänomene tauchen auf: erstens Angst - Angst vor dem Fliegen, vor Auslandsferien vor allem. (Auch die Aktienpanik des vergangenen Sommers mag hierher gehören.) Zweitens ein gesteigertes Interesse für das eigene Land, die eigene Geschichte. 25% mehr Besucher schon vor der Feriensaison 2002 beim Mount Rushmore, den in den Fels gehauenen vier Superpräsidenten. Und statt Auslandsreisen Ferien im RV durch den amerikanischen Westen. Orientierungsverlust und daraus resultierend Zögerlichkeit im Handeln lässt sich aber nirgends feststellen. Eher das Gegenteil. Während nach außen der Krieg in Afghanistan den Handlungsbedarf befriedigte, stärkte man sich nach innen mit Flagge-Zeigen und mit patriotischen Losungen. Zuerst las man überall: "God Bless America", bald darauf: "United We Stand." Die zweite Losung ist eine korrigierende Entgegnung auf die erste. Von der Hoffnung auf göttlichen Beistand in der Not geht der 3

A m 6. Juli 2 0 0 2 forderte die Washington Post ihre Leser auf, darüber nachzudenken und die Ergebnisse einzusenden unter dem Titel: "How did September 11 change your life?".

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Schritt zum Selbstvertrauen, wobei das Selbst aber nicht das Individuum, sondern das Kollektiv, das United We ist. Dieser Schritt der Selbstbehauptung als Nation, die Behauptung: „Wir schaffen's selber, als United States", ist ein hermeneutischer Schritt. Er bedeutet, dass der Name der Nation, The United States, mit Bedeutung anzufüllen ist. Und in der Suche nach Bedeutung tauchen Geschichten auf, oder Fragmente von Geschichten, die wiederum auf die nationale Geschichte verweisen. Solche narrativen Komplexe sind als nationale Mythen zu verstehen; ihre Funktion ist es, das Selbstverständnis der Nation als Nation innerhalb des Kollektivs zu kommunizieren, den nationalen Diskurs in größtmöglicher Breite und Knappheit - Mythen dienen als Diskurskürzel - durchzuführen. Zu der zweiten Losung gehört eine zweite Hälfte: "United we stand, divided we fall". Und dieser Spruch zieht eine Geschichte aus der Gründerzeit der Nation herbei, wonach ein Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung zu einem anderen sagte: "We must indeed all hang together, or most assuredly we shall hang separately." Kaum ein Amerikaner wird den Wortlaut genau erinnern, oder wer das zu wem sagte.4 Aber das Gesagte wird erinnert und die Situation, in der es gesagt wurde: die Krise der Unabhängigkeitskämpfe. Solche Geschichten verweisen auf DIE Geschichte, wie sie vom ordinary citizen erinnert und tradiert wird, aus der die Nation ihr Wir-Gefuhl, ihr "United We" bezieht, ihre Identität mit allem, was dazu gehört: Wertestruktur (George Washington und der Kirschbaum : I cannot tell a lie), Orientierungskoordinaten (Mark Twain: If you don't know what to do, do the right thing), Abgrenzungen nach außen (Ein Amerikaner tut das nicht), Bindungen nach innen (Wir als Amerikaner). 5 Dabei ist die Orientierungs- und Werteftmktion der Mythen durchaus nicht nur - obgleich vorwiegend - affirmativer Art. Mythen haben sehr wohl auch eine kritische Funktion, ja sie können Kritik legitimieren, die sonst vielleicht nicht gewagt würde, da sie an Kernpunkte der nationalen Identität rührt. Zum Beispiel George Washington und der Kirschbaum, eine erfundene Geschichte, wonach der kleine George sein Beil an einem jungen Kirschbaum ausprobiert hätte, dann die drohende Frage des Vaters, ob er das Bäumchen umgehauen habe, mit Nein beantwortete, doch wenig später die Wahrheit zugab mit der Einleitung: "I cannot tell a lie." In den späten Jahren der ReaganRegierung präsentierte ein Cartoon in der Washington Post nebeneinander die Portraits dreier Präsidenten, mit je einem kurzen Text. Links Washington, darunter: "I cannot tell a lie"; in der Mitte Nixon, darunter: "I cannot tell the truth"; rechts Reagan, darunter: "I cannot tell the difference."

4 5

Benjamin Franklin zu John Hancock. Das Fehlen solch eines nationalen Koordinatensystems im Deutschland der zweiten Reichsgründung wird angesprochen in: Krockow, Chr. Graf v., Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990, Reinbek 1 9 9 2 , 1 1 f .

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Mit der Frage der Entstehung von Nationen und Nationalbewusstsein befasst sich das in USA vielgelesene Buch Imagined Communities des Anthropologen Benedict Anderson. 6 Was Anderson "nation-ness" nennt, ist in seiner Sicht nicht notwendiges Kausalresultat aus faktischen Ereignissen, sondern es entsteht primär aus dem Kopf, aus den Köpfen. Es ist eine Vorstellung (imagined) von „wir" (community), die in einem langwierigen Prozess sich entwickelt und dann erst politisch-historisch realisiert wird in der Nation, schließlich im Nationalstaat. Soweit Andersons Grundthese. In den USA, dem klassischen Einwanderungsland, dessen ethno- und demographische Konstitution sich unablässig verändert, ist die so gesehene Herausbildung des Nationalstaats ein work in progress. Die Nation ist kontinuierlich „in Arbeit". Wie nun geht diese Arbeit (work) vor sich? Dazu gehören zunächst einmal Definitionen. Wer sind „Wir"? Was heißt es, an American zu sein? Zweitens ist zu fragen: Wer leistet diese Arbeit? Drittens: Wo, in welchem Forum oder Medium findet die Arbeit statt? Und schließlich: Für wen wird die Arbeit unternommen, an wen ist sie adressiert? Bei der ersten Frage geht es um den Inhalt der Vorstellungen, mittels derer sich die nationale Kommunität konstituiert. Welcher Gestalt wird das nationale Wir imaginiert? Anderson gibt ein auf den ersten Blick paradoxes Beispiel, das er aus der amerikanischen Geschichte illustriert, mit dem Begriff des "reassuring fratricide": Brudermord, der rückwirkend Sicherheitsgefuhl vermittelt. Er leitet den Begriff aus der Gründung der Nation her, die eine Auseinandersetzung innerhalb der Anglo-Familie ("between kinsmen") und deshalb von vornherein nicht unversöhnlich war, sondern eben im Lauf der historischen Zeit eine Aussöhnung ermöglichte, die heute in dem Begriff der special relationship zwischen den USA und England weiter besteht. In der größten Krise der amerikanischen Nation, dem Civil War, sieht Anderson eine Wiederholung des "reassuring fratricide", 7 und man muss sagen, dass es für diesen Andersonschen Mythos kaum ein schlagenderes Beispiel gibt als eben den amerikanischen Bürgerkrieg. Das historische Faktum des schwelenden und unterdrückten Konflikts über die Sklaverei, der schließlich im Bürgerkrieg ausbrach, löste die Arbeit der Imagination aus zur Bewahrung und Rekonstruktion - nach dem Krieg der nationalen Bruderschaft. (Es muss immer im Auge behalten werden, dass Brudermord die Bruderschaft voraussetzt: nur wo Bruderschaft besteht, kann es Brudermord geben.) Anderson verweist auf amerikanische Klassiker der 6

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B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, Zweite, erweiterte Auflage, London 1991. Erstveröffentlichung 1983. Erst die zweite Auflage enthält die Überlegungen zu Leitmythen und nationaler Geschichtsschreibung, auf die hier Bezug genommen wird. Ein Sonderheft der literaturtheoretischen Zeitschrift Diacritics (Bd. 29, H. 4, Winter 1999) war dem Werk Andersons gewidmet. Anderson 192, 20Iff.

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Literatur, die genau diese imaginative Arbeit leisteten. Die LederstrumpfRomane von 1823 bis 1841, Melvilles Moby-Dick von 1851, und nach dem Bürgerkrieg, in der hasserfüllten Zeit der Reconstruction Mark Twains Huckleberry Finn (1884) imaginieren die Bruderschaft eines EuroAmerikaners mit einem Indianer, einem polynesischen Eingeborenen und einem Schwarzen. Dass diese Fiktionen der politisch-historischen Realität widersprachen, wo die Nation in sich befeindende und mordende Gruppen gespalten war, eben dies ist der springende Punkt. Die nationkonstitutive Imagination muss der gegenwärtigen Realität entgegen- und einer zukünftigen Realität vorarbeiten. "These striking nineteenth-century imaginings of fraternity, emerging 'naturally' in a society fractured by the most violent racial, class and regional antagonisms, show as clearly as anything else that nationalism ... represented a new form of consciousness."8 Die andere Seite der Bruderschaft ist natürlich der historisch ereignete Brudermord: an den Indianern, den Sklaven, und den Nord- bzw. Südstaatlerkriegern. Doch nach Anderson sind gerade solche Morde fur das Zustandekommen der nationalen Kommunität unverzichtbar. Es sind exemplarische Morde, die auf die besondere Weise der nationalen Erinnerung ins historische Gedächtnis aufgenommen werden müssen. Diese Erinnerungsweise sieht Anderson als Kombination aus Erinnern und Vergessen,9 wobei aus Ereignissen Mythen werden, die wiederum im kontinuierlichen Wiedererzählen die jeweils von der Nation akzeptierte Geschichte als unsere konstituieren. "Exemplary suicides, poignant martyrdoms, assassinations, executions, wars, and holocausts ... these violent deaths must be remembered/forgotten as 'our own'." 10 Solch einen ,uns zugehörigen' Brudermord stellt der US-Historiker Joseph J. Ellis an den Anfang seiner Geschichte von der amerikanischen Revolution, die unter dem Titel: Founding Brothers: The Revolutionary Generation im Jahre 2000 erschien und Ende Oktober 2002 als Taschenbuchausgabe 33 Wochen lang auf der Bestsellerliste der Washington Post stand.11 Es ist ein Beispiel für das work in progress, wodurch die amerikanische Nation in einer kontinuierlichen Vorstellungs(re)konstruktion sich ihrer "nation-ness" versichert. Schon der Titel Founding Brothers kündigt die Revision eines amerikanischen Gründungsmythos an: von den Founding Fathers, immer groß geschrieben. Als Begriff inzwischen globalisiert, haben die „Gründerväter", allen voran der Father of his country George Washington, ihren unverrückbaren Platz im historischen Pantheon behauptet. Unfehlbar werden sie in kon8 ibid., 203. 9 Anderson beruft sich auf Ernest Renans Essay, Qu'est-ce qu'une Nation? (1882), 199. 10 206. Schlusssatz des Buches. - Eine Folgerung aus diesem Satz, der nicht zufällig das Wort Holocaust enthält, wäre, dass die Ereignisse des Dritten Reiches erst dann von der Nation als Teil ihrer Geschichte akzeptiert sein werden, wenn erinnert wird nicht nur: „Wir haben die Juden gemordet", sondern: „Wir haben unsere Juden gemordet". 11 New York 2002.

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tro versen Fragen angerufen als die Garanten der jeweils vertretenen Meinung. Was also hat es zu bedeuten, wenn diese Väter plötzlich als Brüder gesehen werden? Zunächst ist festzustellen, dass Ellis unabhängig von Andersons reassuring fratricide-Mythos arbeitet: Andersons Buch hat er nicht gelesen. Umso überraschender ist es, dass seine Erzählung mit dem Brudermord der USGeschichte einsetzt: dem Pistolenduell zwischen Alexander Hamilton und Aaron Burr 1804, in dem Hamilton getötet wurde. Noch auffälliger ist dieser Anfang, weil hier der Historiker unchronologisch erzählt: das Duell ereignete sich dreißig Jahre nach dem Beginn der Gründungsgeschichte. Ellis begründet seinen Verstoß gegen die Chronologie mit dem Ausnahmecharakter des Ereignisses und deutet damit eine seiner Hauptthesen an. Das Duell sei die Ausnahme zu der Regel, wonach sich Konflikte innerhalb der Gründergeneration in Streitgespräche, in Argumente umsetzten und damit zur Klärung strittiger Fragen, zum Verständnis des historisch-politischen Geschehens führten, woraus sich in der Folgezeit das System der politischen Parteien entwickelte.12 Der Texthermeneutikerin, die von Anderson herkommt, sieht die Sache komplexer und interessanter aus. Erstens: Der Brudermord als Leitmythos der amerikanischen Geschichte findet sich aufs schönste bestätigt. Zweitens illustriert Ellis' Duell-Erzählung Andersons These von der Herausbildung der Nation, wonach nicht das Faktum am Anfang steht, sondern die imaginative Verarbeitung des Faktums. Faktisch steht der Burr-Hamilton-Brudermord nicht am Anfang der US-nationalen Geschichte. Aber er steht am Ausgangspunkt der Perspektive, unter der ein Historiker am Beginn des 21. Jahrhunderts seine Revision der Gründergeschichte vom Patriarchat zum Fratriarchat ausarbeitet. Entscheidend fur diese revidierte Perspektive ist, dass Herrschaft nicht von der Vätergeneration auf die Söhnegeneration vererbt oder wie in der typischen europäischen Revolution durch Vatermord erobert wird. Sondern Herrschaft wird unter Brüdern, mit und gegen Brüder ausgehandelt, verhandelt. Mittels solcher Verhandlung wird demnach Herrschaft der amerikanischen Art überhaupt erst gestaltet und definiert. Der vorgezogene Brudermord dient als abschreckendes Beispiel: wie man es nicht machen durfte, wenn die amerikanische Staatsgründung eine Erfolgsgeschichte werden sollte. Danach kann Ellis seine Geschichte vom brüderlichen Aushandeln republikanischer Regierungsgewalt in den ersten fünfzig Jahren der United States erzählen. Er stellt sie, seine Erzählung, auch dies eine Parallele zu Anderson, unter familiäre Themen, was seine Kapitelüberschriften anzeigen. Nationalgeschichte wird erzählt als "Biography of Nations." 13 Vom Brudermord, The Duel, geht es über The Dinner, The Silence, The Farewell - wo der Vater George Washington seinen 12 Ellis, 18. 13 Titel von Andersons letztem Unterkapitel, 204.

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Abschied nimmt - zu The Collaborators - die Brüder müssen als Team arbeiten, um das amerikanische Experiment zum Erfolg zu führen - bis zum Schlusskapitel, The Friendship. Dieses letzte Kapitel erzählt die erstaunliche und am längsten sich entwickelnde Beziehung zwischen John Adams und Thomas Jefferson, eine Beziehung, die als exemplarisch für Andersons Postulat der "reassurance of fratricide" gelten kann. Sie verläuft von enger Bruderschaft im Europadienst (Jefferson sieht in Adams einen „älteren Bruder") über unüberbrückbare politisch-ideologische Gegnerschaft, bitterste Rivalität und persönliche Feindschaft mit eigentlich unverzeihlichen Verletzungen - zwölf Jahre lang war jeder Kontakt abgebrochen - bis zur Wiederherstellung der Bruderschaft nun als kreativer Freundschaft. In einem intensiven, vierzehn Jahre langen Briefwechsel setzen sich die beiden elder statesmen auseinander, immer noch und unverrückbar von gegensätzlichen Positionen aus, über die mögliche und richtige Bedeutung der amerikanischen Revolution. Und natürlich erzählt Ellis mit gebührender Rhetorik das Ereignis, das diese politische Freundschaft zum Mysterium erhob: den getrennt-gemeinsamen Tod in Monticello, Virginia, und Quincy, Massachusetts, ausgerechnet am 4. Juli, ausgerechnet ein halbes Jahrhundert nach dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, jener ersten Gemeinschaftsproduktion der Founding Brothers. So schließt das Buch: "One final act of fate that everyone, then and now, regarded as the unmistakable voice of God. On the evening of July 3, 1826, Jefferson fell into a coma. His last discernible words ...: 'Is it the Fourth?' It was not, but he lingered in a semiconscious condition until shortly after noon on the magic day. That same morning, Adams collapsed in his favorite reading chair. He lapsed into unconsciousness at almost the exact moment Jefferson died. ... He wakened for a brief moment... then ... gave a final salute to his old friend with his last words: 'Thomas Jefferson still lives.' ... He was wrong for the moment but right for the ages." 14

Was also hat es zu bedeuten, dass im Jahr 2000 der Gründerbrüdermythos in den nationalen Diskurs eingeführt wird? Eine Antwort könnte zum Beispiel so lauten. Der sich anbahnende Generationenkonflikt über die Frage, ob die Heutigen die Nachfolgegenerationen mit Schulden, Umweltschäden oder Sozialverpflichtungen belasten dürften - immer wieder werden our children and grandchildren beschworen - hat die Rolle jeweiliger Generationen ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Der Me-generation der achtziger Jahre folgte die Generation X der neunziger - die Anonymen - und dieser die jüngst gestolperte dot.com-Generation. In diese Thematik trat ein Bestseller, The Greatest Generation,15 der die Weltkriegskämpfer - die Vätergeneration der heute Regierenden - verherrlichte und zugleich jeder Nachkommensgeneration sagte, dass sie sich eben als Nachkommen zu sehen und an jener 14 Ellis, 248. 15 T. Brokaw, The Greatest Generation, New York 1998.

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größten Generation zu messen habe. Der Erfolg des Buches wurde und wird vom Verlag noch immer weidlich ausgeschlachtet. Ellis spielt im Vorwort kritisch auf diese Problematik an: "Despite recent efforts to locate the title in the twentieth century, [the revolutionary generation] comprised, by any informed and fair-minded standard, the greatest generation of political talent in American history." 16 Wenn nun die Brüder in der Gründerrolle an die Stelle der Väter gestellt werden, so besagt das, dass nicht irgendwelches Vätererbe, sondern die jeweilige Leistung einer Generation Geschichte macht, dass die Nation sich als Geschwisterverband, nicht als Kinder und Enkel zu sehen hat. Leitmotivisch durchzieht das Shakespearezitat "[we] band of brothers" den Text der Founding Brothers. Ellis lässt eine Frau mitspielen, als Collaborator im Kapitel dieses Titels: Abigail Adams, Ehefrau des zweiten Präsidenten und Gesprächspartners von Jefferson im Schlusskapitel. Man kann darin verharmlosend eine Verbeugung in Richtung Geschlechtergeschichte sehen, doch ist auch diese Verbeugung als Teil der zeitlaufsbedingten Mythenadaption zu verstehen: die Vätergeschichte wandelt sich zur Geschwister- nicht nur zur exklusiven Brüdergeschichte. Die handelnde Rolle der Frauen in der Geschichte beginnt erkannt und anerkannt - recognized - zu werden. Dass der heutigen Generation ihre historisch spezifische Aufgabe mit dem 11. September zugewiesen wurde, ist für Die Amerikaner inzwischen selbstverständlich. Zur zweiten Frage: Wer leistet die Arbeit an dem work in progress der nationalen Mythen? Einmal sind es eminente Historiker wie Ellis. Oder es sind prominente Historiker, auch gelegentlich skandalumwitterte wie Stephen Ambrose, der jedes Jahr mit einem neuen umfangreichen Werk hohe Verkaufszahlen erzielt.17 Oder Fernsehjournalisten wie Tom Brokaw, NBCAnkermann und Autor der Greatest Generation; wie Dan Rather, CBSAnkermann, mit einer Auflistung der American Dreams·,18 wie der Fernsehund Zeitungsessayist Roger Rosenblatt mit dem Band Where We Stand, der ausdrücklich das United We Stand im Licht des 11. September expliziert. 19 Häufig werden solche Bücher in Autoreninterviews während der Abendnachrichten vorgestellt. Unfehlbar werden sie in den Sonntagsausgaben der großen Tageszeitungen - New York Times, Washington Post, Los Angeles Times - kommentiert. Das heißt: Das allgemeine Interesse für solche Bücher wird vorausgesetzt. Und in entsprechendem Stil, nämlich allgemeinverständ16 Ellis, 13. 17 Plagiatsvorwürfe gegen Ambrose und seine „Schreibfabrik" machten im Sommer 2002 Schlagzeilen. 18 D. Rather, The American Dream, New York 2001. Taschenbuchausgabe 2002 mit neuem, der veränderten Situation angepasstem Vorwort, wie es die Umschlagswerbung intoniert: "At a time when we are once again talking and thinking about the meaning of America..." 19 R. Rosenblatt, Where We Stand: 30 Reasons for Loving Our Country, New York 2002.

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lieh und leserfreundlich, sind sie geschrieben: der erwartete Leser ist der Normal-Amerikaner, nicht der Akademiker. Verkaufszahlen bestätigen das Allgemeininteresse. Von den zehn Plätzen der Bestsellerlisten für Nichtbelletristik sind regelmäßig einer bis zwei von popularhistorischen Werken besetzt. Ganz unerklärlich war zum Beispiel die lange Bestsellerzeit einer Biographie des bislang sehr unbekannten zweiten Präsidenten, der zwischen den Berühmtheiten Washington und Jefferson nur eine Regierungszeit schaffte, verfasst von dem eminenten Historiker David McCullough 20 - in Deutschland etwa mit der Popularität von Goethes Christiane vergleichbar. Dass der Adressat der nationalen Mythenarbeit das allgemeine Publikum ist, zeigen auch die Fernsehdokumentarsendungen zu historischen Themen. Bis heute die berühmteste, die als Pionierleistung gelten kann, ist - wie könnte es anders sein - eine zwölfstündige Serie über den Bürgerkrieg, die am 22. September 2002 eine ihrer häufigen Wiederholungen startete. Ein ganzer Fernsehkanal der gebührenpflichtigen Sorte, der History Channel, widmet sich der Geschichte. Nationalgeschichte lohnt sich auch finanziell. Goethes Christiane als Verkaufsschlager im Goethejahr: damit wären wir bei der sehr anderen Lage in Deutschland. Wie die Dinge hier liegen, darf als bekannt vorausgesetzt werden, obgleich vielleicht nicht allzu viel darüber nachgedacht wird. Meine Darstellung wird sich daher auf kurze Andeutungen beschränken, die als Nachdenkanstöße zu verstehen sind. Erstens und vor allem: Nationale Mythen sind hierzulande aus historischen Gründen in Verruf geraten. Der Missbrauch des Mythosbegriffs durch die Nazis, man denke an Rosenbergs Titel Der Mythos des 20. Jahrhunderts, hat Mythen disqualifiziert als demagogieverdächtig, als Zwecklügen im Dienste der Volksverfuhrung. Zweitens sind Mythen per definitionem nicht Fakten, sondern Fiktionen. Also sind sie nicht Sache der Historiker, deren Berufsethos es vorschreibt, sich nur mit Fakten abzugeben. Man überlässt sie den Kulturkritikern, den Dichtern, Filme-, Oper-, und Theatermachern und den Literatur- und Filmwissenschaftlern. Oswald Spengler und Hans Schwerte, alias Hermann Schneider - Arbeiter am Faustmythos; Heinrich von Kleist am Mythos vom Cheruskerfiirsten Hermann; Heinrich Heine am Kyffhäusermythos; Fritz Lang an den Nibelungen, ganz zu schweigen von der Vereinnahmung nationaler Mythen durch Richard Wagner. Welch folgenreiches Versäumnis es war, Wagner diese Mythenbesetzung zu überlassen, auch das hat die Hitlerzeit gezeigt. Hans Blumenbergs Monumentalwerk Arbeit am Mythos gehört im deutschen Wissenschaftsdiskurs zur Germanistik, fur Historiker ist es bestenfalls marginal. In den USA steht es neben Burckhardt auf dem Regal der Geschichtstheorie.

20 D. McCullough, John Adams, New York 2001.

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Wenn sich deutsche Historiker mit nationalen Mythen abgeben, dann abwertend, wie z.B. in dem Buch Keine Ruhe im Kyffhäuser, einem Nachfolgeband der epochemachenden Staufer-Ausstellung von 1977.21 Der Band entstand aus dem Ärger der Historiker über die negative Reaktion der Besucher auf den Teil der Ausstellung, der sich - kritisch natürlich - mit der Wirkungsgeschichte der Staufer, mit dem Barbarossa- oder Kyffhäusermythos befasste. Das Volk mag es nicht, wenn seine Mythen herabgewürdigt werden. Und wenn die deutschen Historiker über Mythen schreiben würden, dann nicht furs Volk, dem doch die nationalen Mythen zugehören. In Deutschland fehlt die Gattung der Pophistoriographie. Die Historiker leben im Elfenbeinturm, sie schreiben füreinander, nicht fürs gemeine Volk. Historiographie ist Sache der Elite. Das zeigt sich am deutlichsten am Stil. Das Volk (the common man, the ordinary citizen) ist in USA der Litmustest im kommunikativen Bereich; im Deutschen dagegen ist der gemeine Mann deutlich negativ konnotiert. Der gemeine Mann würde die Texte der Historiker nicht verstehen, oder sie würden ihn - den general reader - langweilen. An welcher deutschen Universität lernen Historiker leserfreundliches Schreiben? Dabei wäre es bitter nötig, fach- und sachkundig, mit professioneller Gewissenhaftigkeit, Ernsthaftigkeit und Sorgfalt sich der Mythen anzunehmen, die z.B. die vielen deutschen Nationsgründungsversuche begleitet haben. Dann würde man vielleicht, als Variation zur „Nibelungentreue" mit ihrem Gegensatz der Dolchstoßlegende auf den Mythos der feindlichen Brüder stoßen, der die deutsche Literatur seit Jahrhunderten als Dauerthema beschäftigt. Brudermord also auch hier, aber ohne die "reassurance" der amerikanischen Tradition. Ein Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung schloss die unerquickliche Debatte über den noch nicht erschienenen neuen Roman von Martin Walser, Tod eines Kritikers, im Juni 2002 mit einer vorsichtig geäußerten „These" ab. Seine These: Seit Martin Luther gibt es eine spezifisch deutsche Tradition der gnadenlos verletzenden Kontroverse, die den Gegner bis aufs Messer fertigmachen will; brutal, grob, ohne Rücksicht auf Verluste; eine Attacke, die erst mit dem „Tod des Kritikers" beendet ist. Sollte er Recht haben?

21 F. Weigend/B. M. Baumunk/T. Brune, Keine Ruhe im Kyffhäuser. Das Nachleben der Staufer. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, Stuttgart/Aalen 1978.

„Zechen auf fremde Kreide"? Philosophisch-theologische Überlegungen zur Angewiesenheit der historischen Vernunft auf die Sinnvorgaben des biblischen Monotheismus - Eine Rückfrage an Jan Assmann Georg Essen Einleitung Nach meiner spontanen Zusage, an dem von Jörn Riisen und Jens Schröter initiierten Forschungsprojekt teilzunehmen, stellten sich alsbald die ersten Ideen dazu ein, was ich eventuell beitragen könnte zum Gelingen unseres Symposions. Schon seit einigen Jahren arbeite ich zu dem Themenfeld „Neuzeitliche Geschichtsphilosophie und Historik" und bin interessiert an geschichtstheologischen Fragestellungen. Der Ansatz, der meinem interdisziplinären Brückenschlag zugrunde liegt, versteht sich als eine theologische Rezeption und Weiterfuhrung der von Hans Michael Baumgartner konzipierten „Transzendentalen Historik"'. Vor dem Hintergrund dieser vor allem programmatisch ausgerichteten Studien zu einer philosophisch-theologischen Theorie der Geschichte 2 wollte ich, das war meine Grundidee, im Ausgang

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Vgl. H.M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1972; ders., Thesen zur Grundlegung einer Transzendentalen Historik, in: ders./J. Rüsen (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik (stw 98), Frankfurt a.M. 2 1982, 274-302. Vgl. G. Essen, Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit (TSTP 9), Mainz 1995; ders., Geschichte als Sinnproblem. Zum Verhältnis von Theologie und Historik, ThPh 71 (1996), 321-333; ders., Geschichtstheologie: LThK 3 4 (1995), 564-568; ders., „Letztgültigkeit in geschichtlicher Kontingenz". Zu einem Grundlagenproblem der theologischen Hermeneutik, in: G. Larcher/K. Müller/Th. Pröpper (Hg.), Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubens Verantwortung, Regensburg 1996, 186-204; ders., „Posthistoire" als Herausforderung für die Theologie, Orientierung 62 (1998), 190-194; ders., „... es wackelt alles!" Modernes Geschichtsbewußtsein als Krisis katholischer Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Cristianesimo nella Storia 22 (2001), 565-604; ders., „Gewiss, wir brauchen die Historie...". Über Identität und Lebensglück - eine philosophisch-theologische Relecture „unzeitgemäßer Betrachtungen", in: K. Müller (Hg.), Natürlich: Nietzsche! Facetten einer antimetaphysischen Metaphysik (Forum Religionsphilosophie 1), Münster 2002, 72-99, ders., Storia, escatologia, teologia: Atlante del Christianesimo III. Diretto da G.Alberigo, G. Ruggieri, R. Rusconi, Torino 2005 (im Druck).

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von einer Theorie ursprünglicher Zeitlichkeit etwas sagen zu einer möglichen Angewiesenheit der historischen Vernunft auf die Sinnvorgaben der jüdischchristlichen Tradition. 3 Allein: Die aktuelle Brisanz einer Debatte, die seit einiger Zeit zum Teil heftig und in jedem Fall kontrovers geführt wird, hat mich zu der Überzeugung gebracht, den Themenschwerpunkt meines Referates zu verlagern und ziemlich direkt und unvermittelt auf diese laufenden Diskussionen zu reagieren. Ich meine das Phänomen, daß der Monotheismus der jüdisch-christlichen Tradition ganz generell und aus unterschiedlichen Gründen unter Verdacht geraten ist. Gänzlich neu ist diese Debatte natürlich nicht. Bereits vor ungefähr 25 Jahren machte Odo Marquards Essay über das „Lob des Polytheismus" die Runde, in dem dieser den totalitätskritischen Versuch unternahm, das Prinzip des Pluralismus an die Stelle aller „Monomythen" zu setzen und damit zugleich einen Monotheismus in die Schranken zu weisen, in dem die Gewalt des Einen über das Viele aufs Höchste gesteigert worden sei.4 Und schon seit geraumer Zeit lassen sich antimonotheistische Ressentiments in der Gegenwartsliteratur aufspüren; so vermutlich bei Martin Walser, in jedem Fall jedoch bei Michel Houellebecq. „Der Übergang zum Monotheismus", heißt es bei ihm, „ist absolut kein Abstraktionsversuch, wie manchmal behauptet wird, sondern nur ein Abgleiten in die Verdummung. [...] Ein einziger Gott! Was fur ein Unsinn! Was für ein unmenschlicher, mörderischer Unsinn! [...] ein blutrünstiger, eifersüchtiger Gott, der nie die Grenzen der Wüste Sinai hätte überschreiten dürfen. Wieviel tiefsinniger, menschlicher und weiser nur unsere ägyptische Religion war, wenn man mal darüber nachdenkt".5

Bevor ich auf Houellebecqs Anspielung auf „Ägypten" zu sprechen komme, will ich wenigstens kurz auf den anderen, ebenfalls von ihm genannten Aspekt eingehen - seine These nämlich, zwischen Monotheismus und Gewalt bestehe ein fundamentaler Zusammenhang. Der ideologiekritische Verdacht, der Konnex von biblischem Monotheismus und Intoleranz sei keineswegs

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Erste Überlegungen dazu liegen vor in Essen, Historie. Vgl. O. Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 91-116. M. Houellebecq, Plattform. Aus dem Franz. v. U. Wittmann, Köln 2002, 239; vgl. a.a.O., 237-240. Zur aktuellen Auseinandersetzung vgl. Th. Assheuer, Macht Euch die Erde Untertan. Nach dem Streit um Walser: Warum Schriftsteller die monotheistischen Religionen für die Sinnkrise verantwortlich machen. Ein zweiter Blick auf die Romane von Peter Handke und Michel Houellebecq: Die Zeit Nr. 30/2002; M. Walser, Lieber schön als wahr. Eine Rede über Hölderlin, Kierkegaard und DIE ZEIT, über Wörter der Macht und solche, die eine Begegnung mit dem Religiösen ermöglichen: DIE ZEIT Nr.4/2003; Th. Assheuer, Die Klone Gottes. In der aufgeklärten Republik verwandelt sich Religion in Esoterik. Das jüdisch-christliche Erbe ärgert viele immer noch. Warum nur?: DIE ZEIT Nr. 8/2003; J. Manemann (Hg.), Monotheismus (Jahrbuch Politische Theologie 4/2002), Münster u. a. 2003.

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historisch kontingent, sondern - im Gegenteil - struktureller Natur, ist zwar alles andere als neu und begegnet - zum Beispiel - bereits bei Schopenhauer.6 Aber die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben gewissermaßen als ein Katalysator für die Monotheismuskritik der Moderne gewirkt, die ihr Proprium in dem besagten Vorwurf einer inhärenten Gewalttätigkeit findet. 7 Allerdings will ich auf diese neuere Diskussion zum Monotheismus selbst nicht näher eingehen, sondern mich beschränken auf das 1998 erschienene Buch des in Heidelberg lehrenden Ägyptologen und Kulturanthropologen Jan Assmann, das den programmatischen Titel trägt „Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur".8 Es hat eine breite Debatte vor allem innerhalb der Theologie ausgelöst 9 und darf, so meine ich, ohne Zweifel als eine der

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Vgl. A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena (Sämtliche Werke 5, Kleine philosophische Schriften 2, Textkritisch bearb. u. hgg. v. W. v. Löhnesysen), Frankfurt a.M. 1986,422-424. Aus den monotheismuskritischen Wortmeldungen neuester Zeit zitiere ich allein den Philosophen Richard Dawkins, der auf die Geschehnisse des 11. September mit einem Artikel in "The Guardian" reagierte. Dieser Artikel mit der vielsagenden Überschrift: "Religion's Misguided Missiles" endet mit dem Satz: "To fill a world with religions, or religions of the Abrahamic kind, is like littering the streets with loaded guns. Do not be surprised if they are used". R. Dawkins, Religion's Misguided Missiles, The Guardian, Saturday Sept. 15, 2001 (www.guardian.co.uk). Den Hinweis auf das Dawkins-Zitat verdanke ich meinem ehemaligen Münsteraner Kollegen Klaus Müller. Vgl. K. Müller, Der Monotheismus im philosophischen Diskurs der Gegenwart, in: Th. Söding (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus (QD 196), Freiburg u. a. 2003, 176-213. Vgl. ferner H.- G. Stobbe, Monotheismus und Gewalt. Anmerkungen zu einigen Beispielen neuerer Religionskritik, in: Manemann (Hg.) Monotheismus, 166-180. Vgl. J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt a.M. 3 2001. Zur Diskussion vgl. unter anderem K. Koch, Monotheismus als Sündenbock?, ThLZ 124 (1999), 874-884; G. Kaiser, War der Exodus der Sündenfall? Fragen an Jan Assmann anläßlich seiner Monographie „Moses der Ägypter", ZThK 98 (2001), 1-24; R. Rendtorff, Ägypten und die „Mosaische Unterscheidung", in: D. Becker (Hg.), Mit dem Fremden leben. Perspektiven einer Theologie der Konvivenz. Theo Sundermeier zum 65. Geburtstag, Kunst - Hermeneutik - Ökumene 2 (MWF NF, 11/12), Erlangen 2000, 113-122; E. Zenger, Was ist der Preis des Monotheismus? Die heilsame Provokation von Jan Assmann, HerKorr 55 (2001), 186-191; R. Kessler, Die Ägyptenbilder der Hebräischen Bibel. Ein Beitrag zur neueren Monotheismusdebatte (SBS 197), Stuttgart 2000; Manemann (Hg.), Monotheismus, 133-163 (mit Beiträgen von A. Halbmayr, O. John, D. Schellong, E. Zenger); G. Essen, Ethisch monotheïsme en menselijke vrijheid. Theologische peilingen naar het pluralisme van de moderniteit. Inaugurale rede 9. Oktober 2002, Nijmegen 2003; ders., Ethischer Monotheismus und menschliche Freiheit. Philosophisch-theologische Anmerkungen zur aktuellen Monotheismuskritik - Rückfragen an Jan Assmann, in: J.-P. Wils (Hg.), Die Moral des Monotheismus, Paderborn u. a. 2004 [im Druck]. Erste Stellungnahmen von Assmann finden sich in J. Assmann, Die .Mosaische Unterscheidung' und die Frage der Intoleranz. Eine Klarstellung, in: R. Kloepfer, B. Dücker (Hg.), Kritik und Geschichte der Intoleranz, Heidelberg 2000, 185-194; ders., „Es bleibt die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion", FAZ ν. 28. 12. 2000, S. 54; ders., Monotheismus, in: Manemann (Hg.), Monotheismus, 122-132.

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fundiertesten Auseinandersetzungen mit dem biblischen Monotheismus gelten. Natürlich kann ich Assmanns Ansatz nicht in seiner gesamten Breite und Vielschichtigkeit darstellen - dazu fehlt mir bereits, da weder Ägyptologe noch Alttestamentler, die Kompetenz in der Sache. Doch da sich Assmann ebenso beherzt wie weit vorwagt auf genuin philosophisch-theologische Themenfelder, suche ich vornehmlich eine an systematischen Fragestellungen orientierte Auseinandersetzung mit seinen Überlegungen zum biblischen Monotheismus. Dabei konzentriere ich mich vor allem auf jene Traditionslinien, die Assmann im Gegenzug zu seiner Kritik am biblischen Monotheismus profiliert: auf den wohl ursprünglich in Ägypten beheimateten „AllEinheits-Monotheismus", der seine neuzeitliche Aktualität insbesondere der Spinozarenaissance der „Goethezeit" verdankt. Wichtig ist, daß ich in diesem Zusammenhang mein erkenntnisleitendes Interesse nochmals einschränken werde, um die Auseinandersetzung mit Jan Assmann zurückzubinden an Fragestellungen, die fur unser Kolloquium von zentraler Bedeutung sind. Und zwar will ich versuchen, aus philosophischer und theologischer Sicht die Konsequenzen zu benennen, die die von Assmann offenbar prätendierte Hinwendung zum sogenannten „Kosmotheismus" für den uns interessierenden Begriff der Geschichte hätte. Meine Grundoption will ich im Vorhinein offenlegen: Ich ziele auf den Zusammenhang zwischen Monotheismus und Geschichtsbegriff und versuche - wenigstens in Umrissen - die Grundthese zu erläutern, daß der biblische Monotheismus zu jenen religiös vermittelten Sinnvorgaben gehört, die für einen normativ gehaltvollen Begriff von Geschichte konstitutiv sein dürften. Ich gehe also davon aus, daß das mit der biblischen Gottesrede verbundene Verständnis des Menschen von sich und der Welt zu jenem Grundbestand von „Meta-Erzählungen" gehört, die die europäische Kultur insgesamt geprägt haben und zwar bis in ihr säkulares Selbstverständnis hinein. Zugleich dürfte nicht nur die „Spinozarenaissance" des 18. Jahrhunderts, sondern auch ihr gelegentliches Wiederaufleben im weiteren Diskurs der Moderne vornehmlich für ein Krisenbewußtsein stehen, das die orientierende Kraft dieser „Meta-Erzählung" in Frage stellt, um die dem Monotheismus (möglicherweise) inhärenten Ideologien auf die Schliche zu kommen und - vor allem - neue Modi der Sinnbildung zu erproben. Ich werde den Weg einschlagen, zunächst mit einer Nachzeichnung von Assmanns Thesen zum biblischen Monotheismus zu beginnen. Anschließend werde ich den systematischen Gehalt seines Versuches, die europäische Geistesgeschichte „von Ägypten her" zu durchleuchten und zu kritisieren, herausarbeiten und mich in diesem Zusammenhang vor allem auf das Gegenangebot des „Kosmotheismus" konzentrieren. In einem letzten Schritt werde ich schließlich die geschichtsphilosophischen Konsequenzen, die sich mit diesem Programm verbinden, benennen und diskutieren.

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1.

Die Entdeckung des biblischen Monotheismus, die die jüdisch-christliche Tradition mit der Figur des Moses verbindet, führt, folgen wir Assmann, zu Konsequenzen, die schlicht desaströs sein sollen:10 Der jüdische Gottesglaube etabliere sich als „Gegenreligion", die auf einem Prinzip basiere, das Assmann die „Mosaische Unterscheidung" nennt. Dieser Begriff kennzeichnet einen Religionstyp, der darin revolutionär sein soll, daß er in die Welt der Religionen und Kulturen die Unterscheidung von „wahr" und „falsch" allererst eingeführt habe. Diese Differenz habe, so Assmann, nicht nur eine Welt konstruiert, die voller Bedeutung, Identität und Orientierung ist, sondern - darauf kommt es ihm an - „voller Konflikt, Intoleranz und Gewalt" (17). Das mit diesem Monotheismus verbundene Problem bestehe nicht allein darin, daß ,jede Ausbildung von Identität ganz unausweichlich mit der Konstruktion von Fremdheit einhergeht" (18). Nein, der Ansatzpunkt der Kritik ist fur Assmann ein anderer: Der biblische Monotheismus kenne, anders als der antike Polytheismus, keine „Techniken der Übersetzung", die die kulturellen und religiösen Unterscheidungen durchlässiger oder doch zumindest transparenter machen würden. Darin nämlich sieht Assmann die Kulturleistung des antiken Polytheismus:11 Dieser kenne kosmische Gottheiten, die in den verschiedenen Religionen unter jeweils anderen Namen verehrt würden und zwar so, daß die kosmischen Aspekte und Funktionen jeweils unstrittig blieben. „Der Sonnengott der einen Religion ließ sich leicht dem Sonnengott der anderen Religion gleichsetzen, und so weiter." Daß sich aufgrund dieser funktionalen Äquivalenz die Götternamen verschiedener Religionen übersetzen ließen, führe zu einer ,,gegenseitige[n] Übersetzbarkeit der polytheistischen Gottheiten" und stelle eine „große kulturelle Leistung" dar. (19): Die Gottheiten waren „international, weil sie kosmisch waren". Darum auch wurde, immer noch Assmann, in polytheistischen Religionen die Wirklichkeit fremder Götter von niemandem bestritten; „den antiken Polytheismen war der Begriff einer unwahren Religion vollkommen fremd" (19). Anders hingegen, so Assmann, der Monotheismus, den das Judentum und Christentum mit dem Namen Moses verbindet: Ihm fehle eine toleranz-

10 Zum folgenden vgl. Assmann, Moses (Die nachstehend im Text genannten Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch). Vgl. femer J. Assmann, Monotheismus und Kosmotheismus. Ägyptische Formen eines „Denken des Einen" und ihre europäische Rezeptionsgeschichte. Vorgetragen am 24. April 1993 (SHAW.PH, 1993/2), Heidelberg 1993; ders., Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München u. a. 2000 (bes. 247-280). Zu dem von Assmann vertretenen Konzept der „Gedächtnisgeschichte" vgl. ders., Moses, 17-43 passim; ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000; ders./T. Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis (stw 724), Frankfurt a.M. 1998. 11 Vgl. Assmann, Moses, 73-82, s. u.

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ermöglichende Technik der Übersetzung, weil das Bekenntnis zu Jahwe als dem einen und einzigen Gott unmittelbar den kosmisch orientierten Polytheismus zur ausgegrenzten Unwahrheit erklärt. Aber warum setzt sich der biblische Monotheismus als „Gegenreligion" durch? Dies hat mit seiner Eigentümlichkeit zu tun, ein „revolutionärer" Offenbarungsmonotheismus zu sein. Wo nämlich der eine welttranszendente Gott sich offenbart, verweist er andere Gottheiten „in das Außen der ihm geltenden Religion, d. h. der von ihm geschaffenen Welt und geoffenbarten Wahrheit". 12 Überdies gebe es keinen „evolutionären" oder „natürlichen" Weg von der Unwahrheit zum Wahrheitsanspruch des Monotheismus. 13 Dieser „kann nur von außen kommen, durch Offenbarung" (24). Sein Exklusivismus aber zeitige wiederum Folgen im Raum der Geschichte, sofern nämlich unter Berufung auf sie die ihr inhärente antagonistische Konstellation identitätsbildend werde (vgl. 24f). Der biblische Monotheismus ist darin exklusiv und folglich ausgrenzend, weil - dafür steht denn auch „Moses als Erinnerungsfigur" - der eine und wahre Gott ein Volk erwählt und Menschen an sich bindet, die „aus der Welt des Bestehenden in eine neue Welt kompromißloser Unmittelbarkeit" ausziehen, in der sich „Gottes Wille kompromißlos verwirklicht" 14 . In dieser Konsequenz bekenne sich der biblische Monotheismus ja auch zu einem „eifersüchtigen" Gott, der, so Assmann, Liebe fordert „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft" (268). Jahwe bindet nicht nur den einzelnen Menschen exklusiv an sich, sondern erwählt sich ein Volk und stiftet eine neue Gesellschaftsordnung. Der biblische Monotheismus ist eine Konstruktion kultureller Fremdheit und Konfrontation: Wer sich zum wahren Gott bekennt, bestreitet die Wirklichkeit fremder Götter sowie die Legitimität fremder Formen ihrer Verehrung. 15 Diese Konstruktion des ausgegrenzten Anderen finde ihren Nieder12 Vgl. Assmann, Monotheismus, 47. 13 Zur Unterscheidung von revolutionärem und evolutionärem Monotheismus s. u. 14 Assmann, Herrschaft, 261 f. Die Gegenfigur zur biblischen Tradition ist die mit der ägyptischen Bilderverehrung verbundene Vorstellung von einer Gegenwart der göttlichen Herrschaft und Gerechtigkeit als Repräsentation und durch Repräsentanten. Diese Vorstellung von einer politischen Ordnung, in der das Göttliche auf eine durch Bilder vermittelte Weise präsent ist, werde jedoch vom Ikonoklasmus des biblischen Monotheismus aufs Schärfste zurückgewiesen. Vgl. a.a.O., 247-264. 15 Die dem biblischen Monotheismus zugrundeliegende „Mosaische Unterscheidung" fuhrt Assmann auf den „biblischen Moses" zurück. Damit ist jene „Figur der Erinnerung" gemeint, die die „Konfrontation und den Antagonismus zwischen Israel/Wahrheit und Ägypten/Unwahrheit" verkörpere (Assmann, Moses, 29; vgl. a.a.O., 29f.). Wichtig ist, daß Assmann das Problem der historischen Existenz des Moses einklammert und ausschließlich nach der Funktion fragt, die biblische und außerbiblische Überlieferungen mit Moses verbinden. Assmanns Interesse an „Moses" konzentriert sich auf ihn als eine Erinnerungsfigur. Diese wiederum ist von Bedeutung fur jene „Gedächtnisgeschichte", ohne die die Ausbildung religiöser und kultureller Identitäten nicht denkbar wäre. Allerdings - das ist für Assmann entscheidend - muß die Erinnerung keineswegs allein dem „biblischen Moses" gelten. Das Ziel, die Gedächtnisgeschichte zu rekonstruieren,

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schlag in jener „großen Erzählung", die für die biblische Tradition grundlegend sei wie keine andere: der, wie Assmann ihn nennt, „Exodus-Mythos", in dem diese antagonistische Konstellation ihren adäquaten Ausdruck gefunden habe (vgl. 20f). Die Exodus-Erzählung prätendiere eine kulturelle Konfrontation und Ausgrenzung, weil in ihr „Ägypten" zu dem Grundsymbol der Mosaischen Unterscheidung schlechthin geworden sei: Ägypten werde zum Gegenbild Israels stilisiert, zum Ort der Finsternis und der Lüge. „Ägypten" ist „Inbegriff der Unwahrheit", was sich in der Optik der Exodus-Erzählung sowohl in seinem Polytheismus manifestiert als auch in seiner Praxis der Idolatrie im Sinne von Welt-Vergötzung. Von beiden Kernelementen ägyptischer Religiosität grenzt sich die Identitätskonstruktion scharf ab, die sich in der Exodus-Erzählung artikuliert: „1. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. 2. Du sollst dir kein Bildnis machen" (21). Weil, mit anderen Worten, der Mosaische Monotheismus zu seiner Selbstdefinition ein Feindbild braucht, blockiere er jede interkulturelle Übersetzbarkeit, lebe statt dessen von der Unterscheidung von Freund und Feind und bereite so den Boden für ein Haß- und Gewaltpotential, das in der Erzählung vom Goldenen Kalb, der biblischen Urszene des monotheistischen Ikonoklasmus, aber auch des Theoklasmus schlechthin, explodiere. 16 Dies alles aber kann Assmann zufolge keineswegs auf „einige historische Ereignisse in der späten Bronzezeit" reduziert werden, sondern ist wirkmächtig bis heute. Denn überall dort, wo, wie zum Beispiel im Judentum wie im Christentum, der Exodus des auserwählten Volkes aus Ägypten erinnert und erzählt werde, komme es fortlaufend zu jener Ausbildung und Reproduktion kultureller Identität durch Abgrenzung und Ausgrenzung, von der gerade die Rede war. Ja, die semantische Dynamik, die dieser Konstruktion des ausgegrenzten Anderen innewohnt, lebe auch dort noch, wo ihre religiöse Prägung längst vergessen worden sei. Bei dem Raum, der durch die Mosaische Unterscheidung „getrennt oder gespalten" werde, handelt es sich um jenen geistigen oder kulturellen Raum, der „von Europäern nunmehr seit fast zwei Jahrtausenden bewohnt wird" (18).

kann vielmehr ausdrücklich auch die Gestalt einer „Gegen-" beziehungsweise „dekonstruktiven Erinnerung" annehmen. Genau das aber liegt denn auch im Gefalle der Publikationen Assmanns zur Figur des Moses: Neben und abseits der mehr oder weniger offiziösen Präsenz des biblischen Moses im kulturellen Gedächtnis der Menschheit finden sich nämlich Versuche, „Moses" nach Ägypten heimzuholen beziehungsweise ihn „von Ägypten aus" zu verstehen. Hier soll der Name und der Begriff „Moses" dazu dienen, die „Mosaische Unterscheidung und den durch diese Unterscheidung konstruierten Raum zum Einsturz [zu] bringen" (a.a.O., 26). Diese Studie, so der programmatische Anspruch des Buches „Moses der Ägypter", nimmt sich vor, „die Geschichte einer europäischen Erinnerung Ägyptens zu untersuchen, insbesondere in der zweiten Form [sc. der dekonstruktiven Erinnerung; G. E.], in der die Erinnerung an Ägypten für die Aufhebung der Mosaischen Unterscheidung zum Tragen gebracht wird" (ebd.). 16 Vgl. Assmann, Moses, 268-270; ders., Herrschaft, 257-260.

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Darin besteht auch die fundamentale Behauptung von Jan Assmann: Die „Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, die die monotheistische Religion, und nur sie, kennzeichnet", steht an der Wurzel jener „politischen Theologie der Gewalt", die sich neben dem Islam auch das Christentum auf die Fahnen geschrieben habe.17 Diese Differenz bilde den semantischen Rahmen jener politischen Theologie, die auf der Basis der Unterscheidung von Freund und Feind beruht. In dieser gefahrlichen „Tradition offenbarungstheologischer Gewalt" aber sieht Assmann schließlich auch die politische Theologie von Carl Schmitt}* Im Blick auf dieses „politische Problem" des Monotheismus ist das Urteil Assmanns klar und eindeutig: Die Unterscheidung, die dem Monotheismus zugrunde liegt, habe soviel Unheil und Gewalt in die Welt gebracht, daß sie endlich rückgängig gemacht und überwunden werden müsse. Der Preis, den die Menschheitsgeschichte bislang dafür bezahlen mußte, sei zu hoch...

2.

Hier nun in der gebotenen Kürze der Ausweg, den Assmann uns anbieten will 19 : Nur auf den ersten Blick hat es - erstens - den Anschein, als ob auch Assmann das postmoderne „Lob des Polytheismus" anstimmen will. Doch der Schein trügt! Es ist nicht die Vielzahl der Götter und der mit ihnen verbundenen Geschichten, die Assmann zufolge bereits das dem Monotheismus inhärente Gewaltpotential in die Schranken weist durch eine „Gewaltenteilung im Absoluten" (Odo Marquard)20. Die toleranzermöglichende Kultur17 Seine These zur „Mosaischen Unterscheidung" präzisierend spricht Assmann davon, daß das Judentum diese Unterscheidung „verinnerlicht" habe - die Unterscheidung von Freund und Feind also gewissermaßen gegen sich selbst projiziert habe - und sozialgeschichtlich betrachtet den „Weg der Selbstausgrenzung" wählte. Anders hingegen der Islam und das Christentum, die diesen prinzipiellen Antagonismus nach außen getragen und den „Weg der Fremdausgrenzung" beschritten hätten. Vgl. Assmann, Unterscheidung, 186; ders., Herrschaft, 2 6 3 Í 18 Vgl. Assmann, Herrschaft, 15-71, 257-264. 19 Die folgenden Ausführungen verzichten darauf, das von Assmann aufbereitete religionsund philosophiegeschichtliche Material zum „Kosmotheismus" ihrerseits zu rekonstruieren. Sie beabsichtigen stattdessen, den systematischen Gehalt dieser historischen Studien zu benennen und zuzuspitzen. 20 Assmann weist vielmehr daraufhin, daß die Affirmation einer unhintergehbaren Vielheit keineswegs den Fluchtpunkt antik-religiöser Polytheismen bildet und umgekehrt die Zurückweisung von „Einheit" ausdrücklich nicht ihr Spezifikum ausmacht (vgl. Assmann, Monotheismus, 6f.). Und ebenso zielt Assmanns Kritik an der Mosaischen Unterscheidung von „wahr" und „unwahr" nicht auf einen postmodernen Wahrheitsindifferentismus. „Wenn es", so Assmann, in dieser Debatte zur „ägyptischen" Annäherung an den Monotheismus, „um die Aufhebung der Mosaischen Unterscheidung ging und geht, dann

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technik der Übersetzung, die der Polytheismus beherrschen soll, resultiert vielmehr aus der grundlegenden Bedeutung, die polytheistische Religionen dem Kosmos zusprechen. Weil sie „Religionen der Weltbeheimatung und Weltinganghaltung" sind, werden sie von Assmann mit dem Begriff des Kosmotheismus gekennzeichnet. 21 Entscheidend ist, daß dieser Begriff getragen wird von der „Idee eines funktional differenzierten und göttlich beseelten Kosmos, in dem die Menschheit ihren Platz findet und behauptet" (82). Das polytheistische Weltbild deutet die „Welt als göttlich und gestaltet die Göttlichkeit der Welt als das Zusammenwirken vieler, differenzierter Gottheiten" 22 . Bezogen auf den Kosmos als Referenzpunkt unterschiedlicher Götternamen lassen sich dann in der Tat funktionale Äquivalenzen dieser Namen in den verschiedenen Religionen prinzipiell übersetzen. Vor diesem Hintergrund wird schließlich auch deutlich, daß fur den Kosmotheismus die Frage nach der Einheit oder der Vielheit des Göttlichen grundsätzlich nicht das entscheidende Problem ist, weil er den Gegensatz von Mono- und Polytheismus „religionsintern" zu vermitteln weiß. 23 Denn „hinter" den Götternamen „stehen immer dieselben kosmischen Phänomene", die ihrerseits nicht strittig sind (81). Auf diese „natürliche Identität jenseits aller kulturellen Differenzen" kommt es Assmann an, weil sie die „gegenseitige Übersetzbarkeit der polytheistischen Gottheiten" (19) garantiert. In dieser Konsequenz ist es deshalb durchaus folgerichtig, kulturelle und ethnische Differenzen als „bloße Oberflächenphänomene" zu durchschauen, die den Tiefengrund der universalen religiösen Wahrheit nicht treffen können. Diese beruhe nämlich auf „natürlicher Evidenz, d. h. auf dem Bezug auf Erfahrungen, die allen Menschen zugänglich waren" (81).

nicht auf Kosten der Wahrheit, sondern auf Kosten ihrer ausgrenzenden und exklusiven Definition" (Assmann, Moses, 280). 21 Assmann, Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München 2 1995, 59. Lediglich hinweisen kann ich an dieser Stelle auf den die gesamte Argumentation Assmanns durchziehenden Vergleich zwischen Echnatons kosmotheistischem Monotheismus der Sonne einerseits und dem biblischen Monotheismus eines strikt welttranszendenten Gottes andererseits. Beide stimmen, diese Andeutungen müssen genügen, darin überein, daß sie sich als revolutionärer Offenbarungsmonotheismus deuten lassen und ihnen eine antipolytheistische Dynamik inhärent ist. Und worin unterscheiden sie sich? „Echnatons Monotheismus ist kosmologisch, eine religiös interpretierte Naturphilosophie. Der biblische Monotheismus ist historisch, politisch und moralisch, er findet seinen zentralen Ausdruck in Geschichtserzählung, Gesetzgebung und Verfassung." Assmann behauptet ausdrücklich keinen ursächlichen oder thematischen Konnex zwischen „Echnaton" und „Moses" und rekonstruiert auch keine „historisch" verifizierbaren Traditionslinien. Daß beide als „Erinnerungsfiguren" miteinander in Verbindung gebracht und gelegentlich auch identifiziert worden sind, ist für Assmann allein von gedächtnisgeschichtlicher Bedeutung. Assmann, Monotheismus, 35. Vgl. ders., Moses, 4787. 22 Assmann, Monotheismus, 36. 23 Vgl. Assmann, Monotheismus, 46.

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Was bereits angedeutet wurde, soll - zweitens - noch eigens herausgestellt werden: Der Kosmotheismus basiert auf einem Weltverständnis, das von der „Göttlichkeit der Welt überzeugt ist. Diese „Göttlichkeit der Welt" aber fuhrt der Kosmotheismus zurück auf die „Weltlichkeit des Göttlichen",24 In dieser kosmotheistischen Identifikation von Welt und Göttlichem sehe ich den systematisch zentralen und, wie ich finde, eigentlich brisanten Kern von Assmanns Thesen. Warum das so ist, wird schlagartig deutlich im Blick auf die atemberaubende Neuinterpretation des Tetragramms von Ex 3, 14 durch die gerade erwähnte kosmotheistische Tradition. 5 In Ex 3, 14 heißt es: „Ich bin der Ich-bin-da". Wie immer nun diese Textstelle im einzelnen exegetisch zu erschließen sein dürfte, unbestritten ist die Auslegung, die Assmann selbst ihr gibt: „Ich bin, der ich bin" sagt ein Gott, der auf nichts außerhalb seiner verweist und verweisen muß, um von sich sagen zu können, er sei - als die von Welt und Mensch schlechthin verschiedene Wirklichkeit - in Wahrheit Gott. 26 Diese Selbstbezeichnung Jahwes „Ich bin der Ich-bin-da" hat nun, wie Assmann aufdecken kann, in der Religionsgeschichte eine („ägyptohellenistische") Interpretation im kosmotheistischen Sinne erfahren. Diese Interpretation kann bis auf Plutarch und Proklus zurückgeführt werden und gewinnt in der Philosophie der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts zum Beispiel bei Gotthold Ephraim Lessing und Karl Leonhard Reinhold eine ungeheure Aktualität, ebenso wie auch in der Ästhetik etwa bei Schiller und Beethoven,27 Die kosmotheistische Wiedergabe von Ex 3, 14 lautet: „Ich bin alles, was ist, war und sein wird; kein Sterblicher hat jemals meinen Mantel gelüftet". 28

24 Assmann, Stein, 59. Für den Kosmotheismus ist weniger die Frage nach der Einheit oder der Vielheit des Göttlichen das entscheidende Problem, als vielmehr die nach der Weltlichkeit oder aber Außerweltlichkeit des Göttlichen. Vgl. ebd. 25 Zum folgenden vgl. Assmann, Moses, 173-205 passim; ders., Monotheismus. 26 Vgl. Assmann, Monotheismus, 12f. Ex 3, 14 entziehe allen kosmischen Identifikationen den Boden und sei geradezu „die Verweigerung, die Negation solcher kosmischen Immanenz". A.a.O., 13; vgl. ders., Unterscheidung, 191. 27 Ich folge an dieser Stelle ausdrücklich nicht Jan Assmann auf seinen weiten Wegen, um die Tradition des „Kosmotheismus" bis auf die ägyptische Religion zurückzuführen, und übergehe ebenso seine Versuche, die meist verborgene Präsenz des Kosmotheismus in der Religionsgeschichte aufzuspüren. Zu Einzelbelegen vgl. Assmann, Moses, 88-242; ders., Herrschaft, 265-280. 28 Diese Formel geht, wie Assmann überzeugend nachweisen kann, ursprünglich auf Ägypten zurück und ist das epochale Erbe, das die Welt Ägypten verdankt. Zu Einzelbelegen, die die verschlungenen Wege rekonstruieren, auf denen diese offenbar von Plutarch stammende Version der Inschrift auf dem Tempel zu Sais die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts erreichte, vgl. Assmann, Moses, 118-210. Die Interpretation des biblischen Namens „Jahwe" im Lichte des Kosmotheismus scheint vor allem, wie Assmann ausfuhrt, das Werk Reinholds gewesen zu sein, wobei dieser allerdings Glied einer langen, bis in die Antike zurückreichenden Traditionskette sein dürfte. Vgl. a.a.O., 173-186; ders., Monotheismus, 12f.

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Dieser Ausspruch bringt - drittens - die Grundintention des Kosmotheismus sehr deutlich zum Ausdruck: Er hat nicht lediglich die „Einheit der Welt bzw. des Seienden" im Blick, die er auf die „Einzigkeit ihres Ursprungs" beziehungsweise auf das „Prinzip ihrer Inganghaltung" zurückfuhren will. Sondern indem der Kosmotheismus mit der „Weltlichkeit des Göttlichen" in eins die „Göttlichkeit der Welt" behauptet, bestreitet er prinzipiell, was für den biblischen Monotheismus die fundamentale Differenz ausmacht: daß nämlich Gott eine von Mensch und Welt schlechthin verschiedene Wirklichkeit ist.29 Die Wiedergabe des biblischen „Ich bin, der Ich-bin-da" durch das (ägypto-hellenistische) „Ich bin alles, was ist" behauptet die Identität des Göttlichen mit dem Kosmos. Darum auch ist der Kosmotheismus dem Grund nach kein Poly-, sondern ein Monotheismus, genauer: ein All-Einheits-Monotheismus, der den einen Gott mit dem einen Kosmos identifiziert: Es ist der Eine Gott, der Alles ist.30 Dieser Grundgedanke erfährt seine Näherbestimmung durch die These, daß für den Kosmotheismus die Frage nach der Weltlichkeit oder aber Außerweltlichkeit des Göttlichen die alles entscheidende Frage ist und er diese Frage eindeutig zu beantworten weiß und zwar folgendermaßen: Das absolut Eine als eines ist zugleich alles in dem Sinne, als wäre alles in einem. In dieser Konsequenz läuft dieser All-Einheits-Monotheismus schließlich auf die Grundformel des Pantheismus zu: „En kai pan" - „Eines und Alles" oder das „All-Eine". Darum ist es auch nur konsequent, daß Assmanns „dekonstruktive Erinnerung" an den Kosmotheismus ausdrücklich den Anschluß sucht an den Spinozismus der Goethezeit und zugleich an jene Renaissance der Spinozarenaissance, die wir heute (wieder) beobachten können.31 Der (Wieder-)Anschluß an Spinozas „berühmt-berüchtigte Formel deus sive natura" (26) wird von Assmann - viertens - mit einem systematischen Anspruch versehen, der die eigentliche Stoßrichtung seiner „dekonstruktiven Erinnerung" an die Figur des Moses deutlich macht: Sobald die Umbesetzung vom biblischen Monotheismus zum Kosmotheismus stattgefunden habe und

29 Vgl. Assmann, Monotheismus, 11, 26f.; ders., Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München 2 1995, 59. 30 Ein Monotheismus, der auf dem Postulat der All-Einheit beruhe, lasse sich von der Einsicht leiten, „daß alle Götter im letzten Grunde eins sind, Erscheinungsformen einer einzigen allumfassenden Gottheit" (Assmann, Monotheismus, 46). Obwohl Assmann durchaus in Erwägung zieht, den Monotheismusbegriff zur Kennzeichnung des spezifisch kosmotheistischen „Denkens des Einen" fallen zu lassen, verwendet er ihn gleichwohl für das All-Einheits-Denken. Denn in der Tat bestreitet auch das Postulat der AllEinheit keineswegs die Einheit und Einzigkeit der allumfassenden Gottheit (vgl. a.a.O., 12. 46f.). 31 „Das kai der griechischen Formel [sc. „hen kai pan"; G. E.] hat dieselbe Bedeutung wie Spinozas sive. Es läuft nicht auf eine Addition, sondern auf eine Gleichsetzung hinaus. Die in der Antike weithin häufigste Version ist Hen to pan .Alles ist Eines', die Welt ist Gott. Nichts anderes bedeutet .Kosmotheismus'." Assmann, Moses, 209; vgl. a.a.O., 28, 173-210.

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die fundamentalste aller Unterscheidungen - die zwischen Gott und Welt zerstört sei, verschwinde unmittelbar die Mosaische Unterscheidung, die die Welt zerspalten und zerrissen habe (vgl. 26). Die „Weltlichkeit des Göttlichen" fuhrt zu der Einsicht, daß das Göttliche im Medium der Kosmosverehrung der allgemeinen Erfahrung zugänglich wird und somit die Kundgabe des Göttlichen der natürlichen Evidenz überantwortet ist. Also wird die „Wahrheit" zur Sache des allen zugänglichen „Wissens" und ist keineswegs gebunden an ihr Offenbarwerden. Damit aber unterläuft der Kosmotheismus den fur den monotheistischen Offenbarungsanspruch konstitutiven Exklusivismus 32 : Zum einen bindet der als „All-Eine" verstandene Gott keine Menschen und kein ausgewähltes Volk exklusiv an sich und provoziert folglich nicht die von ihm legitimierte Durchsetzung seiner „eifersüchtigen" Bundesverpflichtung in den sozial-kulturellen Lebensbereichen von Menschen. 33 Zum anderen aber verschwindet dort, wo Wahrheit nicht geoffenbart wird, sondern evident ist qua Hinwendung zum Kosmos, die Unterscheidung von „wahr" und „falsch". Weil es, mit anderen Worten, im Horizont des Kosmotheismus nichts Göttliches gibt, was prinzipiell unvereinbar wäre mit dem, was der allgemeinmenschlichen Erfahrung immer schon erschlossen ist, ist die Mosaische Unterscheidung im Sinne einer antagonistischen Konstellation, in der die „Unwahrheit in schärfster Weise zum Gegenstand der Ausgrenzung und Verfolgung" (268) gemacht wird, überwunden. Die Freund-Feind-Unterscheidung im Sinne von Carl Schmitt wäre aufgehoben! Wo die theologische Differenz zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen Gott und Götzen verschwindet, soll zugleich jener politischen Theologie der Boden entzogen sein, der diese Unterscheidung als theologische Basis dient. 34 Fünftens will der Kosmotheismus uns einladen, die biblische „Semantik der Sünde" hinter uns zu lassen (281). 35 Das stets von einem „schlechten Gewissen" flankierte „Bewußtsein der Sünde", dem seinerseits die „Sehnsucht nach Erlösung" entspringt, gehört, folgen wir Assmann, „vielleicht" zu dem ,,wichtigste[n] Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stel-

32 S . o . 33 Assmann erinnert in diesem Zusammenhang auch an die deus-otiosus-Vorstellung, die dem Höchsten Wesen die Rolle der müßigen Weitabgewandtheit zuweist. Ein solcher Gott - so die Sinnspitze - kümmert sich nicht um die Belange der Menschen und mischt sich in ihre Geschicke nicht ein. Die Vorstellung des deus otiosus unterscheidet sich folglich vom Jahwe der biblischen Überlieferung fundamental. Dieser wird nämlich als ein geschichtlich handelnder Akteur vorgestellt, der seine Herrschaft unmittelbar selbst ausübt. Im Gegensatz zu Jahwe fordert ein deus otiosus niemanden dazu auf, aus der „Welt des Bestehenden" auszuziehen in eine „neue Welt kompromißloser Unmittelbarkeit". Vgl. Assmann, Monotheismus, 46f. Anm. 114; Assmann, Herrschaft, 260 (Die Zitate, a.a.O., 261 f., beziehen sich auf den biblischen Monotheismus). 34 Vgl. Assmann, Herrschaft, 257-264. 35 Zum folgenden vgl. Assmann, Moses, 277-282, s. o.

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len" (282) 36 . Was aber soll an die Stelle des Sündenbewußtseins treten? Assmann empfiehlt den ,,moralische[n] Optimismus" des Kosmotheismus, weil dieser nicht auf „schlechtem Gewissen" gründe, sondern „auf dem Bewußtsein einer Versöhntheit mit Gott und Welt zugleich" (281).

3.

Daß ich meine kritischen Anmerkungen ausschließlich auf die Auswirkungen zulaufen lasse, die die Wiederentdeckung der „ägyptischen" Wahrheit auf den Begriff der Geschichte hat, bedarf insofern einer Erläuterung, als Assmann auf den Konnex von biblischem Monotheismus und Geschichtsdenken nicht näher eingeht. Seine Gedächtnisgeschichte beschränkt sich vielmehr darauf, jene Seitenlinie eines kosmotheistischen Monotheismus zu profilieren, die aufgrund ihres Vermittlungs- und Versöhnungsdenkens die Möglichkeit einer transreligiösen „Übersetzung" zu eröffnen scheint; seine Studien loten die Chancen aus, den Kosmotheismus als einen Beitrag zu einer Hermeneutik des interreligiösen Dialoges begreifen zu können. 37 Allein: Die Zurückweisung des biblischen Monotheismus im Namen der „ägyptischen" Wahrheit38 hat Implikationen, die von Assmann zwar nicht 36 „Von Ägypten aus betrachtet sieht es so aus, als sei mit der Mosaischen Unterscheidung die Sünde in die Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen. Wer Gott in Ägypten entdeckt, hebt diese Unterscheidung auf." Assmann, Moses, 282. 37 Zur Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl. Essen, monotheïsme; ders., Monotheismus. 38 Assmann trägt seine „dekonstruktive Erinnerung" durchaus mit dem emphatischen Anspruch einer „weltbürgerlichen Öffnung durch Entgrenzung" vor (Assmann, Moses, 26). Um so mehr erstaunt allerdings, daß er in einer ersten Replik auf Kritiker seiner Thesen darauf hinweist, daß seine Überlegungen „ohne jede systematisch-theologische Relevanz" seien (Assmann, Die „Mosaische Unterscheidung", 188). Diese Selbstbeschränkung steht freilich, so meine ich, im Widerspruch zur Tradition jener „dekonstruktiven Erinnerung", in die Assmann seine eigenen Arbeiten zum biblischen Monotheismus ausdrücklich stellt. Diese Form der Erinnerung aber ist alles andere als interesselos, weil und sofern sie erstens ideologiekritisch ist gegenüber dem Deutungsmonopol dominanter Traditionen und in der Freilegung verdrängter Optionen zweitens das zur Geltung bringen will, was von der Kritischen Theorie einst „gefährliche Erinnerung" genannt wurde. Nimmt man noch hinzu, daß die Aufdeckung der mit dem Namen „Moses" verbundenen Gedächtnisgeschichte explizit auf Fragen kultureller Identität der Gegenwart bezogen wird, dürfte Assmanns Versuch, den Kosmotheismus auf das brisante Themenfeld „Religion und Gewalt" zu beziehen, keineswegs so interesselos sein, wie die gerade geäußerte Bemerkung zu insinuieren scheint. Wie dem auch sei! Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich vornehmlich so, daß sie den „Kosmotheismus" als die gewissermaßen idealtypische Alternative zum biblischen Monotheismus ernstnehmen und befragen wollen; sie prüfen, mit anderen Worten, den systematischen Anspruch des Gegenentwurfes, der eben auch dort noch Geltung fur sich beansprucht, wo er im Gewände einer Gedächtnisgeschichte daherkommt.

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weiter verfolgt werden und gleichwohl, so meine ich, bedacht sein wollen. Dabei geht es um den Anspruch des Denkens auf Kohärenz, der unter anderem darin liegt, die sachliche Interferenz aller jeweils hereinspielenden Themen und Aspekte nicht auszublenden. Die Fokussierung auf einen einzelnen Gesichtspunkt darf, darauf will ich hinaus, ausdrücklich nicht darauf verzichten, Einzelfragen auf der Basis der grundlegenden Bestimmungen im umfassenden Kontext zu erörtern. Dies gilt bei der Hinwendung zur Tradition des biblischen Monotheismus um so mehr, als es sich bei ihm um einen der geschichtlichen Grundbegriffe handeln dürfte, der zum Bestimmungsgrund eines fundamentalen Verständnisses (zumindest) des europäischen Menschen von sich und seiner Welt im Ganzen geworden ist. Das gilt mit Sicherheit für das abendländische Subjekt- und Freiheitsdenken 39 und eben auch, so meine These, für den Begriff der Geschichte. Folglich ist die Frage keineswegs nebensächlich, welche Konsequenzen die von Assmann geforderte Revision des mit dem biblischen Monotheismus verbundenen Menschen- und Weltbildes auf Themenfelder hat, die Assmann nicht eigens in den Blick nimmt. Und da es sich - erkenntnistheoretisch betrachtet - allemal so verhält, daß mit einem Wechsel der Denkform auch das in ihr jeweils Gedachte sich ändert, steht zur Prüfung an, ob der von Assmann profilierte Begriff eines kosmotheistischen Monotheismus sich überhaupt als geeignet erweist, dem uns vertrauten Geschichtsdenken im Sinne einer Sinnbildungsleistung in praktischer Absicht zu entsprechen. 40 Daß ich mit dieser Vermutung nicht falsch liegen dürfte, bestätigt Assmanns Gang durch die Gedächtnisgeschichte. In ihr bezieht er die europäische Präsenz „ägyptischer Wahrheiten" vor allem auf die Spinozarenaissance der Frühromantik und Goethezeit. Schlüsselfiguren sind für ihn einerseits Karl Leonhard Reinhold, der unter dem Schlagwort „Jehovah sive Isis" den kosmotheistischen mit dem biblischen Monotheismus identifizierte, und andererseits Friedrich Heinrich Jacobi, der mit der Enthüllung von Lessings

39 „Philosophisch gesehen", so schreibt völlig zu recht Jürgen Habermas, „ist im Ersten Gebot der folgenreiche kognitive Schub der Achsenzeit festgehalten, nämlich die Emanzipation von der Kette der Geschlechter und von der Willkür der mythischen Mächte. Damals haben die großen Weltreligionen - mit der Ausbildung von monotheistischen oder akosmischen Begriffen des Absoluten - durch die gleichmäßig glatte Fläche der narrativ verknüpften kontingenten Erscheinungen hindurchgegriffen und jene Kluft zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur, zwischen Wesen und Erscheinung aufgerissen, die den Menschen erst die Freiheit der Reflexion, die Kraft zur Distanzierung von der taumelnden Unmittelbarkeit geschenkt hat. Mit diesen Begriffen des Absoluten oder Unbedingten trennen sich nämlich die logischen Beziehungen von den empirischen, trennt sich die Geltung von der Genesis, die Wahrheit von der Gesundheit, die Schuld von der Kausalität, das Recht von der Gewalt usw." J. Habermas, Ein Gespräch über Gott und die Welt, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX (es; 2262), Frankfurt a.M. 2001, 173-196; hier 185f. 40 Vgl. J. Rüsen, Grundzüge einer Historik I-III, Göttingen 1983-1989; ders., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1990.

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Bekenntnis zum „hen kai pan" der Religionsphilosophie seiner Zeit (ungewollt) das Stichwort ihrer eigenen Grundüberzeugung an die Hand gab. Spätestens „mit Lessings Hen kai pan trat", so Assmann, „die Spinoza-Rezeption in eine neue Phase ein" 41 . Den von Lessing durch die Herausgabe der „Fragmente eines Wolfenbütteischen Ungenannten" angezettelten Fragmentenstreit noch im Nacken, ist die Zeit von ca. 1781 bis 1831 von einer Abfolge höchst eigentümlicher Konflikte geprägt, die allesamt das Themenfeld von Gott Mensch - Welt/Geschichte umkreisen und dabei auf je eigene Weise erkennen lassen, daß Spinoza im Gang dieser Kontroversen - Pantheismusstreit und Atheismusstreit - zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt geworden ist. Bereits aus Zeitgründen kann ich an dieser Stelle lediglich auf die mit dem Namen Spinoza verbundene Problemexposition aufmerksam machen. 42 Um den Cartesianischen Substanzdualismus zu überwinden, sah sich Spinoza zu einem weitreichenden Schritt gezwungen: An die Stelle der zwei Substanzen - Körperlichkeit und Geistigkeit - setzte er die eine Substanz „Gott", die er als das In-sich-Seiende und Aus-sich-selbst-Begreifbare definiert und also als das, „dessen Begriff nicht des Begriffes eines andern Dinges bedarf, um daraus gebildet werden zu müssen" 43 . Diese Bestimmungen, die auf den Begriff Gottes als „causa sui" hinauslaufen, haben wiederum erhebliche Konsequenzen fur das Verständnis von Welt: Ist Gott die eine und einzige Substanz, läßt sich die Existenz der endlichen Dinge nur so begründen, daß sie als „in Gott" seiend zu begreifen sind. Folglich ist das Endliche fur Spinoza Modus des Absoluten. In dieser Konsequenz aber fällt nicht nur die relative Selbständigkeit der Welt gegenüber Gott dahin, sondern auch jeder reale Unterschied zwischen ihnen. Es leuchtet deshalb unmittelbar ein, daß und warum Spinozas Antwort auf die klassisch philosophische Frage, inwiefern sich Endliches überhaupt denken lasse unter der Voraussetzung, daß es Unendliches beziehungsweise Absolutes gibt, in die Tradition des Kosmotheismus zurückgelesen werden kann: Der Welt, Gott und Mensch miteinander vermittelnde Gesamtzusammenhang des „hen kai pan" legt den Gedanken nahe, daß das, was es an Endlichem gibt, mit Notwendigkeit ein Implikat des Absoluten sein muß. Assmanns Hinwendung zum Kosmotheismus habe ich eine Renaissance der Spinozarenaissance genannt, weil sie - vermittelt durch die Monotheismuskritik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts - an „Spinozas berühmt-berüchtigte Formel deus sive natura" in der ausdrücklichen Absicht erinnert, die vom biblischen Monotheismus eröffnete Differenz von Gott und Mensch zu revidieren. Es verhält sich jedoch bereits historisch so, daß es

41 Assmann, Moses, 206. Vgl. a.a.O., 173-210. 42 Vgl. B. de Spinoza, Ethica Ordine Geometrico Demonstrata. Die Ethik mit geometrischer Methode begründet, in: ders., Tractatus de intellectus emendatione. Ethica (OperaWerke 2, hgg. v. K. Blumenstock), Darmstadt "1989, 84-557. 43 Spinoza, Ethica, I def. III (a.a.O., 86-87).

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exakt diese Unterscheidung gewesen sein dürfte, die den uns vertrauten Begriff von Geschichte allererst ermöglicht hat. Warum das so ist, möchte ich im Anschluß an das Tetragramm von Ex 3, 14 „Ich bin der Ich-bin-da" erläutern, das in der auch bei Reinhold wiederzufindenden Tradition umstandslos im Sinne der ägypto-hellenistischen Formel interpretiert worden ist: „Ich bin alles, was ist". Die Selbstoffenbarung Gottes in Gestalt der Ich-Prädikation von Ex 3, 14 artikuliert sich zunächst, wie Assmann zu Recht hervorhebt, als ein Selbstbezug. Doch daß das biblische „Ich bin, der ich bin da" keinen Weltbezug kennt, ist ausschließlich eine kosmotheistische Perspektive. Richtig ist, daß wir im Lichte des biblischen Monotheismus den Kosmos nicht verstehen dürfen als die Selbstmanifestation Gottes. Aber Ex 3, 14 spricht ausdrücklich von einem Da-Sein Gottes! Denn das Tetragramm bindet das OffenbarWerden Gottes zurück an seinen freien Selbsterweis, der - und dies ist entscheidend - von Israel erfahren wird als Exodus, als Befreiung: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten gefuhrt hat; aus dem Sklavenhaus", heißt es in Ex 20, 2 ausdrücklich. Daß die Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft zum Erkenntnisgrund für Jahwes Dasein und Macht geworden ist, dürfte historisch an der Wurzel des biblischen Geschichtsverständnisses stehen. 44 Erstens ist in dem Zusammenhang von Geschichtserfahrung und Gottesverständnis die Möglichkeit eröffnet, ein geschichtlich kontingentes Ereignis - den Exodus - als die „Anfangszeit schlechthin" anzusetzen, „von der an erst Geschichte und Zeit datieren". 45 Der Exodus wird in einer bestimmten Weise auf die Geschichtsmächtigkeit Jahwes zurückgeführt: Er hat mit der Erschaffung von Welt und Mensch die Bedingung der Möglichkeit von Geschichte geschaffen und ist selbst als handelnder Akteur in dieser Geschichte präsent. Das bedeutet nicht nur, daß Israel seine „stiftende Urzeit" als „Heilsgeschichte" begreift und somit „an die Stelle eines Mythos eine Geschichte tritt" 46 . Sondern Israels Monolatrie wird nicht durch einen Rekurs auf eine Theogonie begründet, sondern dadurch, daß in der „Historiogenesis" des eigenen Volkes das „Da-Sein" Jahwes im Medium eines unableitbar freien und freibleibenden Selbsterweises erfolgt. Weil - zweitens - die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes für Israel gebunden ist an seine machtvollen Taten, mit denen er in einer unvorhersehbaren Weise in den Lauf der Welt eingreift und seinen Heilswillen in ihr aufrichtet, steht die Erfahrung von Kontingenz nicht mehr ausschließlich unter dem Signum existentieller und kollektiver Bedrohung. Deshalb ist mit einer „Zeitkonstruktion" (Jörn Rüsen), in der Kontingenz geradezu als Ausdruck der für 44 Zum folgenden vgl. K. Koch, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie II. Altes Testament: TRE 12 (1984), 569-586; Essen, Geschichtstheologie. 45 Koch, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie, 574. 46 Ebd.

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die Menschen entschiedenen Freiheit Gottes erfahren werden darf, die Möglichkeit eröffnet, die Abfolge kontingenter Ereignisse so zu deuten, daß sich die menschliche Lebenspraxis im Lichte des geschichtlichen Offenbarungshandelns Gottes absichtsvoll orientieren kann. Während die „ägyptohellenistische" Formel „Ich bin alles, was ist, war und sein wird' (s. o.) der Offenheit der Zeit dadurch widerstreitet, daß in ihr ein Gott sich selbst kundgibt, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf dem Wege ihrer Identifizierung mit sich zusammenhält und also durch sie die als bedrohlich erfahrene Kontingenz zu bewältigen sucht, bettet das Geschichtsverständnis Israels die real erlittene Kontingenz ein in das dem Geschichtsverlauf zugrundeliegende Schema von Erfüllung und Verheißung: Jahwe ist der Hender Geschichte, der in der Kontinuität seines Erwählungs- und Heilshandelns den Zusammenhang der Geschichte von der Schöpfung bis zur Heraufführung des verheißenen neuen Äons stiftet und verbürgt. Das wiederum fuhrt - drittens - zu dem eigentümlichen Primat der Zukunft, wie er für das biblische Geschichtsverständnis grundlegend ist. Insbesondere die prophetische Tradition hält daran fest, daß Jahwe seinen „Schalom" mitten in der Geschichte und als ihre Vollendung verwirklichen wird. Diese eschatologische Vollendung aber steht noch aus, solange die prophetisch-apokalyptischen Hoffnungen Israels unerfüllt sind, Gott möge in seinem geschichtlichen Handeln seinem Heilswillen treu und mit sich identisch bleiben, das Verlorene retten und die Leiden realiter versöhnen. In dieser Konsequenz umfaßt die Geschichtsmächtigkeit Jahwes, die Israel in seinen machtvollen Taten erfahren hat, schließlich die apokalyptische Hoffnung auf eine endzeitliche Totenauferweckung. Auch sie ist ein Implikat der universalen Herrschaft Jahwes, durch die die Geschichte insgesamt in den Horizont einer eschatologischen Zukunft gestellt wird, in dem das, was der Vergangenheit, aber auch der eigenen Gegenwart an Befreiung und Versöhnung verweigert bleibt, nicht defaitistisch der Vergessenheit anheimgegeben werden muß. Die Hoffnung auf Gott als aus dem Tode rettende Wirklichkeit hängt jedoch wesentlich an dem Begriff eines Gottes als von Welt und Mensch verschiedener Wirklichkeit. Dann nämlich erst ist die biblische Realdefinition Gottes erreicht, daß Gott das Nichtseiende ins Dasein ruft (Rom 4, 17) und Handlungsmöglichkeiten über den Tod hinaus besitzt. Wer den Schuldzusammenhang von Freiheit und Verantwortung so ausdrücklich zurückweist, wie Assmann dies offenkundig tut, muß zusehen, wie er dem existentiellen Ernst noch standhalten will, den das Gespräch zwischen Walter Benjamin und Max Horkheimer über die Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit des Vergangenen in die neuere Theoriebildung zum Begriff der Geschichte eingetragen hat. Wie nämlich soll einerseits ein Umgang mit Geschichte begründet werden, der die Solidarität mit den Opfern der Geschichte nicht aufkündigt, wenn anders der erwähnte Schuldzusammenhang von Freiheit und Verantwortung als Übertribunalisierung der jüdisch-christlichen Tradition zurück-

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gewiesen wird. Und wenn andererseits die natürliche Evidenz irdischer Glückserfahrung die soteriologisch leitende Perspektive sein soll, dürfte wiederum die Hoffnung auf Gott als die aus dem Tode rettende Wirklichkeit kaum noch zu begründen sein. 47 Im Weltbezug des frei sich offenbarenden Gottes ist - viertens - das Verständnis von Geschichte als von Jahwe selbst eröffnetem Bundesgeschehen zu begreifen, das den Menschen liebend frei- und ihn trotz seiner geschichtlichen Schuldverstrickung nicht fallen läßt. Die im Begriff des „Bundes" festgehaltene Deutung der Geschichte als das Kommerzium zwischen der freilassenden Freiheit Gottes und der freigelassenen Freiheit des Menschen fuhrt zu einem Begriff von Geschichte als Ort intersubjektiv verbindlicher Praxis, in der der individuierende Blick des einen Gottes den Menschen in eine Freiheit ruft, die Verantwortung bedeutet für sich und für den Nächsten. Erst die im biblischen Monotheismus mitgesetzte Nichtidentifikation Gottes mit der Welt ermöglicht freilich einen Weltbezug Gottes, der den Gedanken einer positiven Freilassung der Geschichte in ihre unableitbare Eigenständigkeit überhaupt zulassen kann. Das Bekenntnis zu dem Gott, der - theologisch gesprochen - ex nihilo die Welt geschaffen hat, führt zu einem Begriff von Säkularität, ohne den es die freie Geschichts- und Weltgestaltung freier Menschen nicht gäbe.

4.

Diese, für Differenzierungen gewiß offenen Überlegungen zum Konnex von biblischem Monotheismus und Geschichtsbegriff 48 fuhren mich zu der These, 47 Zur Benjamin-Horkheimer-Kontroverse vgl. H. Peukert, Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung (stw 231), Frankfurt a.M. 1978, 252-355; vgl. ferner Essen, Geschichte. Es deutet, wie Karl-Heinz Ohlig vor einiger Zeit herausstellen konnte, vieles daraufhin, daß unterschiedliche Gottesverständnisse Interpretationen von Welt, Mensch und Individualität zu ihrem Implikat haben, die auf grundsätzlich alternative eschatologische Perspektiven und ethische Zielsetzungen hinauslaufen. Vgl. K.-H. Ohlig, Religion in der Geschichte der Menschheit. Die Entwicklung des religiösen Bewußtseins, Darmstadt 2002, 157-230. 48 Auf den religionsgeschichtlichen Befund, daß die Heraufkunft von Geschichte als eine der wesentlichen Sinndimensionen menschlichen Daseins offenbar einhergeht mit tiefgreifenden Individualisierungsprozessen, wie sie in monotheistischen Kulturen greifbar werden, macht im übrigen auch Assmann in seiner Studie „Stein und Zeit" aufmerksam (vgl. Assmann, Stein, 288-313). Denn der „Einbruch der Geschichte" in Ägypten zu Beginn des Neuen Reiches (ca. 1550 v. Chr.) führt Assmann zufolge zu einer neuen Gottesidee. Es bilde sich „die Vorstellung eines Höchsten Wesens heraus, das die Geschichte ersinnt und dessen planender Wille die Zeit und das, was sich in ihr ereignet, hervorbringt" (291). Die Erfahrung der Welt als Geschichte in dem Sinn, daß sie als „Willensbekundung Gottes" gedeutet wird, führe zugleich zu dem „Prozeß einer Emanzipation

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daß gerade die von Assmann eskamotierten anthropologischen Implikationen der göttlichen Ich-Prädikation von Ex 3, 14 an der Wurzel jener Dialektik von Subjekt und Geschichte stehen, die fur das Thema „Geschichte und Sinnbildung" schlechthin konstitutiv sein dürften. Noch in seiner säkularisierten Gestalt ist der neuzeitliche Geschichtsbegriff wesentlich davon geprägt, daß er grundlegend auf den Begriff der Freiheit bezogen ist. Das gilt, wie ich sogleich und ausdrücklich hinzufugen möchte, auch unter der berechtigten Voraussetzung, daß das idealistische Programm theoretisch gescheitert ist und scheitern mußte, die Philosophie der Freiheit begreifen zu wollen als eine Philosophie der Welt- und Bewußtseinsgeschichte der Menschen auf ihrem Weg der Befreiung zu sich selbst. Nachidealistische Geschichtstheorien transzendentaler oder pragmatischer Provenienz stimmen darin überein, daß Freiheit das Sinnprinzip von Geschichte ist.49 Wie auch sonst ließe sich die Dimension von Geschichte überhaupt noch erreichen, wenn nicht das ursprüngliche Interesse des Menschen nach zeitübergreifender Identität als Instanz eingeführt wird für sein Bemühen, die vielfältigen Einsichten und Erfahrungen des eigenen Lebens zu integrieren und dabei die Frage nach absoluter Begründung und Sinnerfullung ausdrücklich zu stellen?

der Gottesidee aus den Bindungen des Kults und des Kosmos" (295). Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht nur, daß offenbar die Erfahrung von „Neuheit" und „Erstmaligkeit" positiv konnotiert wird, sondern vor allem die Deutung der Geschichte als einer Sphäre, „in der göttliches und menschliches Handeln eng aufeinander bezogen sind. In dieser Sphäre", so heißt es bei Assmann weiter, „handelt der Mensch vor Gott und muß sich vor Gott für sein Handeln verantworten" (297). Was nun den infragestehenden Konnex von Gottes- und Geschichtsbegriff betrifft, scheint zwar der Monotheismus nicht zu den Voraussetzungen einer Deutung von Welt als Geschichte zu gehören. Aber unabdingbar - und für die Auseinandersetzung mit dem Kosmotheismus von zentraler Bedeutung - dürften die Ausführungen Assmanns zu einem dem „neuen" Geschichtsbegriff korrespondierenden Gottesverständnis dennoch sein. Selbst wenn man der in der Forschung begegnenden These von der „Herabkunft des transzendenten Gottes" mit Zurückhaltung begegnen würde (295), wird eines doch sehr deutlich: Auch die Entdeckung des historischen Bewußtseins im Neuen Reich zehrt offenkundig von einer Vorstellung Gottes, der als „Planer und Lenker der Geschichte" mit dieser nicht schlechthin identisch ist. Anders nämlich verlören die von Assmann selbst gewählten Umschreibungen für die Dimension göttlichen Wirkens im Raum der Geschichte ihren Sinn: Von einer Manifestation göttlicher Macht in der Geschichte, von einer Intervention der Götter in der Geschichte kann nur unter der Voraussetzung einer Gott-Welt-Differenz gesprochen werden. Darauf scheint im übrigen auch die Vorstellung hinzudeuten, das Höchste Wesen ersinne die Geschichte; sein „planender Wille" bringe „die Zeit und das, was sich in ihr ereignet", hervor (vgl. 291). Läßt sich, mit anderen Worten, die „Idee eines [...] unmittelbaren göttlichen Eingreifens in die Geschichte" noch verbinden mit einer AllEinheitslehre, die den Unterschied von Gott und Welt nicht kennt? Bemerkenswert ist in jedem Fall, daß das „wetterleuchtende [...] .Einbrechen' von Geschichte in ein Weltbild, das darauf angelegt war, Veränderungen zu vermeiden und Geschichte auszublenden" (293. 289), offenkundig begleitet gewesen ist von einer sich vertiefenden Reflexion auf die Erfahrung mit dem schicksalsbestimmenden Göttlichen, das sich im Medium freier Willensentscheidungen dem Menschen zuwendet. 49 Vgl. Baumgartner/Rüsen (Hg.), Seminar.

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Ich komme zum Schluß: Liege ich mit meiner Wahrnehmung der aktuellen Monotheismuskritik nicht ganz falsch, dann spricht einiges dafür, daß das Projekt einer philosophisch-theologischen Theorie der Geschichte vor einer neuen Herausforderung steht. Assmanns Reinterpretation des Monotheismus als Kosmotheismus erfordert die gründliche Relecture und Fortschreibung des Pantheismusstreits. In diesem Zusammenhang könnte, so meine Vermutung, die Philosophie Spinozas für die heutige Geschichtsphilosophie die Bedeutung gewinnen, die der spekulative Idealismus Hegels für das Geschichtsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts besessen hat. Was bedeutet die aktuelle Renaissance der Spinozarenaissance, die mir im Übrigen wirkmächtiger zu sein scheint, als ich sie hier habe nachzeichnen können 50 , für den Begriff der Geschichte? Auch Hegel hatte in gewissem Sinne eine All-Einheitslehre vorgelegt. Aber sein spekulativer Idealismus zeichnet sich ja dadurch aus, daß der Begriff der Geschichte eine prominente Stellung einnimmt; Hegel hat - was philosophisch von epochaler Bedeutung sein dürfte - die Alleinheitslehre geschichtlich verflüssigt. Das bedeutet für nachidealistische Geschichtsphilosophen jedweder couleur, daß sie sich in einem sehr zentralen Punkt mit Hegel einig wußten und wissen: der Begriff der Geschichte ist konstitutiv für den Vernunft-, Freiheits- und Wirklichkeitsbegriff. Die Absetzung vom Hegeischen System erfolgt in dem Streit darüber, wie der Begriff der Vernunft so auf den der Geschichte bezogen werden kann, daß die für das geschichtliche Denken konstitutiven Leitkategorien der Individualität, Entwicklung, Temporalität und Geschichtlichkeit nicht lediglich als Entäußerungsmodi der Vernunft selbst begriffen werden müssen. 51 Worauf ich hinaus will ist dies: Seit Hegel hat - sehen wir vom Historismus in seinen Verfallsformen einmal ab - das klassische Axiom von einer Unvereinbarkeit von Vernunft und Geschichte seine Gültigkeit verloren. Die zum Beispiel von Assmann prätendierte Rückkehr zu Spinoza und zwar, ich wiederhole mich, mit dem ausdrücklichen Ziel, die vom biblischen Monotheismus eröffnete Differenz von Gott und Mensch zu revidieren, fällt hinter das mit dem Namen Hegel markierte philosophische Problembewußtsein zurück. Denn Spinozas Monismus der unendlichen Substanz läuft auf eine philosophische Rahmentheorie zu, die einen Begriff von Geschichte, in der

50 Zu diversen Spielarten der Spinozarenaissance vgl. H. Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit 1. Die Spinozarenaissance (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 22), Frankfurt a.M. 1974; S. Thissen, De spinozisten. Wijsgerige beweging in Nederland (1850-1907) (Nederlandse Cultuur in Europese Context, 18. Ijkpunt 1900, 3), Den Haag 2000; D. Pätzold, Spinoza - Aufklärung - Idealismus. Die Substanz der Moderne, Assen 2., erw. Aufl. 2002; J. I. Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750, Oxford 2002. 51 Vgl. H. Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus (Kolleg Philosophie), München 1974.

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freie und intersubjektiv vollzogene Sinnbildungsleistungen möglich sind, a priori ausschließt. 2 Pointiert formuliert: Fällt der biblische Monotheismus als eine der fundamentalen Prämissen unserer Wirklichkeitsdeutung, gibt es zumindest für den Begriff der Geschichte, wie er eingegangen ist in das westliche Geschichtsbewußtsein 53 , kein Halten mehr. Der Verlust der Geschichte gehört zu den problematischen Kollateralschäden, die die Zurückweisung des biblischen Monotheismus im Namen der „ägyptischen" Wahrheit begleiten würde. Und dieser Preis dürfte zu hoch sein! Das Eis ist ohnehin dünn, auf dem mühsam zu gehen versucht, wer im Ringen um seine Identität sich erinnern muß, zu erzählen beginnt und also geschichtlich sich orientiert. Wie dünn das Eis wirklich ist, ahnen wir, wenn wir die Einsicht zulassen, daß auch ein säkularisierter Begriff von Geschichte „auf fremde Kreide zecht" (Ernst Bloch). Könnte es sein, daß der uns vertraute Begriff der Geschichte ein Äquivalent zum sogenannten BöckenfördeParadox kennt? Die historische Vernunft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann.

52 Daß Spinozas „Tractatus Theologico-Politicus" gelegentlich zu den Gründungsurkunden der historischen Bibelkritik gezählt wird, verwundert. Zwar bedenkt er einerseits die Wahrheitsfrage im Horizont einer historisch-hermeneutischen Erschließung der biblischen Schriften. Dabei gelangt er, darauf allein soll hingewiesen werden, andererseits zu einer folgenreichen Verhältnisbestimmung von Vernunft und Geschichte. Spinoza klammert nämlich die Wahrheitsfrage aus der Hermeneutik aus, der allein die Aufgabe übertragen wird, die Bedeutung der in der Bibel festgehaltenen Geschichten zu erschließen. Doch was die Hermeneutik interpretiert und verstehend aneignet, ist für Fragen religiöser Gewißheit schlicht unerheblich, weil in der Instanz der Vernunft allein die zum Heil und zur Glückseligkeit fuhrende Gewißheit verbürgt werden kann. Diese kann auf dem Feld der Geschichte nicht aufgefunden werden: „Das Ziel der Philosophie ist nur die Wahrheit, das Ziel des Glaubens aber [...] nur der Gehorsam und die Frömmigkeit. Die Philosophie hat zu ihrer Grundlage die Gemeinbegriffe und kann bloß aus der Natur hergeleitet werden. Der Glaube aber hat Geschichte und Sprache zur Grundlage und muß bloß aus der Schrift und aus der Offenbarung hergeleitet werden [...]". Es ist, dies ist entscheidend, über die unmittelbar irenische Sinnspitze hinaus, Religions- und Konfessionskonflikte durch den Rekurs auf das Vernunftprinzip entschärfen zu wollen, der Vernunftbegriff selbst, der Spinoza daran hindert, Geschichte als einen wahrheitsfähigen Ort zu begreifen. Denn der Versuch, die Bezogenheit von Vernunft auf Geschichte zu denken, mußte ihm (wie der abendländischen Philosophie bis ins 19. Jahrhundert hinein generell) als die Vereinigung des Unvereinbaren erscheinen. Zur Einführung der Vernunft als meta-hermeneutisches Prinzip vgl. vor allem B. de Spinoza, Tractatus TheologicoPoliticus. Theologisch-Politischer Traktat (Opera-Werke 1, hgg. v. G. Gawlick u. Fr. Niewöhner), Darmstadt 2 1989, 4-25, 426-465 (Zitat a.a.O., 443). 53 Vgl. J. Rüsen (Hg.), Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte, Göttingen 1999.

Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums: Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive Jens Schröter „Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird ... Als das war, von dem wir jetzt sagen, daß es gewesen sei, haben wir nicht gewußt, daß es ist. Jetzt sagen wir, daß es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wußten, was wir jetzt sagen."'

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman „Ein springender Brunnen" von Martin Walser. Zum Ausdruck gebracht wird in ihnen eine zentrale Einsicht in die Beschäftigung mit der Vergangenheit, die sich mit gegenwärtigen Diskursen in der Geschichtstheorie vermitteln lässt und hier auf weitgehende Zustimmung stoßen dürfte: Ereignisse, die sich zutragen, so Walser und so auch Äußerungen von geschichtstheoretischer Seite, sind nicht identisch mit ihrer späteren Darstellung innerhalb der historischen Erzählung, denn erst durch die letztere gewinnen sie eine Bedeutung, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermittelt und die letztere als bedeutsam erscheinen lässt. Erst der aktive, eine Geschichte konstruierende Bezug auf die Vergangenheit verleiht den Ereignissen Sinn, indem er sie versprachlicht und in einen Zusammenhang einordnet. 2 Das Zitat fuhrt jedoch noch auf eine weitere Spur: Dass ein Dichter diese Sätze einem Roman voranstellt, verweist auf eine Verwandtschaft von Geschichtsschreibung und Dichtung, die fur eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geschichtswissenschaft von entscheidender Bedeutung ist. Diese Beziehung wurde sowohl in der Antike als auch an den Anfängen neuzeitlicher Geschichtsschreibung wahrgenommen 3 und in der neueren geschichtstheoretischen Diskussion wieder häufiger herausgestellt. Insbesondere Hay-

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M. Walser, Ein springender Brunnen, Frankfurt 1998, 9. Vgl. etwa J. Riisen, Was heißt: Sinn der Geschichte? (Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn), in: K.E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, 17-47; ders., Historische Vernunft (Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft), Göttingen 1983, 58-84. Vgl. einerseits W. Rosier, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980), 283-319, andererseits J. Siissmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (17801824) (Frankfurter historische Abhandlungen 41 ), Stuttgart 2000.

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den White hat hier auf den konstitutiven Charakter der Sprache fur den historischen Erkenntnisprozess verwiesen und die „historische Einbildungskraft" des Historikers zum Gegenstand seiner Analyse der europäischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gemacht.4 Auf vergleichbare Weise wie bei White spielen Versprachlichung der Ereignisse und ihre Interpretation durch die Erzählung als für historische Erkenntnis unverzichtbare Instrumente in der Geschichtsauffassung Frank Ankersmits eine zentrale Rolle: Ereignisse haben an sich keine Bedeutung, erst durch ihre Überführung ins Medium der Sprache sowie ihr Einrücken in einen narrativen Zusammenhang, der die Vergangenheit in der Gegenwart repräsentiert, werden sie historisch bedeutsam und tragen zur historischen Sinnbildung bei.5 Das bei Ankersmit stärker als bei White berücksichtigte Problem des Zusammenhangs von deutender Erzählung und historischer Forschung ist dann von Paul Ricoeur aufgegriffen und erkenntnistheoretisch reflektiert worden.6 Ricoeur beschreibt die Referenzmodi von Historie und Fiktion als Überkreuzung. Historische und literarische Erzählung sind demnach in ihrer Intentionalität weder gleichzusetzen noch in Opposition zueinander zu stellen. Vielmehr partizipieren sie an dem jeweils anderen Referenzmodus, insofern die historische Erzählung eine Fiktionalisierung der Vergangenheit darstellt, wogegen die Fiktionserzählung die historische Erzählung imitiert.7 Der von Ricoeur in diesem Zusammenhang verwandte Begriff der Repräsentanz bringt dabei zum Ausdruck, dass sich die historische Erzählung durch „analogisierendes Erfassen"8 auf die Vergangenheit bezieht, gleichwohl an die tatsächliche Vergangenheit gebunden bleibt und diese in der Gegenwart vertritt. Aus diesen, hier nur anzudeutenden Ansätzen werden für die folgenden Überlegungen folgende Aspekte aufgenommen: Jeder Bezug auf die Vergangenheit bleibt einerseits auf den fragmentarischen Charakter der Überreste sowie auf die ihrerseits die Ereignisse bereits deutenden Quellen verwiesen,9 4

H. White, Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-Century Europe, Baltimore und London 1973 (dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt 1991). Vgl. auch seinen wichtigen Beitrag: The Historical Text as Literary Artefact, in: ders., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore und London 1978, 81-100 (dt.: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986 [1991], 101-122).

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F. Ankersmit, Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian's Language, Den Haag 1983; ders., History and Tropology. The Rise and Fall of Metaphor, Berkeley u.a. 1994. Vgl. auch ders., Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung, in: Müller/Rüsen, Sinnbildung, 98-117. P. Ricoeur, Temps et récit, 3 Bd.e, Paris 1983-1985 (dt.: Zeit und Erzählung, München 1988-1991). P. Ricoeur, Zeit und Erzählung. Band 3: Die erzählte Zeit, München 1991, 253-311. A.a.O., 254. Zur Unterscheidung des historischen Materials in Quellen und Überreste vgl. J.G. Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh, Stuttgart 1977, 400: „Histo-

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Konstruktion von Geschichte und die Anfange des Christentums

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er ist andererseits durch die perspektivierende Sicht des Historikers gekennzeichnet, der die Quellen seinerseits interpretiert und mit weiteren ihm zugänglichen historischen Materialien zu einem Bild zusammenfügt. Erst diese Deutung der Überreste und Quellen sowie ihre Einordnung in einen vom Historiker entworfenen Zusammenhang verleiht den Überresten der Vergangenheit Bedeutung für die Gegenwart. Unabhängig von dieser Interpretation der Überreste 10 gibt es keine Geschichte, sondern nur totes Material. Zu einer historischen „Quelle" wird ein Text deshalb erst dann, wenn er gelesen, interpretiert und mit anderen Materialien in Beziehung gesetzt wird. Das Ziel von Geschichtsschreibung ist somit nicht Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern Konstruktion von Geschichte: Sie erstellt ein Bild der Vergangenheit, das relative Gültigkeit besitzt, abhängig von den je geltenden Plausibilitäten der Wirklichkeitsdeutung, determiniert durch den Kenntnisstand der Forschenden und bestimmt durch die Sicht, die der Interpret anhand des bekannten Materials entwirft." Dieser spezifische Wirklichkeitsbezug der Geschichtsschreibung wurde bereits in der Antike wahrgenommen, 2 er spielt in gegenwärtigen geschichtstheoretischen Diskursen wieder eine zentrale Rolle. 3 Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund einige Gedanken vorgestellt werden, die für einen gegenwärtigen Diskurs zwischen Theologie und Geschichtswissenschaft von Bedeutung sein könnten. Am Beginn wird der Status historischer Konstruktionen anhand einiger Äußerungen aus Antike und Neuzeit reflektiert, im zweiten Teil werden zwei Beispiele aus dem Bereich des Neuen Testamentes besprochen. Der dritte Teil schließlich formuliert eine These zum Verhältnis von Konstruktion von Geschichte, historischer Kritik und Wahrheit im Blick auf die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung.

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11 12 13

risches Material ist teils, was aus jener Gegenwart, deren Verständnis wir suchen, unmittelbar noch übrig ist ( Ü b e r r e s t e ) , teils was davon in die Vorstellung der Menschen übergegangen und so umgeformt überliefert ist ( Q u e l l e n ) , teils eine Verbindung aus beidem ( D e n k m ä l e r ) . " (Dort gesperrt.) Droysen hatte deshalb der Interpretation neben Heuristik und Kritik eine konstitutive Bedeutung für den historischen Erkenntnisprozess zugeschrieben. Vgl. ders., Historik, 431: „Das Ergebnis der Kritik ist nicht ,die eigentliche historische Tatsache', sondern, daß das Material bereit gemacht ist, eine verhältnismäßig sichere und korrekte Auffassung zu ermöglichen. Die Gewissenhaftigkeit, die über die Resultate der Kritik nicht hinausgehen will, irrt darin, daß sie der Phantasie überläßt, mit ihnen weiter zu arbeiten, statt auch für die weitere Arbeit Regeln zu finden, die ihre Korrektheit sichern." Vgl. H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001,32-52. Vgl. K. Treu, Roman und Geschichtsschreibung, Klio 66 (1984), 456-459. Vgl. bereits J. Rüsen, Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1976, sowie neuerdings ders., Kann Gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte (Kulturwissenschaftliche Interventionen 2), Berlin 2003.

204

Jens Schröter

1. Wie schreibt man

Geschichte?

Die Geschichtsschreibung entsteht - sowohl in Griechenland als auch in Israel - in enger Bindung an mythische Weltdeutungen. 14 In Israel treten jedoch Mythos und auf Erkundung und Deutung vergangener Ereignisse basierende Darstellungen nicht auseinander. Die Erwählung Abrahams, das Exodusgeschehen oder die Gesetzgebung am Sinai werden vielmehr, ungeachtet ihres Status als tatsächlich geschehener Ereignisse, zu Kristallisationspunkten der Identität späterer Generationen des Judentums wie auch des Christentums.'5 In Griechenland entsteht Geschichtsschreibung demgegenüber in der dezidierten Absetzung von der mythischen Weltsicht eines Homer und Hesiod durch Herodot, der seine Darstellung stattdessen auf das selbst Erkundete (ιστορίης άπόδειξις) gründet, auch wenn sein Geschichtswerk dann weit darüber hinausgehen und zu einer regelrechten Kulturgeschichte der ihm bekannten Völker geraten wird. 16 Ausweislich des Proömiums ist fur Herodot dabei das unter Menschen Geschehene (τα γενόμενα 4ξ ανθρώπων) Gegenstand der Geschichtsschreibung, wobei ihre ruhmvollen und bewundernswerten Taten, besonders aber die Ursache des Krieges der Griechen gegen die Barbaren besonders im Vordergrund stehen. 17 Eine vergleichbare Konzentration auf unter Menschen geschehene Ereignisse ist in der israelitischen Geschichtsschreibung nicht anzutreffen. Zwar wird auch hier - etwa im deuteronomistischen Geschichtswerk 18 - durchaus davon berichtet, wie Menschen in der Geschichte handeln. Dass der Gott Israels Herr des Geschehens bleibt, steht dabei gleichwohl nie in Frage.19 Das 14 Vgl. W. Schadewaldt, Die Anfange der griechischen Geschichtsschreibung bei den Griechen, in: J.M. Alonso-Núñez (Hg.), Geschichtsbild und Geschichtsdenken im Altertum, Darmstadt 1991, 63-89 (zuerst 1934); K. Meister, Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart 1990, 13-18; H. Cancik, Mythische und historische Wahrheit. Interpretationen zu Texten der hethitischen, biblischen und griechischen Historiographie (SBS 48), Stuttgart 1970. 15 J. Assmann hat in diesem Sinn die fundierende Funktion von Geschichte als Erinnerung und Gedächtnis herausgearbeitet. Vgl. ders., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Für das Christentum, namentlich die Apostelgeschichte des Lukas, ließe sich dies in analoger Weise fruchtbar machen. 16 Vgl. G. Bockisch, Herodot - Geschichten und Geschichtsschreiber, Klio 66 (1984), 488501; R. Bichler/R. Rollinger, Herodot, Darmstadt 2000. 17 Herodot, Proömium. 18 Wie die Anfänge der israelitischen Geschichtsschreibung genau zu beschreiben sind, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert. Auf diese Diskussion soll hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu R.G. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Göttingen 2000. Für den hiesigen Zusammenhang genügt es, auf die Eigenart hinzuweisen, dass das Verständnis von Geschichte im alten Israel untrennbar mit der Überzeugung von der Herrschaft Gottes über die Ereignisse verbunden ist. 19 Vgl. J. Molthagen, Beobachtungen zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis im antiken Griechenland und Israel, in: R. Hering/R. Nicolaysen (Hg.), Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift fiir P. Borowsky, Wiesbaden 2003, 77-93.

Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums

205

Christentum hat sich später an dieses Geschichtsverständnis angeschlossen und es auf eigene Weise weiterentwickelt.20 Es betritt dabei ein Feld, das sowohl durch Ausdifferenzierungen innerhalb der griechischen Geschichtsschreibung als auch durch die Begegnung von jüdischer und paganer hellenistischer Geschichtsauffassung geprägt ist. Wir werfen zunächst einen Blick auf ersteres. Der skizzierten griechischen Geschichtsauffassung entspricht, dass in theoretischen Reflexionen das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Dichtung thematisiert wird. Aristoteles stellt beide in Gegensatz zueinander: Der Geschichtsschreiber bleibt bei dem, was tatsächlich geschehen ist (τα γενόμενα), wogegen der Dichter darstellt, was gewesen sein könnte (οία αν γένοιτο).21 Die höhere Form der Wahrheitsfindung wird dabei dem Dichter zugeschrieben, denn die Dichtung ist Aristoteles zufolge philosophischer und ernsthafter (φιλοσοφώτερον και σπουδαιότερον) als die Geschichtsschreibung: Sie bleibt nicht beim Berichten von Einzeldingen (τα καθ' ΐεκαστον) stehen, sondern fragt nach dem Allgemeinen (τα καθόλου). Cicero kehrt diese Verhältnisbestimmung später um: Im ersten Buch über die Gesetze unterscheidet er Geschichtsschreibung und Dichtung derart, dass es ersterer um die Wahrheit ([veritas) gehe, wogegen die letztere auf Unterhaltung (delectatio) ausgerichtet sei.22 Freilich räumt Cicero im selben Zusammenhang ein, dass auch bei Herodot, dem pater historiae, sowie bei Theopomp, dem griechischen Historiker des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, unzählige erfundene Geschichten (innumerabiles fabulae) zu finden seien. Gerade bei Ciceros Gewährsmann Herodot lässt sich demnach eine strikte Trennung von tatsächlich Geschehenem und Erfundenem - von veritas und fabula - nicht durchhalten. Vielmehr konstatiert er bei Herodot eine Vermischung von beidem, die dem Bemühen entstammt, auch beim Berichten geschehener Ereignisse der delectatio zu dienen. Um das Verhältnis von Ereignis und Deutung geht es auch im antiken „Historikerstreit" über die Frage, wie Geschichte zu schreiben sei.23 Auf der einen Seite steht hier die von Thukydides begründete, dann auch von Polybios und Lukian vertretene „pragmatische" Richtung.24 Ihr geht es um eine genaue Darstellung dessen, was sich tatsächlich zugetragen hat, wogegen das

20 Vgl. dazu unten unter 2. die Ausführungen zur Apostelgeschichte. 21 Arist., Poet. 9,1451a: τουτψ διαφέρει, (sc.: ό ιστορικός καί ό ποιητής) τφ τον μεν τα γενόμενα λέγειν, τον δε οία âv γένοιτο, διό καί φιλοσοφώτερον και σπουδαιότεροι/ ποίησις 'ιστορίας έστίν. 22 Cie., leg. 1,5: ... alias in historia leges observancias putare, alias in poemate ... cum in ilia ad veritatem ... Prinzip kognitiv 20,23, 25f., 31,39, 42, 49f„ 53, 56f., 61, 84, 96, 99f., 103, 125, 155, 169, 192, 230, 264 Kollektivsingular 208 Kommunikation 26, 98, 125, 133, 153-168, 170, 267f. Kommunikationsgeschichte Geschichte

Kommunikationsmedien 98, 153168, 170 Konkretheit 222f., 232 Konsens 75-78, 84f., 96, 102, 104, 124, 242, 265 Konsenstheorie 123-125 Konstruktion 4f., 12-14, 23, 2830, 41,48, 51f., 54, 58, 60, 67, 94, 125, 132, 154, 165, 173, 183-185, 194, 201-219, 235, 237, 239, 256, 266, 270f.

288

Konstruktion von Wirklichkeit

Konstruktivismus 4, 12, 16, 24, 132, 263 Kontextualismus 77, 124 Kontingenz 21 f., 169f., 179, 194f„ 222f., 232 Kontroverse 15, 17, 67, 69, 71 f., 94f., 97, 101, 103, 178, 193, 196, 263 Benjamin-Horkheimer- 196 Körperlichkeit 157, 159, 161, 193, 225 Korrespondenz 35f., 41, 66, 8082, 86, 100, 119,214 Korrespondenztheorie 36,42f., 79,81, 124 Kosmos 169, 187, 189f„ 194, 197,214,217 Kosmotheismus 183, 186-193, 197f„ 269 Kraft, explanatorische 102 Kritik, historische 143f., 199, 203, 209, 217f. Kulturwissenschaft 162, 170, 203 Kunst 7-9,31,160,215,267 Kunstform 4 1 , 7 5 , 8 2 Lebenswelt 27-29, 31, 127f„ 133,240 Leiblichkeit 161,225 Leibniz, G.W. 45 Lessing, G.E. 20,139,142,151, 188, 192f. linguistic turn 5, 9, 13, 16, 33, 100, 146, 263 Linguistik 7, 95, 98 Literatur 1, 22, 31, 36, 42, 48, 5 4 f , 57, 62, 8 7 f , 139, 147, 159f„ 173, 177f., 180, 238, 242f., 246f., 252, 254, 265, 268 literature, memorial 146f. Literaturwissenschaft 1, 22, 62, 87, 238, 265

Logik 16, 20, 25, 39f., 49, 53, 56, 66, 77, 154, 227 Lukas 204,213-218,240,242, 245-249 Lukian 205, 207, 240, 242, 244, 248f. Luther, M. 164f. Marc Anton 244f. Marc Aurel 252 Material, historisches 202f. Materialismus 82, 84 Materialität 17, 153, 156f„ 159162, 165 Medien 153-168, 170, 297f. Mediengeschichte 155, 157-159, 168, 268 memory, historical 138, 140f., 146 Metapher 35, 37f„ 41f„ 45, 49, 53, 57f., 60f„ 100, 126, 229, 232f., 264 Metaphorik 225, 228, 232f. metaphorisch 33-37, 39-42, 44, 47, 49f., 52-62, 78, 100, 114, 224, 232f., 264f. Methode 2,4,8,21,26,38,44, 72, 79, 131, 162f„ 167, 206, 214 historische 31,38,72,75,102 methodisch 21, 27, 29, 31, 85, 90, 131f., 210, 212,219, 221,263 Monismus 198 Monotheismus 179-199, 269f. All-Einheits- 182, 189 Moral 39, 50, 72, 92, 94f., 100, 187, 191 moralistisch 94 Mose 147-150, 183-185, 187-191 Mythos 169-178, 180, 185, 194, 2 0 4 , 2 1 8 , 2 3 9 , 254, 259, 269 nationaler 170f., 177 Gründungs- 1 7 0 , 1 7 3 , 2 6 9

Personen- und Sachregister

Kyffhäuser- 177, 178 Leit172, 174, Nachahmung 207 narrativ 16,22,27-29,33-63, 79f., 102f„ 113, 136f., 147f., 157, 160, 169, 171,202,210, 212, 224, 237, 264 narrativer Zusammenhang 202, 224 Narrativierung 37, 43, 47, 49, 59 Narrativismus 34, 38-44, 45-49, 50-53, 58-60, 76f., 83f., 89, 99, 105,264 metaphorischer 33-35, 37, 39 42, 44, 47, 49f„ 52-54, 58, 60, 265 N a t i o n a l b e w u s s t s e i n - » Bewusstsein

Nationalismus 68, 97 Nationalsozialismus 68f., 72, 85, 87, 95 Naturalismus 126f., 266 Nibelungen 177f. Nietzsche, F. 3 9 , 4 1 Nixon, R. 171 normativ 30,53,67,78,91-105, 123, 182, 2 6 5 , 2 6 9 objektiv 5, 11 f., 3 0 , 4 0 , 50, 75, 84, 96f„ 122, 130, 233,240, 242, 246 Objektivismus 42, 66f., 75f., 78f„ 85,90-92, 96-99, 101, 104f., 123, 127, 160, 165,233, 265 Objektivisten 76,96 Objektivität 2, 13, 15, 90, 123f. Pantheismus 189 Pantheismusstreit 193, 198 Parteinahme 85 Paulus (Paul) 144, 148f„ 210, 213-218, 224-235,253, 270

289

Perspektive 26, 29, 30, 36f., 39, 45, 56, 68-74, 79f., 82, 85, 87, 90-97, 102, 120-122, 129, 132, 155, 158, 163, 174, 181, 194, 196, 201,207, 21 l f „ 216, 218, 221 f., 225,228, 232-235, 270 globale 69 übernationale 69 vergleichende 72 Perspekti vierung 56 perspektivisch 3 , 1 0 , 1 2 0 , 2 1 3 Philosophie 7, 15, 34, 37-40, 42, 44, 46f„ 54, 60, 65f., 76-78, 105, 162, 187f„ 193, 197-199, 2 1 7 , 2 4 3 , 2 5 0 , 256 analytische 35f., 99 der Freiheit 197 der Geschichte Geschichtsphilosophie 3 3 f . , 4 0 ,

51, 53f., 57-59, 61f., 65-67, 76f., 80, 82-85, 90, 97, 99, 104106, 154, 162, 186, 265 Natur- 187 Religions- 128, 132, 179, 193, 198 Philosophiegeschichte 80, 154, 162, 186 Plausibilität 41f.,203,218 Plotstruktur 35, 37, 48f., 60 Pluralismus 24, 102, 104f„ 163, 180 Pluralität 52,66,79,170 Plutarch 188, 240f., 243-245, 249, 261 Politik 13, 70, 73-75, 91 f., 94 Polybios 205, 207, 241, 244, 246 Polytheismus 180, 183-187 Positivismus 34f., 38-40, 45f., 48f„ 54,81, 105,264 Postmoderne 5, 9, 12f., 16, 42, 53, 55, 58f„ 66, 71,76-78, 81, 83, 87, 89, 105, 123, 160, 186 Post-Positivismus 77

290

Konstruktion von Wirklichkeit

Praxis, historische 65, 84 Primat, normatives 9 5 , 1 9 5 Prinzip Kausalitäts- 46 normatives 95 thukydideisches 216 Profanität 2 2 2 , 2 3 5 Projektion 131 Proklus 188 prepositional 39, 53, 98, 129 Quelle 3-5, 16f., 21-24, 29, 31, 72, 75, 81, 88f., 93f., 101f„ 1 4 1 , 2 0 2 f . , 2 0 8 f . , 2 1 7 f , 238, 241 f. Quellenkritik 21,23 Quellenwert, historischer 213 rational 19f., 50, 67, 75, 78, 96, 99, 102-104, 112, 120, 123, 145,218, 265 Rationalität 31, 50f., 53, 58, 79, 95f., 98, 104, 108f., 111, 116, 222, 263, 265f. Reagan, R. 171 Realismus 1, 3f., 7-9, 12-15, 17f., 42, 4 7 , 6 1 , 6 7 , 79, 82, 84, 87, 100, 105, 119-133,245, 263, 266 Struktur- 3 interner 35, 37, 65, 67, 75, 79f., 82, 85, 87, 90, 95-100, 105, 121, 123f„ 126f.,265f. reality, historical 59, 91, 138, 140, 142, 144f., 210 Rechtfertigung 67, 78, 97, 123125, 127 Rede 1 0 , 2 0 , 1 1 4 , 1 2 9 , 1 8 0 - 1 8 2 , 2 0 6 f , 213-218, 222, 2 3 3 Í , 2 5 2 f , 269-271 referentiell 39-41,47,54-56, 58, 76, 83, 88

Referenz 7, 55, 58, 66, 79-82, 88, 119, 121, 187 historische 213,217 Referenzmodus 202 Referenzproblem 131 Reinhold, K.L. 188,192,194 Rekonstruktion 4, 21, 89, 104, 131, 172, 203,206, 265 Relativismus 54, 67, 72, 76-79, 83-86, 90f., 97-99, 101, 104f„ 123f., 132, 265 Relativist 75-77, 83, 96 relativity, historical 141 Religion 2 0 , 3 1 , 7 3 , 1 2 9 , 1 3 8 , 142, 165, 180f., 183f., 186-188, 191f, 196, 1 9 9 , 2 1 7 , 2 5 2 ägyptische 180, 188 Religionsgeschichte Geschichte Repräsentant Gottes 211 Repräsentanz 202 Repräsentation 13, 26f., 29, 36, 4 0 , 4 2 , 47, 53, 56, 66, 96, 98f., 120, 124f, 154, 160, 184, 208, 212, 264 historische 22, 25f., 36, 165 Repräsentationsfunktion 96, 99 Rezeption 102, 104, 157, 160, 165, 179, 1 9 3 , 2 1 5 , 2 1 8 , 2 7 0 Rezeptionsgeschichte 157, 183 Rhetorik 23, 25, 27, 29, 34, 39, 4 1 , 5 3 , 58f., 62, 102, 157, 160, 163f„ 175,216, 242f., 250, 268 Schalom 195 Schiller, F. 188,201 Schopenhauer, A. 181 Schöpfung 84, 131, 195, 226f. Schuld 73, 97, 103, 175, 192, 195f., 222, 230f„ 234f. historische 94 kollektive 68, 93f„ 97 Selbstoffenbarung Gottes 194 selbstreferentiell 4 1 , 8 3

Personen- und Sachregister

September, 11. 2001 170,176, 181,221,269 Sinnbildung 23, 25f., 28, 30, 182, 192, 197, 199, 202, 264, 270 Sinnstruktur 208f. Sinuhe 238 Skeptiker 77 skeptisch 78, 86, 89 Skeptizismus 39, 50, 76-78, 83, 121 Sozialphilosophie 34 Spiegelbild 75 Spinoza, B. de 189, 193, 198f. Spinozarenaissance 182f., 189, 192f„ 198, 270 Spinozismus 189 Sprachanalyse 90 Sprache lf„ 9, 12f., 15-17, 3942, 55, 60f., 66, 78f., 81,85, 96, 98f„ 120-122, 131, 146, 156f., 159-161, 169, 199, 202, 208, 219, 232f, 241,263,267 Sprachverwendung, buchstäbliche 39 figurative 39f., 61 f. Sprechakte 98, 105 Standpunktfunktion 45 strukturanalytisch 27,29 Strukturierung 60, 153, 156 narrative 37, 46, 48f., 60, 210 Subjekt 4, 7, 10-12, 14f„ 17, 2730, 36, 82, 120, 192, 197, 208, 237, 244, 253-255, 264 subjektiv, inter- 12, 15, 23, 54f., 57, 124, 126, 196, 199 Subjektivität 5,23,27,29-31,40, 49, 53f., 72, 78, 84, 96f., 120, 122, 124f, 208 Substanzdualismus 193 Substanz 3 6 , 4 5 , 4 7 , 1 9 3 , 1 9 8 Subsumtionstheorie 35, 45f., 48, 51 f., 54, 264

291

Sünde 190f., 211, 215, 229 Surrealismus 8 Symbol 36,66,85,114,129, 132, 144, 147, 169, 185 Symbolisierung 25 f. Tatsache historische 44, 72f., 79, 93, 160, 203 Tatsachenargument 50,75,102 Tatsachenaussage 53, 66, 74, 88, 93,99 Tatsachenbehauptung 51, 73 f., 96 Tatsachenforschung 4, 265 Temporalität 28, 198 Textualismus 54 textuell 54 intra- 106 Textwelt 210,212 Theoklasmus 185 Theologie 19-21, 24, 31 f., 128, 162, 181, 186, 203,237, 246f„ 255, 263f., 270f. politische 186 Theopomp 205,240-242 Theorie der Beschreibung 122 Theorie, Geschichts- 22, 31, 177, 197, 201, 208f., 239 Thomas Aquino 161 Thukydides 205-207, 213f„ 217, 239-241 Timaios 241 Tod 169, 175, 195f., 211, 225f„ 228-233,237, 239, 244, 251 Todesbestimmtheit 226f., 230f. Totenauferweckung 195,213 Tradition, jüdisch-christliche 180, 183, 195 Tragödie 3 6 , 4 4 , 4 8 , 7 1 , 9 3 , 100, 240, 243,250 Transparenz 40-42, 80f., 84, 89, 183 Troeltsch, E. 4

292

Konstruktion von Wirklichkeit

Trope 10, 48, 59 Tropologie 34, 40, 43f., 48, 59 Twain, M. 171,173 Überreste 202f.,217f. Umkehrung 34, 38-44, 45-49, 52-54, 76, 97, 99, 264 Unterdeterminiertheit 88f. Unterscheidung, mosaische 183186, 190f. Freund-Feind- 185f., 190 Unwahrheit 75, 184f„ 190 Urchristentum 209f., 213, 216, 218f., 247, 270 Valerius Maximus 245 Verantwortlichkeit 94, 103 Vergangenheit 3f., 6, 12£, 17, 2124, 26-30, 34, 36, 38, 41, 51f„ 54f„ 57, 66, 76, 83, 87-90, 95f„ 102-105, 158, 169f., 195,201203, 207-209, 21 lf., 215, 217219, 222, 227, 230-235, 263f., 271 deutsche 93, 104 Verifikation 81 Vernunft 2 0 , 3 1 , 6 5 , 7 7 , 1 3 9 , 144, 162f., 198f. historische 19f., 98f., 179-199, 269 Versprachlichung 165, 169, 201 f. Verstehen 68, 71, 114, 127, 132, 169,218 Versuchung 88,97 idealistische 82

Wagner, R. 177 Wahrheit 2, 8, 13, 33-63, 66-68, 73-76, 78f., 81, 83f., 8 6 f , 100, 102, 120, 122-125, 127f„ 171, 184, 186-188, 190-192, 199,

203, 205-207, 217f„ 239-241, 256,264 historische 3,204,218,240, konsenstheoretische 123 Wahrheitsanspruch 41, 52, 5658, 61f., 66, 75f., 78, 86, 184 Wahrheitsbedingungen 57,81 Wahrheitsbegriff 56f., 124, 242 Wahrheitsfähigkeit 39, 41 Wahrnehmung 12, 129, 198, 208, 237f„ 255 Washington, G. 171, 173£, 177, 244 Weltbezug 194, 196 Weltbild 101, 187, 192, 197 Weltdeutung 19,24,204 Weltkrieg 70, 175 Weltlichkeit 188-190 Weltsicht 129,204 Weltverständnis 188 Wende 23, 91, 126 holistische 91 sprachliche 91, 126 Werte 14, 24, 56, 67, 75, 84, 9092, 94-99, 101, 105, 159, 171, 212f., 226f„ 253, 264f. Wertfreiheit 90, 92, 95, 99 Werturteil 4, 68, 72, 74f., 91, 96, 99f., 104, 129, 265 Werturteilsstreit 123 Widerspiegelung 79 Wirken Jesu 210-212,218 Wirklichkeit außertextliche 210 historische 1-18, 19-32, 65106, 263f. Wirklichkeitsbegriff lf., 121, 126, 128, 132, 198 Wirklichkeitsbezug 21,23, 28,31,83, 121, 130, 203 Wirklichkeitsdeutung 129, 132, 199, 203, 217, 266 Wirklichkeitserfahrung 12

Personen- und Sachregister

Wirklichkeitserkenntnis 8 Wirklichkeitskonstruktion 154 Wirklichkeitsregel 102, 105 Wirklichkeitsverhältnis 20, 2224, 264 Wirklichkeitsverständnis 2, 8, 16, 2 0 f , 263, 267 Wissen historisches 65-106, 265 Wissensanspruch 3 9 , 5 1 , 5 6 , 6 6 , 68, 76-78, 101 Wissenschaft 1, 19, 22, 31, 3941,48, 50, 68, 74-80, 82, 86, 91, 94, 96f„ 99, 104f„ 121, 123, 132, 208, 210, 218f., 238, 240, 248

293

Wissenschaftlichkeit 3,78 Wissenschaftstheorie 8, 34, 76f., 79, 83, 85, 98f., 105 Xenophon

241,243

Zeiterfahrung 27,264 Zeitkonstruktion 194 Zeitlichkeit 180 Zukunft 7, 12, 26, 30, 195, 21 lf„ 218, 229, 234 eschatologische 195 Zwei-Quellen-Theorie 246

Verzeichnis der mitwirkenden Autoren Dr. Detlev Dormeyer ist Professor für Neues Testament an der Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie der Universität Dortmund. Dr. Georg Essen ist Professor für Dogmatische Theologie an der Faculteit der Theologie der Radboud Unversiteit Nijmegen. Dr. Hans-Jürgen Goertz ist Professor Emeritus für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg. Dr. Werner H. Kelber ist Professor fur Religious Studies und Direktor des Center for the Study of Cultures an der Rice University (Houston, Texas). Dr. Bernard Lategan ist Professor Emeritus für Religious Studies an der University of Stellenbosch und Direktor des Stellenbosch Institute for Advanced Study (STIAS). Dr. Chris Lorenz ist Professor für Geschichtstheorie an der Faculty of Arts der Vrije Universiteit Amsterdam und der Universiteit Leiden. Dr. Michael Moxter ist Professor für Systematische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Dr. Anton van Niekerk ist Professor für Philosophie und Direktor des Centre for Applied Ethics an der University of Stellenbosch. Dr. Eckart Reinmuth ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Dr. Jörn Rüsen ist Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen und Professor für Allgemeine Geschichte und Geschichtskultur an der Universität Witten-Herdecke. Dr. Jens Schröter ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und Mitglied des Instituts für Urchristentum und Antike an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Irmgard Wagner ist Professor Emerita für Deutsch am College of Arts and Sciences der George Mason University (Fairfax, Virginia).