Konsequente Denkungsart: Studien zu einer philosophischen Tugend 9783787345137, 3787345132

Gerade bei den sogenannten Klassikern der Philosophie lassen sich besonders viele Beispiele für eine konsequente Denkung

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Konsequente Denkungsart: Studien zu einer philosophischen Tugend
 9783787345137, 3787345132

Table of contents :
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Inhalt
Andree Hahmann und Stefan Klingner: Konsequente Denkungsart als philosophische Tugend. Zur Einleitung
I. Beispiele für philosophische Konsequenz
II. Fragwürdige Konsequenz
Stefan Klingner: Ein konsequenter Cartesianer? Spinoza (und Descartes) über Substanz
1. Spinozas vermeintliche Konsequenz: Was ist Substanz?
3. Spinozas inkonsequenter Cartesianismus: Erkenntnis von der Substanz
4. ›Konsequenz‹ als Kategorie der Philosophiegeschichtsschreibung
Mario Brandhorst: Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft
8. Lohnt sich die Investition?
Andree Hahmann: Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen? Kants Universalismus auf dem Prüfstand
3. Konsequenter Rassismus?
Andreas Brandt: Gefährliche Konsequenzen
1.
1. Kants ›Rassenlehre‹
III. Konsequente Interpretation
Katharina Naumann: Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht. Über Kants ›ersten Satz‹ zur Pflicht
1.
2.
3.
4.
Philipp-Alexander Hirsch: »Wer nicht hören will, muss fühlen!«. Strafschmerz bei Kant, oder: Die konsequente Denkungsart der Lehre vom höchsten Gut
1. Strafschmerz: Der blinde Fleck in der kantischen Straftheorie?
4. Strafschmerz und allgemeine Rechtsbegründung
4.1 Rechtszwang
2.4.3 Ehrgefühl als Entschuldigung
5. Strafschmerz und die gesetzmäßige Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit
Hendrik Klinge: Konsequente Eschatologie. Kants philosophische Rekonstruktion der Hölle
1.
2.
2. Spinozas tatsächliche Konsequenz: Begründung von Descartes’ Substanzdefinition
1. Einleitung
2. Was soll die Grundlegung leisten?
2.3 Todesstrafe
2.1.3 Sittlichkeit als Geschenk
IV. Konsequentes Weiterdenken
Dietmar H. Heidemann: Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts. Zur Herkunft des Idealismus des Deutschen Idealismus
1. Einleitung
2. Anti-Idealismus im 18. Jahrhundert
3. Konsequent idealistische Denkungsart: Anti-Idealismus und transzendentaler Idealismus
4. Schluss: Der Ursprung des Idealismus des Deutschen Idealismus
Christian Beyer: Husserl über Existenz und Existenzurteile
1. Einleitung
2. Singuläre Existenzaussagen
5. Husserls Diskussion von Bolzanos Auffassung singulärer Existenzurteile und seine Noema-Konzeption
6. Epilog: Ein »transzendentaler Idealist« als analytischer Philosoph
Literaturverzeichnis
Felix Mühlhölzer: Rechte und linke Hand bei Kant und anderen
1. Das Rechts-links-Phänomen aus kantischer Sicht
2. Das Rechts-links-Phänomen bei Russell und dem frühen Wittgenstein
3. Der späte Wittgenstein und das Rechts-links-Phänomen
4. Hermann Weyl und der erste Grund
5. Wittgenstein und der »erste Grund«

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Andree Hahmann, Stefan Klingner (Hg.)

Konsequente Denkungsart

Meiner

Hahmann/Klingner (Hg.) Konsequente Denkungsart

Andree Hahmann / Stefan Klingner (Hg.)

Konsequente Denkungsart Studien zu einer philosophischen Tugend

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4512-0 ISBN eBook 978-3-7873-4513-7

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Tsinghua University Beijing. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2024. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Printed in Germany.

Inhalt

Andree Hahmann und Stefan Klingner

Konsequente Denkungsart als philosophische Tugend. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I . B E I SP I E L E F Ü R P H ILOS OP H I SC HE KO NS E QU E N Z Gideon Stiening

Von Suárez zu Hobbes. Säkularisierung als konsequente Denkungsart in der frühneuzeitlichen Rechts- und Staatstheorie . . . . . . . . . . .

19

Holmer Steinfath

Selbstdenken und die Schwierigkeiten der Aufklärung über letzte Orientierungen. Kant und die sokratische Tradition . . . . . . . . . . .

39

Martin Brecher

Konsequenter Kosmopolitismus. Kant über die Notwendigkeit einer globalen Rechtsordnung und die Verwirklichung des Völkerrechts durch Weltrepublik und Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marie Ziegler

Die Konsequenzen der konsequenten Denkungsart. Beispiele angewandter Ethik in der Metaphysik der Sitten . . . . . . .

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I I . FR AGW Ü RD IG E KO N SE Q U E N Z Stefan Klingner

Ein konsequenter Cartesianer? Spinoza (und Descartes) über Substanz

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Mario Brandhorst

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft . .

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6

Inhalt

Andree Hahmann

Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen? Kants Universalismus auf dem Prüfstand . . . . . . . .

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Andreas Brandt

Gefährliche Konsequenzen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I I I. KO N SE Q UE N TE IN TE R P R E TAT I ON Katharina Naumann

Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht. Über Kants ›ersten Satz‹ zur Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Philipp-Alexander Hirsch

»Wer nicht hören will, muss fühlen!« Strafschmerz bei Kant, oder: Die konsequente Denkungsart der Lehre vom höchsten Gut . . . . . . 254 Hendrik Klinge

Konsequente Eschatologie. Kants philosophische Rekonstruktion der Hölle . . . . . . . . . . . . .

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I V. KO NS E Q UE N TE S W E IT E R D E N K E N Dietmar H. Heidemann

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts. Zur Herkunft des Idealismus des Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Christian Beyer

Husserl über Existenz und Existenzurteile . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Felix Mühlhölzer

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen . . . . . . . . . . . . . . 354

Andree Hahmann und Stefan Klingner

Konsequente Denkungsart als philosophische Tugend Zur Einleitung Vielleicht, sagte ich, vielleicht aber auch mehr als das, ich weiß es nämlich selbst noch nicht, sondern wohin uns, gleichsam wie ein Wind, das Argument trägt, dahin müssen wir gehen. 1

Auf diese Weise erklärt sich Sokrates seinem Gesprächspartner Adeimantos in Platons Staat. Tatsächlich scheint Platon hier wie auch in seinen anderen Dialogen keine Bedenken zu haben, wohin ihn seine Argumentation führt. So ist es nicht verwunderlich, dass die Ergebnisse seiner Überlegungen nicht selten dem widersprechen, was dem ersten Anschein nach der Fall zu sein scheint, was der Common Sense für richtig hält oder was als geläufige Alltagsintuition gilt. Berühmtestes Beispiel ist sicherlich seine Ideenlehre, die trotz der ihr zugestandenen Konsequenz im Hinblick auf ihre Voraussetzungen von vielen als eine merkwürdige Entgleisung der Philosophiegeschichte angesehen wird. Kant hingegen äußert sich eher wohlwollend über diese Schlussfolgerungen seines antiken Vorgängers: »Eben so verließ Platon die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes.« 2 Was Platon in diese andere Welt der Ideen geführt hat, war die Konsequenz seiner Vernunftschlüsse, wie Kant selbst zugeben muss. Die Vernunft hat ihn also aus dem engen Feld der Erfahrung herausgeführt und ist vor den Ergebnissen ihrer Schlüsse nicht zurückgeschreckt. Aber es sind nicht nur diese scheinbar kontraintuitiven und dem Common Sense widerspre1 Platon, Pol. 394d (Übersetzung, angepasst, entnommen aus: Platon: Der Staat. Politeia. Griechisch-deutsch, übersetzt von Rüdiger Rufener, Einführung, Erläuterung, Inhaltsübersicht und Literaturhinweise von Thomas Alexander Szlezák, Düsseldorf, Zürich 2000). 2 KrV, A 6/B 9. Auf die Texte Kants wird im Folgenden und in den Beiträgen durch Angabe der in den Kant-Studien gebräuchlichen Siglen sowie durch Band- und Seitenangabe aus der Akademieausgabe (AA) verwiesen. Wie üblich stellt die Kritik der reinen Vernunft insofern eine Ausnahme dar, als auf sie durch Angabe der Originalpaginierung der ersten und zweiten Auflage (A/B) verwiesen wird. In einigen Beiträgen werden andere Ausgaben benutzt. In diesen Fällen wird eigens darauf hingewiesen.

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Andree Hahmann und Stefan Klingner

chenden Ergebnisse seines Denkens, sondern auch andere, moralisch skandalöse Einsichten, zu denen ihn die Konsequenz seiner Vernunftschlüsse geführt zu haben scheint. So ist Platons Staat voll von solchen Aussagen, etwa zur Eugenik oder zur Tötung von Kleinkindern, die unter modernen Zeitgenossinnen als besonders problematisch angesehen werden. Andere Aussagen erscheinen den Leserinnen heute zwar nicht mehr in demselben Maße skandalös, waren es aber ganz sicher zur Zeit der Abfassung der Schrift, wie die Erklärung, dass Frauen und Männer prinzipiell über dieselben Vermögen verfügen und daher auch in ähnlicher Weise erzogen werden sollten. Trotz solcher problematisch anmutenden Schlüsse würde kaum jemand den klassischen Status dieses einmaligen Werkes infrage stellen. Die meisten Aussagen sind durch die historische Distanz oft abgemildert genug, um sie in der heutigen Lehre zu behandeln und sie vor irritierten oder gar empörten Studierenden mit dem Hinweis auf den historischen Kontext zu entschuldigen. Damit tut man jedoch weder dem Text noch der philosophischen Lehre einen Gefallen. Denn auf diese Weise gerät die Möglichkeit aus dem Blick, dass die als problematisch empfundenen Aussagen nichts anderes als konsequente Folgen aus solchen Voraussetzungen sind, die vielleicht auch heute noch als akzeptabel oder erstrebenswert angesehen werden, deren Konsequenzen aber von uns – im Unterschied zu Platon – nicht durchschaut oder gar bewusst ausgeblendet werden. Im Folgenden geht es allerdings nicht um die Frage, wie genau Platon zu seinen Schlüssen gekommen ist und ob es sich bei ihnen wirklich um konsequente Folgerungen handelt oder nicht. Vielmehr richtet sich der Blick auf die Eigenschaft der argumentativen Konsequenz selbst, die – so unsere Überzeugung – als wesentlich für die meisten der heute als philosophische Klassiker angesehenen Werke verstanden werden darf. Von Interesse ist dabei, ob es sich beim konsequenten Denken um so etwas wie eine philosophische Tugend handelt und – falls ja – ob es für sich alleine stehen kann oder vielleicht noch von anderen Faktoren abhängt. Immerhin ist nicht ohne weiteres auszuschließen, dass ein als philosophische Tugend verstandenes konsequentes Denken auch mit moralischen Tugenden verknüpft werden sollte oder zumindest mit solchen in Einklang stehen muss. Wenn das aber der Fall sein sollte, so wäre zudem zu fragen, welchen Rang man diesen moralischen Vorstellungen einräumen sollte. Wie das Beispiel Platons eindrucksvoll zeigt, kann konsequentes Philosophieren zu Schlussfolgerungen führen, die im Widerspruch zur Erfahrung stehen. Ein anderes berühmtes historisches Beispiel hierfür ist vermutlich Parmenides, den sein konsequentes Denken zu der Annahme zwingt, dass es gar keine Bewegung gibt. Wie Aristoteles bemerkt, steht diese Ansicht im

Konsequente Denkungsart als philosophische Tugend

Widerspruch zu den Phänomenen und muss daher für den Bereich der Erfahrung als unzutreffend verworfen werden. 3 Hier führt ein konsequentes Philosophieren – wenigstens mit Blick auf einen bestimmten und nicht ganz unwesentlichen Gegenstandsbereich – ins Leere, wenn nicht gar ins Absurde. Ähnliches lässt sich mit Blick auf die zweite Art von Platons Schlüssen sagen. Wenn aus einem konsequent geführten Argument zu folgen scheint, dass beeinträchtigte Kinder nach der Geburt getötet werden sollten, um ein rational gebotenes Ziel zu erreichen, kann das insofern als eine inakzeptable Folge konsequenten Denkens angesehen werden, als es mit bestimmten moralischen Vorstellungen kollidiert. Und da diese wiederum auch gut begründet sein können, stellt sich die Frage, ob das konsequente Philosophieren nicht immer schon durch moralische Schranken eingehegt werden sollte. In Kants Urteil über Platon deutet sich bereits an, dass es mit bloßer Konsequenz im Schließen allein in der Philosophie oft nicht getan ist. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass konsequente Schlüsse zu widerstreitenden Ergebnissen führen. Kant geht sogar noch einen Schritt weiter. Seiner Ansicht nach liegen diese widerstreitenden Ergebnisse in der Natur der menschlichen Vernunft selbst begründet, indem sie sie notwendig aus sich selbst heraus hervorbringt. Die Vernunft verfolge als Vermögen der Schlüsse deren Folgerungen über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus – ganz konsequent – bis zum Unbedingten. Da sie sich auf diese Weise aber selbst in Widersprüche bringt, muss sie sich laut Kant bekanntlich einer kritischen Prüfung unterziehen. Bei dieser Einsicht handelte es sich um einen Grundgedanken der Philosophie Kants, der ihn nach eigener Auskunft erst zum Gedanken einer Kritik des Vernunftvermögens geführt hat. Das bedeutet allerdings nicht, dass Kant damit das Prinzip der Konsequenz aufgegeben hätte. Ganz im Gegenteil, das konsequente Denken nimmt für ihn eine besondere Rolle ein. Auskunft darüber, was genau Kant unter philosophischer Konsequenz versteht, gibt er an einer Stelle aus der Kritik der Urteilskraft, nämlich: »Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.« 4 Sie wird dort als letzte von drei »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« eingeführt. 5 Die ausführlichste Erläuterung dieses Gedankens liefert Kant in seinen

Siehe ph. 184b25 ff. KU, AA 05: 158. 5 Ebd., 158–160. Dass es sich dabei nicht um eine nebensächliche Forderung handelt, wird auch in einem Brief Jachmanns an Kant vom 30. Mai 1795 deutlich, der dieselbe Formulierung aufgreift, um seinen eigenen Vorstellungen, diesmal im Kontext einer religiösen Erziehung, gegenüber Kant Gewicht zu verleihen: »Wenn der Mensch in der Jugend schon an eine ungegründete und inconsequente Denkungsart gewöhnt wird, so lernt er nie nach 3

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Vorlesungen über Anthropologie. Kant nennt diese drei Maximen dort die »Prinzipien des Denkens«: 1. Das Selbstdenken 2. Das denken an die Stelle eines andern 3. Das jederzeit mit sich selbst übereinstimmende Denken. 6

Selbstdenken im Sinne des ersten Prinzips bedeutet dabei, die Vernunft selbst zum obersten Richter über die Wahrheit zu machen. Kant hebt hier aber noch einen anderen Aspekt des Selbstdenkens hervor, nämlich die Vorstellung, dass man das, was man selbst gedacht hat, besser versteht als das, was man von anderen vorgesetzt bekommt. Bei dem zweiten Grundsatz handelt es sich um eine Erweiterung des ersten. Denn man muss Kant zufolge die Fähigkeit besitzen, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, um von den eigenen Absichten und auch vom eigenen begrenzten Standpunkt abstrahieren zu können. Nur so ist es möglich, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel neu zu betrachten. Die zweite Maxime zielt also darauf ab, das Denken so zu gebrauchen, dass man sich über die subjektive Sichtweise erhebt und einen erweiterten Vernunftgebrauch macht, das heißt, dass man sich in die Reihe aller anderen Menschen stellt, um sich so von seinem eigenen Urteil zu distanzieren. Am schwersten fällt es den Menschen jedoch, die dritte Maxime umzusetzen, nämlich die konsequente Denkweise. Dazu muss sie mit den ersten beiden Maximen verbunden sein. Die Umsetzung der ersten beiden Maximen wird also vorausgesetzt: Man kann sagen: die erste dieser Maximen ist die Maxime des Verstandes, die zweite der Urtheilskraft, die dritte der Vernunft. 7

Kant betont von Anfang an die moralische Dimension dieser Eigenschaften des Denkens. So soll es gut sein, die Position des anderen einzunehmen. Ebenso sollen die vernünftigen Forderungen gut sein, die sich aus den Prinzipien Principien denken und sein Gedankensystem bleibt ohne Fundament und Zusammenhang.« (Br, AA 12: 20) 6 V-Anth/Busolt, (1788/89), AA 25: 1480. An anderer Stelle soll es sich um drei Vernunftmaximen handeln: »Es gibt drei besondere Vernunftmaximen: 1. Selbstdenken, es ist das Prinzip der Aufklärung, es ist das Bewußtsein und das erweiterte Vermögen selbst zu denken. 2. An der Stelle jedes andern Denken können, das Vermögen, sich ganz in Denkungsart eines andern versetzen zu können. Man kann es auch die erweiterte Denkart nennen. […] 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken und zu urteilen, dies ist die konsequente Denkungsart.« ([Anthropologie Dohna-Wundlacken] (1791/92; teilw. 1793 u. früheres verw. Ms.: Bentheim, Privatbes. Nach der Erstveröffentl. Kowalewski (1924) II. Von dem Verstande oder dem Obererkenntnisvermögen, Kol. 145) 7 KU, AA 05: 295.

Konsequente Denkungsart als philosophische Tugend

ergeben, vor allem dann, wenn die Prinzipien oder Maximen selbst auch gut sind: Dieser Gebrauch ist zweyerley Theoretisch, das betrifft das Consequente Uhrtheilen, und Practisch das betrifft das Consequente Verfahren, nach guten Grundsäzen zu Handeln […]. 8

Entsprechend macht Kant auch in seiner praktischen Philosophie Gebrauch von der Forderung einer konsequenten Denkungsart: erstens, indem seine eigene »ausführliche Kritik der praktischen Vernunft« ein Paradebeispiel einer solchen sei, indem sie sie »in ein helles Licht« setze; 9 und zweitens, indem sie als »praktische« nichts anderes als den moralischen »Charakter« eines Menschen ausmache. 10 Für Kant kann somit konsequentes Denken als eines der wichtigsten Grundprinzipien menschlicher Rationalität verstanden werden, dem der Mensch sowohl im Denken als auch im Handeln verpflichtet ist. Daraus folgt, dass dieser Anspruch in besonderem Maße auch an die Philosophie zu stellen ist. Denn Philosophie hat es in ausgezeichneter Weise mit der Natur der menschlichen Vernunft zu tun, indem sie diese zum eigenen Gegenstand hat und zum entscheidenden Maßstab des Handelns erklärt. Versteht man Tugend als eine Art Bestform, so liegt es nahe, das Haben und Leben einer konsequenten Denkungsart als eine Tugend zu verstehen. Und insofern es bei ihr – wenn man denn Kant hier folgen will – um die wichtigste und schwierigste Eigenschaft des Denkens geht, darf sie auch als auszeichnende Tugend der Philosophie gelten. Denn wenigstens das erwarten wir vom Philosophieren – dass es die ihm zugrunde gelegten Prinzipien ernst nimmt, deren mitunter unliebsame Folgerungen anerkennt und damit sich selbst und anderen Material für weitere, vielleicht auch als unerhört empfundene Überlegungen zur Verfügung stellt. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass sich gerade bei den sogenannten Klassikern der Philosophie besonders viele Beispiele für eine konsequente Denkungsart finden lassen. Vielleicht ist es sogar genau dieser Umstand, der sie zu philosophischen Klassikern gemacht hat. Dass etwa Kant um der Moral willen den unrechtmäßig Verfolgten seinen Häschern auszuliefern bereit ist, stellt eine unerhörte Provokation selbst für ihm wohlgesonnene Interpretinnen dar. Ebenso anstößig erscheinen und erschienen viele der konsequenten Schlüsse eines Hobbes oder Spinoza, die in ihren philosophischen Werken die 8 9 10

V-Anth/Busolt, AA 25 2/1: 1480. KpV, AA 05: 6 f. Ebd., 152.

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aus den eigenen systematischen Voraussetzungen zwingend folgenden Resultate rigoros ausbuchstabieren. Aus dieser Perspektive erscheint es nur konsequent, wenn sich die konsequente Denkungsart als philosophische Tugend nicht nur am Philosophieren selbst, sondern auch an der Interpretation und Kritik klassischer philosophischer Texte beweist. Nicht selten sind es die Interpretinnen und Interpreten, welche eine nicht sofort erkennbare oder die – vermeintlich oder tatsächlich – mangelnde Konsequenz eines philosophischen Theorieentwurfs aufdecken. Hierzu lässt sich mit Recht Bernd Ludwig zählen, der in seiner Forschung stets der konsequenten Denkungsart philosophischer Texte nachspürte. Beispielhaft zeigt sich das vor allem am Werk und Denken Kants: So hat Bernd Ludwig gezeigt, dass Kant den ersten Entwurf einer kritischen Moralphilosophie aufgrund der Kritik seiner Interpreten radikal umgebaut hat. 11 Durch Pistorius als Rezensent der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten einer Inkonsequenz überführt, überarbeitete Kant nicht nur in großen Teilen seine erste Kritik, sondern legte auch noch eine zweite vor. Ein weiteres Beispiel ist Bernd Ludwigs Neuedition der Metaphysik der Sitten, 12 deren widersprüchliche Textgestalt zuvor lange interpretatorische Probleme bereitete. Für die Wiedergewinnung dieses so bemerkenswerten Textes hat das konsequente Vorgehen der neueren Herausgeber wertvollste Dienste geleistet – auch wenn das bedeutet hat, in die Textgestaltung direkt einzugreifen, um ein angemessenes Textverständnis zu ermöglichen. Doch hierdurch konnte erst die Konsequenz von Kants rechtsphilosophischem Entwurf herausgestellt und gewürdigt werden. Unter dem kantischen Stichwort einer konsequenten Denkungsart lassen sich somit sehr gut verschiedene philosophische Anliegen subsumieren. Nicht zuletzt wird aber auch der Wert ersichtlich, den die Beschäftigung mit den Klassikern für die Philosophie insgesamt hat. Denn Konsequenz im Philosophieren, ihre Grenzen und Gefahren können und müssen erlernt werden. Hierbei dienen die Klassiker als Beispiel und nahezu unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Hinzu kommt, dass diese gerade durch die teils erschreckenden Konsequenzen, die sich aus ihren Annahmen ergeben, nicht bloß als Bei-

11 Vgl. Bernd Ludwig: »Die ›consequente Denkungsart der speculativen Kritik‹. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/4 (2010), S. 595–628. 12 Vgl. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. von Bernd Ludwig. Hamburg 1986, 21998 (Neuausgabe 2009). Vgl. auch Bernd Ludwig: Kants Rechtslehre, Hamburg 1988, 22005.

Konsequente Denkungsart als philosophische Tugend

spiel für eine vermeintlich überwundene philosophische Dogmatik dienen. Ganz im Gegenteil liefert die Beschäftigung mit ihnen die begrifflichen Mittel, das Selbstverständliche der eigenen philosophischen Grundhaltung, die uns nur allzu voreilig als besonders einleuchtend, gesund oder quasi natürlich inspiriert erscheint, konsequent und ohne Denkverbote infrage zu stellen, was allein als eine der Philosophie würdige Denkungsart gelten kann. Der Frage nach der konsequenten Denkungsart als philosophischer Tugend nachzugehen und dabei die Arbeit Bernd Ludwigs zu würdigen, ist das Ziel des vorliegenden Bandes. In ihm sind Beiträge von Kolleginnen und Kollegen, philosophischen Weggefährtinnen und Weggefährten sowie Schülerinnen und Schülern von Bernd Ludwig versammelt, die sich entweder direkt mit dessen Schriften oder aber mit Problemen und Autoren aus dessen Arbeitsgebiet auseinandersetzen. Entsprechend bilden das neuzeitliche Naturrecht, (meta-)ethische, metaphysische und wissenschaftsphilosophische Überlegungen sowie die Philosophie Kants die thematischen Schwerpunkte. Bei allen Beiträgen liegt der Fokus auf der konsequenten Denkungsart in all ihren skizzierten Aspekten. Die Beiträge der ersten Sektion geben Beispiele philosophischer Konsequenz aus der Philosophiegeschichte. Gideon Stiening zeigt, dass Hobbes politische Theorie als Erster konsequent säkular verstanden hat, indem er sie von jedem Rückgriff auf politische Theologie entkoppelte. Damit erweist sich Hobbes als der erste tatsächlich konsequent verfahrende politische Philosoph. Holmer Steinfath greift im Anschluss an Sokrates und Kant die Überlegung auf, dass konsequentes Denken vor allem Selbstdenken verlangt, sodass alle Aspekte des menschlichen Lebens einer kritischen Selbstbefragung unterzogen werden müssen. Dabei sieht er Kant aber auf einem Holzweg, wenn dieser die Beantwortung der »praktischen Grundfrage« (Tugendhat) von der Möglichkeit einer Selbstgesetzgebung abhängig macht. Martin Brecher nimmt die bis heute in der Kant-Rezeption umstrittene Frage, ob das kantische Völkerrecht auf einen Weltstaat oder bloß auf einen Völkerbund abziele, zum Anlass, die Errichtung einer kosmopolitischen Rechtsordnung einschließlich einer rechtsdurchsetzenden Macht als letzte Konsequenz der gesamten Rechtsphilosophie Kants auszuweisen – eine Einsicht, zu der Kant selbst erst in seiner Rechtlehre gekommen ist. Ebenfalls mit dem späten Kant beschäftigt sich Marie Ziegler, die Kants angewandt-ethische Fragestellungen in der Metaphysik der Sitten in den Kontext des Utilitarismus der Philosophie der Aufklärung stellt. Sie zeigt, dass Kant das in der Grundlegung und der zweiten Kritik explizierte Moralgesetz auch bei Fragen an den »Grenzen des Lebens« konsequent anwendet und nur bei wenigen Themen, etwa bei der Abtreibungsdebatte, zu Zugeständnissen bereit ist.

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Andree Hahmann und Stefan Klingner

Die zweite Sektion ist den zwiespältigen, überzogenen und unerwünschten Folgen konsequent verfahrenden philosophischen Denkens gewidmet. Stefan Klingner greift die geläufige Auszeichnung Spinozas als konsequenter Cartesianer auf und zeigt am Beispiel von dessen Suche nach einer Begründung der cartesischen Substanzdefinition, dass Spinozas spekulativer Ansatz in der Ontologie als ganz uncartesianisch beurteilt werden muss. Für die philosophiehistorische Forschung kann somit die Frage nach der konsequenten Denkungsart zwar hilfreich sein, ist aber weiterer systematischer Überlegungen bedürftig, um die jeweils konstatierte Konsequenz auch inhaltlich einschätzen zu können. Mario Brandhorst rekonstruiert die starken metaphysischen Annahmen, die Kants kritische Philosophie ab Mitte der 1780er Jahre tragen. Er stellt sie im Sinne konsequenter Denkungsart zur Debatte, indem er danach fragt, ob Kant mit seiner Lehre vom »Faktum der Vernunft« nicht eine unzumutbare Theorie vorgelegt hat. In der neueren Diskussion um Kants rassistische Äußerungen sieht Andree Hahmann einen blinden Fleck, da in ihr kaum auf den Universalismus der kantischen Philosophie Bezug genommen wird. Er richtet daher weniger den Blick auf Kants ›Rassentheorie‹ als vielmehr auf seine Geschichtsphilosophie, in deren Kontext die Bewertung von Kulturen als mehr oder weniger fortschrittlich nichts weiter als eine konsequente Denkungsart darstellt. Andreas Brandt erinnert in seinem Beitrag daran, dass philosophische Konsequenz auch die Umsetzung philosophischer Lehren im konkreten Handeln bedeuten kann. An den Beispielen Kants und Nelsons macht er deutlich, dass hier alles auf die zugrunde liegenden Prinzipien ankommt: Trotz Nelsons Rigorismus müssen die Konsequenzen, die sich aus Kants abstrakt begründetem Lügenverbot ergeben, als wesentlich schädlicher, sogar als potentiell gefährlich angesehen werden. Die dritte Sektion gibt Beispiele konsequenter Denkungsart in der Interpretation philosophischer Texte. Konsequenz in der philosophischen Forschung schließt oft ein, dass auch die konsequenteste Interpretation selbst Anlass zu konsequentem Weiterdenken gibt, wie Katharina Naumann am Beispiel einer in der Kant-Forschung kontrovers diskutierten Frage zeigt. Sie nimmt Bernd Ludwigs Antwort auf diese Frage zum Anlass, mit ihm über ihn hinauszugehen, indem sie zeigt, dass im ›ersten Satz‹ von Kants Erläuterung des Pflichtbegriffs aus der Grundlegung nicht nur die negative Bestimmung des subjektiven, sondern auch die des objektiven Bestimmungsgrundes des Willens bereits enthalten ist. Philipp-Alexander Hirsch führt vor, wie eine konsequente Auslegung der relevanten Texte Kants den zumeist übersehenen Zusammenhang von kantischer Straftheorie und Lehre vom höchsten Gut zutage fördern kann – der wiederum selbst nichts anderes als eine konsequente Anwendung eines zentralen Prinzips der kantischen Moralphilo-

Konsequente Denkungsart als philosophische Tugend

sophie auf ein spezifisches rechtsphilosophisches Problem ist. An Kants Lehre vom höchsten Gut knüpft auch Hendrik Klinge an, indem er ausgehend von einigen Äußerungen in Vorlesungsnachschriften und in vorbildhafter Konsequenz eine kantische Lehre vom höchsten vollendeten Übel rekonstruiert. Von einer solchen lassen sich in den Druckschriften nur Andeutungen finden, was die Frage aufwirft, ob der Anwalt des konsequenten Denkens hier nicht selbst vor einer Konsequenz zurückgeschreckt ist. Die Beiträge der vierten Sektion thematisieren schließlich in unterschiedlicher Weise das Fortwirken der konsequenten Denkungsart. Dietmar Heidemann macht darauf aufmerksam, dass Kant mit der Auszeichnung seiner Philosophie als Idealismus unter den Zeitgenossen eine Ausnahme darstellte. Sein konsequentes Festhalten daran bahnte jedoch den Weg für die weitere Entwicklung der philosophischen Diskussion hin zum Deutschen Idealismus. Dass Kants konsequente Analyse eines bestimmten singulären Existenzurteils in Husserls transzendentalem Idealismus eine gewisse Fortführung erfährt, zeigt Christian Beyer. Dessen konsequente Analyse singulärer Existenzaussagen machen ihn Beyer zufolge sogar zu einem analytischen Philosophen avant la lettre. Felix Mühlhölzer nimmt Kants Überlegungen zum Problem der inkongruenten Gegenstücke zum Anlass, die seitdem vorgeschlagenen Lösungen nachzuzeichnen, und führt eindringlich vor, wie es im Anschluss an Wittgensteins Überlegungen konsequent aufgelöst werden kann.

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I . BE IS P I E LE FÜ R P HI LOS OPHI SCHE KONSE QUEN Z

Gideon Stiening

Von Suárez zu Hobbes Säkularisierung als konsequente Denkungsart in der frühneuzeitlichen Rechts- und Staatstheorie 1. Einführung: Das Aufscheuchen und Verjagen der »Empusa«

Am 5. Mai des Jahres 1655 beendet Thomas Hobbes ein Buch, an dem er länger als von ihm selbst erwartet gearbeitet hat. Im nunmehr noch zu formulierenden Widmungsschreiben seines gerade vollendeten De Corpore, das an den 3. Earl of Devinshire gerichtet ist, hält er gleichwohl mit der ihm eigenen schnörkellosen Präzision fest, dass die Astronomie als Wissenschaft, d. h. als nach- oder beweisende (demonstrata) Argumentationskette, allererst mit Nikolaus Kopernikus das Licht der Welt erblickt habe. 1 Zwar habe es schon in der Antike vergleichbare Beobachtungen (beispielsweise der täglichen Erddrehung) gegeben, deren hinreichend gewisse Interpretation sei aber allererst durch Kopernikus gelungen, auch wenn er sich durchaus auf die einzelnen Beobachtungen des Pythagoras, des Aristarchs von Samos oder des Philolaos von Tarent als Heliozentriker beziehen konnte. Für Hobbes hat Kopernikus und haben seine Nachfolger mithin die antiken Einsichten erneuert, aber auch dergestalt erweitert, dass sie ihnen einen mehr als empirisch besonderen Status, nämlich einen Status der empirischen Allgemeinheit und damit eines Naturgesetzes zuschreiben konnten. Der Unterschied ist also ein formaler, insofern vielerlei einzelne Beobachtungen verbunden und so konsequent zu einer systematischen Erklärung erweitert werden. Anders verhält sich diese Korrelation von antikem und neuzeitlichem Wissen im Zusammenhang der durch Galilei inaugurierten allgemeinen Physik der Bewegung sowie der von William Harveys Einsicht in den Blutkreislauf ausgehenden Medizin, die beide – auch gegen erhebliche, berufs- oder gar lebensbedrohliche Anfeindungen – an ihren Erkenntnissen festhielten. Nach Hobbes gehen also die Anfänge der Wissenschaft der allgemeinen Physik sowie die der besonderen Physik des menschlichen Körpers allererst auf die

1 Thomas Hobbes: De Corpore. Elementorum Philosophiae Sectio Prima, Édition critique, notes, appendices et index par Karl Schuhmann, Paris 1999, S. 3–6, hier S. 3 f.

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Gideon Stiening

Leistungen »dieser Männer«, 2 und damit der Neuzeit, zurück. Dabei sind im Falle der Erkenntnisse Galileis und Harveys Form und Inhalt neu, weil die Antike und das Mittelalter beispielsweise vom Blutkreislauf weder überhaupt noch als nachgewiesene und damit gewisse Gesetzmäßigkeit wussten. Zusammenfassend heißt es: »Physica ergo res novita est.« 3 Aber um all das geht es Hobbes nicht wirklich. Zwar schreibt er seine allgemeine Körper- und Bewegungslehre in der intendierten – und in bestimmten Bereichen auch erfolgreichen – Fortsetzung dieser Physica nova. 4 Doch erst im Vergleich mit dem Innovationspotential dieser Leistungen der allgemeinen Physik und speziellen Medizin wird der Grad an Neuheit in einem weiteren Bereich tatsächlich erkenntlich; in der unmittelbaren Fortsetzung des Satzes zur Novitia physicae heißt es nämlich: Sed Philosophia Civilis multo adhuc magis; ut quae antiquor non sit (dico lacessitus, utque sciant se parum profecisse obtrectatores mei) libro, quem De Cive ipse scribit. 5

Diesen nicht nur selbstreflektierten, sondern auch selbstbewussten und selbstgewissen Ausführungen ist das Folgende vorläufig zu entnehmen: – Für Hobbes gibt es offensichtlich Grade der Novität, Galilei und Harvey sind schon neu, aber neuer noch oder gar eigentlich neu ist seine 1642 der Öffentlichkeit erstmals präsentierte Staatsphilosophie. – Das Neue ist nicht nur irgendwie anders gegenüber einem älteren, es ist gleichsam unerhört und damit historisch abgrenzbar, vor allem aber ist es einzig wahr; das Alte ist nicht nur zeitlich abgesunken, weil ggf. die historischen Bedingungsfaktoren andere sind und damit eine neue Politik erfordern; vielmehr war es immer schon falsch, denn nur die Überlegungen aus De Cive können begründet den Anspruch auf den Status der Wissenschaftlichkeit überhaupt erheben, deren Gewissheitsanspruch historisch indifferent ist. – Nach Hobbes gibt es zwischen der scientia physica und der scientia civilis nicht nur einen graduellen Unterschied im Hinblick auf die Neuheit der Ebd., S. 4. Ebd. 4 Siehe hierzu u. a. Hermann Weinreich: Über die Bedeutung des Hobbes für das naturwissenschaftliche und mathematische Denken, Leipzig 1911. 5 Hobbes: De Corpore, S. 4; Übersetzung nach Thomas Hobbes: Elemente der Philosophie. Erste Abteilung. Der Körper, hrsg. von Karl Schumann. Hamburg 1997, S. 5: »Aber die Staatsphilosophie ist es noch weit mehr (nämlich neu), ist sie doch nicht neuer (ich sage dies als angegriffener, damit diejenigen, die mich anfeinden, wissen, wie wenig sie erreicht haben), als das Buch, das ich selber über den Bürger (also de cive) verfasst habe.« 2 3

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Erkenntnisse; es gibt auch einen substanziellen Unterschied zwischen diesen wissenschaftlichen Wissensfeldern der theoretischen und der praktischen Vernunft. 6 – Es gibt also schon im Selbstverständnis des mittleren 17. Jahrhunderts nicht nur den Anspruch auf substanziell neue Erkenntnisse, auch wird dieses Neue durch den Nachweis der wissenschaftlichen Dignität enthistorisiert, weil das Alte nicht nur vergangen ist, sondern je schon falsch war. Es wird mit allem Nachdruck zwischen dem Neuen und dem Alten sowie deren je spezifischer Relation in den Natur- und den Politikwissenschaften unterschieden. – Die Verknüpfung der Unterscheidung zwischen neu und alt mit der Differenz zwischen wahr und falsch und damit zwischen begründetem Wissen und angenommener Meinung wird von Hobbes aber noch durch eine weitere Korrelation zwischen den Vergleichsmomenten ausgeführt, die man als Anwendung konsequenter Denkungsart bezeichnen kann und der sowohl für die Natur- als auch für die Politikwissenschaften Geltung zugesprochen wird. Für das Beispiel des Kopernikus stellt Hobbes nämlich fest, dass der frühneuzeitliche Astronom einige schon in der Antike gemachte Beobachtungen nicht nur wiederholt, sondern sie vor allem zur Formulierung eines allgemeinen Naturgesetzes verknüpft, die aus jenen Beobachtungen gewonnen werden müssen, um ihnen Gewissheit zu verschaffen. Diese Konsequenzialisierung gilt auch für die Staatsphilosophie, weil es allererst in De Cive gelungen sei, »jene Empusa, die Metaphysik, aufzuscheuchen und zu verjagen«, 7 d. h. die politische Theorie von ihrer Grundlegung in der politischen Theologie bzw. Metaphysik zu befreien. 8 Hobbes Bezug auf »Empusa«, einem Schreckgespenst der griechischen Mythologie, hat vor allem mit dessen Vielgestaltig- und Wandelbarkeit zu tun; so heißt es in der für Hobbes entscheidenden Referenzstelle bei Aristophanes:

6 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: »Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan«, in: Dieter Hüning (Hg.): Der Lange Schatten des Leviathan. Hobbes politische Philosophie nach 350 Jahren. Vorträge des internationalen Arbeitsgesprächs am 11. und 12. Oktober 2001 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Berlin 2005, S. 55–105. 7 Hobbes: De Corpore, S. 5. 8 Siehe hierzu auch Bernd Ludwig: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes’ philosophischer Entwicklung von De Cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640–1650, Frankfurt a. M. 1998, S. 163 ff. sowie Dietrich Schotte: Die Entmachtung Gottes durch den Leviathan. Thomas Hobbes über Religion, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 296 ff.

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Xanthias: Zeus, steh mit bei, ich seh ein Ungeheuer! Dionysos: Wie sieht’s denn aus? Xanthias: O Graus, bald so, bald so! Ein Ochse, jetzt ein Maultier, jetzt ein Weib: Wie reizend – Dionysos: Wo? Da geht ich gleich drauf los! Xanthias: Verschwunden ist das Weib, jetzt ist’s ein Hund! Dionysos: Ha, die Empusa? 9

An der Zusammenführung von politischer Metaphysik bzw. Theologie und dem Schreckgespenst der Empusa wird nicht nur Hobbes’ rhetorisches und polemisches Geschick deutlich, weil die Vielgestaltigkeit des Gespenstes sowohl anziehend als auch abstoßend sein kann, in beiden Fällen aber ein Faszinosum darstellt, sondern vor allem die Tatsache, dass er seine eigene politische Theorie als eine Gespenster verscheuchende und so Aberglaube und Vorurteile überwindende Aufklärung begreift. Schon für Hobbes’ konsequente Denkungsart im Rahmen seiner politischen Philosophie gilt folglich, dass sie auf der Grundlage bzw. als Folge einer Kritik von Vorteil und Aberglaube, mithin von Aufklärung erfolgt. 10 Weil aber, wie sich gleich zeigen wird, das hobbessche Selbstverständnis sachlich durchaus angemessen ist, wird es sich als erforderlich erweisen, auch für unsere Analysekategorien des mit jenem Selbstverständnis belegten Sachproblems nicht nur an der von Hobbes selbst gebrauchten Unterscheidung zwischen alt und neu festzuhalten. Denn für den hobbesschen Beweisgang ist es essentiell, die alten Überzeugungen durch den Nachweis immanenter Widersprüche oder empirischer Belegfehler zu widerlegen, sodass das Alte als Altes substanzielle Funktion für den Beweis der Wahrheit des Neuen hat. Weil es darüber hinaus schon zeitgenössisch erheblichen Einspruch gegen seine ›Politica‹ gab 11 und auch weiterhin geben sollte, 12 ist an jener UnterAristophanes: Die Frösche, in: ders.: Komödien. Nach einer Übersetzung von Ludwig Seeger hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Hans-Joachim Newiger, München 1990, S. 479. 10 Siehe hierzu die systematischen Zusammenhänge von vorurteilsfreier, mithin aufgeklärter, erweiterter und konsequenter Denkungsart: Immanuel Kant, KU, AA 06: 294 f. 11 Siehe hierzu u. a. Thomas Lau, Volker Reinhardt, Rüdiger Voigt (Hgg.): Der sterbende Gott. Thomas Hobbes’ Lehre von der Allmacht des Leviathan im Spiegel der Zeit, Baden-Baden 2017. 12 Siehe hierzu u. a. Horst Dreitzel: »Hobbes-Rezeptionen. Zur politischen Philosophie der frühen Aufklärung in Deutschland«, in: Politisches Denken 2001, S. 134–174 sowie Merio Scattola: »›Ein Stein des Anstoses‹: Thomas Hobbes und die deutsche Naturrechtslehre des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts«, in: Dieter Hüning (Hg.): Der Lange Schatten des Leviathan. Hobbes politische Philosophie nach 350 Jahren. Vorträge des internationalen Ar9

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scheidung zwischen alt und neu auch deshalb festzuhalten, weil teilweise bewusst gegen das Neue der hobbesschen Politik am Alten – sei es aristotelisch, sei es ciceronianisch oder gar thomasisch – festgehalten wurde. Darüber hinaus wird sich zeigen, dass sich – wie es Hobbes behauptete – nicht nur das Neue am Alten dokumentieren lässt, sondern dass die politische Theorie des De Cive zum ersten Mal die schon von Aristoteles, Cicero oder Thomas intendierte Konzeption des Politischen tatsächlich konsequent begründete – ohne Referenz auf metaphysische oder theologische Prämissen oder Beweisgänge. 13 Hobbes’ politische Theorie ist nicht nur neu bzw. neuzeitlich – wie beispielsweise auch der Gesetzestraktat des Francisco Suárez, der alle drei genannten antiken und mittelalterlichen Theorien u. v. m. zu synthetisieren beanspruchte 14 und doch im Kern eine politische Theologie durchführte 15 –, sie ist einzig konsequent, weil sie von deutlich weniger Prämissen ausgeht als ihre ›Vorläufer‹ (insbesondere Suárez und Grotius), 16 vor allem aber – zumindest begründungstheoretisch – ohne Bezug auf theologische Begriffe, Kategorien und Grundsätze auskommt und deshalb Widersprüche vermeidet. 17 Hobbes politische Theorie in De Cive ist nicht nur grundstürzend neu, sie ist als Zurückweisung theonomer Vorurteile und theologischen Aberglaubens Aufklärung von selbstverschuldeter Unmündigkeit und auf dieser Grundlage auch eine erweiterte Denkungsart, weil sich diese Politica – wie schon die Physik Galileis – über die subjektive Privatbedingung der Gefährdung von Leib und Leben durch kirchliche oder auch staatliche Institutionen hinwegsetzt. Als Verscheuchung der Empusa, also der Überwindung von Vorurteilen und Aberglauben sowie als Überwindung der Ängste vor politischer Verfolbeitsgesprächs am 11. und 12. Oktober 2001 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Berlin 2005, S. 331–354. 13 Siehe hierzu auch Schotte: Die Entmachtung Gottes, S. 269 ff. 14 Siehe hierzu Norbert Brieskorn: »Francisco Suárez und sein Gesetzesbegriff im Kontext«, in: Manfred Walther, Norbert Brieskorn u. Kay Waechter (Hgg.): Transformation des Gesetzesbegriffs im Übergang zur Moderne? Von Thomas von Aquin zu Francisco Suárez, Stuttgart 2008, 105–123. 15 Vgl. hierzu Gideon Stiening: »›Omnium legum discussio est theologicae facultas‹. Zum Verhältnis von Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore«, in: Cornelius Zehetner (Hg.): Menschenrechte und Metaphysik. Beiträge zu Francisco Suárez, Göttingen 2020, S. 129–145. 16 Siehe hierzu Ludwig: Epikureisches Naturrecht, S. 430 ff. 17 Zu einer methodisch abgefederten, daher von normativen Vorannahmen freien Verwendung der Begriffe ›Fortschritt und Rückschritt‹ als historiographischer Kategorien der Philosophiegeschichtsschreibung vgl. Wolfgang Röd: »Fortschritt und Rückschritt in der Philosophiehistorie«, in: Rolf W. Puster (Hg.): Veritas filia Temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte. FS für Rainer Specht zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 1995, S. 31–43.

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gung ist sie in der Lage, eine politische Theorie zu entwerfen, die als säkulare eine tatsächlich konsequente Denkungsart realisiert. 18 Die hier nur vorläufig skizzierte These, dass der Übergang von der politischen Theologie des Francisco Suárez zur politischen Philosophie des Thomas Hobbes als anschauliches Beispiel für eine konsequente Denkungsart im Sinne Kants 19 dienen kann, lässt sich konkreter aufzeigen, und zwar an einem Theoriestück, dessen Geltung Hobbes grundlegend, und d. h. in anthropologischer und polittheoretischer Hinsicht, in Frage stellt, von Suárez jedoch vor seiner neuzeitlich-säkularen Abschaffung bewahrt wird: der appetitus societatis. 20 Aus darstellungstechnischen Gründen ist mit der hobbesschen Kritik am Geselligkeitstrieb zu beginnen.

2. Hobbes: Freiheit statt Geselligkeit

Die Beantwortung der Frage, ob der Mensch von Natur aus zur Gemeinschaft oder Gesellschaft mit seinesgleichen tendiere bzw. strebe oder eben nicht, gehört zu den prägenden und kontrovers geführten Debatten der politischen Gelehrsamkeit der Frühen Neuzeit. Weil nicht nur Aristoteles den Menschen zum ζῷον πολιτικόν (zōon politikon) erklärt, 21 sondern auch Marc Aurel festgehalten hatte, dass »in der Natur des Menschen […] der erste sein Trieb zur Geselligkeit« sei, 22 und noch Thomas von Aquin in der Vermittlung dieses Geselligkeitstheorems mit dem christlichen Schöpfungsgedanken ausgeführt hatte, dass »die natürliche Beschaffenheit des Menschen« darin bestünde, »das für gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf zu sein, das gesellig lebt«, 23 wirkte die hobbessche Infragestellung dieses Dogmas aller politischen Theorie des antiken und mittelalterlichen Westens, die seit dem frühen 17. Jahrhundert auftrat, so verstörend. Nimmt man die drei Damit erfüllt Hobbes’ politische Theorie in De Cive alle drei oben (s. Anm. 10) schon benannten Momente der konsequenten Denkungsart. 19 Kant, KU, AA 05: 294–296. 20 Vgl. hierzu Gideon Stiening: »Appetitus societatis seu libertas. Zu einem Dogma politischer Anthropologie zwischen Suárez, Grotius und Hobbes«, in: Herbert Jaumann u. Gideon Stiening (Hgg.): Neue Diskurse der Gelehrtenkultur. Ein Handbuch, Berlin, Boston, 2016, S. 389–436. 21 Aristoteles: Politik, übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfs. Mit einer Einleitung von Günther Bien, Hamburg 41980, S. 4 u. S. 88 (Pol. 1253 a7–8). 22 Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock, Stuttgart 1995, S. 104. 23 Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, Übersetzung von Friedrich Schreyvogl. Nachwort von Ulrich Matz, Stuttgart 2004, S. 5 f. 18

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historisch bedeutendsten und systematisch ergiebigsten Entwürfe politischer Theorie im frühen 17. Jahrhundert, nämlich Francisco Suárez’ De Legibus ac Deo legislatore (1612), Hugo Grotius’ De Iure Belli ac Pacis (1625) und Thomas Hobbes’ De Cive (1641), dann lässt sich an der unterschiedlichen Stellung der drei Theorien zum Geselligkeitstrieb und ihrer Bedeutung für eine Theorie des Rechts und des Staates diese Kontroverse, die auch und in paradigmatischer Weise eine Auseinandersetzung zwischen politischer Theologie und politischer Philosophie in systematischer Hinsicht ist, anschaulich dokumentieren. Dabei ist allerdings zunächst zu berücksichtigen, dass es zwischen den theologischen Formen des Politischen und dessen philosophischen Begründungen keinerlei Vermittlung geben kann; zu Recht schreibt Heinrich Meier in einem analytischen Teil seiner Überlegungen: Autorität, Offenbarung und Gehorsam sind aber […] die entscheidenden Bestimmungen der Sache der Politischen Theologie. […] Während die Politische Theologie rückhaltlos auf das unum est necessarium des Glaubens baut und in der Wahrheit der Offenbarung ihre Sicherheit findet, stellt die Politische Philosophie die Frage nach dem Richtigen ganz und gar auf den Boden menschlicher Weisheit, um sie hier in der grundsätzlichen und umfassendsten Art und Weise zu entfalten, die dem Menschen aus eigenen Kräften zu Gebote steht. 24

Mit Empusa lassen sich also keine Kompromisse schließen, man muss sie, wie Hobbes festhielt, ›aufscheuchen‹ und ›verjagen‹. Dabei wird sich zeigen, dass die Kritik eines appetitus societatis mit der Säkularität dieser politischen Theorie unmittelbar zusammenhängt und daher nur Hobbes – und eben nicht Grotius oder Suárez – eine tatsächlich philosophische Theorie des Politischen vorlegt, die als solche, weil säkular, einzig konsequent ist. 25 Es ist mithin die Infragestellung der Geltung dieses jahrtausendealten Dogmas, die dessen Bedeutung und die Brisanz der Kontroverse allererst eröffnet. Es heißt aber eben in De Cive (1.2): Eorum qui de Rebus publicus aliquid conscripserunt, maxima pars, vel supponunt, vel petunt, vel postulant, Hominem esse animal aptum natum ad Societatem, Græci dicunt ζῷον πολιτικόν, eoque fundamento ita superædificant doctrinam ciuilem, tanquam ad conseruationem pacis, & totius generis humani regimen, nihil aliud opus esset, quam vt homines in pacta & conditiones quas24 Vgl. hierzu Heinrich Meier: »Was ist politische Theologie? Einführende Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff«, in: Jan Assmann (Hg.): Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. München 32006, S. 7–22. 25 Siehe hierzu Bernd Ludwig: »Auf dem Wege zu einer säkularen Moralwissenschaft: Von Hugo Grotius’ De jure belli ac pacis zu Thomas Hobbes’ Leviathan«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 3–32.

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dam, quas ipsi iam tum leges appellant, consentirent. Quod Axioma, quamquam à plurimis receptum, falsum tamen errorque à nimis leui naturæ humanæ contemplatione profectus est. 26

Dreierlei ist dieser grundlegenden, in der Forschung gleichwohl umstrittenen Passage27 für die nachfolgenden Überlegungen zu entnehmen: 1. Hobbes wirft jener staatsphilosophischen Position, die eine natürliche Geneigtheit des Menschen zur Gesellschaft annimmt, vor, sie setze axiomatisch voraus, sie verlange bzw. sie postuliere, dass eine anthropologische Grundlegung des Staates angenommen werden müsse; Hobbes wird dagegen für seine Ableitungen einen Beweischarakter beanspruchen 28 und so die Thesen von einer natürlichen Vergesellschaftung des Menschen begründet zurückweisen. 2. Den Grund für die Annahme dieses fehlerhaften anthropologischen Axioms bzw. Postulats sieht Hobbes dabei nicht in einer mangelhaften Staatstheorie, sondern vor allem in einer »oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur«. Die Theoretiker einer anthropologischen Grundlegung des Staates sind nach Hobbes also nicht nur mangelhafte Staatstheoretiker, sondern auch und vor allem ungenügende Anthropologen. 3. Ein drittes Moment ist für die folgenden Ausführungen zu den unterschiedlichen Begründungen und Anwendungen eines appetitus societatis von grundlegender Bedeutung: Hobbes bezieht sich kritisch auf die aristotelische Konzeption einer anthropologischen Grundlegung des Staates, nach der »der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist«. 29 Die Autoren des 26 Thomas Hobbes: De Cive. Vom Bürger. Deutsch/Latein, übersetzt von Andree Hahmann. Unter Mitwirkung von Isabelle Zühlke hrsg. von Andree Hahmann und Dieter Hüning. Stuttgart 2017, S. 46/47: »Der größte Teil derer, die über den Staat geschrieben haben, setzt voraus oder verlangt bzw. fordert, dass der Mensch von Natur ein zur Gesellschaft geeignet ist, weshalb die Griechen ihn als ζῷον πολιτικόν bezeichnen. Auf diesem Fundament errichten sie die Lehre vom Staat, als ob zur Erhaltung des Friedens und zur Regierung des menschlichen Geschlechts nichts weiter nötig wäre, als dass die Menschen sich auf bestimmte Verträge und Bedingungen einigten, die sie selber sodann Gesetze nennen. Dieses Axiom ist, obwohl es von viele akzeptiert worden ist, falsch, und der Fehler geht aus einer zu oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur hervor.« Siehe hierzu auch Ludwig: Epikureisches Naturrecht, S. 333 ff. 27 Vgl. hierzu u. a. Otfried Höffe: »3. Naturzustand (Kapitel 1)«, in: ders. (Hg.): Thomas Hobbes: De Cive, Berlin, Boston 2018, S. 1–16. 28 Zu diesem Anspruch vgl. auch Georg Geismann u. Karlfriedrich Herb: »Scholion 116 u. 148«, In: Hobbes über die Freiheit. Widmungsschreiben, Vorwort an die Leser und Kapitel I–III aus »De Cive« (lateinisch-deutsch), eingeleitet und mit Scholien hrsg. von Georg Geismann und Karlfriedrich Herb, Würzburg 1988, S. 80 f. u. S. 97. 29 Aristoteles: Politik, S. 88.

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neuzeitlichen Naturrechts von Hugo Grotius 30 über Samuel Pufendorf 31 und Christian Thomasius 32 bis Johann Gottfried Herder, 33 Ernst Platner 34 oder noch der Kant-Gegner Johann Georg Heinrich Feder 35 beziehen sich allerdings zumeist auf die christlich modifizierte, stoische Variante eines appetitus societatis. 36 Der entscheidende Unterschied dieser Varianten besteht darin, dass für Aristoteles das Streben zur Gesellschaft in der metaphysisch interpretierten Teleologie der menschlichen Natur angelegt ist, während der neuzeitliche Trieb zur Geselligkeit zwar prima vista in der physischen Natur des Menschen, die ihn – so beispielsweise für Grotius – mit Tieren verbindet, enthalten sei, diese aber stets als Schöpfung Gottes interpretiert wird, weshalb sie als theoretische Natur zugleich unmittelbar normative Kraft entfalten kann. Hobbes nun lehnt beide Varianten ab. 37 Es sei noch einmal die entscheidende Differenz betont, die Hobbes herausarbeitet: Nicht etwa wird eingeklagt, das weit verbreitete Axiom bzw. Postulat einer durch die menschliche Natur verbürgten Sozialität setze eine optimisti30 Hugo Grotius: De Iure Belli ac pacis. Libri Tres, in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicvatur, curavit B. J. A. De Kanter, Van Hettinga Tromp. Annotationes novas addiderunt R. Feenstra et C. E. Persenaire, Aalen 1993, Prol. § 6. 31 Samuel Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hrsg. und übersetzt von Klaus Luig, Frankfurt a. M. 1994, S. 47 f. (I. 3. 7) 32 Christian Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, Halle 1709, S. 469. 33 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. von Wolfgang Proß, Darmstadt 1984–2002, Bd. 3.1, S. 147. 34 Vgl. Ernst Platner: Philosophische Aphorismen, nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Anderer Theil, Leipzig 1784, S. 115 ff. (§§ 293–303, spez. § 299). Platner argumentiert hierbei streng naturgeschichtlich, d. h., er betrachtet den Menschen als Moment der ihren eigenen Gesetzen unterworfenen Natur: »Das Beyspiel der geselligen Thierarten beweist unwidersprechlich, daß das Leben eines Wesens mit andern seiner Gattung, ohne zufällige Ereignisse gegründet seyn können in Anlagen und Trieben der Natur.« Platner wendet sich mit dieser Argumentation ausdrücklich gegen Rousseau. Er wiederholt dieses Argument noch in der zweiten Auflage dieses Kompendiums. Vgl. Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Anderer Theil, Leipzig 1800, S. 320 (§ 540). 35 Johann Georg Heinrich Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen, dessen Naturtriebe, Veränderlichkeit, Verhältnis zur Tugend und Glückseligkeit, 4 Teile, Göttingen und Lemgo 1779–1792, hier T. 1, S. 349–351. 36 Vgl. hierzu u. a. Sebastian Kaufmann: »Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau«, in: Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt u. Bernhard Zimmermann (Hgg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne, 2 Bde., Berlin, New York 2008, Bd. 1, S. 229– 292. 37 Siehe hierzu auch Ludwig: Epikureisches Naturrecht, S. 401 ff. sowie Schotte: Die Entmachtung Gottes, S. 296 ff.

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sche Anthropologie fälschlicherweise voraus, wo doch der Mensch recht eigentlich jenes Raubtier sei, das eine pessimistische Anthropologie als Voraussetzung jeder Rechts-, Vertrags- und Staatstheorie unabdingbar mache. 38 Vielmehr enthält die Passage aus De Cive die These, theoretische Anthropologie überhaupt sei für die Grundlegung einer jeden Staatstheorie überflüssig, weil der Ausgangspunkt jeder Theorie legitimer Herrschaft bei der äußeren Freiheit des Individuums – und nicht seiner empirischen Natur – anzusetzen habe. 39 Diese Prämisse führt in einem staatsfreien Naturzustand notwendig zu jenem ius in omnia, dessen gewaltsamen Konsequenzen nur durch das Verlassen dieses Zustandes und das Errichten einer mit Zwangsgewalt ausgestatteten staatlichen Institution zu entgehen ist. Ausdrücklich hält Hobbes in De Cive 1,13 fest, dass es für den mit äußerer Freiheit begabten Menschen ein Widerspruch sei, im Naturstand verbleiben zu wollen: Quicumque igitur manendum in eo statu censuerit, in quo omnia liceant omnibus, contradicit sibimet ipsi. 40

Widersprüche aber sind unbedingt zu vermeiden – nur Luther und der Poststrukturalismus sehen das anders –, weshalb es auch schon bei Hobbes ein unbedingtes praktisches Postulat gibt, den status civilis zu verlassen. Das ist in sehr groben Zügen, was man in der Forschung die ›geltungstheoretische Revolution des Thomas Hobbes‹ nennt. 41 Georg Geismann fasst die argumentationslogische und systematische Substanz der hobbesschen Position mit Bezug auf De Cive 1,13 ff. wie folgt zusammen: Die rein rationale Deduktion der Notwendigkeit des Staates ist die Hobbessche Revolution im rechtsphilosophischen Denken. Zum ersten Mal ist ohne jeden Rekurs auf Erfahrung, vor allem ohne jeden Rekurs auf irgendeine empirische Natur des Menschen, folglich ohne jede anthropologische Voraussetzung, rein apriori, nämlich aus der juridischen Widersprüchlichkeit des natürlichen ZustanSo aber u. a. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 147 ff.; Christoph Link: Hugo Grotius als Staatsdenker, Tübingen 1983, S. 16 und Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2000, S. 109 f.; vgl. dagegen Dieter Hüning: »›Nonne puniendi potestas propria est‹. Die naturrechtliche Begründung der Strafgewalt bei Hugo Grotius«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 93–124, spez. S. 120. 39 Dieses Argument hat dann Kant ausdrücklich gemacht, wenn er in der Metaphysik der Sitten festhält: »[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.« AA VI, 217. 40 Hobbes: De Cive, S. 69/69–70/71: »Wer immer also glaubt, man müsse in diesem Zustand verbleiben, in dem allen alles erlaubt ist, widerspricht sich selbst.« 41 Siehe hierzu u. a. Dieter Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, Berlin 1998, S. 53. 38

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des der Menschheit staatliche Herrschaft durch ihre Notwendigkeit mit Bezug auf die Idee des Rechts legitimiert worden. 42

Die Zurückweisung eines appetitus societatis als anthropologisches Faktum ist also zugleich und vor allem eine Zurückweisung der Annahme, es gebe, ja es müsse gar anthropologische Voraussetzungen rechts- und staatsphilosophischer Theoriebildungen geben. Und dieser Schritt der Zurückweisung des appetitus societatis als anthropologischem Fundament der Rechts- und Staatstheorie überhaupt bei der durch sie ermöglichten Purifizierung des Voraussetzungsapparates auf die äußere Freiheit ist zugleich der Schritt in eine säkulare politische Theorie, die nicht auf kontingenten Vorentscheidungen – Theologie oder Philosophie des Politischen – basiert, sondern sich als konsequente Denkungsart erweist. Es ist nämlich neben vielen anderen Rechts- und Staatstheoretikern Francisco Suárez, 43 der sich für seine Formen einer Grundlegung der Naturrechtstheorie 44 einerseits auf einen Begriff der äußeren Freiheit des Menschen beruft, andererseits und zugleich das Axiom eines appetitus societatis 45 bedient und dafür auf beide methodischen und epistemologischen Instrumente rekurriert: auf Erfahrung und auf die empirische Natur des Menschen. 46 Dabei lässt 42 Georg Geismann: »Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 229–266, hier S. 263. 43 Zur grundlegenden Differenz zwischen Grotius und Hobbes vgl. auch Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 75: »Das Weiterwirken der (auf die Aristotelische Anthropologie zurückzuführenden) Idee einer natürlichen Sozialität [bei Grotius] hatte bei Pufendorf und Thomasius zur Folge, dass die Hobbessche Konzeption des Staates als eines von Menschen gemachten politischen Körpers nicht voll zur Geltung kam. Solange aber im Staat ein wenigstens im Kern natürliches Gebilde erblickt wird, ist es kaum möglich, einen reinen Rechtsbegriff des Staates zu bilden.« 44 Vgl. hierzu auch Kondylis: Aufklärung, S. 151: »Die Anthropologie bildet eben die wichtigste Konstante der neuen Gesellschaftslehre. Bei Grotius bleibt sie optimistisch, d. h. sie beseitigt die Erbsündenlehre und nimmt die natürliche Vernünftigkeit und Soziabilität des Menschen an (appetitus societatis).« 45 Zum axiomatischen Charakter des Appetitus-societatis-Arguments bei Grotius vgl. auch Hendrik van Eikmar Hommes: »Hugo Grotius. Einige Betrachtungen über die Grundmotive seines Rechtsdenkens. Der Unterschied zu dem Rechtsdenken des Johannes Althusius«, in: Theologische, juristische und philologische Beiträge zur frühen Neuzeit. Schriftenreihe der Westphälischen Wilhelms-Universität Münster, Heft 9, Münster 1986, S. 56–70: S. 61; Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 215 f. sowie Benjamin Straumann: »Appetitus societatis and Oikeiosis: Hugo Grotius’ Ciceronian Argument for Natural Law and Just War«, in: Grotiana 24/25 (2003/2004), S. 41–66. 46 Vgl. hierzu auch Hüning: Die naturrechtliche Begründung, S. 117 ff.

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sich zeigen, dass genau dieser, an stoische Traditionen anschließende Bezug auf eine praktische Anthropologie einer von Suárez gesuchten und geleisteten Einbettung ihrer innovativen, durchaus neuzeitlichen Naturrechtskonzepte in theologische Fundamente besonders förderlich ist. Der appetitus societatis bleibt – weil säkularisiertes, anthropologisch-neuzeitliches Pendant der ursprünglichen Schöpfungsgemeinschaft – bis ins späte 18. Jahrhundert Rückversicherung theonomer Theorien unten den Bedingungen einer sich säkularisierenden Neuzeit. 47 ›Hobbes versus Suárez über den appetitus societatis‹ – das ist auch die Auseinandersetzung zwischen einer säkularen politischen Philosophie und einer nur säkularisierten politischen Theologie, durch die sich aber zeigen lässt, dass sich nicht allein die Lösung von der Anthropologie, sondern auch die damit einhergehende Säkularität der politischen Theorie als notwendig erweist, weil sie immanente Widersprüche der politischen Theologie offen legt und überwindet. Dies gilt auch methodisch: Referiert, wie wir gleich sehen werden, Suárez auf die Heilige Schrift als Argumentationsreservoir, sind also bestimmte Axiome und Beweisgänge wahr, weil sie in der Heiligen Schrift stehen (beispielsweise Rom 13,1), so geht es Hobbes, wie er in dem Widmungsschreiben ausdrücklich sagt, nur mehr darum zu zeigen, dass seine Rechts- und Staatsphilosophie der Heiligen Schrift nicht widerspricht. 48 Argumentationslogisch sind De Cive und der Leviathan im Selbstverständnis und zu Recht eine rein säkulare Wissenschaft der Politik. 49

3. Suárez: Gott als ›Vermittlung‹ von Freiheit und Geselligkeit

Ohne jeden Zweifel steht und entsteht Francisco Suárez’ rechtstheologische Summe De Legibus ac Deo legilatore (1612) in einem wissenschaftstheoretisch und theologisch grundlegend anderen Kontext als die nur 30 Jahre später publizierte Schrift De Cive. Nicht nur weist der Conimbricenser Gelehrte schon im Vorwort seine Schrift als eine Rechtstheologie aus, auch stehen seine Ausführungen zum Natur-, Völker- und Staatsrecht in einem systema47 Siehe hierzu auch Norbert Waszek: »La ›tendance à la sociabilité‹ (Trieb zur Geselligkeit) chez Christian Garve«, in: Revue Germanique Internationale 18 (2002), pp. 71–85 sowie Gideon Stiening: »Glück statt Freiheit – Sitten statt Gesetze. Wielands Auseinandersetzung mit Rousseaus politischer Theorie«, in: Wieland-Studien 9 (2016), S. 61–103. 48 Siehe hierzu auch: Michael Großheim: »Religion und Politik. Die Teile II und IV des Leviathan«, in: Wolfgang Kersting (Hg.): Thomas Hobbes. Leviathan, Berlin 1996, S. 283–316. 49 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 1988, S. 250.

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tischen Zusammenhang, der durch die Leges-Hierarchie Thomas von Aquins vorgegeben wurde, die von Grotius und Hobbes gerade nicht mehr vorausgesetzt wurde: Erst nachdem ein allgemeiner Gesetzesbegriff und die lex aeterna als dessen erste Realisation abgehandelt wurden, kommt Suárez zur Besprechung der lex naturalis, des ius gentium und der leges humanae. Darüber hinaus werden das kanonische Recht (DL IV), das Strafrecht (DL V), die Gesetzesauslegung (DL VI), das Gewohnheitsrecht (DL VII), die Privilegien (DL VIII) sowie die Gesetzesbücher des alten und des neuen Bundes (DL IX und X) vollständig und in kritischer Auseinandersetzung mit der gesamten Tradition entfaltet. 50 Eine philosophiegeschichtlich bedeutende Leistung, die Suárez in diesem Traktat erzielte, bestand in der Vermittlung von Intellektualismus und Voluntarismus im Hinblick auf die Begründung von Gründen und Zwecken, von Geltung und Verbindlichkeit des Rechts und damit in der Lösung einer philosophisch-theologischen Problemlage bzw. in der Beendigung einer kontroversen Debatte, die das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit dominiert hatte. 51 Die Lösung dieses spätmittelalterlichen Problems präsentiert sich zugleich als Angebot einer umfassenden politischen Theorie für die Anforderungen der neuen Zeit. 52 In der Unterscheidung zwischen der objektiven Geltung und der subjektiven Verbindlichkeit eines Gesetzes und deren Vermittlung in den Bestimmungsmomenten der Gerechtigkeit und des Nut50 Zu einer alle Bücher von De legibus berücksichtigen Interpretation dieses Werkes vgl. Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening (Hgg.): »Auctoritas omnium legum.« Francisco Suárez’ De Legibus zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. 51 Zu einer Darstellung dieser Leistung vgl. u. a. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 22006, S. 379–395; Dominik Recknagel: »Der Begriff des Naturgesetzes zwischen Intellektualismus und Voluntarismus und die via media bei Francisco Suárez«, in: Andreas Speer, Guy Guldentops (Hgg.): Das Gesetz – The Law – La Loi, Berlin, Boston 2014, S. 509–524; kritisch dazu Simon Eultgen: »Der Begriff der Verbindlichkeit im Naturrecht Francisco Suárez’«, in: Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening (Hgg.): Das Naturrechtsdenken des Francisco Suárez, Berlin, Boston 2017. 52 Die genuin neuzeitlichen Konturen dieser Rechtsphilosophie betont Norbert Brieskorn: »Lex und ius bei Francisco Suárez«, in: Alexander Fidora, Matthias Lutz-Bachmann und Andreas Wagner (Hgg.): Lex und Ius/Gesetz und Recht, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 429–463; das bleibt allein deshalb problematisch, weil für Suárez Freiheit als Natur und ursprüngliches Recht des Menschen von diesem vollkommen entäußert werden kann; nach Suárez darf sich der Mensch in die Sklaverei verkaufen; vgl. dazu: Francisco Suárez: De legibis ac Deo legislatore. Liber II. / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch II, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening, Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. 438/439 (DL II. 20. 6).

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zens einerseits sowie der Verpflichtung andererseits ebnet Suárez nicht allein dem Begriff des subjektiven Rechts die Bahn, 53 sondern auch Fragen der motivationalen Einhaltung von Rechtspflichten. 54 Um dem Anspruch auf neuzeitliche Relevanz zu genügen, löst Suárez nicht nur dieses jahrhundertealte Grundlagenproblem politischer Philosophie und Theologie, er entwirft auch rechtstheoretisch genuin Neues, wie das Buch über die Gesetzesauslegung 55 oder auch Momente einer Rechtstheorie, die für die Neuzeit runderneuert werden, wie seine Interpretation des Gewohnheitsrechts gegen die Tendenzen seiner Abschaffung. 56 Vor allem aber legt der Conimbricenser Theologe und Philosoph seinen rechtslogischen Deduktionen – insbesondere im Zusammenhang seiner Ausführungen zum Staatsrecht – einen Begriff äußerer Freiheit zugrunde, der den ideen- wie realpolitischen Bedeutungen dieses Konzepts in der Frühen Neuzeit 57 Rechnung tragen sollte. 58 Wie eben auch kurze Zeit später für Hobbes, 59 so ist auch schon für Suárez klar, dass die Annahme äußerer Freiheit als wesentliche Voraussetzung jeder Rechtstheorie zu einer Beantwortung der Frage der Legitimität politischer Herrschaft drängt. Suárez beginnt also seine Ausführungen zum Staatsrecht mit einigen Überlegungen zur praktischen Anthropologie als Fundament seiner Staatstheorie: 60 Auf der einen Seite sei der Mensch nämlich von Natur aus frei und diese 53 So zu Recht Matthias Kaufmann: »Francisco Suárez, Abhandlung über die Gesetze (1612)«, in: Manfred Brocker (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 182–198. 54 Vgl. hierzu auch Dieter Hüning: »Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie«, in: Oliver-Pierre Rudolph und Jean-François Goubet (Hgg.): Die Psychologie Christian Wolffs. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte, Tübingen 2004, S. 143–167. 55 Siehe hierzu Oliver Bach: »Juridische Hermeneutik. Francisco Suárez zur Auslegung und Veränderung der menschlichen Gesetze (DL VI)«, in: Bach, Brieskorn, Stiening (Hgg.): »Auctoritas omnium legum«, S. 267–309. 56 Zu diesem Problembereich neuzeitlicher Rechtstheorie vgl. Roy Garré: Consuetudo. Das Gewohnheitsrecht in der Rechtsquellen- und Methodenlehre des späten jus commune in Italien (16.–18. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 2005. 57 Siehe hierzu u. a. Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 31 ff. 58 Siehe hierzu Brieskorn: Lex und ius, S. 441 sowie Gideon Stiening: »›Der hohe Rang der Theologie‹? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez, in: Bach, Brieskorn, Stiening (Hgg.): »Auctoritas omnium legum«, S. 97–133. 59 Vgl. hierzu u. a. Hüning: Freiheit und Herrschaft, S. 59 ff. 60 Zur anthropologischen Fundierung der suárezschen Staatstheorie vgl. auch Markus Kremer: Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez (1548–1617), Stuttgart 2008, S. 107 ff.

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Prämisse müsse die Frage nach einer allgemeinen Legitimität menschlicher Herrschaft aufdrängen: Itaque quaestio est an homines, ex sola rei natura loquendo, possint imperare hominibus per proprias leges eos obligando. Ratio autem dubitandi esse potest, quia homo natura sua liber est et nulli subiectus nisi creatori tantum. Ergo principatus humanus contra naturae ordinem est et tyrannidem includit. 61

Suárez erkennt klar, dass eine der praktischen Natur des Menschen zukommende, unbegrenzte äußere Freiheit nicht ohne weiteres eingeschränkt werden darf und dass damit das Legitimitätsproblem politischer Herrschaft über den Menschen allererst entsteht. 62 Im Hintergrund dieser neuzeitlich säkularen Prämisse steht Suárez’ in seiner Metaphysik gewonnener Freiheitsbegriff, der substanziell von allen Formen natürlicher Gesetzesordnung unterschieden wird und somit als Inbegriff einer reinen praktischen Vernunft einzig dem Menschen als dessen essentielle Bestimmung zukommt: Dico ergo primo, evidens esse naturali ratione et ipso rerum experimento hominem in multis actibus suis non ferri ex necessitate, sed ex voluntate sua et libertate. 63

Ausdrücklich verbindet Suárez diese Willens- und Handlungsfreiheit 64 einschließende Bestimmung mit dem Begriff der Spontaneität; im Kontext der 61 DL III. 1. 1; das hier vorrangig interessierende Buch 3 dieses Werkes wird zitiert nach Francisco Suárez: De legibis ac Deo legislatore. Liber III. / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch III, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2014, Bd. I, S. 6/7: »Daher lautet unsere Frage, ob Menschen, allein unter Rücksicht der Eigenart der menschlichen Beziehungen, anderen Menschen befehlen dürfen, und zwar indem sie ihnen durch von ihnen selbst angefertigte Gesetze eine Verpflichtung auferlegen. Zweifel daran können aufkommen, weil der Mensch von seiner Natur aus frei und niemandem außer seinem Schöpfer allein unterworfen ist. Also widerspricht doch eine Vorherrschaft von Menschen über Menschen der Ordnung der Natur und trägt tyrannische Züge.« 62 Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde weist zu Recht mit Bezug auf Defensio fidei darauf hin, dass diese Freiheit für Suárez zwar angeboren und damit für alle praktischen Fragen zu berücksichtigen ist, nicht aber als unveräußerlich bestimmt wird (vgl. auch DL III. 3. 7), womit die Grenze zu neuzeitlichen Freiheitsbestimmungen präzise markiert wird. Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 386. 63 Francisco Suárez: Disputationes metaphysicae. 2 Bde. Paris, 1866 [ND Hildesheim 2009], XIX. 2. 12: »Ich sage also erstens, dass es sowohl aus natürlichen Gründen als auch aus der Erfahrung der Dinge evident ist, dass der Mensch viele seiner Handlungen nicht aus Notwendigkeit, sondern aus einem eigenen Willen und aus Freiheit begeht.« 64 Dass Suárez Willens- und Handlungsfreiheit klar zu unterscheiden wusste (und sie daher an dieser Stelle bewusst vermittelt), zeigt Christian Schäfer »Freedom oder Liberty? Der freie Mensch in der (spät)scholastischen Deutung von De anima«, in: Matthias Kauf-

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zentralen theologischen Frage nach dem Verhältnis von Gnade, Providenz und Prädestination einerseits und dem freien Willen des Menschen andererseits hält er ausdrücklich fest: »[C]um sit evidentissimum nos quae voluntate agimus, non coacte, sed spontanee agere.« 65 Diese Befähigung zur Spontaneität wird einerseits mit dem Begriff der Indifferenz verbunden, mithin der Freiheit als Willkür, die sich auch darauf erstreckt, zu handeln oder zu unterlassen. Andererseits ist die Spontaneität des so freien Willens aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Geist des Menschen in der Lage, sich freie Zwecke zu setzen, die vom Verstand vorgegeben werden; ausdrücklich spricht Suárez von einer »causa libera«. 66 Nur weil der Mensch frei ist bzw. eine facultas libera besitzt, 67 kann er böse, aber eben auch gut handeln, welches Letztere zu erkennen ihm seine Intelligenz ermöglicht. Um diese Freiheit einschränken zu können und zu dürfen, bedarf staatliche Herrschaft mithin einer zureichenden Legitimation. Der anfänglich entfalteten These, dass der Mensch vor allem frei sei und als freies Geschöpf lediglich seinem Schöpfer unterworfen sei, hält Suárez jedoch ein nun schon bekanntes anthropologisches Argument entgegen, das er mit Aristoteles und Thomas wie folgt entwickelt: Ratio sumenda est ex Philosopho eamque explicit divus Thomas et elegantissime divus Chrysostomus nititurque duobus principiis. Primum est hominem esse animal sociale et naturaliter recteque appetere in communitate vivere. […] Secundum principium est in communitate perfecta necessariam esse potestatem ad quam spectet gubernatio communitatis, quod etiam ex terminis videtur per se notum. Nam, ut ait sapiens: Ubi non est gubernator, corruet populus. Natura autem non deficit in necessariis. Ergo sicut communitas perfecta est rationi et naturali iuri consentanea, ita et potestas gubernandi illam, sine qua esset summa confusio in tali communitate. 68 mann u. Robert Schnepf (Hgg.): Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Scholastik, Frankfurt a. M. 2007, S. 85–105, spez. S. 90 ff. 65 Suárez: Disputationes metaphysicae, XIX. 2. 12: »Es ist evident, daß wir durch unseren Willen veranlaßte Handlung spontan und nicht genötigt ausführen.« 66 Ebd., XIX. 9. 1. 67 Ebd., XIX. 2. 18. 68 Suárez: De legibis ac Deo legislatore. Liber III, Bd. 1, S. 10/11 ff. (DL III.1. 3 u. 4): »Dem Werk des Philosophen ist jener Vernunftgrund zu entnehmen, den auch der Hl. Thomas und sehr gekonnt Chrysostomus dargelegt haben. Dieser Grund stützt sich auf zwei Prinzipien. Das erste lautet, der Mensch sei ein gesellschaftliches Wesen und strebe von Natur aus und um seiner Wesenheit willen danach, in Gemeinschaft zu leben. […] Der zweite Grundsatz besagt, dass in einer vollkommenen, also politischen Gemeinschaft eine politische Gewalt nötig ist, welcher die Lenkung der Gemeinschaft zusteht. Das geht aus den Begriffen bereits deutlich hervor; denn, wie der Weise sagt: ›Wo kein Lenker ist, verdirbt das Volk‹. Die Natur

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Der Mensch ist nicht nur frei durch Geburt, sondern in seiner anthropologischen Grundausstattung ebenso auf ein Leben in der Gemeinschaft bezogen, 69 die selbst notwendig so organisiert ist, dass ihr eine mit Zwangsgewalt ausgestattete oberste Herrschaftsinstanz zukommt: [I]mmo est consentaneum rationi naturali, ut humana respublica habeat aliquem cui subiciatur, quamvis ipsum naturale ius per se non effecerit subiectionem politicam sine interventu humanae voluntatis […]. 70

Der Mensch ist nach Suárez folglich durch diese beiden, ebenso natürlichen wie gleichursprünglichen Eigenschaften ausgezeichnet: durch seine uneingeschränkte Freiheit und seinen Drang zur Vergemeinschaftung, seinen appetitus societatis, in einer vollkommenen, d. h. politischen Gemeinschaft. Setzt Grotius unter Absehung der Freiheit auf den natürlichen Geselligkeitstrieb und setzt Hobbes unter expliziter Kritik am appetitus societatis als Grundlage einer Theorie des Rechts und des Staates einzig die äußere Freiheit voraus, so versucht Suárez, beide Vermögen und Ansprüche des Menschen als gleichursprüngliche anthropologische Voraussetzung einer politischen Theorie zu begründen und zu vermitteln. Es gibt hier also einerseits keine Neuerung durch Negation des Alten, sondern den Versuch, das Alte durch das Neue zu ergänzen. Dass diese beiden Eigenschaften als natürliche allerdings nicht konfliktfrei zusammenstimmen können, wird von Suárez nicht eigens reflektiert. Dabei ist evident, dass eine natürliche und so unbeschränkte äußere Freiheit mit dem freien Handeln jedes anderen Menschen in Konflikt geraten muss – unabhängig von der natürlichen und moralischen Disposition der Akteure. 71 Solcher – weil naturzuständlich durchaus lebensgefährliche – Konflikt aber treibt in einem ersten natürlichen Schritt aus der Gesellschaft heraus, womit die Freiheit als natürlicher Grundausstattung des Menschen in ihren Konsequenzen seinem Geselligkeitstrieb zuwiderläuft. Hobbes zeigt also – gerade lässt es aber am Notwendigen nicht fehlen. Wie also die vollkommene Gemeinschaft von der Vernunft und dem Naturrecht her berechtigt ist, so ist es auch die Gewalt, die Gemeinschaft zu lenken, denn ohne sie würde innerhalb der Gemeinschaft die höchste Verwirrung herrschen.« 69 Vgl. hierzu auch Heinrich Rommen: Die Staatslehre des Franz Suárez SJ., Mönchengladbach 1926, S. 96 ff. 70 Suárez: De legibis ac Deo legislatore. Liber III, S. 22/23 (DL III. 1. 11): »Es entspricht der natürlichen Vernunft, dass es in der politischen Gesellschaft jemanden gibt, dem sie sich unterstellt, auch wenn das Naturrecht von sich aus nicht unmittelbar die politische Unterwerfung bewirkt hat, es zu ihr vielmehr des Eingriffs menschlichen Willens bedarf. […].« 71 Vgl. hierzu u. a. Julius Ebbinghaus: »Die Idee des Rechts«, in: ders.: Gesammelte Werke, hrsg. von Georg Geismann und Hariolf Oberer, Bonn 1988 ff, Bd. 2, S. 141–198.

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im Blick auf Suárez –, dass der appetitus societatis nichts anderes ist als das bellum omnium contra omnes. Vor diesem Hintergrund aber widerspricht sich bei Suárez entweder die Natur in ihren sich gegenseitig ausschließenden Grundausstattungen des Menschen oder aber die Gottesinstanz als deren Schöpfer. Beides ist nach Suárez jedoch unmöglich, da Gott sich grundsätzlich nicht widerspricht: »Item quia non potest Deus sibi esse contraries.« 72 Gleiches gilt für seine Schöpfung, die sich als kausal und zweckmäßig geordneter Inbegriff von Gesetzen nicht widersprechen kann. Wenn aber weder Gott noch die Natur sich selbst widersprechen können, dann dürften sie den Menschen nicht zugleich frei und gesellig in die Existenz entlassen. Zwar kann der Mensch in einem zweiten Schritt – weil auch das einsame Leben in der Natur lebensgefährlich ist – sich mit anderen Menschen zu einer staatlichen Gemeinschaft zusammenfinden, doch muss er dafür – wie Suárez präzise ausführt – seine Freiheit beschränken und durch Übertragung seines freien Willens auf die staatliche Herrschaftsinstanz deren Befriedungsleistung ermöglichen. 73 Allerdings bedarf es für diesen Prozess keineswegs eines appetitus societatis, sondern – wie auch bei Hobbes – schlicht der Einsicht in die Widersprüchlichkeit des status naturalis. Sowohl im Hinblick auf die Anthropologie als auch im Hinblick auf die rechts- und staatslogischen Ableitungen bewirkt die Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Geselligkeit also erhebliche Problemlagen. Doch Suárez hält an beiden anthropologischen Setzungen als Grundlegungen seiner Staatstheorie sowie ihrer Gleichursprünglichkeit fest und verstärkt damit die Zwänge für eine theonome Fundierung politischer Staatstheorie. Denn der appetitus societatis solcher Wesen, die zugleich frei und vernünftig sind, ist für Suárez nur realisierbar in einer durch Gesetze regulierten staatlichen Vergemeinschaftung, die für die Garantie der Geltung der Gesetze mit einer zwangsgewaltbewährten Obrigkeit ausgestattet sein muss. Diese gesamte Konstruktion – mithin die Schöpfung des Menschen als eines auf Gemeinschaft mit anderen Menschen angewiesenen, zugleich freien und vernünftigen Wesens, dessen Zusammenleben durch Gesetze ermöglicht wird, deren Geltung und Verbindlichkeit ausschließlich durch eine Obrigkeit garantiert werden kann – ist nach Suárez Produkt ein und desselben Schöpfungs72 Francisco Suárez: De legibis ac Deo legislatore. Liber I. / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch I, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2019, S. 200/201 (DL I. 9. 3): »Ebenso wenig kann Gott mit sich selbst in Widerspruch geraten.« 73 Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Liber III, Bd. 1, S. 30/31 ff. (DL III. 2.3 ff.)

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aktes. Ihre Geltung beziehen alle Gesetze zunächst und zumeist aus ihrer Funktion für die göttliche Schöpfung; mit der Schöpfung des Menschen – und allererst mit dieser – schuf Gott gleichursprünglich das Sein der Gesetze, 74 die den frei und vernünftig handelnden Menschen die Erschaffung einer politischen Gemeinschaft ermöglichen und von ihnen erfordern: Addo praeterea, loquendo de propria lege de qua nunc agimus, tantum esse posse propter creaturam rationalem; nam lex non imponitur nisi naturae liberae, nec habet pro materia nisi actus liberos […]. 75

Weil die Schöpfung selbst – vor allem die der vernünftigen Kreatur – ein Akt des freien Willens Gottes ist, kommt ihren Produkten keine absolute Notwendigkeit zu, die einzig Gott zugeschrieben werden kann, der deshalb auch nicht durch ein Gesetz gebunden ist. 76 Das Gesetz aber ist ein »Geschaffenes bzw. setzt zweifellos irgendein Geschöpf voraus, dessentwegen es erlassen sein müsste«. 77 Gesetze gehören ausschließlich in die Sphäre der zeitlich-endlichen Schöpfung, zu dieser aber mit Notwendigkeit, sobald vernünftige und frei handelnde Kreaturen existieren. Das – letztlich widersprüchliche – Zusammendenken von natürlichem Geselligkeitstrieb, äußerer Freiheit, Recht und Staat ist nach Suárez nur in deren Funktion für den göttlichen Schöpfungsakt möglich. Der appetitus societatis ist vor diesem Hintergrund lediglich der ›naturalisierte‹ Aspekt des durch den Schöpfungsakt dem Menschen aufgegebenen Vergemeinschaftungspostulats und damit in der Tat ein – im blumenbergschen Sinne – nur säkularisierter Begriff der politischen Theologie. Suárez begegnet also dem Neuen, der unbedingten äußeren Freiheit des Menschen, durch dessen Vermittlung mit einem Alten, der Annahme, der Mensch sei ein ζῷον πολιτικόν. Er nimmt dabei allerdings Konzeptionsprobleme in Kauf, die durch die substanzielle Rückführung der Politik in den Kategorienrahmen der Theologie nur scheinbar zu lösen sind.

Vgl. auch die staatstheoretische Argumentation in DL III. 3. 5 u. 6. Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Liber III, Bd. 1, S. 37 (DL I. 3. 2). 76 Vgl. hierzu auch Norbert Brieskorn: »Erde ohne Grenzen – Ordnung ohne Hierarchie. Vitorias und Suárez’ Vorstellungen vom Internationalen Recht«, in: Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger und Philipp Schink (Hgg.): Kosmopolitanismus. Zur Geschichte und Zukunft eines umstrittenen Ideals, Wistweiler, S. 39–58: S. 49: »Suárez verteidigt somit den unmittelbaren Ursprung der politischen Gesellschaft in der Natur und damit Gott.« 77 Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Liber III, Bd. 1, S. 37: »Lex autem omnis vel est aliquid creatum vel certe supponit aliquam creaturam propter quam feratur.« 74 75

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4. Fazit: Säkularität der politischen Theorie als konsequente Denkungsart

Thomas Hobbes hat mit seiner Zurückweisung der Bedeutung des appetitus societatis und damit der natürlichen Anthropologie für eine kohärente Theorie von Recht und Staat eines der drängendsten Probleme der womöglich letzten umfassenden Konzeption politischer Theologie gelöst: Freiheit und Geselligkeit können als Prämissen einer konsequenten Vergemeinschaftungskonzeption nicht gemeinsam, schon gar nicht gleichursprünglich bestehen; sie schließen sich vielmehr aus. War Suárez – ebenso neu und damit neuzeitlich wie Hobbes – mit seinem großangelegten Versuch einer politischen Theologie unter den Bedingungen der Neuzeit nachgerade gezwungen, einen – übrigens von ihm selbst metaphysisch umfänglich und systematisch reflektierten – Begriff äußerer Freiheit mit dem schöpfungstheologisch aufgegebenen Postulat eines Geselligkeitstriebes zu verbinden, so zeigt Hobbes, dass die These von einem solchen Trieb – Gipfel der Provokation bis heute – schon anthropologisch falsch und so polittheoretisch unnötig bzw. gar unmöglich ist. In der – gar nicht theologiekritischen, sondern vielmehr anthropologietheoretischen – Zurückweisung des nur schlecht säkularisierten Theologumenons vom appetitus societatis befreit er aber zugleich alle politische Philosophie von politischer Theologie, und dies nicht etwa, weil er – wie Machiavelli oder Bodin politpragmatisch 78 – davon überzeugt ist, dass der Staat, um die konfessionellen Probleme der Frühen Neuzeit zu regulieren, nur als säkulare Instanz zu bestehen vermag, sondern weil alle konsequente Rechts- und Staatstheorie nur als säkulare politische Philosophie kohärent ausgeführt werden kann. Die ›Aufscheuchung und Verjagung der Empusa‹, die Aufklärung von Vorurteilen und Aberglauben und damit die Überwindung politischer Theologie erweist sich zum Behuf der Formierung einer kohärenten politischen Theorie als notwendig.

78 Siehe hierzu Bernd Ludwig: »Politik als ›ausübende Rechtslehre‹. Zur Staatstheorie Immanuel Kants«, in: Hans Lietzmann, Peter Nitschke (Hgg.): Klassische Politik. Politikverständnisse von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Leverkusen 2000, S. 175–220 sowie Gideon Stiening: »Politik als »ausübende Staatsklugheit«. Machiavelli und die Aufklärung«, in: Comparatio 14.1 (2022), S. 103–125.

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Selbstdenken und die Schwierigkeiten der Aufklärung über letzte Orientierungen Kant und die sokratische Tradition

1. Selbstdenken und die praktische Grundfrage

In seinem 1786 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Aufsatz »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« erklärt Kant, »die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist Aufklärung.« (WDO, AA 08: 146 Anm.) 1 Ähnlich pointiert hält eine Reflexion fest: »Aufgeklärt sein heißt: selbst denken […].« (Refl. 6204, AA 18: 488) Auch im 1784 publizierten Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« wird das Selbstdenken als zentrales Merkmal der Aufklärung herausgestellt. Der Text setzt mit der berühmten Bestimmung ein, nach der gilt: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.« (WA, AA 08: 35) Unmündigkeit aber zeige sich im »Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (ebd.), also im fehlenden Selbstdenken. Selbstverschuldet sei dieses Unvermögen, sofern es sich »einem Mangel der Entschließung und des Mutes« (ebd.) verdanke, nicht dagegen »einem Mangel des Verstandes« (ebd.). Nicht selbst zu denken ist demnach kein kognitives Defizit, sondern Ausdruck eines eigene Entscheidungen scheuenden und zur Feigheit tendierenden Charakters. Wer nicht selbst denkt, leidet nicht an einem schwachen Verstand, sondern an einem schwachen Willen. Meine Hauptfrage ist, ob und wie sich Kants Aufforderung zum Selbstdenken in den Dienst der Beantwortung der sokratischen Frage nach dem guten Leben im Sinn der »praktischen Grundfrage« 2, wie überhaupt zu leben ist, stellen lässt. Was würde es bedeuten, die eigenen Lebensorientierungen in unverstellter Offenheit und ohne blinde Übernahme vorgegebener Normen 1 Ich zitiere Kant nach der Akademie-Ausgabe, die Rechtschreibung passe ich aber zum Teil stillschweigend an. Auf Titel der Werke von Kant, Platon und Aristoteles verweise ich mit üblichen Abkürzungen. 2 Den Ausdruck »praktische Grundfrage« übernehme ich von Ernst Tugendhat. Vgl. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 118.

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zu hinterfragen? Was könnte es heißen, in eigener Sache konsequent zu denken? Müsste uns das Aufklärungsprogramm nicht spätestens dann in unabschließbare Reflexionsspiralen führen, wenn wir es auf unsere fundamentalen Lebensvorstellungen anwendeten? Und welches Motiv sollten wir für eine radikale – individuelle wie kollektive – Selbstbefragung haben? Ist diese Befragung am Ende nicht – wie Nietzsche geargwöhnt hat 3 – gerade ein Hindernis für ein besseres Leben? Ich gehe so vor, dass ich meine Frage(n) sowohl an Kant als auch an Sokrates und Aspekten der antiken Ethik, insbesondere der Platons, zu schärfen versuche. Im nächsten Abschnitt (2) bemühe ich mich um eine Präzisierung der Idee des Selbstdenkens, wie sie sich Kants Schriften entnehmen lässt. Im anschließenden kurzen Abschnitt (3) weise ich auf Parallelen zwischen Kant und Sokrates im Hinblick auf das Ideal des Selbstdenkens hin. Es folgt ein Abschnitt (4), in dem ich bei Kant eine bestimmte Antwort auf die Frage, wie zu leben ist, freilege. Gegen diese Antwort möchte ich im vorletzten Abschnitt (5) Überlegungen stellen, die wieder stärker am Sokrates der (vor allem frühen) platonischen Dialoge angelehnt sind, in erster Linie jedoch eigene Perspektiven eröffnen wollen. Diese Überlegungen machen die Frage nach möglichen Motiven für das Selbstdenken in eigener Sache indes umso dringlicher. Einige Anregungen dazu gebe ich im letzten Abschnitt (6).

2. Kants Verständnis von Selbstdenken

Zunächst ist ja gar nicht klar, was das heißen könnte: selbst zu denken. Hält man sich an Kants Text zur Frage nach dem Wesen der Aufklärung, so ist Selbstdenken als ein Verhältnis zu anderen bestimmt, und zwar als ein negatives. Wer selbst denkt, lässt sich das Denken nicht von anderen abnehmen. Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen heißt eben, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Wer dies beherzigt, braucht nicht »ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.« (WA, AA 08: 35) Diese negative Abgrenzung von anderen – die Weigerung, sich aus Bequemlichkeit im Denken ihrer Leitung zu unterstellen – ist sicherlich nicht im Sinn einer Absonderung von ihnen zu verstehen. Aufklärung ist für Kant nicht zuletzt ein Erziehungsideal; um zu lernen, selbst zu denken, sind wir aber auf andere angewiesen, die uns zum eigenen Vernunftgebrauch animieren. (Vgl. WDO, 3 Man vergleiche dazu Nietzsches Invektiven gegen Sokrates von der Geburt der Tragödie bis zur Götzen-Dämmerung mit dem Abschnitt »Das Problem des Sokrates«.

Selbstdenken und die Schwierigkeiten der Aufklärung über letzte Orientierungen

AA 08: 146, Anm.) Und natürlich können wir nicht alles selbst überprüfen, sondern müssen oft dem Zeugnis anderer vertrauen. Wir sollten jedoch Anhaltspunkte dafür angeben können, dass sie dieses Vertrauen verdienen. Selbst zu denken verbietet nicht, anderer Gedanken zu übernehmen. Es erfordert indes, ihnen nicht blind zu folgen. In Anlehnung an das Konzept des »Man« von Heidegger (gewiss kein Anhänger der Aufklärung!) ließe sich das auch als Aufforderung verstehen, nicht gewissermaßen gedankenlos so zu denken, wie »man« es gewöhnlich tut, und vor allem nicht, weil »man« es so macht. 4 Die Gründe, die das Selbstdenken gelten lässt, dürfen sich nicht unbesehen auf gegebene Traditionen und Gewohnheiten stützen. Das aufgeklärte Selbstdenken ist gegen die Affirmation des bloß Tradierten gerichtet. 5 Eine rein negative Bestimmung des Selbstdenkens, wie sie im AufklärungsAufsatz vorherrscht, kann allerdings nicht befriedigen. Sie zieht unmittelbar den Einwand der Willkür auf sich. Kann sich in Verstandesdingen der Leitung anderer zu entschlagen nicht auch einfach zum idiosynkratischen Grübeln oder zu nur destruktiver Kritik, die am Ende die Grundlagen des Zusammenlebens unterminiert, führen? 6 Kant hat diese Gefahr schon im AufklärungsAufsatz gesehen. Auch deswegen setzt er nicht auf eine Revolution, die nur neue Vorurteile hervorbrächte, welche »eben so wohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen« (WA, AA 08: 36) könnten. Angezeigt sei vielmehr »wahre Reform der Denkungsart« (ebd.). 7 Und auch Kants bekannte Trennung zwischen privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch dient der Vorbeugung eines Räsonierens, das die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft gefährden könnte. 8 Doch hat Kant erst nach dem Aufklä4 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1977, § 27. Es könnte lohnen, in diesem Zusammenhang dem Motiv der Gedankenlosigkeit nachzugehen, in der Hannah Arendt eine Wurzel moralischer Schlechtigkeit gesehen hat; vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Band I: Das Denken, München 1989, S. 23. 5 Gadamer hat dem entgegenhalten wollen, dass der aufklärerische Kampf gegen Vorurteile und Traditionen verkenne, dass diese Bedingungen des Verstehens darstellten. Siehe Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, S. 275 ff., bes. S. 279. 6 Mit Kant ließe sich auch fragen, was das Selbstdenken von einem »Vernünfteln« im pejorativen Sinn unterscheidet. In der Anthropologie wird das Vernünfteln als »ein den Endzweck vorbeigehender Gebrauch der Vernunft, teils aus Unvermögen, teils aus Verfehlung des Gesichtspunkts« (Anth, AA 07: 200) bestimmt. 7 In der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von einer »Revolution der Denkart« (KrV, B XI), die sich in der neuzeitlichen Mathematik und Naturwissenschaft vollzogen habe und nun auf die Kritik der Metaphysik angewandt werden müsse. Der Zusammenhang in »Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?« ist dagegen ein politischer. Im Politischen empfiehlt Kant den Weg der Reform, nicht den der Revolution. 8 Kant hält fest: »[…] der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter den Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch

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rungs-Aufsatz systematische Kriterien für einen richtigen Gebrauch des Selbstdenkens formuliert. Seine reifste Ausgestaltung hat dieses Bemühen in einem Einschub zum § 40 der Kritik der Urteilskraft gefunden, zu dem es eine parallele Stelle in der Logik (Log, AA 09: 57) gibt und der teilweise bereits in einer Anmerkung zum Aufsatz »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« (WDO, AA 08: 146, Anm.) präfiguriert wird. Kant ergänzt dort die Maxime des Selbstdenkens um zwei weitere Maximen, sodass sich eine Maximen-Trias ergibt: »1. Selbstdenken; 2. an der Stelle jedes anderen denken; 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.« (KU, AA 05: 294) In der dritten Kritik nennt Kant die erste Maxime die der »vorurteilsfreien«, die zweite die der »erweiterten« und die dritte die der »konsequenten« Denkungsart; in der Logik wird die erste Maxime die »aufgeklärte« genannt, während die Bezeichnungen der anderen beiden Maximen nahezu identisch mit denen der Kritik ausfallen. Dies lässt sich wohl so verstehen, dass das Selbstdenken das für die Aufklärung Wichtigste bleibt, aber erst im Konzert mit den beiden anderen Maximen richtig aufgefasst wird. Die Maximen betreffen dabei nicht das Erkenntnisvermögen, sondern die »Denkungsart«, die einen »zweckmäßigen Gebrauch« (KU; AA 05: 295) vom Vermögen macht. Im Fall des Selbstdenkens ist dieser Gebrauch ein aktiver. Kant bezeichnet die Maxime des Selbstdenkens deswegen auch als diejenige »einer niemals passiven Vernunft« (KU, AA 05: 294). Mit der zweiten und der dritten Maxime werden keine materialen Bestimmungen des Selbstdenkens ins Spiel gebracht. Das wäre auch problematisch, weil jede solche Bestimmung wieder der Kritik des Selbstdenkens verfallen könnte. Die zusätzlichen Maximen benennen vielmehr formale Restriktionen, die ein kontrolliertes Selbstdenken beachten muss. 9 Die zweite Maxime der »erweiterten« Denkungsart kann man zunächst als Forderung verstehen, das eigene Urteil mit dem anderer abzugleichen. Die blinden Flecke unserer Sichtweise entdecken wir häufig erst, wenn wir uns in die Perspektive anderer hineinversetzen. Eine erweiterte Denkungsart zeige ein Mensch, »wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils […] wegsetzen kann derselben aber darf öfters sehr beschränkt sein, ohne doch dadurch den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf.« (WA, AA 08: 37) Vgl. auch Anthropologie (Anth, AA 07: 200). 9 Zur Formalität vgl. Oliver R. Scholz: »Kants Aufklärungsprogramm: Rekonstruktion und Verteidigung«, in: Heiner F. Klemme (Hg.): Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin 2009, S. 28–42: S. 32.

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und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert« (KU, AA 05: 295). Die aufgeklärte Urteilsbildung hat also eine intersubjektive Dimension. Für Kant ist sie idealiter universell zu erweitern, sodass ich mich letztlich auf den Standpunkt aller zu stellen hätte (»an der Stelle jedes anderen denken« (KU, AA 05: 294); Hervorhebung von mir). Dem korrespondiert im Aufklärungsaufsatz die Forderung, dass sich derjenige, der sich seines eigenen Verstandes bedient, nicht allein als Teil der »Maschine« eingespielter gesellschaftlicher Mechanismen, sondern »zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht« (WA, AA 08: 37). Borniertheit kann nicht nur Resultat der Versteifung auf die je private Sicht sein, sondern auch Ergebnis einer Einschließung in den Echoraum der eigenen Gruppe oder Kultur. Da wir normalerweise erst von uns und unserer Gruppe ausgehen, lässt sich Kants Forderung auch als Forderung nach einer »progressiven Entrelativierung« 10 des eigenen Standpunkts verstehen. Die dritte Maxime der konsequenten Denkungsart stellt prima facie eine Konsistenzanforderung dar. Es geht darum, mit sich übereinzustimmen, das heißt zu verhindern, dass sich die eigenen Überzeugungen widersprechen. Es dürfte der zeitlich (»jederzeit«) und inhaltlich umfassende sowie synthetische Charakter der dritten Maxime sein, der Kant dazu veranlasst, sie als Maxime der Vernunft im Unterschied zu der des Verstandes (erste Maxime) und der der Urteilskraft (zweite Maxime) zu bezeichnen (KU, AA 05: 295). Sie könne nur »durch die Verbindung der beiden ersten und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben erreicht werden« (ebd.). Nicht die Konsistenz der eigenen Überzeugungen als solche ist entscheidend, sondern der bewusste Prozess der Klärung der eigenen Überzeugungen mit dem Ziel der Widerspruchsfreiheit. Das Bild, das sich soweit von Kants Vorstellung von Selbstdenken ergibt, bedarf vor allem dreier wichtiger Ergänzungen, die miteinander systematisch verbunden sind. Erstens erscheint es gerechtfertigt, das Selbstdenken sowohl auf die theoretische Orientierung im Denken als auch auf die praktische im Denken wie Handeln zu beziehen. Steht erst einmal die Bildung von Urteilen über theoretische oder deskriptive Sachverhalte im Vordergrund (das gilt z. B. deutlich in der Logik, wo die drei genannten Maximen Irrtümern über Fakten vorbeugen sollen), so ist nicht zu sehen, warum das Selbstdenken nicht auch auf Zusammenhänge gerichtet sein sollte, die der praktischen Orientierung 10 Dazu Ernst Tugendhat: »Überlegungen zur Methode der Philosophie aus analytischer Sicht«, in: A. Honneth, T. McCarthy, C. Offe, A. Wellmer (Hgg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozess der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989, S. 305–317: S. 316.

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dienen. Im Aufsatz zur Frage, was Aufklärung ist, wird der öffentliche Vernunftgebrauch für besonders notwendig in »Religionsdingen« gehalten, und zwar zum einen, weil sich in diesen Dingen die Menschen besonders schwer täten, »sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen« (WA, AA 08: 40), und zum anderen, weil »unsere Beherrscher« »in Ansehung der Künste und Wissenschaften […] kein Interesse daran haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen« (WA, AA 08: 41), was freilich ein frommer Wunsch geblieben ist. Nun können »Religionsdinge« unzweifelhaft auch theoretische Fragen (etwa nach der Existenz Gottes oder der Möglichkeit von Wundern) provozieren, aber Kants schon angeführter Verweis auf die Bequemlichkeit, sich in Gewissensfragen auf den Seelsorger zu verlassen, ist ein klares Indiz dafür, dass für ihn das Selbstdenken in religiösen Angelegenheiten gerade auch eine praktisch-moralische Dimension hat. 11 Auch sollten die Bürger, wie es ebenfalls im Aufklärungsaufsatz heißt, zwar ihren jeweiligen Verpflichtungen als Bürger selbstverständlich nachkommen (darauf zielt die Einschränkung des »privaten« Vernunftgebrauchs), als »Gelehrte« – also im »öffentlichen« Vernunftgebrauch, den sich Kant vornehmlich über das Schreiben und die Diskussion von Büchern vorstellt – dürften sie dagegen die »Unschicklichkeit« und »Ungerechtigkeit« staatlicher Regelungen anprangern (WA, AA 08: 37 f.). Hier geht es also explizit um praktisch-normative Fragen. Zweitens verknüpft Kant den eigenständigen Vernunftgebrauch spätestens seit dem Aufsatz über die Frage, was es heißt, sich im Denken zu orientieren, mit seiner Idee von Selbstgesetzgebung respektive Autonomie. Eine noch relativ offene Formulierung bietet die häufig zitierte letzte Anmerkung des Textes: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. seiner eigenen Vernunft) suchen. […] Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen. (WDO, AA 08: 146, Anm.)

Zur Not kann man diese Charakterisierung noch als eine Ausgestaltung des allgemeinen Standpunktes begreifen, den einzunehmen die zweite Maxime 11 Klarer noch heißt es in der Anthropologie: »Daß aber der sogenannte Laie (Laicus) in Sachen der Religion, da diese als Moral gewürdigt werden muß, sich seiner eigenen Vernunft nicht bedienen, sondern dem bestallten Geistlichen (Clericus), mithin fremder Vernunft folgen solle, ist ungerecht zu verlangen: da im Moralischen jeder sein Tun und Lassen selbst verantworten muß […].« (Anth, AA 07: 200)

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aus der Kritik der Urteilskraft anmahnt. Aber der Kontext macht klar, dass auch an dieser Stelle schon auf die Selbstgesetzgebung der Vernunft abgezielt wird. Etwas früher im Text ist zu lesen: »Drittens bedeutet auch Freiheit im Denken die Unterwerfung der Vernunft unter keine andere Gesetze, als die sie sich selbst gibt; und ihr Gegenteil ist die Maxime eines gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft. […] Die Folge davon ist natürlicherweise diese: daß, wenn die Vernunft dem Gesetze nicht unterworfen sein will, das sie sich selbst gibt, sie sich unter das Joch der Gesetze beugen muß, die ihr ein anderer gibt.« (WDO, AA 08: 145)

Außerhalb des Rahmens von Kants transzendentalem Idealismus scheint mir diese Erweiterung des Gedankens des Selbstdenkens unverständlich zu sein. 12 In jedem Fall geht sie über die formale Forderung nach Verallgemeinerbarkeit hinaus. In ihrem Licht liest sich die Idee, dass der Selbstdenkende »den obersten Probierstein der Wahrheit […] in seiner eigenen Vernunft […] suchen« (WDO, AA 08: 146, Anm.) müsse, radikaler, als es zunächst anmutet. Für Kant scheint die Selbstgesetzgebung der Vernunft nicht nur den epistemischen Zugang zur Wahrheit zu sichern, sondern diese geradezu zu konstituieren oder mit zu konstituieren – und das ist eine Idee mit großer metaphysischer Hypothek. Der Rekurs auf die Selbstgesetzgebung der Vernunft, der vom Kategorischen Imperativ der Moralphilosophie vertraut ist, von Kant aber auf das theoretische Vernunftvermögen ausgedehnt wird, macht auch allererst verständlich, warum für Kant das Selbstdenken nicht passiv ist. Eine Anmerkung zum § 40 der Kritik der Urteilskraft expliziert unzweideutig, dass mit seiner Vernunft nicht passiv zu sein bedeute, »jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein« (KU, AA 05: 294, Anm.). Dies führt auf die dritte Ergänzung. Über den spezifisch kantischen Autonomiegedanken ist die Idee des Selbstdenkens aufs engste mit den Grundanliegen von Kants Philosophie insgesamt verbunden. 13 Die Aufforderung zum Selbstdenken ist nämlich nicht nur eine Ermächtigung des Denkens, sondern in eins damit seine transzendentale Begrenzung. Im dichten Einschub im § 40 der dritten Kritik wird der Hang zur »passiven Vernunft« mit dem »zur Heteronomie der Vernunft« (KU, AA 05: 294) identifiziert. Dieser Hang Zu einer Kritik von Kants Selbstgesetzgebungs- bzw. Autonomiekonzeption vgl. Charles Larmore: »Was Autonomie sein und nicht sein kann«, in: Axel Honneth (Hg.): Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, S. 279–300. 13 Kant entdeckt sein Autonomiekonzept allerdings erst nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) und allem Anschein auch erst nach dem Aufklärungsaufsatz (1784), in dem von ihm noch keine Rede ist, sieht man einmal von dem Hinweis auf ein Gesetz ab, das »ein Volk sich selbst […] auferlegen könnte« (AA 08: 39). 12

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sei zugleich »das Vorurteil« und das größte Vorurteil sei es, »sich die Natur Regeln, welche der Verstand ihr durch sein eigenes wesentliches Gesetz zum Grunde legt, als nicht unterworfen vorzustellen« (KU AA 05: 294). Dieses besondere Vorurteil bezeichnet Kant als »Aberglaube«, von dem befreit zu werden Aufklärung sei. Zum Aberglauben kommt es, wenn sich der Mensch anheischig macht, über das Übersinnliche, was die Grenzen des Verstandes übersteigt und nicht mehr Gegenstand möglicher Erfahrung sein kann, spekulative Betrachtungen anzustellen. Es ist bekanntlich die zentrale Aufgabe der Vernunftkritik, die Grenze zwischen dem, was Gegenstand möglicher Erfahrung ist, und dem, was den Verstand übersteigt, zu markieren. Da dies ein negatives – falsche Erkenntnisanmaßungen zurückweisendes – Geschäft ist, kann Kant auch sagen, Aufgabe von Aufklärung und Selbstdenken sei, »das bloß Negative […] in der Denkungsart (zumal der öffentlichen) zu erhalten oder herzustellen« (KU, AA 05: 294, Anm.). Was bei Kant als Selbstdenken firmiert, ist am Ende ein komplexes Konzept, das von der relativ schlichten Aufforderung, sich bei der Urteilsfindung nicht unkritisch auf irgendwelche Autoritäten zu verlassen und dadurch den eigenen Verstand »der Leitung eines andern« (WA, AA 08: 35) zu unterstellen, ins Herz der kritischen Philosophie und zur Autonomiekonzeption führt.

3. Kant und Sokrates

In vielem ist Kants Aufklärungsprogramm sokratischer Natur. Nimmt man »Aufklärung« nicht als Epochenbezeichnung, sondern als Bestimmung einer geistigen Haltung 14, kann auch Sokrates 15 als Aufklärer angesehen werden. Zwar formuliert er in den platonischen Dialogen nirgends die drei Maximen, die Kant ersonnen hat. Aber es finden sich bei ihm doch Analoga zu ihnen. Prüft Sokrates andere in ihren Ansprüchen, um das Gute zu wissen, prüft er stets auch sich selbst (apol. 38a). Und er tut dies ohne Rekurs auf unhinterfragte Autoritäten 16, sieht man einmal von seinem Daimonion ab, das ähnlich 14 So schlägt es Michel Foucault vor; vgl. Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann, Rainer Forst, Axel Honneth (Hgg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik an der Aufklärung, Frankfurt/M. 1990, S. 35–54. 15 Mit »Sokrates« meine ich insbesondere den Sokrates der frühen platonischen Dialoge. Ab seinen mittleren Dialogen nimmt Platons Denken in meiner Sicht einen zunehmend unsokratischen, weil dogmatischen und metaphysischen Zug an. Aber diese Sicht ist bekanntlich nicht unkontrovers. 16 Im Gorgias wird eine denkbar radikale Kritik an aller etablierten Politik in Athen geübt (Gorg. 518e–519c), und nimmt man den Sokrates der Politeia hinzu, dann macht er geradezu

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wie ein Gewissen arbeitet und interessanterweise wie Kants grenzziehende Vernunft eine negative Funktion übernimmt, indem es Sokrates nicht sagt, was er tun soll, sondern nur, was er nicht tun soll (apol. 31d, 40a). 17 Wenn Sokrates dem delphischen Gnôthi seauton gerecht werden will, so in dem doppelten Sinn, dass er erkennen will, wie es um ihn bestellt ist, und dass er dies selbst erkennen will. Er will ohne Rücksicht auf sich oder andere herausfinden, was wahr und richtig ist. Insofern macht er sich die Maxime des Selbstdenkens zu eigen. Doch unternimmt er die Suche nach dem Wahren und Guten nicht allein, sondern im beständigen Austausch mit anderen. Ob Sokrates’ Gesprächspartner in den platonischen Dialogen immer hinreichend ernst genommen werden, kann sicherlich bezweifelt werden. Gleichwohl unterliegt Sokrates’ auf der Agora ausgeübtes Reflektieren (vgl. apol. 17c) der Bedingung öffentlicher Überprüfbarkeit. Darin zeigt sich eine Parallele zu Kants zweiter Maxime, sich im Denken in die Perspektive anderer zu versetzen. Und schließlich dient das (wiederum negative) Verfahren des platonischen Elenchos dem Ziel der Konsistenzprüfung. Im Gorgias beharrt Sokrates darauf, dass nichts wichtiger sei, als mit sich selbst übereinzustimmen. »Lieber mögen«, so ruft er aus, »die meisten Menschen nicht mit mir übereinstimmen, sondern das Gegenteil behaupten, als wenn ich als einziger mit mir selbst nicht übereinstimme und mir widerspreche« (Gorg. 482c). Es erscheint mir nicht künstlich, darin eine Vorform von Kants dritter Maxime der konsequenten Denkungsart zu sehen. Beide – Kant wie Sokrates – binden das Selbstdenken an Objektivitätsansprüche. Kant versucht diesem Anspruch, wie wir gesehen haben, einerseits durch die Ergänzung der Maxime des Selbstdenkens durch die anderen beiden Maximen und andererseits durch die Idee eines von der Vernunft selbst gegebenen formal-allgemeinen Gesetzes, also durch den Gedanken der Autonomie, gerecht zu werden. Dem platonischen Sokrates ist die Annahme einer Selbstgesetzgebung der Vernunft fremd. Das Gute, nach dem er sucht, ist sicherlich nicht als Resultat eines Selbsterzeugungsprozesses – und insoweit einer Konstruktion – der Vernunft zu begreifen. Wohl ist für den platonischen Sokrates die Orientierung am Wahren und Guten konstitutiv für den Gebrauch der Vernunft. Als vernünftige Wesen wollen wir wissen, was wirklich gut ist, und nicht, was lediglich so erscheint (vgl. rep. VI. 505d). Die Diftabula rasa mit der gesamten überkommenen griechischen Kultur, von der Literatur über die Religion bis zur Politik (vgl. rep. II.–IV.). Schon in der Apologie gilt Sokrates’ Kritik den Politikern, Dichtern und Handwerkern, die alle nicht über das Wissen, wie zu leben ist, verfügten. 17 Weil Sokrates in entscheidenden Momenten auf die (stets nur abratende) »Stimme« (apol. 31d) seines Daimonion meint hören zu müssen, ist er in gewisser Weise nicht auf sich als souveränes Subjekt zurückgeworfen.

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ferenz zwischen Schein und Sein ist für vernünftiges Überlegen wesentlich. Doch ist das platonische Gute der intentionale Zielpunkt des Überlegens, der diesem als solcher vorgelagert ist. Es zieht uns wie das Schöne an (vgl. symp.), und dieser Magnetismus stellt ein Gegenbild zur Vorstellung des Guten als Konstruktion oder gar (wie bei Hume) als Projektion von uns dar. Ob sich dem ein greifbarer Sinn geben lässt, ist erst einmal offen. Aber das gilt eben nicht minder für Kants eigentümliche Auffassung von Autonomie, in der ein sehr spezieller Begriff von Freiheit artikuliert wird. 18 Überlegen wir jetzt, wie wir vor dem Hintergrund der kantischen und der sokratischen Konzeption konsequenten Selbstdenkens mit der praktischen Grundfrage, wie überhaupt zu leben ist, umgehen könnten. Wohin führt uns das Selbstdenken, wenn wir es auf unsere eigenen letzten Lebensorientierungen beziehen? Sokrates’ ganzes Denken kreist um die Frage nach dem guten Leben. Ein ungeprüftes Leben sei nicht wert, gelebt zu werden (apol. 38a). Darin steckt erstens, dass es Sokrates um die Gestalt seines eigenen Lebens (wie dann erweitert auch des Zusammenlebens in der Polis) geht. Zweitens soll ein nicht reflektiertes Leben, in dem gar nicht der Frage, wie zu leben ist, nachgegangen wird, ein wertloses Leben sein. Oder anders ausgedrückt: Gut kann allenfalls das Leben von Menschen sein, die sich im Selbstdenken auf eben dieses Leben fragend zurückwenden. Es geht Sokrates um ein in diesem Sinn aufgeklärtes Leben, ein epistêmonôs zên (Charm. 173d–e, 174b). Indessen kann sich das gute Leben – jedenfalls das vollkommen gute – nicht in der Selbstbefragung erschöpfen. Deswegen geht es drittens darum herauszufinden, wie über die Selbstprüfung hinaus gut zu leben ist. Wohin uns ein solcher Prozess der Selbstreflexion führen kann, will ich in nur noch loser Orientierung an Sokrates im übernächsten Abschnitt ausloten. In einem ersten Schritt lohnt es aber zu fragen, wie mit Kant das Selbstdenken in den Dienst der Klärung des eigenen Lebens gestellt werden könnte.

4. Kant und die praktische Grundfrage

Anders als bei Sokrates ist bei Kant nicht ausgemacht, was Gegenstand des Selbstdenkens ist und ob es sich primär oder überhaupt auf die Frage, wie zu leben ist, bezieht. Im Aufklärungsaufsatz geht es generell um die ZurückNur ein Wille, der einem selbstgegebenen (formalen) Gesetz unterstellt ist, kann für Kant ein freier Wille sein. Vgl. z. B. § 5 der Kritik der praktischen Vernunft: »Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille.« (KpV AA 05: 29) 18

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weisung angemaßter und nicht eigens ausgewiesener Autoritäten. Kein Buch, kein Seelsorger und kein Arzt sollen mir das Denken abnehmen (WA, AA 08: 35). Im öffentlichen Vernunftgebrauch können Kunst, Wissenschaft, Religion und Politik der eigenständigen Überprüfung unterzogen werden. Politisch führt dies auf die Forderung nach Meinungsfreiheit. Ein freies Denken kann sich nur in einem Staat entfalten, dessen Regenten davon Abstand nehmen, Medien des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu zensieren (vgl. WA, AA 08: 36). Solange die Einzelnen ihren bürgerlichen Verpflichtungen nachkommen, sollen sie vor dem allgemeinen Publikum unbeschränkten Gebrauch von ihrem Vernunftvermögen machen. Kant hegt die Hoffnung, dass diese Freiheit im Denken und Sprechen den gesellschaftlichen Fortschritt befördert und damit einhergehend vermutlich auch das Leben der Einzelnen. Da er glaubt, unter Friedrich II. im »Zeitalter der Aufklärung« (wiewohl noch nicht in einem »aufgeklärten Zeitalter«) zu leben (WA, AA 08: 40), dürfte er Sympathien mit dessen Toleranzbekundung haben, dass jeder nach seiner Fasson selig werden solle, solange er sich, wie hinzuzudenken ist, an die moralischen und rechtlichen Regeln des Zusammenlebens hält. Ungeachtet einer derartigen Wertschätzung eines Pluralismus von Lebensweisen scheint mir Kant dennoch eine eigene Antwort auf die praktische Grundfrage zu geben, die in direkter Verlängerung seines anspruchsvollen Verständnisses von Selbstdenken liegt, wie es sich nach dem Aufsatz zur Beantwortung der Frage, was Aufklärung ist, entwickelt hat. Diese Antwort ist eine durch und durch moralische. Im Unterschied zu einem Liberalismus hobbesscher Provenienz beschränkt sich die Funktion von Kants Moralgesetz ja keineswegs auf die Einhegung destruktiver Privatinteressen zugunsten eines sozial verträglichen Modus Vivendi. Für Kant realisieren wir in der Moral vielmehr unsere »transzendentale« Freiheit und selbstbestimmte Vernunft, durch die wir nicht mehr den Launen unserer Neigungen und den Zwängen der Natur unterworfen sind. In der Moral kommen wir gewissermaßen erst zu uns selbst, zu dem, was wir eigentlich sind. Ohne Moral und Gerechtigkeit drohte nicht nur der Rückfall in den hobbesschen Naturzustand, in dem das menschliche Leben »solitary, poor, nasty, brutish and short« 19 ist. Für Kant verlöre das Leben darüber hinaus jeden Wert. Nur als moralische Wesen, die sich als vernünftige Sinnenwesen dem Anspruch moralischer und ihrer eigenen Vernunft entspringender kategorischer Imperative unterstellt sehen, hätten wir einen unbedingten Wert und stünden wir über der übrigen Natur. In der Kritik der Urteilskraft wird der Mensch (aus der 19 Thomas Hobbes: Leviathan, hrsg. von Edwin Curley, Indianapolis/Cambridge 1994, 13. Kap., S. 76.

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Perspektive der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft) als »Endzweck« der Schöpfung ausgezeichnet (KU, § 84). Nur im Menschen nämlich oder genauer »in diesem als Subjekte der Moralität« sei »die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen« (KU, AA 05: 435), wobei im Begriff der »unbedingten Gesetzgebung« das Autonomieprinzip und die Idee der transzendentalen Freiheit zusammengezogen sind. Allein der gute Wille verleihe unserem Dasein einen »absoluten Wert« (KU, AA 05: 443). Dass sich diese Konstruktion als Antwort auf die sokratische Frage, wie zu leben ist, verstehen lässt, macht eine geradezu dramatische Fußnote an einer etwas früheren Stelle der dritten Kritik deutlich. Etwas gekürzt lautet sie: Was das Leben für uns für einen Wert habe, wenn dieser bloß nach dem geschätzt wird, was man genießt (dem natürlichen Zweck der Summe aller Neigungen, der Glückseligkeit), ist leicht zu entscheiden: Er sinkt unter Null; denn wer wollte wohl das Leben unter denselben Bedingungen, oder auch nach einem neuen, selbstentworfenen (doch dem Naturlauf gemäßen) Plane, der aber auch bloß auf Genuß gestellt wäre, aufs neue antreten? […] Es bleibt wohl nichts übrig als der Wert, den wir unserem Leben selbst geben durch das, was wir nicht alleine tun, sondern auch so unabhängig von der Natur zweckmäßig tun, daß selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann. (KU, AA 05: 434, Anm.)

Nur ein Leben, in dem wir uns in der Moral über unsere eigene Sinnlichkeit wie den Rest der Natur erheben, kann für Kant ein sinnvolles Leben sein, eines, das wert ist, gelebt zu werden. 20 Dabei werden wir durch die Moral, folgen wir Kant, gerade nicht fremdbestimmt. Sich ihrer Leitung zu unterstellen, ist das Gegenteil der Unmündigkeit, sich »der Leitung eines anderen« (WA, AA 08: 35) zu unterstellen. Der Zwang, der in der Moral liegt, geht für Kant von uns selbst – unserem »eigentlichen Selbst« (GMS, AA 04: 457) – aus. Moralisch verpflichtet sind wir nicht mehr durch Gott oder unser Streben nach Glück, sondern allein mittels unserer »eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung« (GMS, AA 04: 432). Das heißt aber auch, dass das kritische Selbstdenken nicht hinter die Moral zurückgehen kann. Das Pathos des Selbstdenkens ist das Pathos der Selbstbestimmung und diese vollendet sich für Kant in der Moral. Wer selbstdenkend sich mit der Befreiung von überkommenen Autoritäten auch noch von der Moral befreien wollte, würde sich selbst widersprechen. Lediglich angemerkt sei, dass sich daraus recht umstandslos das Recht zur Naturbeherrschung ergibt: »Sein [des Menschen als moralisches Wesen] Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann […].« (KU, AA 05: 435) 20

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Mag vielen Kants Antwort auf die praktische Grundfrage befremdlich anmuten – völlig aus der Zeit gefallen ist sie nicht, wie man Äußerungen heutiger Kantianer entnehmen kann. So zitiert Christine Korsgaard Teile der angeführten Passagen der Kritik der Urteilskraft mit sichtlicher Zustimmung, obwohl offenbleibt, ob auch sie meint, dass ohne den moralfähigen Menschen »die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde« (KU, AA 05: 442). 21 Bedeutsamer ist John Rawls’ Bekenntnis, dass es seiner Meinung nach nicht möglich sei, »seine Natur zu verwirklichen, indem man einem Plan folgt, der den Gerechtigkeitssinn nur als ein Bedürfnis unter anderen sieht, das gegen diese abgewogen werden muß«. 22 Denn die gerechte Gesinnung zeige, »wer einer ist, und wenn man ihr um anderer Dinge willen Abbruch tut, so bringt das der Persönlichkeit keine Freiheit ein, sondern läßt den Zufällen des Weltlaufs freie Bahn«. 23 Die Möglichkeit, in Kants Moralphilosophie eine Antwort auf die praktische Grundfrage angelegt zu sehen, in der sich ein ganz bestimmtes Bild vom Menschen als ›Bürger zweier Welten‹ (vgl. GMS, AA 04: 451 ff.) manifestiert, widerspricht nicht Kants bekannter Kritik am Eudämonismus. Das wäre nur dann der Fall, wenn man die Frage, wie zu leben ist, mit der Frage, wie eudaimonia zu erlangen ist, gleichsetzte und eudaimonia im Sinn eines hedonistischen oder auf die Befriedigung von sinnlichen Neigungen abzielenden Glücks verstünde. Kants Kritik am Eudämonismus lebt von einer spezifischen Gegenüberstellung von Moral und Glück (bei Kant »Glückseligkeit«), wie sie auch in der zitierten Fußnote aus der dritten Kritik durchscheint. Darauf kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Skizzenhaft wird man aber von einer doppelten Stoßrichtung der Eudämonismuskritk ausgehen können. Zum einen und primär ist es Kants Ziel, die Normativität der Moral von der Frage nach ihrer Glückszuträglichkeit zu entkoppeln. Den Imperativen der Moral soll ich nicht in der Hoffnung auf Belohnung oder der Furcht vor Strafen folgen (das wäre »Heteronomie«). Moralische Normen sollen mich vielmehr unabhängig von meinen partikularen Glückserwartungen und subjektiven Interessen verpflichten. Wer auf die Frage, warum er seine Versprechen hält oder andere nicht belügt, antwortet, dass ihn dies zumindest mittelbar zum Vorteil gereichen wird, stützt sich auf die falsche Art von Gründen. 24 Korsgaard zitiert diese und andere Stellen im Umfeld der §§ 83 bis 86 der Kritik der Urteilskraft in Christine Korsgaard: »Kant’s Formula of Humanity«, in: dies.: Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, S. 106–132: S. 128 ff. 22 John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1979, S. 623. 23 Ebd. 24 Im britischen Intuitionismus ist diese These dann bestärkt worden; vgl. Harold A. Prichard: »Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?«, in: ders.: Moral Obligation and Duty 21

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Kant muss daher bereits den Versuch einer Begründung der Moral im aufgeklärten Eigeninteresse als sinnwidrig abweisen. 25 Wer zu einer solchen Begründung ansetzt, hat immer schon verkannt, was es heißt, moralisch zu sein. Zum anderen glaubt Kant nicht an eine natürliche Harmonie von Moral und Glück unter endlichen menschlichen Bedingungen. Unzweifelhaft weist er die stoische – und im Ansatz auch schon sokratische – Auffassung zurück, dass Gerechtigkeit bzw. Moralität hinreichende Bedingung für irdisches Glück ist. Unklarer erscheint, ob er ein moralisches Selbstverständnis nicht einmal für eine notwendige Bedingung für das Glück von Menschen hält. Einerseits finden sich bei Kant Motive, die dem platonischen Gedanken, dass die Gerechtigkeit eine Einheit in der Seele stiftet, die diese vor innerer Zerrissenheit und äußeren Kontingenzen schützt (vgl. Platon, rep. IV. 443c–444a), erstaunlich nahe kommen. So heißt es etwa in einer die Wendung zur Transzendentalphilosophie begleitenden Reflexion: Das erste, was der Mensch tun muß, ist, daß er die Freiheit unter Gesetze der Einheit bringt; denn ohne diese ist sein Tun und Lassen lauter Verwirrung.« (Refl. 7202, AA 21: 280) 26

Andererseits neigt Kant einem hedonistischen oder präferentialistischen (auf die Erfüllung von Wünschen abstellenden) Verständnis von Glück zu 27, und dann ist es eine rein empirische Frage, ob es glückliche Schurken geben kann. Beide Stoßrichtungen der Kritik am Eudämonismus führen zu Problemen. Gegen viele Spielarten des Eudämonismus insistiert Kant zu Recht darauf, and Interests, Oxford 1968, S. 1–17. Während es für die Intuitionisten aber einfach evident ist, dass man moralisch sein muss, hat Kant letztlich doch eine Art Antwort auf die Frage, warum ich tun muss, was mir der kategorische Imperativ gebietet: Ich muss es tun, weil ich es selbst will, aber nicht im landläufigen Sinne, sondern qua Vernunftwesen. 25 Vgl. dazu Bernd Ludwig: »Die ›consequente Denkungsart der speculativen Kritik‹«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 595–628, bes. S. 623 ff. Und noch pointierter: Bernd Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M. 2020, S. 16 ff. 26 Vgl. dazu Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen, Darmstadt 1993, S. 114 f. Auch kennt Kant in der Metaphysik der Sitten ein eigenes »moralisches Glück« (MS, AA 06: 377): »Der denkende Mensch nämlich, wenn er über die Anreize zum Laster gesiegt hat und seine, oft saure, Pflicht getan zu haben sich bewußt ist, findet sich in einem Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glückseligkeit nennen kann; in welchem die Tugend ihr eigener Lohn ist.« (MS, AA 06: 377) Entscheidend ist für Kant aber, dass dieses Glück nicht das Motiv für das moralische Handeln ist, sondern dem Handeln aus Pflicht erst nachfolgt. 27 Über Kants Verständnis von Glück bzw. Glückseligkeit informiert knapp und konzise Christoph Horn: »Glück, Glückseligkeit«, in: Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr, Stefano Bacin (Hgg.): Kant-Lexikon Band 1, Berlin 2021, S. 879–882.

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dass ein moralischer Mensch nicht deshalb moralisch handelt, weil er sich davon außermoralische Vorteile verspricht. Platon und Aristoteles sehen dies nicht anders: Der gerechte Mensch handelt gerecht um der Gerechtigkeit willen. 28 Aber das allein kann weder erklären, warum uns die Moral besonders wichtig sein soll, noch verständlich machen, warum ihr der Vorrang vor anderen Belangen gebühren soll. Kant oszilliert hier zwischen einer eher formalen Begründung, nach der jeder einfach deshalb moralisch handeln muss, weil ihm dies die reine praktische Vernunft gebietet, und einer eher substantiellen Begründung, wonach uns eine besondere Würde als Vernunftwesen zukommt, weil wir uns selbst ein Gesetz geben und insoweit von der Determination durch die Natur freimachen können. In beiden Fällen wird ein unplausibel starker Vernunftbegriff bemüht. Umgekehrt führt die Enttäuschung der Glückserwartungen auch des moralischen Menschen zu Problemen, die Kant selbst nicht recht hat abweisen können. Er hadert sichtlich mit der Aussicht, dass das Glück der Einzelnen nur gegen die Moral zu haben sein oder der moralische Mensch regelhaft unglücklich sein könnte. Als vernünftige Wesen unterstehen wir den Geboten der Moral, aber als sinnliche Wesen streben wir notwendigerweise nach Glück; diesen Zweck meint Kant Menschen sogar a priori zuschreiben zu können (GMS, AA 04: 415 f.). So geht ein Riss durch die menschliche Natur, der nach Heilung verlangt. Kant hat Zuflucht bei einer Vernunftreligion gesucht, die dem aufgrund seiner Moralität glückswürdigen Menschen durch einen gütigen Gott das seiner Moralität genau angepasste Maß an Glück in Aussicht stellt (KpV, AA 05: 110). Im Rückblick mutet das Postulat einer proportionalen Entsprechung von Moral und Glück in Form des »höchsten Guts« (ebd.) indes wie eine Verzweiflungstat an. Das beste Leben für Sinnen- und Vernunftwesen wie uns wäre für Kant ein moralisches Leben, das mit der Befriedigung unseres Glücksstrebens belohnt würde. Erst so kämen beide Seiten unserer Natur zu ihrem Recht. Da die Aussichten im Diesseits dafür schlecht stehen, bleibt Kants primäre Antwort auf die praktische Grundfrage die moralische. Wenn nicht ein glückliches, so Für Platon ist Gerechtigkeit ein intrinsisches, kein instrumentelles Gut, obwohl es auch gute Folgen hat (vgl. rep. II. 358a). Und für Aristoteles handelt der tugendhafte Mensch um des kalon willen (EN 1115b13 f.; 1120a23 f.), also wegen etwas Werthaftem, das wir (allemal im Kontext der Gerechtigkeit) als moralisch Werthaftes verstehen können. Die Differenz zu Kant besteht darin, dass für Platon und Aristoteles die genuin moralische Motivation konstitutives Moment der eudaimonia ist und nur als ein solcher Bestandteil für uns wichtig sein kann. Es verhält sich ähnlich wie in der Freundschaft: Freunde helfen sich aus Freundschaft und nicht um des eigenen Vorteils willen, aber überhaupt Freunde zu haben ist konstitutiv für ein gutes Leben. Wer Freunden aus Freundschaft hilft, realisiert damit ein für sein Glück wesentliches Gut. 28

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doch ein sinn- und wertvolles Leben besteht in der Unterordnung unter das allgemeingültige moralische Gesetz, das wir uns kraft unserer eigenen reinen praktischen Vernunft geben.

5. Selbstdenken und gutes Leben jenseits von Kant

Ich glaube nun (ohne hier dafür argumentieren zu können), dass wir uns von Kants zentralen philosophischen Annahmen – insbesondere seinen Vorstellungen von der Selbstgesetzgebung der Vernunft, der transzendentalen Freiheit und der strikten Dichotomie von Vernunft und Sinnlichkeit – freimachen sollten. Nur ist dann sofort wieder offen, wohin uns konsequentes Selbstdenken in eigener Sache führen kann. In dieser Situation befindet sich der platonische Sokrates, der in einer Hinsicht tiefer ansetzt als Kant. Wenn er die Frage aufwirft, wie man leben soll (hontina tropon chrê zên; Platon, rep. I. 352d; Gorg. 500c), dann ist dieses Sollen weder als moralisches noch als ein in engerem Sinn prudentielles zu verstehen. Moralisch ist es nicht, weil gerade erst geprüft werden soll, ob der Gerechtigkeit zu genügen zum guten Leben gehört oder nicht. Aber es ist auch nicht im engeren Sinn prudentiell, weil keine vorgängigen subjektiven Interessen (z. B. das Streben nach Lust) angenommen werden, die nicht ihrerseits daraufhin zu prüfen wären, ob sie dem guten Leben förderlich sind oder nicht. Darin unterscheidet sich die platonische Ethik von den hellenistischen Ethiken, insbesondere der Epikurs, gegen die Kants Kritik des Eudämonismus primär gerichtet ist. Reduziert man die platonische Ethik auf ihre inhaltsoffenen Grundprinzipien (abstrahiert man also z. B. von bestimmten essentialistischen Voraussetzungen, die noch bestimmender für Aristoteles sind), so lassen sich ihr vier Thesen entnehmen. 29 Die erste besagt schlicht, dass wir Wesen sind, die sich die umfassende Frage danach, wie sie leben sollen und wollen, stellen können. Wir haben das Vermögen, reflexiv von unserem Leben Abstand zu nehmen und uns zu fragen, ob es in den richtigen Bahnen verläuft. (Eine andere Frage, auf die ich im nächsten Abschnitt kurz zurückkomme, ist, ob wir uns die Frage, wie zu leben ist, stellen müssen.) Die zweite These lautet, dass wir ein grundlegendes Interesse daran haben, gut zu leben. Sokrates bemerkt an einer Stelle der Politeia, 29 Für die Formulierung der vier Thesen, insbesondere der dritten und vierten, habe ich mich von verschiedenen Arbeiten von Ursula Wolf anregen lassen. Vgl. jüngst etwa Ursula Wolf: »Freiheit oder Glück? Überlegungen im Anschluss an die antike Ethik«, in: K. Günther und U. Volkmann (Hgg.): Freiheit oder Leben? Das Abwägungsproblem der Zukunft, Berlin 2022, S. 143–159, dort bes. S. 157 ff.

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dass Menschen sich in Bezug auf das Gerechte oder Schöne oft mit dem bloßen Schein begnügen würden; ginge es dagegen um das Gute, gebe sich niemand mit dem bloßen Schein zufrieden (rep. VI. 505d). Wir wollen wirklich gut leben und nicht nur dem Anschein nach. In diesem Sinn ist in die Suche nach dem guten Leben eine Wahrheits- oder Realitätsbedingung eingebaut. Die dritte These besteht in der Hoffnung, dass wir über das gute Leben begriffliche und argumentative Überlegungen anstellen können, die uns weiterhelfen. Der platonische Sokrates setzt auf die Kraft seines kritisch-rationalen Elenchos, des Prüfungsgesprächs. 30 Als vierte These lässt sich schließlich die Annahme herauspräparieren, dass wir in unserer Suche nach dem Guten wie dann auch im Elenchos von einer vagen Idee des vollkommen Guten, das in Bezug auf unser Leben die eudaimonia ist, geleitet sind, jedoch so, dass diese Idee im Zuge der Prüfung immer wieder neu artikuliert und spezifiziert werden muss. Es wäre nicht ganz falsch, an diesem Punkt stehenzubleiben. Wohin uns die Frage, wie zu leben gut ist, führt, würde dann der kritischen Diskussion konkreter Lebensentwürfe überlassen bleiben. Ein sehr rudimentäres Modell dafür liefert die vorläufige Erörterung verschiedener Weisen zu leben im dritten Kapitel des ersten Buchs der Nikomachischen Ethik. Aristoteles unterscheidet dort skizzenhaft vier Lebensformen, die jeweils um ein zentrales Gut herum organisiert sind. Das Leben des Gelderwerbs (chrêmatistês bios) wird nur anhangsweise erwähnt. Es kann nicht für ein gutes – und schon gar nicht für das beste Leben – stehen, weil man nach Reichtum vernünftigerweise nur als Mittel für Zwecke strebt, die man um ihrer selbst willen schätzt (1096a5 ff.). Dies ließe sich um Beobachtungen zu den individuellen Pathologien und sozialen wie ökologischen Verwerfungen durch ein Streben nach immer mehr materiellen Gütern ergänzen. 31 Das Genussleben (bios apolaustikos) wird als ein »Leben des Viehs« abqualifiziert, dem die Menge »sklavisch« anhänge (1095b19 ff.). Das ist natürlich mehr Ausdruck arroganter Verachtung der »Vielen« (hoi polloi) als überzeugende Begründung. Die Ablehnung des Genusslebens wird jedoch später zum einen durch eine differenzierte Phänomenologie verschiedener Arten In diesem Zusammenhang spricht Christoph Horn in seiner Rezension eines Buches von Ursula Wolf treffend von einem »Optimismus der elenktischen Rationalität«; vgl. Christoph Horn: »Das gute Leben mit Platon und Aristoteles. Ursula Wolfs philosophische Aufsätze«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 69:2 (2021), S. 317– 325: S. 322. Die Frage ist natürlich, ob ein solcher Optimismus begründet ist. 31 Das Mehrhabenwollen – die pleonexia – ist für Platon wie Aristoteles das Laster, das der Gerechtigkeit direkt entgegengesetzt ist. Vgl. z. B. EN V. 4. 30

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von Lust (hêdonê) und ihrer Rolle im menschlichen Leben zu stützen versucht. 32 Zum anderen kann man Aristoteles’ umstrittenes Ergon-Argument (EN I.6) als Versuch einer evaluativen Selbstverständigung darüber, was uns als Menschen ausmacht und auszeichnet, verstehen. Die Frage, wie zu leben ist, stellt sich für uns in der Form der Frage, wie für uns als Mensch zu leben gut ist. Sind dafür einmal empirische Kenntnisse der faktischen Verfassung von Menschen (z. B. in Bezug darauf, was sie krank macht, was ihnen Freude bereitet, worunter sie psychisch leiden usw.) zu berücksichtigen, so haben unsere Selbstinterpretationen stets auch eine evaluative Dimension. Kants Antwort auf die Frage, wie zu leben ist, lässt sich in diesem Licht als Artikulation eines Menschenbildes begreifen, das uns ermöglichen soll, unser Menschsein als solches zu schätzen. Welche Selbstinterpretationen überzeugend sind und welche nicht, dürfte von einer Vielzahl von Erfahrungen und wechselnden historischen und kulturellen Prägungen abhängen. Gleichwohl ist es wichtig, sich klarzumachen, dass unsere Vorstellungen von einem guten Leben nicht ohne evaluative Selbstinterpretationen auskommen. 33 Eine dritte Lebensweise, die Aristoteles anspricht, ist das politische Leben (bios politikos), das zunächst auf Ehre aus sei (1095b22 ff.). Gegen die Fixierung auf die Ehre spricht für Aristoteles jedoch die Abhängigkeit von den anderen, die einen ehren. Das gesuchte oberste Gut sollte mehr bei einem selbst liegen; es sei »etwas Eigenes (oikeion), das einem nur schwer genommen werden kann« (1095b27). Dies sei bei der Tugend (aretê) eher als bei der Ehre der Fall, weil für die Tugend wichtig ist, wer ich bin, während für die Ehre der Beifall heischende Anschein reicht. Dahinter könnte das Motiv stehen, sich so weit wie möglich von den Kontingenzen der sozialen und natürlichen Welt unabhängig zu machen. Dieses Motiv spricht in Aristoteles’ Augen auch für die vierte Lebensform, das theoretische oder philosophische Leben (bios theôrêtikos). Sie sei mit einer besonders stetigen und reinen Form der Freude verbunden (1077a26) und habe einen besonderen Wert aufgrund der unwandelbaren Gegenstände der theôria, die die wertvollsten seien (1077a19 f.). Es kommt hier nicht auf die Einzelheiten von Aristoteles’ Argumentation oder paralleler Überlegungen bei Platon an, die häufig nicht zu überzeugen vermögen, sondern auf ein Verständnis für die grundsätzliche Form ihres Vorgehens. In seinem sokratischen Erbe zielt es auf ein konsequentes SelbstVgl. EN X.1–5; außerdem Platons Philebos. Das hat Charles Taylor in einer Reihe von Arbeiten plausibilisiert. Vgl. Charles Taylor: »Self-interpreting animals«, in: ders.: Human Agency and Language, Cambridge 1985, S. 45– 76. 32 33

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denken, das alle Aspekte des menschlichen Lebens einer kritischen Selbstbefragung unterzieht, die ihrerseits an einer vagen Vorstellung des Guten ausgerichtet ist, die im Zuge der Prüfung genauer zu fassen ist. Dieses Denken – ein »Denken ohne Geländer« 34 – findet indes nicht im luftleeren Raum statt. Alle Überlegungen, die wir im Hinblick auf die Frage, wie zu leben ist, anstellen können, setzen normative Horizonte voraus, die wir zunächst vorfinden und die unser eigenes Selbstverständnis so prägen, dass wir zu ihnen keinen gänzlich externen Standpunkt einnehmen können. Für die allermeisten Menschen spielen moralische Normen dabei eine wichtige Rolle, die sie sich aus ihrem Leben nicht wegzudenken vermögen. Aber was wir unter Moral und spezifischer unter (Tugend-) Begriffen wie »Gerechtigkeit«, »Großzügigkeit«, »Mut« oder »Achtung« anderer verstehen, ist durch keine Vernunft ein für alle Mal festgelegt. Es handelt sich hier um »essentially contested concepts« 35, die schon wegen des Wandels unserer Erfahrungen nicht abschließend definiert werden können. 36 Worauf uns Überlegungen zum guten Leben führen, sind am Ende nicht Notwendigkeiten, sondern Möglichkeiten. Das gilt auch für die Moral. Wenn wir uns selbst als moralische Wesen verstehen, folgen wir keinem unabweisbaren Spruch der Vernunft – einem

34 Als ein »Denken ohne Geländer« hat Hannah Arendt ihr Vorgehen in der politischen Theorie charakterisiert. 35 W. B. Gallie: »Essentially Contested Concepts«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1955–1956), S. 167–198. 36 Ursula Wolf beschreibt das Verfahren, das sie bei Platon angelegt sieht, so: »Wir haben ein System von moralischen Normen der mittleren Ebene internalisiert, mit Platon und Aristoteles geredet: Tugenden; wir verwenden außerdem ein Netz ethischer Grundbegriffe wie ›gut‹, ›nützlich‹, ›moralisch richtig‹, ›gerecht‹, ›Glück‹, die miteinander verflochten sind. Bei Entscheidungen kommt es auf die Artikulation des umliegenden Phänomen-, Meinungs- und Begriffsfelds an, auf die Entwicklung begrifflicher Differenzierungen und das Beseitigen von Inkonsistenzen. Die Artikulations- und Strukturierungsarbeit ist immer schon von einer antizipierten vagen Konzeption des Guten geleitet, die nicht inhaltlich definierbar ist, die vielmehr ihrerseits in diesem Prozess erst Konturen gewinnt.« (Wolf: Freiheit oder Glück?, 158 f.) Ein solches Vorgehen hat Ähnlichkeiten mit Rawls’ Verfahren der Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts (s. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 68 ff.), das heute in Fragen der Ethik vielfach angewandt wird. Aber es ist dynamischer und offener als dieses. Bei Rawls werden grundlegende Überzeugungen verschiedener Allgemeinheitsstufen und (im weiten Überlegungsgleichgewicht) unterschiedliche theoretische Ansätze so austariert, dass sich ein möglichst konsistentes Überzeugungssystem ergibt. Das gleicht jedoch eher einer Abwägung zwischen bekannten Größen als der Artikulation zunächst relativ unbestimmter Weisen des Selbst- und Weltverstehens. Auch wirkt es zu wenig sensitiv für ganz neue Erfahrungen, die Menschen machen und für die sie dann neue Begriffe zu finden versuchen. Die Rolle neuer Erfahrungen kommt allerdings auch bei Platon zu kurz.

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»Faktum der Vernunft«, wie Kant meinte (KpV AA 05: 31). Vielmehr realisieren wir eine Möglichkeit menschlichen Lebens, die zu unseren Erfahrungen passt und für uns mit bestimmt, was es heißt, ein Mensch zu sein, und wie wir leben wollen. Moral ist dann in der Weise konstitutiv für unser gutes Leben, dass ein unmoralisches Leben unserem geprüften Selbstverständnis widerspricht und uns nicht glücklich machen könnte. Daneben kann es andere Möglichkeiten geben, darunter solche, die wir bekämpfen müssen. Nicht dem Buchstaben, aber dem Geist nach ist dies am Ende vielleicht nicht so weit entfernt von dem Gedanken der Aufklärung, wie ihn Kant im Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« noch ohne größeren theoretischen Ballast entwickelt hat. In seiner Lektüre des Textes hat Michel Foucault Kant eine »kritische Ontologie unserer selbst« 37 zugeschrieben. Diese dürfe beileibe nicht als eine Theorie, eine Doktrin betrachtet werden, auch nicht als ständiger, sich akkumulierender Korpus von Wissen; sie muss als eine Haltung vorgestellt werden, ein Ethos, ein philosophisches Leben, in dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen ist und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung. 38

6. Motive für das Selbstdenken und das Stellen der praktischen Grundfrage

Aber warum sollten wir uns auf diesen unabschließbaren Prozess des Selbstdenkens, diese »Arbeit von uns selbst an uns selbst als freie Wesen« 39, überhaupt einlassen? Oder anders gefragt: Warum sollten wir uns die praktische Grundfrage im Modus radikaler – sei es individueller, sei es kollektiver – Selbstbefragung stellen? Welche Motive könnten wir dafür haben? Ich glaube nicht, dass es dafür nur ein Motiv gibt. Und es liegt auf der Hand, dass es Gegenmotive gibt. Für Kant sind wesentliche Gegenmotive »Faulheit und Feigheit« (WA, AA 08: 35). Es kann leichter sein, sich von anderen leiten zu lassen, als auf sich gestellt zu sein. Oft scheuen wir auch die Verantwortung des eigenen Urteils. Wenn etwas schief geht, suchen wir gerne die Schuld bei anderen. Sie haben uns dann in die Irre geleitet, und da wir uns ihnen gedankenlos angeschlossen haben, meinen wir uns nicht vor-

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Foucault: Aufklärung, S. 50 u. 53. Ebd. S. 53. Ebd. S. 50.

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werfen zu müssen, selbst in die Irre gegangen zu sein. 40 Am Ende ist niemand verantwortlich. Der das Selbstdenken hindernde Konformismus kann indes auch andere Quellen haben. So ist eine große Triebkraft der Wunsch, von anderen geschätzt zu werden, das Verlangen nach ihrem Beifall. Diese Motivation ist wiederum eng verwoben mit Wunschdenken; man biegt sich die Welt und den eigenen Charakter so zurecht, wie man es gerne hätte. Außerdem ist es ja vollkommen richtig, dass sich nicht immer alles hinterfragen lässt. Sowohl die sokratische als auch die kantische Aufklärung sind Krisensymptome; sie reagieren auf Veränderungen, durch die grundlegende individuelle wie soziale Orientierungen infrage gestellt wurden. Diese letzte Beobachtung verweist nun indessen zwar nicht auf ein Motiv für das Selbstdenken, aber auf eine Ursache dafür, die selbst motivational wirksam wird. Sokrates und Platon sahen sich mit der Sophistik konfrontiert, die ihrerseits eine Bewegung der Aufklärung und eine Reaktion auf neue Erfahrungen wie die Konfrontation mit anderen Kulturen war. Mit ihr standen plötzlich überkommene Werte auf dem Prüfstand. War diese Kritik einmal in der Welt, konnte man sie nicht mehr einfach leugnen. Es war, wenn man so will, der Verlust der Unschuld, der dem platonischen Sokrates eine einfache Rückkehr in die Welt vermeintlich fragloser Selbstverständlichkeiten verwehrte. Ähnlich dürfte es Kant durch die Erosion der christlichen Religion und das Weltbild der modernen Naturwissenschaften gegangen sein. Es kann, mit anderen Worten, historische Situationen geben, in denen es schwerer ist, die Frage, wie zu leben ist, zu ignorieren, als sie anzunehmen. Man kann sie verdrängen, aber nicht als unverständlich und irrelevant abtun. Indem Krisenerfahrungen die praktische Grundfrage aufwerfen, bringen sie jedoch nur eine Frage zu Bewusstsein, die in uns schon immer angelegt ist. Es gehört zur Verfasstheit von Wesen wie uns, dass sie sich reflexiv zu sich verhalten. Dort, wo wir uns nicht ausdrücklich fragen, wie wir leben wollen, ist diese Frage nicht einfach abwesend; sie gilt uns vielmehr nur als schon beantwortet. So hat der religiöse Mensch, für den es unzweifelhaft ist, dass nur ein gottesfürchtiges Leben ein gutes Leben sein kann, die praktische Grundfrage bereits für sich entschieden, obwohl ihn weiter die Frage quälen kann, was genau ein gottesfürchtiges Leben verlangt und ob er ihm zu genügen vermag. Er hat die Frage selbst dann für sich entschieden, wenn er sie für sich hat entscheiden lassen, denn noch in diesem »lassen« liegt eine gewisse Aktivität. Auch ist niemand je gegen neue Erfahrungen gefeit, die seine bisherige Weltsicht erschüttern und so die Frage, wie zu leben ist, aufbrechen 40 Damit soll natürlich nicht bestritten werden, dass andere ein Interesse daran haben können, uns unmündig zu halten. Das tut gerade auch Kant nicht.

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lassen. Die praktische Grundfrage lauert stets im Hintergrund, sodass sie an die Menschen nicht erst von der Philosophie herangetragen werden muss. 41 Die Philosophie greift sie nur auf und behandelt sie in dem ihr eigenen Medium allgemeiner Begriffe. Trotzdem liegt im Stellen der Frage, wie zu leben ist, und dem durch sie angeregten Selbstdenken eine eigene Anstrengung, von der man sich weiterhin fragen kann, warum man sie auf sich nehmen sollte. Ernst Tugendhat hat gemeint, wir stellten uns die Frage aus einem fundamentalen »Vernunftinteresse«. Es sei das »Interesse an Vernunft«, das uns zur praktischen Grundfrage veranlasse. 42 Aber es ist nicht klar, was das genau bedeuten soll. Es klingt so, als sei allein der Umstand, dass man vernünftig ist, ausreichend, um zur praktischen Grundfrage gebracht zu werden, und das ist unplausibel, weil es impliziert, dass unvernünftig sein muss, wer die Grundfrage nicht stellt. Eine andere Auskunft, die sich ebenfalls bei Tugendhat findet, verweist auf das Bedürfnis, sich nichts vorzumachen und nicht in einer Scheinwelt zu leben. 43 Das trifft sich mit Motiven, die oft zur Beantwortung der Frage angeführt werden, warum wir uns nicht an eine Erlebensmaschine anschließen lassen möchten, die uns nur vorgaukelt, intensiv zu erleben, was wir uns wünschen. 44 Stärker erscheint mir indes der Wunsch zu sein, sein Leben selbstbestimmt – und in diesem Sinn sein eigenes Leben – zu leben. Dies ist das Motiv, das im Mittelpunkt von Kants Aufklärungs-Aufsatz steht. Man will sich das Denken nicht von anderen abnehmen und sich erst recht nicht von ihnen sagen lassen, wie man leben soll. Dass dies ein sehr starkes Motiv ist, bedeutet nicht, dass es alle haben, geschweige denn, dass es bei allen stark ausgeprägt ist. Es gibt Menschen, die sich in der Hoffnung auf Sicherheit nach Unterordnung sehnen. Beim platonischen Sokrates gibt es noch ein weiteres Motiv. Es besteht in der Hoffnung, auf dem Weg des Selbstdenkens und der kritischen Selbstbefragung zu einer Übereinstimmung mit sich zu gelangen, die ohne Selbstaufklärung nicht zu haben sei. Platon hat die optimistische These vertreten, dass nur ein gerechtes Leben die Selbstprüfung bestehen und dass nur ein solches Leben innere Zerrissenheit überwinden könne; nur der gerechte Mensch sei mit sich selbst befreundet (rep. IV. 443d; vgl. Aristoteles, EN IX.4). Diese Überzeugung steht jedoch auf wackeligen Füßen. Weder ist unstrittig, dass ein 41 Vgl. dazu Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975, S. 309. 42 Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung, S. 118. 43 Ernst Tugendhat: »Retraktationen zur intellektuellen Redlichkeit«, in: ders.: Anthropologie statt Metaphysik, 2. erweiterte Auflage, München 2010, S. 85–113: S. 93 u. 109. 44 Vgl. Robert Nozick: Anarchy, State, and Utopia, Oxford 1996, S. 42 ff.

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geprüftes Leben nur ein gerechtes sein kann, noch ist belegt, dass die von Sokrates erstrebte seelische Harmonie mit Gerechtigkeit gleichgesetzt werden kann, noch ist offensichtlich, dass nicht auch ein gewisser Grad an Ambivalenztoleranz zu einem guten Leben gehört. Kant bemerkt in »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, dass es nur wenigen als Einzelnen gelungen sei, »durch eigene Bearbeitung des Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun« (WA, AA 08: 36). Eher sei es dagegen möglich, dass »ein Publikum sich selbst aufkläre« (ebd.). Das lässt sich so wenden, dass Aufklärung als eine wechselseitige Aufklärung mit anderen im Medium einer repressionsfreien Öffentlichkeit zu konzipieren ist. Freie Menschen kann es am Ende nur in einer freien Gesellschaft geben. Doch ist eine freie Gesellschaft umgekehrt auf kritikfähige Menschen angewiesen, die den Mut aufbringen, sich eigenständig zu überlegen, was wirklich wahr und was wirklich gut ist. Beides bedingt sich gegenseitig. Und beides ist immer wieder gefährdet.

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Konsequenter Kosmopolitismus Kant über die Notwendigkeit einer globalen Rechtsordnung und die Verwirklichung des Völkerrechts durch Weltrepublik und Völkerbund

1. Einleitung

Der ewige Frieden ist, so der letzte Satz der kantischen Rechtslehre, das »höchste[] politische[] Gut«, auf das unablässig hinzuarbeiten uns die Vernunft aufträgt (RL Beschluss, AA 06: 355). Diese Forderung läuft darauf hinaus, den äußeren Freiheitsgebrauch der Menschen zu verrechtlichen, ihn mithin auf eine positiv-rechtliche Grundlage zu stellen, die die Rechte eines jeden schützt: »der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein« (RL, AA 06: 355). Frieden besteht und kann nur bestehen im Rahmen einer positiven Rechtsordnung, die das Handeln der einzelnen Akteure durch allgemeine und öffentliche Gesetze normiert, durch eine öffentliche Rechtspflege für deren einheitliche Anwendung auf Einzelfälle sorgt, Streitigkeiten gerichtlich beilegt und gültigen Rechtsansprüchen zur Wirkung verhilft: »Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältniß der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann« (RL § 41, AA 06: 305–306). Ein jeder nicht-rechtliche Zustand ist demgegenüber notwendigerweise ein Zustand von Gewalt oder Krieg: In Ermangelung öffentlicher Gesetze ist jeder sein eigener Richter und ohne staatliche Institutionen der Rechtspflege und -durchsetzung bilden Androhung und Einsatz von Gewalt die einzige Möglichkeit, das eigene Recht gegen andere zu behaupten, und dies trifft sowohl für den Naturzustand einzelner Akteure als auch auf natürliche Verhältnisse der Staaten zueinander zu (RL § 44, AA 06: 312; ZeF, AA 08: 348 f.; RGV, AA 06: 97 Fn.). Für die kantische Vernunft ist dies freilich ein unhaltbarer Zustand: Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen mir und Dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen,

Konsequenter Kosmopolitismus

doch äußerlich (in Verhältniß gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind; – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll. (RL Beschluss, AA 06: 354)

Ebenso wie für einzelne Menschen, die den Naturzustand verlassen und in einen bürgerlichen Zustand eintreten müssen, gilt folglich auch für Staaten das »exeundum esse e statu naturali« (RGV, AA 06: 97): »der Naturzustand der Völker« ist »eben so wohl als einzelner Menschen ein Zustand […], aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten« (RL § 61, AA 06: 350). Auch im Verhältnis der Staaten zueinander muss es Institutionen geben, die Rechtsansprüche regeln und Konflikte gewaltfrei beilegen können. Dann und nur dann herrscht Friede zwischen den Völkern. 1 Zweifelsohne gehört Kants politische Philosophie mit ihrer grundsätzlichen Verurteilung des Krieges und der Forderung nach einer kosmopolitischen Friedensordnung zu den zentralen Bezugspunkten für die gegenwärtige Theoriebildung. Doch wie stellt sich Kant die kosmopolitische Rechts- und Friedensordnung genau vor? Während Kant in früheren Äußerungen die internationale Friedensstiftung an eine (bundes)staatliche Vereinigung der Einzelstaaten knüpft, die eine legislative, exekutive und judikative Gewalt aufweist, also für einen Weltstaat optiert, 2 stellt er in Zum ewigen Frieden und in der Rechtslehre diesem Modell die Vorstellung einer schwachen internationalen Föderation ohne staatliche Gewalt gegenüber und argumentiert dafür, dass die Staaten die Pflicht haben, miteinander in eine solche nicht staatlich ver1 Neben dem Staats- und dem Völkerrecht führt Kant als dritte Säule des öffentlichen Rechts noch das Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum) ein, das die Beziehungen zwischen Menschen und fremden Staaten betrifft (ZeF, AA 08: 349). Seine Notwendigkeit ergibt sich aus dem Erfordernis, sämtliche äußeren Freiheitsverhältnisse zu verrechtlichen (RL § 43, AA 06: 311). Der ewige Friede ist entsprechend dann und nur dann erreicht, wenn auf allen drei Ebenen ein öffentlich-rechtlicher Zustand besteht, und umgekehrt: »wenn nur einer von diesen im Verhältnisse des physischen Einflusses auf den andern und doch im Naturstande wäre, so würde damit der Zustand des Krieges verbunden sein« (ZeF, AA 08: 349). Da es in meinem Beitrag nur um das kantische Völkerrecht geht, werde ich das Weltbürgerrecht im weiteren Verlauf ebenso ausklammern wie die ethischen Aspekte der Friedensstiftung (siehe dazu etwa Dörflinger 2017). Siehe zu Kants Kosmopolitismus insgesamt Kleingeld 2012. (Aufgrund der Vielzahl der angeführten Literatur findet sich die Auflösung der Kurznachweise im Literaturverzeichnis am Ende dieses Beitrags.) 2 In der Idee argumentiert Kant unter expliziter Bezugnahme auf die Friedensentwürfe von Saint-Pierre und Rousseau für einen »großen Völkerbunde«, in dem »Sicherheit und Rechte« eines jedes Mitglieds von der »vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens« gewährleistet werden (IaG, AA 08: 24). In der Religion zeigt die Rede von einem »Völkerbund als Weltrepublik« und dem »Staatenverein (Republik freier verbündeter Völker)« an, dass die anvisierte Institution rechtsstaatliche Strukturen aufweisen soll (RGV, AA 06: 34).

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fasste föderale Verbindung einzutreten, um aus dem Kriegszustand herauszukommen (ZeF, AA 08: 354–357; RL § 54, AA 06: 344; § 61, AA 06: 350 f.). 3 In der Forschung ist nach wie vor umstritten, welchen genauen normativen Status Kant dem Welt- bzw. Völkerstaat auf der einen und dem bloßen Völkerbund auf der anderen Seite zuschreibt und wie er sich ihr Verhältnis vorstellt. Haben wir letztlich doch die Pflicht, auf eine »Cosmopolitische republick« hinzuarbeiten, oder wird allein die »cosmopolitische Föderation« des bloßen Völkerbundes verlangt? 4 Bisweilen wird Kant ein Schwanken zwischen den verschiedenen Lösungen attestiert. 5 Ein Großteil der Interpreten verficht jedoch die Ansicht, dass Kant letztlich nur einen bloßen Völkerbund fordere und den Weltstaat ablehne, 6 wobei die Meinungen auseinander gehen, ob dies prinzipiellen Gründen entspringe 7 oder einem Zugeständnis an die

3 Bereits im Gemeinspruch benennt Kant ebenfalls die beiden Alternativen, dass Staaten entweder »in eine weltbürgerliche Verfassung« treten oder zumindest in einen solchen »Zustande«, »der zwar kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist« (TP, AA 08: 310 f.). Am Ende des Abschnitts zum Völkerrecht argumentiert Kant jedoch eindeutig dafür, dass es gegen einen fortdauernden Kriegszustand »kein anderes Mittel« geben kann »als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen)« (AA 08: 312). 4 Ein Hinweis zur Begrifflichkeit: Auch wenn Kants eigene Ausdrucksweise zum Teil stark variiert (siehe z. B. Harste 2009, S. 57 f.), werde ich in Anlehnung an diese (1) von Völkerstaat bzw. von Weltstaat sprechen, um eine ›zwangsbewehrte‹, sprich staatlich verfasste internationale Rechtsordnung zu bezeichnen (je nachdem ob diese global ist oder nicht). Dabei lasse ich offen, ob eine bundesstaatliche Lösung oder aber ein Welteinheitsstaat, in dem es keine Einzelstaaten mehr gibt, gemeint ist. – Um Missverständnisse zu vermeiden, werde ich auf der anderen Seite jedoch der in der Literatur etablierten (aber exegetisch letztlich ungenauen) Terminologie folgen und (2) von Völkerbund sprechen, um eine supranationale institutionelle Ordnung ohne staatliche Strukturen zu bezeichnen, wobei ich dabei zur Verdeutlichung auch von einem bloßen Völkerbund sprechen werde (in Anlehnung an Hruschka 2015, S. 131). 5 So etwa Lutz-Bachmann 1996, S. 43; Ballestrem 1997, S. 514. 6 So etwa (mit jeweils variierenden Begründungen) jüngst Guyer 2023, S. 24 ff.; Maus 2015; Maliks 2014, Kap. 5; Eberl/Niesen 2011, S 232–248; Koch Mikalsen 2011; Ripstein 2009, S. 225–231; Raponi 2008; Dicke 2007, S. 379; Mori 2006, S. 382; sowie zuvor u. a. Steinvorth 1999, S. 47–49; Gerhardt 1995, S. 95–97; Wood 1996, S. 64; Lutz-Bachmann 1996, S. 38; Wittmann 1996, S. 144; Koller 1996, S. 216; Horn 1996, S. 234–236; Seel 1997. 7 So sieht etwa Kersting (1996, S. 182–186) in einer von Hobbes übernommenen und gleichsam zum Dogma erhobenen Vorstellung absoluter staatlicher Souveränität den entscheidenden Grund, warum die internationale Ordnung für Kant nur die Form eines bloßen Völkerbundes annehmen könne. Ähnliche Überlegungen artikulieren u. a. auch Koller 1996, S. 216–224, Seel 1997 und Raponi 2008. Kritisch dazu Cheneval 2002, S. 596.

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politische Realität. 8 Die in der Literatur identifizierten Gründe gegen einen Weltstaat werden dabei in der Regel als nicht überzeugend angesehen,9 und nicht wenige Interpreten argumentieren dafür, dass die Vorstellung eines Weltstaates, auch wenn Kant diese explizit ablehnen würde, mit den Prämissen der kantischen Rechtsphilosophie vereinbar sei und streng genommen sogar aus diesen folge. 10 Gegen die vorherrschende Sichtweise, dass Kant selbst eine zwangsbewehrte supranationale Rechtsordnung ablehne, meinen jedoch einige Interpreten, dass die Weltrepublik durchaus die von Kant selbst geforderte Form der Verwirklichung des Völkerrechts sei. 11 Vor allem in jüngerer Zeit findet dabei ein Deutungsansatz vermehrt Zuspruch, dem zufolge Kants Plädoyer für den Völkerbund so zu verstehen ist, dass dieser der notwendige, weil einzig gewaltfreie und damit legitime Weg zu der letzten Endes geforderten staatlich verfassten globalen Rechtsordnung sei. Auf diese Weise könnten die Argumente, die Kant für den Völkerbund formuliert, mit seiner Behauptung, die Vernunft fordere eine Weltrepublik, vermittelt werden. 12 In meinem Beitrag werde ich Kants Ausführungen in Zum ewigen Frieden und in der Rechtslehre daraufhin untersuchen, wie Kant sich die Realisierung von Recht und Frieden zwischen den Staaten vorstellt. In Abschnitt 2 sollen zunächst Kants Ausführungen zum Verhältnis von Weltrepublik und Völkerbund in der Friedensschrift in den Blick genommen werden. Dabei werden wir sehen, dass Kant mit dem Völkerbund einen Friedensansatz entwirft, der 8 So meint etwa Horn, dass sich Kant in seiner Behandlung des Völkerrechts »durchgängig für nicht-ideale normative Zielbestimmungen« ausspreche: Einerseits weise er zwar den Weltstaat als »das normative Optimum« aus, argumentiere dann aber dafür, dass dieses nicht erreichbar, mithin nur die »zweitbeste[…] Lösung« in Form des Völkerbundes gefordert sei (Horn 2014, S. 279 f.). Laut Laschet sind es »keine vernunftrechtlich-prinzipielle«, sondern »positivrechtliche oder historisch-politische, mithin empirisch pragmatische Gründe«, die den Weltstaat für Kant »als (noch) nicht realisierbar erscheinen lassen« (Laschet 2011, S. 297; vgl. auch Pinzani 1999, S. 251). – Laut Ludwig finden sich im Ewigen Frieden prinzipielle Gründe gegen die Möglichkeit eines Weltstaats, in der Rechtslehre hingegen lediglich ein pragmatischer Einwand (Ludwig 1988, S. 176). 9 Vgl. statt vieler Lutz-Bachmann 1996. 10 So etwa Carson 1988 oder Horn 1996, S. 231–233, vor allem aber Höffe in mehreren Arbeiten (u. a. Höffe 2004). 11 So in jüngerer Zeit insbesondere Byrd/Hruschka 2010, Kap. 9 und Hruschka 2015, Hodgson 2008; zuvor u. a. bereits Axinn 1989. 12 So Kleingeld 2004, Hirsch 2018, Dörflinger 2017, Geismann 2012, S. 172–217, sowie bereits 1983 und 1997, De Federicis 2013, Cavallar 1994 sowie schon Ebbinghaus 1986 [1929], S. 17 f. Während dabei Kants Weltrepublik in der Regel als bundesstaatlicher Zusammenschluss mit einer mehrstufigen Rechtsordnung angesehen wird, argumentiert Hirsch dafür, dass sich Kants Weltrepublik nur als einheitlicher Weltstaat verstehen lasse.

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mit den gängigen Völkerrechtsvorstellungen seiner Zeit – die eine Aufgabe bzw. Einschränkung staatlicher Souveränität, wie sie von einer Weltrepublik erfordert würde, ausschließen – vereinbar ist. Kant geht dabei so weit, den Völkerbund trotz des Fehlens staatlicher Qualität (was sich vor allem im Fehlen einer Zwangsgewalt niederschlägt) als einen rechtlichen Zustand anzusehen. Gleichwohl gibt er damit die Vorstellung einer Weltrepublik als das, was die Vernunft eigentlich fordert, nicht auf. Die Argumente Kants im Zweiten Definitivartikel der Friedensschrift, die oftmals in diese Richtung gelesen werden, zielen weder auf eine prinzipielle, normative Unmöglichkeit einer Weltrepublik ab, noch implizieren sie diese. In Abschnitt 3 werde ich mich dem Völkerrecht der Rechtslehre zuwenden. Dort weist Kant die Weltrepublik – die er als allgemeinen Staatenverein und Völkerstaat bezeichnet – als einzigen rechtlichen Zustand im äußeren Staatenverhältnis aus. Um ihrer Pflicht, den Naturzustand zu verlassen, nachzukommen, müssen die Staaten also auf eine Weltrepublik hinarbeiten. Dabei ergibt sich die Notwendigkeit einer globalen, zwangsbewehrten Rechtsordnung in der Rechtslehre bereits aus der Struktur jeglicher Rechtsverhältnisse in Bezug auf äußere Gegenstände. Das äußere Mein und Dein erfordert nicht nur die Konstituierung der einzelstaatlichen Rechtsordnung, sondern verlangt nach einer Verrechtlichung der äußeren Beziehungen sämtlicher Akteure. Nur in einem globalen Rechtszustand kann das äußere Mein und Dein seinen provisorischen Charakter verlieren und peremtorisch werden, 13 und zwar nicht bloß im Hinblick auf dessen faktische Sicherung, sondern auch – und wichtiger noch – im Hinblick auf seinen rechtlichen Geltungsgrund überhaupt: Nur durch die Sanktion des vereinigten Willens aller, d. h. nur im Rahmen einer Rechtsordnung, welche die Idee des ursprünglichen Vertrages verwirklicht, insofern dieser sich »aufs ganze [!] menschliche Geschlecht erstreckt« (RL § 15, AA 06: 266), können Besitzansprüche ihre volle Gültigkeit erhalten. Nur so verlieren sie den Charakter der einseitigen Anmaßung und sind mit der angeborenen Freiheit und somit letztlich mit der Autonomie eines jeden vereinbar. Kant vertritt einen starken normativen Kosmopolitis-

13 Viele Interpreten weisen auf Kants Aussage hin, dass nur in einer globalen Rechtsordnung das »Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten […] peremtorisch geltend« werden könne (RL § 61, AA 06: 350). Soweit ich sehe, beziehen sie dies jedoch entweder auf Völkerrecht als solches (Kleingeld 2004, S. 307; Mori 2006, S. 385) oder auf die faktische Sicherung der Rechte (Kersting 1996, S. 178; Geismann 1997, S. 355, und 2012, S. 208; Pinzani 1999, S. 241; Eberl/Niesen 2011, S. 233; Mulholland 1990, S. 364; Hruschka 2015, S. 135). Die spezifisch geltungslogische Dimension findet dabei, soweit ich sehe, keine Beachtung.

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mus und dieser ist eine direkte Konsequenz seiner Vorstellung des Rechts. 14 Die Vorstellung einer globalen Rechtsordnung büßt auch dadurch ihren normativen Status nicht ein, dass Kant ihre Einrichtung aus empirischen Gründen für nicht möglich hält. Die Staaten haben vielmehr die Pflicht, kontinuierlich auf sie hinzuarbeiten – etwa durch den Völkerbund – und nach Maximen zu handeln, die eine globale Rechtsordnung antizipieren. Die Idee der Weltrepublik ist der normative Fluchtpunkt des kantischen Völkerrechts, von dem her das äußere Handeln der Staaten seine Legitimität bezieht und auf den hin auch individuelle Rechte in letzter Konsequenz bezogen sein müssen.

2. Weltrepublik und Völkerbund im Ewigen Frieden

Die Friedensschrift ist Kants prominenteste Abhandlung zu Fragen des Völkerrechts und stellt für viele Rekonstruktionsansätze von Kants Position den wichtigsten Bezugspunkt dar. Insbesondere werden die von Kant im Ewigen Frieden präsentierten Argumente für den Völkerbund vielfach so gelesen, als seien sie zugleich Argumente gegen die Weltrepublik. Im Folgenden möchte ich hingegen aufzeigen, dass man Kants Argumente für die Pflicht zur Errichtung eines bloßen Völkerbundes auch nur als solche ansehen sollte, also schlicht als Argumente für die Gründung eines Völkerbundes. Mit seiner Gegenüberstellung von Völkerbund und Weltrepublik will sich Kant gar nicht gegen eine Weltrepublik aussprechen und er hält sie auch nicht für prinzipiell unrealisierbar. Um dies aufzuzeigen, werde ich die einschlägigen Textstellen der Reihe nach in den Blick nehmen. Zunächst werde ich die Argumente für den Völkerbund im Zweiten Definitivartikel diskutieren (2.1), bevor ich auf Kants Behauptung im Zusatz »Von der Garantie des ewigen Friedens«, dass 14 In seinem Kommentar zur Rechtslehre stellt Bernd Ludwig die kosmopolitische Dimension der Geltungsbedingungen des äußeren Mein und Dein heraus (Ludwig 1988, S. 131–133, 177; vgl. auch Herb/Ludwig 1993, S. 313). Soweit ich sehe, wird diese systematisch durchaus bedeutsame geltungstheoretische Implikation des äußeren Mein und Dein ansonsten erst seit kurzem wieder zur Kenntnis genommen. (Eine gewisse Ausnahme stellt das von Horn mit kantischen Theorieelementen entwickelte Argument für einen Weltstaat dar, das Horn nicht für Kants eigene Position hält, da dieser den Weltstaat in RL und ZeF ausdrücklich ablehne; Horn 1996, S. 231–236.) Nur Reglitz erkennt allerdings, dass es demnach für Kant eine vollumfängliche globale Rechtsordnung geben muss, damit individuelle Rechtsansprüche wirklich legitim sein können (Reglitz 2019, S. 496). Guyer zieht diese Folgerung hingegen nicht, sondern argumentiert dafür, dass Kant lediglich den Völkerbund als Basis des Friedens ansehe (Guyer 2023, S. 21 ff.). Wyrębska-Đermanović schließlich behauptet, dass Kant »does not express much hope for solving this issue«, mithin bleibe nur der Völkerbund als »the only solution postulated in Kant’s writings« (Wyrębska-Đermanović 2019, S. 34).

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die Natur eine Pluralität der Staaten ›wolle‹, eingehen werde (2.2). Schließlich will ich der Frage nachgehen, was Kant damit meint, wenn er den bloßen Völkerbund als ein »Surrogat« (AA 08: 357) der Weltrepublik ausweist. Wie ich herausstellen möchte, sieht Kant den Völkerbund in der Friedensschrift als einen rechtlichen Zustand und damit in der Tat als einen im Hinblick auf die Friedensstiftung ausreichenden, wenn auch nicht ganz gleichwertigen Ersatz für eine Weltrepublik an (2.3).

2.1 Der Zweite Definitivartikel als Plädoyer für ein föderalistisches Völkerrecht

Der Zweite Definitivartikel der Friedensschrift formuliert die Forderung, dass das Völkerrecht »auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein« soll (ZeF, AA 08: 354). Unter der geforderten »föderativen Vereinigung« (ZeF, AA 08: 356) versteht Kant einen Zusammenschluss von Staaten ohne staatliche Gewalt. Da der Zweck der geforderten Vereinigung darin, aber auch nur darin bestehen soll, den Kriegszustand zwischen den sich verbindenden Staaten dauerhaft zu beenden, spricht Kant auch vom »Friedensbund« (ZeF, AA 08: 356). Kant argumentiert dafür, dass die Staaten einen solchen Völkerbund gründen müssen, damit es überhaupt ein Völkerrecht und somit einen Zustand des Friedens geben kann. Das bedeutet jedoch zugleich, dass ein staatsförmiger Zusammenschluss der Völker, ein Völkerstaat bzw. eine Weltrepublik, dazu nicht erforderlich ist. Zwar weist Kant den Völkerstaat in Gestalt der Weltrepublik als eigentlich von der Vernunft geforderte Form der globalen Rechtsordnung aus, doch er konzediert zugleich, dass der bloße Völkerbund die einzige Möglichkeit ist, wie die Staaten den Naturzustand überwinden können. Mit seinem starken Plädoyer für den so konzipierten Föderalismus als (einzig) umsetzbarer Maßnahme zur dauerhaften Friedensstiftung setzt sich Kant im Ewigen Frieden pointiert von den Vorschlägen von Saint-Pierre und Rousseau ab, die eine staatsförmige Verbindung der Staaten mit zwangsbewehrten Gesetzen als Voraussetzung dafür ansehen. 15 Wie bereits die Überschrift des Zweiten Definitivartikels anzeigt, ist die Freiheit der Staaten, d. h. ihre Souveränität, die zentrale Prämisse von Kants Argumentation. Unter ›freien‹ Staaten versteht Kant hierbei nicht nur Republiken, wie in der Literatur vor dem Hintergrund des Ersten Definitivartikels, 15 Vgl. Rousseau, Extrait (2009), S. 15–17; Schölderle 2021, S. 80 f. Eine umfassende Darstellung der Friedenskonzeptionen von Saint-Pierre und Rousseau findet sich bei Asbach 2002.

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in dem Kant die republikanische Verfassung als einzige mit der Freiheit der Bürger zu vereinbarende ausweist (ZeF, AA 08: 349 f.), vielfach vertreten wird. 16 Vielmehr sind hier als freie Staaten im Einklang mit der gängigen naturrechtlichen Terminologie schlicht unabhängige, sprich souveräne Staaten gemeint. 17 So heißt es etwa in Vattels Völkerrecht (dt. 1760) gleich zu Beginn: Die Nationen oder Staaten sind politische Körperschaften, Gesellschafften von Menschen, die sich zusammen verbunden haben […] (Vorbereitung, § 1). Eine solche Gesellschaft […] überlegt und beschließt gemeinschafftlich, und wird dadurch eine moralische Persohn, die ihren eigenen Verstand und Willen hat, und zu Rechten und Verbindlichkeiten fähig ist. (§ 2) Da die Nationen aus Menschen bestehen, die von Natur frey und unabhängig sind, und vor Errichtung bürgerlicher Gesellschafften in einem natürlichen Zustande lebten; so müssen die Nationen oder souveränen Staaten als eben so viel freye Personen angesehen werden, die unter sich in einem natürlichen Zustande leben. (§ 4)

Kant hat nicht nötig, diese Begriffe in der Friedensschrift eigens zu exponieren, sie sind Gemeinplätze im Natur- und Völkerrecht des 18. Jahrhunderts. 18 Dass er auf diese Begrifflichkeit zurückgreift, zeigt sich insbesondere im Zweiten Präliminarartikel. Dort stellt Kant heraus, dass ein Staat keine Sache, sondern »eine Gesellschaft von Menschen [ist], über die Niemand anders, als er selbst zu gebieten und zu disponiren hat«: Der Staat ist eine »moralische[] Person« (ZeF, AA 08: 344). Die Rechtspersönlichkeit und die daraus folgende Freiheit des Staates entspringt aus der Idee des ursprünglichen Vertrags (AA 08:344), mithin daraus, dass ein jeder Staat als Vereinigung freier Akteure gedacht werden muss. Im Fünften Präliminarartikel spricht Kant entsprechend davon, dass Staaten »Autonomie« besitzen (ZeF, AA 08: 346).

Siehe dazu Hoesch 2012. Dies wird im Zweiten Definitivartikel auch dadurch deutlich, dass Kant die französische Republik als »Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere [!] Staaten« bezeichnet (ZeF, AA 08: 365). In allen drei Definitivartikeln artikuliert Kant Forderungen, die von den Staaten bzw. deren Herrschern ohne Aufgabe ihrer bestehenden Souveränität umgesetzt werden könnten: eine republikanische Regierungsart (so regieren, als ob das Volk sich selbst regieren würde, ohne aber die Macht aus den Händen zu geben), einen freiwilligen Zusammenschluss der Staaten zur Friedenswahrung (ohne sich äußeren Gesetzen zu unterwerfen) und das Unterlassen von kolonialen Unternehmungen und Eroberungen (ohne damit auf globale Handelsaktivitäten zu verzichten). 18 Siehe z. B. auch Achenwall, Ius naturae (1763), pars posterior, § 210. 16 17

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Der Ausgangspunkt von Kants Argumentation im Zweiten Definitivartikel ist die Naturzustandsproblematik, die sich für Staaten als freie, unabhängige Akteure genauso stellt wie für individuelle Akteure: Völker als Staaten können wie einzelne Menschen beurtheilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinandersein lädiren, und deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann. (ZeF, AA 08: 358)

Auch für Staaten gilt die Forderung des Exeundum. Kant präsentiert nun jedoch drei Argumente, um zu zeigen, dass die Staaten den bloßen Völkerbund und nicht einen Völkerstaat zu realisieren haben. Diese Argumente laufen jedoch nicht darauf hinaus, dass sich Kant von der Vorstellung eines Völkerstaates in Form der Weltrepublik gänzlich verabschieden würde. Kants Argumentation für den Völkerbund erfolgt innerhalb der Parameter des gängigen Völkerrechts 19 und unter diesen Voraussetzungen kann von den Staaten eben nur – aber auch nicht weniger! – verlangt werden als ein bloßer Völkerbund. 2.1.1 Die Staatenpluralität als Voraussetzung des Völkerrechts

Das erste Argument findet sich gleich im Anschluss an die oben zitierte Formulierung des Exeundum zu Beginn des Zweiten Definitivartikels. Wie wir gesehen haben, haben die Staaten aufgrund der notwendigen wechselseitigen Läsion im Naturzustand, in Analogie zu einzelnen Akteuren, die Pflicht, »in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten«. Das Ergebnis der Verbindung der Staaten »wäre ein Völkerbund«, wobei dieser »gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte« (AA 08: 354). 20 Warum ein Völkerbund ohne Staatsgewalt zur Lösung der zwischenstaatlichen Naturzustandsproblematik infrage kommt, begründet Kant im weiteren Verlauf des Zweiten Definitivartikels. Zunächst argumentiert er nur dafür, dass die gesuchte Lösung nicht darin bestehen kann, aus den verschiedenen Staaten einen Staat zu machen:

19 Dies stellt Kant auch heraus: »nach dem Völkerrecht«: ZeF, AA 08: 355; »nach ihrer [sc. der Staaten] Idee vom Völkerrecht«: AA 08: 356. 20 Hier wird – wie auch in RL § 54 – deutlich, dass Kant den Begriff ›Völkerbund‹ als Gattungsbegriff für jedweden Zusammenschluss von Staaten verwendet. Der im Folgenden angesprochene Völkerstaat und der im weiteren Verlauf dann propagierte föderative Zusammenschluss zu einem Friedensbund sind die in dieser Gattung enthaltenen Arten mit der zwischen ihnen bestehenden spezifischen Differenz, dass sich der Völkerstaat, im Unterschied zur Völkerföderation (unserem ›bloßen Völkerbund‹), durch Staatlichkeit, sprich eine über die Mitglieder bestehende Zwangsgewalt, auszeichnet (vgl. Hruschka 2015, S. 131).

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Darin aber wäre ein Widerspruch: weil ein jeder Staat das Verhältniß eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegen einander zu erwägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht. (ZeF, AA 08: 354)

In der Literatur wird diese Passage oftmals so gedeutet, dass Kant hier einen Widerspruch im Begriff des zuvor genannten Völkerstaats selbst behaupte. 21 Doch die Diagnose des Widerspruchs bezieht sich gar nicht auf diesen Begriff, sondern auf den Ansatz, die für das Völkerrecht zentrale Problematik durch die Auflösung der Einzelstaaten und deren Verschmelzung zu einem Staat zu beheben. Diese Vorstellung einer Verbindung der Staaten steht im Widerspruch mit der Vorstellung des Völkerrechts als System der rechtlichen Verhältnisse zwischen Staaten (im Plural). Es geht im Zweiten Definitivartikel um das »Recht der Völker gegen einander […], sofern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen« (meine Hervorhebung). Eine Lösung der internationalen Naturzustandsproblematik, in der die Staaten sich so vereinigen, dass es in der Folge nur noch einen einzigen Staat mit einem (Staats-)Volk gibt, widerspricht der vorausgesetzten Vorstellung des Völkerrechts als rechtlicher Beziehung zwischen verschiedenen Staaten. 22 Wie Kants sonstige Verwendung des Begriffs des Völkerstaats nahelegt, sowohl im letzten Absatz des Zweiten Definitivartikels als auch in seinen anderen Schriften, versteht Kant unter einem »Völkerstaat (civitas gentium)« (ZeF, AA 08: 357) stets eine Verbindung der Staaten, in der diese fortbestehen, also einen ›Staatenstaat‹. 23 Sollte Kant an unserer Stelle den Völkerstaat als monolithischen Weltstaat begreifen, so würde dies seiner sonstigen Verwendung des Begriffs widersprechen. Bei genauer Betrachtung der Passage zeigt sich aber, dass sich die Widerspruchsdiagnose gar nicht auf den Völkerstaatsbegriff bezieht, sondern nur auf das erst nach dem Doppelpunkt geschilderte Szenario. Kant behauptet im ersten Absatz des Zweiten Definitivartikels also Folgendes: Auch die Staaten müssen den Naturzustand verlassen und sich So etwa Kersting 2004, S. 161 f.; Horn 2014, S. 289; Guyer 2023, S. 26. Im Garantie-Zusatz, dem wir uns weiter unten zuwenden werden, heißt es entsprechend: »Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus« (ZeF, AA 08: 367). Was Kant ablehnt, ist ein monolithischer Weltstaat, wobei er dabei im Wesentlichen an das Modell eines zentralistischen Weltreiches denkt, wie die im Garantie-Zusatz genannte Universalmonarchie. Darauf werden wir in Abschnitt 2.2 eingehen. 23 Siehe TP, AA 08: 312; RL § 61, AA 06: 350. 21

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miteinander rechtlich verbinden. Ein solcher Völkerbund ist auch ohne staatliche Gewalt möglich, muss also kein Völkerstaat sein. 24 (Warum das so ist, ist dann Hauptthema des restlichen Artikels.) Eine Verschmelzung der Staaten kommt von vornherein nicht infrage, denn die – von der realen Staatenwelt gestellte – Aufgabe besteht gerade darin, einen Weg zum Frieden der Staaten miteinander zu finden. 25 2.1.2 Der Völkerbund als freiwilliger Friedensbund

Das Argument im ersten Absatz des Zweiten Definitivartikels hat also nur einen negativen Ertrag: Im Rahmen des Völkerrechts kann die Überwindung des Naturzustands zwischen den Staaten nicht auf eine Vereinigung der Völker zu einem Einheitsstaat hinauslaufen. Im vierten Absatz argumentiert Kant nun positiv für das Modell des Föderalismus der Staaten in Gestalt des bloßen Völkerbunds, den die Staaten zur »Erhaltung und Sicherung« ihrer Freiheit vertraglich gründen. Auf der einen Seite ist dieser »Friedensbund (foedus pacificum)« von gewöhnlichen Friedensverträgen zu unterscheiden, die den Kriegszustand nicht beseitigen können, da sie »bloß einen Krieg« beenden, »jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte« (ZeF, AA 08: 356; vgl. 355; Herv. Kant). Die 24 Dass der Völkerbund »gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte«, heißt nicht, dass er kein Völkerstaat sein darf (was Kant mit ›nicht muss‹ ausdrücken würde). 25 Mit dem zitierten Argument behauptet Kant ebenso wenig, dass sich die Völker auf diese Weise nicht zusammenschließen dürften, damit Bürger einem anderen Staat beitreten können. Dies vermuten einige Interpreten mit Bezug auf die Ausführungen im zweiten Präliminarartikel (z. B. Horn 2014, S. 290). Im zweiten Präliminarartikel geht es jedoch darum, dass die Verfügung eines Staates A über einen anderen Staat B der Freiheit von Staat B widerspricht: »Ein Staat ist […] eine Gesellschaft von Menschen, über die Niemand anders, als er selbst zu gebieten und zu disponiren hat« (ZeF, AA 08: 344). Die anschließende Behauptung, dass der Akt, einen Staat »einem andern Staate einzuverleiben«, darauf hinausläuft, »seine Existenz als einer moralischen Person auf[zu]heben und aus der letzteren eine Sache [zu] machen«, besagt nicht, dass Staaten als solche sakrosankt wären. Wie die Begründung dieser Behauptung, dass die Einverleibung eines Staates in einen anderen »der Idee des ursprünglichen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken lässt«, widerspricht, anzeigt, soll hier nicht die Selbstbestimmung des Staates eingeschränkt, sondern nur die fremde Verfügung (wie in den in der Überschrift des zweiten Präliminarartikels genannten Fällen) durch andere Staaten als unzulässig ausgewiesen werden. – Es ist nicht so, als dürften sich einzelne Staaten Kant zufolge nicht auflösen. Man denke an Kants Beispiel in der Rechtslehre, in dem »das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen« (RL, AA 06: 333). Die Auflösung eines Staates ist nur dann nicht zulässig, wenn die Bürger dadurch in den Naturzustand zurückfallen würden. Beim Beitritt eines Volkes zu einem anderen Staat oder beim Zusammenschluss mehrerer Völker zu einem größeren Staat ist das jedoch nicht der Fall.

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Staaten erklären einander bei der Gründung des Friedensbundes, wie es später heißt: »›Es soll kein Krieg zwischen mir und andern Staaten sein‹« (ZeF, AA 08: 356). Auf der anderen Seite ist der Friedensbund von einer staatlichen Verbindung dadurch unterschieden, dass sich die Staaten gerade nicht »öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben unterwerfen« (ZeF, AA 08: 356). Durch diesen »Bund von besonderer Art« ist es den Staaten möglich, ohne Souveränitätsverzicht die ihnen von der Vernunft »vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab« auferlegte »unmittelbare[] Pflicht« zu erfüllen, zwischen sich einen dauerhaften Friedenszustand herzustellen (ZeF, AA 08: 356). Kants Argumentation wird dabei vielfach so gedeutet, als würde er die anspruchsvollere Alternative eines Völkerstaates, einer Weltrepublik hier grundsätzlich zurückweisen. Dies wird an der Prämisse festgemacht, der zufolge von Staaten nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt, ›aus diesem Zustande herausgehen zu sollen‹ (weil sie als Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind) (ZeF, AA 08: 355 f.).

Es scheint so, als würde Kant die zuvor behauptete Pflicht des Exeundum in Bezug auf Staaten nun ablehnen, da diese ja innerlich schon im rechtlichen Zustand seien, den Naturzustand also nicht mehr zu verlassen hätten. 26 Doch Kant behauptet hier klarerweise nicht, dass die Staaten den Naturzustand nicht zu verlassen hätten. Was er allein behauptet, ist, dass Staaten – anders als einzelne Menschen im Naturzustand – einander nicht in eine rechtliche Verbindung zwingen dürfen: Sie sind »dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen« (ZeF, AA 08: 355 f.). 27 Damit sind sie aber nicht von der Pflicht zur Stiftung rechtlicher Verhältnisse untereinander, ohne die der Natur- und Kriegszustand nicht überwunden werden kann, entbunden. Kant 26 In diese Richtung gehen etwa die Interpretationen von Eberl/Niesen 2011, S. 237 f.; Horn 2014, S. 289 f.; Asbach 2002, S. 300; Lutz-Bachmann 1996, S. 41 f.; Steinvorth 1999, S. 47. 27 Kant weist damit offenbar eine Vorstellung zurück, die er selbst einmal vertreten hatte. Siehe z. B. Refl. 7735, AA 19: 503. Vgl. Geismann 2012, S. 200. – Zudem ist diese Qualifizierung des Exeundum im Argumentationsgang der Friedensschrift erforderlich, da Kant in der Einleitung der Definitivartikel allgemein davon gesprochen hatte, dass man im Naturzustand das Recht habe, jeden anderen (einen Menschen »(oder das Volk)«) zu »nöthigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen« (ZeF, AA 08: 349).

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stellt im direkt folgenden Satz gerade heraus, dass die Vernunft »den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht« (ZeF, AA 08: 356). Für unsere Untersuchung der Bedeutung von Völkerbund und Weltrepublik ist es nicht entscheidend zu klären, warum der innere Status der Staaten dazu führt, dass sie – anders als einzelne Akteure – einander nicht in einen rechtlichen Zustand zwingen dürften, 28 ob Kants Behauptung überzeugend ist oder nicht und ob er seine Ansicht in der Rechtslehre revidiert habe. 29 Ausschlaggebend ist für unser Thema nur, dass es Kant hier allein darum geht, das Exeundum im Hinblick auf Staaten so zu qualifizieren, dass die Staaten diese Pflicht nur freiwillig erfüllen können. Entsprechend betont Kant im nächsten Satz auch, dass der Friedenszustand »ohne einen Vertrag der Völker unter sich nicht gestiftet oder gesichert werden kann« (ZeF, AA 08: 356). Aus dem Argument, dass das Exeundum im Fall des Völkerrechts nicht erzwungen werden kann, folgt klarerweise nicht die völkerrechtliche Unmöglichkeit eines Völkerstaates oder Weltstaats. 30 Warum schließt Kant im vierten Absatz des Zweiten Definitivartikels dann nicht darauf, dass es eben einen freiwillig zu gründenden, bundesstaatlich verfassten Völker- bzw. Weltstaat geben müsse, sondern schlägt stattdessen den Friedensbund, den bloßen Völkerbund vor? Die implizite Prämisse besteht darin, dass die Staaten ihre äußere Souveränität nicht aufgeben wollen. Vielmehr setzt, wie Kant im zweiten Absatz des Artikels feststellt, »jeder Staat seine Majestät […] gerade darin, gar keinem [!] äußeren gesetzlichen Zwange unterworfen zu sein« (ZeF, AA 08: 354; Herv. getilgt). Die Staaten unterscheiden sich somit letztlich nicht von den »Wilden«, die partout an »ihre[r] gesetzlose[n] Freiheit« festhalten, »sich unaufhörlich zu balgen, als sich einem gesetzlichen […] Zwange zu unterwerfen« (ZeF, AA 08: 354). Anders als die ›Wilden‹ handeln die Staaten damit jedoch im Einklang mit dem gängigen Natur- und Völkerrecht. Kants Argument besteht darin, dass es trotzdem eine Möglichkeit gibt, einen Friedenszustand herzustellen – nämlich durch den freiwilligen Zusammenschluss ohne Souveränitätsverzicht. Dass dieser dem Frieden verpflichtete Föderalismus auch realiter – und zwar zum aktuellen Zeitpunkt – möglich ist, zeigt sich für Kant darin, dass mit dem republikanischen Frankreich nun eine Großmacht existiere, die als Republik friedliebend sei, und somit ein realer Ausgangspunkt für die Gründung des vorgeschlagenen Völkerbundes gegeben sei (ZeF, AA 08: 356). 28 29 30

Siehe dazu Kleingeld 2004, S. 307–310. Dies bejaht etwa Hruschka (2015), während Geismann (1983 und 2012) es verneint. Drauf weist auch Geismann 2012, S. 207 Fn. 234 hin.

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2.1.3 Die Vereinbarkeit des Völkerbundes mit der staatlichen Souveränität

Nachdem Kant im vierten Absatz des Zweiten Definitivartikels für den bloßen Völkerbund als mit dem gängigen Völkerrecht kompatibles und auch politisch umsetzbares Mittel zur Überwindung des Kriegszustandes zwischen den Völkern argumentiert hat, geht es in den Absätzen fünf und sechs spezifisch darum, den Völkerbund als einziges probates, sprich politisch gangbares Mittel auszuzeichnen. Zugleich macht Kant hier jedoch deutlich, dass der bloße Völkerbund nicht das von der Vernunft auch in letzter Konsequenz Verlangte darstellt. Bei diesem Argument Kants ist wiederum wichtig zu sehen, dass es ihm spezifisch darum geht zu zeigen, dass der Völkerbund unter den gegebenen Bedingungen zur Friedensstiftung taugt, nicht aber darum, dass eine Weltrepublik nicht gefordert oder prinzipiell unmöglich sei. Die für unser Thema entscheidende Passage findet sich in der zweiten Hälfte von Absatz sechs und bildet den Abschluss des Zweiten Definitivartikels (AA 08: 357). Ausgehend von der rechtlichen Analogie zwischen Menschen und Staaten präsentiert Kant die Gründung eines Völkerstaats, also einen staatsförmigen Zusammenschluss der Staaten, als Gebot der Vernunft: 31 Für Staaten im Verhältnisse unter einander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie eben so wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. (ZeF, AA 08: 357)

Die Vernunft fordert Kant zufolge also klarerweise einen Weltstaat: eine globale Rechtsordnung mit sanktionsbewehrten Gesetzen, zu der sich die Staaten freiwillig zusammenschließen. Doch da die Staaten, wie Kant im nächsten Schritt konstatiert, dazu nicht bereit sind, bleibt als Surrogat, als Ersatz nur der Völkerbund: Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs […]. (ZeF, AA 08: 357)

Dabei sei betont, dass der hier gemeinte – und als der vernunftgemäße Weg aus dem Naturzustand der Völker ausgezeichnete – Völkerstaat nicht mit dem zu Beginn des Zweiten Definitivartikels aus der weiteren Betrachtung ausgeschlossenen Einheitsstaat gleichzusetzen ist. 31

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Die Idee der Weltrepublik ist insofern »positive« Idee, als sie diejenigen (hinreichenden) Bedingungen – nämlich staatliche Strukturen – benennt, die dazu führen, dass der Kriegszustand beendet wird. Die Vorstellung des bloßen Völkerbundes enthält hingegen keine solchen, die objektive Realität des Zwecks sicherstellenden Bedingungen, sondern nur das Versprechen der Staaten, auf Krieg zu verzichten. Die Vernunft fordert folglich die Gründung einer Weltrepublik. Die Staaten haben jedoch eine eigene Vorstellung des Völkerrechts, die die Annahme von Zwangsgesetzen ausschließt (vgl. ZeF, AA 08: 356). 32 Wie Kant zuvor nachgewiesen hatte, ist der Völkerbund mit der Völkerrechtsvorstellung der Staaten durchaus vereinbar. Der Völkerbund ist also die einzige unter den gegebenen Voraussetzungen mögliche, wenngleich suboptimale Lösung der Kriegsproblematik. 33 Es bleibt nur »der freie Föderalism«: Ihn muss »die Vernunft mit dem Begriffe des Völkerrechts nothwendig verbinden […], wenn überall etwas dabei zu denken übrig bleiben soll« (ZeF, AA 08: 356) und »wenn nicht alles verloren werden soll« (ZeF, AA 08: 357). 34 Aus Kants Behauptung, dass die Staaten sich der Vernunftforderung zur Einrichtung einer Weltrepublik nicht fügen wollen, folgt freilich nicht, dass die Weltrepublik prinzipiell nicht möglich wäre. Kant argumentiert dafür, dass das friedensfunktionale Minimum für die Staaten auch nach ihren eigenen, subjektiven 32 In einer Vorarbeit zu unserer Passage spricht Kant sogar davon, dass die Staaten eine der Vernunftvorstellung »entgegengesetzte feindseelige Idee eines vermeynten Völkerrechts« haben »als eines Rechts ohne öffentliche gesetzliche Verfassung zu seyn und eigenmächtig über das was unter ihnen recht sein soll zu entscheiden« (VAZeF, AA 23: 169). 33 Aufgrund des Rekurses auf den Unwillen der Staaten wird Kants Argument vielfach als bloß pragmatisches Argument bezeichnet (so etwa Cavallar 1994, S. 473; Blomme 2020, S. 267). Gegen diese Sichtweise wendet sich Geismann mit Hinweis auf die von Kant unterstellte Konzeption der staatlichen Souveränität, die diesen Unwillen ja rechtlich zulässig mache (Geismann 2012, S. 216). 34 Das alternative Modell des Gleichgewichts der Mächte hatte Kant im Gemeinspruch aufgrund seiner Fragilität schon als untauglich zurückgewiesen: »ein daurender allgemeiner Friede durch die so genannte Balance der Mächte in Europa ist, wie Swifts Haus, welches von einem Baumeister so vollkommen nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbauet war, daß, als sich ein Sperling drauf setzte, es sofort einfiel, ein bloßes Hirngespinst« (TP, AA 08: 312). Im Gemeinspruch stellt Kant diesem »Hirngespinst« und dem fortgesetzten Naturzustand nur den »allgemeine[] Völkerstaat« gegenüber. Dem Einwand, dass die Staaten sich aber keinen Zwangsgesetzen unterwerfen wollen (man vergleiche die Formulierung TP, AA 08: 312 f. mit unserer Passage im Ewigen Frieden), setzt Kant dort nur ein Vertrauen in die Theorie (die Forderung der Vernunft) und eine ihr zuarbeitende Natur entgegen (TP, AA 08: 313). Im Ewigen Frieden wird nun der Völkerbund als der auf Basis des ›Westfälischen Modells‹ (Mori 2006, S. 381) staatlicher Souveränität einzuschlagende Weg des Friedens ausgezeichnet.

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Vorstellungen von Völkerrecht (»in hypothesi«) umsetzbar ist; damit ist nicht gesagt, dass die stärkere Forderung aufgehoben wäre.

2.2 Die Naturgarantie der Staatenpluralität

Wie wir gesehen haben, wird von Kants Argumentation für den Völkerbund im Zweiten Definitivartikel nicht die Unmöglichkeit einer Weltrepublik impliziert. Wie ich nun zeigen möchte, gilt dies auch für den Garantie-Zusatz der Friedensschrift. 35 In der Passage, die das Völkerrecht betrifft, argumentiert Kant dafür, dass die Natur mithilfe der Verschiedenheit der Sprachen und Religionen dafür sorgt, dass die Völker nicht miteinander verschmelzen. Die Natur garantiert damit die Voraussetzung des Völkerrechts, nämlich die Staatenpluralität (»Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus«: ZeF, AA 08: 367). Kant behauptet dabei, dass der Naturzustand der Staaten, wenngleich er ja »an sich schon ein Zustand des Krieges ist«, gleichwohl »nach der Vernunftidee [!] besser« sei als ein Zusammenschmelzen der Völker unter einer sie vereinigenden Macht, genauer: unter einer Universalmonarchie (ZeF, AA 08: 367). Kant meint dabei, dass ein solches Weltreich, »weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt« (ZeF, AA 08: 367). In der Literatur wird dies häufig so gedeutet, als bedeute die Ablehnung der Universalmonarchie die Ablehnung jeglicher Form von Weltstaat. 36

35 Siehe zur Frage, wie die Rede von der Garantie der Natur zu verstehen ist, Ludwig 1997 und 2005. 36 Laut Guyer meint Kant, dass eine Weltrepublik zwangsläufig in einen globalen Despotismus ausarte (Guyer 2023, S. 9), und auch Eberl/Niesen zufolge geht Kant von einem »notwendigen Despotismus des Weltstaats« aus (Eberl/Niesen 2011, S. 239; ähnlich auch Asbach 2002, S. 309). Laut Wyrębska-Đermanović sieht Kant die Gefahr, dass die Weltrepublik zur Welttyrannis werde (Wyrębska-Đermanović 2019, S. 30; ähnlich Horn 2014, S. 290). – Eine vermeintliche Belegstelle findet sich im Gemeinspruch. Doch Kants Formulierung dort ist konditional (»ist…, so…«): Die Staaten haben »entweder in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten; oder, ist ein solcher Zustand eines allgemeinen Friedens (wie es mit übergroßen Staaten wohl auch mehrmals gegangen ist) auf einer andern Seite der Freiheit noch gefährlicher, indem er den schrecklichsten Despotismus herbei führt, so […]« müssen sie wenigstens eine Föderation ohne Zwangsgesetze gründen (TP, AA 08: 310 f.). Es gibt keine Stelle, an der Kant der Weltrepublik despotische Tendenzen attestieren würde.

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Doch die Universalmonarchie darf nicht mit dem laut Kant von der Vernunft geforderten Völkerstaat in Form der Weltrepublik identifiziert werden. Als Universalmonarchie wird »die allgemeine Herrschaft über die gantze Welt oder wenigstens über ein gantzes Theil der Welt, als z. E. Europa«, verstanden (Zedler, Bd. 49, Sp. 1764). Kant diagnostiziert »das Verlangen jedes Staats (oder seines Oberhaupts)«, »auf diese Art sich in den dauernden Friedenszustand zu versetzen, daß er wo möglich die ganze Welt beherrscht« (ZeF, AA 08: 367). Das Szenario, das Kant hier der Staatenpluralität gegenüberstellt, ist also nicht das einer supranationalen Rechtsordnung, zu der sich die Staaten freiwillig zusammenschließen, sondern der Fall, dass ein Staat sich die anderen Staaten unterwirft. 37 Das aus normativer Sicht für Kant entscheidende Problem der Universalmonarchie ist ihr Despotismus und die mit diesem einhergehende Zerstörung der Freiheit: Die Universalmonarchie ist nichts anderes als ein »Despotism (auf dem Kirchhofe der Freiheit)« (ZeF, AA 08: 367; vgl. auch RGV, AA 06: 34). Der Despotismus widerspricht dem Recht selbst, das sich in staatsrechtlicher Hinsicht in der Idee des ursprünglichen Vertrages manifestiert, sodass die Universalmonarchie natürlich zu verwerfen ist. 38 Im Unterschied zu dieser hat die Weltrepublik gerade die Freiheit ihrer Mitglieder zum Ausgangspunkt und den Schutz ihrer Rechte zur Aufgabe – sonst wäre sie nicht die mit der Friedenspflicht verbundene positive Idee der Vernunft. Ein zweites Problem der Universalmonarchie sieht Kant in ihrer Instabilität. Er geht davon aus, dass ein übergroßes Weltreich irgendwann zerfallen wird und in Anarchie mündet (ZeF, AA 08: 367). Was Kant hier im Blick hat, erhellt aus einer Anmerkung in der 2. Auflage der Religion: Allein dieses Ungeheuer (in welchem die Gesetze allmählig ihre Kraft verlieren), nachdem es alle benachbarte verschlungen hat, löset sich endlich von selbst auf und theilt sich durch Aufruhr und Zwiespalt in viele kleinere Staaten, die, anstatt zu einem Staatenverein (Republik freier verbündeter Völker) zu streben, wieder37 Der Vorwurf, nach einer Universalmonarchie zu streben, war ein Mittel der politischen Rhetorik: »Man hat vielen Printzen vorgeworffen, daß sie von einer so eitlen Begierde wären eingenommen gewesen, nach der Universal-Monarchie zu trachten« (Zedler, Bd. 49, Sp. 1764). Die Universalmonarchie wurde dabei zumeist »wegen ihres Ursprungs in der Herrschsucht eines Einzelnen und wegen ihrer Verwirklichung mit Hilfe gewaltsamer Unterdrückung als Unrechtsherrschaft gekennzeichnet« (Bosbach 1988, S. 122 f.). 38 Der Despotismus ist für Kant eine wesentliche Eigenschaft der Universalmonarchie, aber die Universalmonarchie ist nicht auch umgekehrt die einzige Erscheinungsform des Despotismus auf der Bühne des Völkerrechts. So könnten despotische Staaten einen solchen »Völkerbund, um die Despotie in keinem Staate abkommen zu lassen«, gründen (RGV, AA 06: 34).

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um ihrerseits jeder dasselbe Spiel von neuem anfangen, um den Krieg (diese Geisel des menschlichen Geschlechts) ja nicht aufhören zu lassen (RGV, AA 06: 34)

Zwar besteht das Problem der nachlassenden Gesetzeskraft Kant zufolge ab einer gewissen Größe für alle Arten von Staatsgebilden (vgl. RL § 61, AA 06: 350). 39 Im Fall der Universalmonarchie kommt aufgrund ihres Despotismus jedoch hinzu, dass sie zusammen mit der Freiheit auch »die Keime des Guten« erstickt (AA 08: 367) und »Tugend, Geschmack und Wissenschaft erlöschen müßte« (RGV, AA 06: 34). Das aber hat zur Folge – und hierin liegt die spezielle Problematik der Universalmonarchie –, dass die mit dem Untergang der Universalmonarchie unabhängig gewordenen Staaten nun nicht einen republikanisch verfassten Staatenverein 40 – oder gemäß der Friedensschrift: einen Friedensbund – gründen, sondern selbst nach der Macht streben. Dies wäre aber bei der Trennung eines republikanischen Staatenvereins infolge organisatorischer Mängel nicht zu erwarten. Die Universalmonarchie birgt daher, und zwar aufgrund ihres Despotismus, die Gefahr, den Kriegszustand zu perpetuieren. Die Universalmonarchie ist mit der Rechtsidee somit letztlich in dreifacher Hinsicht unvereinbar und unterscheidet sich dadurch deutlich von der Weltrepublik: (i) Während diese nur aus einem freiwilligen Zusammenschluss hervorgehen kann, entsteht die Universalmonarchie durch die Unterwerfung anderer, mithin durch Zwang. (ii) Während die Weltrepublik qua Republik die Autonomie ihrer Mitglieder bewahrt, stellt die Universalmonarchie eine Herrschaft über andere dar, verletzt also deren Freiheit und ist despotisch. (iii) Während die Weltrepublik ihrem Wesen nach auf einen dauerhaften Frieden hinwirkt und den Geist der Freiheit kultiviert, unterminiert die Universalmonarchie die Begriffe von Recht und Freiheit, sodass ihre Auflösung in einen Zustand der Anarchie münden muss. Damit wird verständlich, warum der Naturzustand der separierten Staaten »nach der Vernunftidee« besser ist als die Universalmonarchie: Diese hebt mit dem Krieg auch die Freiheit und das Recht auf, deren Verwirklichung und Schutz den Frieden überhaupt erst moralisch wünschenswert machen. Im Völkernaturzustand besteht demgegenüber immerhin die für die Staaten Der Despotismus der Universalmonarchie ist aber von diesem Aspekt unabhängig. Die nachlassende Gesetzeskraft führt im Fall der Universalmonarchie dazu, dass deren Despotismus »seelenlos[]« wird (ZeF, AA 08: 367): Der Staat verliert mit der zunehmenden Unwirksamkeit der Gesetze seine Lebenskraft. Der Despotismus selbst ist nicht Folge der Größe des Staates. 40 Das wäre die völkerrechtliche Parallele zur innerstaatlichen Revolution, die eine despotische Verfassung durch eine (auch dem Buchstaben nach) republikanische ersetzt. 39

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gangbare Möglichkeit der »föderative[n] Vereinigung« zur Herstellung des Friedens (ZeF, AA 08: 367). Die Zentrifugalkräfte der divergierenden Sprachen und Religionen sind laut Kant also so zu beurteilen, als ob sie von der Natur dazu vorgesehen wären, der Gefahr, welche der Freiheit durch die Fremdherrschaft droht, entgegenzuwirken. Im Angesicht des Machtstrebens der (despotisch, nicht republikanisch regierten) Staaten tendiert die Natur dazu, die Freiheit der einzelnen Staaten zu bewahren. Dies führt laut Kant zu einem Zustand, in dem sich die Kräfte der Völker durch den Wetteifer miteinander entwickeln, woraus sich wiederum die Hoffnung speist, dass dies die Staaten »bei anwachsender Cultur und der allmähligen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Principien zum Einverständnisse in einem Frieden leitet« (ZeF, AA 08: 367). Es geht Kant hier also darum zu zeigen, dass man die Natur so deuten kann, als ob sie auf einen Zustand hinwirkt, in dem die Staaten dazu geneigt sind, einen Völkerbund zu gründen – also das zu tun, was im Zweiten Definitivartikel gefordert wurde. Das schließt nicht die Möglichkeit aus, dass die Staaten sich zu einer Weltrepublik vereinigen 41 – um diese Frage geht es Kant im Garantie-Passus auch gar nicht. Wohl aber lässt sich mit diesem Naturverständnis einerseits die Hoffnung auf die empirische Umsetzbarkeit des Friedens stützen und lassen sich andererseits Argumente für eine globale Alleinherrschaft, die auf die menschliche Natur und die politische Empirie rekurrieren, kritisieren.

2.3 Der Völkerbund als (ein) rechtlicher Zustand

Anders als in der Literatur vielfach behauptet wird, spricht sich Kant in der Friedensschrift nicht gegen die Vorstellung einer Weltrepublik aus. Es ist ihm vielmehr durchgängig darum zu tun, den Völkerbund als auch unter den gegebenen Bedingungen gangbare Lösung der Kriegsproblematik auszuweisen. Freilich stellt er aufgrund der ihm fehlenden Zwangsgewalt im Vergleich zur Weltrepublik nur die ›zweitbeste Fahrt‹ dar. Entsprechend bezeichnet Kant den Völkerbund im Zweiten Definitivartikel auch als »Surrogat« der Weltrepublik bzw. als »Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftbundes« (ZeF, AA 08: 356 bzw. 355). Der Völkerbund stellt in Abwesenheit der Weltrepublik Andree Hahmann (2018) hingegen deutet Kants geschichtsphilosophische Überlegungen dahingehend, dass der Weltstaat für Kant deshalb nicht realisierbar sei, weil die Erzeugung und Aufrechterhaltung einer Rechtsordnung immer deren äußere Konfrontation mit anderen Staaten erfordere. 41

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durchaus eine Lösung für die Kriegsproblematik dar, und dies ist es, was Kant mit dem Ausdruck ›Surrogat‹ hier anzeigt: Im 18. Jahrhundert bedeutet ›Surrogat‹ schlicht ›Ersatz‹, ohne negative Konnotation, wie sie später aufkam und unser heutiges Verständnis des Ausdrucks prägt. 42 Der Völkerbund wird dabei von Kant nicht nur in dem Sinne als Surrogat eines Weltstaates angesehen, als der Völkerbund faktisch »dem Ausbruch der Feindseligkeiten vorbeugt« (ZeF, AA 08: 367; vgl. 357). Vielmehr sieht Kant den Völkerbund in der Friedensschrift ausdrücklich als eine Form des rechtlichen Zustandes an. Mit dem Völkerbund lässt sich demnach der Naturzustand zwischen den Staaten überwinden. 43 Dies lässt sich an verschiedenen Passagen im zweiten Anhang der Friedensschrift zum Verhältnis von Politik und Moral deutlich belegen. Hier finden wir eine ähnliche gedankliche Abfolge wie im Zweiten Definitivartikel: So wie im Verhältnis zwischen einzelnen Menschen muss auch im Verhältnis zwischen Staaten der Naturzustand überwunden, mithin ein rechtlicher Zustand gestiftet werden; dies ist auf der Ebene des Völkerrechts auch ohne Zwangsgesetze möglich: durch den Völkerbund; dieser ist die einzige Möglichkeit, wenn man die Freiheit der Staaten unangetastet lassen will. Die ersten beiden Punkte artikuliert Kant direkt zu Beginn der im zweiten Anhang zu findenden Ausführungen zum Völkerrecht: Nur unter Voraussetzung irgend eines rechtlichen Zustandes (d. i. derjenigen äußeren Bedingung, unter der dem Menschen ein Recht wirklich zu Theil werden kann) kann von einem Völkerrecht die Rede sein: weil es als ein öffentliches Recht die Publication eines jedem das Seine bestimmenden allgemeinen Willens schon in seinem Begriffe enthält, und dieser status iuridicus muß aus irgend einem Vertrage hervorgehen, der nicht eben (gleich dem, woraus ein Staat entspringt) auf Zwangsgesetze gegründet sein darf, sondern allenfalls auch der einer fortwährend-freien Association sein kann, wie der oben erwähnte der Föderalität Grimm, Bd. 20, Sp. 1269. – Eberl/Niesen meinen, dass Kant den Völkerbund »durchweg« positiv bewerte (2011, S. 242). Man sollte jedoch eher sagen, dass Kant den Völkerbund tendenziell positiv bewertet. Eberl/Niesen vernachlässigen dabei, dass die Weltrepublik für Kant klarerweise die eigentlich geforderte Form der globalen Rechtsordnung ist und dass der Völkerbund den Friedenszustand nicht so absichern kann, wie dies eine staatliche Vereinigung mithilfe der ihr eigenen Zwangsgewalt könnte. Auf der anderen Seite scheint mir Hruschkas Einschätzung von Kants Bewertung des Völkerbundes viel zu negativ zu sein (Hruschka 2015, S. 132 mit Fn. 12). 43 Demgegenüber meint etwa Hruschka, dass der Völkerbund den Naturzustand nicht beseitige, sondern dies nur durch den Völkerstaat geschehen könne (2015, S. 132). Pinzani formuliert die Ansicht, dass man mit dem Völkerbund zwar »nicht länger mit dem ursprünglichen Naturzustand zu tun« habe, »sich aber auch nicht in einem Rechtszustand« befände (1999, S. 241). 42

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verschiedener Staaten. Denn ohne irgend einen rechtlichen Zustand, der die verschiedene (physische oder moralische) Personen thätig verknüpft, mithin im Naturstande kann es kein anderes als blos ein Privatrecht geben. (ZeF, AA 08: 383)

Ein öffentliches Völkerrecht lässt sich, wie es hier zweimal heißt, in Form irgendeines (!) rechtlichen Zustands zwischen den Staaten etablieren – es gibt also nicht nur eine mögliche Form des rechtlichen Zustandes der Völker. Es ist dafür nicht nötig, eine dem bürgerlichen Zustand entsprechende Rechtsordnung mit Zwangsgesetzen zu errichten (›nicht dürfen‹ im Sinne von ›nicht müssen‹), der erforderliche Vertrag zwischen den Völkern »kann« auch einen bloßen Völkerbund zum Ziel haben. Demnach leistet auch der bloße Völkerbund – eine staatsförmige Lösung wird, wie Kants Ausdrucksweise klar anzeigt, freilich nicht ausgeschlossen – das, was die Kernaufgabe des rechtlichen Zustandes ist, nämlich jedem Subjekt sein Recht zuteilwerden zu lassen. Der Völkerbund kann dies dadurch leisten, dass die beteiligten Staaten im Bundesvertrag ihren gemeinsamen Willen artikulieren, mithin im Verhältnis zueinander einen öffentlichen allgemeinen Willen konstituieren, der jedem das Seine bestimmt. 44 Diesen Gedanken greift Kant in einer späteren Passage erneut auf: Die Bedingung der Möglichkeit eines Völkerrechts überhaupt ist: daß zuvörderst ein rechtlicher Zustand existire. Denn ohne diesen giebts kein öffentliches Recht, sondern alles Recht, was man sich außer demselben denken mag (im Naturzustande), ist bloß Privatrecht. Nun haben wir oben gesehen: daß ein föderativer Zustand der Staaten, welcher bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht hat, der einzige mit der Freiheit derselben vereinbare rechtliche Zustand sei. (ZeF, AA 08: 385)

War der bloße Völkerbund in der zuvor zitierten Passage eine mögliche Form des rechtlichen Zustands zwischen den Völkern, so weist Kant den Völkerbund hier als den einzig möglichen rechtlichen Zustand der Völker aus, indem er als zusätzliche Prämisse den Fortbestand der Freiheit der Staaten einführt. Mit Freiheit ist an dieser Stelle wie im Zweiten Definitivartikel, auf den Kant 44 In der Einleitung zu den Definitivartikeln betont Kant das Merkmal der Sicherheit, die man einander nur in einem gesetzlichen Zustand leisten könne (ZeF, AA 08: 349). Diese Anforderung sieht er, zumindest in weiterem Sinne, durch den bloßen Völkerbund gegeben: Zwar gibt es im Völkerbund »keine oberste gesetzgebende Gewalt«, die den Staaten wechselseitig ihr »Recht sicher[t]«; doch jeder Staat kann das »Vertrauen zu [s]einem Rechte« auf die vertragliche Vereinigung zum Völkerbund gründen (ZeF, AA 08: 356). Entsprechend hebt Kant hervor, dass der Völkerbund gerade dazu dient, den »Freiheitszustand der Staaten« und damit ihre Rechte »gemäß der Idee des Völkerrechts«, also ohne Souveränitätsverzicht, »zu sichern« (ZeF, AA 08: 356; meine Herv.).

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hier explizit zurückverweist (»oben«), die Freiheit der Staaten von äußeren Zwangsgesetzen gemeint: Der zu errichtende Bund hat »bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht«, ohne damit eine zwangsbewehrte Völkerrechtsordnung zu errichten. Direkt im Anschluss an die zitierte Passage benennt Kant die Konsequenz, die sich daraus für das Verhältnis von Politik und Moral im Völkerrecht ergibt: Also ist die Zusammenstimmung der Politik mit der Moral nur in einem föderativen Verein (der also nach Rechtsprincipien a priori gegeben und nothwendig ist) möglich, und alle Staatsklugheit hat zur rechtlichen Basis die Stiftung des ersteren in ihrem größt-möglichen Umfange, ohne welchen Zweck alle ihre Klügelei Unweisheit und verschleierte Ungerechtigkeit ist. (ZeF, AA 08: 385)

Dies zeigt eindeutig, dass es in Kants Plädoyer für den Völkerbund vor allem um die politische Möglichkeit eines rechtlichen Zustandes der Staaten unter Bedingungen ihrer persistierenden Souveränität geht. Der Völkerbund ist mit der vorauszusetzenden Maxime der Politik, die äußere Unabhängigkeit nicht aufzugeben, 45 vereinbar. Insofern der Völkerbund ein rechtlicher Zustand ist, seine Gründung somit den Kriegszustand überwindet, haben die Staaten also die rechtliche Pflicht dazu. So kann die Politik also der Moral entsprechen. Sogar den Völkerbund abzulehnen, hieße nichts anderes, als jegliche rechtliche Basis der internationalen Politik zu leugnen. Ihn zu gründen hingegen wäre ein wichtiger Schritt auf dem »Weg[,] den Zustand eines öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung« und damit den ewigen Frieden »wirklich zu machen« (ZeF, AA 08: 387).

3. Allgemeiner Staatenverein und permanenter Staatenkongress: das Völkerrecht in der Rechtslehre

Wie im Ewigen Frieden argumentiert Kant auch in der Rechtslehre einerseits dafür, dass die Vernunft zur Überwindung des Naturzustands einen Völkerstaat fordert, das Völkerrecht andererseits aber auch einen föderalen Verbund ohne staatliche Zwangsgewalt zulässt. Anders als in der Friedensschrift bezeichnet Kant diesen Bund jedoch nun nicht mehr als einen rechtlichen Zustand. Dieses Prädikat erfordert in der Rechtslehre eindeutig das VorhandenDies stellt Kant im Ersten Anhang als Prinzip der erfahrungsbasierten Politik heraus: »Ein Staat, der einmal im Besitz ist, unter keinen äußeren Gesetzen zu stehen, wird sich in Ansehung der Art, wie er gegen andere Staaten sein Recht suchen soll, nicht von ihrem Richterstuhl abhängig machen« (ZeF, AA 08: 371). 45

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sein staatlicher Strukturen, und zwar nicht nur zur Ermittlung und Durchsetzung des Rechts im Streitfall (3.1), sondern auch für die Geltung von Rechten an äußeren Gegenständen (3.2). Die Weltrepublik — die Kant in der Rechtslehre als allgemeinen Staatenverein und Völkerstaat bezeichnet – ist somit die Form des rechtlichen Zustands zwischen den Staaten (3.3). Jedoch ist Kant der Meinung, dass sich eine weltumspannende öffentliche, sanktionsbewehrte Rechtsordnung realiter nicht umsetzen lässt; insofern man sich ihr jedoch annähern kann, sind die Staaten dazu auch verpflichtet. Als Möglichkeit der Approximation einer Weltrepublik schlägt Kant einen permanenten Staatenkongress zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Konflikte vor (3.4).

3.1 Der rechtliche Zustand als Zustand einer öffentlichen Gerechtigkeit

In der Rechtslehre bestimmt Kant den rechtlichen Zustand zunächst als »dasjenige Verhältniß der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann« (RL § 41, AA 06: 305 f.). Die Voraussetzung dafür ist die »öffentliche Gerechtigkeit« (RL, AA 06: 306). Der Naturzustand ist als Zustand, in dem es keine »austheilende Gerechtigkeit«, keine positive Rechtsordnung gibt, ein nicht-rechtlicher Zustand (RL, AA 06: 306) und ist aufgrund der damit einhergehenden autonomietheoretischen Problematik unbedingt zu verlassen. In Abwesenheit öffentlicher Gesetze und sie anwendender Institutionen folgt im Naturzustand jeder Akteur notwendigerweise »seinem eigenen Kopfe« (RL, AA 06: 312). Dadurch ist man im Naturzustand grundsätzlich niemals davor gefeit, Gewalt durch andere zu erleiden (oder anderen Gewalt anzutun): Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen […]. (RL § 44, AA 06: 312)

Die Unsicherheit vor Gewalt im Naturzustand ist jedoch nicht aufgrund der damit einhergehenden faktischen Gefahr rechtlich problematisch. Das Pro-

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blem besteht für Kant genau genommen darin, dass die Akteure ohne öffentliche Gesetze zwangsläufig gegenseitig ihre Autonomie verletzen. Als Personen sind sie »keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst [geben], unterworfen« (MS Einleitung, AA 06: 223). Im Naturzustand ist jedoch jeder Akteur de facto sein eigener Gesetzgeber und muss selbst beurteilen, wie er zu handeln hat. Im Fall der Wechselwirkung mit anderen greift ein jeder damit automatisch in die Freiheit des anderen ein, zwar nicht unbedingt materialiter, aber doch formaliter, allein aufgrund der Einseitigkeit seines Freiheitsgebrauchs (vgl. RL § 42, AA 06: 307 f.). Im Naturzustand ist die Vereinbarkeit der »Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze« und damit das Recht (RL § C, AA 06: 230) somit nicht zu realisieren. 46 Der Naturzustand ist also zu verlassen – und dies gilt, wie Kant u. a. in der oben zitierten Passage herausstellt, für einzelne Akteure ebenso wie für Staaten (»vereinzelte Menschen, Völker und Staaten«) –, sodass das Erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten (AA 06: 312).

Im rechtlichen Zustand vereinigen sich die Akteure und unterwerfen sich allgemeinen, für alle gleichermaßen geltenden öffentlichen Gesetzen. Diese Gesetze entspringen – zumindest der Idee nach – dem vereinigten Willen der Bürger. Die im Staat vereinigten Bürger geben sich selbst gemeinsame Gesetze, die ihren äußeren Freiheitsgebrauch, ihr Handeln in Bezug aufeinander regeln. Wie Kant betont, sind die Gesetze im rechtlichen Zustand wesentlich mit Zwang verbunden (»äußere machthabende Gesetzgebung«, »öffentlich gesetzliche[r] Zwang«, »sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen«). Nur dann folgen die Akteure nicht mehr ihrem eigenen Kopf, wenn auch die Anwendung der Gesetze auf den Einzelfall nicht mehr sie selbst vornehmen. Denn sollten zwar die Gesetze aus dem gemeinsamen Willen entspringen, aber der individuelle Wille dessen Anwendung auf den Einzelfall vornehmen, so würde der Einzelne doch wieder »seinem eigenen Kopfe 46

Für eine umfassende Untersuchung von Kants Staatsbegründung siehe Hirsch 2017.

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folgen« (ebd.). Er würde wie der Regent in einem despotischen Staat den allgemeinen Willen notwendigerweise als ›seinen Privatwillen handhaben‹ (ZeF, AA 08: 352). Zum rechtlichen Zustand gehört also neben der gemeinsamen öffentlichen Gesetzgebung notwendigerweise auch die öffentliche Rechtspflege, die Anwendung der Gesetze durch Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung. Zum Wesen des Staates gehören somit die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative (RL § 45, AA 06: 313; § 49, AA 06: 318).

3.2 Die öffentliche Gerechtigkeit als Voraussetzung peremtorischer Rechtsgeltung

Im Hinblick auf die Rechte an äußeren Gegenständen der Willkür zeigt sich die autonomietheoretische Problematik des Naturzustandes in ganzer Schärfe: 47 Im Unterschied zum angeborenen Recht, das jeder Akteur qua Person, »kraft seiner Menschheit« (RL, AA 06: 237) hat und dessen korrespondierende Verpflichtungen auf der Seite aller anderen Akteure bereits im Allgemeinen Prinzip des Rechts enthalten und somit unmittelbar gegeben sind, wird bei der Erwerbung eines äußeren Gegenstandes ein neues Recht des erwerbenden Subjekts gestiftet und entsprechend eine neue Verbindlichkeit auf der Seite anderer Akteure generiert: So legt ein Akteur, der eine herrenlose Sache erwirbt, »allen anderen eine Verbindlichkeit auf[], die sie sonst nicht hätten«, nämlich »sich des Gebrauchs« dieses Gegenstandes seiner Willkür »zu enthalten« (RL § 2, AA 06: 247). Es ist jedoch rechtlich unzulässig, anderen einseitig, ohne ihre Zustimmung, Verpflichtungen aufzuerlegen: »der einseitige Wille [kann] in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun würde« (RL § 8, AA 06: 256). Als Personen sind die Rechtssubjekte, wie wir gesehen haben, nur denjenigen Gesetzen unterworfen, die sie sich »entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen« selbst geben (MS Einleitung, AA 06: 223). Ein Akteur A kann einem Akteur B eine Verbindlichkeit nur durch die Vermittlung ihrer zusammen vereinigten Willen auferlegen. Somit kann der Geltungsgrund eines äußeren, erworbenen Ich übergehe hier die Frage, für welche Arten äußerer Gegenstände der Willkür dies zutrifft. Kant selbst spricht in dieser Hinsicht allgemein vom äußeren Mein und Dein, unter das Rechte an Sachen, Rechte gegenüber Personen (auf bestimmte Leistungen) sowie Rechte an Personen (sie auf dingliche Art zu besitzen) fallen (siehe RL § 4, AA 06: 247 f.; § 10, AA 06: 259 f.). Genau genommen scheint die Geltungsproblematik äußeren Besitzrechts jedoch nur auf Sachenrechte zuzutreffen. Siehe zu Kants Konzeption der Erwerbung äußerer Gegenstände der Willkür Brecher 2024, Kap. 7.1. 47

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Rechts überhaupt nur ein »jeden anderen verbindender, mithin collectiv allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille« sein; dieser aber wird nur im bürgerlichen Zustand angetroffen: »Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben« (RL § 8, AA 06: 256; siehe zum Ganzen auch RL § 15, AA 06: 264). Die Erwerbung äußerer Gegenstände muss Kant zufolge jedoch bereits vor der Errichtung eines rechtlichen Zustandes, sprich im Naturzustand, möglich sein, da sonst gar keine äußere Erwerbung möglich wäre (RL § 9, AA 06: 256 f.). Kant löst diesen vermeintlichen Widerspruch durch die Unterscheidung von provisorischer und peremtorischer Rechtsgeltung. 48 Das äußere Mein und Dein gilt im Naturzustand demnach lediglich provisorisch und erfährt seine peremtorische Geltung erst im rechtlichen Zustand. Die Erwerbung eines äußeren Gegenstandes im Naturzustand kann dabei aber auch diese provisorische rechtliche Gültigkeit nur insofern beanspruchen, als sie mit der Bereitschaft einhergeht, mit allen Akteuren, mit denen es zum Rechtskonflikt kommt, in den Zustand des wirklich vereinigten gesetzgebenden Willens, d. h. in den rechtlichen Zustand, einzutreten (RL, AA 06: 256). [O]bgleich nach jedes seinen Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann, [so ist] diese Erwerbung doch nur provisorisch […], so lange sie noch nicht die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist. (RL § 43, AA 06: 312)

Während der Besitz in »Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes«, und wenn er »zu der Möglichkeit des Letzteren zusammenstimmt«, ein »provisorisch-rechtlicher Besitz« ist, ist nur derjenige Besitz, »der in einem solchen wirklichen Zustande angetroffen wird«, »ein peremtorischer Besitz« (RL § 9, AA 06: 257). Der rechtliche Zustand ist also nicht nur Voraussetzung für eine rechtskonforme Verfolgung von Rechten jeglicher Art. Darüber hinaus ist der rechtliche Zustand als wirkliche Vereinigung des Willens der miteinander interagierenden Subjekte im Fall der äußeren, erworbenen Rechte Voraussetzung für die Geltung dieser Rechte. Wie ich bereits in der Einleitung herausgestellt hatte, kommt die Auflösung der Geltungsproblematik des äußeren Mein und Dein dabei nicht schon durch den rechtlichen Zustand im Rahmen des Einzelstaates zum Abschluss. Vielmehr kann der äußere Besitz erst durch die Vereinigung des Willens aller 48 Zu dieser begrifflichen Unterscheidung wurde Kant offenbar durch Schlegels Rezension der Friedensschrift angeregt (Herb/Ludwig 1994, S. 473 Fn. 169).

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betroffenen Rechtssubjekte peremtorisch werden. Aufgrund der Kugelgestalt der Erde, die uns in Bezug auf den Erdboden in eine Gemeinschaft mit allen anderen Menschen versetzt, muss die erforderliche Willensvereinigung in letzter Konsequenz somit die gesamte Menschheit einschließen: Irgend eine ursprüngliche Erwerbung des Äußeren aber muß es […] geben; denn abgeleitet kann nicht alle sein. Daher kann man diese Aufgabe auch nicht als unauflöslich und als an sich unmöglich aufgeben. Aber wenn sie auch durch den ursprünglichen Vertrag aufgelöset wird, so wird, wenn dieser sich nicht aufs ganze [!] menschliche Geschlecht erstreckt, die Erwerbung doch immer nur provisorisch bleiben. (RL § 15, AA 06: 266)

Es zeichnet nun das Völkerrecht in der Rechtslehre aus, dass der Unterschied zwischen provisorischen und peremtorischen Rechten auch dort die Differenz zwischen Natur- und Rechtszustand markiert.

3.3 Die rechtliche Notwendigkeit eines allgemeinen Staatenvereins

Kant erläutert die Notwendigkeit, den zwischenstaatlichen Naturzustand zu verlassen, an zwei Stellen des Völkerrechts: In RL § 54 führt er dafür die wesentliche Rechtlosigkeit des Naturzustandes an (1); in RL § 61 schließlich weist er den allgemeinen Staatenverein (also einen Weltstaat) als Voraussetzung für die peremtorische Geltung des äußeren Mein und Dein aus (2). (1) In § 54 benennt Kant die »Elemente«, die fundamentalen Prinzipien, des Völkerrechts. Wir finden hier die aus der Friedensschrift bekannte Argumentationsfigur wieder. Der natürliche Ausgangspunkt des Staatenverhältnisses ist ein nicht-rechtlicher Zustand und als solcher zu verlassen: 1) daß Staaten, im äußeren Verhältniß gegen einander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2) daß dieser Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenn gleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität) ist, welche (indem sie es beide nicht besser haben wollen), obzwar dadurch keinem von dem Anderen unrecht geschieht, doch an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche einander benachbart sind, auszugehen verbunden sind; (RL, AA 06: 344)

Da einander benachbarte Staaten notwendigerweise in Wechselwirkung miteinander kommen, sie also die Gesellschaft miteinander nicht vermeiden können (vgl. RL, AA 06: 236 f.), sind sie verbunden, den zwischen ihnen bestehenden Naturzustand zu überwinden; die Staaten sind also verpflichtet, sich

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miteinander rechtlich zu verbinden (wobei Kant den Begriff des Völkerbundes auch hier als Gattungsbegriff verwendet): 49 3) daß ein Völkerbund nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages nothwendig ist, sich zwar einander nicht in die einheimische Mißhelligkeiten derselben zu mischen, aber doch gegen Angriffe der äußeren zu schützen; (RL, AA 06: 344)

Die von aus der Notwendigkeit des Exeundum unmittelbar gefolgerte Form des Zusammenschlusses ist die »nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages«, d. h. eine durch Zwangsgesetze gekennzeichnete Verbindung. Da sich diese Gesetze aber nur auf das äußere Verhältnis der Staaten zueinander beziehen (müssen), hat Kant hier also explizit keinen Einheitsstaat, sondern eine bundesstaatliche Lösung im Blick, in der Begrifflichkeit der Religion: einen »Staatenverein« im Sinne einer »Republik freier verbündeter Völker« (RGV, AA 06: 34). Auch das Völkerrecht der Rechtslehre sieht jedoch wieder die Möglichkeit einer schwächeren Verbindung ohne Zwangsgesetze vor: 4) daß die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse; eine Verbündung, die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muß, – ein Recht, 50 in subsidium eines anderen und ursprünglichen Rechts, den Verfall in den Zustand des wirklichen Krieges derselben untereinander von sich abzuwehren (foedus Amphictyonum). 51 (RL, AA 06: 344)

Was Kant damit meint, ergibt sich aus RL § 59, wo Kant konstatiert, dass Staaten das Recht »zu wechselseitiger Verbindung (Bundesgenossenschaft)« haben, um »sich gegen alle äußere oder innere etwaige Angriffe gemeinschaftlich zu vertheidigen«, wobei Kant ebenso wie in der Friedensschrift herausstellt, dass es kein Recht gibt, sich zu Angriffs- oder Eroberungskriegen zu Vgl. Hruschka 2015, S. 134 f. Die Akademie-Ausgabe tilgt dieses im Text der Erstausgabe vorhandene Komma. 51 Jacob (2010) leitet aus Kants Hinweis auf die antiken Amphiktyonen die These ab, dass es Kant im Völkerrecht um eine letztlich bloß ideelle Verbindung der Staaten gehe. Dabei blendet er jedoch aus, dass die Staaten gemeinsame Urteile fällten und diese mit Waffengewalt vollstreckten. In der Idee verwendet Kant den foedus Amphictyonum entsprechend als Vorbild für den von ihm dort ins Spiel gebrachten – mit Zwangsgewalt ausgestatteten – »großen Völkerbunde«, in dem »jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurtheilung, sondern allein […] von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte« (IaG, AA 08: 24). 49 50

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verbünden (RL, AA 06: 349). Der bloße Völkerbund gemäß dem Grundsatz der Föderalität erzeugt, wie Kant in RL § 54 konzediert, jedoch nur ein hilfsweises Recht (»in subsidium«), um den »Verfall in den Zustand des wirklichen [!] Krieges«, d. h. den faktischen Ausbruch von Hostilitäten zu verhindern (RL, AA 06: 344). Ohne Zwangsgesetze und ohne dass die Verbindung dauerhaft ist, lässt sich der internationale Rechtszustand und damit der wahre Frieden nicht stiften. Mit dem ursprünglichen Recht, das vom bloßen Völkerbund nur hilfsweise vertreten wird, kann nur das Recht einer staatsförmigen Vereinigung der Staaten gemeint sein. 52 (2) In RL § 61 macht Kant nun explizit Gebrauch von der Unterscheidung zwischen provisorischen und peremtorischen Rechten, um die Pflicht der Staaten zum Verlassen des Naturzustandes zu begründen: Da der Naturzustand der Völker eben so wohl als einzelner Menschen ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist vor diesem Ereigniß alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden. (RL, AA 06: 350)

Nur ein allgemeiner Staatenverein kann dazu führen, dass äußere Rechte auf der völkerrechtlichen Ebene peremtorisch werden, und nur wenn dieser allgemeine Staatenverein existiert, gibt es einen wahren Friedenszustand. 53 Der Zustand des Friedens – den Kant im Beschluss der Rechtslehre als den »unter Gesetzen gesicherte[n] Zustand des Mein und Dein« spezifiziert (RL, AA 06: 355) – ist also nur dann realisiert, wenn alle äußeren Rechte auch auf der globalen Ebene nicht länger nur provisorisch sind, sondern peremtorisch gelten. Laut Kants Charakterisierung des rechtlichen Zustandes umfasst dieser alle Aspekte einer allgemeinen und öffentlichen Gesetzgebung und -anwendung, die dafür notwendig sind, damit sich der äußere Freiheitsgebrauch aller So auch Hruschka 2015, S. 134, sowie Jacob 2010, S. 313. – Eberl/Niesen sehen als das ursprüngliche Recht das Recht der einseitigen Rechtsbeurteilung (2011, S. 247). Horn schlägt vor, dass Kant das Recht zum Austritt aus dem Völkerbund als das ursprüngliche, diesem vorgängige Recht ansieht (2014, S. 286). 53 Im »äußere[n] Mein und Dein der Staaten« ist auch das äußere Mein und Dein der einzelnen Bürger enthalten, dem der Staat (als gedachter Obereigentümer des Bodens: Allg. Anmerk. B, AA 06: 323) gegenüber anderen Staaten zu Geltung und Wirkung verhilft. Vgl. Herb/Ludwig 1993, S. 313. Wenige Sätze später bezieht Kant die Pflicht der Staaten, an einem Ausgang aus dem Naturzustand zu arbeiten, auch auf das »Recht der Menschen [!] und Staaten« zurück (RL § 61, AA 06: 350). 52

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Subjekte miteinander vereinbaren lässt. Ein jeder rechtliche Zustand umfasst somit wie im Fall der staatlichen Rechtsordnung eine legislative, judikative und exekutive Gewalt. Dies ist somit auch auf der völkerrechtlichen Ebene erforderlich, der allgemeine Staatenverein ist somit ein staatlicher Zusammenschluss der Völker. (Kant spricht wenig später auch explizit von der »Regierung« RL, AA 06: 350.) Beim allgemeinen Staatenverein handelt sich also um einen vollwertigen Weltstaat, eine Weltrepublik, in der alle Staaten Mitglieder sind. 54 Kant behauptet zu Beginn von RL § 61 also eindeutig, dass es einer globalen, zwangsbewehrten Rechtsordnung bedarf, damit die Staaten den Naturzustand hinter sich lassen können; und wie wir gesehen haben, ist erst dadurch die peremtorische Geltung äußerer Besitzrechte überhaupt möglich.

3.4 Der permanente Staatenkongress als Voraussetzung provisorischer Rechtsgeltung

Nachdem Kant zu Beginn von RL § 61 für die rechtliche Notwendigkeit des allgemeinen Staatenvereins argumentiert hat, stellt er im zweiten Teil des erstens Absatzes des Paragraphen jedoch die Behauptung auf, dass ein solcher Weltstaat de facto nicht realisierbar ist. In Kants Augen kann ein Staat ab einer gewissen räumlichen Größe seine Funktion, dem Recht aller seiner Glieder Geltung zu verschaffen, nicht mehr nachkommen. 55 Nun kann man sich kleinere Staatenvereinigungen (»Corporationen«) vorstellen, denen sich dieses Problem nicht stellt; doch diese Vereinigungen befinden sich, wie zuvor die Einzelstaaten, weiterhin im Naturzustand zueinander, mithin in einem Zustand des Krieges. Der Friedenszustand erfordert eine einheitliche globale Rechtsordnung; ist sie nicht umsetzbar, so hat dies zur Konsequenz, dass auch der ewige Friede, wie Kant konzediert (»freilich«), nicht realisiert werden kann: Die Akteure im Naturzustand können diesen nur dadurch verlassen, dass sie »sich mit allen [!] anderen (mit denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird« (RL § 44, AA 06: 312). 55 Die Ansicht, dass die Regierbarkeit eines Staates bei zunehmender Größe schwieriger und endlich unmöglich wird, findet sich auch in Kants Diskussion der Universalmonarchie (ZeF, AA 08: 367; RGV, AA 06: 34), auch wenn dies, wie wir gesehen haben, nicht der Grund für deren Zurückweisung ist. 54

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Weil aber bei gar zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats 56 über weite Landstriche die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Gliedes endlich unmöglich werden muß, eine Menge solcher Corporationen aber wiederum ein Kriegszustand herbeiführt: so ist der ewige Friede (das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) freilich eine unausführbare Idee. (RL § 61, AA 06: 350)

Gleichwohl haben die Staaten die Pflicht, sich diesem Zustand durch geeignete Maßnahmen so weit wie möglich anzunähern. Denn auch wenn das Ziel, der globale Rechtszustand, letztlich nicht erreicht werden kann, so sind politische Maximen und Maßnahmen der Approximation dieses Ziels »allerdings ausführbar« und aufgrund der Pflicht, den Naturzustand zu verlassen, auch geboten: Die politische[n] Grundsätze aber, die darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen der Staaten einzugehen, als zur continuirlichen Annäherung zu demselben dienen, sind es nicht, sondern, so wie diese eine auf der Pflicht, mithin auch auf dem Recht der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe ist, allerdings ausführbar. (AA 06: 350)

Wenn der Völkerstaat und damit eine globale Rechtsordnung nicht realisierbar ist, so hat dies freilich zur Konsequenz, dass das äußere Mein und Dein der Staaten und letztlich eines jeden niemals peremtorisch werden kann, sondern immer nur provisorisch bleibt. Nun lässt sich auch ein ›bloß provisorischer‹ Rechtsanspruch nur »in »Erwartung und Vorbereitung« des rechtlichen Zustandes legitimerweise erheben, d. h., wenn man zur Errichtung eines öffentlichen Rechts bereit ist (RL § 9, AA 06: 257). Die kontinuierliche Approximation einer globalen Rechtsordnung durch eine zunehmende und größtmögliche Verrechtlichung der internationalen Beziehungen entpuppt sich somit als Voraussetzung für die Geltendmachung jeglicher Besitzrechte. 57 56 Der Rückbezug (»eines solchen«) macht meines Erachtens hinreichend deutlich, dass Kant den im vorangehenden Satz genannten allgemeinen Staatenverein als Völkerstaat auffasst. – Jedoch finden sich bereits bei den frühen Kant-Kommentatoren anders lautende Auffassungen. So identifizieren Mellin, Tieftrunk und Beck den Staatenverein mit dem bloßen Völkerbund und dem im zweiten Teil von RL § 61 behandelten Staatenkongress und grenzen ihn vom Völkerstaat ab (Mellin 1799, S. 665; Beck 1798, S. 503 f.; Tieftrunk 1799, S. 570); von Jakob hingegen versteht den Staatenverein als supranationales Gebilde mit judikativer und exekutiver Gewalt (von Jakob 1800, S. 263). 57 Laut Ludwig ist somit »letztlich alles äußere Mein und Dein mit dem Makel einseitiger ›Anmaßung‹ […] behaftet. Die Legitimation jeder rechtmäßigen Gewalt wird daher in der Zukunft liegen: jeder Rechtsanspruch steht unter dem Vorbehalt seiner Einlösung durch die vereinte Willkür aller Menschen auf der Erdkugel, welche letztere beständig von Neuem mit den Versuchen einer umfassenden Verrechtlichung überzogen werden muß« (Ludwig 1988, S. 177).

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Als Vehikel, mit dem die Staaten auf den wahren Friedenszustand hinarbeiten können, schlägt Kant auch in der Rechtslehre einen bloßen Völkerbund vor, den er sich als einen permanenten Staatenkongress vorstellt. In einem ersten Schritt erläutert Kant dieses Modell mit Bezug auf das frühere diplomatische Zentrum Den Haag (RL § 61, zweiter Absatz), grenzt den von ihm präsentierten Typ von diplomatischem Staatenkongress sodann von einer festen staatlichen Vereinigung ab und zeichnet seinen Vorschlag schließlich als einzigen Weg zur Realisierung eines positiven Völkerrechts aus (dritter Absatz). Im Unterschied zum allgemeinen, alle Völker umfassenden Staatenverein geht es Kant beim permanenten Staatenkongress um die Verbindung »einiger« Staaten (RL, AA 06: 350). Damit ist nicht ausgeschlossen, dass sich letztlich doch alle Staaten dieser Vereinigung anschließen (es steht jedem Staat frei, dem Kongress beizutreten: RL, AA 06: 350) – es wird im Unterschied zum Weltstaat nur nicht erfordert. Ebenso können die Mitglieder die Vereinigung wieder verlassen, sodass die Verbindung »zu aller Zeit auflöslich[]« ist (RL, AA 06: 351). Damit unterscheidet sich der von Kant vorgeschlagene Staatenkongress von einer festen staatsförmigen Verbindung, die »(so wie die der amerikanischen Staaten)« – deren legislative Körperschaft ja ebenfalls »Kongress« genannt wird – »auf einer Staatsverfassung gegründet und daher unauflöslich ist« (RL, AA 06: 351). Die friedenserhaltende Funktion des von Kant vorgesehenen Kongresses besteht darin, ein Forum zu bieten, in dem die Staaten »ihre Streitigkeiten auf civile Art, gleichsam durch einen Proceß, nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg« beilegen können (RL, AA 06: 351) Als Vorbild für seinen Vorschlag weist Kant auf die »Versammlung der Generalstaaten im Haag« in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hin. Dabei hat Kant nicht die Versammlung der sieben vereinigten niederländischen Provinzen selbst – die, wie es im Zedler heißt, »im Haag […] über die StaatsAngelegenheiten mit einander rathschlagen« (Bd. 10, Sp. 848g) – im Blick; vielmehr bezieht er sich auf den Umstand, dass Den Haag von Mitte des 17. bis weit ins 18. Jahrhundert hinein das Zentrum der europäischen Diplomatie war. 58 Laut Kant konnten dort »die Minister der meisten europäischen Höfe und selbst der kleinsten Republiken ihre Beschwerden über die Befehdungen« vortragen, »die einem von dem anderen widerfahren waren« (RL, AA 06: 350). Kant deutet dies so, dass sich die Staaten dabei »ganz Europa als einen einzigen föderirten Staat dachten, den sie in jener ihren öffentlichen Streitig-

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Siehe Hruschka 2015, S. 143 f.

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keiten gleichsam als Schiedsrichter annahmen« (RL, AA 06: 350). 59 Dadurch existierte das Völkerrecht zumindest seiner »Förmlichkeit« nach: »in Absicht auf Erhaltung des Friedens« (RL, AA 06: 350). Es sollte deutlich geworden sein, dass der permanente Staatenkongress wesentliche Eigenschaften eines bloßen Völkerbundes aufweist: Die Mitgliedschaft ist freiwillig, sowohl was ihren Anfang als auch ihr Ende betrifft. Die Vereinigung hat keine Verfassung zur Grundlage und besitzt keinerlei Zwangsgewalt gegenüber ihren Mitgliedern; sie kann die Absicht des Friedenserhalts einzig über die Selbstbindung der Mitglieder realisieren. Im Unterschied zur Darstellung des Völkerbundes im Ewigen Frieden wird Kant hier jedoch etwas konkreter, was die politische Wirkung dieser Vereinigung betrifft: Der Staatenkongress bietet ein Forum, um zwischenstaatliche Streitigkeiten friedlich beizulegen. Von den assoziierten Staaten bzw. ihren Vertretern wird dafür verlangt, dass sie so handeln, als ob sie Teil eines Völkerstaates wären. 60 Kants Verweis auf die Zusammenkunft der europäischen Diplomaten in Den Haag dient einerseits dazu, die Funktionsweise des Völkerbundes im Ansatz zu beschreiben, 61 andererseits soll das historische Beispiel die Umsetzbarkeit eines solchen Projekts nachweisen.

4. Resümee

Kant begreift den ewigen Frieden nicht nur als »das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts« (RL § 61, AA 06: 350). Vielmehr macht die »allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung« für Kant »den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft« aus (RL Beschluss, AA 06: 355). Wie wir gesehen haben, fällt das Gebot zur Friedensstiftung in Kants politischer Philosophie mit dem Gebot zur Positivierung und Konstitutionalisierung jeglicher Rechtsverhältnisse zusammen: »[D]er Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer MenDass die Einzelstaaten sich dabei Kant zufolge »ganz Europa als einen einzigen föderirten Staat dachten, den sie in jener ihren öffentlichen Streitigkeiten gleichsam als Schiedsrichter annahmen«, spricht deutlich gegen die von Joachim Hruschka vorgeschlagene Deutung, der zufolge man den Staatenkongress nicht mit dem Völkerbund identifizieren dürfe, da Kant mit dem Staatenkongress gerade keinen multilateralen Staatenverein, sondern lediglich ein fest etabliertes Forum für bilaterale Diplomatie fordere (Hruschka 2015, S. 141). 60 Vgl. auch Hirsch 2018, S. 43, und Jacob 2010. 61 Indem Kant als Beispiel Den Haag wählt, setzt er sich von Saint-Pierre ab, der Utrecht als Sitz der zentralen Einrichtungen seiner Europäischen Union vorschlägt (vgl. Schölderle 2021, S. 80 f.). 59

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ge einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind« (RL, AA 06: 355). Nur auf dem Boden einer öffentlichen Gerechtigkeit kann jedes Subjekt seine Rechte anderen gegenüber im Einklang mit deren Autonomie geltend machen. Besondere Bedeutung kommt der öffentlichen Rechtsordnung dabei für das äußere Mein und Dein, für erworbene Rechte an äußeren Gegenständen der Willkür zu: Diese Rechte und die ihnen korrespondieren Pflichten können nur durch einen allgemein vereinigten Willen überhaupt erzeugt werden. Außerhalb des rechtlichen Zustands ist die Erwerbung äußerer Gegenstände daher nur provisorisch und gilt lediglich in der Antizipation, dass ihr Geltungsanspruch durch den wirklich vereinigten Willen aller betroffenen Subjekte eingelöst wird. Wie wir gesehen haben, verlangt das äußere Mein und Dein zu seiner vollen, peremtorischen Geltung in letzter Konsequenz die Vereinigung des Willens sämtlicher Rechtssubjekte der Erde, mithin die Verwirklichung einer globalen, einer kosmopolitischen Rechtsordnung, einschließlich einer rechtsdurchsetzenden Macht. Wie wir gesehen haben, erhebt Kant weder in der Friedensschrift noch in der Rechtslehre prinzipielle, normative Einwände gegen die Möglichkeit einer globalen Rechtsordnung. In der Rechtslehre hält er sie gleichwohl – aus letztlich empirischen Gründen 62 – für nicht umsetzbar. 63 Damit bleibt als einzige Möglichkeit die Gründung eines bloßen Völkerbunds. Doch während dieser im Ewigen Frieden bereits als ein rechtlicher Zustand galt, verbleiben die Staaten dem Völkerrecht der Rechtslehre nach in einem nicht-rechtlichen Zustand – und somit auch einem Zustand bloß provisorischen Rechts. 64 Wollen sie jedoch an ihren Rechtsansprüchen festhalten und der Idee des Rechts nicht 62 Ich stimme Blomme (2018, S. 54) zwar darin zu, dass Kants Behauptung nicht zu radikal verstanden werden sollte; anders als in der Friedensschrift bezieht Kant seine Behauptung in RL § 61 jedoch nicht »auf eine bestimmte[] politische[] Konstellation«, wie Blomme meint (ebd.). 63 Man könnte freilich geneigt sein, Kant die Hoffnung auf eine eventuelle Lösung des Problems der Regierung großer Gebiete, sei es durch organisatorischen oder auch technischen Fortschritt – etwa die »Luftfahrt[] mit aërostatischen Bällen« (TP, AA 08: 310) –, zu unterstellen. 64 Im Staatsrecht ist Kant freilich kaum weniger anspruchsvoll: Die Idee des ursprünglichen Vertrags ist auf einzelstaatlicher Ebene erst dann verwirklicht, wenn die Staatsverfassung »auch dem Buchstaben nach endlich« einmal eine wahre Republik wird, mithin »ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen«. Nur in der wahren Republik ist der »letzte Zweck alles öffentlichen Rechts, der Zustand, in welchem allein jedem das Seine peremtorisch zugetheilt werden kann«, realisiert, während allen Staaten, die keine wahren Republiken sind, »nur ein provisorisches inneres Recht und kein absolut-rechtlicher Zustand der bürgerlichen Gesellschaft zugestanden werden kann« (RL § 52, AA 06: 340 f.)!

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gänzlich den Rücken kehren, müssen sie sich die »Erwartung und Vorbereitung« (RL, AA 06: 257) des rechtlichen Zustandes zur Maxime machen (RL, AA 06: 355), deren Befolgung eben auf die kontinuierliche Annäherung an dieses Ideal hinausläuft. Und so akzentuiert Kant denn auch den prozessualen Charakter, wenn er als Endzweck des Vernunftrechts die »allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung« ausmacht (RL, AA 06: 355; meine Herv.). 65

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65 Einen ersten Entwurf der hier vorgestellten Überlegungen konnte ich am 7. Dezember 2022 auf dem Workshop »Migration und internationale Friedensordnung« des Digitalen Kant-Zentrums NRW in Bonn vorstellen. Ich danke Christoph Horn und Rainer Schäfer für die freundliche Einladung und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die hilfreiche Diskussion.

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Die Konsequenzen der konsequenten Denkungsart Beispiele angewandter Ethik in der Metaphysik der Sitten Was heißt mit Kantischem Geist denken? Ich glaube, es heißt, die Verhältnisse unseres Wesens, es sei nun was es wolle, gegen die Dinge, die wir außer uns nennen, ausfindig machen; das heißt, die Verhältnisse des Subjektiven gegen das Objektive bestimmen. Dieses ist freilich immer der Zweck aller gründlichen Naturforscher gewesen, allein die Frage ist, ob sie es je so wahrhaft philosophisch angefangen haben, als Herr Kant. 1

1. Das lange Warten

Die angewandte Ethik nimmt in der Philosophie Immanuel Kants keine zentrale Rolle ein, nicht zuletzt deshalb, weil die Metaphysik der Sitten zu Kants Lebzeiten so lange auf sich warten ließ, dass der Anschein erweckt werden konnte, der Text werde den Ansprüchen des Autors nicht gerecht. Bereits 1768 schreibt Kant in einem Brief: »ich arbeite jetzt an einer Metaphysik der Sitten […]. Ich hoffe in diesem Jahre damit fertig zu werden«. 2 Auch in den darauffolgenden Jahren kündigt er immer wieder eine baldige Veröffentlichung an. Zunehmend erkennt er dabei Probleme, die sein fortschreitendes Alter hervorrufen könnten, wie etwa 1785: Jetzt gehe ich ungesäumt zur völligen Ausarbeitung der Metaphysik der Sitten. […] Ich bin schon so ziemlich alt und habe nicht mehr die Leichtigkeit, mich zu Arbeiten von verschiedener Art so geschwinde umzustimmen wie ehedem. Ich muß meine Gedanken ununterbrochen zusammenhalten, wenn ich den Faden, der das ganze System verknüpft, nicht verlieren soll. 3

1 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang Promies, München 2005, KII 77. 2 Immanuel Kant: Briefwechsel, Brief 25 (An Johann Gottfried Herder, 9. Mai 1768), hrsg. von Otto Schöndörffer, Hamburg 1986, S. 56. 3 Kant: Briefwechsel, Brief 137 (An Christian Gottfried Schütz, 13. September 1785), S. 265 f.

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Erst im Jahr 1797, 30 Jahre nach der ersten Ankündigung der Metaphysik der Sitten, kommt es zur Drucklegung. 4 Ist die praktische Philosophie Kants also ein »problematisches, ja verunglücktes Alterswerk«? 5 Eine »Zumutung«? 6 Zumindest ein Teil der zeitgenössischen und späteren Leserschaft scheinen dies anzunehmen, mutmaßlich auch (aber nicht nur) aufgrund von Fehlern in der Drucklegung, die sich negativ auf das Textverständnis auswirken. 7 Doch bereits vor Veröffentlichung des Textes ist Kritik an der kantischen Sittenlehre (bis dahin wohl v. a. in Form von Grundlegung und KpV) zu vernehmen. Friedrich Schiller schreibt 1794 in einem Brief an Kant: die Lebhaftigkeit meines Verlangens, die Resultate der von Ihnen gegründeten Sittenlehre einem Teile des Publikums annehmlich zu machen, der bis jetzt noch davor zu fliehen scheint, und der eifrige Wunsch, einen nicht unwürdigen Teil der Menschheit mit der Strenge Ihres Systems auszusöhnen, konnte mir auf einen Augenblick das Ansehen Ihres Gegners geben […]. 8

Schiller stilisiert sich hier etwas polemisch zum Verteidiger der kantischen Moralphilosophie. Die anscheinend abschreckend wirkende Strenge des Systems, die er unterstellt, ist dabei beachtenswert, da sich die volle Tragweite der Anforderung, so zu handeln, »daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne«, 9 letztlich erst in dem Versuch zeigen kann, es realiter anzuwenden. In der Metaphysik der Sitten gibt Kant dafür konkrete Anwendungsbeispiele.

4 Die zwei Teile der Metaphysik der Sitten werden dabei unabhängig voneinander veröffentlicht. Zunächst erscheint die Rechtslehre. Die Tugendlehre folgt im gleichen Jahr etwas später. Eine vollständige Ausgabe wird erst postum veröffentlicht. Vgl. Bernd Ludwig: Einleitung (Rechtslehre), in: Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre: Metaphysik der Sitten Erster Teil, Hamburg 2009, S. XIV–XXIV: XXI ff. 5 Ludwig: Einleitung (Rechtslehre), S. XXVII. Ludwig selbst teilt diese Auffassung nicht. 6 Bernd Ludwig: Einleitung (Tugendlehre), in: Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Metaphysik der Sitten Zweiter Teil, Hamburg 1990, S. XIII–XXVIII: XXIV. 7 Vgl. Bernd Ludwig: Kants Rechtslehre: Mit einer Untersuchung zur Drucklegung Kantischer Schriften von Werner Stark, Hamburg 2005, S. 3 ff. Die mutmaßlichen Fehler in der Drucklegung beziehen sich allein auf die Rechtslehre. Im Folgenden wird die rekonstruierte Version der Metaphysik der Sitten, herausgegeben von Bernd Ludwig, verwendet. 8 Kant: Briefwechsel, Brief 346 (Von Friedrich Schiller, 13. Juni 1794), S. 669. 9 TL, AA 06: 389.

Die Konsequenzen der konsequenten Denkungsart

2. Vier Beispiele angewandter Ethik

Im Folgenden werden vier Beispiele angewandt ethischer Fragestellungen vorgestellt, die Kant in der Metaphysik der Sitten diskutiert und die im 18. Jahrhundert generell Gegenstand aufklärungsphilosophischer Debatten sind: 1. Selbsttötung, 2. Sexualität, 3. Todesstrafe und 4. Abtreibung. Die Metaphysik der Sitten, die sich in Rechts- und Tugendlehre aufteilen lässt, soll dabei als Einheit verstanden werden. 10 Die formalen Prinzipien der Sittenlehre, ihre Herleitung und Kategorisierungen sowie die Einbettung des Spätwerks in das Gesamtwerk Kants, werden in im Folgenden nicht behandelt. Es soll lediglich um die letzten Konsequenzen, die »materialen Bestimmungen« 11 der kantischen Ethik und ihre sehr grobe Einbettung in den aufklärungsphilosophischen Kontext des 18. Jahrhunderts gehen. Alle vier gewählten Themenbereiche setzen sich letztlich mit Fragen zu Leben und/oder Tod auseinander – das gilt aufgrund der Potenzialität zur Zeugung auch für die Sexualität. Der kantischen Position kommt zumeist eine Sonderrolle innerhalb der angewandt ethischen Philosophie der Aufklärung 12 zu, da sie nicht utilitaristisch begründet wird und dadurch häufig zu anderen Handlungsanweisungen 10 Die Unterscheidung zwischen beiden Teilen ist u. a. diejenige zwischen innerer und äußerer Sphäre der Sittlichkeit. Beide behandeln die Pflichten, die sich für Personen aus dem moralischen Gesetz als kategorischen Imperativ ergeben. Zu Rechtspflichten kann eine Person auch durch äußere Gesetzgebung und exekutiven Zwang verpflichtet werden, da sie sich auf zwischenmenschliches Handeln beziehen. Tugendpflichten beziehen sich auf den eigenen Umgang mit der inneren Freiheit und sind daher nur durch Selbstzwang durchsetzbar. Kant spricht in Bezug auf die Tugendlehre mitunter von Ethik, in Bezug auf die Rechtslehre von Ius. Am Beispiel des Versprechens erklärt Kant: »Es ist keine Tugendpflicht, sein Versprechen zu halten, sondern eine Rechtspflicht, zu deren Leistung man gezwungen werden kann. Aber es ist doch eine tugendhafte Handlung […], es auch da zu tun, wo kein Zwang besorgt werden darf.« (RL, AA 06: 220.) Für die Zwecke dieses Textes genügt es, allgemein zu erfragen, ob es sich bei Handlungen um Pflichten in moralischer Hinsicht handelt. Dass die Metaphysik der Sitten möglicherweise kein geschlossener, zusammenhängender Text ist (vgl. Reinhard Brandt: »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive) – Wie das?«, in: Sind wir Bürger zweier Welten?, hrsg. von Bernd Ludwig [u. a.], Hamburg 2012, S. 311–360: S. 318 f.), ist dabei nur von geringer Bedeutung. Die angewandt ethischen Beispiele eröffnen die Frage, wie man unter bestimmten Bedingungen konkret handeln soll, unabhängig davon, ob die Handlung rechtlich oder ethisch richtig war. Beides wird hier als gleich (i. S. v. dem Sittengesetz entsprechend) verstanden. Abgrenzungen geschehen nicht innerhalb der kantischen Texte, sondern in Abgrenzung zu anderen Autoren der Zeit. 11 Bernd Ludwig: Einleitung (Tugendlehre), S. XXIV. 12 Die angewandte Ethik war im 18. Jahrhundert keine eigene Disziplin. Dennoch existieren Debatten, die sich aus heutiger Perspektive der angewandten Ethik zuordnen lassen. In diesem Sinne ist die Rede von der angewandten Ethik innerhalb der Aufklärung zu verstehen.

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kommt. Die Perspektive auf den Menschen unterscheidet sich fundamental. »L’homme vaut par le nombre« heißt es in der Encyclopédie. 13 Ein Leben zählt zumeist als Leben für eine möglichst große Gesellschaft und wird an seinem Nutzen für diese gemessen. Die kantische Vorstellung vom inneren Wert einer Person verbietet hingegen jedwedes Kalkül. Auch wenn die Metaphysik der Sitten »keine geringe Zumutung« 14 darstellt, lohnt sich daher der Blick auf die eigentümlichen, konkreten kantischen Antworten auf die Frage: »Was soll ich thun?« 15

2.1 Selbsttötung 2.1.1 Das Ich als Geschädigtes?

In der Philosophie der Aufklärung ist die Tendenz der Entstigmatisierung und moralischen Erlaubnis des Suizids eindeutig zu erkennen. Die Autoren grenzen sich von der offenbarungstheologischen und juristischen Tradition ab, Suizid als Sünde zu verurteilen und hart zu bestrafen. Die Texte einschlägiger Aufklärungsphilosophen wie Hume, Montesquieu, Rousseau, Voltaire oder d’Holbach durchleuchten das Thema auf verschiedenen Ebenen. Es wird sowohl aus christlicher als auch aus atheistisch-materialistischer Position heraus argumentiert. Naturdeterminismus oder göttliche Vorsehung werden ebenso wie individuelle Freiheit als Folien gebraucht, vor denen die Selbsttötung legitimiert werden kann. Den Argumenten liegen zumeist utilitaristische Vorstellungen zugrunde. Widersprüchlichkeiten, die sich teils textintern aus der Pluralität der Ansätze ergeben, werden dabei in Kauf genommen, um die Gegenseite möglichst umfangreich zu entkräften. Mutmaßlich ist das bis ins 18. Jahrhundert offenbarungstheologisch begründete sehr harte strafrechtliche Vorgehen gegen Suizidentinnen und Suizidenten sowie ihre Angehörigen dabei eine Triebfeder der breiten Debatte. 16 13 Denis Diderot: »HOMME (Politique)«, in: ders. und Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (kurz: Encyclopédie), Bd. 1–17, Paris 1751 ff., Bd. 8, S. 278. 14 Ludwig: Einleitung (Tugendlehre), S. XXIV. Ludwig bezieht sich bei der Aussage allein auf die Tugendlehre. 15 Log, AA 09: 25. 16 Suizidenten und Suizidentinnen wurden postum bestraft, indem Ihnen ein Begräbnis verwehrt wurde und befohlen wurde, ihre Körper »durch den Schinder einzuscharren«. Auch hatten ihre Hinterbliebenen aufgrund der Tat keinen Rechtsanspruch auf den Nachlass. Vgl. [o. V.]: »Gesetzestext von 1787«, in: Der Selbstmord, Briefe, Manifeste, Literarische Texte, hrsg. von Roger Willemsen. Frankfurt am Main 2007, S. 46.

Die Konsequenzen der konsequenten Denkungsart

David Hume schreibt in seinem Essay Of Suicide: »I[f] Suicide be criminal, it must be a transgression of our duty, either to God, our neighbour, or ourselves.« 17 Hume und andere Autoren rechtfertigen den Suizid für alle drei Szenarien mit einer Vielzahl an Argumenten, die teils neu, teils dem wiederentdeckten Stoizismus entlehnt sind. Die christlich-traditionelle Gegenposition findet sich prominent in der Summa Theologica, in der Thomas den Suizid zu einer dreifachen Sünde – gegen Gott, die Gesellschaft und die eigene Person – erklärt und scharf verurteilt. 18 Für Thomas ist die Selbsttötung »die gefährlichste Sünde, weil keine Zeit bleibt, sie durch Buße zu sühnen«. 19 Nachhaltig einflussreich für die Debatte ist die Thomas’sche Formulierung des sog. Geschenkarguments, das die Befugnis des Menschen, über sein eigenes Leben zu verfügen, generell infrage stellt. Das Leben sei ein dem Menschen von Gott gewordenes Geschenk […]. Wer sich daher selbst das Leben nimmt, sündigt gegen Gott; wie der, der einen fremden Sklaven tötet, gegen den Herrn sündigt, dem der Sklave gehört; und wie der sündigt, der sich eine Entscheidung anmaßt über eine Sache, die ihm nicht übertragen ist. 20

Rousseau kontert knapp: »mais c’est précisément parce qu’elle nous a été donnée qu’elle est a nous.« 21 Kant ist einer der wenigen Philosophen, die der Philosophie der Aufklärung zugeordnet werden können und den Suizid klar verurteilen. 22 Dabei setzt er einen deutlich anderen Schwerpunkt als die rechtfertigenden Autoren. Zunächst erkennt er eine terminologische Auffälligkeit, die den im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts gebräuchlichen Terminus Selbstmord vom französischen und englischen Ausdruck Suicide unterscheidet. Er enthält bereits eine Wertung. »Die willkürliche Entleibung seiner selbst kann nur dann 17 David Hume: »Of Suicide«, in: Two Essays, I. On Suicide, II. On the Mortality of the Soul, Edinburgh 1789, S. 1–23: S. 5. Der Essay wurde postum und wie viele Texte des 18. Jahrhunderts, die die Selbsttötung moralisch rechtfertigen, zunächst anonym veröffentlicht. 18 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica, Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe, hrsg. vom katholischen Akademikerverband, übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Bd. 1–36, Köln [u. a.] 1934 ff, Bd. 18 II-II, qu. 64, art. 5, ad 1. 19 Thomas: Summa Theologica, Bd. 18 II-II, qu. 64, art. 5, ad 3. 20 Ebd. art. 3. 21 Jean-Jacques Rousseau: Julie ou La nouvelle Héloïse, Lettres de deux amans, Habitans d’une petite Ville au pied des Alpes, Bd. 3, Amsterdam 1761, S. 200. 22 Als zweiter aufklärerischer Autor, der den Suizid verurteilt, ist Denis Diderot zu nennen. In seinem recht knappen Encyclopédie-Beitrag zur Erhaltung führt er viele Argumente gegen die Selbsttötung an. Der Text endet mit dem Satz »Il n’y a pas à choisir entre l’existence & la vertu.« (Diderot: »CONSERVATION (Morale)«, in: Encyclopédie, Bd. 4, S. 39.)

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allererst Selbstmord (homicidum dolosum) genannt werden, wenn bewiesen werden kann, daß sie überhaupt ein Verbrechen ist […].« 23 Das sprachliche Vorurteil bestätigt Kant in der Metaphysik der Sitten jedoch: »Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord).« Die Rede vom Selbstmord ist also legitim. Die tradierte Trias der Suiziddebatte (Gott, Gesellschaft, eigene Person) wird in der Metaphysik der Sitten zwar angeführt, Kant beschäftigt sich jedoch lediglich mit dem letzten der drei Punkte. Suizid könne zwar auch als Pflichtverletzung gegenüber anderen verstanden werden, »aber hier ist nur die Rede von Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst […].« 24 2.1.2 Die erste Pflicht des Menschen

Die Autoren des 18. Jahrhunderts, die die Selbsttötung rechtfertigen, machen im Zusammenhang mit der individuellen Verantwortung beim Suizid insbesondere drei Punkte geltend: (1) Der Mensch hat ein natürliches Recht dazu, über sein eigenes Leben zu verfügen. Als Akt natürlicher Freiheit ist Selbsttötung grundsätzlich legitim. 25 (2) Das Leben kann einer Person durch Krankheit oder Unglück zu einem Übel werden, das so groß ist, dass die Selbsttötung durch die Umstände legitimiert wird. 26 (3) Menschliches Leben ist »an sich« von keinem oder geringem Wert. Daher ist dessen Vernichtung erlaubt. 27 TL, AA 06: 422. Ebd. Als Pflichtverletzung gegen andere wäre der Suizid eine Frage, die eher in der Rechtslehre diskutiert werden müsste. Dies tut Kant jedoch nicht. Er begnügt sich mit der kurzen Bemerkung, dass man Suizid auch als Übertretung einer Pflicht gegen andere »Eheleute, Eltern gegen Kinder, des Untertans gegen seine Obrigkeit oder seine Mitbürger, endlich auch gegen Gott […]« (ebd.) verstehen könne. 25 Vgl. z. B. Hume: »Has not every one […] the free disposal of his own life? And may he not lawfully employ that power with which nature has endowed him?« (Of Suicide, S. 11), oder Montesquieu: »je ne fais qu’user du droit qui m’a été donné; et, en ce sens, je puis troubler à ma fantaisie toute la nature […].« (Lettres Persanes, in: Œuvres complètes de Montesquieu, Bd. 1, hrsg. von Édouard Laboulaye, Paris 1875, Brief LXXVI). 26 Vgl. z. B. Hume: »THAT suicide may often be consistent with interest and with our duty to ourselves, no one can question, who allows that age, sickness, or misfourtune may render life a burthen, and make it worse even than annihilation. I believe that no man ever threw away life, while it was worth keeping.« (On Suicide, S. 21 f.), Lichtenberg: »findest du dereinst den Selbstmord für zuträglich, das heißt, sind alle deine Gründe nicht hinreichend dich abzuhalten, so ist er dir auch – erlaubt.« (Sudelbücher, JI 1186), oder Montesquieu: »pourquoi veut-on m’empêcher de mettre fin à mes peines, et me priver cruellement d’un remède qui est en mes mains ?« (Lettres Persanes, Brief LXXVI) 27 Dieser Topos ist in der Antike besonders durch die Stoa verbreitet worden. Im Stoizis23

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Die Konsequenzen der konsequenten Denkungsart

Allen drei Punkten lässt sich mit der Metaphysik der Sitten begegnen. Zunächst stimmt Kant der Prämisse in (3) zu, zieht daraus jedoch einen anderen Schluss, denn »etwas zu kennen, was der Mensch noch höher schätzen kann, als sein Leben, hätte ihm ein um noch soviel größerer Bewegungsgrund sein müssen […] sich des Lebens nicht zu berauben«. 28 Dass das Leben selbst wenig Wert hat, bedeutet nicht, dass keine Notwendigkeit seiner Erhaltung zu anderen Zwecken besteht – in diesem Fall dem Zweck der Erhaltung des Menschen als Person. Während Autoren wie Hume die Fähigkeit zu moralischem Handeln angesichts großen Leids gemäß (2) infrage stellen (»age, sickness, or misfourtune may render life a burthen, and make it worse even than annihilation.« 29), gilt für Kant die Pflicht zum pflichtgemäßen Handeln des Menschen »solange er lebt«. 30 Das Überleben des Körpers ist basale und notwendige Bedingung zur Ausübung von Pflichten. Solange eine Person pflichtmäßig handeln muss, solange sie also dem Sittengesetz unterstellt ist, muss sie überleben. Daher ist es auch falsch, den Akt der Selbsttötung wie in (1) als frei vorzustellen, denn das würde widersprüchlicherweise bedeuten, »die Befugnis zu haben, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen«. 31 Über das eigene Leben auf bestimmte Weise zu verfügen, ist für Kant kein Ausdruck absoluter Freiheit, sondern eine Pflicht: Die »erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst, in der Qualität seiner Tierheit, ist die Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur.« 32 Eine Pflicht ist ein Zwang – in diesem Fall ein Selbstzwang – und steht damit der persönlichen Freiheit entgegen. 33 Das Verbot zur Selbsttötung ist eine Konmus gilt der Tod nicht als Übel, da ausschließlich Tugend und Laster moralisch gut oder schlecht sein können. Da nur amoralisches Handeln ein Übel sein kann, gilt Todesfurcht als irrational. Gesundheit, Lebenszeit oder Lust zählen zu den indifferenten Adiaphora. Bei Seneca bedarf die Fortexistenz stärker der Rechtfertigung als die Selbsttötung. Der stoische Weise lebt »solange er muß, nicht solange er kann«. (L. Annaeus Seneca: »An Lucilius, Briefe über Ethik«, in: Philosophische Schriften, Lateinisch und Deutsch, Bd. 4, hrsg. und übers. von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1999, Brief 70,4. Im 18. Jahrhundert beschreiben z. B. Hume und Montesquieu die vermeintliche Überbewertung des Lebens: »the life of a man is of no greater importance to the universe than that of an oyster« (Of Suicide, S. 11) und »Pensez-vous que mon corps, devenu un épi de blé, un ver, un gazon, soit changé en un ouvrage de la nature moins digne d’elle? […] Nous ne sentons point notre petitesse«. (Lettres Persanes, Brief LXXVI) 28 TL, AA 06: 422. 29 Hume: Of Suicide, S. 21. 30 TL, AA 06: 422. 31 Ebd. 32 Ebd., 421. 33 Nicht aber der allgemeinen Freiheit, die ohne Grenzen der Freiheit des Einzelnen durch Gesetze und Pflichten nicht existieren könnte.

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sequenz aus der Selbsterhaltungspflicht, die Menschen gegen sich selbst haben. 2.1.3 Sittlichkeit als Geschenk

Dass es überhaupt möglich ist, eine Pflicht gegen sich selbst zu haben, ist die eigentliche argumentative Herausforderung, der sich Kant anhand der Suizidthematik stellen muss, denn dass »der Mensch sich selbst beleidigen könne, scheint ungereimt zu sein«. 34 Um dem Widerspruch zu entgehen, unterscheidet er zwei Arten, den Menschen zu betrachten, als homo noumenon oder als homo phaenomenon. Als homo noumenon versteht er ihn »als mit innerer Freiheit begabtes Wesen«, als »die Menschheit in der Person« 35, also als dasjenige Wesen, das dem Sittengesetz unterworfen ist. Als homo phaenomenon betrachtet er den Menschen als »vernünftiges Naturwesen« oder einfach als »Mensch«. 36 Durch diese Zweiteilung der Person ist es möglich, die Zweckformel des kategorischen Imperativs, die es verbietet, andere allein als Mittel für die eigenen Zwecke zu gebrauchen, 37 auch auf sich selbst anzuwenden. Der homo noumenon ist als »Subjekt der Sittlichkeit« 38 in der eigenen Person die Manifestation der Sittlichkeit. Wer ihn vernichtet, gebraucht sich (als homo noumenon) allein als Mittel zu eigenen Zwecken (des homo phaenomenon). 39 Ob diese zweiteilige Betrachtung von Personen adäquat ist, kann an dieser Stelle nicht hinterfragt werden. Wichtig ist aber, dass die Unterscheidung in »Menschheit in der Person« und »vernünftiges Naturwesen« als argumentative Basis notwendig ist, um sich selbst verpflichten zu können: Der homo noumenon ist dem homo phaenomenon »zur Erhaltung anvertrauet«. 40 TL, AA 06: 422. Ebd., 418 und 423. 36 Ebd. 37 In einer Formulierung der Grundlegung schwingt dabei bereits die Möglichkeit der Selbstgesetzgebung mit, wenn Kant schreibt: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« (GMS, AA 04: 429) Auch die Menschheit in der eigenen Person kann also missbraucht werden. Eine Konkretion dieser Möglichkeit ist der Suizid. 38 TL, AA 06: 423. 39 Kant führt an dieser Stelle zwar keine konkreten Zwecke an, denkbar wären aber z. B. die Befreiung von Schmerzen, Leid und Unglück, wie sie von Hume angeführt wurden. 40 TL, AA 06: 423. Obwohl der Suizid absolut verboten ist, ist es durchaus legitim, sich einen Teil des Körpers, z. B. ein Organ, entfernen zu lassen, um sich von Schmerzen und Gefahren für die eigene Gesundheit zu befreien (vgl. ebd.). Die Absolutheit des Suizidverbotes wird in der Kasuistik relativierend infrage gestellt. Kant beschreibt Situationen, in denen eine Person ihr Leben ohne Eigennutz und im Dienst der Allgemeinheit opfert. Ob eine moralische Triebfeder die Tat unter Umständen doch legitimieren kann (z. B. indem sie 34 35

Die Konsequenzen der konsequenten Denkungsart

Trotz der säkularen Argumentation findet sich bei Kant durch die Beschreibung des Verantwortungsverhältnisses eine starke Parallele zum Thomas’schen Geschenkargument. Dort hat der Mensch eine Verantwortung für das von Gott gegebene Leben, hier hat das Naturwesen eine Verantwortung für die von ihm zu unterscheidende Moralität. In beiden Fällen gibt es keine freie Verfügungsgewalt über das zu Verwaltende. Wie allerdings in der säkularen Variante die Verhältnisse geschaffen wurden, auf welcher Grundlage also dem Menschen »die Menschheit in seiner Person […] zur Erhaltung anvertrauet« 41 wurde, wird an dieser Stelle nicht gesagt. Die Formulierung im Passiv legt nahe, dass es eine weitere Instanz gibt, die diese Verbindlichkeit schaffen müsste. Das Postulat eines personalen Gottes würde durch das Postulat einer über den Menschen stehenden legislativen Sittlichkeit ersetzt werden. Dies ist nicht intendiert. Die Nötigung zur Pflicht des Menschen gegen sich selbst, zur Selbstgesetzgebung, muss aus ihm selbst entspringen, »weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht«. 42 Das verantwortungsvolle Geschenk macht der Mensch sich selbst.

2.2 Sexualität 2.2.1 Natürliche Sexualität und Ehe

Dass Sexualität im 18. Jahrhundert keine reine Privatangelegenheit ist, folgt der Vorstellung, dass das Erzeugen von Nachkommen eine Form von Staatsdienst darstellt. Es werden keine Kinder, sondern potenzielle Soldaten, Kaufleute und Handwerker, kurz: Bürger geboren. 43 Die Ehe wird in der Aufklärungsphilosophie üblicherweise als Nützlichkeitsgemeinschaft verstanden, deren Zweck das Zeugen und die Erziehung des zum Erhalt der Gesellschaft notwendigen Nachwuchses ist. Eine generelle Sorge um Entvölkerung schwingt in vielen Texten mit. Eine bevölkerungsreiche Gesellschaft wird als erstrebenswert vorgestellt, die Populationsgröße zu steigern zur gesellschaftlichen Pflicht jeder und jedes Einzelnen. 44 Montesquieu kritisiert die Einrichtung der christlichen Ehe aufgrund ihrer Finalität, die dem Nutzen des Arternicht als Mord, sondern als Tötung verstanden wird), wird durch Kant letztendlich nicht aufgelöst. 41 Ebd. 42 Ebd., 417. 43 Vgl. Diderot: »HOMME (Politique)«, in: Encyclopédie, Bd. 8, S. 278. 44 Vgl. z. B. Jean-Jacques Rousseau: Émile ou De ĺéducation, Nouvelle Édition avec les variantes et des notes, Paris 1848, S. 28 und Denis Diderot: »HOMME (Politique)«, S. 278.

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halts entgegenstehe: »Si, de deux personnes ainsi liées, il y en a une qui n’est pas propre au dessein de la nature et à la propagation de l’espèce, soit par son tempérament, soit par son âge, elle ensevelit l’autre avec elle, et la rend aussi inutile qu’elle l’est elle-même.« 45 Auch Kant stellt den Arterhalt als natürlichen Zweck der ehelichen Gemeinschaft vor. Dennoch ist sein Zugang zu Sexualität und Ehe von denen anderer Autoren des 18. Jahrhunderts deutlich abzugrenzen. Der Nutzen für den Arterhalt rechtfertigt bei ihm die Auseinandersetzung mit der Thematik, nicht aber die Handlungen selbst. Während der Suizid bei Kant hauptsächlich in der Tugendlehre abgehandelt wird, beschäftigt er sich mit Fragen zur Sexualität in beiden Teilen der Metaphysik der Sitten. Die Rechtslehre behandelt die Bedingungen der Möglichkeit zu legalen wechselseitigen sexuellen Handlungen, die Tugendlehre setzt sich insbesondere mit Selbstbefriedigung als nicht-wechselseitiger sexueller Handlung auseinander. 46 In beiden Fällen gilt: Das Ausleben von Sexualität ist zunächst die Befriedigung eines tierischen Triebes, der den Menschen natürlicherweise innewohnt und dem Arterhalt dient. 47 Aus kantischer Sicht sind sexuelle Handlungen deswegen problematisch, weil Menschen hier lediglich als Mittel zum Zweck des Genusses gebraucht werden und damit dem Sittengesetz zuwider gehandelt wird, nach dem jeder Mensch immer zugleich als Zweck und niemals als bloßes Mittel verstanden werden soll. »In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit in seiner eigenen Person widerstreitet.« 48 Den Geschlechtstrieb deswegen nicht auszuleben, ist jedoch zumindest gesamtgesellschaftlich keine sinnvolle Option, denn auch wenn sich der Mensch durch Moralität über das ihm Natürliche hinaus vervollkommnen kann, gilt als erster Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst: »Lebe der Natur gemäß […], d. i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur«. 49 Diese Erhaltung umfasst das eigene Überleben ebenso wie die Erhaltung der Art und der Genussfähigkeit. Der Naturzweck der Fortpflanzung zum Arterhalt ist für Kant ein legitimes Anliegen. 50 Als 45 Montesquieu: Lettres Persanes, Brief CXVI. Vgl. z. B. auch Louis chevalier de Jaucourt: »MARIAGE (Droit naturel)«, in: Encyclopédie, Bd. 10, S. 104–106, S. 106. Jaucourt argumentiert am Ende des Eintrags ebenso wie Montesquieu für die Möglichkeit einer Scheidung im wechselseitigen Einvernehmen. 46 Der Umstand, dass Kant die Sexualität in dieser Hinsicht umfänglicher und expliziter abhandelt als den Suizid, ist beachtenswert. Auch der Suizid könnte als Schädigung anderer angesehen und der Rechtslehre zugeordnet werden, da sich der Suizident oder die Suizidentin als öffentliche Person der Gemeinschaft entzieht (vgl. Fußnote 24). 47 Vgl. RL, AA 06: 277 und TL, AA 06: 426. 48 RL, AA 06: 278. 49 TL, AA 06: 419. 50 Dass die Natur in Hinsicht auf Fortpflanzung und Arterhalt zweckmäßig eingerichtet

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Ausweg aus dem scheinbaren Dilemma zwischen unsittlicher Handlung und legitimem Erhaltungsinteresse präsentiert er die Ehe, »d. i. die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«. 51 Verheiratete Paare stehen in einem wechselseitigen Besitzverhältnis, zumindest bezüglich ihrer fortpflanzungsfähigen Merkmale. Die Wechselseitigkeit und die potenzielle Fortpflanzungsfähigkeit sind notwendige Voraussetzungen der Legitimität der Eigentumsübertragung, denn nur durch die Gleichheit der Rechtsansprüche »gewinnt sie [die Person M. Z.] wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her«. 52 Durch den tatsächlichen Geschlechtsakt, den Gebrauch der Geschlechtseigenschaften, generiert sich die Verbindlichkeit. Der geschlossene Vertrag erlangt durch Vollzug faktische Rechtsgültigkeit. 53 Wenngleich das übergeordnete Motiv für die Einrichtung der Ehe innerhalb einer Gesellschaft die Erhaltung der Art ist, muss das Zeugen von Kindern nicht der tatsächliche Zweck realer Ehen sein, »denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört, die Ehe sich zugleich von selbst auflösen«. 54 Der Vertrag, der eine eigentlich verbotene Handlung legitimiert, darf nicht beliebig oder nutzenbasiert sein, sondern soll Verbindlichkeit besitzen. Nur so ist wechselseitiger Genuss vernunftrechtlich möglich. Interessanterweise findet sich bereits bei Thomas eine im Ergebnis ähnliche Position. Die Ehe ist auch für ihn notwendig, um Sexualität (analog zum kantischen Laster) nicht als Sünde erscheinen zu lassen, und absolut bindend. 55 erscheint, ist nur eine empirische Beobachtung. Moralisch relevant ist die Rede »nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht, sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen […], welche er sich zur Pflicht machen soll.« (ebd., 385.) Einen solchen Zweck kann der Arterhalt darstellen. 51 RL, AA 06: 277. 52 Ebd., 278. 53 Nachdem die Ehe durch den legitim vollzogenen Sex Gültigkeit besitzt, sind Infertilität und Impotenz keine hinreichenden Gründe, eine Ehe zu beenden. Der erste tatsächliche Vollzug begründet das final verbindliche Rechtsverhältnis. Die Reduktion des Eherechts auf den sexuellen Akt kann archaisch anmuten. Bernd Ludwig weist jedoch darauf hin, dass der kantische Ansatz als Versuch verstanden werden kann, bestehende Verhältnisse zu ändern, denn in der strukturell misogynen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts »böte eine einklagbare Bindung des geschlechtlichen Verkehrs an einen lebenswierigen Ehevertrag einen nicht zu überschätzenden Schutz der (weiblichen) Abhängigen. Dies kann nur ein Eherecht leisten, welches weder die gegenseitige Subsistenzsicherung (vgl. XX 465) noch die Erzeugung der Kinder (§ 24) zu regeln beansprucht, sondern der ›Geschlechtsgemeinschaft‹ einen rechtlichen Rahmen liefern soll.« (Ludwig: Kants Rechtslehre, S. 144.) 54 RL, AA 06: 277. 55 Thomas beschreibt die Ehe in der Summa Theologica als einzige Möglichkeit, das Ausleben von Sexualität nicht als Sünde anzusehen. Zudem unterscheidet er zwischen Wesens-

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2.2.2 Unnatürliche Sexualität

Wenngleich die Fortpflanzung nicht der tatsächliche Grund einer real existierenden Ehe sein muss, so ist sie zumindest konzeptuell relevant, um die Notwendigkeit eines Erlaubnisgesetzes für die Ehe zu erklären. Anders verhält es sich mit Sexualität, für die diese Form von Zweckgerichtetheit nicht einmal theoretisch möglich wäre, etwa Homosexualität oder Masturbation. Beides wird von Kant als unnatürlich bezeichnet. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen können aufgrund der fehlenden potenziellen natürlichen Zweckdienlichkeit nicht gerechtfertigt werden. Sie bleiben reiner Genuss, der die andere oder den anderen unsittlich verdinglicht. 56 Wie verhält es sich aber mit Selbstbefriedigung, die lediglich die eigene Person, den eigenen Körper, tangiert? Kant erklärt, »daß der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgibt, indem er sich bloß zum Mittel der Befriedigung tierischer Triebe braucht«. 57 Das Verbot der »wohllüstigen Selbstschändung« 58 wird also wie das Suizidverbot durch eine Pflichtverletzung gegen die eigene Person begründet. Dass es sich dabei in der kantischen Terminologie um eine »Schändung (nicht bloß Abwürdigung) der Menschheit in seiner eigenen Person« 59 handelt, ist dabei ein interessanter Umstand. Zedlers Universallexicon definiert: »Schändung, Violatio, heißt in denen Rechten überhaupt eine jedwede solche That oder Handlung, wodurch einem andern an seinem Gute und Vermögen, Leib und Leben, oder auch nur an seiner Ehe und guten Namen geschadet wird […].« 60 Eine Selbstschändung wäre demnach ein Schaden am eigenen Besitz. Das Masturbationsverbot ist dem Suizidverbot dahingehend ähnlich. Auch hier ist es möglich, sich selbst auf eine solche Weise zu behandeln, dass die eigene Person als moralische Person geschädigt, also geschändet, wird. Dies ist durch das Sittengesetz ebenso verboten, wie die Misshandlung einer anderen Person. Dabei scheint die aus kantischer Perspektive fehlgeleitete sexuelle Lust form (untrennbare Verbindung, Treue, geschlechtliches Zusammenleben) und Zweck (Zeugung und Erziehung) der Ehe. Vgl. Summa Theologica III, q. 29, Art. 2. Das lässt sich mit den kantischen Überlegungen zum unehelichen Ausleben des Geschlechtstriebes als Laster (statt Sünde) und der Unterscheidung von Naturzweck und rechtlich bindender Grundlage der Ehe in Relation setzen 56 Vgl. RL, AA 06: 277 f. 57 TL, AA 06: 425. 58 Ebd., 424. 59 Ebd. 60 O. V.: »Schändung, Violatio«, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste (kurz: Universal-Lexicon), Bd. 1–64, Leipzig und Halle 1731 ff, Bd. 34, Sp. 761.

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sogar unnatürlicher als der Lebensüberdruss zu sein. »Denn sie bewirkt alsdann eine Begierde wider den Zweck der Natur, und zwar einen noch wichtigeren, als selbst der der Liebe zum Leben ist, weil dieser nur auf Erhaltung des Individuums, jener aber auf die ganze Spezies abzielt.« 61 Die Grenzen der kantischen Sexualmoral werden in der Kasuistik deutlich. Dass die Ehe sexuelle Handlungen auch dann ermöglicht, wenn sie nicht bewusst der Fortpflanzung dienen, folgt aus ihrer nach dem Ehevollzug als verbindlich konzipierten Rechtsform. Die Erlaubnis der Möglichkeit anderer persönlicher Motive für Geschlechtsverkehr in der Ehe könnte implizieren, dass Sex erlaubt würde, der eigentlich als unnatürlich bezeichnet werden müsste, da er dem Naturzweck des Arterhalts gar nicht dienlich sein kann. 62 Hierzu zählt etwa Sex in der Schwangerschaft oder bei bekannter Sterilität. Für Erlaubnis und Verbot solcher Handlungen führt Kant jeweils Argumente an, wobei er die eigene Positionierung in der Kasuistik weitgehend offenlässt. Interessanterweise diskutiert Kant die Grenzfragen zur Sexualität in der Ehe in der Tugend- und nicht in der Rechtslehre, wenngleich das Eherecht als wechselseitige Vertragsregelung in den Bereich der Rechtslehre fällt. Dass die Tugendlehre für die Diskussion gewählt wird, ist dennoch plausibel, da es sich nicht um eine rechtliche Frage zu handeln scheint. Die Verbindung zum »lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« 63, die die Ehe darstellt, wird im Anschluss an ihr Inkrafttreten nicht an Bedingungen geknüpft. Explizit gilt dies für den »Zweck, Kinder zu erzeugen und zu erziehen«, 64 der von den Ehepartnern nicht verfolgt werden muss. Aus juristischer Sicht muss Sex in der Ehe daher ungeachtet der Motivation und des Nutzens erlaubt sein. Anders verhält es sich individualethisch, denn wenn das eigene Handeln einem Naturzweck widerspricht, widerspricht es damit der ersten Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Es macht keinen Unterschied, ob die Pflichtverletzung am eigenen Körper oder am Körper einer anderen Person, deren Geschlechtseigenschaften durch die Ehe in den eigenen Besitz 61 TL, AA 06: 425. Der Begriff unnatürlich ist dabei bewusst gewählt, denn über die moralische Verwerflichkeit ist damit noch keine Aussage getroffen. Etwas später erklärt Kant, dass Selbstbefriedigung als Laster »der Form (der Gesinnung) nach, selbst das des Selbstmordes noch zu übergehen scheint« (ebd.). Als Erklärung für diesen Anschein führt er an, dass Selbsttötung Mut erfordere und dadurch Achtung hervorrufe, wohingegen Masturbation »zur genießbaren, aber hierin doch zugleich naturwidrigen Sache, d. i. zum ekelhaften Gegenstande macht, und so aller Achtung für sich selbst beraubt« (ebd.). 62 Nach Definition der Rechtslehre gilt diejenige sexuelle Handlung eines Menschen als natürlich, »wodurch seines Gleichen erzeugt werden kann«. (RL, AA 06: 277) 63 Ebd. 64 Ebd.

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übergegangen sind, vollzogen wird. Dabei handelt es sich in jedem Fall um die Verletzung einer inneren Tugendpflicht. Die Frage, ob diese Pflichtverletzung unter gewissen Umständen innerhalb der Ehe legitimiert werden kann, beantwortet Kant nicht abschließend. 65

2.3 Todesstrafe 2.3.1 Mord ist Selbstmord

Die Todesstrafe wird im 18. Jahrhundert nicht von allen Autoren generell infrage gestellt. Allerdings gibt es eine starke Tendenz, in Anbetracht der Absolutheit der Strafe mehr Milde und eine dem gesellschaftlichen Wandel angepasste Strafpraxis zu fordern. Diderot schreibt über die Todesstrafe: »Was die Gerechtigkeit dieser Strafe anlangt, so gründet sie sich auf Vertrag und den allgemeinen Nutzen. Ist sie notwendig, dann ist sie auch gerecht. Das Problem lautet: ›Ist sie notwendig?‹« 66 In einem utilitaristischen System kann dies auch negiert werden. Dass das kantische Strafrecht nicht auf Nutzen, sondern auf dem Prinzip der Vergeltung beruht, macht er sehr deutlich. Richterliche Strafe »kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum gegen ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat«. 67 Das Strafgesetz wird als kategorischer Imperativ verstanden, der jegliches Nutzenkalkül verbietet. Gerechtigkeit verlangt Absolutheit und ist für das Leben in menschlicher Gemeinschaft unabdingbar – »wenn sie sich für irgendeinen Preis weggibt« 68, ist sie kompromittiert. 65 Martin Brecher sieht das anders. Er erklärt die von Kant angeführte Möglichkeit eines innerehelichen Erlaubnisgesetzes, um schlimmeren Übeln (mutmaßlich Ehebruch oder Masturbation) vorzubeugen, zum reinen Referat. Kant selbst nehme eine »restriktive Haltung ein« (Martin Brecher: »Ehelicher Geschlechtsgebrauch und Fortpflanzungszweck in § 7 der Tugendlehre«, in: Violetta L. Waibel [u. a.] (Hg.): Natur und Freiheit: Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin und Boston 2019, S. 1761–1768: S. 1766.) Brecher argumentiert nicht rein textimmanent, sondern auch mit Verweis auf die KpV. In der Tugendlehre selbst sieht er insbesondere die aus ethischer Hinsicht hinfällige Unterscheidung zwischen Selbstbefriedigung und nicht-naturzweckgerichteter Sexualität als Begründung. In beiden Fällen werden allein tierische Triebe befriedigt und Menschen fungieren lediglich als Mittel (vgl. ebd., 1768). 66 Diderot zitiert nach Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen, übers. von Karl Esselborn, Aalen 1990, S. 106. 67 RL, AA 06: 331. 68 Ebd., 332.

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Die Absolutheit der judikativen Gerechtigkeit folgt dem Ausgleichsprinzip für eine begangene Ungerechtigkeit. Also: was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volke zufügst, das tust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tötest du ihn, so tötest du dich selbst. 69

In letzter Konsequenz wird jeder Mord zum Selbstmord, wenn die Gerechtigkeit gebietet, Gleiches immer mit Gleichem zu vergelten. Selbstmord kann in diesem Fall jedoch nur den selbst intendierten oder zumindest provozierten Tod durch fremde Hand bedeuten. Die Exekutive macht sich durch die Tötung für schuldig Befundener nicht zur Verbrecherin, sondern zur Wieder-Herstellerin der Gerechtigkeit. Mord, den Kant in Bezug auf Selbsttötung dem Wortsinn nach als Verbrechen klassifiziert, begeht also nur der Täter oder die Täterin, erst an der anderen Person und in letzter Konsequenz an sich selbst. Die Todesstrafe aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit ist wohl die einzige von Kant legitimierte, sogar notwendige Form der Selbsttötung. 2.3.2 Das Leben als Absolutum

Die Gerechtigkeitskonzeption der Metaphysik der Sitten gibt klar vor, wie ungerechtes, verbrecherisches Handeln zu bestrafen ist. Dennoch gilt es gewisse Umstände zu beachten. So sollte die Härte, die eine Strafe für Verbrecher:innen bedeutet, dem entsprechen, was ihre Tat verursacht hat. Einen reichen Menschen für eine von ihm ausgesprochene Beleidigung mit einer geringen Geldstrafe zu sanktionieren, scheint unangemessener als ihn z. B. in seinem Ehrgefühl zu treffen. Für Mord gilt diese Abwägung nicht. »Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es gibt keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode […].« 70 Ein vernichtetes Leben kann nicht wiederhergestellt werden. Die Absolutheit des zugefügten Übels verlangt eine ebenso absolute Substitution. Dabei gelten alle Personen als Täter:innen, die an dem Mord beteiligt waren, ob ausführend oder befehlend. Jede:r, der oder die ursächlich für den unschuldigen Tod anderer verantwortlich war, muss selbst Ebd. Gleiches gilt auch für die Hinrichtung Herrschender nach einem Volksaufstand, die »wie ein Alles ohne Wiederkehr verschlingender Abgrund, als ein vom Staate an ihm verübter Selbstmord, ein keiner Entsündigung fähiges Verbrechen zu sein scheint« (ebd., 322 Fußnote). Ein Volk, das seinen Souverän vernichtet, vernichtet sich damit selbst, weil es die seiner Existenz zugrundeliegende Ordnung und Gewaltenteilung zerstört. Es begeht Suizid, weil es selbst den Staat bildet, den es zerstört. 70 Ebd., 333. 69

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mit dem Tod bestraft werden. 71 Die Konsequenz bei der Durchführung der Todesstrafe ist sogar dann geboten, wenn der Staat, der das Urteil verhängt hat, nicht mehr existieren wird. Eine Auflösung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann nur dann rechtmäßig erfolgen, wenn »der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden« 72 würde. Interessanterweise begründet Kant dies nicht nur mit dem Talionsprinzip in der Täter-OpferBeziehung, sondern auch damit, dass »die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann«. 73 Der Terminus Blutschuld beinhaltet eine biblische Konnotation des Gerechtigkeitsgedankens, die der kantischen Strafrechtsvorstellung tatsächlich recht nah steht. So wird das Talionsprinzip des Alten Testaments 74 bei Kant in einer säkular begründeten Variante vorgestellt, die ihre Legitimität nicht durch göttliche Offenbarung, sondern als kategorischer Imperativ erhält. Eine Blutschuld trägt im biblischen Sinne nicht allein der Mörder. Sie kann auch auf dessen Angehörige und ggf. gar die Rechtsgemeinschaft übertragen werden. Zedlers Universal-Lexicon erklärt: »Blut-Schulden, werden in der Schrifft genennt, wenn bey denen Jüden Menschen-Blut durch ungerechtes Morden vergossen, oder diese That nicht mit gehöriger Schärffe bestrafft worden«. 75 Das Ungleichgewicht durch unangemessene oder fehlende Strafe fällt auf diejenigen zurück, die durch die Strafe Gerechtigkeit wiederherstellen sollten. In 5. Buch Mose wird als Grund für die Teilschuld anderer ihre Verantwortung für das Land angegeben, das Gott ihnen überantwortet hat. Es muss ihm gefällig behandelt werden. Dort, wo das Blut vergossen wurde, ist die Schuld und Verantwortung zu Sühne zu verorten. 76 Der kantische Gebrauch des Wortes Blutschuld muss von dem biblischen insofern unterschieden werden, als zwar auch hier eine übergeordnete Instanz zugrunde liegt, der gegenüber die mangelnde Bestrafung eine Verletzung darstellt, allerdings handelt es sich nicht um eine personale Autorität, sondern um die allgemeine Idee der Gerechtigkeit selbst, die jeder vernunftbegabte Mensch einsehen kann.

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Ebd., 334. Ebd., 333. Ebd. Vgl. z. B. Ex 21, 12 oder 23 ff, Lev 24, 17 ff. O. V.: »Blut-Schuld«, in: Universal-Lexicon, Bd. 4, Sp. 260. Vgl. Dtn 19, 8 ff.

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2.3.3 Sich selbst zum Tode verurteilen

Cesare Beccaria ist als Straftheoretiker der Aufklärung insbesondere für seine utilitaristische, auf Prävention ausgerichtete Strafrechtskonzeption sowie seine deutliche Kritik an der Todesstrafe bekannt. Er erklärt, dass ein Mensch unmöglich in einen Gesellschaftsvertrag einwilligen könnte, der seine eigene Vernichtung miteinschließt. Wer würde jemals anderen Menschen die Befugnis, ihn zu töten, zugestanden haben? Wie kann jemals in dem Opfer des kleinstmöglichen Teils der Freiheit eines jeden, das des höchsten aller Güter, des Lebens, einbegriffen sein? Wenn dem selbst so wäre, wie ließe sich ein solcher Grundsatz mit dem anderen, daß der Mensch kein Recht habe, sich selbst zu töten, in Einklang bringen? 77

Kant greift die Argumentation Beccarias auf und diskreditiert sie als »aus teilnehmender Empfindelei und einer affektierten Humanität« 78 entspringende Position. »Strafe erleidet jemand nicht, weil er sie, sondern weil er eine strafbare Handlung gewollt hat; […] und es ist unmöglich, gestraft werden zu wollen«. 79 Durch die Unterscheidung des Menschen in homo noumenon und homo phaenomenon, die bereits in Bezug auf das Suizidverbot fundamental für die Argumentation war, wird im kantischen Kontraktualismus die Trennung in Vertragspartner:in und zu strafende Person ermöglicht. Verbrecher:innen können unmöglich Teil der Gesetzgebung sein. Es ist »in mir die reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft (homo noumenon), die mich als einen des Verbrechens fähigen, folglich als eine andere Person (homo phaenomenon) […] dem Strafgesetze unterwirft«. 80 In diesem Sinne kann ein Mensch sich selbst zumindest theoretisch-konzeptuell zum Tode verurteilen, weil er zum einen Teil der dem Sittengesetz unterworfenen Vernunftgemeinschaft angehört und zum anderen Teil eine in der Gemeinschaft lebende Einzelperson mit Eigeninteressen ist. Würde man beides nicht strikt trennen und es handelte Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen, S. 106. Dass Beccaria das Verbot zur Selbsttötung für seine argumentativen Zwecke gebraucht, ist als Annäherung an die Position seiner Kritiker zu verstehen. Beccaria selbst erklärt, Suizid sei, »obgleich er eine Sünde ist, die Gott bestraft, da er allein auch nach dem Tod bestrafen kann, kein Verbrechen vor den Menschen, weil die Strafe statt des Schuldigen dessen Familie treffen würde.« (ebd. S. 151.) Generell schätzt er den Schaden, den ein Suizid gesellschaftlich anrichtet, als schwächer ein als denjenigen, den ein Emigrant verursacht. Neben dem kontraktualistischen Argument führt Beccaria auch einige utilitaristische Argumente gegen die Todesstrafe an. Diese sind für Kant uninteressant, da der Ansatz seiner Gerechtigkeitskonzeption bereits im Grundsatz widerspricht. 78 RL, AA 06: 334 f. 79 Ebd., 335. 80 Ebd. 77

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sich bei dem Vertragspartner bzw. der Vertragspartnerin im Sozialvertrag und dem Verbrecher bzw. der Verbrecherin um dieselbe Person, entstünde ein Widerspruch: »der Verbrecher würde sein eigener Richter sein.« 81 Kant weist darauf hin, dass es dementsprechend auch falsch wäre anzunehmen, dass Verbrecher:innen ihren eigenen Tod wollen, wenn sie kapitale Verbrechen begehen, deren strafrechtliche Konsequenzen sie kennen. Die Selbsttötung als Konsequenz eines begangenen Mordes verläuft konträr zur direkt intendierten Selbsttötung. In beiden Fällen konfligieren vernünftiges Sinnenwesen und Vernunftwesen miteinander, wobei der Suizid eine Ungerechtigkeit des homo phaenomenon gegenüber dem homo noumenon darstellt, die Todesstrafe allerdings eine Forderung des homo noumenon zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit ist. In moralischer Hinsicht darf der Mensch im ersten Fall nicht sterben, im zweiten muss er es sogar.

2.4 Abtreibung 2.4.1 Abtreibung und Infantizid

Die Rede von Abtreibung ist als dem heutigen Sprachgebrauch gefällige terminologische Verkürzung zu verstehen, da im 18. Jahrhundert eher der Infantizid, also das Töten oder Aussetzen bereits (neu-)geborener Kinder, diskutiert wird. 82 Für die argumentativen Zwecke der Aufklärungsphilosophen ist die Unterscheidung nicht relevant, 83 wenngleich terminologische Differenzierungen auch im 18. Jahrhundert zu finden sind, etwa in der französischen EncyEbd. Karin Stukenbrock weist darauf hin, dass dies nicht bedeutet, dass im 18. Jahrhundert keine Abtreibungen vorgenommen wurden. Das Wissen darum war vorhanden. Sie vermutet eine stärkere Fokussierung auf den Infantizid aufgrund der größeren Demonstrationsfähigkeit. In der heutigen Debatte relevante theoretische Unterschiede zwischen beiden Handlungen sind für die Anliegen innerhalb der Aufklärungsphilosophie nicht von Bedeutung. »Über Ursachen und Voraussetzungen beider Delikte herrschten identische Vorstellungen.« (Karin Stuckenbrock: »Das Zeitalter der Aufklärung. Kindsmord, Fruchtabtreibung und medizinische Policey«, in: Robert Jütte (Hg.): Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, S. 91–119: S. 98.) 83 Fragen nach dem moralischen Status des Fötus werden in der Aufklärungszeit eher weniger besprochen, jedoch gibt es eine anders gelagerte Debatte zum Lebensanfang in der Medizin. Tendenziell wird in christlicher Tradition davon ausgegangen, dass die Zeugung »der Moment einer Schöpfung sey«, sodass das Leben direkt im Anschluss als vollwertig angesehen werden kann. Ob jedoch der männliche oder der weibliche Teil konstitutiv für die Erzeugung des Lebens ist, welches die »Quelle ist, aus welcher das künftige Wesen den ersten Lebenshauch, die erste Erweckung bekömmt«, ist umstritten. (Christoph Wilhelm Hufeland: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1797, S. 466 f.) 81

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clopédie. 84 Gemein ist den aufklärungsphilosophischen Beiträgen, dass sie sich auf den Infantizid durch die Kindsmutter fokussieren und dazu neigen, ungewollte Schwangerschaften auf außereheliche Sexualität zu reduzieren. Die bereits angeführte im 18. Jahrhundert verbreitete Sorge um Depopulation schwingt auch in der Abtreibungsdebatte mit. Das Unterbinden der Kindstötung wird zum Dienst am Staat, dem andernfalls zusätzliche, für das Gemeinwohl nützliche Bürger:innen vorenthalten würden. 85 Dabei ist zu beachten, dass das Gebären eines außerehelich gezeugten Kindes für die Mutter harte Konsequenzen haben konnte. Um die Nachkommenschaft für den Staat zu schützen, werden daher Maßnahmen gefordert, die die Angst vor gesellschaftlicher Schande und strafrechtlichen Konsequenzen der Mutter reduzieren. Nur unter der Prämisse einer sich entvölkernden Gesellschaft erkennt Montesquieu Abtreibungen als Problem an. Bei Überpopulation können sie nützlich sein und deswegen erlaubt werden. Sieht sich eine Frau jedoch trotz Bevölkerungsschwund zu einer solchen Handlung genötigt, ist dies das Zeichen eines schlecht eingerichteten Staates. 86 Unabhängig davon, wie der Infantizid an sich beurteilt wird, gibt es eine deutliche Tendenz, mehr Prävention und Milde im Umgang mit den betroffenen Frauen zu fordern. 87 Nützlichkeitsargumente nehmen insgesamt einen großen Raum in der Debatte ein, auch in Hinblick auf das konkrete Strafmaß. Die Todesstrafe wird aus utilitaristischen Gründen abgelehnt: »la sévérité des juges ne privet-elle pas l’État de deux sujets à la fois, de l’avorton qui a péri, et 84 Boucher d’Argis urteilt in der Encyclopédie: »Les femmes & filles qui font périr leur fruit durant leur grossesse par l’avortement, soit par des breuvages & autres mauvaises voies, commettent aussi bien un infanticide, que celles qui font périr leurs enfans par le fer ou autrement après leur accouchement.« (Antoine-Gaspard Boucher d’Argis: »INFANTICIDE (Jurisprud.)«, in: Encyclopédie, Bd. 8, S. 699. 85 Vgl. z. B. Diderot: CONSERVATION (Morale), S. 278: »Ce sont les enfans qui font des hommes. Il faut donc veiller à la conservation des enfans par une attention spéciale sur les peres, sur les meres & sur les nourrices. Cinq mille enfans exposés tous les ans à Paris peuvent devenir une pepiniere de soldats, de matelots & d’agriculteurs.« (ebd.) Das Zitat zeigt deutlich das utilitaristische Interesse an der staatlichen Verwertbarkeit des Potenzials der ansonsten verlorenen Kinder. 86 Montesquieu: De l’esprit de lois, in: Œuvres complètes de Montesquieu, Bd. 4, Buch 23, 11 und 17 f. 87 Beccaria z. B. weckt Mitgefühl für die zeitgenössische, prekäre Lage der außerehelich schwanger gewordenen Frau, »die infolge ihrer Schwäche oder der gegen sie angewendeten Gewalt unterlegen ist. Wie sollte die, welche die Wahl hat zwischen der Schande und dem Tod eines für Leiden noch unempfindlichen Wesens, nicht diesen dem unausbleiblichen Elend vorziehen, dem sie und der unglückliche Sprößling ausgesetzt sein werden« (Beccaria: Verbrechen und Strafen, S. 153.). Anschließend erklärt er, dass es nur in einem gut eingerichteten, auf Prävention ausgerichteten Staat gerechte Strafen für Infantizide geben kann.

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de la mère, qui pourait réparer abondamment cette perte par une propagation légitime?« 88 Die Tötung der Mutter fügt der Gesellschaft doppelten Schaden zu, da ihm so noch eine weitere Person entzogen wird, die durch zukünftige legitimierte Zeugung zum Erhalt und Wachstum der Gesellschaft hätte beitragen können. 89 Wenngleich die Darstellung der prekären Situation ungewollt schwangerer Frauen den Infantizid entschuldbar erscheinen lässt, gibt es keinen Autor, der die Handlung selbst nicht verurteilt. 2.4.2 Mord ohne Konsequenzen

Kant beschäftigt sich in der Metaphysik der Sitten nur recht knapp mit der Abtreibungsthematik. Dabei konzentriert er sich, wie einige andere Autoren, in der Hauptsache auf das Strafmaß und weniger auf die Handlung selbst. Abtreibung zählt er zu den »todeswürdigen Verbrechen«, 90 das tatsächlich zu bestrafen jedoch fragwürdig wäre. Als Motiv für die Tat gibt er das Ehrgefühl bzw. die »Schmach einer unehelichen Geburt« 91 an. Obwohl Infantizid als »der mütterliche Kindesmord« 92 bezeichnet wird, relativiert Kant an dieser Stelle seine eigene Redeweise, denn eigentlich handele es sich beim Infantizid um eine (weniger verwerfliche) Tötung. 93 Dies gilt, obwohl Kinder Personen sind bzw. als solche behandelt werden sollen. 94 Eltern können darum nicht beliebig über ihre Kinder verfügen. »Sie können 88 Friedrich der Große: »Dissertation sur les raisons d’établir ou d’abroger les lois, Abhandlung über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen«, in: Anne Baillot [u. a.] (Hg.): Friedrich der Große – Potsdamer Ausgabe, Werke in 12 Bänden, französisch-deutsch: Bd. 6: Philosophische Schriften – Oeuvres philosophiques, Berlin 2007, S. 292. 89 Ähnlich argumentiert z. B. auch Voltaire. Die sich entvölkernde Gesellschaft beraube sich durch die Todesstrafe einer Bürgerin, die dem Staat stattdessen zusätzliche Untertanen hätte geben können. Vgl. Voltaire: »Commentaire sur le Livre Des Délits et des Peines«. in: Gebrüder Garnier (Hg.): Œuvres complètes de Voltaire. nouvelle édition avec notices, préfaces, variantes, table analytique, les Notes de tous les commentateurs et des Notes nouvelles conforme pour le texte à l’édition de Beuchot, Bd. 1–50, Paris 1877–1885, Bd. 25, S. 539–578: S. 539 f. 90 RL, AA 06: 336. Als das einzige weitere todeswürdige Verbrechen, das nicht bestraft werden soll, führt Kant neben dem Infantizid den »Kriegsgesellenmord (commilitonicidum)« (ebd., 336 f.) an. 91 Ebd., 336. 92 Ebd. 93 Die terminologische Unterscheidung wird durch die von Kant gewählten lateinischen Begriffe homicidum und homicidum dolosum deutlich. Von Tötung spricht Kant ansonsten nur im Zusammenhang mit Tieren. (Vgl. TL, AA 06: 443.). Jeder andere Akt, der das Leben eines Menschen vernichtet, wird von ihm als Mord bezeichnet. 94 »so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwil-

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ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen […]«. 95 Um dennoch nachzuvollziehen, warum Abtreibung laut Kant strafrechtlich nicht verfolgt werden muss, ist von besonderer Relevanz, dass er die Thematik wie in der Debatte üblich nur in Hinsicht auf unehelich gezeugte Kinder diskutiert. So kann der Infantizid als Handlung, die außerhalb des rechtlichen Rahmens einer Gesellschaft durchgeführt wird, klassifiziert werden: Das unehelich auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutze desselben, geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann, und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird, kann keine Verordnung heben. 96

Der argumentative Schachzug, der Straffreiheit zur Folge hat, ist also, dass die Existenz eines unehelichen Kindes aus rechtlicher Perspektive gar nicht möglich ist, da Zeugung nur innerhalb der Ehe legitimiert wird. Die Pflicht zum besonderen Schutz eines Kindes wird innerhalb der Ehe generiert: »so folgt, aus der Zeugung in dieser Gemeinschaft, eine Pflicht der Erhaltung und Versorgung in Absicht auf ihr Erzeugnis.« 97 Zeugung außerhalb der Gemeinschaft darf es nicht geben, da sie gegen das Sittengesetz verstößt, und so wie die Zeugung kann es auch das Erzeugte im rechtlichen Sinne nicht geben. Es ist kein Mitglied der Rechtsgemeinschaft und (nur) »was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volke zufügst, das tust du dir selbst an«. 98 Interessanterweise gebraucht Kant im Zusammenhang mit Infantiziden nicht den Personenbegriff für das Kind. Die Personalität ist nicht an die rechtliche Verbindung der Eltern, sondern an die Moralfähigkeit des »mit Freiheit begabten Wesens« geknüpft. 99 Der Personenstatus allerdings hat keine Bedeutung für den juristischen Umgang mit der Mutter, da sie laut Kant keine strafbare Handlung vollführt, solange das Kind – auch als Person – kein Mitglied der Rechtsgemeinschaft ist. Um eine verwerfliche Tötung han-

ligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herübergebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet […].« (Kant: RL, AA 06: 281.) 95 RL, AA 06: 281. 96 Ebd., 336. 97 Ebd., 280. 98 Ebd., 332 (Hervorhebung: M. Z.). 99 Ebd., 280.

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delt es sich dennoch, sie geschieht allerdings im Naturzustand 100 zwischen Mutter und Kind. 2.4.3 Ehrgefühl als Entschuldigung

Kants Position in der Metaphysik der Sitten scheint ungewöhnlich und angreifbar. 101 Wenngleich dies nicht expliziert wird, lässt sich vermuten, dass das Interesse, die prekäre Situation außerehelich schwangerer Frauen durch eine veränderte Strafpraxis zu verbessern, an dieser Stelle stärker intendiert wurde als eine vollständige und schlüssige Argumentation. Diese These lässt sich auch dadurch stützen, dass Kant Verständnis für Abtreibungen weckt, denn die Sorge vor dem Ehrverlust, der einer Frau durch ein uneheliches Kind droht, ist für ihn ein nachvollziehbares Handlungsmotiv. Problematisch ist die Divergenz zwischen den gesellschaftlichen Umständen einer noch nicht vollständig aufgeklärten Gesellschaft und dem Sittengesetz, sodass die Gesetzgebung (mithin auch die bürgerliche Verfassung), solange sie noch barbarisch und unausgebildet, daran schuld ist, daß die Triebfedern der Ehre im Volk (subjektiv) nicht mit den Maßregeln zusammentreffen wollen, die (objektiv) ihrer Absicht gemäß sind, sodaß die öffentliche, vom Staat ausgehende, Gerechtigkeit in Ansehung der aus dem Volk eine Ungerechtigkeit wird. 102

In einem wohl eingerichteten, vollends aufgeklärten Staat entsprächen die subjektiven Triebfedern des Volkes den objektiven Regeln der Gerechtigkeit, sodass jede daraus resultierend verhängte Todesstrafe in beiden Sphären angemessen wäre. Dass es sich in der als barbarisch bezeichneten zeitgenössischen Gesellschaft Kants nicht so verhält, dass dort eigentlich gerechte Strafen ungerecht erscheinen müssen, ist eine Kritik an den bestehenden Vgl. ebd., 336. So ist zum Beispiel nicht klar, warum es sich bei der Tötung des Kindes nicht um ein Verbrechen an der Menschheit in der Person des Kindes (homo noumenon) handeln sollte. Die Selbsttötung als Mord zu klassifizieren, funktioniert auf diese Weise. Der Selbstmord geschieht ebenfalls nicht im öffentlichen Rechtsraum und ist dennoch ein Mord. Warum sollte der Infantizid anders bewertet werden? Die unehelich schwanger gewordene Frau behandelt, so könnte man argumentieren, das Kind durch dessen Tötung allein als Mittel zu ihren Zwecken. Zudem hätte die bloße Fokussierung auf die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten rechtlichen Gemeinschaft einige fragwürdige Implikationen, wie etwa, dass auch die Tötung eines freundlich gesinnten Fremden keine rechtlichen Konsequenzen haben müsste. 102 RL, AA 06: 337. Das Zitat stellt eine Verbindung zum Eingangszitat her, in dem Lichtenberg Kant dafür lobt, das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität aufzudecken und zu beschreiben. 100 101

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Verhältnissen. Man könnte zugespitzt folgern: In der idealen Gesellschaft würde das Ehrgefühl Infantizide nicht befördern, sondern verhindern. Solange es dies nicht tut, ist diese Handlung, aus Ehrgefühl verrichtet, nicht adäquat strafbar. Kant steht mit seinen Ergebnissen zum Infantizid trotz völlig unterschiedlicher Voraussetzungen anderen aufklärungsphilosophischen Autoren erstaunlich nah. Wie bei Montesquieu ist auch bei Kant an dieser Stelle die Art, wie der Staat eingerichtet ist, fundamental für die Bewertung der Abtreibung. 103 Dass er das subjektive Ehrgefühl als Triebfeder an dieser Stelle entschuldigend anführt und als hinreichenden Grund für die Straffreiheit eines todeswürdigen Verbrechens ansieht, ist bemerkenswert. 104

3. Wie absolut ist das Sittengesetz? 3.1 Das Gesetz ist absolut.

Die vier Beispiele angewandt-ethischer Fragestellungen in der Metaphysik der Sitten zeigen, dass die kantische Perspektive auf Anwendungsfragen stark von den Positionen anderer populärer Aufklärungsphilosophen abweicht. Alle Themenbereiche umfassen letztlich Fragen zu den Grenzen des Lebens. Doch während andere Autoren in den Debatten das Verhältnis von individuellem Lebenswert und Gesellschaft auf Grundlage utilitaristischer Vorstellungen auszuloten und so Verhaltensregeln aus den Umständen abzuleiten versuchen, orientiert Kant sich andersherum an einem bereits vorgelagerten, objektiven Gesetz, das in der Metaphysik der Sitten mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Trotz der Objektivität und Universalität des moralischen Gesetzes sind die realen Fallbeispiele für eine konkrete (und nicht ideale) Auffällig ist auch die Parallelität zu Beccaria (siehe Fußnote 87), dessen utilitaristische Straftheorie Kant grundsätzlich ablehnt. Wie Kant erklärt aber auch Beccaria: »daß man die Bestrafung für ein Verbrechen solange nicht als gerecht, d. h. als notwendig, bezeichnen kann, als bis das Gesetz das bei den bestehenden Verhältnissen eines Staates bestmögliche Mittel angewendet hat, um ihm vorzubeugen.« (Beccaria: Über Verbrechen und Strafen, S. 154.) Gerechte Strafen kann es nur in einer wohleingerichteten, Verbrechen verhütenden Gesellschaft geben. Anstelle des nutzenbasierten Präventionsgedankens steht bei Kant die Übereinstimmung der Werte und Normen einer Gesellschaft mit der allgemeinen Gerechtigkeit. 104 Und eröffnet die Möglichkeit, als Dammbruch zu fungieren und auch an anderen Stellen auf Grundlage der Umstände Milde walten zu lassen. Könnte jede Handlung aufgrund falscher, aber gesellschaftlich subventionierter Ehrvorstellungen entschuldigend gerechtfertigt werden? Auch Suizid oder außerehelicher Geschlechtsverkehr? 103

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Gesellschaft offensichtlich erläuterungswürdig und nicht ohne weiteres einsichtig. Die von Schiller angeführte Strenge des kantischen Systems zeigt sich in der Anwendung durch Absolutheit, denn es ist immer verboten, sich das Leben (bzw. die Fähigkeit zur Sittlichkeit) zu nehmen, und Mord muss immer mit dem Tod bestraft werden. Auch ist es immer verboten, Sex zu haben, dem kein Ehevertrag zugrunde liegt, und der Ehevertrag ist absolut bindend. Das alles wird durch das Sittengesetz klar vorgegeben. Der säkulare Text Kants kommt so mitunter zu vergleichbaren Ergebnissen wie die dem aufklärungsphilosophischen Gedankengut diametral entgegenstehende Offenbarungstheologie. Auch vor Gott ist der Suizid als Sünde absolut verboten (sogar mit einer vergleichbaren Argumentation), die Ehe wird als notwendig für legitime Sexualität angesehen und als nicht auflösbare Verbindung verstanden. Und auch in der Bibel ist Mord mit Berufung auf das Talionsprinzip grundsätzlich mit dem Tod zu bestrafen. Es könnte den Anschein haben, das Sittengesetz sei eine säkularisierte Variante der christlichen, auf göttlicher Autorität basierenden Moral. Doch anders als das Christentum kann Kant sich nicht auf eine mit Allwissenheit attribuierte personale Figur berufen, wenn er z. B. erklären muss, wer oder was dem homo phaenomenon den homo noumenon auf solch verbindliche Weise zur Erhaltung anvertraut hat. Ob die Selbstgesetzgebung eine hinreichende Erklärung für diese Form von Verbindlichkeit ist, bleibt ebenso fraglich wie die für die Argumentation notwendige gedankliche Zweiteilung des Menschen selbst.

3.2 Das Gesetz ist auch relativ.

Trotz der Strenge des Systems lassen sich auch bestimmte Bereiche finden, in denen Nachsicht erlaubt ist. Die Abtreibung ist ein solcher Themenkomplex. Hier scheint das Sittengesetz in der Praxis weniger absolut sein zu dürfen als in der Theorie. 105 Dementsprechend nah steht Kant beim Infantizid (zumindest dem Ergebnis nach) den Positionen anderer Aufklärungsphilosophen. Doch auch in anderen Bereichen fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die Absolutheit des Sittengesetzes mit der imperfekten Wirklichkeit konfligiert, etwa überall dort, wo eine Kasuistik bewusst Fragen offenlässt. Insbesondere Streng genommen gilt dies nur für den zweiten Teil der Argumentation, der das Ehrgefühl behandelt. Die Entschuldigung müsste gar nicht nötig sein, da der Infantizid schon allein deswegen keiner Sanktionierung bedarf, weil er im rechtsfreien Naturzustand begangen wurde. 105

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beim Thema Sexualität spielt eine naturteleologische Zweckvorstellung eine entscheidende Rolle, wenngleich sie kein notwendiger Grund für eine Ehe sein muss. Das bloße Eigentumsverhältnis der Geschlechtsmerkmale in Wechselseitigkeit kann nicht hinreichend sein, um den auf Genuss ausgerichteten Sex zu legitimieren. Ansonsten wäre auch Masturbation unproblematisch, denn die eigenen Geschlechtsteile befinden sich bereits ohne äußeren Vertrag im Besitz jeder und jedes Einzelnen. Auch aus dem der Natur gemäßen, auf Erhaltung der Art abzielenden Leben muss eine gewisse moralisch relevante Verbindlichkeit folgen, um diese für Kant unliebsame Konsequenz zu umgehen. Wieder trifft das Sittengesetz auf eine relativierende Wirklichkeit, diesmal auf die tierische Natur des Menschen. Ob das kantische Vorhaben, das objektive Sittengesetz mit der Lebensrealität konkreter Subjekte zu verbinden, gelungen ist, bleibt offen. Der Versuch, das Fundament für Handlungsanweisungen zu Fragen zu Leben und Tod nicht allein auf Grundlage von Nützlichkeitsüberlegungen zu bauen, sondern dafür ein übergeordnetes, säkulares und allen im gleichen Maße verbindliches Bezugssystem zu wählen, verdient in jedem Fall Beachtung. Der kantische Ansatz bietet die Möglichkeit, den Menschen in konkreten Anwendungsbeispielen auch ohne Gottespostulat vor Instrumentalisierung zu schützen. Je abstrakter die Herleitung, so scheint es, desto näher steht das Ergebnis dabei der christlichen Tradition.

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I I . F RAGW ÜR D IG E KONSE QUEN Z

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Ein konsequenter Cartesianer? Spinoza (und Descartes) über Substanz Spinoza eine außerordentliche Konsequenz zuzuschreiben, ist naheliegend. Als eindrucksvoll geschlossen und durch die geometrische Methode auf Korrektheit und Transparenz logischen Schließens festgelegt präsentiert er seine Philosophie in der Ethik als Entfaltung eines Metaphysik, Erkenntnis- und Handlungstheorie sowie Ethik umfassenden Systems. Spinozas philosophische Konsequenz wird dabei spätestens seit Hegel auch in einer mehr inhaltlichen Hinsicht behauptet, nämlich als konsequenter Cartesianismus. 1 Nimmt man eine solche Kennzeichnung ernst, dann eröffnet sich mit der Zuschreibung einer konsequenten Ausführung dessen, was zuvor nur unzureichend dargestellt und hinterlassen worden war, eine Perspektive, die sowohl ein nützliches Analysemittel als auch das Anlegen eines Entwicklungsgedankens mit Blick auf die Philosophiegeschichte erlaubt. Beides dürfte der Philosophiegeschichtsschreibung willkommen sein, erlaubte die Rede von der Konsequenz bzw. Inkonsequenz dann doch ein besseres Verständnis des in den überkommenen Texten Enthaltenen und zudem eine kontrollierte Einschätzung dieser Texte hinsichtlich philosophischer Fort- bzw. Rückschritte. 2 1 Hegel beginnt seine Darstellung der Philosophie Spinozas in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie direkt mit dieser Behauptung: »Cartesius’ Philosophie hat sehr viele spekulative Wendungen genommen, an ihn schließt sich unmittelbar an Spinoza, der zur ganzen Konsequenz durchgedrungen. Er hat vornehmlich die Cartesianische Philosophie studiert, in seiner Terminologie gesprochen; die erste Schrift des Spinoza sind: Grundsätze des Cartesius. Die Spinozistische Philosophie verhält sich zur Philosophie des Descartes nur als eine konsequente Ausführung, Durchführung dieses Prinzips.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Frankfurt a. M. 1971, S. 157) Ohne Betonung der besonderen Konsequenz hatte bereits Pierre Bayle Spinoza einen »große[n] Cartesianer« genannt (Pierre Bayle: Historisches und Kritisches Wörterbuch – Eine Auswahl, hrsg. und übers. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Hamburg 2003, S. 430). 2 Die obige Formulierung lässt absichtlich offen, ob es sich bei den Texten um solche von verschiedenen Autorinnen oder um solche nur einer Autorin handelt. Dass die Frage nach der Konsequenz bzw. Inkonsequenz gerade auch mit Blick auf die Texte eines einzelnen Autors sowohl für ein besseres Verständnis als auch für die Einschätzung hinsichtlich philosophischer Fortschritte gewinnbringend sein kann, hat Bernd Ludwig bei seinen Interpretationen der Texte des kritischen Kant klar vorgeführt. Siehe u. a. Bernd Ludwig: »Kants

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Ob eine solche Perspektive trägt, wird sich nur schwerlich in abstracto feststellen lassen. Wie so oft bei derjenigen Art des Philosophierens, die heute zumeist als eigenständige Disziplin namens ›Geschichte der Philosophie‹ wahrgenommen wird, ist es nötig, konkretes – hier also historisches – Material zu bemühen. Die geläufige Auszeichnung Spinozas als konsequentem Cartesianer aufgreifend, soll daher im Folgenden versucht werden herauszufinden, wieweit die Rede von der Konsequenz bzw. Inkonsequenz einer historischen Gestalt der Philosophie mit Blick auf ihr vorangegangene Gestalten für die Philosophiegeschichtsschreibung tragfähig ist. Dabei wird aber – im Unterschied etwa zur Perspektive Hegels – nicht die spinozanische Philosophie in ihrer Gänze oder auch »nur« das ihr zugrunde liegende Prinzip in den Blick genommen. Dafür müssten entweder alle Lehrstücke Spinozas durchmustert werden oder seine eigentümliche »All-Einheitslehre« 3 in den Blick genommen und zur cartesischen, offenkundig ganz Anderes behauptenden Ontologie ins Verhältnis gesetzt werden. Beide Aufgaben können im vorliegenden Rahmen nicht angemessen bewältigt werden. Stattdessen soll zumindest ein wichtiger Baustein für Spinozas Weg zu seiner All-Einheitslehre in den Blick genommen werden: seine Substanzkonzeption. Denn nicht zuletzt an dieser wird bis heute sein konsequenter Cartesianismus festgemacht. Darauf, dass diese Zuschreibung nicht ohne Weiteres zutreffend ist, wird in einem ersten Schritt aufmerksam gemacht (1). Im Anschluss erfolgt der Versuch einer Differenzierung danach, in welcher Hinsicht Spinoza als konsequenter Cartesianer gelten kann (2) – und in welcher nicht (3). Abschließend wird ein kurzes Fazit aus dem erarbeiteten Befund gezogen, das anhand des vorgenommenen Beispiels die Frage nach dem Gewinn des Fragens nach der (In-)Konsequenz historischer Gestalten der Philosophie für die Philosophiegeschichtsschreibung zu beantworten versucht (4).

langer Weg zu einer Consequent-Kritischen Metaphysik«, in: Andree Hahmann und Bernd Ludwig (Hgg.): Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kritischen Philosophie. Hamburg 2017, S. 79–118, sowie ders.: Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M. 2020, bes. S. 125–141. 3 Diese Bezeichnung wird hier geborgt von Konrad Cramer: »Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit«, in: Holger Gutschmidt, Antonella Lang-Balestra und Gianluigi Segalerba (Hgg.): Substantia – sic et non. Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen, Frankfurt a. M. 2008, S. 301–326. Sie scheint mir für den vorliegenden Kontext passender als die häufig verwendete Bezeichnung ›Pantheismus‹, da sie besser darauf hinweist, dass Spinoza eine spezifische Ontologie entwickelt.

Ein konsequenter Cartesianer?

1. Spinozas vermeintliche Konsequenz: Was ist Substanz?

Ludwig Feuerbach konstatiert in seiner Geschichte der neuern Philosophie zu Beginn des Spinoza-Kapitels zuerst allgemein: Malebranches Philosophie enthält schon viel bestimmter und entwickelter als die des Cartesius die Elemente der Philosophie des Spinoza; nur sind sie auch hier noch zerstreut und in der Form der Vorstellungen des christlichen Idealismus ausgedrückt; es darf nur das Ganze streng konsequent zusammengedacht und -gefaßt werden, so haben wir den Spinoza. 4

Die besondere Konsequenz, die Feuerbach Spinoza attestiert, (sowie die Inkonsequenz, die er Malebranche attestiert) bezieht sich auf die cartesische Definition der Substanz als ein »Ding, das so existiert, dass es keines anderen Dinges bedarf, um zu existieren«. 5 Spinoza sei der erste gewesen, der diese Definition ernst genommen und sich von den mit ihr verbundenen Konsequenzen nicht verschrecken ließ: Die Einheit der Spinozistischen Substanz beruht, wenn man von ihr, von Gott ausgeht und anfängt, eigentlich nur auf einer konsequenten, wahrhaften, die Folgen nicht scheuenden und ihnen ad libitum ausbeugenden philosophischen Ausund Durchführung des Satzes: Gott ist das absolut reelle, das absolut unendliche Wesen, das alle Realitäten in sich faßt, das Wesen, dessen Existenz nicht von seinem Wesen unterschieden ist. 6

Diese Auffassung von Spinoza als konsequentem Cartesianer in substanztheoretischer Hinsicht ist bis heute populär. So schreibt etwa auch Steven Nadler in seiner Einführung in die Ethik bei der Erläuterung der spinozanischen Subtanzdefinition: Spinoza will go on to say that in fact God is the only substance. In doing so, he is drawing out the full implications of his Cartesian understanding of substance. 7

Und in ihrer Darstellung der Philosophie der Neuzeit schreiben Johannes Haag und Markus Wild ganz ähnlich: 4 Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, hrsg. von Joachim Höppner, Leipzig 21990, S. 284 (Hervorhebung von mir). 5 René Descartes: Principia Philosophiae, I.51 (AT VIII/1, 24: re[s] quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum). Text und (an die aktuelle Rechtschreibung angepasste) Übersetzung sind der Meiner-Ausgabe entnommen (René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch-Deutsch, übers. und hrsg. von Christian Wohlers, Hamburg 2005). 6 Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie, S. 298 (Hervorhebung von mir). 7 Steven Nadler: Spinoza’s Ethics. An Introduction, Cambridge 2006, S. 55 f. (Hervorhebung von mir)

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Spinoza wirft Descartes nun vor, den Begriff der Substanz falsch verstanden bzw. nicht konsequent angewendet zu haben, weil er endliche Substanzen zulässt. 8

So eingängig diese Auszeichnung Spinozas als konsequentem Cartesianer sein mag, wird mit ihr etwas übersehen, nämlich ein einfacher Textbefund. Denn die Definition des Substanzbegriffs, die Spinoza dem ersten Teil der Ethik voranstellt, ist nicht die, die Descartes in Abschnitt 51 seiner Prinzipien der Philosophie angibt. Vielmehr definiert Spinoza ›Substanz‹ dort folgendermaßen: Unter Substanz verstehe ich das, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, d. h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet werden müsste. 9

Da die Definition selbst noch keine Entscheidung darüber erlaubt, ob ›in sich selbst sein‹ und ›durch sich selbst begriffen werden‹ äquivalent sind, lassen sich zusammen mit der cartesischen Definition grundsätzlich drei Substanzdefinitionen unterscheiden: (S1) Substanz ist Selbständiges. – Descartes’ Definition aus den Prinzipien zielt auf dasjenige, was gelegentlich ›Unabhängigkeit‹ eines Dings genannt wird. 10 Die dabei gemeinte Unabhängigkeit ist eine ontologische Eigenschaft und betrifft das Verhältnis zu anderen Dingen: Unabhängig ist ein Ding dann, wenn seine Existenz nicht von der Existenz anderer Dinge abhängt. Die so gefasste Substanz ist etwas, das ›aus‹ oder ›durch‹ sich selbst existiert. Sie ist ein selbständiges Ding im strengen Sinn und wird daher auch gelegentlich als ›selbstgenügend‹ bezeichnet. 11 (S2) Substanz ist Fürsichbestehendes. – Spinozas erste Kennzeichnung der Substanz als ›das, was in sich (selbst) ist‹, ist notorisch unklar. Gelegentlich wird das ›in sich selbst sein‹ als ›durch sich existieren‹ (per se existere) gelesen, also mit dem in Definition (S1) Gesagten identifiziert. 12 Dafür sprechen Johannes Haag, Markus Wild: Philosophie der Neuzeit. Von Descartes bis Kant, München 2019, S. 44 (Hervorhebung von mir). 9 Baruch de Spinoza: Ethica Ordine Geometrico demonstrata et in quinque Partes distincta, in quibus agitur, I def 3 (G II, 45): »Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur; hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat.« Text und (an die aktuelle Rechtschreibung angepasste) Übersetzung sind der Meiner-Ausgabe entnommen (Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch-Deutsch, neu übers. und hrsg. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 32010). 10 Vgl. z. B. Haag/Wild: Philosophie der Neuzeit, S. 43. 11 Vgl. z. B. Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Erster Theil, Berlin 1785, S. 219 (JubA Bd. 3.2, 106 f.). Von Mendelssohn wird hier die Bezeichnung der Substanz im Sinne von (S1) als ›Selbständiges‹ geborgt. 12 Vgl. z. B. Nadler: Spinoza’s Ethics, S. 55. 8

Ein konsequenter Cartesianer?

aber weder Spinozas eigene spärliche Verwendungen dieser Kennzeichnung noch deren Verwendung in der Tradition, die auch endlichen Substanzen ein ›in sich selbst sein‹ zuspricht. 13 Zudem qualifiziert Spinoza erst im Lehrsatz 7 des ersten Teils der Ethik Substanzen mit causae suibus, was mehr als umständlich wäre, wenn (S2) mit (S1) identisch wäre. 14 Angemessener ist die Deutung des ›in esse‹ als Subsistenz im Gegensatz zur Inhärenz: Etwas ist ›in sich selbst‹, wenn es nicht ›in‹ bzw. ›an‹ einem anderen Ding als dessen Teil, Eigenschaft, Zustand etc., sondern selbst dasjenige ist, ›in‹ bzw. ›an‹ dem solche Teile, Eigenschaften, Zustände etc. vorkommen. 15 Entsprechend lässt sich auch Axiom 1 des ersten Teils so lesen, dass es Spinozas Ontologie zufolge ausschließlich Substanz(en) und Modi gibt. 16 Damit würde Spinoza eine Substanzdefinition ins Spiel bringen, die auch anschlussfähig an aristotelische Überlegungen ist und die auch Descartes teilt. 17 In jedem Fall schließt sie allein noch nicht die Möglichkeit endlicher – also in ihrer Existenz abhängiger – Substanzen aus. Um diesen Aspekt der eventuellen Nicht-Selbständigkeit von dem der Subsistenz zu unterscheiden, kann diese Definition so verstanden werden, dass sie Substanzen als Fürsichbestehendes ausgibt. 18

13 Vgl. dazu Robert Schnepf: Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas, Würzburg 1996, S. 238 f., der exemplarisch auf Suarez, Disputationes Metaphysicae 50, 3, 12 verweist. 14 Vgl. E I p7 (G II, 49), der die Konsequenz aus E I p6 mit E I def1 zusammenbringt. Vgl. auch Schnepf: Metaphysik, S. 239. 15 Vgl. Konrad Cramer: »Kritische Betrachtungen über einige Formen der Spinozainterpretation«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), S. 527–544: S. 536. 16 Vgl. E I ax1 (G II, 46): »Alles, was ist, ist entweder in sich selbst oder in einem anderen.« (Omnia, quae sunt, vel in se, vel in alio sunt.) – Passend dazu definiert Spinoza ›Modus‹: »Unter Modus verstehe ich die Affektionen einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird.« (Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur. E I def 5 [G II 45]). Vgl. auch E I p15 (G II, 56 f.): »Außer Substanzen und Modi gibt es aber nichts (nach Axiom 1).« (Atqui praeter substantias et modos nil datur (per axiom. 1.).), sowie bereits E I p6 coroll. 17 Vgl etwa Descartes’ Substanzdefinition, die er bei seinen Überlegungen more geometrico im Anhang zu den Meditationen angibt (AT VII, 161): »Substanz wird jedes Ding genannt, in dem irgendetwas unmittelbar ist, bzw. durch das irgendetwas existiert, was wir erfassen, das heißt irgendeine Eigenschaft oder irgendeine Qualität oder irgendein Attribut, deren bzw. dessen Idee in uns ist.« (Omnis res cui inest immediate, ut in subjecto, sive per quam existit aliquid quod percipimius, hoc est aliqua proprietas, sive qualitas, sive attributum, cujus realis idea in nobis est, vocatur Substantia.) Die (an die aktuelle Rechtschreibung angepasste) Übersetzung ist der Meiner-Ausgabe entnommen, an dieser Stelle aber leicht geändert (René Descartes: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. und hrsg. von Christian Wohlers, Hamburg 2009). 18 Auch hier borge ich mir die Bezeichnung ›Fürsichbestehendes‹ von Mendelssohn. Vgl. Mendelssohn: Morgenstunden, S. 219 f. (JubA Bd. 3.2, 107 f.).

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(S3) Substanz ist Begreifliches. – Spinozas zweite Kennzeichnung der Substanz als ›das, was durch sich selbst begriffen wird‹ ist prima facie ähnlich erklärungsbedürftig wie die erste. Insofern hier das ›Begreifen‹ resp. die ›Begriffsbildung‹ entscheidend ist, kann sie in einem ersten Schritt als epistemologische verstanden werden. So kann etwa eine Eigenschaft wie ›grün‹ nur dann erklärt resp. ›begriffen‹ werden, wenn auf den Begriff eines Körpers, dem diese Eigenschaft zukommt, rekurriert wird. In dieser Hinsicht scheint (S3) nur eine epistemologisch gewendete Version von (S2) zu sein. Allerdings könnte (S3) auch mit (S1) identifiziert werden, 19 da in beiden Fällen von einem Etwas verlangt wird, dass es keines anderen bedarf (nulla alia re indigeat bzw. non indiget conceptu rei), um zu existieren bzw. gebildet zu werden. In beiden Fällen reicht das jeweilige Etwas – einmal ein Ding, das andere Mal ein Begriff – aus, um ohne weiteren Bezug auf ein anderes Etwas zu existieren bzw. begriffen zu werden, und ist insofern ›unabhängig‹. Offenkundig wird aber im Fall der Definition der Substanz durch ihre Begreiflichkeit nicht explizit ihre Existenz ins Spiel gebracht. Spinoza hebt daher auch erst in einer Anmerkung zu Lehrsatz 8 hervor, dass es einer gewissen Aufmerksamkeit bedarf, um einzusehen, dass die Substanzdefinition die Existenz der Substanz impliziert. 20 Wie auch schon mit Blick auf (S2) wäre es somit vorschnell, Spinozas Substanzdefinition direkt mit (S1) zu identifizieren. Denn erst mit Lehrsatz 7 wird bewiesen, dass einer Substanz Existenz zukommt – ein Verfahren, dass freilich überflüssig wäre, wenn das Wesen (natura) von Substanz gemeinhin richtig begriffen würde. Und eben weil das Wesen von Substanz Spinoza zufolge gemeinhin nicht richtig begriffen wird, 21 tut er ganz recht daran, ›Substanz‹ nicht im Sinne von (S1) zu definieren. Schließlich kann aber für Spinozas Kennzeichnung der Substanz als ›das, was durch sich selbst begriffen wird‹, wiederum auf Descartes verwiesen werden. Denn dieser führt in den Prinzipien eine ganz ähnliche Kennzeichnung von ›Substanz‹ an: Substanzen könnten derart voneinander unterschieden werden, dass »wir die eine unabhängig von der anderen klar und deutlich einsehen können«. 22 Darauf wird zurückzukommen sein. Wichtig ist an dieser Stelle, dass bereits Descartes der MeiVgl. z. B. Haag/Wild: Philosophie der Neuzeit, S. 45. Vgl. E I p8 schol. 2 (G II, 50). 21 Vgl. ebd. 22 PP I 60 (AT VIII/1, 28): »ex hoc solo quod unam absque altera clare & distincte intelligere possimus«. Vgl. auch René Descartes: Meditationes de prima philosophia, VI.9 (AT VII, 78): »[…] ist es ausreichend, dass ich ein Ding ohne ein anderes klar und deutlich einsehe, um sicher zu sein, dass das eine von dem anderen verschieden ist« (satis est quod possim unam rem absque altera clare & distincte intelligere, ut certus sim unam ab altera esse diversam). 19

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nung war, dass eine Substanz ›durch sich selbst‹ begriffen werden kann – zumindest insofern, als sie durch einen spezifischen Begriff verstanden wird, ohne dabei auf andere Begriffe Bezug nehmen zu müssen. 23 Zu allen drei vorgestellten Substanzdefinitionen kann freilich noch viel mehr gesagt werden, wenn weiteres Textmaterial herangezogen wird. 24 Um alle drei hinreichend voneinander zu unterscheiden, mag aber das Vorangegangene genügen. Vor allem macht es bereits deutlich, dass Spinoza mit seiner für den Anfang der Ethik gewählten Substanzdefinition nicht einfach die cartesische übernimmt und dann nur noch konsequent ausbuchstabiert. Denn Spinoza wählt als Definiens von ›Substanz‹ das herkömmliche Fürsichbestehen (in esse) bzw. deren Begreiflichkeit. Dennoch schließt Spinoza mit seiner Substanzkonzeption durchaus an Descartes’ an – und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens beginnt Spinoza zwar nicht mit der Definition von ›Substanz‹ als Selbständiges, aber er gibt mit den Lehrsätzen 1 bis 7 des ersten Teils der Ethik eine Begründung für das, was Descartes mit (S1) behauptet. Er schließt sich also Descartes insofern an, als auch er ›Substanz‹ als etwas versteht, das ontologisch völlig selbständig ist. Im Unterschied zu Descartes begründet er dieses Verständnis aber eigens – und zwar direkt in den Anfangsüberlegungen seiner Darstellung der Ontologie. Zweitens greift Spinoza in seiner für den Anfang der Ethik gewählten Definition von ›Substanz‹ ein Merkmal auf, das sich auch in Descartes’ Überlegungen finden lässt, nämlich das der besonderen Begreiflichkeit der Substanz (also (S3)). Allerdings fungiert genau dieses Merkmal im Rahmen von Descartes’ Überlegungen als das entscheidende Kriterium dafür, etwas als Substanz zu identifizieren, indem es das fragliche Etwas auch noch von anderen Substanzen zu unterscheiden erlaubt. Entscheidend ist dies bei Descartes im Rahmen seines ›Großen Zweifels‹, also beim Auffinden der ersten Gewissheit. Und diese ist wiederum ausgerechnet die Einsicht in die Substanzialität des zweifelnden Subjekts, das sich gerade nicht als Substanz im Sinne von (S1) erweist. 23 Das wird auch in Descartes’ Erwiderungen auf Arnaulds Einwände ganz deutlich (AT VII, 226): »Und niemals hat irgendjemand zwei Substanzen durch zwei verschiedene Begriffe erfasst, ohne zu urteilen, dass sie real unterschieden sind.« (nec ullus unquam qui duas substantias per duos diversos conceptus percepit, non judicavit illas esse realiter distinctas). 24 Für eine Durchsicht der Texte Descartes’, besonders der Meditationen und deren Anhänge, und eine eingängige Übersicht siehe Vere Chappell: »Descartes on Substance«, in: Janet Broughton und John Carriero (Hgg.): A companion to Descartes, Malden 2008, S. 251– 270. Mit Blick auf Spinoza müsste vor allem auch seine Schrift über Descartes’ Prinzipien der Philosophie sowie deren Anhang Metaphysische Gedanken herangezogen werden.

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Beide Anschlüsse Spinozas an Descartes’ Substanzkonzeption sind erläuterungsbedürftig. Sie sollen hier allerdings nur so weit erläutert werden, bis etwas Interessantes über eine etwaige Konsequenz oder Inkonsequenz Spinozas mit Blick auf die cartesische Substanzdefinition herausgestellt werden kann. Es werden im Folgenden zuerst Spinozas Begründung von (S1), im Anschluss Spinozas Vernachlässigung des cartesischen Rückgriffs auf (S3) im Rahmen des ›Großen Zweifels‹ erläutert. Das Ziel ist dabei, mehr Klarheit darüber zu gewinnen, was bei einem Philosophieren, das an dasjenige von Vorgängerinnen und Vorgängern anschließt, überhaupt sinnvoll als ›konsequent‹ oder ›inkonsequent‹ beurteilt werden kann.

2. Spinozas tatsächliche Konsequenz: Begründung von Descartes’ Substanzdefinition

Erst in Lehrsatz 7 des ersten Teils der Ethik identifiziert Spinoza ›Substanz‹ mit ›causa sui‹ und stellt Substanz also als dasjenige vor, dessen »Essenz Existenz einschließt« (essentia involvit existentiam) – oder mit Descartes ausgedrückt: als etwas, das ›keines anderen Dinges bedarf, um zu existieren‹. Um zu zeigen, dass es sich tatsächlich um einen Schluss handelt, sind zuerst die vorangegangenen Lehrsätze zu rekapitulieren. Dabei soll aber nicht nach deren formaler Gültigkeit oder gar nach ihrer Wahrheit gefragt werden, sondern im Zentrum steht der sukzessive Übergang vom als Definition eingeführten Substanzbegriff (S2/3) zum daraus gefolgerten Substanzbegriff (S1): (1) Lehrsatz 1 25 schließt unmittelbar aus den Definitionen von ›Substanz‹ und ›Modus‹, dass Substanzen ein ontologischer Vorrang zukommt. 26 Für den vorliegenden Kontext bedeutet das: Die Modi können in einer Darstellung der Ontologie erst dann thematisiert werden, wenn klar ist, was Substanzen sind. (2) Die folgenden Lehrsätze nehmen das Verhältnis von Substanzen in den Blick. Lehrsatz 2 27 schließt unmittelbar aus der Definition von ›Substanz‹ (und der von ›Attribut‹), dass Substanzen mit verschiedenen Attributen nichts ge-

25 E I p1 (G II, 47): »Eine Substanz geht der Natur nach ihren Affekten voran.« (Substantia prior est natura suis affectionibus.) 26 Aus bloßen Gründen der Bequemlichkeit wird hier und im Folgenden geschrieben: »Lehrsatz … schließt, dass …«, um den Leserinnen sowie mir selbst umständlichere, obzwar korrektere Formulierungen zu ersparen. 27 E I p2 (G II, 47): »Zwei Substanzen, die verschiedene Attribute haben, haben nichts miteinander gemein.« (Duae substantiae, diversa attributa habentes, nihil inter se commune habent.)

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meinsam haben. Daran schließt Lehrsatz 3 28 direkt an, indem er unter Rekurs auf die Axiome 4 und 5 schließt, dass Dinge, die nichts gemeinsam haben, auch nicht in einer Kausalrelation zueinander stehen können. Für den vorliegenden Kontext bedeuten die beiden Lehrsätze: Substanzen können nur dann in einer Kausalrelation zueinander stehen, wenn sie zumindest ein Attribut gemeinsam haben. (3) Nachdem im Lehrsatz 4 29 aus Axiom 1 und den Definitionen von ›Substanz‹ und ›Modus‹ geschlossen wurde, dass sich Dinge nur als durch ihre jeweiligen Attribute verschiedene Substanzen oder als verschiedene Modi voneinander unterscheiden können, wird in Lehrsatz 5 30 schlussgefolgert, dass es nicht mehrere Substanzen mit demselben Attribut geben kann. Für den vorliegenden Kontext bedeutet das: Substanzen können keine Attribute gemeinsam haben. (4) Der Schluss, den Spinoza in Lehrsatz 6 31 aus den vorangegangenen Lehrsätzen zieht, liegt auf der Hand: Substanzen können in keiner Kausalrelation zueinander stehen, es kann also eine Substanz keine andere Substanz hervorbringen. Und da Substanzen ein ontologischer Vorrang gegenüber ihren Modi zukommt, gibt es nichts, was eine Substanz hervorbringen könnte, außer ihr selbst. 32 Und genau das wird mit Lehrsatz 7 33 dann auch ausgesagt: Es gehört zum Wesen einer Substanz, nicht von etwas anderem hervorgebracht worden, also eine causa sui zu sein. Es ist an dieser Stelle auf zwei Punkte wenigstens hinzuweisen: Erstens impliziert der mit Lehrsatz 7 gegebene Substanzbegriff zwar Existenz, an dieser Stelle des Argumentationsgangs wird allerdings noch nicht behauptet, dass es auch tatsächlich (eine) Substanz(en) gibt. Das erfolgt erst in Lehrsatz E I p3 (G II, 47): »Von Dingen, die nichts miteinander gemein haben, kann das eine nicht Ursache des anderen sein.« (Quae res nihil commune inter se habent, earum una alterius causa esse non potest.) 29 E I p4 (G II, 47): »Zwei oder mehrere unterschiedene Dinge unterscheiden sich voneinander entweder anhand einer Verschiedenheit der Attribute der Substanzen oder anhand einer Verschiedenheit der Affektionen dieser Substanzen.« (Duae aut plures res distinctae vel inter se distinguuntur ex diversitate attributorum substantiarum, vel ex diversitate earundem affectionem.) 30 E I p5 (G II, 48): »In der Natur kann es nicht zwei oder mehrere Substanzen derselben Natur, d. h. desselben Attributes geben.« (In rerum natura non possunt dari duae aut plures substantiae ejusdem naturae sive attributi.) 31 E I p6 (G II, 48): »Eine Substanz kann nicht von einer anderen Substanz hervorgebracht werden.« (Una substantia non potest produci ab alia substantia.) 32 Andere Entitäten als Substanzen und Modi sind per definitionem nicht eingeführt. 33 E I p7 (G II, 49): »Zur Natur einer Substanz gehört es zu existieren.« (Ad naturam substantiae pertinet existere.) 28

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11 34, wo auf die notwendige Existenz einer besonderen Substanz (Gott 35) geschlossen wird. Zuvor ist noch nicht ausgeschlossen, dass die per definitionem stipulierten Dinge (Substanzen und Modi) vielleicht gar keine tatsächlich vorkommenden Entitäten sind. – Zweitens wird ebenfalls noch nicht behauptet, dass es nur eine Substanz gibt und alle anderen Dinge deren Modi sind, also das spezifische Charakteristikum des Spinozismus noch nicht genannt. Das erfolgt erst in den Lehrsätzen 14 36 und 15 37, mit denen die eigentümliche Alleinheitslehre Spinozas etabliert wird. Dass diese alles andere als cartesisch ist, liegt auf der Hand. Dass sie aber auch nicht bloß aus einer vorausgesetzten cartesischen Substanzkonzeption folgt, zeigen bereits die Lehrsätze 1–7 mit ihrer Begründung von (S1). 38 Die gegebene kurze Rekonstruktion durch Angabe der Schritte (1) bis (4) zeigt deutlich, dass die Schritte (2) und (3) die argumentativ entscheidenden sind, um von (S2/3) zu (S1) zu kommen. Dabei mutet jeweils deren zweiter Lehrsatz, also die Lehrsätze 3 und 5, aus cartesischer Perspektive seltsam an: Lehrsatz 3 mag eine Cartesianerin verwundern, da der Gedanke eines Wirkens von Substanzen aufeinander, das mit dem Beweis an die Kautel eines Teilens desselben Attributs gebunden werden soll, ganz uncartesisch ist. Dass nur die denkende Substanz auf ihre Modi oder Modi desselben Attributs aufeinander wirken können, ist auch für sie klar – was ja gerade die Leib-SeeleEinheit zur Herausforderung werden lässt. 39 Dass aber Substanzen, sie mögen dasselbe Attribut teilen oder nicht, aufeinander wirken könnten, behauptet Descartes nirgends – zumindest, wenn man die körperliche Substanz konsequent als eine einzige versteht 40 und wenn man vom außerordentlichen 34 E I p11 (G II, 52): »Gott, anders formuliert eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt, existiert notwendigerweise.« (Deus sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit, necessario existit.) 35 Dass Gott eine besondere, nämlich aus unendlich vielen Attributen bestehende Substanz ist, führt Spinoza als sechste Definition direkt am Anfang des ersten Teils der Ethik ein. Vgl. E I def6 (G II, 45). 36 E I p14 (G II, 56): »Außer Gott kann es keine Substanz geben und keine begriffen werden.« (Praeter Deum nulla dari neque concipi potest substantia.) 37 E I p15 (G II, 56): »Was auch immer ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden.« (Quicquid est, in Deo est, et nihil sine Deo esse neque concipi potest.) 38 Auch daran, dass sie aus der mit Lehrsatz 7 begründeten cartesischen Substanzdefinition, also (S1), ohne Weiteres folgt, darf man zweifeln. Dem soll hier aber nicht weiter nachgegangen werden. Siehe dazu Cramer: Kritische Betrachtungen. 39 Es scheint eine weithin geteilte Meinung im Cartesianismus gewesen zu sein, »dass substanzüberschreitende Kausalität geleugnet wird« (Andreas Hüttemann: »Spinoza, La Forge und das Problem der Modi«, in: Methodus 8 (2016), S. 33–55: S. 47). 40 Dass dies die konsequente Lesart für Descartes’ Konzeption der ausgedehnten Sub-

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Wirken Gottes bei der Schöpfung der Substanzen absieht. Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass Spinoza die Möglichkeit eines Aufeinanderwirkens von Substanzen immerhin in Betracht zieht, insofern, weil sich an ihr zeigt, dass er damit offenkundig nicht nur cartesianische, sondern auch andere Positionen berücksichtigen konnte, um von der Richtigkeit von (S1) zu überzeugen. 41 Aus der gebräuchlichen Substanzdefinition (S2) ergibt sich zusammen mit Axiomen, die alle mit Metaphysik Beschäftigten bejahen würden (so jedenfalls Spinozas Meinung), die Einsicht, dass nur solche Substanzen miteinander interagieren könnten, die ein gemeinsames Attribut teilen. Lehrsatz 5 wird eine Cartesianerin auf jeden Fall irritieren. Denn Spinoza legt hier die Nicht-Unterscheidbarkeit von Substanzen auf das Haben desselben Attributs fest. Es könne nicht zwei Substanzen mit demselben Attribut geben, da sie nicht in dem voneinander unterschieden wären, was ihr Wesen (natura) ausmacht. Den Fall, dass zwei Substanzen aufgrund der Unterschiedenheit ihrer Modi unterscheidbar wären, schließt Spinoza dagegen einfach aus, da eine Substanz dann nicht ausschließlich »in sich selbst, d. h. (nach Definition 3 und Axiom 6) wahrheitsgemäß betrachtet« 42 werden würde. Dagegen unterscheiden sich bei Descartes zwei denkende Substanzen gerade nicht mit Blick auf ihr Attribut, sondern mit Blick auf ihre Modi. 43 Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass Spinoza die Relevanz der Unterschiedenheit der Modi einer Substanz einfach beiseitestellen kann, insofern, als hier eine Festlegung involviert ist, die zeigt, dass seine Schlussfolgerung auf (S1) voraussetzungsreicher ist als ein bloßes Ausbuchstabieren von (S2). Spinoza zielt hier darauf, dass eine Substanz ohne Rücksicht auf ihre Modi begriffen werden können muss. Da Spinoza zufolge Modi nicht zum Wesen einer Substanz gehören, muss der Begriff einer Substanz ohne Rücksicht auf die Begriffe ihrer Modi gebildet werden können. Er versteht (S3) demnach so, dass Wesen und Existenz einer Substanz ohne Berücksichtigung ihrer Modi erkannt stanz ist, macht Andreas Brandt: »(Fast) selbständiges Ding, denkend oder ausgedehnt – die Substanz nach Descartes«, in: Substantia – sic et non, S. 273–299: S. 291–296, deutlich. 41 Man kann hier an die scholastische Lehre von einer transeunten Kausalität zwischen zwei Substanzen denken, die Spinoza an dieser Stelle der Argumentation noch aufgreift, die dann aber spätestens mit dem Nachweis, dass es nicht mehrere Substanzen mit demselben Attribut geben kann, als widergelegt gelten darf. 42 E I p5 (G II, 48): »in se considerata, hoc est (per defin. 3. et axiom. 6.) vere considerata«. 43 Ähnliches trifft auch auf Leibniz zu, dem zufolge sich (einfache, geschaffene) Substanzen durch ›Eigenschaften‹ (qualités), ›Affektionen‹ (affections) bzw. ›Zustände‹ (états) unterscheiden, die er in der Monadologie schließlich als Perzeptionen versteht (vgl. Leibniz: Monadologie, §§ 8, 13 und 14). Leibniz selbst hat eine ganz anders geartete Attributkonzeption, worauf hier aber nicht eingegangen werden muss. Siehe dazu ausführlich Sebastian Bender: Leibniz’ Metaphysik der Modalität, Berlin, Boston 2016, S. 57–63 und 89–102.

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werden können. Die Begreiflichkeit der Substanz scheint für Spinoza demnach tatsächlich nur deren epistemologisch gewendetes Fürsichbestehen, (S2) und (S3) lediglich zwei Seiten derselben Medaille zu sein. Bevor auf Spinozas Verständnis von (S3) und die genannte Irritation der guten Cartesianerin weiter eingegangen wird, kann Spinozas Anschluss an Descartes’ Definition der Substanz als Selbständiges eingeschätzt werden. Indem Spinoza (S3) nicht als Definition voraussetzt, sondern mithilfe einer geläufigen, vergleichsweise harmlos anmutenden Definition der Substanz als Fürsichbestehendes und Begreifliches, also (S2/3), sowie wenigen weiteren Definitionen und Axiomen auf (S1) erst schließt, darf er in gewisser Hinsicht als besonders konsequenter Cartesianer gelten. Die besondere Konsequenz liegt dabei nicht darin, dass er eine Voraussetzung Descartes’ teilt und besser ausbuchstabiert als dieser selbst. Sie liegt vielmehr darin, dass er eine Voraussetzung Descartes’, die dieser einfach macht, eigens begründet. Macht man Philosophieren an der Suche bzw. dem Prüfen von Gründen fest, 44 dann ist Spinoza mit Blick auf den vorausgesetzten Substanzbegriff der bessere, weil konsequentere Philosoph als Descartes. Auch er hält (S1) offenkundig für die entscheidende Kennzeichnung von ›Substanz‹, begründet sie aber im Rückgriff auf herkömmliche Ansichten über das, was Substanzen ausmacht. Spinozas Begründung besteht darin, dass auf (S1) geschlossen wird, wobei sowohl die Prämissen als auch der Schluss selbst explizit angegeben werden. Dabei scheint die zentrale Definition der Substanz als Fürsichbestehendes und Begreifliches, also (S2/3), auch für Descartes, Cartesianerinnen und vielleicht auch weitere zeitgenössische Philosophen grundsätzlich akzeptabel zu sein. Descartes und Cartesianerinnen dürften sich also bei logischer Korrektheit des Schlusses in ihrer Annahme von (S1) bestätigt sehen, andere müssten sich durch ihn – wenigstens in Spinozas Augen – von ihr überzeugen lassen. 45 Trotzdem dürften Cartesianerinnen mit Spinozas Begründung nicht völlig einverstanden sein. Denn sie ist offenkundig spekulativ. 46 Als Explikation der Voraussetzungen, auf denen (S1) beruht, ist sie nicht bloße Begriffsanalyse. Sie ist aber auch keine erkenntnistheoretische Untersuchung, die sich darum bemüht, den fraglichen Gegenstand in concreto aufzusuchen oder dar44 Das scheint mir wenigstens ein konsensfähiges Minimalverständnis dessen zu sein, was gemeinhin als Philosophieren bezeichnet wird. Hinreichend ist es aber sicher nicht. 45 Ob der Schluss von (S2/3) auf (S1) tatsächlich korrekt ist, soll hier nicht beurteilt werden. 46 Die Qualifikation als ›spekulativ‹ ist allerdings nicht abschätzig gemeint. Anknüpfend an die traditionelle Bedeutung werden damit hier lediglich Versuche bezeichnet, aus abstrakten Prinzipien sachlich gehaltvolle Einsichten zu entwickeln. In dieser Bedeutung verwendet z. B. auch noch Kant das Wort (vgl. KrV, A 635 oder Prol, AA 04: 371).

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zustellen. Damit klammert sie aber einen für Descartes’ Philosophieren wesentlichen Aspekt völlig aus.

3. Spinozas inkonsequenter Cartesianismus: Erkenntnis von der Substanz

Spinoza greift in seiner für den Anfang der Ethik gewählten Definition von ›Substanz‹ auch ein Merkmal auf, das sich ebenfalls in Descartes’ Überlegungen finden lässt, nämlich das der besonderen Begreiflichkeit der Substanz, also (S3). Wie gesehen dürfte aber eine Cartesianerin spätestens bei seinem Beweis für Lehrsatz 5 in einige Irritation geraten, da in ihm die Nicht-Unterscheidbarkeit von Substanzen auf das Haben desselben Attributs festgelegt wird. Spinoza versteht (S3) nämlich so, dass Wesen und Existenz einer Substanz ohne Berücksichtigung ihrer Modi erkannt werden können. Das ist aber Descartes zufolge nicht der Fall. Um die hier behauptete Differenz zwischen Descartes und Spinoza wenigstens grob zu klären, ist ein Blick sowohl in Descartes’ allgemeine Kennzeichnung der Verhältnisse zwischen ›Substanz‹, ›Attribut‹ und ›Modus‹ als auch in seine Argumentation für eine unmittelbare Einsicht in die eigene Existenz als denkende Substanz nötig. In Abschnitt 60 des ersten Teils seiner Prinzipien erläutert Descartes die Möglichkeit des Unterscheidens mehrerer Substanzen folgendermaßen: Die reale Unterscheidung findet eigentlich nur zwischen zwei oder mehreren Substanzen statt: Wir erfassen zwei Substanzen dadurch als real unterschieden, dass wir die eine unabhängig von der anderen klar und deutlich einsehen können. 47

Dieses ›unabhängig von anderen klar und deutlich einsehen können‹ führt Descartes direkt im Anschluss zuerst auf das Haben von bestimmten Ideen zurück, die es jedem denkenden Subjekt erlauben würden, das durch die eine Idee Gedachte von dem durch die andere Idee Gedachten zu unterscheiden. 48 Wichtiger ist hier aber die darauffolgende Einlassung Descartes’: Und ebenso kann jeder allein deshalb, weil er sich selbst als denkendes Ding erkennt, und von sich selbst alle anderen Substanzen, sowohl denkende als auch ausgedehnte, im Denken ausschließen kann, sicher sein, dass er sich, so gesehen, 47 PP I 60 (AT VIII/1, 28): »Realis [distinctio] propie tantum est inter duas vel plures substantias: & has percipimus a se mutuo realiter esse distinctas, ex hoc solo quod unam absque altera clare & distincte intelligere possimus«. 48 Dieser Gedanke findet sich bereits in den Regeln, wo die entsprechenden Ideen noch als Begriffe von ›einfachen Naturen‹ (naturae simplices) verstanden werden. Vgl. René Descartes: Regulae ad directionem ingenii, 12.14 (AT X, 419 f.).

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von jeder anderen denkenden und von jeder körperlichen Substanz real unterscheidet. 49

Diese Einlassung ist deshalb wichtiger, weil sich Descartes hier offenkundig auf sein berücksichtigtes »erstes Prinzip« (le premier principe) 50 bezieht, das er in Abschnitt 7 des ersten Teils der Prinzipien auch als »die überhaupt erste und sicherste Erkenntnis, auf die jeder regelgeleitet Philosophierende stößt«, bezeichnet. 51 Diese ›erste und sicherste Erkenntnis‹ drückt Descartes gelegentlich kurz als »ich denke, daher bin ich« (ego cogito, ergo sum; je pense, donc je suis) aus. 52 Sie beinhaltet sowohl die sichere Erkenntnis des Wesens (natura) einer Substanz – nämlich der denkenden – als auch eine sichere Erkenntnis ihrer Existenz – nämlich der eigenen. Und insofern sie Descartes zufolge erreicht werden kann, ohne auf irgendwelche anderen Dinge bzw. deren Begriffe Bezug zu nehmen, stellt sie offensichtlich einen Fall des mit (S3) geforderten Erkennens resp. Begreifens dar. Ohne hier ausführlich auf Descartes’ Argumentation für eine unmittelbare Einsicht in die eigene Existenz als denkende Substanz, wie er sie in der zweiten Meditation und in den Abschnitten 7 bis 11 des ersten Teils der Prinzipien führt, einzugehen, lassen sich folgende Punkte mit Blick auf Descartes’ Vorgehen festhalten: – Das Programm des Großen Zweifels gibt vor, jede Gewissheit – sie mag sich auf die Eigenschaften oder die Existenz von Dingen beziehen oder sogar die apriorischer Erkenntnisse 53 sein – zu suspendieren, um etwas zu 49 PP I 60 (AT VIII/1, 28 f.): »Item que, ex hoc solo quod unusquisque intelligat se esse rem cogitantem, & possit cogitatione excludere a se ipso omnem aliam substantiam, tam cogitantem quam extensam, certum est unumquemque, sic spectatum, ab omni alia substantia cogitante atque ab omni substantia corporea realiter distingui«. (Übersetzung von mir leicht geändert.) 50 René Descartes: Discours de la Méthode, IV. 1 (AT VI, 32). Text und (an die aktuelle Rechtschreibung angepasste) Übersetzung sind der aktuellen Meiner-Ausgabe entnommen (René Descartes: Discours de la Méthode. Französisch-Deutsch, übers. und hrsg. von Christian Wohlers, Hamburg 2011). 51 PP I 7 (AT VIII/1, 7): »haec cognitio […] est omnium prima & certissima, quae cuilibet ordine philosophanti occurat«. 52 Ebd.; Discours, IV. 1 (AT VI, 32). Etwas genauer heißt es in der zweiten Meditation (Med. II.3, AT VII, 25): »dass dieser Grundsatz Ich bin, ich existiere, sooft er von mir ausgesprochen oder durch den Geist begriffen wird, notwendig wahr ist« (hoc pronuntiatum: ego sum, ego existo, quoties a me profertur vel mente concipitur, necessario esse verum). 53 Descartes nennt in der ersten Meditation simple Einsichten aus Arithmetik (›zwei und drei addieren‹) und Geometrie (›Seiten eines Quadrats zählen‹) als Beispiele und belässt es bei einem Hinweis auf die »anderen derartigen Disziplinen, die einige der einfachsten und allgemeinsten Dinge behandeln« (Med. I.9 und 10, AT VII, 20: alias[] [disciplinas] ejusmodi, quae nonnisi de simplicissimis & maxime generalibus rebus tractant). An der entsprechenden

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finden, »das sicher und unerschütterlich ist« (quod certum sit et inconcussum) 54. Diese Vorgabe scheitert Descartes zufolge allerdings an der Gewissheit der Existenz des zweifelnden Subjekts. Diese besondere Gewissheit resultiert daraus, dass es unmöglich ist, »daß dasjenige, das denkt, in eben derselben Zeit, in der es denkt, nicht existieren sollte«. 55 Denn alle Propositionen, an deren Wahrheit gezweifelt wird, sind Gehalte der Gedanken des zweifelnden Subjekts. Diese Gedanken mögen aufgrund der Täuschung durch einen »allmächtigen und äußerst verschlagenen Betrüger« (deceptor summe potens, summe callidus) falsch sein, sie mögen von »irgendeine[m] Gott« (aliquis Deus) »eingegeben« (immittit) sein oder sie mögen Produkte des zweifelnden Subjekts selbst als deren »Urheber« (auctor) sein, in allen Fällen bleiben sie doch die Gedanken des zweifelnden Subjekts, die existieren, wenn sie von ihm gedacht werden. 56 Damit erkennt sich das zweifelnde Subjekt an dieser Stelle des Großen Zweifels Descartes zufolge als ein »denkendes Ding« (res cogitans) und zugleich als ein »wahres und wahrhaftig existierendes Ding« (res vera et vere existens). 57 Descartes’ Übergang von der Gewissheit um die eigenen Gedanken auf die Gewissheit, ein denkendes Ding zu sein, wird besonders in der zweiten Meditation sehr eindrücklich vorgeführt, sie lässt sich aber mit seinen Erläuterungen in den Prinzipien etwas übersichtlicher fassen: Dort nennt er in Abschnitt 11 des ersten Teils den für ihn zentralen Grundsatz, »dass es für das natürliche Licht nichts Selbstverständlicheres gibt, als dass dem Nichts keinerlei Zustände oder Qualitäten zukommen« 58. Da das zweifelnde Subjekt von der Gewissheit um die Existenz der eigenen Gedanken völlig überzeugt sein darf, ist es durch das ›natürliche Licht‹ auch dazu berechtigt, diese Gedanken als Zustände eines existierenden Dinges anzusehen. Dass es sich dabei um ein denkendes Ding handelt, wird klar, wenn Descartes’ Definition von ›Denken‹ aus Abschnitt 9 des ersten Teils der Prin-

Stelle in den Prinzipien nennt er die »Beweise der Mathematiker« (Mathematicis demonstrationes) sowie die »Prinzipien, von denen wir angenommen haben, sie seien aus sich selbst heraus verständlich« (principia, quae hactenus putavimus esse per se nota) (PP I 5, AT VIII/ 1, 6). 54 Med. II.1 (AT VII, 24). Die Vorgaben entwickelt Descartes in der ersten Meditation und den Abschnitten 1–6 der Prinzipien. 55 PP I 7 (AT VIII/1, 7): »id quod cogitat, eo ipso tempore quo cogitat, non existere«. 56 Med. II.2 (AT VI, 24 f.). 57 Med. II.6 (AT VI, 27). 58 PP I 11 (AT VIII/1, 8): »lumine naturali esse notissimum, nihili nullas esse affectiones sive qualitates«.

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zipien hinzugenommen wird: »Unter der Bezeichnung ›Denken‹ verstehe ich all jenes, was auf bewusste Weise in uns geschieht, das wir also erkennen, insofern es zu unserem Bewusstsein gehört.« 59 Das, was als Zustände eines Dings in der zweiten Meditation verstanden wird, sind Gedanken genau in diesem weiten Sinne von ›Denken‹. Und wenn Zustände von derselben Art sind – wie z. B. die denkerischen des zweifelnden Subjekts – und nur hervorgehoben werden soll, dass sie ›in‹ einer Substanz ›sind‹, verwendet Descartes den Terminus ›Attribut‹. 60 Entsprechend kann ihm zufolge ›Denken‹ als das Attribut desjenigen Dings gelten, als das sich das zweifelnde Subjekt im Auffinden des ersten Prinzips begreift. – Das zweifelnde Subjekt erkennt sich also als eine Substanz, da es in sich Zustände vorfindet, die allesamt unter einem Attribut zusammengefasst werden können und die als vorhandene einem Ding zukommen müssen. Descartes betont eigens im Zusammenhang seiner allgemeinen Überlegungen zum Substanzbegriff im ersten Buch der Prinzipien, dass eine Substanz dadurch ›bemerkt werden kann‹ (animadverti potest), dass ›irgendein Attribut als anwesend erfasst‹ (aliquod attributum adesse perceptum) wird. 61 Mit anderen Worten erkennt sich das zweifelnde Subjekt als denkende Substanz, da es 1. das Vorhandensein seiner Gedanken (Modi) bemerkt, 2. diese als Fälle von Denken (Attribut) begreift und 3. auf die Existenz eines Dings (Substanz) schließen kann, dessen Wesen (natura, essentia) aus nichts anderem als ›Denken‹ besteht (Geist). 62 59 PP I 9 (AT VIII/1, 7): »Cogitationis nomine, intelligo illa omnia, quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est«. 60 PP I 56 (AT VIII/1, 26): »[…] und wenn wir schließlich nur generell berücksichtigen, dass sie [= Zustände bzw. Qualitäten] in einer Substanz sind, bezeichnen wir sie als Attribute.« (ac denique, cum generalius spectamus tantum [= modos vel qualitates] ea substantiae inesse, vocamus attributa, Übers. leicht geändert.) 61 P I 52 (AT VIII/1, 25, Übers. leicht geändert). 62 Vgl. zu Descartes’ Identifikation von ›Wesen‹ und ›hervorstechendem Attribut‹ (praecipuum attributum) P I 53 (AT VIII/1, 25). Dieser Abschnitt ist auch wichtig, um Descartes’ Rede in Abschnitt 52 davon, dass eine Substanz durch ihr Attribut erkannt werde, nicht falsch zu verstehen. Denn in Abschnitt 53 erklärt Descartes ›Denken‹ bzw. ›Ausdehnung‹ für »eine hervorstechende Eigenschaft [einer Substanz] […], auf die alle anderen [Eigenschaften] zurückbezogen werden« (praecipua proprietas [substantiae] […] ad quam aliae omnes referuntur, Übers. leicht geändert). Christian Wohlers bezieht in seiner Übersetzung aliae auf ›Attribut‹, wobei hier offenkundig nur ›Eigenschaft‹ (also: ›Attribut‹ in einer sehr weiten Bedeutung) gemeint ist. Das wird jedenfalls klar an der Erläuterung, die Descartes direkt im Anschluss gibt: »Denn alles andere [als die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe], das einem Körper zugesprochen werden kann, setzt Ausdehnung voraus und ist überhaupt nur ein bestimmter Zustand eines ausgedehnten Dinges, wie ebenso alles, was wir im Geist antreffen, nur verschiedenartige gedankliche Zugriffe sind« (Nam omne aliud

Ein konsequenter Cartesianer?

Mit der dieser knappen Skizze dürfte es leichter fallen, Descartes’ Verständnis von (S3) von demjenigen Spinozas abzugrenzen. Für Descartes kann die denkende Substanz insofern als etwas Begreifliches im Sinne von (S3) gelten, als der Große Zweifel das zweifelnde Subjekt zuerst zu der Einsicht führt, dass es als denkendes Ding von allen anderen Dingen real unterschieden ist. Descartes kann eine solche Einsicht ganz gut begründen: Denn das zweifelnde Subjekt stößt beim Einhalten der Vorgaben des Großen Zweifels allein auf die Existenz seiner eigenen Gedanken, die ihm standhält. Die eigenen Gedanken des zweifelnden Subjekts werden dabei – ihr Vollzug vorausgesetzt und von der Wahrheit ihres Gehalts abgesehen – so begriffen, dass weder die Gedanken anderer denkender Dinge noch nicht-denkerische Dinge, wie z. B. Körper, dafür notwendig wären. Das zweifelnde Subjekt mag nicht angeben können, woher seine Gedanken kommen (vielleicht sind sie ›eingegeben‹, vielleicht selbst hervorgebracht), doch weiß es unmittelbar von ihrer Existenz und auch um ihren Gehalt (wenn auch nicht um dessen Wahrheitswert). Und auch wenn das denkende Subjekt von der Frage nach der Wahrheit seiner Gedanken nicht absieht, bleibt doch eine unmittelbare Vertrautheit mit ihnen, die von der Falschheit ihres Gehalts nicht betroffen wird. Das cartesische Subjekt versteht sich also klar und deutlich, indem es sich selbst als bloß denkendes Ding versteht. An dieser Stelle mag mit Blick auf Spinoza die Frage aufkommen, ob Descartes’ Überlegungen hinreichende Gründe dafür liefern, dass sich das zweifelnde Subjekt auch als eine einzelne Substanz qua Fürsichbestehendes, also im Sinne von (S2), erkennen kann. Schließlich ist Spinoza zufolge auch jedes denkende – also auch das cartesische, mit dem Großen Zweifel beschäftigte – Subjekt gerade keine Substanz, sondern Modus der einen Substanz. Dass sich das cartesisch zweifelnde Subjekt als Substanz im Sinne von (S3) begreift, wurde soeben erläutert. Es ist geradezu die Pointe der besonderen Einsicht in die eigene Existenz, die Descartes vorführt, dass sie nicht nur auf die Vertrautheit mit den eigenen Gedanken, sondern auch auf deren Hinreichen für eine Qualifikation als Substanz im Sinne von (S3) zielt. Denn jeder Gedanke, an dem das ego cogito, ego sum exemplifiziert werden soll, kann nur dann dafür tauglich sein, wenn er auch von eben dem Subjekt vollzogen wird, das ihn denkt. Wenigstens an derjenigen Stelle des Großen Zweifels, an der das quod corpori tribui potest, extensionem praesupponit, estque tantum modus quidam rei extensae; ut & omnia, quae in mente reperimus, sunt tantum diversi modi cogitandi.) Entscheidend für den hiesigen Kontext ist dabei, dass Descartes hier explizit darauf hinweist, dass dasjenige, »was wir im Geist antreffen« – also dasjenige, was dem zweifelnden Subjekt einen ersten Halt gibt –, nichts anderes als Modi des Geistes sind.

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zweifelnde Subjekt sich der Existenz seiner eigenen Gedanken bewusst wird, ist es nicht notwendig, dass es irgendetwas anderes als das gerade mit dem Großen Zweifel beschäftigte Subjekt gibt. Dessen Bekanntschaft mit denjenigen Gedanken, die es selbst denkt, ist völlig hinreichend, damit es sich selbst von allen anderen möglichen Dingen unterscheiden kann – und um es damit als Substanz im Sinne von (S3) zu qualifizieren. Indem es aufgrund der Existenz dieser Gedanken auf sich als denkendes Ding schließt, versteht es sich aber auch zugleich als Fürsichbestehendes, also als Substanz im Sinne von (S2). Denn es versteht sich selbst als dasjenige, dessen Zustände nichts anderes als Gedanken sind – oder anders: dem nichts anderes als Gedanken inhärieren. Dass die Cartesianerin bei Spinozas Beweis für Lehrsatz 5 in einige Irritation gerät, ist also alles andere als verwunderlich. Denn während für Spinoza die Modi einer Substanz irrelevant für die sukzessive Explikation des Wesens einer Substanz sind, kommt bei Descartes’ Großem Zweifel alles darauf an, dass das zweifelnde Subjekt die Existenz seiner jeweils vollzogenen Gedanken als unbezweifelbar erkennt und insofern die Existenz eines denkenden Dings ›bemerkt‹, dem diese als Modi inhärieren. Indem das zweifelnde Subjekt sich hier Descartes zufolge als real unterschieden von allen anderen Dingen begreift (Descartes’ Version von (S3)), erkennt es sich zugleich als Fürsichbestehendes (im Sinne von (S2)), sodass auch für Descartes (S2) und (S3) als zwei Seiten derselben Medaille angesehen werden dürfen. Was ist aber mit (S1)? Schließlich scheint es nach der vorangegangenen Interpretation so zu sein, als würde Descartes wenigstens implizit behaupten, dass sich das zweifelnde Subjekt auch als ein Ding begreifen könne, das keines anderen bedarf, um zu existieren. Immerhin begreift das zweifelnde Subjekt an der hier relevanten Stelle des Großen Zweifels nicht nur sein Wesen (natura) als denkendes Ding, sondern erkennt auch, dass es existiert. Und diese Erkenntnis hängt dem Bisherigen zufolge von nichts anderem ab als vom Bemerken der Zustände des denkenden Dings, als das sich das zweifelnde Ding hier begreift. Und tatsächlich spielt Descartes in den Meditationen eine Weile mit dem Gedanken, dass das zweifelnde Subjekt selbst der alleinige »Urheber« (auctor) seiner Gedanken ist. 63 Allerdings findet auch dieses Spiel im Gang der Meditationen rasch seine Grenze: Es scheitert an dem Gedanken, der ein vollkommenstes Wesen als Gehalt hat und als dessen Ursache sich das

63 Vgl. Med. III.10 (AT VI, 39) und bes. III.17–21 (AT VI, 42–45). Descartes spielt nicht nur bis weit in die dritte Meditation hinein mit diesem Gedanken. Er ist sogar entscheidend für seinen dort vorgestellten Gottesbeweis.

Ein konsequenter Cartesianer?

zweifelnde Subjekt Descartes zufolge nicht begreifen kann. 64 Während Descartes in den Prinzipien die Substanzdefinition im Sinne von (S1) erst nach seiner Darstellung des Großen Zweifels und zudem scheinbar unvermittelt einführt 65, erklärt er am Ende der dritten Meditation vergleichsweise ausführlich, dass sich das zweifelnde Subjekt trotz seines Fürsichbestehens als abhängig von der göttlichen Substanz begreifen muss. 66 Allein Gott kann als selbständige Substanz im Sinne von (S1) verstanden werden – was allerdings der zuvor erreichten Einsicht in das Fürsichbestehen und die Begreiflichkeit der eigenen Substanzialität des zweifelnden Subjekts in keiner Weise Abbruch tut. Das zweifelnde Subjekt ist als endliches Ding zwar abhängig von Gott, als denkendes Ding aber real von ihm unterschieden. Wie bei Spinoza lässt sich also auch bei Descartes eine Art Weg von (S2/3) zu (S1) rekonstruieren. Dieser hat aber nicht lediglich die Form eines mehr oder weniger komplexen Schlusses. Er ist vielmehr eine erkenntnistheoretische Untersuchung, bei deren sukzessiver Entfaltung die Bedingungen für die Existenz einer Substanz im Sinne von (S2/3) in einem konkreten Fall als erfüllt angesehen werden und erst danach auf die Existenz einer Substanz im Sinne von (S1) geschlossen wird. Während Spinoza aufgrund allgemeiner Überlegungen zu dem Schluss kommt, dass jede Substanz im Sinne von (S2/3) eine Substanz im Sinne von (S1) sein muss, und erst danach auf die Existenz einer solchen Substanz schließt, bemüht sich Descartes darum, zuerst einmal die Existenz und das Wesen einer Substanz im Sinne von (S2/3) an einem konkreten Fall aufzuzeigen, um von da aus Klarheit darüber zu gewinnen, welche Substanzen es noch geben mag. Damit zeigt sich ein ganz uncartesianischer Zug an Spinozas Philosophieren, der oben anhand von Lehrsatz 5 des ersten Teils der Ethik bereits in den Blick kam: Während für Spinozas Vorgehen die Modi einer Substanz irrelevant sind, um etwas über Wesen und Existenz der Substanz erkennen zu können, bilden im Rahmen von Descartes’ Vorgehen die Modi einer Substanz gerade den epistemischen Zugang zu Wesen und Existenz der denkenden Substanz. Diesem erkenntnistheoretischen Zug der cartesischen Philosophie schenkt Spinoza wenig Beachtung. In seiner spekulativen Begründung der cartesischen Substanzdefinition (S1) ist er also alles andere als ein Cartesianer.

64 65 66

Vgl. Med. III.22 (AT VI, 45). Vgl. nochmals PP I 51 (AT VIII/1, 24). Vgl. Med. III.31–32 (AT VI, 48 f.).

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4. ›Konsequenz‹ als Kategorie der Philosophiegeschichtsschreibung

Nach den vorangegangenen Überlegungen muss Spinoza in einer Hinsicht als konsequenter Cartesianer, in anderer Hinsicht dagegen als ganz uncartesianischer Denker eingeschätzt werden. Beide Hinsichten betreffen nicht etwa unwesentliche Details des spinozanischen Philosophierens, sondern den Anfang seiner systematischen Darstellung der die weiteren Systemteile tragenden Ontologie und damit auch sein grundsätzliches Philosophieverständnis. Wie gesehen ist Spinoza ein konsequenter Cartesianer insofern, als er für die Substanzdefinition im Sinne von (S1) eine ausführliche Begründung gibt – was Descartes selbst nicht getan hat. Ganz uncartesianisch und insofern als inkonsequenter Cartesianer verfährt Spinoza, indem seine Begründung allein spekulativen Charakters ist. Die erkenntnistheoretische Dimension, die für Descartes’ Etablierung seiner Ontologie entscheidend ist und bis heute fasziniert, wird von Spinoza zugunsten einer spekulativen Begründung des cartesischen Substanzbegriffs und seines konsequenten Ausbuchstabierens schlichtweg übergangen. Dieser Befund kann als durchaus aufschlussreich für ein reflektiertes Verständnis von Philosophiegeschichtsschreibung angesehen werden. Denn an ihm kann die hegelianische Sichtweise auf die Geschichte der Philosophie als Fortschrittsgeschichte zuerst einmal relativiert werden. Setzt man nicht voraus, dass eine spekulative Begründung per se die bessere philosophische Art zu philosophieren ist, sondern bleibt in diesem Punkt – wenigstens vorläufig – unentschieden, erlaubt der erarbeitete Befund eine differenzierte Ansicht über die Substanzkonzeptionen Descartes’ und Spinozas. Beide teilen offenkundig das Verständnis von Substanz im Sinne von (S1), tun dies aber in ganz verschiedener Weise. Zwar gehen beide von einem traditionellen Verständnis von Substanz im Sinne von (S2) bzw. (S3) aus und kommen im Anschluss daran (auch) auf ein Verständnis von Substanz im Sinne von (S1). Allerdings sind die Wege dorthin grundsätzlich verschieden. Während Spinoza versucht, (S1) mittels ganz allgemeiner Überlegungen als Konsequenz des geläufigen Substanzverständnisses zu entlarven, versucht Descartes, Wesen und Existenz von Substanz im Sinne von (S2) bzw. (S3) mittels erkenntnistheoretischer Überlegungen aufzuzeigen, und bringt erst im Anschluss durch zusätzliche Argumente eine Substanz im Sinne von (S1) ins Spiel. Plakativ gesprochen zeichnet der anhand der Frage nach einem konsequenten Cartesianismus erarbeitete Befund Spinoza im scharfen Kontrast zu Descartes als spekulativen Philosophen aus. Wie auch immer man dies in der Sache bewerten mag, ist die Frage nach Spinozas Konsequenz in puncto Substanz also durchaus hilfreich. Denn sie

Ein konsequenter Cartesianer?

hilft nicht nur, eine Gemeinsamkeit zwischen Descartes und Spinoza in Sachen Substanzdefinition, sondern vor allem auch Unterschiede bei deren Begründung sowie bei ihrer Verortung im jeweiligen Philosophieren herauszustellen. Damit hat sich am hier gewählten Beispiel die Rede von der Konsequenz bzw. Inkonsequenz zumindest als ein nützliches Analysemittel für die Philosophiegeschichtsschreibung bewährt. Ob sie auch eine kontrollierte Einschätzung hinsichtlich philosophischer Fort- bzw. Rückschritte erlaubt, hängt freilich davon ab, wie die als konsequent bzw. inkonsequent erkannte Sache hinsichtlich ihrer Stichhaltigkeit eingeschätzt wird. Denn der Nachweis einer außerordentlichen Konsequenz garantiert offenkundig noch nicht die Wahrheit der so gewonnenen Erkenntnisse – und damit auch keine Einsicht in einen eventuellen Fortschritt innerhalb der Philosophiegeschichte. Entsprechend ist es auch ratsam für alle, die sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftigen, möglichst klar zwischen dem Ringen um ein besseres Verständnis der historischen Texte und der Affirmation ihrer Gehalte zu unterscheiden. So wie man etwa als Kant-Forscherin die Konsequenz der kantischen Überlegungen mit Blick auf die Charakterisierung von Tieren als Sachen anerkennen und zugleich selbst ganz unkantianisch in Tieren vielleicht mehr als bloße Sachen sehen mag, 67 so darf man auch als Philosophiehistorikerin die Konsequenz der spinozanischen Spekulation am Anfang der Ethik durchaus als ein Glanzstück im Umgang mit dem Problem des Anfangs der Philosophie anerkennen und zugleich selbst davon überzeugt sein, dass ein solches Vorgehen in der Sache haltlos ist und durch eines cartesianischer Art ersetzt werden muss. Und so wie der dritte Abschnitt von Kants Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten für eine Kantianerin nicht von Interesse sein muss, da er noch eine spekulative Begründung der Sittlichkeit enthält, 68 so kann auch eine Cartesianerin über Spinozas spekulative Begründung der cartesischen Substanzkonzeption hinweggehen. Für beides ist aber die Arbeit mit den jeweiligen philosophischen Texten unabdingbar.

67 Vgl. zu diesem Beispiel etwa Bernd Ludwig: »Die ›consequente Denkungsart der speculativen Kritik‹. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 595–628: S. 625. 68 Vgl. Bernd Ludwig: »Kants Bruch mit der schulphilosophischen Freiheitslehre im Jahre 1786 und die ›Consequente Denkungsart der speculativen Critik‹«, in: Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca und Margit Ruffing (Hgg.): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin 2013, Bd. 3, S. 371–384: S. 384.

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Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft 1. Einleitung

Bernd Ludwig hat in einer Reihe von Arbeiten detailliert und überzeugend erklärt, wie und vor allem warum Kant seine argumentative Strategie in Bezug auf eine zentrale Annahme der kritischen praktischen Philosophie zwischen 1785 – dem Erscheinungsjahr der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – und 1788 – dem Erscheinungsjahr der Kritik der praktischen Vernunft – geändert hat. 1 Die Annahme, um die es geht, ist die der »transzendentalen« oder, wie Kant auch sagt, »absoluten« Freiheit, deren Möglichkeit – nicht aber Wirklichkeit, geschweige denn Erkennbarkeit – er schon in der Kritik der reinen Vernunft verteidigt hatte. Die Änderung betrifft Kants Antwort auf die Frage, warum wir uns für frei in diesem anspruchsvollsten Sinn des Wortes halten sollten. Freiheit im »transzendentalen« oder »absoluten« Sinn steht für Kant durchweg im Gegensatz – wenn auch nicht im Widerspruch – zum »Mechanismus« der Natur, der sich durch eine gesetzmäßige Abfolge von Ursachen und Wirkungen in der Zeit manifestiert. Kausalität aus Freiheit setzt dagegen »Spontaneität« voraus. 2 Freiheit in diesem Sinn ist Kant zufolge »absolute

1 Für diesen Beitrag stütze ich mich besonders auf die detaillierten Analysen in Bernd Ludwig: »Die ›consequente Denkungsart der speculativen Kritik‹. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für Kritische Philosophie als Ganze«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 595–628. Tatsächlich war der relevante Zeitraum kürzer, als die Jahreszahlen 1785 und 1788 in den Titeleien der Bücher selbst vermuten lassen. Die Grundlegung erschien im April 1785. Die zweite Kritik war schon Mitte 1787 druckreif abgeschlossen. Der neue Ansatz kündigt sich jedoch bereits in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft an, die im Frühjahr 1787 erschien. Bernd Ludwig datiert einen entscheidenden Impuls für Kant auf das Frühjahr 1786, sodass Kants Theorie vermutlich zwischen Mitte 1786 und Anfang 1787 ihre bleibende Gestalt annahm. Ich komme in Abschnitt 4 darauf zurück. 2 KrV, B 474–5, 561. Ich zitiere den Text der Kritik der reinen Vernunft nach der Ausgabe von Raymund Schmidt, Hamburg 1990, den Text der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nach der Ausgabe von Bernd Kraft und Dieter Schönecker, Hamburg 1999, und den der

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

Selbsttätigkeit«, ein »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen«. 3 Im Gegensatz zu jeder »psychologischen« oder »komparativen« Freiheit, die immer noch ein Teil der Kette von naturnotwendigen Ursachen und Wirkungen ist, sieht Kant die transzendentale Freiheit als »Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen«. 4 Wichtig ist, dass einer freien Handlung »nichts vorhergeht, wodurch diese geschehende Handlung nach beständigen Gesetzen bestimmt sei«, weil die Freiheit selbst sonst nur Naturnotwendigkeit sein würde. 5 Schon in der Kritik der reinen Vernunft verknüpft Kant die »transzendentale« Freiheit mit der »Freiheit im praktischen Verstande«, die ein »Können« darstellt, das mit einem »Sollen« in begrifflicher Verbindung steht. 6 Kant beschreibt die Freiheit hier als ein Vermögen, »sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen«, und er weist an dieser Stelle darauf hin, dass Sollen Können impliziert: Man sieht leicht, daß, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, sofern sie die Willkür bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten, so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen. Denn diese setzt voraus, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen. 7

Zumindest implizit gibt Kant hier zu verstehen, dass er Freiheit »im praktischen Verstande« und, im Zusammenhang mit ihr, offenbar auch die »transzendentale« Freiheit für gegeben hält. So verstanden ist die Freiheit allerdings nach Kants Verständnis eine »reine transzendentale Idee«, was unter anderem bedeutet, dass ihr keine Erfahrung je entsprechen kann. 8 Es bedeutet auch, dass Freiheit, so verstanden, für uns zunächst unerkennbar bleiben muss: Freiheit ist kein Gegenstand der mögKritik der praktischen Vernunft nach der Ausgabe von Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme, Hamburg 2003. 3 KrV, B 446, 561. 4 KpV, AA 05: 96–7; B 473. 5 KrV, B 473, 560–1. 6 KrV, B 561–2. 7 KrV, B 562. 8 KrV, B 561.

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lichen Erfahrung, und eine nur auf die Vernunft gegründete Erkenntnis eines Gegenstands, der nicht auch ein Gegenstand der möglichen Erfahrung wäre, gibt es Kant zufolge nicht. 9 Möglich und sogar vereinbar mit dem Mechanismus der Naturnotwendigkeit ist die Freiheit aber Kant zufolge dann, wenn man seine Unterscheidung zwischen der »Erscheinung« und dem »Ding an sich«, dem »homo phaenomenon« und dem »homo noumenon«, der »Sinnenwelt« und der »Verstandeswelt«, kurz: die Lehre des transzendentalen Idealismus der kritischen Philosophie, akzeptiert. Diese Lehre wirft für sich genommen viele Fragen auf. Doch selbst dann, wenn man sie akzeptiert, tut sich ein Problem für die Frage der Moralbegründung auf, das Kant klar gesehen hat. Es ergibt sich aus den folgenden Annahmen, die Kant gleichsam vor dem Hintergrund der ersten Kritik und Abschnitt 1 und 2 der Grundlegung zusammenführt: (1) Wir wissen nicht, ob wir frei sind, weil auch die Lehre des transzendentalen Idealismus nur die Möglichkeit der Freiheit im Sinn der Spontaneität und ihre Vereinbarkeit mit der Naturnotwendigkeit sicherstellen kann. (2) Moralische Verpflichtung setzt Freiheit im Sinn der Spontaneität voraus. (3) Ein freier Wille gibt sich selbst das moralische Gesetz, ohne dabei fremdbestimmt zu sein, und ein vollkommen guter Wille würde von selbst danach handeln. (4) Wir wissen, dass der Wille, den wir haben, nicht vollkommen gut ist, was bedeutet, dass uns das moralische Gesetz Pflichten auferlegt, wenn wir einen freien Willen haben. Das Problem liegt auf der Hand: (5) Solange wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass wir frei sind, haben wir auch keinen Grund zu der Annahme, dass wir uns selbst moralische Gesetze geben. Und: (6) Solange wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass wir frei sind, haben wir auch keinen Grund zu der Annahme, dass moralische Gesetze für uns als Quelle irgendeiner Pflicht oder Verbindlichkeit anzusehen sind. Will man also eine Antwort auf die Frage finden, ob es wirklich solche Pflichten und Verbindlichkeiten gibt, dann kann man nicht bloß darauf verweisen, dass Freiheit im dabei vorausgesetzten Sinn zumindest theoretisch möglich ist. (7) Die Möglichkeit der Freiheit mag die Möglichkeit moralischer Verpflichtung sicherstellen, aber das reicht nicht für die Behauptung aus, dass moralische Verpflichtung keine Illusion ist. (8) Es reicht insbesondere nicht für die Behauptung aus, dass wir uns zu Recht als Wesen verstehen, für die das moralische Gesetz verbindlich ist und uns in Gestalt von kategorischen Imperativen Handlungsanweisungen gibt, die wir als gültig anerkennen sollten. Hier teilen sich die Wege, die Kant in Abschnitt III der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft einschlägt, um auf dieses Problem zu rea9

Vgl. GMS, AA 04: 458–9; KpV, AA 05: 136.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

gieren. Beiden Schriften ist gemeinsam, dass sie die »transzendentale« Freiheit als Bedingung des moralischen Gesetzes, der Autonomie, und damit der moralischen Verpflichtung durch das moralische Gesetz verstehen. Beide Schriften zielen zudem darauf ab, Gründe aufzuzeigen, die es uns erlauben, uns in diesem Sinn für frei zu halten. Es gibt jedoch einen klaren Unterschied im Argumentationsgang, der zu diesen Gründen führen soll. Während in Abschnitt III der Grundlegung die Annahme, dass wir vernünftig sind, verbürgen soll, dass wir uns im relevanten Sinn als frei und deshalb auch zu Recht als Urheber des moralischen Gesetzes sehen, dem wir unterworfen sind, fehlt ein Argument von dieser Art in der Kritik der praktischen Vernunft. Diese führt vielmehr ein Lehrstück ein, das als »Faktum der Vernunft« bekannt geworden ist. Jetzt soll das Bewusstsein der Verpflichtung durch das moralische Gesetz selbst den Rückschluss auf die Annahme der Freiheit möglich machen, gerade weil die Freiheit als Bedingung der Verpflichtung durch das moralische Gesetz anzusehen ist. Wenn wir nun wissen, dass moralische Verpflichtung wirklich ist, dann wissen wir damit auch, dass die Bedingungen moralischer Verpflichtung erfüllt sein müssen, die Bedingungen also in diesem Sinn mit dem durch sie Bedingten selbst gegeben sind. Wenn die Annahme der »transzendentalen« oder »absoluten« Freiheit nun zu diesen Bedingungen gehört, dann wissen wir aufgrund des »Faktums« der Vernunft, das im Bewusstsein der Verpflichtung durch das moralische Gesetz besteht, dass wir uns zumindest in Bezug auf Fragen der moralischen Verpflichtung als frei ansehen müssen, auch wenn Freiheit selbst für uns völlig »unbegreiflich« bleibt. 10 Auch diese Argumentation wirft viele Fragen auf, und sie wurde und wird weiter lebhaft diskutiert. In diesem Beitrag möchte ich keine detaillierten Analysen der Argumentation gegenüber anderen verteidigen oder neue Lesarten zentraler Annahmen entwickeln, um Kant besser gegen alte oder neue Einwände zu schützen. Umgekehrt bin ich nicht daran interessiert, neue, originelle Einwände gegen Kant geltend zu machen, die bisher übersehen worden sind. Mich irritiert, dass viele Kantianer insgesamt zu wenig kritisch mit Kants Argumentation umgehen, wenn sie Fragen der Glaubwürdigkeit der Konzeption nicht von vornherein vermeiden. Das zeigt sich auch daran, dass bei allen Vorbehalten gegenüber der Argumentation in Grundlegung III nicht selten auf das »Faktum der Vernunft« verwiesen wird, als wäre es ein Faktum und als würde all das folgen, was sich Kant davon verspricht. Davon kann aus meiner Sicht keine Rede sein.

10

KpV, AA 05: 7.

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Ich möchte im Folgenden eine Lesart von Kants Argumentation textnah rekonstruieren, sie als Argumentation bewerten und dabei der Kritik aussetzen. Diese Kritik soll deutlich machen, wie anspruchsvoll die Annahmen sind, die man machen muss, um dieser Argumentation zu folgen. Das Ziel der Überlegungen ist keine Widerlegung, noch weniger ein Gegenentwurf zu Kants Theorie. Wenn der eine oder andere aus dem »dogmatischen Schlummer« erwacht, ist schon viel gewonnen, und dann lassen sich die sachlich interessanten Fragen weiter diskutieren. 11 Man könnte diesen Beitrag der traditionsreichen Rubrik »mit Kant, gegen Kant, über Kant hinaus« zuordnen. Was mich davon abhält, ist die Überlegung, dass es sich am Ende um so wenig »mit Kant« und um so viel »gegen Kant« und »über Kant hinaus« handeln dürfte, dass die Beschreibung nicht mehr passend wirkt. Dennoch möchte ich in diesem Beitrag nicht zuletzt diejenigen Seiten von Kants Argumentation betonen, die seine Zurückhaltung und Vorsicht deutlich machen. Wie sich zeigt, hat Kant selbst die Tragweite und die Schwierigkeit der Theorie, die er uns präsentiert, nicht unterschätzt, sondern immer wieder selbst hervorgehoben. Das sollten sich besonders die zu Herzen nehmen, die sich so auf Kant und das Moralgesetz, die Freiheit und das sogenannte Faktum der Vernunft berufen, als gäbe es hier keine Fragen mehr. Mein Beitrag gliedert sich wie folgt. In einem ersten Schritt geht es um einen Überblick der Ausgangslage zu Beginn von Grundlegung III (2.), um vor diesem Hintergrund Kants Begründung für die Annahme der Freiheit in Grundlegung III zu rekonstruieren (3.). Danach wende ich mich den Einwänden zu, die Kant dazu veranlasst haben dürften, seine Strategie zu ändern (4.). Die neue Strategie verspricht, den Einwänden gegen seine Argumentation in Grundlegung III zunächst zu entgehen (5.). Doch sie ist ihrerseits schwerwiegenden Vorbehalten ausgesetzt. Auf ihr lasten zahlreiche Hypotheken, die nicht nur Kants Moralprinzip, den Gedanken der Autonomie, Kants Konzeption der praktischen Vernunft, der Kausalität und seine Lehre des transzendentalen Idealismus, sondern auch die Konzeption von Freiheit als »Spontaneität« betreffen (6.). Es zeichnet sich ab, dass auch vor dem Hintergrund von Kants System aus dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes kein direktes oder indirektes Argument zugunsten einer Annahme der Freiheit hergeleitet werden kann (7.). Wer etwas von Kants Konzeption aufrechterhalten will, sollte dies als hermeneutische und als holistische Aufgabe verstehen, die sich Vgl. AA 04: 260. Es gibt selbstverständlich viele Kritiker, die Kant wohlgesonnen sind, aber die Lehre vom »Faktum« verwerfen. Ich möchte diese Lehre unter dem Gesichtspunkt untersuchen, dass Kant sie als Argument für die Annahme der Freiheit ansieht. Mir scheint, dass es sich lohnt, sie als ein solches Argument zu würdigen und zu überprüfen. 11

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

nicht auf ein »Faktum« des moralischen Gesetzes oder der moralischen Verpflichtung stützen kann (8.).

2. Was soll die Grundlegung leisten?

Beginnen wir mit Kants Beschreibung dessen, was die Grundlegung erreichen soll. In der »Vorrede« formuliert Kant ein doppeltes, zugleich bescheidenes und anspruchsvolles Ziel: »Gegenwärtige Grundlegung ist aber nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität, welche allein ein in seiner Absicht ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäft ausmacht«. 12 Wir haben es also mit einem Text zu tun, der von Beginn an unterstellt, dass es (1) ein (2) oberstes (3) Moralprinzip gibt. Kant erwartet, dass die Suche danach nicht ins Leere läuft, und er kündigt an, dass er das Moralprinzip, um das es geht, erstens »aufsuchen« und zweitens »festsetzen« will. »Aufsuchen« wird hier die Bedeutung haben: »Identifizieren, formulieren, klären, auf den Begriff, zur deutlichen Darstellung bringen«. Es geht also zunächst darum, dasjenige Moralprinzip zu finden, das man zu Recht als das »oberste« ansehen kann. Bescheiden ist das Ziel der Grundlegung insofern, als darin nicht »das ganze System« einer Metaphysik der Sitten im ersten Umriss skizziert werden soll. 13 Anspruchsvoll ist es gleichwohl, weil es sich nicht von selbst versteht, dass es überhaupt ein »oberstes Prinzip der Moralität« gibt. Warum gibt es nicht viele? Sind Prinzipien überhaupt die richtige Kategorie, um die Struktur der Moral richtig zu erfassen? Ist Kants Formulierung des Prinzips sachlich überzeugend? Die Grundlegung kommt nur dann an ihr Ziel, wenn es ihr gelingt, das vorgeschlagene Prinzip, den kategorischen Imperativ in seinen diversen Formeln, als dieses »oberste Prinzip der Moralität« auszuweisen, was Kant in Grundlegung I und II ganz offensichtlich in der gebotenen Kürze zu zeigen versucht. Wie bescheiden oder anspruchsvoll das Ziel der Grundlegung ist, hängt aber vor allem davon ab, was mit der Rede von der »Festsetzung« des obersten Moralprinzips gemeint ist, wenn wir einmal zugestehen, dass es überhaupt ein Prinzip von dieser Art gibt. Angenommen, wir hätten das oberste Moralprinzip gefunden, deutlich dargestellt, auf den Begriff gebracht – was genau hätten wir dann noch zu tun, um es auch »festzusetzen«? Sicherlich meint Kant hier nicht, dass man dieses Prinzip von einem anderen, fundamen12 13

GMS, AA 04: 392. Ebd.

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taleren ableiten oder anderweitig argumentativ beweisen könnte. Er scheint aber auch nicht einfach das zu wiederholen, was die Rede von der »Aufsuchung« bereits enthält. Was könnte dann gemeint sein, wenn Kant von »Festsetzung« spricht? Es liegt nahe zu vermuten, dass Kant daran denkt, dass das gesuchte oberste Moralprinzip als Moralprinzip ausgewiesen werden muss – das heißt, dass es als ein Prinzip ausgewiesen werden muss, das uns tatsächlich Pflichten auferlegt, das für uns gilt, für uns verbindlich ist. Doch das ist nicht alles. Als Moralprinzip besitzt es eine besondere Autorität. Kant ist sogar der Auffassung, dass wir dem Moralprinzip zu Recht die höchste Autorität über unser Handeln einräumen, selbst wenn es größte Opfer in Bezug auf unser Glück verlangt. All das liegt Kant zufolge im hier relevanten Sinn schon im Begriff des Moralprinzips. Und auch das ist noch nicht alles. Kant zufolge liegt es sogar im Begriff der »Pflicht und der sittlichen Gesetze«, dass ein Moralprinzip für alle vernünftigen Wesen gelten muss: Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten; und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft […]. 14

Schon zu Beginn der Grundlegung macht Kant also klar, dass die Quelle der Verbindlichkeit, die das oberste Moralprinzip besitzt, nur in der Vernunft gefunden werden kann – doch das stellt offensichtlich noch nicht sicher, dass die Quelle der Verbindlichkeit tatsächlich dort gefunden werden kann. Denn bisher wurde nur gesagt: Wenn es ein moralisches Gesetz – und mit ihm moralische Verbindlichkeit – gibt, dann gründet das Gesetz a priori in Begriffen der Vernunft. Ob es ein moralisches Gesetz gibt, ist noch offen – denn das, was sich zunächst als Kandidat für das gesuchte oberste Moralprinzip »auffinden« lässt, könnte sich bei näherer und kritischer Betrachtung doch als Illusion, als Anmaßung erweisen, sodass es in Wirklichkeit gar keine Quelle der moralischen Verpflichtung ist. Vielleicht kann es so etwas wie moralische Verpflichtung gar nicht geben, weil begriffliche Bedingungen dafür nicht erfüllt

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GMS, AA 04: 389.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

sind oder nicht erfüllt sein können, auch wenn das nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Das ist wohl die Art von Zweifel, die Kant vor Augen hat, und mir scheint die Rede von der »Festsetzung« des obersten Moralprinzips darauf abzuzielen, diese Art von Zweifel wirksam auszuräumen. Auf das, was »festgesetzt« ist, kann man sich verlassen – es gilt, es hält, man kann seinen Hut daran hängen. Der Ausdruck weist somit auf das Argumentationsziel hin, das Kant in Grundlegung III zu verfolgen scheint, und er spricht am Ende von Grundlegung II tatsächlich nicht nur davon, dass der Gedanke der moralischen Verpflichtung »eine chimärische Idee ohne Wahrheit«, »ein Hirngespinst«, sein könnte, sondern zielt mit diesen Ausdrücken auf Fragen der »Gültigkeit« und »praktischen Notwendigkeit«, sich dem moralischen Gesetz zu »unterwerfen«, die in Grundlegung III leitend sind. 15 Bescheiden ist das Ziel der Grundlegung also zunächst auch insofern, als Kant nicht versucht, das Moralprinzip in einem substantiellen Sinn zu begründen, aus anderen Prinzipien herzuleiten, oder anderweitig zu beweisen. Anspruchsvoll ist es insofern, als gezeigt werden muss, dass »reine Vernunft« tatsächlich eine Quelle »sittlicher Gesetze« und moralischer Verpflichtung darstellt. Wie anspruchsvoll dieses Ziel nun ist, hängt entscheidend davon ab, wie man sittliche Gesetze und moralische Verpflichtung selbst versteht. Was genau muss noch geleistet werden, um Zweifel daran auszuräumen, dass es sittliche Gesetze und moralische Verpflichtung gibt und dass das oberste moralische Prinzip diese angemessen darstellt? Mit Grundlegung II endet der Teil der Argumentation, den Kant im weiteren Sinn für »analytisch« hält, mit dem Begriff der Autonomie und dessen Verbindung zum Begriff der »Sittlichkeit«. 16 Die entscheidende begriffliche Verknüpfung betrifft die Formeln des kategorischen Imperativs und den Gedanken der Selbstgesetzgebung, das heißt der »Autonomie« im Gegensatz zur »Heteronomie«. Wie Kant deutlich sagt, wird damit allerdings noch nicht gezeigt, dass jedes vernünftige Wesen sich ein solches Gesetz geben müsse: Wir zeigten nur durch Entwicklung des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit: daß eine Autonomie des Willens demselben unver15 GMS, AA 04: 445, 449. Vgl. GMS, AA 04: 402, wo Kant ebenfalls die Möglichkeit erwähnt, dass Pflicht ein »leerer Wahn« und »eine chimärische Idee« sein könnte, aber diese Möglichkeit eher im Sinn der inhaltlichen Skepsis versteht und ihr seine Formulierung des kategorischen Imperativs gegenüberstellt. In Grundlegung I geht es darum, dass nur diese Formel eine Pflicht verständlich machen kann, die allgemein und unabhängig von allen beliebigen Beweggründen gilt. In Grundlegung III geht es darum, dass auch diese Formel erst als Quelle von Verbindlichkeiten, Pflichten, ausgewiesen werden muss. 16 GMS, AA 04: 444–5.

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meidlicherweise anhänge oder vielmehr zum Grunde liege. Wer also Sittlichkeit für Etwas und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Prinzip derselben zugleich einräumen. 17

Noch ist aber offen, ob Sittlichkeit »etwas«, das heißt keine »chimärische Idee ohne Wahrheit« ist. Entsprechend ist auch offen, ob Autonomie des Willens und ihre Formel wirklich ein Grund der moralischen Verpflichtung ist. Es geht um die substantielle Frage, ob der »kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr, und als ein Prinzip a priori schlechterdings notwendig ist«, weil erst daraus folgen würde, dass »Sittlichkeit kein Hirngespinst« ist. 18

3. Die Strategie in Grundlegung III

An diesem Ort der Argumentation zieht Kant den Begriff der Freiheit heran, um eine Brücke zwischen dem Begriff des Willens und dem Moralgesetz zu schlagen. Dieser hatte in der Grundlegung zuvor kaum eine Rolle gespielt. Jetzt wird er zur tragenden Säule der »Deduktion« in Grundlegung III. Die Argumentation in den entscheidenden Passagen ist notorisch undurchsichtig, und ich werde nicht versuchen, sie hier im Detail nachzuzeichnen. Wichtig für die Zwecke dieser Untersuchung ist die Frage, warum der Appell an Freiheit für Kant argumentativ so wichtig ist, und wie die Annahme, dass wir tatsächlich frei sind, uns in Freiheit ein Gesetz selbst geben, dem wir »unterworfen« sind, verteidigt werden soll. Ein erster Schritt soll zeigen, dass ein freier Wille sich selbst ein Gesetz geben muss, und das Argument zugunsten dieser These scheint darauf zu verweisen, dass ohne Gesetze keine Kausalität möglich ist. Die Gesetzmäßigkeit der Naturursachen scheidet aus, weil es sich ex hypothesi um einen freien Willen handelt. Haben wir es dennoch mit Kausalität, eben Kausalität »aus Freiheit«, zu tun, so muss ein anderes Gesetz herangezogen werden, das die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung erklärt, und Kant identifiziert die Selbstgesetzgebung des Willens als dasjenige, was die »wirkende Ursache zur Kausalität« bestimmt. So fragt er rhetorisch: »was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?« 19 Die Selbstgesetzgebung ist aber laut Grundlegung II analytisch mit dem Moralgesetz verbunden. So folgert Kant, dass der 17 18 19

GMS, AA 04: 445. GMS, AA 04: 445. GMS, AA 04: 446–7.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

freie Wille sich durch das Moralgesetz zum Handeln bestimmt. Er schließt: »Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs«. 20 Das ist eine zentrale These für Kants kritische praktische Philosophie. Um es vorwegzunehmen: Dieses Argument scheint aussichtslos zu sein. Es wechselt von der Ebene der Kausalität, die Kant grob gesagt als gesetzmäßigen Zusammenhang bestimmter Veränderungen versteht, auf eine Ebene, die Gesetze in einem ganz anderen Sinn betrifft. Bei der Selbstgesetzgebung im Sinn der Autonomie geht es um Gesetze, die Form und Gehalt eines Wollens betreffen, einen vollkommen guten Willen auszeichnen und durch einen Imperativ ausgedrückt werden sollen. Sie taugen damit sicher nicht für die Erklärung der Gesetzmäßigkeit einer irgendwie beschaffenen Kausalverknüpfung. Das kann man auch so verdeutlichen: Wenn jemand logisch richtig schließt, gibt es dafür bestimmte Ursachen. Es handelt sich um Ursachen, durch deren Wirkungen sich der gegebene richtige logische Schluss manifestiert. Die Richtigkeit des Schlusses selbst ist etwas, das sich an logischen Normen, Gesetzen des richtigen logischen Schließens, bemisst. Aber die logischen Gesetze, die für den Schluss gelten, sind nicht selbst dessen Ursachen und könnten es aufgrund ihrer grammatischen Form auch gar nicht sein. Logische Gesetze, Maßstäbe der Richtigkeit des Schließens, haben mit den Ursachen des logisch richtigen Schließens auf der Ebene von Ursachen und Wirkungen nichts weiter zu tun. Es sind zwei völlig verschiedene Fragen, was einen logisch richtigen Schluss zu einem solchen macht und was in einem gegebenen Fall die Ursachen eines logisch richtigen Schlusses sind – und das gilt selbst dann, wenn man zugesteht, dass beide Fragen in die Richtung von Gesetzen weisen. Die Art und Weise, wie Gesetze hier etwas erklären können, ist grundsätzlich verschieden, und das gilt auch für »Gesetze« des Willens und für »Gesetze« der Kausalität, die das Handeln erklären. Abgesehen davon ist nicht klar, dass ein Gesetz, das den Willen kausal zur Tätigkeit bestimmte, das Moralgesetz sein müsste. Warum käme dafür nicht ein anderes in Frage? Ein überzeugendes Argument fehlt. Für Kant ist dieser Schritt der Argumentation jedoch deshalb von entscheidender Bedeutung, weil er ihm erlaubt, durch die Annahme der Freiheit auch die Annahme zu begründen, um die es ihm eigentlich geht: die Annahme nämlich, dass ein freier Wille sich selbst das moralische Gesetz gibt, von dem dann zu zeigen ist, dass es für uns eine Quelle der moralischen Verpflichtung darstellt. Entsprechend verlagert sich der Schwerpunkt der Argumenta20

GMS, AA 04: 447.

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tion nach dieser Überlegung auf die Annahme der Freiheit selbst, und das ist für das richtige Verständnis der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft sehr wichtig. Die entscheidende Frage ist jetzt: Was gibt uns einen Grund dafür, uns im relevanten Sinn für frei zu halten? Was gibt uns einen Grund dafür, darüber hinaus alle vernünftigen Wesen im relevanten Sinn für frei zu halten, da auch für sie das Moralgesetz gilt? Wenn wir akzeptieren, dass moralische Gesetze für alle vernünftigen Wesen gelten, brauchen wir einen Anhaltspunkt für die Annahme, dass alle vernünftigen Wesen frei sind. Es gibt einen Zusammenhang in mehr als einer Hinsicht. Freiheit stellt zunächst eine notwendige Bedingung für das Moralgesetz dar, weil Kant das Moralgesetz als Gegensatz zu jeder Form von Fremdbestimmung, Heteronomie, versteht. Fremdbestimmung läge insbesondere dann vor, wenn der Wille selbst durch einen Kausalzusammenhang in die Natur eingebunden wäre, nur durch »äußere«, »fremde« Ursachen bestimmt werden würde. Wenn es also überhaupt ein Moralgesetz und mit ihm moralische Verpflichtung gibt, dann muss es auch »transzendentale« Freiheit geben. Nimmt man nun Kants weitere, eben erläuterte »analytische« These hinzu, dass aus dem Begriff der Freiheit des Willens »die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip« durch »bloße Zergliederung ihres Begriffs« folgt, dann stellt die Freiheit des Willens auch eine hinreichende Bedingung für moralische Gesetze dar. Wenn wir »transzendental« frei sind, dann trifft es Kant zufolge zu, dass wir uns moralische Gesetze als freie, autonome Wesen geben. Gibt es also einen Grund dafür, sich Freiheit zuzuschreiben, gibt es dieser Argumentation zufolge auch einen Grund dafür, sich selbst als ein Wesen anzusehen, dessen Wille autonom ist. Sich selbst als autonom anzusehen heißt aber so viel, wie sich als ein Wesen anzusehen, das sich selbst das moralische Gesetz gibt. Gibt es nun einen Grund dafür, das anzunehmen? Und reicht diese Annahme schon aus, um Pflichten zu begründen? Kants Antwort auf die zweite Frage lautet: »nein«, wie wir gleich sehen werden. Seine Antwort auf die erste Frage legt sich durch die Aufgabe selbst nahe, Freiheit und Vernünftigkeit in einem engen, ja notwendigen Zusammenhang zu denken. Wichtig ist auch hier, Kants Anspruch richtig zu verstehen. Seine Argumentation soll damit vereinbar sein, dass wir in Bezug auf theoretische Erkenntnis nicht wissen und nicht wissen können, ob wir tatsächlich frei sind. Wenn es um die Frage geht, aus welchem Grund wir uns selbst ebenso wie alle anderen vernünftigen Wesen für frei halten sollten, kann der Anspruch dieser Art Begründung also nicht der Anspruch theoretischer Erkenntnis sein. Verlangte man dies, verlangte man zu viel – auch wenn Kant darauf besteht, dass eine »praktische« Erkenntnisquelle zur Verfügung steht. Demgegenüber wäre es zu wenig, wenn man sich auf einen bloßen Glau-

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bensartikel berufen wollte, um die Möglichkeit moralischer Verpflichtung zu begründen. Glauben kann man vieles, während andere denselben Glauben vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen vollkommen zu Recht verwerfen. 21 So wäre nicht viel für eine Begründung der Geltung moralischer Pflichten getan, wenn diese Begründung vernünftig, allgemein einsichtig und überzeugend sein soll. Sich selbst Freiheit zuzuschreiben, weil sie die Bedingung für moralische Gesetze ist, wenn noch gar nicht klar ist, ob es überhaupt moralische Gesetze gibt, wäre offenkundig zirkulär. Wie kommt man weiter? Kant erklärt im nächsten Schritt, dass wir nicht anders als »unter der Idee der Freiheit« handeln können: Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde. 22

Leicht zu übersehen ist das »kann« in »nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann«. Es signalisiert eine Modalität, und zwar die der Notwendigkeit: Wir müssen uns als frei ansehen, wir können nicht anders als »unter der Idee der Freiheit« handeln. Doch warum sollte das so sein, zumal sich Freiheit theoretisch nicht erkennen lässt? Kants Antwort macht einen Zusammenhang ausdrücklich, der ihm zufolge zwischen den Merkmalen »Vernünftigkeit« und »Freiheit« besteht und der sich schon vorher abgezeichnet hatte. Der Grundgedanke lautet: Wer sich selbst als ein Wesen versteht, das einen Willen hat, versteht sich als ein Wesen, das praktische Vernunft besitzt, und als ein solches Wesen muss es sich als frei verstehen. 23 Kant stellt zunächst die These auf: »Nun behaupte ich, daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle«. 24 Er liefert dann das Argument, das diese These stützen soll: Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärtsher eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unab21 22 23 24

Vgl. dazu Kants Diskussion des Glaubens in der Methodenlehre der KrV, B 850–7. GMS, AA 04: 448. Vgl. GMS, AA 04: 448–9. GMS, AA 04: 448.

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hängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden. 25

Das Argument läuft darauf hinaus, dass wir die Vernunft als »Urheberin ihrer Prinzipien« ansehen müssen, woraus sich ergeben soll, dass wir sie als »unabhängig von fremden Einflüssen« ansehen müssen. Da auch eine kausale Determiniertheit oder die Abhängigkeit von einem »Antrieb« eine Fremdbestimmung darstellen würde, müssen wir die praktische Vernunft als »frei« von dieser Art von Fremdbestimmung fassen. Nur so ist Kant zufolge der Gedanke verständlich zu machen, dass der Wille eines vernünftigen Wesens der Wille dieses Wesens selbst ist. Wie Kant sagt, kann »nur unter der Idee der Freiheit« der Wille eines vernünftigen Wesens »ein eigener Wille sein«. Wäre dieser Wille kausal determiniert oder würde er durch bereits gegebene Antriebe bestimmt, wäre er fremdbestimmt und insofern kein eigener Wille. Wenn das zutrifft, dann sind praktische Vernunft und Freiheit notwendig verbunden, weil sich kein vernünftiges Wesen mit einem Willen denken ließe, das nicht in Bezug auf seine Vernunft auch als frei anzusehen wäre. Auf die Perspektive der ersten Person übertragen heißt das: Wenn ich mich selbst als vernünftiges Wesen ansehe, muss ich »unter Idee der Freiheit« handeln. Das Argument verknüpft demzufolge nicht einfach die Vernunft mit der Idee der Freiheit, sondern stützt sich auf die praktische Vernunft. Diese wird von Kant hier so bestimmt, dass sie »Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat«. Anders ausgedrückt geht es um Vernunft in ihrer praktischen Rolle als Wille, dessen Freiheit ja »in praktischer Hinsicht« begründet werden soll. Zugleich bleibt dieses Argument noch unabhängig von der besonderen, moralisch anspruchsvollen Deutung, die Kant durch den Gedanken der Autonomie ja erst begründen will. Vernunft wird hier als »reine Selbsttätigkeit«, »reine Spontaneität« zum Anhaltspunkt der Annahme der Freiheit. 26 Kant schließt also nicht unmittelbar von Autonomie auf Freiheit, sondern nur von Freiheit auf Autonomie. Praktische Vernunft soll dann den Schluss auf Freiheit möglich machen, der Autonomie »in praktischer Hinsicht«, als Annahme der Verpflichtung, etabliert. Dennoch wirft das Argument in dieser Form viele Fragen auf: (1) Warum kann der Wille nicht auch dann ein »eigener« sein, wenn er kausal determiniert oder von Antrieben abhängig ist? (2) Wie können wir ausschließen, dass 25 26

Ebd. GMS, AA 04: 452.

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es so ist, auch wenn daraus folgen sollte, dass der Wille dann nicht unser »eigener« wäre? Kant selbst scheint ja die Möglichkeit weder ausschließen zu können noch ausschließen zu wollen, dass wir de facto nicht frei sind. (3) Warum sollten wir nicht Normen und Gesetze als vernünftig anerkennen können, ohne uns dabei auf Annahmen im Hinblick auf Kausalität, insbesondere Annahmen in Bezug auf eine »Kausalität aus Freiheit«, festzulegen? Wie schon beim Schluss von Freiheit auf Autonomie zu sehen war, muss man zwischen einer inhaltlichen Ebene, die unter anderem Normen und Gesetze betrifft, und einer kausalen Ebene, die es mit der Erklärung gegebener Urteile und Handlungen durch deren Ursachen zu tun hat, klar unterscheiden. (4) Warum sollte die Annahme, dass wir über praktische Vernunft verfügen, dann ein Anhaltspunkt für Freiheit sein? Kant scheint außerdem im Fall von hypothetischen Imperativen selbst zu behaupten, dass es ein vernünftiges Sollen auch dann gibt, wenn die Vernunft, und damit das Sollen, von einem gegebenen Zweck abhängig ist. Wie ist das mit dem hier vorgelegten Argument vereinbar, dass wir die Vernunft als praktische Vernunft nur als frei und autonom verstehen können? Wir kommen auf diese Fragen zurück. Geben wir zunächst um des Arguments willen zu, dass wir uns tatsächlich als Wesen verstehen, die praktische Vernunft besitzen, und dass wir uns als solche Wesen als frei ansehen müssen, zumindest solange Freiheit sich nicht als theoretisch unmöglich erweist. 27 Wenn Kants Argumentation bis hierher richtig ist, dann folgt daraus, dass wir uns selbst als Wesen ansehen müssen, die sich kraft ihrer Vernunft das moralische Gesetz selbst geben. Nun könnte man der Meinung sein, dass damit auch gezeigt worden wäre, dass es für uns Pflichten gibt, sodass damit auch die »Aufsuchung« und »Festsetzung« des obersten Moralprinzips abgeschlossen wäre. Das ist aber nicht der Fall. Als oberstes Moralprinzip kommt nur der kategorische Imperativ in Frage – aber »daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde«, hat Kant noch nicht gezeigt. 28 Es handelt sich um zwei Aufgaben, die zwar verbunden, aber nicht identisch sind: darzulegen, »daß es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei«. 29 Selbst dann, wenn gezeigt werden kann, dass wir uns selbst kraft der freien, autonomen praktischen Vernunft ein praktisches Gesetz geben, folgt daraus noch nicht, dass dieses Gesetz eine Quelle der moralischen Verpflichtung ist. 27 28 29

Vgl. GMS, AA 04: 456. GMS, AA 04: 425. Ebd.

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Die These wirkt zwar paradox, ist aber konsequent, wenn man bedenkt, dass bisher nichts zur Autorität des moralischen Gesetzes gesagt worden ist. Diese Frage wird besonders dann bedeutsam, wenn das Streben nach anderen Gütern, etwa dem eigenen Glück, mit dem in Konflikt gerät, was das moralische Gesetz verlangt. Wie wir sahen, schreibt uns Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft Freiheit »im praktischen Verstande« zu, die er dort ebenfalls bereits mit »transzendentaler« Freiheit in Verbindung bringt. Ihr Merkmal »ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«, und in Kants Klassifikation unterscheidet sich die menschliche Willkür darin von der tierischen. 30 Im Gegensatz zu dieser sei die menschliche Willkür »zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlungen nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen«. 31 In der Grundlegung steht dem die Idee eines »heiligen«, »vollkommen guten« Willens gegenüber, der nur durch das moralische Gesetz bestimmt wird und deshalb notwendig mit ihm übereinstimmt. 32 Unser Wille ist dagegen unvollkommen, weil er nicht von selbst mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt, und darin sieht Kant den Grund dafür, dass sich uns das moralische Gesetz als Imperativ, in Gestalt von Pflichten, darstellt. 33 Die Rede von Imperativen, Pflichten, sogar von jedem Sollen ist unangemessen, wo das Wollen schon von selbst im Einklang mit dem Richtigen, durch das Gesetz Bestimmten, steht. 34 Bei Menschen ist das nicht der Fall, was sich daran zeigt, dass wir unseren Pflichten sowohl nachkommen als auch nicht nachkommen können, und offenbar auch andere »Triebfedern« des Handelns kennen als das moralische Gesetz. Das wirft erneut die Frage auf: Gibt es für uns überhaupt Pflichten aufgrund des moralischen Gesetzes? Woher bezieht das moralische Gesetz die Autorität, über unser Handeln zu bestimmen? Und mit welchem Recht beansprucht das moralische Gesetz dabei die höchste Autorität, sodass es alle anderen Güter, sogar jedes Streben nach Glück, im Hinblick auf das Sollen, allerdings nicht unbedingt das Wollen, überwiegt? KrV, B 562. Ebd.; vgl. GMS, AA 04: 457. 32 Dieser Gedanke kündigt sich in der Kritik der reinen Vernunft bereits an, wenn Kant die Idee einer »moralischen Welt« diskutiert. Diese hat Ähnlichkeit mit dem »Reich der Zwecke« der Grundlegung, und sie zeichnet sich besonders dadurch aus, dass »darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahiert wird« (B 836). 33 Vgl. GMS, AA 04: 390, 412–3, 439. 34 GMS, AA 04: 414. 30 31

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

Kant formuliert die Frage in Grundlegung III als eine des »Interesses, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt«, und er räumt ein, dass ohne eine Antwort auf die genannten Fragen gar nicht zu verstehen sei, wie es einen kategorischen Imperativ geben könne. Wie Kant schreibt, ist im Hinblick auf uns und das moralische Gesetz erst noch zu zeigen, »worauf wir den Wert gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der so groß sein soll, daß es überall kein höheres Interesse geben kann, und wie es zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Wert zu fühlen glaubt, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes für nichts zu halten sei«. 35 Anders ausgedrückt: Noch fehlt eine Antwort auf die Frage, »woher das moralische Gesetz verbinde«. 36 Kants Antwort stützt sich auf die schon aus der Kritik der reinen Vernunft vertraute Unterscheidung zwischen einer »Sinnenwelt« und einer »Verstandeswelt«, wobei die Verstandeswelt als »Grund« der Sinnenwelt angesehen werden soll. 37 Die Überlegung läuft darauf hinaus, dass wir durch Vernunft, Freiheit und Autonomie, als »Intelligenzen«, der »Verstandeswelt« oder »intellektuellen Welt« angehören. Vernunft und ihre Spontaneität ist gleichsam unser Wesenskern, das »eigentliche Selbst«, »der Wille«, wie Kant selbst in einer späteren Passage sagt. 38 Während wir durch »Begierden und Neigungen« zugleich zur Sinnenwelt gehören, kann die Verstandeswelt als Grund der Sinnenwelt die höhere Autorität für sich selbst, und damit auch für das Moralgesetz, in Anspruch nehmen. Das zumindest ist die Konklusion des sehr komprimierten und metaphysisch offenbar nicht trivialen Arguments, das Kant an dieser entscheidenden Stelle bemüht: »Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist, und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperative und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen.« 39

35 36 37 38 39

GMS, AA 04: 448–450. GMS, AA 04: 450. GMS, AA 04: 451, 453. GMS, AA 04: 457–8. GMS, AA 04: 453.

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Es bleibt aber letztlich unklar, warum etwas, das als »Grund« von etwas anderem anzusehen ist, deshalb auch in einem normativen Sinn einen Vorrang genießt. So wirkt Kants Antwort auf die Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich ist, am Ende von Grundlegung III doch wie eine normative Setzung. Natürlich überzeugt die Antwort ohnehin nur dann, wenn man Kants Argumentation bis zu dieser Überlegung akzeptiert. Ob der »praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft die Richtigkeit dieser Deduktion« bestätigt, sei dahingestellt. 40 Dass tatsächlich jeder Mensch, der darüber gründlich nachdenkt, das moralische Gesetz für sich als verbindlich anerkennt, nur von seinen Neigungen und Antrieben davon abgehalten wird, es zu befolgen, und dementsprechend wünscht, »von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein«, wirkt optimistisch. 41 – Sollte man sagen: naiv? Ganz unschuldig wirkt diese Annahme nicht. Mir scheint, es handelt sich um eine moralistische Fiktion: Der Standpunkt der Moral wird in das Innere auch derjenigen Menschen projiziert, die sich offenkundig nicht um die Moral scheren. Natürlich wissen Menschen dieser Art in aller Regel, dass das, was sie wollen oder tun, von anderen im Namen der Moral missbilligt wird. Daraus folgt aber noch lange nicht, dass sie diese Stimme der Moral als Autorität, geschweige denn als höchste Autorität, als eigenes und eigentliches Wollen, anerkennen. Das scheint regelmäßig nicht der Fall zu sein.

4. Kritik und Selbstkritik

Die Argumentation in Grundlegung III stützt sich an entscheidender Stelle auf zwei Überlegungen, die zur »Festsetzung« des obersten Moralprinzips einen wesentlichen Beitrag leisten. Die erste dieser Überlegungen betrifft den Zusammenhang von Vernunft und Freiheit, die zweite den Zusammenhang von Moralgesetz und moralischer Verpflichtung durch dieses Gesetz. Die erste Überlegung lautet, dass wir uns als Wesen mit der Fähigkeit der praktischen Vernunft als transzendental frei ansehen müssen, weil die praktische Vernunft nur als »Spontaneität« angemessen zu verstehen ist. Die Annahme der Fähigkeit zur praktischen Vernunft gibt so einen Anhaltspunkt für die Annahme der Freiheit des Willens. Aus dieser Annahme der Freiheit des Willens soll das moralische Gesetz »durch bloße Zergliederung ihres Begriffs« dann GMS, AA 04: 454. Ebd. Dabei wurde die Frage der Verschiedenheit und Veränderlichkeit moralischer Überzeugungen und Ideale noch gar nicht gestellt. 40 41

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folgen, ohne dabei das moralische Gesetz bereits vorauszusetzen. 42 Die zweite Überlegung lautet, dass wir uns als Wesen, die sich selbst das Moralgesetz geben, durch dieses Gesetz als verpflichtet ansehen müssen. Die Begründung dafür hat die Form, dass unser Wille zwar in dem Sinn unvollkommen ist, dass neben dem moralischen Gesetz noch Antriebe der Sinnlichkeit auf uns wirken, diese aber der »Sinnenwelt« zuzurechnen sind, während uns Vernunft, Freiheit und Sittengesetz in eine »Verstandeswelt« versetzen, die als »Grund« der Sinnenwelt und ihrer Gesetze auch eine höhere Autorität als diese besitzt. So soll verständlich werden, warum das moralische Gesetz, der eigentliche Wille, auch im Fall des Konflikts mit dem Streben nach Glückseligkeit oder irgendeinem anderen beliebigen Beweggrund für mögliches Handeln zwar nicht unbedingt die Oberhand behält, aber doch die Oberhand behalten sollte. Es fällt auf, dass sich in der Kritik der praktischen Vernunft und anderen späten Schriften Kants keine klaren Parallelen zu diesen Argumenten finden. Warum ist das so, und was bedeutet es für die Deutung von Kants kritischer praktischer Philosophie? Bernd Ludwig hat eine Erklärung vorgeschlagen, die viel für sich hat. Sie bahnt einen gedanklichen Weg von Grundlegung III über die revidierte zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft bis zur Kritik der praktischen Vernunft, der auch die offensichtlichen Veränderungen zwischen diesen Texten nachvollziehbar macht. 43 Leitend ist dabei die Einsicht, dass der in Grundlegung III vorgeführte Schluss von der praktischen Vernunft auf die Freiheit des Willens nicht gültig ist, wenn Freiheit des Willens – wie von Kant beansprucht – als »transzendentale« oder »absolute« Freiheit aufgefasst werden soll. Vielmehr könnte man sich ohne Weiteres ein mit Vernunft und auch mit praktischer Vernunft begabtes Wesen denken, das dennoch in seinem Überlegen, Entscheiden und Tun durch Ursachen in der vorherigen Zeit vollständig kausal determiniert sein würde. Mehr noch: Wir müssen uns selbst Kant zufolge so ansehen, weil wir ja selbst auch Erscheinungen sind. Wenn das so ist, fehlt aber bisher jeder Anhaltspunkt dafür, von der Vernunft auf transzendentale Freiheit zu schließen. Das Problem ist grundsätzlicher Art und hat mit den zentralen Lehren der ersten Kritik zu tun: Wir sind uns selbst nur als kausal determiniert bekannt, und Raum für Freiheit in der Folge der Erscheinungen kann es Kant zufolge GMS, AA 04: 447. Vgl. zum Folgenden besonders Ludwig: Consequente Denkungsart, S. 609–623. Differenzen zwischen der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion und Bernd Ludwigs Lesart mag es in Bezug auf die Interpretation von Grundlegung III geben, doch das ist ein Thema, das hier nicht vertieft werden kann. 42 43

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überhaupt nicht geben. Dasjenige, was der Erscheinung als ein »Ding an sich« zugrunde liegt, bleibt unbekannt. Wie wir als Teil einer möglichen »Verstandeswelt« beschaffen sind, erschließt sich durch das Merkmal der Vernünftigkeit noch nicht, und eine »intellektuelle Anschauung«, die uns darüber Auskunft geben könnte, gibt es für Wesen mit unseren Anlagen nicht. 44 Anders ausgedrückt: Die Denkungsart der spekulativen Kritik verbietet einen Schluss von Merkmalen der »Erscheinungen« auf Merkmale der »Dinge an sich selbst«, die den Erscheinungen zugrunde liegen. 45 Die »konsequente Denkungsart der spekulativen Kritik« zeichnet sich besonders dadurch aus, nicht für das Merkmal der Vernunft eine Ausnahme zu machen, die uns doch aus den Gegebenheiten der Erfahrung, und sei es Erfahrung des »inneren Sinns«, auf Freiheit schließen lässt. 46 Bernd Ludwig führt den entscheidenden Denkanstoß für Kant auf eine anonyme Rezension von Hermann Andreas Pistorius aus dem Frühjahr 1786 zurück, die sich zunächst gar nicht auf die Grundlegung bezieht. Es geht stattdessen um die grundsätzliche Frage, ob wir Kant zufolge irgendeinen Anhaltspunkt für Annahmen in Bezug auf die Verstandeswelt haben können, wenn wir in Bezug auf unser »Seelenwesen« selbst nur als Erscheinung anzusehen sind. Das ist ein sachlich interessanter Punkt: Denn »wenn das ganze Seelenwesen des Menschen, seine ganze Vorstellungskraft mit allen ihren Wirkungen für Erscheinung muß gehalten werden«, stellt sich umso drängender die Frage, wie man alsdann einen Theil dieses Seelenwesens – und etwas anders ist doch die Vernunft nicht – für ein Noumenon, oder für ein Ding an sich selbst erklären könne! Woher wir bey der vorausgesetzten völligen Unbekanntschaft mit der intelligibeln Welt und den Dingen an sich selbst es wissen können, daß etwas zu des Menschen subjectiven und scheinbaren Denkkraft gehöriges, nämlich seine Vernunft, und folglich auch Er selbst, insofern er mit Vernunft versehen ist, ein Theil der Verstandeswelt, ein Ding an sich selbst sey? 47

Vgl. KpV, AA 05: 31, 45, 56, 99. KpV, AA 05: 6. 46 Ebd. 47 Hermann Andreas Pistorius, Rezension von Johann Schulzes Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, Band 66, 1. Stück, Mai 1786, S. 92–123: S. 111; vgl. Ludwig: Consequente Denkungsart, S. 609–610. Kant würdigt später den Verfasser dieser Rezension als »scharfen mir aber wegen seiner sorgfältigen vollkommenen Kennergleichen Beurtheilung (ob er sich zwar nur einen Liebhaber der Metaphysik nennet) schatzbaren Recensenten in der Allg. Deut. Bibl.« (AA 21, 416); vgl. KpV, AA 05: 8–9. 44 45

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

Pistorius verweist in seiner Rezension auch selbst auf den Begriff der Freiheit, der für das Programm der Grundlegung entscheidend ist: Zuvörderst betreffen meine Zweifel den Begriff von der Freyheit selbst, dessen Ursprung, Inhalt und objective Gültigkeit. Die Freyheit soll das Vermögen eines Wesens seyn, einen Zustand anzufangen, so, daß seine Handlung nicht nach dem Naturgesetze wieder unter einer andern Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmete. Ich frage: woher haben wir diesen Begriff? 48

Offenbar ist es in Kants Systematik ein Vernunftbegriff, den wir nicht aus der Erfahrung schöpfen können. Wenn das aber so ist, wird unklar, wie sich der Begriff der Freiheit von anderen Ideen dadurch unterscheidet, dass er uns als Gliedern der Verstandeswelt zu Recht zugeschrieben werden kann. Die Frage ist: woher erhält er allein diese objective Gültigkeit, daß er sich auf die Verstandeswelt anwenden, daß das, was er bezeichnet, nämlich die transcendente Freyheit, sich als eine Eigenschaft der Dinge an sich selbst, oder der Glieder dieser uns ganz unbekannten Welt prädiciren läßt? 49

Ein interessantes Detail dieser Rezension ist, dass Pistorius Kants Freiheitstheorie als »beynahe das Dunkelste in seynem ganzen Systeme« bezeichnet und ergänzt, dass sie ihm »inconsequent und widersinnig« erscheint. 50 Das wäre eine mögliche Erklärung dafür, dass Kant 1788 die »konsequente Denkungsart der spekulativen Kritik« hervorhebt, den Ausdruck im Druck sogar sperrt. Pistorius war nicht der Einzige, der Kants Freiheitsauffassung für zweifelhaft hielt. Auch Gottlob August Tittel wirft Kant 1786 vor, dass es am »Ende dieser ganzen Deduktion« dem »obersten Begrif der ganzen Sittenlehre« – dem Begriff der Pflicht – »so ganz an nichts geknüpft, durch nichts gestützt, durchaus an Haltung mangeln müsse«. 51 Kants Begriff der Pflicht sei »dürr« und »skeletirt«, und Sittlichkeit und Pflicht würden in ein »eitles Schattenbild« verwandelt: »Umso mehr wird es Schattenbild, da man derselben die Freiheit – nicht in ihrer Realität und Wirklichkeit, sondern nur blos in der Idee (wäre sie auch an sich ein leerer Begrif und Traum) als Grund unterstellet«. 52 So fragt der Rezensent im Hinblick auf den Titel von Kants Schrift: »Und das Pistorius: Rezension, S. 109–110. Pistorius: Rezension, S. 110. 50 Pistorius: Rezension, S. 109. Auf derselben Seite spricht er von »Verwirrung und Inconsequenz« im Zusammenhang der Auflösung der dritten Antinomie. 51 Gottlob August Tittel, Ueber Herrn Kant’s Moralreform. Frankfurt und Leipzig 1786, S. 92. 52 Pistorius: Rezension, S. 93. 48

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soll Grundlegung der Sitten seyn?« 53 Wo Pistorius Kant vorwirft, er gehe im Hinblick darauf, was über Freiheit gesagt werden kann, viel zu weit, geht Kant Tittel in Bezug auf seine Annahme der Freiheit offenbar nicht weit genug, weil Freiheit »blos in der Idee« zur Begründung der moralischen Verpflichtung nicht auszureichen scheint. Nun geht es mir in diesem Beitrag nicht um historische oder biographische Vermutungen im Hinblick auf Autoren, Texte und Ereignisse, die Kant zum Umdenken und zu einer Neuausrichtung seiner kritischen praktischen Philosophie veranlasst haben könnten. Mich interessiert das sachliche Problem, um das es beiden Rezensenten geht: Welchen Status hat Kants Annahme der Freiheit in seiner Moraltheorie? Was genau berechtigt uns im Rahmen seines philosophischen Systems, uns selbst für frei zu halten, und welchen Beitrag kann die Annahme der Freiheit dazu leisten, das Moralgesetz als Quelle der Verpflichtung für uns auszuweisen? In der Sache hat Pistorius wohl recht: Daraus, dass wir uns als vernunftbegabte Wesen sehen, folgt noch nicht, dass wir uns als frei ansehen müssten. Auch die Vernunft ist als Erscheinung ein Teil der Natur, und wie wir als ein Teil einer möglichen Verstandeswelt beschaffen sind, erschließt sich durch das Merkmal der Vernunft noch nicht. Kant selbst scheint das ab 1787 zuzugeben, sogar zu betonen. In der Kritik der praktischen Vernunft zum Beispiel sagt Kant deutlich, dass es bei der Frage der Bestimmungsgründe einer Handlung in der Zeit nicht weiter wichtig sei, ob diese sich aus dem Instinkt oder der Vernunft ergeben: Es kommt nämlich bei der Frage nach derjenigen Freiheit, die allen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßen Zurechnung zum Grunde gelegt werden muß, darauf gar nicht an, ob die nach einem Naturgesetze bestimmte Kausalität, durch Bestimmungsgründe, die im Subjekte, oder außer ihm liegen, und im ersteren Fall, ob sie durch Instinkt oder mit Vernunft gedachte Bestimmungsgründe notwendig sei […]. 54

Wichtig sei vielmehr, dass es Bestimmungsgründe gebe, die in der vorherigen Zeit und damit nicht mehr in der Gewalt des Handelnden liegen. Freiheit ist der konsequenten Denkungsart zufolge im »Mechanismus der Natur« nicht zu finden – »ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirklich materielle Maschinen sein müßten«. 55 Sie könnten auch mit einem Geist und mit Vernunft begabte Wesen sein. Eine besonders deutliche Passage findet sich in einer Vorlesungsmitschrift von 1794, die Kants Strategie aus der Kritik der praktischen Vernunft erläutert. 53 54 55

Ebd. KpV, AA 05: 96. KpV, AA 05: 97.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

Hier bezichtigt Kant die Schulmetaphysiker Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten eines Fehlers, der ihm allerdings in Grundlegung III in gewisser Weise selbst unterlaufen zu sein scheint: Man nimmt zwar ferner an, z. E. Wolf sowie Baumgarten, daß der handelnde Mensch von aller Naturnothwendigkeit unabhängig sey, insofern seine Handlungen durch motiven geleitet, mithin durch Verstand und Vernunft determinirt würden; dies ist aber falsch. Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo befreit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus des Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur […]. 56

Hier wird ausdrücklich bestritten, dass man sich ein Wesen, das Vernunft besitzt, nur als transzendental frei denken kann. Kants Lehre des transzendentalen Idealismus ist zweifellos stark interpretationsbedürftig. Daher ist nicht vollkommen klar, wie Kant die Kausalität aus Freiheit zum Moralgesetz einerseits und zum »Natur-Mechanismo« andererseits in Beziehung setzen will. Doch eindeutig geht es um die Frage der Erklärung der Abfolge von Überlegen, Entscheiden und Handeln, und in dieser Hinsicht sagt Kant klar und deutlich, dass alles menschliche Handeln durch Ursachen in der vorherigen Zeit festgelegt ist: »endlich sind alle Handlungen, die er als Naturmensch unternimmt, praedeterminirt, d. i. sie sind als Wirkungen vergangener Ursachen anzusehen«. 57 So betrachtet befindet sich der Mensch Kant zufolge in fortwährender Receptivität, die ihn zur jedesmaligen Handlung bestimmte, es fehlte der Handlung ganz an Spontaneität, und kann daher so wenig von ihm vermieden, als ihm zugerechnet werden; z. E. ein Mensch schlägt den andern todt; betrachtet man den Menschen blos als Naturmenschen, so ist seine Handlung völlig der Wirkung gleich, wenn der Dachziegel dem Menschen das Leben nimmt. Er handelt nach Gesetzen der Natur allein: also kann er den Todtschlag übrigens auf die feinste Art einleiten, ausführen und verdecken: so kann doch selbst seine Vernunft, als den Gesetzen der Natur unterworfen, ohne alle Freiheit gedacht werden: blos der Zweck, den er durch den Todtschlag erreichen will, z. E. das Geld des Erschlagenen, leitet ihn, er gebraucht seine Vernunft nach Maßgabe seines Zweckes. 58

Die Passage macht noch einmal deutlich, dass »Vernunft, als den Gesetzen der Natur unterworfen, ohne alle Freiheit gedacht werden« kann, und in Bezug auf den Menschen als »Phänomenon« auch so gedacht werden muss. 59 Sie 56 57 58 59

MS Vigilantius, AA 27: 503; vgl. Ludwig: Consequente Denkungsart, S. 622. MS Vigilantius, AA 27: 502. Ebd. MS Vigilantius, AA 27: 504.

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verweist zugleich darauf, dass die Betrachtungsweise als »Phänomenon« einseitig und deshalb unvollständig ist. Das zeigt sich besonders daran, dass trotz der Vorherbestimmtheit jeder Handlung durch gegebene Maximen, Charakterzüge und Motive doch die Art von Freiheit unterstellt wird, die Zurechnung möglich macht. Aber woher nehmen wir das Recht, uns in diesem Sinn für frei zu halten? Ein Teil der Antwort liegt wie schon der Kritik der reinen Vernunft in der Möglichkeit der Freiheit, die Kants Lehre des transzendentalen Idealismus sicherstellen soll. Es kommt darauf an, »den Menschen von zwei Seiten zu betrachten, nämlich als Phänomen, d. i. als eine Erscheinung durch seinen inneren Sinn, und als Noumenon, d. i. sowie er sich durch die moralischen Gesetze an sich selbst erkennt«. 60 Als Teil der Natur, als »Phänomenon«, so wie der Mensch »sich sowohl durch seine äußeren Sinne, als vermöge seines inneren Sinnes seiner Existenz und Handlungen bewußt ist«, ist auch sein von Verstand und Vernunft geleitetes Tun »praedeterminirt«. 61 Wie Kant weiter ausführt, kann es Spontaneität und Autonomie dessen ungeachtet geben – aber eben nur dann, wenn man den Menschen zugleich als »Noumenon« versteht. 62 Die bloße Möglichkeit der Freiheit wäre – wie zuvor gesagt – zu wenig. Was einen positiven Anhaltspunkt für Freiheit liefern soll, ist hier wie schon in der Kritik der praktischen Vernunft – und allen Schriften nach 1788 – der Hinweis auf das moralische Gesetz. 63 Hier geht Kant so weit zu behaupten, das moralische Gesetz sei das, wodurch der Mensch sich als »Noumenon«, »an sich selbst erkennt«. Ich komme auf diese neue, in der Grundlegung noch nicht erprobte Argumentation zurück. Hier ist zunächst wichtig festzuhalten, dass Kant Freiheit MS Vigilantius, AA 27: 505–6. MS Vigilantius, AA 27: 504. 62 MS Vigilantius, AA 27: 505. 63 Tatsächlich deutet sich die Argumentation schon in der 1787 publizierten, revidierten zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft an: »Gesetzt aber, es fände sich in der Folge, nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs, Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir innewerden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz, doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligible (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen, dienen kann« (B 430). 60 61

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

ganz eindeutig nicht als Datum der Erfahrung oder als notwendige Bedingung der Vernunft ansieht. Die zweckgebundene, rein hypothetisch strukturierte praktische Vernunft lässt keinen Schluss auf Freiheit zu. Das kategorische Sollen setzt transzendentale Freiheit, »absolute«, nicht nur »respective« Spontaneität voraus, die sich insofern nur durch das Moralgesetz, nicht aber unmittelbar, weder aus der »empirischen Psychologie« noch durch ein »unmittelbares Bewusstsein«, erschließt. 64 Was wird aus Kants zweiter Überlegung in Grundlegung III, die zur »Festsetzung« des obersten Moralprinzips einen wesentlichen Beitrag leisten soll? Die erste Überlegung, die einen notwendigen Zusammenhang von Vernunft und Freiheit deutlich machen und so einen Schluss von Vernunft auf Freiheit möglich machen soll, scheint Kant ab 1786 zu verwerfen. Die zweite Überlegung lautet, dass wir uns als Wesen, die sich selbst durch die Vernunft das Moralgesetz geben, durch dieses Gesetz als verpflichtet ansehen müssen. Wie wir sehen werden, hält Kant an dieser These fest, gibt ihr aber eine neue Wendung. Auch in der Kritik der praktischen Vernunft wirft Kant die Frage auf, welchen »Ursprung« etwas so Erhabenes wie die Pflicht haben kann. 65 Und wie in Grundlegung III verweist die Antwort, die Kant gibt, auf das Verhältnis zwischen einer »Sinnenwelt« und einer »intelligibelen Welt«, wobei die Ordnung der Dinge, »die nur der Verstand denken kann«, ihm zufolge die ganze Sinnenwelt »unter sich hat«. 66 Aufgrund seiner Persönlichkeit und Freiheit ist der Mensch über den »Mechanism der ganzen Natur« erhaben, wohingegen er als Sinnenwesen sich selbst als Persönlichkeit, als Teil der »intelligibelen Welt«, gleichsam »unterworfen« ist. 67 So versucht Kant in der Kritik der praktischen Vernunft verständlich zu machen, warum »der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung, und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß«. 68 Unverkennbar ist auch hier der Gedanke einer Hierarchie zwischen der Sinnenwelt und der Verstandeswelt entscheidend, wenn es um die Frage der Autorität und des »Ursprungs« der moralischen Verpflichtung geht. Das ist zweifellos ein Echo der Argumentation in Grundlegung III. Gleichwohl ist der Gedanke hier anders in die Theorie von Freiheit und Verpflich64 65 66 67 68

MS Vigilantius, AA 27: 505–6. Besonders aufschlussreich ist die Passage KpV, AA 05: 86–7. KpV, AA 05: 86–7. KpV, AA 05: 87. Ebd.

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tung eingebettet. Kant versucht seit der Kritik der praktischen Vernunft nicht mehr, die Idee moralischer Verpflichtung aus der unabhängig etablierten Annahme der Freiheit und zusätzlichen Argumenten dieses Zuschnitts herzuleiten. Die moralische Verpflichtung soll nun selbst dasjenige sein, was nicht aufrichtig und vernünftig bestritten werden kann, und so die Freiheit als Bedingung ihrer Möglichkeit verbürgen. Damit kommen wir zum »Faktum« der Vernunft, das eine »Deduktion« moralischer Verpflichtung überflüssig machen soll. 69

5. Das »Faktum« der Vernunft

Die Kritik der praktischen Vernunft zielt Kant zufolge auf den Nachweis ab, »daß reine Vernunft wirklich praktisch ist«: »Sie soll bloß dartun, daß es reine praktische Vernunft gebe, und kritisiert in dieser Absicht ihr ganzes praktisches Vermögen«. 70 Kant nimmt damit das Thema Freiheit keineswegs von der Agenda. Ganz im Gegenteil meint er, dass mit dem Nachweis, dass es reine praktische Vernunft gibt, unmittelbar der Nachweis verbunden ist, dass es transzendentale oder absolute Freiheit gibt. So behauptet Kant gleich zu Beginn der Kritik der praktischen Vernunft: »Mit diesem Vermögen steht auch die transzendentale Freiheit nunmehro fest«, und in diesem Sinn wird mit der reinen praktischen Vernunft zugleich die Freiheit »festgestellt«. 71 Kant hält wie schon 1785 unverändert daran fest, dass transzendentale Freiheit die Bedingung moralischer Zurechnung ist. Er hält insbesondere daran fest, dass Freiheit die Bedingung dafür ist, dass wir uns unabhängig von aller Fremdbestimmung das moralische Gesetz selbst geben. Neu ist der Gedanke, dass der Nachweis, dass wir uns zu Recht als frei ansehen, nicht mehr unabhängig vom moralischen Gesetz, gleichsam von neutralem Boden aus, geführt werden muss. In gewisser Weise geht Kant in die Offensive, weil er sich in der Kritik der praktischen Vernunft von Beginn an auf die Tatsache moralischer Verpflichtung selbst beruft. Die »Realität« des Begriffs der Freiheit steht Kant zufolge fest, weil sie »durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«. 72 Im Unterschied zu den Ideen von Gott und Unsterblichkeit, die mit der Möglichkeit des höchsten Guts zusammenhängen, ist Freiheit die Bedingung für 69 70 71 72

Vgl. KpV, AA 05: 46–50. KpV, AA 05: 3. KpV, AA 05: 3. KpV, AA 05: 3.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

Verpflichtung durch das moralische Gesetz, und Verpflichtung soll die Freiheit umgekehrt auch selbst verbürgen. Der Gedanke scheint zu sein: Wir haben durch unser Bewusstsein der moralischen Verpflichtung und die Möglichkeit der Freiheit das Recht zu behaupten, »daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbaret sich durchs moralische Gesetz«. 73 Als Idee erweitert sie zwar nicht den Bereich der theoretischen Erkenntnis, sichert aber den Gebrauch der praktischen Vernunft gegen skeptische Einwürfe ab. In diesem Zusammenhang spricht Kant nun auch zum ersten Mal von einem »Faktum«, und in der Passage geht es auch um die schon erwähnte »konsequente Denkungsart der spekulativen Kritik«, die nun durch die »praktische Vernunft« bestätigt werden soll: Dagegen eröffnet sich nun eine vorher kaum zu erwartende und sehr befriedigende Bestätigung der konsequenten Denkungsart der spekulativen Kritik darin, daß, da diese die Gegenstände der Erfahrung, als solche, und darunter selbst unser eigenes Subjekt, nur für Erscheinungen gelten zu lassen, ihnen aber gleichwohl Dinge an sich selbst zum Grunde zu legen, also nicht alles Übersinnliche für Erdichtung und dessen Begriff für leer an Inhalt zu halten, einschärfte: praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und ohne mit der spekulativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Kausalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich, als praktischem Begriffe, auch nur zum praktischem Gebrauche), also dasjenige, was dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Faktum bestätigt. 74

Man kann das sicher so verstehen, dass Kant davor warnt, sich aus rein »spekulativen« Gründen als frei anzusehen – etwa aufgrund der Spontaneität der Vernunft oder der Erfahrung der »praktischen« Freiheit. Er betont demgegenüber hier, dass die dezidiert praktische Vernunft – und nur sie – der Idee der Freiheit, die als »übersinnlich« aufzufassen ist, »Realität verschafft«. Was aber ist das »Faktum«, von dem Kant hier spricht? Die Grundbedeutung dieses Ausdrucks scheint auf das »Bewusstsein« des »Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft« und, als Manifestation dieses Gesetzes, auf den kategorischen Imperativ zu verweisen. 75 Dessen Gültigkeit, Verbindlichkeit, scheint zunächst das zu sein, was »sich für sich selbst uns aufdringt« und nicht etwa umgekehrt aus einem schon gegebenen »Bewusstsein der Freiheit« analytisch oder deduktiv hergeleitet werden kann. Kant schreibt: Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Be73 74 75

KpV, AA 05: 4; vgl. ebd. 48. KpV, AA 05: 31. Das entsprechende »Grundgesetz« führt Kant in § 7 (KpV, AA 05: 30) ein.

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wußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns vorher nicht gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfodert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. 76

Kant hält also daran fest, dass das moralische Gesetz analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens schon als gesichert voraussetzen könnte – aber beides steht im Konjunktiv. Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes ist gegeben, und es steht für sich allein. Das Wort »Faktum« selbst lädt gleichwohl zu verschiedenen Deutungen ein. Auf der einen Seite könnte seine Grundbedeutung, angelehnt an lat. facere im Sinn von »tun«, »herstellen«, »handeln«, mit der Vorstellung der »Tat« zusammenhängen. Das »Faktum« könnte dementsprechend »die Tat«, noch genauer vielleicht »das Getane«, »das Gemachte«, »das Erzeugte« der reinen praktischen Vernunft sein. Das passt zu der Vorstellung, dass wir uns als freie, autonome Wesen das moralische Gesetz selbst geben. Es handelt sich um eine »Tat« der reinen praktischen Vernunft. Auf der anderen Seite kann lat. factum das sein, was der Fall ist, also eine »Tatsache« bezeichnen. In diesem Fall verweist uns die Rede vom »Faktum« vorrangig auf eine bestimmte Wahrheit. Das passt zu Kants Rede vom Gesetz als einem »synthetischen Satz a priori«, der sich uns nach seiner Vorstellung ja insbesondere als wahr, als gültig, »aufdringt«. Tatsächlich scheinen beide Seiten der Bedeutung mitgedacht zu sein. Kants Auffassung zufolge ist das Bewusstsein von der Gültigkeit, Verbindlichkeit, des Grundgesetzes etwas, das die reine praktische Vernunft bewirkt, und insofern ist es auch nicht irreführend, wenn man sagt, das Faktum selbst sei eine Tat der reinen praktischen Vernunft. Reine praktische Vernunft bestimmt den Willen, und auch darauf weist Kant hin, wenn er vom »Faktum« spricht – »denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Prinzipien beruht«. 77 Hebt man dagegen die Bedeutung »Tatsache« hervor, dann kann man sagen, dass die Tatsache, um die es geht, eben die der Geltung, der Verbindlichkeit, des Grundgesetzes ist. Diese Geltung kann man nicht »herausvernünfteln«, sondern muss sie als gegeben, eben als ein Faktum, anerkennen. Kant meint, man habe keine andere Wahl, als das tatsächlich zu tun: »Das

76 77

KpV, AA 05: 31; vgl. ebd. 99, 105. KpV, AA 05: 55.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

vorher genannte Faktum ist unleugbar«. 78 Es ist bemerkenswert, wie anspruchsvoll die Annahmen sind, die Kant damit verbindet: Man darf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit finden, daß, was auch die Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich selbst, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet. 79

Kant behauptet in dieser Passage nicht, dass alle Menschen, oder gar alle vernünftigen Wesen, in diesen philosophischen Kategorien denken – es ist ja seine Leistung, diese Kategorien zu formulieren. Aber er behauptet, dass das Urteil aller Menschen und vernünftigen Wesen sich nur so richtig verstehen lässt und also das »Faktum« für jedes vernünftige Wesen die Beschreibung liefert, die es selbst als richtig anerkennen sollte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass das Faktum sich nicht auf das Bewusstsein der moralischen Verpflichtung durch das Gesetz beschränkt. Es geht um das Gesetz, das uns verpflichtet, aber für andere vernünftige Wesen nicht unbedingt Verbindlichkeiten, Pflichten, mit sich bringt. Das Gesetz, und damit das Faktum, »schränkt sich also nicht bloß auf Menschen ein, sondern geht auf alle endliche Wesen, die Vernunft und Willen haben, ja schließt sogar das unendliche Wesen, als oberste Intelligenz, mit ein«. 80 Der relevante Unterschied ist wie schon in der Grundlegung der, dass sich in unserem Fall das Gesetz als »Imperativ« darstellt, »der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist«. 81 Das »Faktum« als Bewusstsein des Gesetzes ist insofern ein Bewusstsein der Verpflichtung, als sich das Gesetz für uns – und im Gegensatz zum Beispiel zu Gott – als verpflichtend darstellt. Ein zusätzliches Argument dafür, dass dieses Gesetz für uns verpflichtend ist, findet sich dagegen nicht, wenn man vom erwähnten, eher entfernten Echo des Arguments der Hierarchie aus Grundlegung III absieht. Kant scheint die Frage, ob es Pflichten gibt, für beantwortet zu halten, wenn man sich als Mensch der Beschaffenheit der eigenen Natur und zugleich der Gültigkeit, der Verbindlichkeit, des moralischen Gesetzes selbst bewusst geworden ist. 82 KpV, AA 05: 32. KpV, AA 05: 32; vgl. ebd., 43–4, 69–70, 80, 87–8, 91, 105, 155–6. Es ist ein Leitmotiv in Kants Moralphilosophie, dass die »gemeine Menschenvernunft« das Moralgesetz als verbindlich anerkennt. 80 KpV, AA 05: 32. 81 Ebd. 82 Vgl. dazu die Diskussion der Pflicht in KpV, AA 05: 80–1 und 88: »So ist die echte 78

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Wichtig ist jedoch, dass sich das moralische Gesetz als kategorisch darstellt: Nur aus einem Gesetz, das kategorisch gebietet, kann Kant zufolge auf Freiheit des Willens, Autonomie im Gegensatz zu Heteronomie, geschlossen werden. Das soll sein doppeltes Beispiel einer Drohung mit der Todesstrafe zeigen. Im ersten Beispiel geht es um eine Figur mit »wollüstiger Neigung«, die diese als »unwiderstehlich« beschreibt. 83 Wäre sie dazu in der Lage, dieser Neigung doch zu widerstehen, wenn man glaubhaft mit der Todesstrafe droht? Das kann als sicher gelten – aber es beweist doch nur, dass die eine Neigung, nämlich die Liebe zum Leben, stärker ist als die der »Wollust«, so »unwiderstehlich« diese auch zunächst erscheinen mag. Insofern findet sich hier auch kein Argument für Freiheit in dem Sinn, der Kant vorschwebt. Ein solches Argument ergibt sich erst, wenn man das zweite Beispiel betrachtet. Hier geht es um einen »ehrlichen Mann«, der unter Androhung der Todesstrafe zur Falschaussage gezwungen werden soll. 84 Nun ist die Frage, »ob er da, so groß seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte«. 85 Kant beantwortet die Frage so: Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urteilet also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. 86

Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen; sie ist keine andere, als das reine moralische Gesetz selber, so fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren läßt, und subjektiv, in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer sofern sehr pathologisch affizierten Natur bewußt sind, Achtung für ihre höhere Bestimmung wirkt«. 83 KpV, AA 05: 30. 84 Ebd. In der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft taucht ein solches Beispiel in einem anderen Kontext wieder auf. Dort wird es mit der Geschichte eines »redlichen Mannes« illustriert, den ein Machthaber wie im Fall von Heinrich VIII. zur Falschaussage gegen Anne Boleyn bewegen will (AA 05: 155–6); vgl. auch das Juvenal-Zitat, ebd., 158–9. 85 KpV, AA 05: 30. 86 Ebd. Eine Schwierigkeit, die dieses Beispiel mit sich bringt, erwähne ich nur en passant: Auch das, was ein kategorisches Sollen zu sein scheint, könnte sich als »versteckterweise hypothetisch« erweisen (GMS, AA 04, 419). Das würde hier bedeuten, dass moralische Motive auch den Wunsch zum Überleben überwiegen könnten, ohne dass es ein Motiv der reinen praktischen Vernunft gegenüber allen bloß »gegebenen«, »empirischen« Motiven geben müsste. Ich lasse diesen Punkt beiseite, weil der interessantere Einwand die Möglichkeit der praktischen Freiheit und der kategorischen Verpflichtung ohne die Voraussetzung »transzendentaler« Freiheit betrifft.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

Es kommt in diesem Beispiel also darauf an, dass es ein Bewusstsein eines »Sollens« gibt, das darauf schließen lässt, dass man diesem »Sollen« auch nachkommen kann. Es ist ein kategorisches Sollen, was sich eben daran zeigt, dass es vorschreibt, die Wahrheit zu sagen, auch wenn alle Neigungen, insbesondere die Liebe zum Leben selbst, dagegensprechen. Im ersten Beispiel steht gewissermaßen Neigung gegen Neigung, und ein Sollen der Moral tritt gar nicht in Erscheinung. Im zweiten Beispiel steht Moral gegen die stärkste Neigung, ja die Summe aller Neigungen. In der Fähigkeit, auch gegen alle Neigungen dem »Sollen« des Gesetzes nachzukommen, zeigt sich Kant zufolge die Fähigkeit der praktischen Vernunft, selbst praktisch zu sein. Warum aber ist das auch ein Argument für Freiheit? Hier scheint Kants Gedankengang in zwei Richtungen zu weisen. Auf der einen Seite wird von Kant behauptet, dass sich aus dem »Faktum« direkt folgern lässt, dass reine Vernunft, als Autonomie, selbst praktisch ist. Sie bestimmt den Willen und wirkt auf das Handeln, was Kants eigener Voraussetzung zufolge nur dann möglich ist, wenn es Kausalität aus Freiheit gibt. 87 Deshalb meint er auch, die Argumentation habe gezeigt, »daß dieses Faktum mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei«, das Faktum somit »auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt«. 88 Hier wird das »Faktum« deshalb als Begründung für die Annahme der Freiheit angeführt, weil das Gesetz, das wir uns durch reine praktische Vernunft selbst geben, eine Manifestation der Freiheit ist. Aus diesem Grund ist das Bewusstsein des Gesetzes »unzertrennlich« mit dem Bewusstsein der Freiheit verbunden, und man kann auch sagen, beide seien »einerlei«. Wie dieses Bewusstsein möglich ist, »läßt sich nicht weiter erklären«, aber es kommt Kant zufolge vielmehr darauf an, dass die Annahmen, die sich auf das moralische Gesetz und die Freiheit beziehen, auch aus der Sicht der theoretischen Philosophie zulässig sind. 89 Auf der anderen Seite gibt es eine Argumentation, die nur indirekt vom KpV, AA 05: 42; vgl. ebd. 47, 55. Noch deutlicher wird die kausale Terminologie in Kants kurzer Schrift »Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie«: »Nun giebt es doch Etwas in der menschlichen Vernunft, was uns durch keine Erfahrung bekannt werden kann und doch seine Realität und Wahrheit in Wirkungen beweiset, die in der Erfahrung dargestellt, also auch (und zwar nach einem Prinzip a priori ) schlechterdings können geboten werden. Dieses ist der Begriff der Freiheit, und das von dieser abstammende Gesetz des kategorischen, d. i. schlechthin gebietenden Imperativs« (AA 08: 416). 88 KpV, AA 05: 42–3; vgl. ebd. 46, 105–6. 89 KpV, AA 05: 46; vgl. ebd. 48, 94, 133. 87

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kategorisch gebietenden Sittengesetz, also dem »Faktum«, auf die Freiheit schließen lässt. Wie wir sahen, findet sie sich schon in der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant die Idee der praktischen Freiheit diskutiert und mit der Idee der transzendentalen Freiheit in Verbindung bringt. 90 In der Kritik der praktischen Vernunft wird diese indirekte Argumentation vom eben diskutierten zweiten Beispiel einer Drohung mit der Todesstrafe illustriert. Hier geht es nicht darum, dass sich im Bewusstsein des moralischen Gesetzes die Freiheit selbst manifestiert, auch wenn Kant diese These selbstverständlich hier ergänzen könnte. Stattdessen geht das Argument vom Bewusstsein eines Sollens aus, das auf ein Können und erst dadurch auf die Freiheit schließen lässt. Der Gedanke lautet: Wer zu einer moralisch falschen Tat gezwungen werden soll, könnte sich dem widersetzen, auch wenn das schlimmste Konsequenzen hätte: »Er urteilet also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre«. 91 Hier greift das Prinzip, dass Sollen Können impliziert, sodass jemand, der das Sollen für sich als verbindlich anerkennt, auch das entsprechende Können bei sich voraussetzen muss. Vor dem Hintergrund der Interpretation, die ich hier vorgeschlagen habe, können wir Kants Ankündigung in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft als elegante Zusammenfassung seiner Lehre vom »Faktum« der reinen praktischen Vernunft lesen. Sie hat gleichsam einen metaphysischen und einen erkenntnistheoretischen Teil, und sie bestimmt auf diese Weise, wie Freiheit und moralisches Gesetz zusammenhängen: Damit man hier nicht Inkonsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne, und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns nieKrV, B 562. KpV, AA 05: 30; vgl. 95–6, 99. Der Schluss vom Sollen auf das Können wird in der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft ausdrücklich wiederholt, dort allerdings in einem anderen Sinn auf das Verhältnis zwischen »Sinnenwelt« und »Verstandeswelt« bezogen: »Aber der Heiligkeit der Pflicht allein alles nachsetzen, und sich bewußt werden, daß man es könne, weil unsere eigene Vernunft dieses als ihr Gebot anerkennt, und sagt, daß man es tun solle, das heißt, sich gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänzlich zu erheben, und ist in demselben Bewußtsein des Gesetzes auch als Triebfeder eines die Sinnlichkeit beherrschenden Vermögens unzertrennlich, wenn gleich nicht immer mit Effekt, verbunden […]« (AA 05: 159). 90 91

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

mals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein. 92

Im Hintergrund steht scheinbar eine Sorge, die auch für die Argumentation der Grundlegung schon wichtig war: Ist ein Argument, das aus der Freiheit das moralische Gesetz herleiten soll, die Annahme der Freiheit aber deshalb macht, weil sich aus ihr das Gesetz herleiten lässt, um dessen Gültigkeit, Verbindlichkeit, es geht, nicht offenkundig zirkulär? In der Grundlegung war Kant dem Einwand mit dem Hinweis darauf begegnet, dass es einen unabhängigen Anhaltspunkt für die Annahme der Freiheit durch das Merkmal der Vernunft gibt, weil Vernunft als praktische Vernunft auf Freiheit schließen lässt. Insofern konstruierte Kant in Grundlegung III die Freiheit gleichsam als ratio essendi der Vernunft und die Vernunft als ratio cognoscendi der Freiheit: Ohne Freiheit gäbe es gar keine Vernunft, und deshalb lässt Vernunft auf Freiheit schließen. Hier wird die Argumentstruktur auf das »Faktum« übertragen. Die Freiheit ist der Seinsgrund des moralischen Gesetzes: In ihm manifestiert sich Freiheit, sodass das Bewusstsein des moralischen Gesetzes umgekehrt »auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt«. 93 Entsprechend ist dann das moralische Gesetz der Erkenntnisgrund der Freiheit, die sich als »transzendentale«, »absolute«, anders nicht erkennen lässt. Erkennen lässt sie sich jedoch anhand der Wirkung, die nur Freiheit haben kann. Insofern ist das »Faktum«, als Bewusstsein des moralischen Gesetzes, mit dem Bewusstsein »der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei«. 94 Im Bewusstsein des moralischen Gesetzes manifestiert sich die Willensbestimmung, das heißt die Autonomie, und Autonomie setzt Kant zufolge Kausalität aus Freiheit, damit aber auch ein entsprechendes Gesetz voraus. Die zentrale Frage ist, ob dieses Argument die Theorie tatsächlich weiterbringt. Ist es seinerseits nicht zirkulär? Löst es die Probleme? Trifft es tatsächlich zu, dass das Bewusstsein des moralischen Gesetzes ein Erkenntnisgrund der Freiheit ist? Und trifft es zu, dass Freiheit das Bewusstsein des moralischen Gesetzes erklärt? Warum sollte das moralische Gesetz ohne Freiheit in uns »gar nicht anzutreffen« sein? Wie wir sehen werden, hängt die Überzeugungskraft der Theorie entscheidend von den Antworten auf diese Fragen ab.

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KpV, AA 05: 4 Fn. KpV, AA 05: 43. KpV, AA 05: 42.

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6. Freiheit und Moralgesetz

Vor dem Hintergrund der Rekonstruktion der Argumentation in Grundlegung III und der Kritik der praktischen Vernunft wende ich mich jetzt der Frage zu, ob Kants Vorhaben der »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität« Aussicht auf Erfolg hat, wobei es vor allem um die »Festsetzung« im Sinn einer Begründung und Rechtfertigung von Geltungsansprüchen geht. 95 Wie ich eingangs sagte, kann das Ziel dieser Diskussion keine umfassende Bewertung oder gar Widerlegung sein. Ich möchte allerdings auf einige der Schwierigkeiten aufmerksam machen, die mit Kants Position auch nach der Neuausrichtung durch den Hinweis auf das »Faktum« wesentlich verbunden sind. Diese Schwierigkeiten stehen jedem unkritischen Verweis auf ein angebliches »Faktum« der Vernunft im Weg, betreffen aber keineswegs nur die Besonderheiten dieses Arguments. Wer sich Kants Moraltheorie auch nur zum Teil zu eigen machen will, muss sich diesen Schwierigkeiten stellen. Eine erste Schwierigkeit, auf die man stößt, wenn man sich Kants Strategie der »Aufsuchung und Festsetzung« des obersten Moralprinzips ansieht, hängt damit zusammen, dass es ihm tatsächlich um die Aufsuchung und Festsetzung »des obersten Prinzips der Moralität« geht. Es wird nicht nur unterstellt, dass es ein solches Prinzip gibt, sondern auch, dass Kants Formeln des kategorischen Imperativs dieses Prinzip richtig darstellen, seinen Inhalt angemessen wiedergeben. Es ist allgemein bekannt, dass es große Schwierigkeiten dabei gibt, dieses Prinzip überhaupt hinreichend klar zu formulieren und zu implementieren. Es ist zudem alles andere als klar, für Kants eigene, im Übrigen berechtigte Erwartungen an eine Theorie aber entscheidend, dass dieses Prinzip in einer hinreichend bestimmten Formulierung vorliegt und vor allem inhaltlich, das heißt moralisch, überzeugt. Hinter seiner Auffassung von moralischen Gesetzen und Prinzipien steht Kants Konzeption der praktischen Vernunft. Kant bestimmt Vernunft als ein »Vermögen der Prinzipien«, und er verbindet das mit einer streng hierarchischen Auffassung von Vernunft und Urteilskraft, die zwar Fragen der Anwendung kennt, aber keine Ausnahmen von einmal als gültig erkannten Moralprinzipien erlaubt. 96 Das führt unweigerlich zum Rigorismus, der Kant seit Erscheinen seiner Schriften vorgeworfen wird. Es ist wichtig zu verstehen, dass es viele, und keineswegs nur »empiristische« Alternativen zu dieser Konzeption der praktischen Vernunft gibt. Das 95 96

GMS, AA 04: 392; s. o., § 2. KrV, B 356, KpV, AA 05: 119.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

versteht sich fast von selbst, verdeutlicht aber, dass Kants Anspruch, überzeitliche, vernünftige, vernunftgegebene Gesetze der Moral zu finden, seinerseits historisch eingeordnet werden muss. Es ist schwer zu bestreiten, dass Kants Konzeption der praktischen Vernunft eine bestimmte, ihrerseits historisch zu erklärende, einseitige, zugespitzte Deutung darstellt, die mit einem Ausdruck von Bernard Williams mit einem gewissen Recht als »rationalistische Konzeption« der praktischen Vernunft beschrieben werden kann. 97 Ich werde die Frage der inhaltlichen Angemessenheit der Formeln des kategorischen Imperativs hier nicht diskutieren. 98 Dagegen möchte ich auf eine Folgerung aufmerksam machen, die bei den detaillierten Diskussionen von Kants Argumenten in Grundlegung III und der Kritik der praktischen Vernunft leicht zu übersehen ist. Kant versucht nicht einfach, ein Moralprinzip als gültig, als verbindlich, als Quelle von moralischer Verpflichtung auszuweisen – er versucht, dieses und kein anderes Moralprinzip als gültig, als verbindlich, als Quelle von moralischer Verpflichtung auszuweisen. Das gilt offenkundig für die Grundlegung, aber es liegt auch als schwere Hypothek auf der Diskussion des »Faktums« der praktischen Vernunft. Denn: Kant versucht nicht einfach, das Bewusstsein der moralischen Verpflichtung, ein Moralprinzip, oder etwas in Gestalt einer Moral, als gegeben auszuweisen. Er versucht, das Bewusstsein der moralischen Verpflichtung durch dieses und kein anderes Moralprinzip, dieses und kein anderes Moralgesetz, als gegeben auszuweisen, und schon diese Beschreibung macht hinreichend klar, dass es sich keinesfalls um etwas dem Bewusstsein schlicht Gegebenes, sich gleichsam selbst Rechtfertigendes, handeln kann. Diese Hypothek lastet noch in einer zweiten Hinsicht auf Kants Argumentation. Es geht nicht nur um die Frage, ob Kants Formel des Moralgesetzes inhaltlich, das heißt: moralisch, angemessen ist. Kant ist auch deshalb darauf festgelegt, dass es ein einziges Moralgesetz gibt, dass es dieses ist und dass es wirklich ein Gesetz ist, weil sein Schluss von der Annahme der Freiheit auf das Moralgesetz auf eben diese Konzeption eines Moralgesetzes angewiesen ist. Es ist für Kant entscheidend, dass es keine Fremdbestimmung der Vernunft im Hinblick auf Moral gibt, weil dadurch eine Form der Bedingtheit, der Bestimmung durch das Äußere, Gegebene, unvermeidbar werden würde, die weder mit dem Anspruch auf die Geltung des Moralgesetzes für alle vernünftigen Bernard Williams: Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge, MA 1985, S. 18. Ich untersuche das berühmt-berüchtigte Beispiel des Lügenverbots in Mario Brandhorst: »Über das Recht, aus Menschenliebe zu lügen«, in: S. Bacin, A. Ferrarin, C. La Rocca und M. Ruffing (Hgg.): Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Kant-Kongresses 2010. Berlin 2013, Bd. 3, S. 75–86. 97

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Wesen noch mit der Vorstellung von Freiheit als Autonomie vereinbar wäre. Freiheit führt in Kants Gedankengang nur deshalb analytisch zum Moralgesetz, weil ein freier Wille als ein Wille konzipiert wird, der sich selbst sein Gesetz in Freiheit gibt. Damit setzt dieses Gesetz Unabhängigkeit von jeder Form der Fremdbestimmung durch das Äußere, Gegebene, voraus. Umgekehrt hängt auch Kants Schluss vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes auf die Freiheit als Bedingung seiner Möglichkeit in der Kritik der praktischen Vernunft davon ab, dass im Bewusstsein des moralischen Gesetzes die Autonomie zum »Faktum« wird: Erst das Bewusstsein eines kategorischen Moralgesetzes kann und soll die Fähigkeit verbürgen, unabhängig von allem Empirischen, Bedingten, Äußeren, Gegebenen zu handeln, sich selbst das Gesetz zu geben und insofern frei zu sein. Fasste man die praktische Vernunft so wie zum Beispiel Aristoteles als einen Aspekt der menschlichen Natur, als wesentlich situativ und affektgebunden, auf, würde die Argumentation schon im Ansatz scheitern. Ein weiterer Aspekt des Gedankens, dass Freiheit und Moralgesetz zusammenhängen, kam bereits zur Sprache: Es ist Kants von Hume angeregte Vorstellung, dass Kausalität begrifflich ein Gesetz voraussetzt, nach dem sich die gegebene Veränderung vollzieht, wenn wirklich ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung vorliegt. Die Kausalität aus Freiheit stellt keine Ausnahme von dieser Regel dar, auch wenn Kant sie im Gegensatz zum »Mechanism der Natur« ausdrücklich nicht als zeitlichen Ablauf konzipiert. Gerade deshalb, weil alle Gesetze der Natur, die Einschränkung auf Raum und Zeit und Sinnlichkeit, im Fall der Freiheit ausgeschlossen sind, meint Kant, für diese besondere Art der Kausalität ein grundsätzlich anderes Gesetz als Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung identifizieren zu müssen, und dieses Gesetz soll das Moralgesetz sein. Wie wir sahen, geht Kant sogar so weit, es als ein Gesetz der »Verstandeswelt« zu beschreiben. 99 Die wesentliche Schwierigkeit dieses Arguments liegt darin, dass es beim Moralgesetz um ein Gesetz zu gehen scheint, das kaum als Kausalgesetz verstanden werden kann. 100 Es beschreibt den guten Willen, soll als Norm verpflichtend sein und nimmt grammatisch die Gestalt des kategorischen Imperativs an. Das wirft die Frage auf: Was hat all das überhaupt mit der Idee der Kausalität zu tun? Und weiter: Wie wäre die freie, der Zurechnung fähige, moralische Verfehlung zu verstehen? Sie wäre ja nicht dem Gesetz der Ver-

GMS, AA 04: 453; KpV, AA 05: 43. Vgl. die kurze kritische Diskussion im Zusammenhang des Arguments der Grundlegung, § 3. 99

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standeswelt gemäß, müsste aber doch auf die Kausalität des Handelnden als Ding an sich zurückzuführen sein. Wie wäre das zu denken? Unklar bleibt daneben auch, mit welchem Recht das Moralgesetz überhaupt als das gesuchte Kausalgesetz identifiziert worden ist. Wer sagt, dass dieses Gesetz nicht ein vollkommen anderes, womöglich unbekanntes ist? Wer sagt, dass Kausalität aus Freiheit Normen etabliert? Solange all das nicht geklärt ist, bleibt auch ungeklärt, warum ein freier Wille sich selbst das von Kant formulierte Gesetz geben sollte. Die These, dass ein freier Wille das tun muss, ist für Kant jedoch sowohl in Grundlegung III als auch in der Kritik der praktischen Vernunft die zentrale Brücke, die ihn von der Annahme der Freiheit zum moralischen Gesetz und zur moralischen Verpflichtung führt. Dieser Punkt verweist auf eine zweite schwere Hypothek, die Kants Theorie belastet. Es ist und bleibt umstritten, wie Kants »konsequente Denkungsart der spekulativen Kritik«, insbesondere die Lehre des transzendentalen Idealismus, angemessen zu interpretieren ist. Es gibt jedoch meines Wissens keine Lesart dieser Lehre, die sie von schwerem metaphysischem Ballast befreien und zugleich Kants Texten gerecht werden kann. Das stellt jeden, der Kant folgen will, vor die Wahl, auch diese Elemente seiner Theorie zu übernehmen oder nur bestimmte Teile dieser Theorie ohne metaphysisch anspruchsvolle, fragwürdige Annahmen zu rekonstruieren. Kant dagegen meint es offensichtlich ernst mit seiner Unterscheidung zwischen einer »Sinnenwelt« und einer »Verstandeswelt«. Er behauptet eine Freiheit, die nur außerhalb von Raum und Zeit zu denken ist, und er behauptet, dass kausale Beziehungen zwischen uns als Ding an sich und uns als Teil der Sinnenwelt bestehen. Dabei soll die Freiheit nicht nur das erklären, was wir tun, sondern ganz ausdrücklich sämtliche Bedingungen umfassen, die unser Handeln in der Sinnenwelt als Teil des Mechanismus der Natur notwendig machen. So schreibt Kant in aller wünschenswerten Deutlichkeit über die Beziehung zwischen uns als »Noumen« und uns als »Erscheinung« in der Zeit: In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich, als Erscheinung, in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und so fern unausbleiblich notwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können; denn sie, mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seines Charakters, den er sich selbst verschafft, und nach welchem er sich, als einer von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache, die Kausalität jener Erscheinungen selbst zurechnet. 101 101 KpV, AA 05: 98. (Im Zitat habe ich »Sittlichkeit« gemäß der Originalausgabe zu »Sinnlichkeit« korrigiert.)

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Deutlich ist die Reichweite der kausalen Hypothese, die von mir als Ding an sich ausgeht und sämtliche Bedingungen meines empirischen Charakters umfasst. Zugerechnet werden können sie mir als ein Ding an sich, weil ich mir ohne die Bedingungen von Raum und Zeit den eigenen empirischen Charakter selbst verschaffe und mir auch einen anderen verschaffen könnte. – Versteht man wirklich, was Kant hier behauptet? Will man sich auch diese Seite seiner Theorie zu eigen machen, wenn man sich die Vorstellung des »Faktums«, des Moralgesetzes, der Freiheit selbst zu eigen macht? Für Kant zumindest sind die Lehren des transzendentalen Idealismus, der Freiheit und des Faktums der Vernunft unmittelbar miteinander verbunden. Schließlich stellt sich noch die Frage, ob Kants Theorie der Freiheit dann überzeugt, wenn man von den allgemeinen Schwierigkeiten seiner Lehre des transzendentalen Idealismus weitestgehend absieht. Kant konzipiert die Freiheit als »Spontaneität«, und er denkt dabei an Erstursächlichkeit. Freiheit ist »absolute Selbsttätigkeit«, oder anders ausgedrückt, ein »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen«. 102 Freiheit kann aus diesem Grund nicht als ein Teil des Mechanismus der Natur verstanden werden. Wenn es Freiheit gibt, dann nur als Teil einer »Verstandeswelt«, als Kausalität eines »Dings an sich« jenseits der Naturnotwendigkeit, die diesen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen nicht gleichsam unterbricht. Zugleich soll Freiheit, so verstanden, eine Ursache für den in Raum und Zeit durch die Naturnotwendigkeit bestimmten empirischen Charakter sein. Wäre nun das Handeln vom Gesetz der Naturnotwendigkeit ganz ausgenommen, könnte es nicht freies Handeln sein: »denn das wäre so viel, als es dem blinden Ungefähr übergeben«. 103 Es stellt sich aber auch die Gegenfrage: Könnte Erstursächlichkeit, Spontaneität, absolute Selbsttätigkeit, die Art von Freiheit sicherstellen, die das Phänomen der Zurechnung verständlich macht? Was hätte diese Art von Kausalität, die für sich genommen schon begrifflich schwer verständlich ist, mit Entscheiden, Überlegen, Absicht und Handlung zu tun? Wäre »absolute Selbsttätigkeit«, ein »Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen«, wirklich mehr, moralisch eher belastbar als ein »blindes Ungefähr«? 104 Nur erwähnen möchte in diesem Zusammenhang, dass in Kants Konzeption letztlich unverständlich bleibt, wie sich jemals jemand frei gegen das Moralgesetz entscheiden kann und in welchem Sinn man hier überhaupt von KrV, B 446, 561; s. o., § 1. KpV, AA 05: 95. 104 Auf Fragen dieser Art gehe ich ausführlicher in einem Aufsatz ein: Mario Brandhorst: »Woran scheitert Kants Theorie der Freiheit?«, in: Mario Brandhorst, Andree Hahmann, und Bernd Ludwig (Hgg.), Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus. Hamburg 2012, S. 279–310. 102 103

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so etwas wie einer Entscheidung und von Freiheit sprechen kann. Gerade dann, wenn das Moralgesetz als das Gesetz der »Verstandeswelt«, als das »Kausalgesetz« des freien Willens, womöglich als »Grund« der Gesetze der Sinnenwelt angesehen werden soll, bleibt völlig unverständlich, wie der Wille nicht durch dieses Gesetz, sondern etwa durch »sinnliche Antriebe« oder entsprechende »Bewegungsgründe« des Eigeninteresses bestimmt werden kann. Wenn aber nicht durch diese, und auch nicht durch die Vernunft, scheint es sich doch um ein »blindes Ungefähr« zu handeln, das buchstäblich durch nichts erklärt werden kann. Es hilft nicht weiter, nur den Ausdruck »Willkür« einzuführen, um den freien »Willen« dann davon zu unterscheiden und nur diesen als vernünftig anzusehen. 105 Das verschiebt nur das Problem: Denn wie und warum sollte ich mich dann, wenn ich eine freie Willkür habe, jemals vom moralisch richtigen Weg abbringen lassen, den mein vernünftiger Wille mir doch deutlich zeigt? Was könnte überhaupt verständlich machen, dass es moralisch falsches Handeln gibt? Kant selbst scheint letztlich zuzugeben, dass es keine Antwort auf die Frage gibt. Er schreibt, der Vernunftursprung »dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d. i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich« – und das eben deshalb, weil diese »Verstimmung« uns selbst zugerechnet können werden muss. 106 Das wirkt paradox und unbefriedigend, doch es ist wohl unvermeidlich eine Konsequenz der Theorie. Jetzt darauf hinzuweisen, dass Kant im Rahmen dieser Theorie immerhin verständlich machen kann, warum Freiheit letztlich unverständlich bleibt, reicht sicherlich nicht aus. Die wichtigere Frage ist, warum man sich eine Theorie zu eigen machen sollte, die so paradoxe Konsequenzen hat.

7. Das »Faktum« und der Schluss auf Freiheit

Sehen wir uns jetzt Kants Argument, das vom »Faktum« der Vernunft auf die Annahme der Freiheit führen soll, genauer an. Wenn die Interpretation, die ich im Anschluss an Bernd Ludwigs Untersuchung oben vorgeschlagen habe, in groben Zügen richtig ist, erhofft sich Kant zweierlei von diesem Argument: 105 Kant führt diese Unterscheidung in der Religionsschrift ein und entwickelt sie in der Metaphysik der Sitten weiter. Der Sache nach ist sie in früheren Schriften bereits gegenwärtig. Verwirrung stiftet dort die undifferenzierte Redeweise vom »freien« und vom »pathologisch affizierten« Willen, die verschiedene Funktionen hat. 106 RGV, AA 06: 43.

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Er zielt erstens darauf ab, die Annahme der Freiheit zu rechtfertigen; und er will das zweitens auf eine Weise tun, die nicht auf eine fragwürdige Annahme wie die der Grundlegung angewiesen ist, dass die Vernunft als praktische Vernunft schon für sich allein den Schluss auf transzendentale, absolute Freiheit möglich macht. Im Hintergrund stand der Verdacht, sich argumentativ in einem Zirkel zu bewegen. Das wäre insbesondere der Fall, wenn man die Annahme der Freiheit machte, um damit moralische Verpflichtung herzuleiten, aber nur aus der moralischen Verpflichtung wieder auf die Freiheit schließen könnte, während gar nicht sicher ist, ob es überhaupt moralische Verpflichtung gibt. 107 In der Grundlegung begegnet Kant diesem Problem mit dem Hinweis auf das Merkmal der Vernunft, das ihm zufolge auf die Zugehörigkeit zu einer »Verstandeswelt« und damit auf die Freiheit schließen lässt. Pistorius stellt das in Frage, Kant selbst tut das bald auch, und so erklärt sich sein Neuansatz ab 1787, der das Bewusstsein des moralischen Gesetzes selbst zum Argument für Freiheit machen soll. Die erste Frage, die sich angesichts der Neuausrichtung stellt, ist offenbar, wie sie den Zirkel vermeiden kann, der Kant in der Grundlegung so große Sorgen machte. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als fiele Kant genau in diese Argumentationsstruktur zurück, wenn er sich auf das moralische Gesetz beruft, um daraus auf Freiheit als Bedingung des moralischen Gesetzes zu schließen. Aus der Freiheit mag man schließen können, dass wir uns in Freiheit das moralische Gesetz selbst geben, und ergänzen, dass sich das Gesetz für uns, als Wesen mit einem unvollkommenen Willen, als Quelle der moralischen Verpflichtung darstellt – doch das würde nichts daran ändern, dass es das moralische Gesetz und die entsprechende Verpflichtung nur dann gibt, wenn es auch Freiheit gibt, und das steht ja in Frage. Das »Faktum« scheint die Evidenz des moralischen Gesetzes zu betonen: Das moralische Gesetz ist gültig, es ist uns bewusst, es ist etwas, das »sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist«. 108 Was aber ist der epistemische Gehalt dieser Erfahrung? Was genau geschieht, wenn das moralische Gesetz sich »für sich selbst uns aufdringt«, sodass daraus Schlüsse auf die Freiheit möglich sind? Tatsächlich spricht Kant davon, Gründe »ausfindig« zu machen, um die Freiheit zu »beweisen«, und er hält daran fest, dass das moralische Gesetz, als Evidenz verstanden, »auf eine reine Verstandes-

107 108

GMS, AA 04: 449–50, 453; s. o., §§ 3 u. 5. KpV, AA 05: 31; vgl. ebd. 99, 105.

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welt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt«. 109 Was rechtfertigt diesen Anspruch? Klar ist, dass sich Kant nicht auf eine Erfahrung oder Anschauung berufen kann, und klar ist auch, dass nicht aus der Vernünftigkeit direkt auf die Freiheit geschlossen werden kann – denn wie Pistorius betont hat und Kant akzeptiert, ist es keineswegs ein Widerspruch, sich ein Wesen mit Vernunft und namentlich mit praktischer Vernunft zu denken, das dennoch dem »Naturmechanismo« unterworfen ist. Im Gegenteil, Kant selbst hält daran fest, dass beides auf uns zutrifft: »Jeder Actus des Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur […]«. 110 Ein Schluss vom Merkmal der Vernünftigkeit auf die Freiheit scheitert daran, dass keine Unvereinbarkeit von praktischer Vernunft und Naturnotwendigkeit diesen Schluss erzwingt. Das hat im Kontext der Kritik der praktischen Vernunft eine klare Konsequenz: Auch das moralische Denken, das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, ist als ein psychologisches Ereignis oder Phänomen selbst eine Begebenheit der Natur. Es muss demzufolge empirischen Erklärungen grundsätzlich zugänglich sein. Kant würde das gewiss auch nicht bestreiten – es ist nichts weiter als die Folge der »konsequenten Denkungsart der spekulativen Kritik«, deren Konsequenz er selbst hervorhebt. Kant würde die Erklärungen vielmehr im »empirischen Charakter« eines Handelnden und dessen Vorgeschichte im Naturzusammenhang verorten. Wie ist dann aber der Schluss vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes auf die Freiheit möglich? Wo liegt jetzt der Widerspruch, der – im Gegensatz zur bloßen Annahme der praktischen Vernunft – »auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt« und einen Schluss auf die Freiheit erzwingt? Die Antwort auf die Frage muss wohl lauten, dass ein Bewusstsein von der Geltung und Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes dasjenige ist, was den Schluss auf die Freiheit ermöglicht. Als psychologisches Ereignis oder Phänomen ist auch das Bewusstsein des moralischen Gesetzes Teil des Mechanismus der Natur, weil das für ausnahmslos alle psychologischen Ereignisse und Phänomene gilt, so wie Kant diese konzipiert. So verstanden gibt uns das moralische Gesetz demzufolge nicht »ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt« – denn es trifft einfach nicht zu, dass das moralische Gesetz in diesem Sinn einer Erfahrung, einer psychologischen Realität, keiner empirischen Erklärung zugänglich ist. Dagegen löst sich dieses Rätsel, wenn 109 110

KpV, AA 05: 15, 43. S. o., MS Vigilantius, AA 27: 503; vgl. KpV, AA 05: 29–30.

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man die psychologische Realität anders beschreibt und dabei die Geltung und Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes als dasjenige auffasst, was uns im Bewusstsein des moralischen Gesetzes zum Bewusstsein kommt. Wenn man das tut, ist es sehr viel überzeugender zu meinen, dass uns das moralische Gesetz ein »Faktum« an die Hand gibt, das »schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärlich« ist. Es ginge um den Unterschied zwischen dem Empirischen, Natürlichen, Psychologischen, und Normativität. Doch jetzt droht das Argument ganz offen zirkulär zu werden: Denn um die Geltung und Verbindlichkeit des Satzes, der sich uns angeblich als ein psychologisches Ereignis und Erlebnis aufdrängt, auszuweisen, reicht es nicht mehr aus, sich auf diesen Eindruck zu verlassen. Denn: Er könnte eine Täuschung sein. Um annehmen zu können, dass er keine Täuschung ist, muss man schon die Annahme der Freiheit machen, und das wäre zirkulär. Das ist die Crux des Arguments. Sehen wir uns das Problem noch aus einem anderen Blickwinkel an. Es ist schwer zu bestreiten: Daraus, dass sich uns ein Satz als wahr oder ein Gesetz als gültig »aufdringt«, folgt in der Regel nicht, dass der Satz tatsächlich wahr oder das Gesetz tatsächlich gültig ist. Lässt sich im Fall des moralischen Gesetzes darauf schließen, dass der Satz tatsächlich wahr, das Gesetz tatsächlich gültig ist? Hilft hier Kants Unterscheidung zwischen »ratio essendi« und »ratio cognoscendi« weiter, die schon zu Beginn der Kritik der praktischen Vernunft den Verdacht ausräumen soll, dass hier ein Zirkel vorliegt? Kant selbst scheint zu betonen, dass auch das Bewusstsein des moralischen Gesetzes nicht von selbst den Schluss auf Freiheit garantieren kann. Er gibt nämlich zu: Selbst dann, wenn es »praktische in unserer Vernunft liegende Grundsätze« gibt, die als Evidenz für Freiheit angesehen werden, könnte diese Evidenz irreführend sein. Das würde sich besonders daran zeigen, dass Freiheit bei näherer Betrachtung »schlechterdings unmöglich ist«: Gesetzt nun, die Moral setze notwendig Freiheit (im strengsten Sinne) als Eigenschaft unseres Willens voraus, indem sie praktische in unserer Vernunft liegende ursprüngliche Grundsätze als Data derselben a priori anführt, die ohne Voraussetzung der Freiheit schlechterdings unmöglich wären, die spekulative Vernunft aber hätte bewiesen, daß diese sich gar nicht denken lasse, so muß notwendig jene Voraussetzung, nämlich die moralische, derjenigen weichen, deren Gegenteil einen offenbaren Widerspruch enthält, folglich Freiheit und mit ihr Sittlichkeit (denn deren Gegenteil enthält keinen Widerspruch, wenn nicht schon Freiheit vorausgesetzt wird,) dem Naturmechanismus den Platz einräumen. 111 111

KrV, B S. XXVIII–XXIX, Vorrede zur 2. Auflage. Im Einklang mit Bernd Ludwigs In-

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Bemerkenswert an der Passage ist, was Kant darin einräumt: Es könnte Grundsätze, ja »Data a priori« geben, die ohne Voraussetzung der Freiheit »schlechterdings unmöglich wären«, ohne dass diese schon für sich genommen einen Schluss auf Freiheit selbst absichern könnten. Das scheint mir richtig und wichtig zu sein: Wenn die Annahme der Freiheit eine Illusion ist, ist auch die Annahme der moralischen Verpflichtung eine Illusion, falls die moralische Verpflichtung von der Freiheit abhängt, und keine »in unserer Vernunft liegende ursprüngliche Grundsätze als Data« würden daran etwas ändern. Natürlich meint Kant selbst, dass er diesen Schluss vermeiden kann. Aber dass er ihn als möglich anerkennt, verdeutlicht, dass auch das Bewusstsein des moralischen Gesetzes nicht viel garantiert, selbst wenn sich zeigen lässt, dass das moralische Gesetz auf Freiheit angewiesen ist. Das wirft erneut und zugespitzt die Frage auf, wie das moralische Gesetz als Erkenntnisgrund, ratio cognoscendi, der Freiheit »im strengsten Sinne« dienen kann. Nimmt man Kant beim Wort, dann wird die Antwort auf die Frage lauten, dass die Freiheit Seinsgrund, ratio essendi, des moralischen Gesetzes ist: Kant sieht in der Idee der Freiheit »die Bedingung des moralischen Gesetzes«, das moralische Gesetz dagegen als das, was »wir wissen«. 112 Er setzt gewissermaßen alles auf die eine Karte des Bewusstseins des moralischen Gesetzes: »Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein«. 113 Wenn Freiheit wirklich die Bedingung im Sinn der Erklärung des Bewusstseins des moralischen Gesetzes ist, das wir erkennen und als gültig und verpflichtend anerkennen, dann würde das moralische Gesetz ohne Freiheit in uns tatsächlich nicht anzutreffen sein. Wenn es so ist, kann man im nächsten Schritt vom Gesetz auf Freiheit schließen. terpretation kann man die Passage so verstehen, dass die neue Strategie, die bald zum »Faktum« führen wird, hier schon als Schattenriss erkennbar wird: Die »Grundsätze« als »Data a priori«, die »ohne Voraussetzung der Freiheit schlechterdings unmöglich wären«, sind das Faktum der Vernunft. 112 KpV, AA 05: 4. 113 KpV, AA 05: 4 Fn. Vgl. zum ersten Satz in diesem Zitat KpV, AA 05: 30, wo Kant schreibt, dass »man niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm die praktische Vernunft dazu gekommen und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen«. Das heißt natürlich auch, dass nach Kants eigenem Urteil die Verteidigung der Freiheit schwerfällt, wenn nicht gar unmöglich wird, falls sich herausstellen sollte, dass uns die praktische Vernunft keineswegs das Sittengesetz, oder das Sittengesetz keineswegs den Begriff der Freiheit, »aufdringt«.

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Ist es aber wirklich so? Es sieht nicht danach aus. Erstens ist es möglich, dass es ein moralisches Gesetz auch ohne die transzendentale Freiheit gibt. Es könnte beispielsweise ausreichen, dass wir über »praktische« Freiheit verfügen und damit über eine Fähigkeit, unabhängig von gegebenen Neigungen überlegen, entscheiden und handeln zu können. Kant zufolge wäre das für Autonomie und Moralgesetz noch nicht genug, aber das wäre erst zu zeigen. Insofern lässt die Annahme, dass es moralische Verpflichtung gibt, nicht direkt auf Freiheit schließen. Dieser Schluss wird erst dann möglich, wenn man bereits zugesteht, dass Freiheit das Moralgesetz hervorbringt, es bedingt und auch erklärt, also das moralische Gesetz als Autonomie und Autonomie als Manifestation der Freiheit anzusehen sind. Das aber wäre wieder zirkulär. Zweitens hat sich nichts daran geändert, dass unser vermeintliches Bewusstsein von der Gültigkeit des moralischen Gesetzes nicht als Wissen angesehen werden muss, sondern Ausdruck einer Illusion sein kann, sodass aus der Überzeugung von der Gültigkeit des moralischen Gesetzes auch dann nicht geschlossen werden kann, dass diese Überzeugung wahr ist, wenn moralische Verpflichtung durch moralische Gesetze tatsächlich auf Freiheit angewiesen ist. Freiheit dann vorauszusetzen, wäre wieder zirkulär. Aus diesem Grund scheint mir Kants Versuch, die Annahme der Freiheit durch einen direkten Schluss aus dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes herzuleiten, zum Scheitern verurteilt zu sein. Gibt es einen indirekten Schluss, der die Annahme der Freiheit etabliert? In meiner Interpretation habe ich zwei Richtungen unterschieden, in die Kants Gedankengang im Ausgang vom »Faktum« zur Annahme der Freiheit führt. Die erste Richtung führt zum Argument, dass uns im Bewusstsein einer kategorischen Verpflichtung durch das moralische Gesetz die Autonomie zu Bewusstsein kommt, die Autonomie aber nur durch Kausalität aus Freiheit möglich ist. Vor diesem Hintergrund meint Kant, »daß dieses Faktum mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei«, weil das Faktum ihm zufolge zeigt, dass reine praktische Vernunft sich selbst das moralische Gesetz gibt und als solche wirksam ist. Das stellt allerdings eine derart komprimierte Fassung des Gedankens dar, dass sie dessen Schlusscharakter überdeckt. Deckt man diesen wieder auf, wird deutlich, dass es vieler zusätzlicher Annahmen bedarf, um vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes zu seiner Erklärung zu gelangen, und dass das Bewusstsein des moralischen Gesetzes weder Irrtum ausschließt noch auf eine bestimmte Erklärung seines Ursprungs schließen lässt. Der indirekte Schluss geht etwas anders vor, doch er führt in Schwierigkeiten, die vergleichbar sind. Indirekt ist dieser Schluss, weil er zusätzliche Annahmen einführt. Er stützt sich insbesondere auf das Prinzip, dass Sollen Können impliziert, und als sol-

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

cher wird der indirekte Schluss sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Kritik der praktischen Vernunft bemüht. Das Beispiel der Drohung mit der Todesstrafe illustriert, wie Kant diesen Schluss versteht: Es geht vom Bewusstsein eines Sollens aus, das auf ein Können und erst dadurch auf die Freiheit schließen lässt. Wer zu einer moralisch falschen Tat gezwungen werden soll, könnte sich dem selbst dann widersetzen, wenn dies seinen Untergang zur Folge hätte: »Er urteilet also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre«. 114 Doch mit welchem Recht fällt der Bedrohte dieses Urteil? Es liegt auf der Hand, dass es einen bestimmten engen und begrifflichen Zusammenhang von Sollen und Können gibt, der sich besonders im Zusammenhang der Verpflichtung zeigt: Wer sich fragt, was er moralisch tun muss oder sollte, eine Antwort findet und erkennt, dass diese Handlung gar nicht auszuführen ist, wird neu überlegen müssen. Er wird sich dagegen nicht mehr für verpflichtet halten, das zu tun, was er entweder unter den gegebenen Umständen oder viel grundsätzlicher, ganz allgemein, nicht tun kann. Entsprechend gibt es einen Schluss auf die Annahme der Freiheit, der sich aus der Annahme des Sollens selbst ergibt: Wenn ich annehme, dass ich moralisch zu etwas verpflichtet bin, dann muss ich in einem bestimmten Sinn auch annehmen, dass ich es tun kann. Das setzt unter anderem voraus, dass es mir freisteht, es zu tun, und das ist ein Schluss auf eine Annahme der Freiheit. Das Problem ist wie zuvor, dass unklar und umstritten ist, welche Freiheit genau vom moralischen Sollen vorausgesetzt wird. Könnte es nicht auch die »komparative«, mit dem »Mechanismus der Natur« nicht nur zu vereinbarende, sondern auch auf ihn beschränkte, Freiheit sein? 115 Es gehört natürlich zu Kants tiefsten Überzeugungen, dass diese »Freiheit eines Bratenwenders« für das Sollen der Moral und für die moralisch aufgefasste Zurechnung des Handelns nicht ausreichen kann. 116 Aber diese Überzeugung muss man vor dem Hintergrund des Sachproblems erst diskutieren, bevor sie als Prinzip in einem Schluss auf Freiheit argumentative Lasten tragen kann. Das entscheidende Problem ist freilich wiederum ein anderes, und auch dessen Parallele hatten wir bereits gesehen: Es könnte einfach falsch sein, dass wir frei sind, und das gilt auch dann, wenn das moralische Sollen und die moralische Zurechnung tatsächlich Freiheit im »transzendentalen«, »absoluten« Sinn voraussetzen sollten. Dass wir nicht frei sind, hätte dann lediglich 114 115 116

KpV, AA 05: 30; vgl. 95–6, 99, 159; s. o., §§ 1 u. 5. Vgl. KpV, AA 05: 96–7. Ebd.

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zur Folge, dass es in Wirklichkeit kein moralisches Sollen, keine moralische Zurechnung und kein autonomes Subjekt als Instanz für beides gibt, so wie Kant diese Konzepte versteht. Was aber würde das beweisen? Kant könnte entgegnen, dass wir sicher sind, dass es ein moralisches und kategorisches Sollen und Zurechnung nach diesem Maßstab gibt. Das mag so sein, verbürgt aber nur wenig. Es würde insbesondere eher nahelegen, sich nach grundsätzlich anderen Deutungen des Sollens der Moral, der Zurechnung und Freiheit umzusehen, die eher Aussicht darauf haben, dass ihre Bedingungen erfüllbar sind. Ein plausibles Argument für Freiheit im Sinn einer anspruchsvollen »kosmologischen Idee« findet sich hier nicht.

8. Lohnt sich die Investition?

Was ist das Ergebnis dieser Diskussion? Wie eingangs gesagt war das Ziel der hier angestellten Überlegungen nicht, Kants Argumentation zu widerlegen, geschweige denn Alternativen auszuloten oder gegen Kants Prämissen zu verteidigen.117 Es ging mir vor dem Hintergrund der Analysen von Bernd Ludwig zunächst um eine genaue und textnahe Rekonstruktion der großen Linien der Argumentation, die Kant in seiner kritischen praktischen Philosophie zur Annahme der Freiheit führt. Während in der Grundlegung noch der Begriff der Vernunft den Rückschluss auf eine Verstandeswelt mit eigenen Gesetzen und damit auf die Freiheit und Autonomie möglich machen soll, steht im Mittelpunkt der späteren und »konsequenten Denkungsart« der kritischen Philosophie das Moralgesetz selbst. Es soll auf einem direkteren Weg, gleichsam durch sich selbst beglaubigt, die Wirklichkeit der Freiheit sicherstellen. Wie sich gezeigt hat, und wie sich von selbst versteht, sind beide Argumentationslinien interpretationsbedürftig. Zumindest die Rekonstruktionen, die ich vorgeschlagen habe, haben wenig Aussicht auf Erfolg. Das wirft die Frage auf, wie Kants Konzeption des Zusammenhangs von Freiheit und Moralgesetz zu bewerten ist. Offenbar geht der Diskussionsbedarf im Hinblick auf die Sache jedoch weit über diese Schwierigkeit hinaus. Ein Ergebnis dieser Diskussion ist, dass aus dem argumentativen Zirkel, der Kant in der Grundlegung so große Sorgen macht, tatsächlich schwer »herauszukommen« ist. 118 Wenn man Freiheit und Autonomie als »Wechsel117 Eine konsequent naturalistische Deutung des ethischen Lebens skizziere ich in Mario Brandhorst: Ethischer Naturalismus. Ein Plädoyer, Berlin 2023. 118 GMS, AA 04: 450.

Moralische Verpflichtung, Freiheit und das »Faktum« der Vernunft

begriffe« versteht, die einander nicht begründen können, sondern eher zwei Seiten einer Fähigkeit beschreiben, die wir Kant zufolge haben, wird man nur versuchen können, den Zusammenhang der beiden zu bekräftigen und dafür zu argumentieren, dass es diese Fähigkeit mit den zwei von Kant hervorgehobenen Aspekten wirklich gibt. Auf diese Weise würde sich der argumentative Zirkel in einen hermeneutischen verwandeln, der von der Annahme der Freiheit zur Autonomie, von dort zum Moralgesetz und von dort zurück zur Willensfreiheit führt, wobei sich immer wieder neu die Frage stellt, welche Elemente von Kants Theorie man sich im Vollzug dieser Bewegung selbst zu eigen machen will. Alles deutet darauf hin, dass ein hermeneutischer Zirkel, der von Kants Theorie von Freiheit, Autonomie und Moralgesetz ausgeht, sehr schnell weite Kreise ziehen wird. Das zeigt sich an den vielen Hypotheken, die Kants Theorie belasten, auch wenn diese in der Diskussion der Argumentation nur kurz angesprochen werden konnten. Ich stelle sie hier als eine offene Reihe von Fragen zusammen, die überzeugende Antworten brauchen, bevor überhaupt entschieden werden kann, welche Theorie verteidigt werden soll. Kants Argumentation geht vom Begriff eines moralischen Gesetzes aus, das Kant für Wesen unserer Beschaffenheit als Quelle von moralischer Verpflichtung ansieht. So muss man fragen: Will man sich Kants Deutung des moralischen Gesetzes selbst zu eigen machen? Ist es inhaltlich den Phänomenen wirklich angemessen? Will man sich Kants Deutung des »Vermögens« der Vernunft zu eigen machen, die sehr eng an Begriffe wie Gesetz, Prinzip und Selbstgesetzgebung gebunden ist? Ist der Begriff der Pflicht überhaupt so zentral in der Moralphilosophie, wie Kant offensichtlich meint? Ist er überhaupt so zu verstehen, dass Pflichten aus einem selbstgegebenen Gesetz, aus der Vernunft, aus dem Willen des Verpflichteten selbst, zu entwickeln sind, oder ist diese Konzeption von vornherein verfehlt? Ist Kants Konzeption der Freiheit als Spontaneität überhaupt verständlich? Wie verstehen wir die metaphysische Struktur, die Kant im Hintergrund errichtet, um im Rahmen seiner »konsequenten Denkungsart« die Annahme der Möglichkeit und Wirklichkeit der Freiheit zu begründen? Folgt aus der Annahme der Freiheit wirklich, dass wir uns das Moralgesetz selbst geben, dass »reine Vernunft« in diesem anspruchsvollen Sinn praktisch ist? Sieht man das Moralgesetz als ein Kausalgesetz, das zu einer Verstandeswelt gehört und die Wirksamkeit von praktischer Vernunft und Moralgesetz erst möglich macht? Ist diese Sicht der Dinge überhaupt verständlich? Und stellt die Theorie nicht eine neue, paradoxe Überhöhung menschlicher Zusammenhänge dar? Fragen dieser Art muss man sich dann stellen, wenn man über Fragen der Interpretation hinausgehen und Position beziehen will. Es gilt, das Phänomen

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der moralischen Verpflichtung selbst zu interpretieren. Hier ist Nietzsches oft zitierte und doch irreführende Bemerkung richtig, dass es keine »Thatsachen«, sondern nur »Interpretationen« gibt: »Wir können kein Factum ›an sich‹ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen«. 119 Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das einer sorgfältigen Auslegung bedarf. Wichtig ist es deshalb auch, sich in Erinnerung zu rufen, dass wir keineswegs gezwungen sind, unsere ethische Erfahrung in Begriffen der moralischen Pflicht, eines Sittengesetzes, der Autonomie, der Willensfreiheit zu strukturieren. 120 Es handelt sich nicht um Gegebenes, sondern um eine bestimmte Interpretation, die nicht nur ihrerseits wandelbar ist, sondern auch einen wandelbaren Gegenstand betrifft. Fragen dieser Art muss man sich also auch dann stellen, wenn man eine Argumentation aufrechterhalten will, die irgendeine, sei es nur entfernte Ähnlichkeit mit Kants Theorie vom »Faktum« haben soll. Kant selbst sieht den Begriff der Freiheit, »so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«, als »Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft« an. 121 Ein Schlussstein schließt den Bogen oder das Gewölbe ab, das sich nach dem Einsetzen des Steins selbst trägt. Der Schlussstein trägt und wird getragen, und das trifft zweifellos auf Kants sorgfältige Ausformung und architektonische Verwendung des Begriffs der Freiheit zu. – Treten wir hinaus: Eine erste Frage ist, ob das vollendete Gewölbe sich selbst trägt. Eine zweite Frage ist, ob man in ein Gebäude, das sich zwar selbst trägt, auf dem aber viele derart schwere Hypotheken lasten, wirklich investieren will.

119 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Ende 1886–Frühjahr 1887, 7 [60]. Nachlaß 1885–1887, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, Band 12, S. 315. 120 Das ist eine historische Einsicht, zu der Kant nur teilweise durchgedrungen ist. Ein Teil der Erklärung dafür liegt offenbar in Kants eigener universalistischer Deutung der Vernunft und der Moral. Vgl. zur Beziehung von Antike und Moderne in Bezug auf die Moralpsychologie Bernard Williams, Shame and Necessity, Berkeley 1993. 121 KpV, AA 05: 4.

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Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen? Kants Universalismus auf dem Prüfstand

Seit geraumer Zeit werden in den westlichen Kulturen die sogenannten Klassiker auf ihre moralische Tauglichkeit überprüft und dafür an vermeintlich allgemeingültigen moralischen Maßstäben gemessen. Dabei steht insbesondere ein Problem im Vordergrund, nämlich die Frage, ob sich in ihren Texten Aussagen finden lassen, die aus heutiger Sicht als rassistisch zu bewerten sind. Aus verständlichen Gründen liegt der Fokus vor allem auf den bedeutenden Vertretern der Aufklärung. Waren sie es doch, die den Grundstein für universelle Maßstäbe legten und bis heute als Begründer etwa der Menschenrechte gefeiert werden. Längst aber hält sich der Verdacht, dass diese Heroen der Aufklärung selbst den aufgeklärten moralischen Ansprüchen an ihre Person und auch an ihre Schriften nicht gerecht werden können. Das nährt natürlich die Befürchtung, dass die universellen Ideen der Aufklärung vielleicht doch nicht so universell gemeint waren, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. So wird es zwar niemanden überraschen, dass Aristoteles die Sklaverei lobte, da er sie offen befürwortete und auch dafür argumentierte, dass es Sklaven von Natur aus gebe. Wer aber zum ersten Mal erfährt, dass John Locke am Sklavenhandel verdient hatte oder Thomas Jefferson selbst Sklaven hielt, wird schon ein wenig ins Grübeln kommen, weil er nach den veröffentlichten Schriften dieser Autoren ein anderes Verhalten erwartet hätte. Immerhin gilt Ersterer bis heute als einer der Gründerväter der Aufklärung mit seinen Ideen von Freiheit, Gleichheit und der Unverletzlichkeit von Person und Eigentum, und Letzterer gehört zu den prägenden Persönlichkeiten, die diese Ideen in die Tat umgesetzt haben. Das wirft natürlich die Frage auf, ob es moralische Ignoranz war, die ihr Handeln bestimmte, oder ob etwas mit der Theorie oder der Umsetzung der Theorie selbst nicht stimmte. In Deutschland hat sich das Interesse in den letzten Jahren vor allem auf Kant gerichtet, der vielen als Leuchtturm der Aufklärung gilt. 1 Tatsächlich 1 Siehe Charles W. Mills: Black Rights/White Wrongs. The Critique of Racial Liberalism, Oxford 2017, 91.

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scheint es auch bei Kant vergleichbare Widersprüche zu geben. Einerseits gilt er als Inbegriff universeller Moralvorstellungen. Zugleich aber finden sich in Kants Werk geradezu beunruhigende Äußerungen über Menschen nichteuropäischer Herkunft. Besonders herablassend äußerte sich Kant über die Bewohner Afrikas und Amerikas, 2 aber auch asiatische oder semitische Völker werden auffallend oft und offenbar auch genüsslich mit Stereotypen bedacht und herabgewürdigt. Obwohl diese Texte seit langem bekannt sind, tut sich die Kantforschung mit der Einordnung der darin enthaltenen Aussagen schwer. Lange Zeit herrschte der Versuch vor, sie in ihrer Bedeutung abzuschwächen oder gar aus Kants Werk zu eliminieren. 3 Gibt man zu, dass es sich in der Tat um skandalöse Aussagen handelt, so liegt die Reaktion nahe, Kants Universalismus gegen seinen Begründer zu wenden und darauf zu beharren, dass die reine Lehre selbst durch diese Aussagen nicht beschmutzt werden könne. 4 Im Gegenteil, man ist sogar bestrebt, diese reine Lehre als einziges Heilmittel gegen die spalterischen Umtriebe der Rassismuskritik anzuwenden. Schließlich, so hört man, müsse sich auch diese an den universalistischen Standard halten. Auch wenn ich mit dieser Haltung sympathisiere, möchte ich im Folgenden einem Verdacht nachgehen, nämlich dem, dass der Universalismus selbst Teil des Problems sein könnte. Im Unterschied zu seinen modernen Nachfolgern denkt Kant diesen Universalismus jedoch konsequent zu Ende und scheut auch nicht die aus heutiger Sicht alarmierenden Konsequenzen, die sich daraus etwa für die Perspektive auf andere Menschen und ihre Gesellschaftsformen ergeben, wenn diese an universellen Maßstäben gemessen werden. Ich werde in drei Schritten vorgehen. Zunächst soll untersucht werden, was Kant veranlasst haben könnte, seine Theorie der Menschenrassen zu entwickeln. Auch hier liegt ein prinzipiell universalistischer Gedanke zugrunde: Kant will zeigen, dass die Menschen bei aller offensichtlichen Verschiedenheit einen gemeinsamen Ursprung haben. Im zweiten Abschnitt soll Kants Umgang mit diesen Unterschieden selbst sowie seine aus heutiger Sicht diskriminierende Bewertung unterschiedlicher kultureller Leistungen in den Blick ge2 Erich Adickes: Kant als Naturforscher. Bd. 2, Berlin 1925, S. 415 bemerkt unter Berufung auf Unold, dass Kants Urteil über die amerikanischen Ureinwohner hauptsächlich auf Buffon und de Pauw zurückgehe. 3 Siehe die beiden Aufsätze von Michael Wolff: »Antirassist aus Prinzip«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (29. 07. 2020) sowie: »Prüfung eines Zitats. Kant war ein Antirassist«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (08. 07. 2020). 4 Siehe Omri Boehm: »Immanuel Kant. Sie wollen ihn stürzen sehen«, in: Die Zeit, 49 (26. 11. 2020).

Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen?

nommen werden. Im letzten Abschnitt soll genauer erläutert werden, wie sich diese abwertenden Urteile Kants aus seinen universalistischen Voraussetzungen ergeben. Auch wenn es vielleicht nicht opportun ist, diese Urteile auszusprechen, wird man doch zugeben müssen, dass es sich um konsequente Folgerungen aus den Grundannahmen Kants handelt.

1. Kants ›Rassenlehre‹

Dass Kant sich überhaupt mit der Einteilung der Menschen in Rassen beschäftigt hat, mag auf den ersten Blick verwundern und gehört nicht zu dem, was man gemeinhin mit Kant verbindet. Umso erstaunlicher ist es zu erfahren, dass Kant mit seinen Vorstellungen zu den Menschenrassen die erste wissenschaftliche Begründung für eine Rassenlehre geliefert zu haben scheint. Bernasconi bezeichnet Kant sogar als den eigentlichen Erfinder des Rasse-Begriffs, da erst mit Kant eine vermeintlich wissenschaftliche Grundlage geschaffen wurde, auf der die weitere Verwendung erfolgen konnte. 5 Wenn man nun davon ausgeht, dass die Einteilung in biologisch unterschiedliche Rassen den Grundstein für den modernen Rassismus und folglich auch für die aufgrund dieses Rassismus ausgeführten Untaten gelegt hat, dann liegt es nahe, Kant selbst den Vorwurf zu machen, eine Art Übervater des modernen Rassismus zu sein. Dass das natürlich ein Kurzschluss ist, sollte jedermann und jeder Frau bei nur geringer geistiger Anstrengung klar sein. Nicht nur, weil es keine monokausalen Erklärungen geben kann, die direkt von Kant ins Dritte Reich führen. Vor allem darf nicht vergessen werden, dass die Rassentheorie, auch wenn sie heute untrennbar mit bestimmten moralischen Urteilen verbunden ist, in erster Linie eine (wissenschaftliche?) Theorie darstellt. Als solche macht sie zwar ihre Geschichte und die mit ihr verbundenen moralischen Urteile verwerflich. Aber als Theorie ist sie entstanden, um auf bestimmte Probleme zu antworten. Im Folgenden möchte ich auf diese Probleme aufmerksam machen und untersuchen, was Kant dazu bewogen hat, diese Theorie zu entwickeln und was er genau darunter verstand. Ohne auf die verwickelte Geschichte der nachkantischen Entwicklung der Rassentheorie einzugehen, soll hier vor allem Kants eigene Position und 5 Bernasconi beruft sich auf Walter Scheidt, der bereits 1920 behauptet hat, dass Kant der erste Theoretiker gewesen sei, der für sich in Anspruch nehmen könne, den Begriffs der Rasse begründet zu haben, auch wenn der Begriff selber älter sei. Siehe Robert Bernasconi: »Who Invented the Concept of Race: Kant’s role in the Enlightenment Construction of Race«, in: Race, ed. by R. Bernasconi, Malden, Oxford 2001, S. 11–36: S. 14–15.

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die für ihn relevante Ausgangssituation näher beleuchtet und herausgearbeitet werden, warum Kant diese Theorie vorschlägt. Es zeigt sich nämlich, dass die Ausarbeitung der Theorie nicht von latenten antiuniversalistischen Tendenzen im Denken Kants geleitet wird, sondern ganz im Gegenteil konsequent Kants vernunftbegründetem Universalismus folgt. Die veröffentlichte Ausarbeitung von Kants Rassentheorie geschieht in drei Aufsätzen, die über einen Zeitraum von 15 Jahren erschienen sind. 6 Inhaltlich gibt es keine großen Unterschiede zwischen den drei Schriften. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Veröffentlichung des ersten Aufsatzes noch in die sogenannte vorkritische Phase von Kants Philosophie Mitte der 1770er Jahre fällt (Von den verschiedenen Racen der Menschen 1775). Merkwürdig ist das auch deshalb, weil Kant in dieser Zeit, die viele als die zehn Jahre des Schweigens bezeichnen, nichts weiter veröffentlicht hat. Erst mit der Drucklegung der Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781 endet diese Phase. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Text als Ankündigung der Vorlesung über physische Geographie im Sommersemester 1775 erschien, was bereits darauf hindeutet, dass die Arbeit im Umfeld der kantischen Lehrtätigkeit entstanden ist. Derselbe Text ist in leicht überarbeiteter Form 1777 noch einmal in dem von J. J. Engels herausgegebenen popularphilosophischen Werk »Philosoph für die Welt« erschienen. Auch dieses Werk richtet sich an eine breitere, nicht akademische Leserschaft. In den 1780er Jahren greift Kant die Theorie wieder auf. So veröffentlicht er 1785 die Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace. Auch wenn Kant keinen äußeren Anlass für die Veröffentlichung nennt, fällt auf, dass der Text kurz nach seinen Rezensionen der Herderschen Ideen erschienen ist. Herder hatte sich in seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk kritisch zur Einteilung der Menschen in Rassen geäußert. In dem drei Jahre später erschienenen Werk Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie gibt Kant ausdrücklich an, was ihn zu dieser Schrift bewogen hat. Er reagiert damit nach eigenen Angaben auf die Kritik Forsters an dem zuvor erschienenen Text.

6 Werner Stark merkt an, dass Kant den Begriff ›Rasse‹ mit Bezug auf Menschen zum ersten Mal im Ms Herder der 1760er Jahre verwendet (1763/64). Kants Referenztext ist von Maupertuis (Die Naturlehre der Venus, 1747). Von Rasse ist dort mit Bezug auf die Tierzucht die Rede (siehe auch VvRM, AA 02: 431). Vollständig entwickelt soll Kants Begriff der Rasse laut Stark ab dem Ms Hesse (1770) und den Zusätzen von Philippi (im Sommer 1773) sein. Siehe Immanuel Kant: Vorlesung über Physische Geographie. Zweiter Teil, erste Hälfte. Kants Gesammelte Schriften, herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Band XXVI, bearbeitet von Werner Stark unter Mitwirkung von Reinhard Brandt, Berlin, Boston, 2020, S. 107.

Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen?

Sieht man von diesen äußeren Anlässen der Veröffentlichung ab, so stellt sich die Frage, welche prinzipiellen Ziele Kant mit seiner Rassentheorie verfolgt. Bereits Adickes hat drei unterschiedliche Ziele identifiziert, die Kant mit seiner Theorie zu verfolgen scheint. 7 Adickes sieht Kants Hauptanliegen darin, begriffliche Klarheit zu schaffen (BBMR, AA 08: 91). Da der Rassenbegriff zuvor zwar häufig, auch von Kant, verwendet wurde, aber begrifflich unterbestimmt geblieben war, soll es Kant vor allem darum gegangen sein, eine einheitliche, wissenschaftliche Definition des Begriffs selbst zu entwerfen. Damit stimmt Adickes inhaltlich mit Bernasconis Einschätzung überein. Im Gegensatz zu Bernasconi lobt Adickes Kant 1925 jedoch für seinen architektonischen Geist und dafür, dass er sich der Thematik wissenschaftlich angenommen habe. 8 Zweitens soll für Kant die Anwendung auf die Empirie wichtig gewesen sein. In diesem Zusammenhang ist sicherlich bedeutsam, dass der Begriff bereits zuvor von Kant im Rahmen der Vorlesungen zur physischen Geographie eingeführt und sukzessive weiterentwickelt wurde. Hier hat Kant ihn vor allem in seiner Klassifikation der Volkscharakteristika und der körperlichen Unterschiede zwischen den Menschen verwendet und zur Beantwortung der Frage, wie diese auf unterschiedliche geographische und klimatische Bedingungen zurückgeführt werden können. Das dritte Ziel besteht laut Adickes darin, die Unterschiede zwischen den Menschen zu erklären und mit der Annahme zu vereinbaren, dass alle Menschen denselben Ursprung haben. Der Kern des hier behandelten Problems liegt gewissermaßen in der Bibel und der dort überlieferten Vorstellung, dass die Menschheit von einem einzigen Paar abstammt. Schon vor Kant gab es in dieser Frage erhebliche Meinungsverschiedenheiten, vor allem im Hinblick auf die offensichtlichen Unterschiede, die zwischen den Menschen bestehen. Da die Bibel, im Gegensatz zur Verschiedenheit der menschlichen Sprachen, hierüber nichts zu berichten weiß, wurde die Frage aufgeworfen, ob es nicht auch Völker anderer Herkunft geben könnte. Das bedeutet jedoch, dass man von mehreren, verschiedenen Menschenstämmen ausgehen müsste. Auch wenn es heute vielen nicht mehr nachvollziehbar erscheint: Kant hat sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandergesetzt. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, dass Kant in den 1780er Jahren in einem anderen Werk

Das wissenschaftliche Interesse Kants an der Fragestellung betont auch Bernasconi: Concept of Race, S. 21. Bernasconi weist auch darauf hin, dass Kants Anliegen, alle Menschen auf einen Urstamm zurückzuführen, der Idee der Sklaverei prima vista widerspricht. 8 Adickes: Kant als Naturforscher, S. 407. 7

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(Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 1786) auf dasselbe Thema zurückkommt. 9 Betrachten wir Kants Begriff der Menschenrasse etwas genauer und sehen wir, wie er sich zu den drei vermuteten Zielen verhält. Zunächst ist es wichtig festzustellen, dass es um Unterschiede innerhalb einer Gattung geht. Für Kant ist das entscheidende Merkmal der Gattung und der Arten (im Tierreich), dass sie gemeinsame Nachkommen hervorbringen können (VvRM, AA 02: 429). Wenn Kant hier von der Einteilung in Klassen nach Ähnlichkeit spricht, so steht im Hintergrund für dieses Vorgehen Linné als Pate. Die Einteilung in Stämme nach Verwandtschaft bezieht sich hingegen auf Buffon. 10 Wichtig ist wie gesagt vor allem die Beobachtung, dass alle Menschen untereinander Kinder zeugen können (siehe auch V-Geo/Kaehler, AA 26.2/1: 504). Kant stellt nun fest, dass für diesen Umstand nur eine mögliche Ursache denkbar ist: dass alle Menschen derselben Naturgattung und folglich demselben Stamm angehören (VvRM, AA 02: 429–30; ÜGTP, AA 08: 165). Diese Schlussfolgerung wird durch folgende Überlegungen gestützt: Angenommen, es gäbe diese gemeinsame Ursache, aber keinen gemeinsamen Stamm, dann würden sich die Menschen nach ihrer Abstammung in verschiedene Stämme aufteilen. Das Ergebnis wären lokale Schöpfungen. Das würde aber der Feststellung widersprechen, dass die Natur in ihren Mitteln so einfach wie möglich vorgeht. Und man würde die Zahl der Dinge ohne Not künstlich vermehren (VvRM, AA 02: 430). 11 Wissenschaftlich und letztlich auch durch die Natur der Vernunft selbst geboten ist für Kant hingegen die Annahme, dass die Menschen aus nur einer Familie abstammen, die erblichen Unterschiede zwischen ihnen nennt Kant unter dieser Voraussetzung Variationen oder Abartungen. Mit diesen Abartungen ist man schon nahe am Begriff einer »Menschenrace«. Damit aus den Abartungen Rassen werden, müssen nach Kant noch weitere Bedingungen erfüllt sein. Erstens müssen sie sich mit ihren Eigenschaften in der langen Reihe der Zeugungen erhalten. Zweitens müssen sie, wenn sie sich vermischen, »halbschlächtige Kinder« (VvRM, AA 02: 430) oder, wie Kant sie auch nennt, »Blendlinge« (ebd.) hervorbringen. Das heißt also, dass bei der Vermischung echter Rassen ein Zwischenschlag entstehen muss (VvRM, AA 02: 430; BBMR, AA 08: 95–96; V-Geo/Hesse, AA 26.2/1: 112). Kant spricht über diese Thematik auch in seinen Vorlesungen. Siehe V-Anth/Collins, AA 25 2/1: 1186–1187. 10 Stark (V-Geo/Hesse, AA 26 2/1: 108) verweist auf die deutsche Übersetzung von Buffons Allgemeinen Historie der Natur, Bd. VI.1, 1767, S. 204 ff. Buffon spricht sowohl von »Stammart« als auch von »Stammrace«. 11 Zu den zugrunde liegenden wissenschaftsmethodologischen Überlegungen siehe KrV, A 645–688/B675–696. 9

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Wenn die erste Bedingung nicht erfüllt ist, handelt es sich nicht um eine Rasse, sondern um einen bestimmten Schlag. Diese bilden sich z. B. unter dem Einfluss des Lebensraumes und der klimatischen Bedingungen aus. Die Prägung betrifft etwa die Größe oder auch die körperliche Konstitution der Individuen, charakterliche Eigenschaften können ebenfalls betroffen sein. Es ist wichtig zu sehen, dass diese Einflüsse verschwinden, sobald der Ort gewechselt wird. Wenn Menschen an einen anderen Ort umgesiedelt werden, passen sie sich der dortigen Gesellschaft an. Es handelt sich somit nicht um angeborene, sondern durch äußere Einflüsse erworbene Eigenschaften (VvMR, AA 02: 431). Die zweite Bedingung weist darauf hin, dass es sich nicht um »Spielarten« (VvRM, AA 02: 430) oder Variationen handelt, wie sie z. B. bei Haarfarben auftreten. Die Mischung eines blonden mit einem brünetten Menschen kann entweder einen blonden oder einen brünetten Menschen ergeben. 12 Aus der Anwendung dieses Rassenbegriffs ergeben sich für Kant nicht mehr als vier Rassen: Stammgattung. Weiße von brünetter Farbe. Erste Race, Hochblonde (Nordl. Eur.) von feuchter Kälte. Zweite Race, Kupferrothe (Amerik.) von trockner Kälte. Dritte Race, Schwarze (Senegambia) von feuchter Hitze. Vierte Race, Olivengelbe (Indianer) von trockner Hitze. (VvMR, AA 02: 441; siehe auch VvMR, AA 02: 432)

Zumindest in den frühen Schriften ist Kant der Ansicht, dass es so etwas wie eine Stammgattung geben muss, und das soll die weiße Gattung sein. 13 Aus dieser Stammgattung haben sich dann unter dem Einfluss des Klimas die verschiedenen Ausprägungen innerhalb der Gattung und später die einzelnen Rassen entwickelt. Dabei spielen vor allem Feuchtigkeit und Wärme eine Rolle. In der Literatur wird als problematisch angesehen, dass Kant nicht nur diese Rassen unterschieden, sondern ihnen darüber hinaus noch bestimmte weitergehende Attribute zugeordnet hat. So scheint er davon überzeugt geDer Hauptunterschied zwischen den drei publizierten Schriften besteht darin, dass Kant diese Einteilungen nur in den beiden früheren Schriften vornimmt. Ab 1788 spricht Kant nur noch von Gattungen (ÜGTP, AA 08: 164–168). Zweitens lässt Kant ab 1785 nur noch ein Hauptkriterium zu, nämlich die Hautfarbe. 13 In den Vorlesungen vermutet Kant entsprechend: »Adam scheinet also ein weißer und zwar ein blonder gewesen zu seyn; die blondesten Völker sind wohl die Deutschen.« (V-Geo/Kaehler, AA 26.2/1: 510) 12

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wesen zu sein, dass nicht nur äußere Merkmale wie die Hautfarbe mit den verschiedenen Rassen verbunden sind (auch wenn sich diese primär darüber definieren), sondern dass die verschiedenen Rassen auch unterschiedliche intellektuelle Begabungen oder andere Stärken und Schwächen aufweisen. 14 Welche Rolle die Rasse dabei genau spielt und welche Bedeutung dem Klima beigemessen wird, ist jedoch unklar. So ist es denkbar, dass entweder das Klima die Charaktereigenschaften maßgeblich bestimmt oder die Charaktereigenschaften durch die Rasse bestimmt werden. 15 Wenn die Bestimmung maßgeblich durch die Rasse erfolgt, ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese zuvor durch das Klima geprägt wurde. In diesen Zusammenhang gehört auch die besonders kritikwürdige Einschätzung, schwarze und braune Rassen seien zu geistiger Arbeit unfähig oder ungeeignet. 16 14 Zur Frage, ob Kant allen Menschenrassen dieselben historischen Entwicklungspotentiale zuschreibt, siehe Robert Louden: Kant’s Impure Ethics. From Rational Beings to Human Beings, Oxford 2000, S. 105 sowie Huaping Lu-Adler: »Kant on Lacy Savagery, Racialized«, in: Journal of the History of Philosophy 60.2 (2022), 253–275. 15 Siehe dazu die folgende Bemerkung Kants aus dem Ms Hesse (Sommer 1770, S. 184): »Jedoch der Geist der Nationen rühret nicht wie Montesquieu behauptet vom Clima, sondern wahrscheinlich von den racen her.« (V-Geo/Hesse, AA 26 2/1: XXV. Siehe auch V-Geo/ Kaehler, AA 26 2/1: 512–513: »Es ist eine berühmte Frage, ob der Boden auch einen Einfluß auf den Character, Temperamenten, Fähigkeiten, und Religion der Menschen einen Einfluß haben? Hume glaubet nein, weil die Einwohner in Ländern, welche deicht beysammen liegen, sehr verschieden sind und gewesen zE vormals die sehr einfältigen Boeotier und die vernünftige Griechen, jetzo die gravitaetischen Spanier, und leichtsinnige, witzige und muntere Frantzosen, die unter einem Clima liegen, weil auch ferner nicht die Kunst von der Natur wohl zu unterscheiden ist. Montesquieu glaubet ja und dieses möchte wohl statt finden, denn bey dem Unterscheide der Characteren müßen wir auf die Racen, aus welchen die Menschen herstammen, Achtung geben.« 16 AA25.2/1: 1187 (1781–2): »1) Das Volk der Amerikaner nimmt keine Bildung an. Es hat keine Triebfeder; denn es fehlen ihm Affect und Leidenschaft. Sie sind nicht verliebt, daher sind sie auch nicht fruchtbar. Sie sprechen fast gar nichts, liebkosen einander nicht, sorgen auch für nichts, und sind faul, sie schmincken sich ins häßliche. 2) Die Race der Neger, könnte man sagen, ist ganz das Gegentheil von den Amerikanern; sie sind voll Affect und Leidenschaft, sehr lebhaft, schwatzhaft und eitel. Sie nehmen Bildung an, aber nur eine Bildung der Knechte, d. h. sie lassen sich abrichten. Sie haben viele Triebfedern, sind auch empfindlich, fürchten sich vor Schlägen und thun auch viel aus Ehre. 3) Die Hindus haben zwar Triebfedern, aber sie haben einen starken Grad von Gelassenheit, und sehen alle wie Philosophen aus. Demohngeachtet sind sie doch zum Zorne und zur Liebe sehr geneigt. Sie nehmen daher Bildung im höchsten Grade an, aber nur zu Künsten und nicht zu Wissenschaften. Sie bringen es niemals bis zu abstrakten Begriffen, ein hindostanischer großer Mann ist der, der es recht weit in der Betrügerei gebracht und viel Geld hat. Die Hindus bleiben immer wie sie sind, weiter bringen sie es niemals, ob sie sich gleich weit eher zu bilden angefangen haben. 4) Die Race der Weißen enthält alle Triebfedern und Talente in sich; daher muß man sie etwas genauer betrachten; Oben ist dazu Kentniß gegeben.«

Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen?

Auch wenn diese Äußerungen Kants sowohl aus heutiger Sicht als auch für sich genommen nicht akzeptabel sind, ist bei der systematischen Beurteilung der Rassenlehre Kants, also der Frage, inwieweit sie in der Philosophie Kants verankert ist, zu beachten, dass die Lehre zwar von Kant selbst als wichtig erachtet wird und er selbst immer wieder auf diese Fragen zurückkommt, dass Kant aber mehrfach betont, dass die Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse ein eher nebensächliches Anliegen sei, das man ebenso gut annehmen wie ablehnen könne. 17 Kant hat sich bekanntlich zu zentralen oder wichtigen Punkten seiner reifen kritischen Philosophie nicht in gleicher Weise geäußert. Zumindest Kant selbst macht damit in aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, dass es sich hier nicht um ein zentrales Element der kritischen Philosophie handelt und dass diese Einteilung auch nicht notwendigerweise aus ihr folgt oder für sie vorausgesetzt werden muss, wie es manche Interpreten gerne sehen würden. Halten wir also fest, dass Kants Entwicklung des Begriffs einer »Menschenrace« zwar eine Anwendung kantischer Grundannahmen ist. Die Anwendung selbst ergibt sich aber zum einen aus dem universalistischen Anliegen Kants, an der Einheit der Menschen trotz offensichtlicher Unterschiede in ihren äußeren Merkmalen festzuhalten, und aus der Forderung der Vernunft, systematische Einheit als Voraussetzung der Wissenschaft anzunehmen. Die äußeren Merkmale spielen für Kant eine eher untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es ihm um die Anwendung der begrifflichen Einteilung selbst. Wenn Kant bestimmte Eigenschaften mit Rassen in Verbindung bringt, so sind dies aus seiner Sicht vor allem Erklärungsversuche für die offensichtlichen Unterschiede zwischen den Menschen: »so zeiget eben dieses, daß bey einigen Völkern sehr viele Künste erfunden worden, bey andern aber nicht, von ihren 17 BBM, AA 08: 91: »Meine Absicht ist jetzt nur, diesen Begriff einer Race, wenn es deren in der Menschengattung giebt, genau zu bestimmen; die Erklärung des Ursprungs der wirklich vorhandenen, die man dieser Benennung fähig hält, ist nur Nebenwerk, womit man es halten kann, wie man will. Und doch sehe ich, daß übrigens scharfsinnige Männer in der Beurtheilung dessen, was vor einigen Jahren lediglich in jener Absicht gesagt wurde*), aus diese Nebensache, nämlich die hypothetische Anwendung des Princips, ihr Augenmerk allein richteten, das Princip selbst aber, worauf doch alles ankommt, nur mit leichter Hand berührten.« Siehe auch BBM, AA 08: 100: »Der Begriff einer Race ist also: der Klassenunterschied der Thiere eines und desselben Stammes, so fern er unausbleiblich erblich ist. Das ist die Bestimmung, die ich in dieser Abhandlung zur eigentlichen Absicht habe; das Übrige kann man als zur Nebenabsicht gehörig, oder bloße Zuthat ansehen und es annehmen oder verwerfen. Nur das erstere halte ich für bewiesen und überdem zur Nachforschung in der Naturgeschichte als Princip brauchbar, weil es eines Experiments fähig ist, welches die Anwendung jenes Begriffs sicher leiten kann, der ohne jenes schwankend und unsicher sein würde.«

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verschiedenen Fähigkeiten« (AA26.2/1: 512–13). Dass er diese Unterschiede überhaupt thematisiert, liegt nach allem, was wir wissen, daran, dass Kant an der Einheit der Menschengattung festhalten will. Die Einheit des Menschengeschlechts hat für ihn also eine größere philosophische Bedeutung, die unabhängig davon zu sehen ist, ob es sich um ein Problem aus der Bibel handelt. Denn von unterschiedlichen Ursprüngen auszugehen, könnte auch den von Kant vertretenen Universalismus infrage stellen. 18 Es spricht also einiges dafür, Kants Rassenlehre als ein (wenn auch von Kant eher als »Nebenabsicht« betrachtetes) Projekt zu sehen, das durch sein übergeordnetes universalistisches kritisches Vernunftprojekt zumindest zusätzlich motiviert war.

2. Kants Geschichtsphilosophie

In der gegenwärtigen Diskussion um Kants angeblichen Rassismus nimmt die Debatte darüber, wie genau die diskriminierenden Aussagen in seiner Geschichtsphilosophie zu verstehen sind, vergleichsweise wenig Raum ein. Dies liegt zum einen daran, dass die Bemerkungen Kants in der Geschichtsphilosophie im direkten Vergleich zu den anstößigen Äußerungen in den Vorlesungen zur Anthropologie und über physische Geographie eher harmlos erscheinen. Andererseits ist man sich zumindest in der deutschen Forschung nicht einig, wie diese Äußerungen genau zu bewerten sind. Fraglich ist, ob es sich um rassistische Äußerungen im engeren Sinne handelt oder nicht. So steht die Geschichtsphilosophie zwar nicht im Mittelpunkt der aktuellen Debatte um rassistische Äußerungen in der Philosophie Kants, sie spielt aber, wie ich im Folgenden zeigen werde, eine besondere Rolle für die systematische Beurteilung der kantischen Aussagen. Es handelt sich um eine ganze Reihe von Bemerkungen, die sich im Großen und Ganzen mit derselben Thematik befassen. Es geht darum, dass der Mensch eine besondere Bestimmung hat, die in der Entfaltung seiner natürlichen Anlagen und Begabungen besteht und die er, anders als etwa die übrigen Lebewesen, nicht im Individuum, sondern nur in der Gattung verwirklichen kann. Letzteres ist für die Entstehung der Geschichtsphilosophie insofern entscheidend, als es sich um eine Aufgabe handelt, die sich über mehrere Generationen, d. h. über einen historischen Dies hat bereits Bernd Ludwig in einem unveröffentlichten Text (»Kant und der Rassismus«) klar herausgestellt. So ist für ihn Kants Theorie der Menschenrassen vor allem Ausdruck von »Kants antirassistischem Universalismus: Eine Menschheit, gegen Forster, der zwei – oder mehrere – unabhängige Stämme annehmen will« (S. 1). 18

Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen?

Zeitraum, erstreckt. 19 Kant stellt in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten fest, dass der Mensch die Pflicht hat, seine Talente zu entfalten: Ein dritter findet in sich ein Talent, welches vermittelst einiger Cultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen und zieht vor, lieber dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen. Noch frägt er aber: ob außer der Übereinstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme. Da sieht er nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich der Mensch (so wie die Südsee=Einwohner) sein Talent rosten ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als ein solches in uns durch Naturinstinct gelegt sei. Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind. (GMS, AA 04: 422– 423) 20

Daraus ergibt sich die Pflicht des Menschen, seine Anlagen und Begabungen zu verwirklichen, auch wenn dies Mühe und Anstrengung kostet. An dieser Stelle wird Kants Voraussetzung wichtig, dass der Mensch von Natur aus eher zur Faulheit und Trägheit neigt. Aus sich selbst heraus findet er daher keinen Anreiz, sich zu bewegen oder eben die Entwicklung der eigenen Anlagen auf sich zu nehmen, was wiederum mit Anstrengung verbunden ist. Nur deshalb ist der Hinweis auf die Südseebewohner an dieser Stelle relevant. Kant stellt sich ihr Leben so vor, dass sie aufgrund der besonderen klimatischen Bedingungen in ihrer Lebenswelt nicht gezwungen sind, schwere Arbeit zu verrichten, und deshalb auch ihre geistigen Kräfte zur Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen einsetzen müssen. Es bedarf daher eines besonderen Anstoßes, um die natürliche Trägheit zu überwinden und den natürlichen Zustand zu verlassen. 21 Die Entstehung der kantischen Geschichtsphilosophie lässt sich bis zu den Anthropologie-Vorlesungen Mitte der 1770er Jahre zurückverfolgen. Kant diskutiert geschichtsphilosophische Fragen erstmals unter der Fragestellung nach dem Charakter der menschlichen Gattung. Siehe dazu Andree Hahmann: »Systematicity in Kant’s Philosophy of History«, in: Gabriele Gava, Thomas Sturm und Achim Vesper (Hgg.): Kant and the Systematicity of the Sciences, London (im Erscheinen). 20 Zur Pflicht des Menschen, sich selbst und die Menschheit zu vervollkommnen, siehe auch MS, AA 06: 386–387; 444–447. 21 Aus den Vorlesungsmitschriften zur Anthropologie aus den 1770er Jahren geht hervor, dass Kant sich mit seinem Ansatz vor allem kritisch von Rousseau absetzen wollte, mit 19

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Wer es aber versäumt, seine eigenen Talente zu entfalten und stattdessen ein Leben in fröhlicher Indolenz führt, was Kant aus den genannten Gründen den Bewohnern der Südsee vorwirft, nimmt für ihn keine höhere Stellung ein als das »Hausvieh«, wie Kant an anderer Stelle betont: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. (IaG, AA 08: 21)

Dieses Urteil Kants über die Menschen ist aus heutiger Sicht natürlich hart und erscheint überzogen, wird aber zumindest verständlich, wenn man bedenkt, dass Kant hier vor allem auf die durch Reiseberichte seiner Zeit vermittelte Vorstellung reagiert, der Mensch lebe in diesen Gegenden wie im Paradies, ohne Mühe und Arbeit, da ihm das Lebensnotwendige von der Natur geschenkt werde, sodass sich bei diesen Menschen auch keine Fähigkeiten entwickelt hätten, die zur Bewältigung schwieriger Lebensumstände erforderlich wären. Von grundsätzlich anderer Art ist dagegen die folgende Bemerkung Kants aus seiner Rezension von Herders Ideen, die sich auf den gleichen Zustand bezieht und nun explizit die Bewohner Tahitis im Auge hat, die seiner Meinung nach nur darauf warteten, von den europäischen Besuchern zu Menschen erzogen zu werden. Meint der Herr Verfasser wohl: daß, wenn die glücklichen Einwohner von Otaheite, niemals von gesittetern Nationen besucht, in ihrer ruhigen Indolenz auch tausende von Jahrhunderten durch zu leben bestimmt wären, man eine befriedigende Antwort auf die Frage geben könnte, warum sie denn gar existiren und ob es nicht eben so gut gewesen wäre, daß diese Insel mit glücklichen Schafen und Rindern, als mit im bloßen Genusse glücklichen Menschen besetzt gewesen wäre? (RezHerder, AA 08: 64–65)

Kants Bemerkung an dieser Textstelle ist auch deshalb beachtlich, weil sich Herder bereits zuvor gegen jeden Versuch gewandt hatte, an fremde Kulturleistungen allgemeine Maßstäbe anzulegen und sie danach zu bewerten. So lehnt Herder die Vorstellung eines allgemeinen Kulturfortschritts ausdrücklich ab, was allerdings von Kant als Mangel eines philosophischen Prinzips interpretiert und kritisiert wird. 22 dessen Beschreibung des Naturzustandes des Menschen er sich auseinandergesetzt hatte. Siehe V-Anth/Fried, AA 25: 675, 684, 689; V-Anth/Pillau, AA 25: 846. 22 Siehe dazu Sharon Anderson-Gold: »Kant and Herder«, in: Aviezer Tucker (Hg.): A Companion to the Philosophy of History and Historiography, Malden, Oxford 2009, 457–467:

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In der Kritik der Urteilskraft hat Kant nicht die Südseebewohner im Visier, sondern äußert sich abfällig über die Ureinwohner Amerikas. Der Blick auf deren mindere Kulturleistungen rechtfertigt nach Kant die Frage, »warum es denn nöthig sei, daß Menschen existiren (welche, wenn man etwa die Neuholländer oder Feuerländer in Gedanken hat, so leicht nicht zu beantworten sein möchte« (KU, AA 05: 378). Kant sieht aber auch bei ihnen einen Grund, die vorsorgliche Einrichtung der Natur zu rühmen, weil die Natur »die Mosquitomücken und andere stechende Insecten, welche die Wüsten von America den Wilden so beschwerlich machen«, geschickt und damit »Stacheln der Thätigkeit für diese angehende Menschen« geliefert habe (KU, AA 05: 379). Man beachte, dass Kant nur von werdenden Menschen spricht. Damit will er ihnen natürlich nicht die Fähigkeit absprechen, selbst kulturelle Leistungen hervorzubringen. Nur zeugen ihre derzeitigen Behausungen kaum davon, dass die Bewohner Nordamerikas tatsächlich in der Lage wären, ihre menschlichen Fähigkeiten ohne fremde Hilfe zu entwickeln. Unter dieser Perspektive betrachtet findet es Kleingeld sogar beachtlich, dass Kant denselben »Wilden« eine Form von Tapferkeit, also immerhin eine menschliche Tugend, zugesprochen hat. 23 Man muss allerdings beachten, dass Kant das an dieser Stelle nur deshalb tut, weil damit zugleich ein guter Beleg für die im Menschen von Natur aus gelegene Bosheit geliefert wird: Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis erS. 457: »For Kant, the final goal of history is the moral perfection of the species expressed in the ever increasing realization of freedom under law. Culture for Kant is a vehicle for a universal form of moral progress culminating in a federation of free republics in a condition of perpetual peace. Herder, on the other hand, viewed history as the unfolding of the unique qualities of humanity as conditioned by time and place. Each unfolding, each national »genius« or culture, has an intrinsic value of its own not derived from its temporal location. Universal history is the complex pattern created by the complete realization of human potentialities within which each culture makes its unique contribution.« Siehe auch ebd., S. 463: »Herder rejected the enlightenment notion of reason as a source of universal standards, for this implied the possibility of external criticism of culture from a higher or privileged position. In his theory of historical understanding Herder insisted on an interpretation and evaluation of cultures based upon internal standards of value.« Kants Verständnis von Kultur (Cultur) ist nicht immer eindeutig und variiert in den veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften. 23 Pauline Kleingeld: »Kant’s Second Thoughts on Race«, in: The Philosophical Quarterly 57, 229 (2007), 573–592: S. 589: »Finally, Kant’s ascription of mental characteristics to the different races has changed. For example, he ascribes the ideal of military courage equally to Native Americans and mediaeval European knights […].« Siehe auch ZeF, AA 08: 365.

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sparen. Will man sie aus demjenigen Zustande haben, in welchem manche Philosophen die natürliche Gutartigkeit der menschlichen Natur vorzüglich anzutreffen hofften, nämlich aus dem sogenannten Naturzustande so darf man nur die Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den Mordscenen auf Tofoa, Neuseeland, den Navigatorsinseln und die nie aufhörende in den weiten Wüsten des nordwestlichen Amerika […], wo sogar kein Mensch den mindesten Vortheil davon hat, †) Wie der immerwährende Krieg zwischen den Arathapescau= und den Hundsribben=Indianern keine andere Absicht, als bloß das Todtschlagen hat. Kriegstapferkeit ist die höchste Tugend der Wilden in ihrer Meinung. (RGV, AA 06: 32–33)

In der gegenwärtigen Diskussion um Kants rassistische Äußerungen spielen die hier zitierten Aussagen Kants wie gesagt eine eher nachgeordnete Rolle. Einige Interpreten unterscheiden deutlich zwischen diskriminierenden Aussagen, die auf einer Einteilung in »Menschenrassen« beruhen, und Urteilen, die eher auf kulturspezifische Merkmale abzielen, wie sie vor allem im Kontext der Geschichtsphilosophie zu finden sind. Letztere sollen nicht als rassistisch im engeren Sinn gelten, sondern sollen, wie z. B. Dieter Schönecker vorschlägt, als kulturchauvinistisch zu verstehen sein. 24 Georg Geismann geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass es sich um ganz alltägliche Leistungsbeurteilungen handelt, die so wie Urteile über die Leistung von Handwerkern gefällt werden, die mal besser und mal schlechter ausfallen können. 25 Es handelt sich also um objektive Bewertungen, die auf allgemeinen 24 Dieter Schönecker: »Amerikaner seien ›zu schwach für schwere Arbeit‹. Und Schwarze faul: Wie ich lernte, dass Kant Rassist war«, in: Neue Zürcher Zeitung (16. 04. 2021). Ob Urteile über kulturelle Leistungen etc. rassistische Urteile sind, ist in der Literatur umstritten. Einige Autoren wollen einen Paradigmenwechsel erkennen (Mark Terkessidis: Psychologie des Rassismus, Opladen 1998, S. 99), wonach sich das Problem des Rassismus zunehmend auf kulturelle Faktoren verlagert. Ali Rattansi: Racism. A Very Short Introduction, Oxford 2007, 95–99 grenzt diesen »new racism« ausführlich von früheren Formen ab. Zum Verhältnis zwischen klassischen und kulturalistischen Formen des Rassismus siehe Cengiz Barskanmaz: Recht und Rassismus. Das menschenrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse, Berlin 2019, S. 58. 25 Georg Geismann: »Warum Kant kein Rassist war. Kants ›Rassenlehre‹ im Rahmen von physischer Geographie und Anthropologie – Philosophischer Zugriff anstelle eines ideologisch motivierten (http://www.georggeismann.de) 2022, 35: »Die Rede von einem solchen Fortschritt impliziert die Möglichkeit einer wertenden Hierarchisierung. Zwischen dem bloßen Naturwesen und dem zu voller Freiheit entfalteten Kulturwesen gibt es eine beliebig teilbare Folge von Stufen der Annäherung an das Ideal; und entsprechend der Stufe oder dem Grad der Annäherung ist eine Hierarchisierung oder Wertung möglich. Von dieser Möglichkeit machen Menschen täglich Gebrauch, indem Lehrer Noten und Preisrichter Medaillen vergeben und Patienten Ärzte, Autofahrer Werkstätten, Kunden Geschäfte ›erstklassig‹ oder eben ›geringer-klassig‹ finden. Alle diese Wertungen beruhen auf Feststellungen

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Kriterien beruhen. Dass die technischen Leistungen der Amerikaner denen der weißen Einwanderer aus Europa weit unterlegen waren, ist eine Tatsache, die nicht wegdiskutiert werden kann. Kant bezieht sich mit seinen Aussagen also lediglich auf diese Tatsache. Für Geismann stellt der Hinweis auf die technisch-kulturelle Überlegenheit Europas an sich kein moralisch verwerfliches Verhalten dar. 26 Selbst wenn man Geismanns Einschätzung eine grundsätzliche Plausibilität zubilligt, sind Kants Urteile aus heutiger Sicht problematisch, weshalb Geismanns Strategie bei moralisch empörten Zeitgenossinnen nicht auf viel Beifall hoffen kann. Auch aus diesem Grund muss geklärt werden, ob es sich bei diesen Urteilen um solche handelt, die auf historisch kontingenten Umständen und Erkenntnissen Kants beruhen, oder ob Kant auch unter modernen Umständen konsequent zu denselben Schlüssen kommen würde, weil sie sich aus seinem philosophischen Ansatz selbst ergeben. Wenn Letzteres der Fall ist, dann wären von einem konsequenten Kantianer auch heute keine anderen Urteile zu erwarten und die Zurückhaltung in dieser Frage wäre nur ein Zugeständnis an übergeordnete Interessen, was sicher nicht als philosophische Konsequenz gelten kann.

3. Konsequenter Rassismus?

Ich möchte im Folgenden skizzieren, dass diese abwertenden Urteile Kants aus drei Annahmen resultieren, die tief in Kants kritischer Philosophie verankert sind und letztlich eng mit seiner universalistischen Konzeption der Vernunft zusammenhängen. Wir haben gesehen, dass in diesem Zusammenhang die Annahme, der Mensch sei durch seine Vernunft zur Vervollkommnung seiner Anlagen und Talente verpflichtet, eine zentrale Rolle spielt (GMS, AA 04: 422–423). 27 Diese Vorstellung ist tief im Gedankengut der Aufklärung von Tatsachen, die wahr oder falsch sein können; aber sie sind als solche keine Diskriminierungen.« 26 Ergänzend ließe sich noch hinzufügen: zumindest solange daraus nicht zugleich der Auftrag abgeleitet wird, die Segnungen der modernen europäischen Kultur und Wissenschaft in die unterentwickelten Gesellschaften zu tragen. Seine kritischen Bemerkungen zum Kolonialismus in der Friedensschrift zeigen jedenfalls, dass Kant durchaus zwischen Letzterem und Ersterem zu unterscheiden weiß, auch wenn er, wie wir oben am Beispiel der Herder-Rezension gesehen haben, zumindest in den 1780er Jahren noch keine ausgearbeitete Position in dieser Frage hatte. 27 Reinhard Brandt: Kommentar zu Kants Anthropologie, Hamburg 1999, S. 13 hat auf den stoischen Ursprung dieser Vorstellung hingewiesen. Letztlich handelt es sich aber um ein Grundmotiv der Aufklärung. Siehe die folgende Anmerkung.

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verwurzelt. Auf den ersten Blick sind Kants Überlegungen also nicht besonders originell, sondern geben nur einen in der zeitgenössischen Diskussion etablierten Gedanken wieder. 28 Entscheidend für die Ausbildung der kantischen Geschichtsphilosophie ist, wie gesagt, die weitergehende Annahme, dass diese Entwicklung nicht von einzelnen Menschen geleistet werden kann, sondern in der Gattung stattfinden muss (IaG, AA08: 18–19). 29 Zwei Dinge werden durch diese Annahme erreicht: Zum einen wird damit die Grundlage für eine geschichtsphilosophische Betrachtung gelegt, da sich die Entwicklung nun über einen Zeitraum erstreckt. Zweitens, und das ist für unser Anliegen noch wichtiger, ergibt sich damit auch ein Zielpunkt für die historische Betrachtung. 30 Denn nicht jede historische Betrachtung wird zu diskriminierenden Urteilen führen. So spielt die Annahme eines Zielpunktes der Geschichte eine wichtige Rolle für die Beurteilung des Entwicklungsstandes der 28 Von besonderer Bedeutung ist Spaldings kurzer Aufsatz Über die Bestimmung des Menschen. Dieser Text, der in mehreren, auch stark veränderten Auflagen erschienen ist, fand in der Folgezeit zahlreiche Nachahmer. Vgl. die einleitenden Bemerkungen zu dieser Schrift bei Norbert Hinske: »Eine antike Katechismusfrage: Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung«, in: Aufklärung. Die Bestimmung des Menschen, 11.1 (1999), 3–6. Giuseppe D’Alessandro: »Die Wiederkehr eines Leitworts: Die ›Bestimmung des Menschen‹ als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung«, in: Aufklärung. Die Bestimmung des Menschen, 11.1 (1999), S. 20–47: S. 21 zufolge handelt es sich bei dieser Thematik um »eine der bedeutendsten Leitideen der gesamten aufklärerischen Bewegung in Deutschland … In dieser Idee konzentrierten sich einige der wichtigsten Themen des moralisch-praktischen Nachdenkens der Hoch- und Spätaufklärung«. Eine zurückhaltendere Einschätzung gibt Manfred Kuehn: »Reason as a species characteristic«, in: Amélie Oksenberg Rorty, James Schmidt (Hgg.): Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim. A Critical Guide, Cambridge 2009, S. 68–94. 29 Auch diese Vorstellung findet sich natürlich bei zahlreichen anderen Autoren. Siehe Kuehn: Reason as a species, S. 83. 30 Vgl. hierzu auch die programmatischen Ausführungen des Göttinger Historikers August Ludwig Schlözer: Vorstellung seiner Universal-Historie, Göttingen, Gotha 1772 (neu herausgegeben von Horst Walter Blanke, Hartmut Spenner: Schlözer, August Ludwig, Vorstellung seiner Universal-Historie (1772/1773), mit Beilagen neu herausgegeben, eingeleitet und kommentiert, Waltrop 1997). Schlözer betont darin, dass die systematische und damit wissenschaftliche Darstellung die Verknüpfung der Ereignisse mit einem übergeordneten Zweck erfordert. Der Zweck liefert also das Kriterium für die Anordnung der Ereignisse: »Man kann sich die Weltgeschichte aus einem doppelten Gesichtspuncte vorstellen: entweder als ein Aggregat aller Specialhistorien, deren Sammlung, falls sie nur vollständig ist, deren blosse Nebeneinanderstellung, auch schon in seiner Art ein Ganzes ausmacht; oder als ein System, in welchem Welt und Menschheit die Einheit ist, und aus allen Theilen des Aggregats einige, in Beziehung auf diesen Gegenstand, vorzüglich ausgewählt, und zweckmäßig geordnet werden.« (§ 8, S. 14) Zur Gegenüberstellung von Aggregat und System und zur Bedeutung dieser Einteilung für die Geschichtsschreibung der Spätaufklärung vgl. Blanke: Schlözer, S. XXVIII.

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jeweils in den Blick genommenen Gesellschaften. Je nach Zielvorstellung werden sich unterschiedliche Bewertungen ergeben. 31 Geht man z. B. mit Herder davon aus, dass das Ziel des Menschen die Glückseligkeit ist, so wird man eine andere Perspektive auf die Menschen auf Tahiti gewinnen, als wenn man den technischen Fortschritt in den jeweiligen Gesellschaften zum Maßstab nimmt. Der genauen Art des angenommenen historischen Zielpunktes ist daher eine große Bedeutung beizumessen. 32 Zwei weitere Annahmen werden an dieser Stelle wichtig. So ist Kant erstens der Ansicht, dass diese Betrachtung alle Menschen gleichermaßen einschließt. Erst dann wird Geschichte zu einer »Allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ansicht« oder eben einer »Universalgeschichte« (Refl 1440, AA 15: 629; Refl 1443, AA 15: 630), die nicht nur Partikulargeschichten, d. h. die Geschichte einzelner Gruppen oder Gesellschaften, thematisiert. 33 Diese Schlussfolgerung hängt natürlich eng mit der Annahme zusammen, dass alle Menschen gleichermaßen dazu bestimmt sind, ihre Anlagen zu entwickeln. Denn es handelt sich um eine Eigenschaft, die dem Menschen qua Menschsein zukommt. Eng damit verbunden ist die zweite Annahme, dass sich diese Betrachtung notwendig aus dem Wesen der Vernunft selbst ergibt. Die Vernunft selbst geht nach Kant systematisch vor, und aus der systematischen Natur der Vernunft folgt auch die historische Betrachtung ihrer Entwicklung. Die Geschichtsphilosophie spielt also in systematischer Hinsicht eine wichtige Rolle. 34 31 Siehe Johannes Rohbeck: »Universalgeschichte und Globalisierung. Zur Aktualität von Schillers Geschichtsphilosophie«, in: Michael Hofmann, Jörn Rüsen, Mirjam Springer (Hgg.): Schiller und die Geschichte, München 2006, S. 79–92: S. 90: »Zu dieser Bewertung bedarf es eines allgemeinen Maßstabes, anhand dessen die einzelnen Phänomene beurteilt werden können. In diesem Sinn repräsentiert die Fortschrittsidee in erster Linie einen Bewertungsmaßstab. Das behauptete Geschichts-Telos stellt die Norm dar, an der vergangene und künftige Ereignisse gemessen werden.« 32 Die Annahme eines Endpunktes der Geschichte kann freilich als einer der großen Vorwürfe gegen die Geschichtsauffassung der Aufklärung gelten. Häufig ist noch zu lesen, es handele sich dabei um eine Art theologisches Relikt älterer Geschichtsauffassungen oder um den Ausdruck eines blinden Geschichtsoptimismus. Dabei wird jedoch verkannt, dass diese Annahme vor allem einen methodischen Zweck verfolgt, wie die zeitgenössische Diskussion innerhalb der sich etablierenden Geschichtswissenschaft sehr deutlich zeigt. Zweck- und Systemgedanke sind eng miteinander verbunden, wie auch die kantische Geschichtsphilosophie zeigt. Noch immer einflussreich ist in diese Hinsicht die Arbeit von Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart, Weimar 2004 (Erstveröffentlichung in Englisch 1949, in Deutsch 1953). 33 Vgl. Schlözer: Universalgeschichte, § 1, S. 3; § 7, S. 13. 34 Im Grunde handelt es sich um die gleiche Annahme, die schon Kants Einteilung der

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Was genau darunter zu verstehen ist, wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt, warum es sich bei dieser Entwicklung des Menschen um eine technisch-kulturelle und nicht um eine moralische Entwicklung handeln soll. 35 Letzteres erscheint auf den ersten Blick aus kantischer Perspektive eher geboten zu sein. Diese Frage stellt sich umso dringlicher, wenn man die oben bereits angedeuteten antiken Ursprünge der Idee der Vernunftentwicklung betrachtet. Man denke hier nur an die antiken Stoiker, die aus der Forderung nach der Vervollkommnung der Vernunft eine eher zivilisationsfeindliche Vorstellung ableiteten und ein Leben im Einklang mit der Natur als anzustrebendes Ziel menschlicher Entwicklung betrachteten. Letzteres scheint hingegen prima facie eher jenen Kulturen zu gelingen, die der Natur und damit auch den natürlichen Bedürfnissen des Menschen näherstehen. Kant identifiziert solche und ähnliche Gedanken mit Rousseaus Position, gegen den er sich in der Vorlesung zur Anthropologie, in der er erstmals seine geschichtsphilosophischen Ansichten entwickelt, auch explizit wendet. Im Gegensatz zu Rousseau sieht Kant aber einen engen Zusammenhang zwischen technischer und moralischer Entwicklung. Diesen Zusammenhang und damit den Kern der Geschichtsphilosophie formuliert Kant in der Kritik der Urteilskraft. Die für unser Thema relevante Diskussion befindet sich in den Paragrafen 83 und 84, die sich mit dem Endzweck der Natur und dem Endzweck der Schöpfung befassen. In diesem Abschnitt werden die theoretischen Grundlagen der Geschichtsphilosophie ausgeführt. 36 Im Grunde geht es darum, dass Kant davon überzeugt ist, dass die Vernunft, wenn sie in der Natur eine innere Zweckmäßigkeit entdeckt hat, wie sie in der Wirklichkeit organisierter Lebewesen vorliegt, aufgrund ihrer eigenen systematischen Natur dazu übergehen muss, 37 auch in der äußeren Zweckmäßigkeit eine Ordnung anzunehmen. Die Menschen in Rassen bestimmte. Vgl. dazu KrV, B 679–688. Vgl. ausführlich zum Verhältnis von Vernunftsystematik und Geschichte bei Kant Hahmann: Systematicity in Kant’s Philosophy. 35 In der Forschung wird diskutiert, was genau in der Geschichtsphilosophie entwickelt werden soll. Grundsätzlich werden eine moralische und eine technisch-politische Entwicklung gegenübergestellt. Für beide Standpunkte lassen sich im Text Belege finden. Ich denke jedoch, dass die Gegenüberstellung in gewisser Hinsicht künstlich ist, da Kant davon ausgeht, dass das eine das andere bedingt. Siehe dazu mit weiteren Literaturhinweisen Hahmann: Systematicity in Kant’s Philosophy. 36 Vgl. Henry E. Allison: »Teleology and history in Kant: the critical foundations of Kant’s philosophy of history«, in: Amélie Oksenberg Rorty, James Schmidt (Hgg.): Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim. A Critical Guide, Cambridge 2009, S. 24–45: S. 41. 37 Wie Allison: Teleology and history, S. 34–36 bemerkt, liefert Kant keine Begründung für die angebliche Notwendigkeit dieses Übergangs.

Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen?

äußere Zwecksetzung betrifft das Verhältnis der Zweck-Mittel-Beziehungen in der Natur. Nun ist es aber so, dass die Reihen von Zwecken und Mitteln in der Natur umkehrbar zu sein scheinen. Es ist also nicht sicher, ob das Gras dem Schaf als Mittel zur Ernährung dient oder ob das Schaf dem Gras dazu dient, den Lebensraum zu erhalten, indem es die Versteppung der Landschaft verhindert (KU, AA 05: 367–368). Erforderlich für eine eindeutige Bestimmung des äußeren Zweckzusammenhangs wäre ein Endzweck, d. h. ein Zweck, der nicht zugleich Mittel für andere Zwecke ist. Eine naheliegende Auflösung der Problematik scheint dadurch in Aussicht gestellt zu sein, dass man den Menschen als den gesuchten Endzweck nimmt, sodass alle anderen Zwecke in der Natur als Mittel für diesen Endzweck begriffen werden können. Diese Auffassung hat natürlich eine lange Tradition, deren wichtigste Vertreter wiederum die Stoiker waren. Die kantische Position ist allerdings komplexer. So muss man nach Kant genau unterscheiden zwischen dem letzten Zweck der Natur und dem letzten Zweck der Schöpfung. Zwar wird ein letzter und abschließender Zweck für die systematische Einheit der Natur gesucht, dieser kann aber nicht im Bereich der Natur gefunden werden, da die Natur als Erscheinung keinen unbedingten oder absoluten Zweck zulässt. Der Mensch ist aber nicht nur Natur, sondern er ist sich durch das Sittengesetz auch seines übersinnlichen Wesens bewusst. Von dieser reinen Vernunftnatur her kann der Mensch als das absolute Endziel der Schöpfung angesehen werden. Auf diese Weise wird der Mensch in einem doppelten Sinne zum Endzweck, nämlich zum außersinnlichen Endzweck der Schöpfung, wenn man ihn nach seiner sittlichen Natur betrachtet und seine Erscheinungsnatur zum Endzweck der Natur macht (KU, AA 05: 435–436). 38 An dieser Stelle kommt die Geschichtsphilosophie ins Spiel. Denn diese hat es nun mit dem Endzweck der Natur als einer Erscheinung zu tun, die zwar auf den übersinnlichen Endzweck hin ausgerichtet ist, sich aber von diesem dadurch unterscheidet, dass sie es mit dem äußeren Ausdruck des sittlichen Charakters des Menschen, d. h. mit der Erscheinung seiner äußeren Freiheit und damit mit der Geschichte seiner Handlungen zu tun hat. Die äußere Freiheit wird in Rechtsverhältnissen geordnet, sodass der Fortschritt in der inneren, sittlichen Entwicklung zugleich auch an den Fortschritt in der Ordnung der äußeren Verhältnisse gebunden erscheint, was schließlich die Herstellung eines vollkommenen bürgerlichen Zustandes zum letzten Ziel der Natur für Ausführlich zum Verhältnis der beiden Zwecksetzungen siehe Georg Geismann: »›Höchstes politisches Gut‹ – ›Höchstes Gut in einer Welt‹. Zum Verhältnis von Moralphilosophie, Geschichtsphilosophie und Religionsphilosophie bei Kant«, in: Tijdschrift voor Filosofie, 68 (2006), 23–41. 38

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den Menschen macht. Nur so kann die Entwicklung der menschlichen Kultur als der Fähigkeit des Menschen, sich alle möglichen Ziele zu setzen, zu ihrer Vollendung und damit zur vollen Entfaltung der menschlichen Anlagen gelangen. Die Einzelheiten brauchen uns hier nicht zu interessieren. 39 Wichtig ist vielmehr, und damit kommen wir auf unsere Ausgangsfrage zurück, zu sehen, dass die Forderung nach systematischer Einheit und damit auch die Einordnung der Geschichtsphilosophie in die kritische Systematik aus der Natur der Vernunft selbst und ihrem Streben nach systematischer Einheit folgt. Letzteres ist eng verbunden mit der unbedingten Universalität der Vernunft, die deshalb auch alle Menschen aller Zeiten und Herkunft in ihr einheitliches System einbezieht, indem sie sich ihren umfassenden Forderungen bedingungslos unterwerfen müssen. Anders ausgedrückt: Kants herablassende Äußerungen gegenüber fremden Kulturen sind vor diesem Hintergrund nicht so zu verstehen, dass er fremde und aus seiner Sicht weniger entwickelte Gesellschaften der Ausbeutung und Sklaverei ausliefern wollte. Diese Unterstellung ist nicht nur ungerecht und philosophisch kurzsichtig, sie verkennt auch völlig den universalistischen Anspruch der Vernunft, wie er in Kants Ansatz zum Ausdruck kommt. Für Kant besteht die Hauptaufgabe der Philosophie vielmehr darin, die vernunftgemäße Entwicklung aktiv zu unterstützen. Insofern kommt der Philosophie eher eine pädagogische Funktion zu. Es geht vielmehr darum, auf jene Verhältnisse aufmerksam zu machen, die, wie Kant immer wieder betont, den Menschen an der Güte der Natur zweifeln lassen. Die Einsicht in den vernunftgemäßen Gang der Geschichte und das Festhalten an dem von der Vernunft selbst vorgegebenen Leitfaden der Geschichte soll den Menschen erkennen lassen, dass auch das scheinbar widersprüchliche und kriegerische Handeln letztlich durch die Vorsehung gelenkt ist und nur einem Ziel dient, nämlich die volle Entfaltung der menschlichen Vernunftanlagen voranzubringen. Dass dieses unglückliche Schicksal vor allem solche Völker trifft, die im internationalen Vergleich über relativ schwach entwickelte Rechtsstrukturen und technische Leistungen verfügen, erscheint Kant aus dieser Perspektive als eine providentielle Absicht der Natur, die damit den natürlichen Vorteil der Lebensbedingungen ausgleicht, weil diese bisher verhindert haben, dass auch diese Völker zur Entwicklung ihrer Anlagen gezwungen wurden (VrRM, AA 02: 431). Aus heutiger Sicht sehen wir sehr deutlich, dass diese Ereignisse und die damit verbundenen kolonialen Tendenzen großes Leid über diese Völker ge39 Siehe Hahmann: »Systematicity in Kant’s Philosophy« sowie Andree Hahmann: »Kants Konzeption des höchsten Gutes«, in: Philosophisches Jahrbuch (im Erscheinen).

Wie kann philosophische Konsequenz rassistische Urteile hervorbringen?

bracht haben, ebenso wie die Sklaverei und andere Misshandlungen dieser Menschen. Dass aber Kants Beschreibung der Verhältnisse aktiv zu diesem Unrecht beigetragen haben könnte, etwa indem er sich um eine systematische Ausarbeitung der Rassenlehre bemühte, wie sie nur der systematischen Natur der Vernunft gerecht werden kann, stellt freilich eine peinliche Verkürzung der argumentativen Zusammenhänge dar und läuft letztlich darauf hinaus, den Vernunftfortschritt des einen Teils der Menschheit zum Grund für die Unterlegenheit des anderen zu erklären. Fragwürdig erscheinen aber auch alle vermeintlich wohlwollenden Rettungsversuche Kants, die diesen wichtigen Punkt am liebsten aus seiner Philosophie verbannt hätten. Denn dabei wird übersehen, dass es sich bei dem hier Ausgeführten sozusagen um die andere Seite desselben moralischen Universalismus handelt, der alle Menschen gleichermaßen den Anforderungen der Vernunft unterwirft und eben keine Sonderrechte für einzelne marginalisierte Gruppen oder Identitäten einräumt, sondern alle am gleichen universalen Maßstab misst. Dieser Maßstab kennt keine safe spaces, keine konfliktfreien Zonen, die den Menschen aus diesem antagonistischen Spiel herausnehmen könnten. Kant war konsequent genug, dies zu sehen und auszusprechen. Man sollte keinen Augenblick daran zweifeln, dass er auch unter den heutigen Bedingungen die gleichen Urteile fällen würde und müsste. 40

40 Das betrifft freilich nur die Geschichtsphilosophie und nicht solche Aussagen, die nicht aus systematischen Gründen oder Voraussetzungen entspringen, sondern auf dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit beruhen. Man sollte und muss davon ausgehen, dass Kant viele andere Aussagen, wie sie sich etwa in der Anthropologie oder der Physischen Geographie finden (die ich aus diesen Gründen auch bewusst aus meiner Betrachtung ausgeklammert habe), heute so nicht mehr machen würde, weil sie schlicht nicht mehr dem heutigen Wissensstand entsprechen, wie auch Bernd Ludwig (Kant und der Rassismus) betont.

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Gefährliche Konsequenzen Überhaupt war die ganze Vorlesung eine lückenlose Deduktion aus einigen vorausgeschickten Thesen. Seinen Schlußfolgerungen konnte man sich schwer entziehen, aber ich hatte durchaus den Eindruck, daß in den Voraussetzungen Fehler steckten. Das Gefährliche war, daß er das, was er in seiner Ethik theoretisch ableitete, auch unweigerlich praktisch durchführte und dasselbe von seinen Schülern verlangte. Edith Stein über Leonard Nelson 1

Kann es gefährlich sein, wenn Philosophinnen und Philosophen die Resultate ihres theoretischen Denkens unverzüglich in die Tat umsetzen? Der Einklang von theoretischen Einsichten und praktischer Lebensführung galt für die antiken Glücksethiker als der Weg zur Realisierung des guten Lebens, das die meisten Menschen nicht erreichen, weil sie unbeherrscht und zum konsequenten Befolgen ethischer Gebote oder Ratschläge nicht fähig oder willens sind. Der Weise hingegen – zumindest idealerweise – ist im Einklang von Denken und Tun. Folgerichtigkeit wird in der Regel geschätzt, der Mangel daran wird beklagt. Wenn es im Denken falsch läuft, ist eher Absonderlichkeit oder Skurrilität die praktische Folge. Beispiele sind aus der Antike bekannt: der Kyniker Diogenes von Sinope schlug fürstliche Geschenke aus und beleidigte seinen Wohltäter (»Geh mir aus der Sonne!«); tagsüber zündete er eine Laterne an und rief: »Ich suche einen Menschen!« 2 Der antike Philosophiehistoriker und Anekdotensammler Diogenes Laertios war bestrebt, Philosophen, die ihr Leben nach ungewöhnlichen Prinzipien konsequent führten, möglichst skurril erscheinen zu lassen, um den Unterhaltungswert seiner Berichte zu steigern. Schon antike Leser hatten Gefallen am Abstrusen und Grotesken. 3 Sein bekanntes Werk Leben und Lehre der Philosophen liest sich streckenweise wie ein Kuriositätenkabinett. Andererseits gab es Philosophen wie David Hume, die Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Das Leben Edith Steins: Kindheit und Jugend, Vollständige Ausgabe, hrsg. von L. Gelber. Freiburg – Basel – Wien: Herder, 1985 und Druten: De Maas & Waler, 1985, S. 233. Online auch in: Edith Stein – Gesamtausgabe, Bd. 1, URL: https://www.karmelitinnen-koeln.de/edith-stein-archiv-kk/gesamtausgabe. 2 Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, aus dem Griechischen übersetzt und hrsg. von Fritz Jürß, Stuttgart 1998, S. 267 f. 3 Vgl. Diogenes Laertios, Leben und Lehre, Einleitung von Fritz Jürß S. 19. 1

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ein eher normales, unauffälliges Leben führten, indem sie radikale philosophische Prinzipien nur in der Theorie vertraten, aber keine praktischen Folgerungen daraus zogen. In diesem Beitrag soll zuerst dem Eingangszitat von Edith Stein nachgegangen werden, indem dargestellt wird, wie das Verhältnis zwischen den Prinzipien der Ethik Nelsons und den geforderten praktischen Konsequenzen konkret ausgestaltet ist und was daran möglicherweise gefährlich sein könnte. Sodann wird Nelsons Ethik mit der Kants konfrontiert, um zu zeigen, wie geringe Veränderungen in der Prinzipienlehre zu einer gänzlich verschiedenen Behandlung von ethischen Einzelfällen führen können. Im Falle Kants wird vor allem auf das Lügenverbot und das bekannte Beispiel des unschuldig Verfolgten eingegangen, das zeigt, wie ein ethisches Prinzip tatsächlich zu gefährlichen Konsequenzen führen kann.

1.

Worauf bezieht sich das Eingangszitat? Edith Stein studierte vom Sommersemester 1913 bis zum Wintersemester 1914/15 in Göttingen (vier Semester lang). Sie orientierte sich hauptsächlich an Edmund Husserl und seinem phänomenologischen Schülerkreis, besuchte aber auch andere Lehrveranstaltungen. Nelson bot im SoSe 1913 »Kritik der praktischen Vernunft«, im WiSe 1913/14 »Ethik« (System der Ethik inkl. Pädagogik, Rechtslehre u. Politik) und im SoSe 1914 »Philosophische Rechtslehre und Politik« als Vorlesungen an, wie aus verschiedenen Dokumenten in Nelsons Nachlass hervorgeht. 4 Stein hörte die Vorlesung »Kritik der praktischen Vernunft« im SoSe 1913, d. h. zu Anfang ihrer Studienzeit in Göttingen. Als Buch erschien der überarbeitete Vorlesungstext 1917 im Verlag Veit & Comp., Leipzig, als erster Teil der »Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik«, die Nelson in mehreren Durchgängen in Göttingen ausarbeitete. 5 Philosophische Konsequenz hat u. a. mit der Frage zu tun, ob ein Philosoph an die Wahrheit seiner Lehrmeinungen selbst glaubt oder nicht. Nelson war mathematisch und naturwissenschaftlich gebildet und vertrat eine Position, die mit Kant und Fries ein apriorisches Wissen der Vernunft annahm und Im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Nachlass N2210. Die weiteren Teile sind: System der philosophischen Ethik und Pädagogik, aus dem Nachlass hrsg. von Grete Hermann und Minna Specht, Göttingen 1932 (= GS V); System der philosophischen Rechtslehre und Politik, Leipzig 1932 (= GS VI). GS = Leonard Nelson, Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. von Paul Bernays u. a., Hamburg 1970–1977. 4 5

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allgemein einem streng objektivistischen, kognitivistischen Wahrheitsverständnis folgte. Damit wandte er sich gegen den allgemeinen Relativismus und Historismus seiner Zeit, wie sie etwa von Nietzsche, aber auch exemplarisch in Oswald Spenglers populärer Geschichtsphilosophie Der Untergang des Abendlandes von 1918 verkörpert wurden; 6 in dieser Gegnerschaft konvergierten Nelsons Bestrebungen mit denen von Edmund Husserl in dessen Aufsatz »Philosophie als strenge Wissenschaft«. 7 Nelsons dedizierte Wahrheitsansprüche müssen in jener Zeit auffällig gewesen sein. Eine andere Hörerin, die später zu einer Schülerin Nelsons wurde, Grete Hermann, gibt ihren ersten Eindruck so wieder (es ging um die Vorlesung »Typische Denkfehler in der Philosophie« vom SoSe 2021): »Wie eingebildet er ist! Er glaubt ja, die Wahrheit gepachtet zu haben.« Hermann selbst war von solchen Überzeugungen weit entfernt: »Die Weltanschauung, die ich zu haben glaubte, bestand aus Fragezeichen.« 8 Ganz anders reagierte ihr Vater, der bei einem Besuch eine Vorlesungsstunde Nelsons gehört hatte und positiv anerkannte, dass Nelson tatsächlich an die Wahrheit seiner Einsichten glaubte: »Endlich ein Mensch, der Ernst macht mit dem, was er erkannt hat.« 9 Was waren die problematischen Prämissen, in denen Stein Fehler vermutete? Eine kritizistische Ethik in der Art Kants oder Nelsons vermeidet eigentlich ein dogmatisches Vorgehen, das bestimmte Prämissen an den Anfang des Theorieaufbaus stellt; diese Vermeidung dogmatischer Prämissen ist geradezu die Pointe dieses Theorietyps. Es wird eine erkenntniskritische Untersuchung, eine »Kritik« vorgeschaltet, die in den Hauptteilen eine Exposition und eine Deduktion des Moralprinzips bietet; daher ist es nicht der Fall, dass Nelsons Ethik als Ganze von ungeprüften Prämissen ausginge. Jedoch besitzt die »Deduktion des Sittengesetzes«, die Edith Stein in der Vorlesung gehört hat – dies ist sehr wahrscheinlich die oben erwähnte »lückenlose Deduktion« –, ihre eigenen Prämissen, die einerseits in einer Theorie des Interesses (Theorie der praktischen Vernunft) bestehen, andererseits in psychologischen Analysen des moralischen Gefühls. 10 In dieser Theorie wird ein bestimmter Begriff des Interesses verwendet; es werden Einteilungen der Interessen in sinnliche und reine, mittelbare und unmittelbare, diskursive und intuitive etc. gebildet, die Vgl. Nelsons ausführliche Polemik gegen Spengler: »Spuk«, in GS III, S. 349–552. Edmund Husserl: »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: Logos I (1910/11), S. 289– 341: S. 289 f. 8 Grete Henry-Hermann: »Erinnerungen an Leonard Nelson«, in: Die Überwindung des Zufalls. Kritische Betrachtungen zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft. Hamburg 1985, S. 179–210: S. 179 f. 9 Ebd., S. 180. 10 Vgl. Nelson, Kritik der praktischen Vernunft, GS IV, S. 335–616. 6 7

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auf den Einteilungen der Erkenntnistheorie von J. F. Fries beruhen; es werden theoretische Sätze daraus abgeleitet, die in der Deduktion als Prämissen verwendet werden. Schließlich werden Behauptungen über die Eigenschaften des moralischen Gefühls aufgestellt, bei denen Nelson sich auf den Common Sense beruft, die jedoch strittig sein können. Die Deduktion ist ein großes disjunktives Ausschlussargument, dessen Ergebnis lautet, dass der Moral ein reines, unmittelbares, diskursives Interesse, d. h. eine reine praktische Vernunft zugrunde liegt und dass dieses Interesse den Ausschluss aller nur numerisch bedingten Unterschiede von der Bewertung von Handlungsoptionen fordert. D. h., es gibt eine praktische Vernunft und sie besteht in der Fairness, in der gleichen Berücksichtigung der Interessen der von einer Handlung betroffenen Personen, gleichgültig, ob es die eigenen oder die fremden Interessen sind. Dieses Ergebnis entspricht dem schon in der Exposition aufgewiesenen »Sittengesetz«, das lautet: »Jede Person hat als solche mit jeder anderen die gleiche Würde«, 11 wobei unter »Würde« der Anspruch auf Berücksichtigung der Interessen einer Person zu verstehen ist. Die ethische Forderung besagt im Grundsatz, beim Handeln stets die persönliche Würde der von einer Handlung betroffenen Personen unparteilich zu wahren. Daraus wird das »Abwägungsgesetz« gebildet: Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären. 12

Die Deduktion begründet das Prinzip durch psychologischen Aufweis eines unmittelbaren Interesses, dessen Wiedergabe das Prinzip ist, und entspricht so den Anforderungen der fundamentalistischen Begründungstheorie Fries’ und Nelsons. Die komplizierte Argumentation ist jedoch fehleranfällig, besonders durch die indirekte, disjunktive Schlussweise. Auch im Zuschnitt der Theorie der Interessen, auf der die Deduktion beruht, könnten fehlerhafte Prämissen enthalten sein, die in der Folge zu falschen praktischen Konsequenzen führen könnten. 13 Welche gefährlichen Konsequenzen könnten entstehen, falls die Deduktion des Sittengesetzes einen Fehler enthielte? Die erste Folge wäre entweder, dass es gar kein reines Interesse der Vernunft gäbe oder dass es nicht diesen Inhalt besäße. Dann wäre die Rolle des Gerechtigkeitsprinzips als oberster Grundsatz erschüttert u. a. in dem Sinne, dass andere Pflichten nicht aus diesem Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. 13 Eine detaillierte Analyse der Deduktion bietet Andreas Brandt: Ethischer Kritizismus, Göttingen 2002, im dritten Kapitel (S. 209–277). 11

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Prinzip abzuleiten wären und nicht durch es begrenzt wären; man müsste sich nach anderen Quellen der Ethik umsehen und die Reichweite der Pflichten anders bemessen. Das gesamte ausgeführte System der Ethik müsste anders aussehen. Die praktischen Konsequenzen, die Nelson von seinen Schülern forderte, sind jedoch nicht eng mit dem Gedankengang der Deduktion verknüpft, sondern treten in der konkreten Gestaltung der Ethik zu Tage. Am bekanntesten sind drei Anforderungen, die in Nelsons späteren politischen Organisationen »Internationaler Sozialistischer Jugendbund« (seit 1917) und »Internationaler Sozialistischer Kampfbund« (seit 1925) sowie im Landerziehungsheim »Die Walkemühle« (seit 1921) verbindlich waren: Antialkoholismus (Abstinenz), Vegetarismus und Kirchenaustritt. Diese Forderungen sind theoretisch begründet. Im System der philosophischen Rechtslehre und Politik (§ 127) behauptet Nelson, »dass es ein Recht der Tiere gibt, nicht von den Menschen zu beliebigen Zwecken missbraucht zu werden«. 14 Zur Begründung dient hier nur die Überlegung, ob man »selbst damit einverstanden sein würde, von einem ihm an Macht überlegenen Wesen nach dessen Belieben missbraucht zu werden«. 15 Die Überlegung entspricht dem Abwägungsgesetz, denn in eine Handlungsweise, durch die die Interessen der Tiere missachtet werden, würde man nicht einwilligen können, wenn man diese Interessen als die eigenen hätte; allerdings wird hier die gleiche Würde von Mensch und Tier vorausgesetzt. Im System der philosophischen Ethik und Pädagogik wird das Recht der Tiere ausführlicher begründet (§§ 65–67). Es kann Rechtssubjekte geben, die nicht zugleich Pflichtsubjekte sind. Subjekte von Rechten sind alle Wesen, die Interessen haben; 16 Subjekte von Pflichten nur solche Wesen, die der Einsicht in die Anforderung der Pflicht fähig sind. Tierrechte beruhen daher auf der Existenz von Interessen. Nelson trifft eine merkwürdige definitorische Vorentscheidung, die die Frage der Tierrechte bereits definitorisch festlegt: Ein Tier nennt er »ein Wesen, das zwar ein Subjekt von Rechten ist, aber seiner Natur nach nicht zur vernünftigen Selbstbestimmung gelangen kann« 17 im Gegensatz zu Menschen, die zugleich die Anlange zur Vernunft besitzen. D. h., Tiere werden als Rechtssubjekte, d. h. als Träger von Interessen, definitorisch eingeführt, sodass die Frage, ob Tiere Interessen haben oder nicht, gar nicht entstehen kann. Haben

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Nelson, GS VI, S. 288. Ebd. Nelson, System der Ethik und Pädagogik, GS V, S. 163. Ebd., S. 163.

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auch Pflanzen Interessen? Sie benötigen Licht, nährstoffhaltigen Boden und Wasser zum Leben. Nelson weist die Frage ab: Wir könnten dies nicht wissen. 18 Nelson geht so weit, ein Interesse des Tieres am Leben zu statuieren. Die Frage, ob die schmerzlose Tötung von Tieren erlaubt sei, wird – wiederum nach dem Abwägungsgesetz – aus dem Grund verneint, dass wir selber nicht in eine schmerzlose Tötung unserer selbst einwilligen, weil wir ein Interesse am Leben haben. 19 Dieses Interesse am Leben wird beim Menschen z. B. beim Verbot des Selbstmordes geltend gemacht, aber mit Bezug auf Tiere zu Unrecht völlig außer Acht gelassen. Wenn das Interesse des Tieres an seinem Leben mit dem menschlichen Interesse nach Fleischgenuss fair abgewogen wird, besitzt das Interesse des Tieres Vorrang; dies begründet den Vegetarismus. 20 Zur praktischen Verdeutlichung dieses Vorrangs wurden in Nelsons Schülerkreis Exkursionen in Schlachthöfe veranstaltet; 21 Willi Eichler, der spätere Mitautor des Godesberger Programms der SDP von 1959, schreibt ausführlich darüber. 22 Zur Anerkennung der Rechte der Tiere als ethischen Indikator für die Gesellschaft schreibt Nelson: Es ist der untrüglichste Maßstab für die Rechtlichkeit des Geistes einer Gesellschaft, wie weit sie die Rechte der Tiere anerkennt. Denn während die Menschen sich nötigenfalls, wo sie als einzelne zu schwach sind, um ihre Rechte wahrzunehmen, durch Koalition, vermittelst der Sprache, zu allmählicher Erzwingung ihrer Rechte zusammenschließen, ist die Möglichkeit solcher Selbsthilfe den Tieren versagt, und es bleibt daher allein der Gerechtigkeit der Menschen überlassen, wie weit diese von sich aus die Rechte der Tiere achten wollen. 23

Für die politischen Schüler Nelsons stand der Vegetarismus letztlich im Kontext einer sozialistischen, d. h. ausbeutungsfreien Gesellschaft. Willi Eichler 18 Ebd., S. 167. Eine weiter gehende Klärung des Interessenbegriffs findet nur in der Kritik der praktischen Vernunft in §§ 167–179 (GS IV, S. 344–370) statt. Als »elementare Qualität« wird das Interesse nicht definiert, sondern nur durch Merkmale von verwandten Phänomenen abgegrenzt: Jedes Interesse zeigt eine Polarität des Verhaltens (§ 168), es schließt eine Wertung ein (§ 169), es ist entweder ein Gefallen oder ein Begehren (§ 170). 19 Ebd., S. 168. 20 Ebd., S. 169. 21 Holger Franke: Leonard Nelson. Ein biographischer Beitrag unter besonderer Berücksichtigung seiner rechts- und staatsphilosophischen Arbeiten. Ammersbek bei Hamburg 1991, S. 153. 22 Willi Eichler: »Sogar Vegetarier?« In: ISK. Mitteilungsblatt des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes, Jg. 1 (1926), Heft 12, S. 206–212. Online unter https://sozis-tiere.de/ files/Sogar_Vegetarier-Willi_Eichler-ISK-1926.pdf (30. 05. 2023) 23 Nelson, System der philosophischen Rechtslehre und Politik, GS VI, S. 289.

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schreibt: »Wer die Forderung der ausbeutungsfreien Gesellschaft ehrlich zu Ende denkt, wird Vegetarier.« 24 Die Kirchenmitgliedschaft widerspricht nach Nelson dem Prinzip der ethischen Autonomie (Selbstdenken, Herrschaft der Vernunft). Wer sich dem Prinzip des Selbstvertrauens der Vernunft verschrieben hat, kann kein Kirchenmitglied sein, denn Kirchenherrschaft bedeutet Herrschaft über die Gewissen der Gläubigen, d. h. einen geistlichen Despotismus: Wie der Kapitalismus auf einer Form der Erpressung beruht, beruht auch der Klerikalismus auf einer Form einer Erpressung, indem hier die geistige Not der einen von den anderen ausgebeutet wird, um sich der Herrschaft über ihre Gewissen zu versichern. 25

Was den Kirchenaustritt anbelangt, lässt sich jedoch leicht zeigen, dass Nelson (als eher kirchenferner Zeitgenosse) einer traditionell zu engen, autoritären Ekklesiologie und Kirchenpraxis folgt. Das protestantische Prinzip der Gewissensfreiheit lässt, richtig verstanden, dem religiösen Subjekt alle Freiheit, dem ethischen Autonomieprinzip zu folgen, und muss keineswegs zu einem geistlichen Despotismus führen. Andererseits kann das Postulat der Herrschaft der Vernunft zu einem unduldsamen Jakobinismus führen, einer Haltung, von der Nelson nicht frei war. Grete Henry-Hermann schreibt zu den Motiven ihres Widerstandes gegen Nelson, dass sie zwar Nelsons Denkmethoden übernehmen wollte, aber sich vor den Ergebnissen fürchtete; sie glaubte nicht, dass die religiösen Wahrheiten, nach denen sie suchte, zu ihrem Recht kämen. 26 Nelsons Nachfolger in der »Philosophisch-politischen Akademie« (PPA) haben die antiklerikale Stoßrichtung und die Forderung nach Kirchenaustritt mittlerweile aufgegeben, einige sind selbst Kirchenmitglieder 27 und die Zeiten der klerikalen Gewissenstyrannei scheinen jedenfalls im Bereich des europäischen Christentums vorbei zu sein. Das Gebot des Antialkoholismus wird im System der Ethik nicht ausdrücklich abgeleitet, ergibt sich aber zwanglos aus der Pflicht der Charakterbildung (§§ 30–36) oder aus dem Ideal der vernünftigen Selbstbeherrschung (§ 82). Alkoholismus schwächt den Charakter, indem er die Herrschaft des vernünftigen Willens untergräbt. Insbesondere gilt dies für den Willen zur politischen Arbeit. In einer Rede Nelsons an die Kasseler Arbeiterschaft (1926) heißt es:

24 25 26 27

Willi Eichler, »Sogar Vegetarier?«, S. 212. Nelson, System der Ethik und Pädagogik, GS V, S. 292. Henry-Hermann, Erinnerungen, S. 182. Nach privaten mündlichen Mitteilungen von Mitgliedern der PPA.

Gefährliche Konsequenzen

Trinkende Arbeiter denken nicht, und denkende Arbeiter trinken nicht […] Die Feinde der Arbeiterschaft wissen es also, dass der Alkohol den Arbeitern den Kopf umnebelt, und dass nur ein nüchterner Arbeiter ein zuverlässiger Klassenkämpfer sein wird. 28

Die Forderung der Abstinenz war in der Jugendbewegung (Freideutsche Jugend), der Nelson nahestand, Gemeingut. Hat Nelsons theoretisches Denken nun zu gefährlichen praktischen Konsequenzen geführt? Gefährlich ist es, aus Grundannahmen einer ethischen Theorie unbesehen praktische Konsequenzen zu ziehen, d. h., noch ehe man sich überzeugt hat, ob die Konsequenzen an sich selbst (gemessen nach dem eigenen intuitiven Moralbewusstsein) ethisch falsch sein könnten. In Nelsons Ethik bestehen deutliche Herausforderungen an den Lebensstil, wenn die Anforderungen des Vegetarismus, des Antialkoholismus, des Kirchenaustritts, der sozialen Gerechtigkeit ernst genommen werden; andererseits enorme theoretische Schwierigkeiten, wenn es etwa gilt, die Reichweite der Pflichten gegen Tiere oder gegen sozial Benachteiligte realistisch, d. h. ohne moralische Überforderung zu bestimmen. Dies zeigt noch nicht, dass die Konsequenzen ethisch falsch sind; eher sind es ungewöhnliche, aus der breiten Gesellschaft herausragende Anforderungen, die man für die Zwecke einer allgemeinen Ethik vielleicht als inadäquat oder unrealistisch bezeichnen könnte, dessen positive oder negative Bewertung – entweder als ethisch hochstehend oder »verrückt« – offen ist.

2.

Ein ganz anderer Fall von potenziell gefährlichen Konsequenzen stellt das kategorische Lügenverbot bei Immanuel Kant dar. Jeder, der sich mit der Problematik der Lüge beschäftigt, kennt das Beispiel, das Kant in seiner kleinen Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen 29 von 1797 als Reaktion auf einen Artikel von Benjamin Constant erörtert hat. Zeigt es nicht unmittelbar, dass aufgrund einer falschen philosophischen Theorie äußerst fatale Folgen entstehen können – in Kants Beispiel zwar nicht für den Hausbesitzer, sehr wohl aber für den Geflüchteten, der von diesem verraten und an den Verfolger ausgeliefert wird? Und ist ein Moralprinzip, aus dem diese (nach Maßstäben des ethischen Common Sense) unhaltbare Konsequenz folgt, nicht selbst unhaltbar? 28 29

Nelson: »Lebensnähe«, in: GS IX, S. 373 f. VRML, AA 08: 425–430.

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Kant hat diese Schrift einem rechtsphilosophischen Problem gewidmet: Es geht ausschließlich um die Frage eines Rechtes, aus Menschenliebe zu lügen, d. h. darum, ob die Lüge jemals rechtlich erlaubt sein kann und ob die Menschenliebe ein solches Recht zur Lüge begründen kann. Trotz dieser begrenzten Problemstellung muss erörtert werden, ob und wie das Verbot der Lüge in diesem extremen Fall begründet wird, d. h., wie es aus Kants Prinzipienlehre folgt; denn Kant vertrat offensichtlich die Meinung, dass das Lügen niemals, d. h. auch in diesem Fall nicht, erlaubt ist, d. h., dass es richtig ist, den Verfolgten an den Verfolger auszuliefern. Betrachten wir zunächst die direkte Anwendung des kategorischen Imperativs. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird ein allgemeines Lügenverbot nicht begründet, nur der speziellere Fall des lügenhaften Versprechens. Dieses bildet das zweite Beispiel in der zweiten Beispielreihe GMS, AA 04: 421–423. Das Verbot wird aus der Gesetzesformel des kategorischen Imperativs abgeleitet: Die zugrundeliegende Maxime lautet: »wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, will ich Geld borgen und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen.« Wenn diese Maxime ein allgemeines Gesetz würde, würde es sich selbst widersprechen, denn es würde »das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgehen, lachen würde«. 30 Dies ist eines der wenigen überzeugenden kantischen Beispiele des Universalisierungstests; aber lässt sich daraus ein allgemeines Lügenverbot gewinnen, das auch den Fall des unschuldig Verfolgten abdeckt? Lassen wir die Frage der genauen, sinnvollen Formulierung einer generellen Maxime des Lügens hier offen – das Resultat der Universalisierung könnte ähnlich aussehen wie oben und noch radikaler ausfallen, nämlich so, dass man Äußerungen mit Wahrheitsanspruch überhaupt nicht mehr trauen würde (Zusammenbruch verlässlicher menschlichen Kommunikation). Das Problem bei der Anwendung auf den Fall des unschuldig Verfolgten besteht aber darin, zu entscheiden, ob die Beschreibung der Handlungsweise als ›Lüge‹ die einzig moralisch relevante Handlungsbeschreibung ist; anders formuliert: ob die Handlung aus einer allgemeinen Maxime, unter beliebigen Bedingungen zu lügen, hervorgeht oder ob die handlungsleitende Maxime vielleicht ganz anders zu beschreiben ist. Beschreibt man die Handlung als »Vereitelung einer Straftat« oder als »Hilfeleistung in einer Notlage«, so sieht die Beurteilung völlig anders aus. Die entsprechenden Maximen »Wenn ich in die Lage komme, eine Straftat zu vereiteln, will ich es tun« bzw. »Ich will dem 30

GMS, AA 04: 422.

Gefährliche Konsequenzen

Nächsten, der in eine Notlage kommt, helfen, soweit ich kann« können als allgemeines Gesetz gedacht und gewollt werden, entsprechen damit der Gesetzesformel des kategorischen Imperativs und sind folglich erlaubt (und sogar geboten, wenn ihre Negationen nicht universalisierbar sind). Die Frage ist: Welche Beschreibung der Handlung ist die moralisch relevante? Auch wenn die Beschreibung ›Lüge‹ unter hinreichend spezifizierten Bedingungen gefasst und daraus eine Maxime gebildet wird – z. B.: Ich will immer dann lügen, wenn ich nicht anders ein Menschenleben retten kann –, führt der Universalisierungstest nicht zum Verbot dieser Handlungsweise, denn diese Bedingung ist so selten und speziell, dass der allgemeine Wahrheitsanspruch im gesellschaftlichen Leben dadurch nicht oder kaum tangiert wird. 31 Diese Überlegungen zeigen, dass das Verbot der Handlungsweise des Hausbesitzers, die eine Lüge einschließt, aus dem kategorischen Imperativ direkt nicht zweifelsfrei folgt. Deshalb kann auch nicht gesagt werden, dass Kants Moralprinzip ohne weiteres zu der gefährlichen Konsequenz führt. Denn auch wenn die Handlungsweise eine Lüge einschließt, gilt das kategorische Lügenverbot nur dann, wenn eine allgemeine Maxime der Lüge zugrunde gelegt wird, was hier aber nicht angenommen wird. Ein anderer Kontext ist die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, wo das Lügenverbot (die Wahrhaftigkeitspflicht) zu den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst zählt. Der kategorische Imperativ, der als Kriterium für die Zulässigkeit der Maximen dient, formuliert nur eine einschränkende Bedingung für Maximen, die ansonsten willkürlich gewählt werden können. Erst der Begriff eines Zwecks, der zugleich Pflicht ist, formuliert ein Gesetz für Maximen, die man haben soll. Die Tugendlehre behandelt Zwecke, die zugleich Pflicht sind: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Obwohl laut Einleitung zur Tugendlehre nur unvollkommene Pflichten den Inhalt der Tugendlehre bilden sollen, hat Kant ein Kapitel mit vollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst verfasst, die notwendige Bedingungen alles Vollkommenheitsstrebens darstellen, indem ihre Verletzung den Menschen physisch oder moralisch vernichtet. In § 9 heißt es, durch die Lüge (die äußere wie die innere) macht der Lügner sich »zum Gegenstande der Verachtung und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person […]. Die Lüge ist

31 Vgl. dazu Georg Geismann: »Versuch über Kants rechtliches Verbot der Lüge«, in: Hariolf Oberer/Gerhard Seel (Hgg.): Kant. Analysen – Probleme – Kritik, Würzburg 1988, S. 293–316. Geismann erwägt einen Widerlegungsversuch, der zeigt, dass nicht Lüge als Gesetz den von Kant behaupteten Effekt hat, dass Verträge ihrer gesetzlichen Möglichkeit beraubt würden. Entscheidend sei die moralphilosophisch angemessene Formulierung einer entsprechenden, dann erst zu prüfenden Maxime (S. 314).

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Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde«, 32 also eine Vernichtung der moralischen Integrität des Menschen. Die Gründe für diese Ansicht werden nicht völlig offengelegt, aber man kann annehmen, dass Kant die Vernunft (als Einsichts- und Wahrheitsfähigkeit) als den Kern des menschlichen Selbstverständnisses ansieht, der im Innersten zerstört wird, wenn der Mensch sich selbst und andere belügt. Kant argumentiert hier nur im Kontext der Pflichten gegen sich selbst; die Lüge ist moralisch unter allen Umständen verboten, aber dieses Verbot ist durch das Selbstverhältnis des moralischen Subjekts mit Bezug auf seine Tugendzwecke begründet, nicht unter Aspekten äußerer Rechtsverhältnisse. Daher ist diese Tugendpflicht der Wahrhaftigkeit auch nicht das, was Kant in dem gegen Constant gerichteten Aufsatz im Auge hat. Er argumentiert vielmehr rechtsphilosophisch, indem er »das Recht der Menschheit« geltend macht, das durch ein vermeintes Recht der Lüge beschädigt würde, nämlich indem die Wahrhaftigkeit als Rechtsquelle (Voraussetzung für alle rechtsverbindlichen Verträge) zerstört würde. Constant hatte eine Pflicht der Wahrhaftigkeit anerkannt, sie aber unter die Bedingung gestellt, dass die betreffende Person ein Recht auf die Wahrheit hat. »Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.« 33 Kant korrigiert zunächst die Formulierung, ein Recht gebe es nur auf Wahrhaftigkeit (nicht auf Wahrheit), und wirft zwei Fragen auf. Erstens, ob ein Mensch, der einer Ja-oder-Nein-Frage nicht ausweichen kann, berechtigt ist, lügenhaft zu antworten; zweitens, ob er dazu verpflichtet sei, wenn ihm die Frage zu Unrecht aufgenötigt wird und er durch eine unwahrhafte Antwort ein drohendes Verbrechen abwenden kann. Beide Fragen werden von Kant verneint. Zu Constants Position macht Kant zwei Bemerkungen. Erstens: Auch wenn der Frager durch Ausübung von Zwang und vorhersehbares Verbrechen das Recht auf Wahrhaftigkeit verwirkt habe, bleibt doch die Wahrhaftigkeit in Aussagen »formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem anderen daraus noch so großer Nachtheil erwachsen«. 34 Dem Verlust des Rechtes auf Wahrhaftigkeit beim Frager korrespondiert kein Verlust der Pflicht beim Antwortenden (keine Reziprozität), sondern diese bleibt, und zwar weil es nicht um das Recht des Fragers, sondern um das Recht der Menschheit überhaupt geht:

32 33 34

MS, AA 06: 429. VRML, AA 08: 425. Ebd., S. 426

Gefährliche Konsequenzen

ich mache [im Fall der Lüge], so viel an mir ist, dass Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird. 35

Zweitens ist der Schadensaspekt, den Constant zur Begründung anführt, irrelevant: es ist nicht der Schaden, der eine Erlaubnis zur Unwahrhaftigkeit begründet, sondern diese bleibt ein Unrecht gegen die Menschheit, »indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht«, nämlich das Vertrauen, dass Verträge eingehalten werden. Auf diesem Vertrauen basiert die gesamte positive Rechtsordnung und diese Grundlage der Gesellschaft wird durch die Lüge beschädigt. Wer lügt, um wohltätige Folgen zu erzielen, tut dies auf eigene Verantwortung und muss für die tatsächlich entstehenden Folgen (die niemand sicher voraussagen kann) einstehen, während Wahrhaftigkeit als Grundnorm dient und nicht rechtfertigungspflichtig ist, weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird. 36

Offensichtlich verwendet Kant auch im Kontext der Rechtslehre sein Verallgemeinerungsprinzip: Durch die Lüge »mache ich, so viel an mir ist«, dass es kein Vertrauen als Grundlage für rechtsverbindliche Verträge gibt – das wäre faktisch nur der Fall, wenn alle so handelten. Im konkreten Einzelfall des unschuldig Verfolgten ist aber von den Bedingungen von rechtsverbindlichen Verträgen keine Rede; die Situation ähnelt einem Zustand der nackten Gewalt oder des Krieges, in dem es keine Rechtssicherheit gibt, Menschen ermordet werden und um ihr Leben kämpfen müssen. Unter solchen Bedingungen einen Menschen an seinen Mörder auszuliefern mit der Begründung, dass andernfalls »das Recht der Menschheit« auf dem Spiel stünde, erscheint gewagt. Kant bewertet jede Handlung nur unter dem Gesetzesaspekt; er hat nicht die individuelle Handlungssituation des Beispiels im Auge, sondern das hier zu erörternde »vermeinte Recht, aus Menschenliebe zu lügen«. Erst die Einräumung eines allgemeinen Rechts der Lüge aus utilitaristischen Gründen würde eine allgemeine Rechtsunsicherheit herbeiführen. Als Quintessenz der Abhandlung kann deshalb der Satz gelten: »Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.« 37 Es bleibt jedoch dabei, dass Kant fordert, unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen, 35 36 37

Ebd. Ebd., S. 427. Ebd., S. 429.

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was eben auch bedeutet, den unschuldig Verfolgten an seinen Verfolger auszuliefern. Damit kann ein abstrakter philosophischer Grundsatz zu gefährlichen oder schädlichen Konsequenzen führen. Kant beruhigt sich dabei, dass nicht die wahrhaftige Aussage diese Konsequenz herbeiführt, sondern der Zufall 38 – die Verantwortung für den Schaden liegt beim Verfolger und potentiellen Mörder, dafür ist der kontingente Weltlauf zuständig, während der Mensch nur die unbedingte Pflicht der Wahrhaftigkeit zu erfüllen hat.

3.

Unter Nelsons ethischen Prämissen ist das Beispiel des unschuldig Verfolgten leichter und situationsnäher aufzulösen als bei Kant, der an das kategorische Verbot der Lüge gebunden bleibt. In dem Beispiel kollidieren die beiden Sittenregeln der Wahrheitspflicht und der Hilfeleistung für lebensgefährlich Bedrohte. Wenn man vom Prinzip der fairen Interessenabwägung ausgeht, müssen der Wert und die Stärke der Interessen des Verfolgers an einer wahrheitsgemäßen Auskunft und des Verfolgten an Schutz vor dem Verfolger abgewogen werden. Die Abwägung ergibt eine Höherwertigkeit des Interesses des Verfolgten, wodurch in diesem Fall die Lüge gerechtfertigt wird, ohne dass dadurch ein allgemeines »Recht, aus Menschenliebe zu lügen« eingeräumt werden muss. Die Behandlung der Wahrhaftigkeitspflicht in § 71 des Systems der philosophischen Ethik und Pädagogik besitzt jedoch verschiedene Aspekte. Grundsätzlich gilt: »Die Pflicht der Wahrhaftigkeit kann so wenig wie irgendeine andere Pflicht so weit gehen, dass wir um ihretwillen die Pflicht der Gerechtigkeit verletzen dürfen, aus der sie sich ja wie alle anderen Pflichten mittelbar ableitet.« 39 Die Gerechtigkeit ist die einzige fundamentale Pflicht, aus der alle anderen folgen und hinsichtlich ihres Umfangs begrenzt werden. Nelson leitet die Wahrhaftigkeitspflicht direkt aus der Pflicht der Zuverlässigkeit ab, d. h. der Pflicht für vernünftige Wesen, »einander ihre Gedanken nur so mitzuteilen, dass sie mit dem Mitgeteilten wie mit der Wirklichkeit selber rechnen können«. 40 Diese Pflicht beruht auf dem Interesse von Personen, »das Verhalten aller derjenigen Mitmenschen, mit denen sie in Wechselwirkung treten, voraussehen zu können«. 41 An solcher Voraussicht sind sie deshalb inte38 39 40 41

Ebd., S. 428. Nelson, GS V, S. 185. Ebd., S. 179. Ebd., S. 178.

Gefährliche Konsequenzen

ressiert, weil davon die Möglichkeit zweckmäßigen Handelns und damit die Möglichkeit, als vernünftige Wesen zu leben, abhängt. 42 Wo dieses Interesse nicht vorliegt (wie bei Unzurechnungsfähigen) oder wo das Recht auf seine Beachtung durch Verfolgung illegitimer Zwecke verwirkt ist (wie im Fall des Verfolgers), gibt es keine Wahrhaftigkeitspflicht; »der vorauszusehende widerrechtliche Mißbrauch der Wahrheit rechtfertigt daher die Lüge«. 43 Ferner ist eine erzwungene Aussage, auch eine lügenhafte, keine zurechenbare Handlung, fällt also nicht unter die sittliche Beurteilung; denn der zudringliche Frager übt psychischen Zwang auf mich aus, indem er mich »in die Unfreiheit versetzt, durch bloße Verweigerung der Antwort meine Gedanken zu verraten«. Er beraubt mich damit meines Rechtes, meine Gedanken für mich zu behalten, und hat es daher »sich selber zuzuschreiben, wenn ich, um mein Recht zu wahren, ihn belüge«. 44 Die Lüge kann sogar zur Pflicht werden, wenn nur durch sie die Ausführung eines Verbrechens vereitelt werden kann: Es kann der Fall eintreten, daß wir uns durch Mitteilung der Wahrheit eines widerrechtlichen Mißbrauchs der Wahrheit, den der andere begeht, mitschuldig machen; sofern wir nämlich diesen Mißbrauch voraussehen können, nehmen wir ihn als beabsichtigten Erfolg mit in unsere Tat auf. Die Pflicht, uns an diesem Unrecht nicht mitschuldig zu machen, kann dann die Pflicht zur Lüge begründen. Können wir durch die Lüge die Ausführung eines Verbrechens verhindern, so wird es im allgemeinen nicht nur erlaubt sein, zu lügen, sondern die Lüge wird für uns zur Pflicht werden. 45

Von einem kategorischen Lügenverbot, das unmittelbar mit der Menschenwürde und dem Menschheitsrecht verknüpft wird wie bei Kant, ist hier nichts zu sehen. Vielmehr wird die gefährliche Konsequenz vermieden, verfolgten Menschen aufgrund einer abstrakten philosophischen Idee die Hilfe in der Not zu verweigern.

42 43 44 45

Ebd., S. 178 f.; vgl. GS IV, S. 141. Ebd., S. 184. Ebd., S. 184. Ebd., S. 185.

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I I I . KO NSEQU EN TE IN TE RPR ETATION

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Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht Über Kants ›ersten Satz‹ zur Pflicht 1.

Nicht zuletzt in seinen zahlreichen, stets bereichernden Beiträgen zu Kants Philosophie orientiert sich Bernd Ludwig wie kaum ein anderer an Kants Maxime der konsequenten Denkungsart, nämlich »[j]ederzeit einstimmig mit sich selbst zu denken.« 1 Diese Orientierung zeigt sich hierbei gewissermaßen stets in zweifacher Hinsicht, sowohl in der Bereitschaft, die eigene Gedankenführung diesem Ideal anzunähern, als auch darin, seinen Referenzautor so zu lesen, als sei er stets an diesem Ideal orientiert. Zuletzt hat Ludwig dies in seinen neueren Beiträgen zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 2 wieder eindrücklich unter Beweis gestellt. Das gilt in besonderem Maße für die, mitunter auf diesen Beiträgen basierende, jüngst erschienene Monographie Aufklärung über die Sittlichkeit, 3 um die jedes noch so gut gefüllte Regal mit Kommentaren zur Grundlegung unbedingt ergänzt werden sollte. Dabei grenzt sich Ludwig sogleich im Prolog seines Kommentars nicht nur vehement von den »wohletablierten Ritual[en] vor allem in der deutschsprachigen Kant-Forschung« ab, darauf hinzuweisen, dass man es bei Kants Grundlegung »zwar mit einem herausragend wichtigen, aber zugleich auch mit einem herausragend schwierigen Text zu tun hat«, sondern bestreitet auch, dass die Grundlegung »angesichts ihrer partiellen ›Dunkelheit‹ ein Text nur für Eingeweihte zu sein […]« 4 scheint. Vielmehr möchte er der Leserschaft seines Kommentars demgegenüber KU, AA 05: 294.17 f. Zu nennen sind hier: Bernd Ludwig: »Warum musste Kant 1784 die Grundlegung schreiben? Die Erfindung der kritischen Moral«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 27 (2019), S. 217–234; ders.: »Über drei Deduktionen in Kants praktischer Philosophie – und über eine, die man dort vergeblich sucht. Kant-Studien 109 (2018), S. 47–71; und schließlich der für das Thema des vorliegenden Beitrags zentrale Aufsatz; »›[…] wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen […]‹ – Die vier ersten der ›drei Sätze‹ in Grundlegung I (04:397–400)«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 72 (2018), S. 493–501. 3 Bernd Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M. 2020. 4 Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 9. 1

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einige Mittel an die Hand geben, mit denen sie durch eigene Lektüre zu der Einsicht vordringen können, dass Kants Grundlegung ein Buch ist, das uns wie kein anderes von der philosophischen Größe und zugleich von der schriftstellerischen Meisterschaft ihres Autors überzeugen kann: Es ist zwar kein einfaches, aber gleichwohl ein klares Buch, genial komponiert, methodisch reflektiert, gradlinig geschrieben, rigoros in der Problemanalyse, philosophisch auf der Höhe seiner Zeit, revolutionär in seinem Anspruch und von einer gedanklichen Rigidität, die uns bisweilen atem- und oftmals auch ratlos machen kann. 5

Ludwig erweist sich damit als ein äußerst wohlwollender Textexeget, der in seiner Herangehensweise an den Text zunächst unterstellt, dass wir es hier geradezu mit einem Paradebeispiel (nicht nur, aber eben gerade auch) für die philosophische Tugend der konsequenten Denkungsart zu tun haben. Dies offenzulegen verlangt dem Autor eines solchen Kommentars dabei selbstredend ab, sich ebenso auf diesen Weg zu begeben, der keinesfalls ein leichter ist. Denn gemäß Kant handelt es sich bei der konsequenten Denkungsart um die Maxime des gemeinen Menschenverstandes, die im Vergleich zur vorurteilsfreien Denkungsart (»Selbstdenken« 6) und der erweiterten Denkungsart (»An der Stelle jedes anderen denken« 7) »am schwersten zu erreichen« 8 ist. Und zwar weil sie »nur durch die Verbindung beider […] und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben erreicht werden« 9 kann. Dies schließt offenkundig die Bereitschaft zur Selbstkorrektur ein. Entsprechend geht Ludwig einerseits davon aus, dass uns bereits die »bloße Möglichkeit einer solchen Kantischen Selbstkorrektur darauf [verpflichtet], zunächst auch weitestmöglich ohne eine positive Inanspruchnahme derjenigen Schriften auszukommen, die der Autor der Grundlegung noch gar nicht kennen konnte – weil er sie erst noch schreiben musste (und sogar das mitunter noch nicht einmal ahnte).« 10 Andererseits betrifft dies aber auch die Bereitschaft zur eigenen Selbstkorrektur, vor der Ludwig nur selten zurückscheut 11 und die mitunter dazu beiträgt, dass es ihm in seinem Kommentar auf hervorragende Weise gelungen ist, die Voraussetzungen offenzulegen, »ohne welche der Gedankengang der Grundlegung von uns Nachgeborenen an einzelnen Stellen möglicherweise gar nicht (mehr) nachvollzogen werden kann«

Ebd. KU, AA 05: 294.16. 7 Ebd., 294.17. 8 Ebd., 295.15. 9 Ebd., 295.15–17. 10 Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 13. 11 Vgl. etwa ebd., S. 155. 5

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Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht

und »auf einige der Fragen aufmerksam« 12 zu machen, auf die sie eine Antwort liefern soll. Als für Ludwigs gesamtes Interpretationsprojekt zentral erweist sich vor diesem Hintergrund die Annahme, dass die vermeintliche ›Dunkelheit‹ der Grundlegung letztlich darauf zurückzuführen ist, dass sogar deren zentrale Fragestellung allzu oft missverstanden werde. Bekanntermaßen geht es Kant in der Grundlegung um »die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität«, 13 also um die Frage, wie das Moralprinzip lautet und wie es zu begründen ist. Ausgehend davon werde sie oftmals mit einer falschen Erwartung gelesen: Nämlich als ein Werk, »welches den Anspruch erhebt, nicht (nur) eine Metaphysik der Moral, sondern (auch gleich noch) die Moral selbst zu begründen«, 14 also die Frage zu beantworten, warum wir überhaupt moralisch handeln sollen. Nehme man hingegen Kants eigenen Anspruch ernst, so wird klar, dass er sich keinesfalls gegen »ungenannte Moral-Skeptiker« wendet, sondern einzig gegen die »eudaimonistischen Moralisten seiner Zeit«, mit denen er »unbefragt die Voraussetzung [teilt], dass die Menschen irgendeiner eigentümlichen sittlichen Verbindlichkeit unterstehen«. 15 Entsprechend gehe es ihm lediglich darum, »die angemessene Formel aller sittlicher Verpflichtung anzugeben und diese Formel gegenüber den vorliegenden Alternativen zu rechtfertigen«.16 Erst wenn man die Grundlegung mit dieser Erwartung liest, so Ludwig, lasse sie sich als ein Beispiel für die konsequente Denkungsart ausweisen, was mitunter dazu führt, »dass einige der hartnäckigen, prominenten Interpretationsprobleme nicht mehr einer Lösung harren – sondern gar nicht erst auftreten.« 17 Einem dieser »hartnäckigen Interpretationsprobleme« aus dem ersten Abschnitt der Grundlegung möchte ich mich im Folgenden in kritischer Auseinandersetzung mit Ludwigs Lösungsvorschlag 18 nun näher zuwenden. Im ersten Abschnitt der Grundlegung verfolgt Kant bekanntermaßen das Ziel, das oberste Moralprinzip auf analytischem Wege aufzusuchen, indem er von den Urteilen der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis ausgeht. 19 Dabei Ebd., S. 13. GMS, AA 04: 392.03 f. 14 Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 10. 15 Ebd., S. 15. 16 Ebd., S. 10. 17 Ebd., S. 11. 18 Vgl. ebd., S. 41 ff. und Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen. 19 Dies kann wohl als weitgehend unstrittig innerhalb der Sekundärliteratur gelten, gleichwohl dies für die sich daran anschließende Frage, wie es denn um die jeweilige Aufgabe und Methode des zweiten und dritten Abschnitts steht, keinesfalls zutrifft. Dazu vgl. 12 13

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stößt er ausgehend vom Begriff des »guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnt«, 20 über die Analyse des damit einhergehenden Pflichtbegriffs zum Sittengesetz vor, welches er als das der gemeinen Menschenvernunft »eigene Princip« 21 ausweist. Die in diesem Zuge vorgenommene Erläuterung des Begriffs der Pflicht erfolgt offensichtlich in drei Sätzen: Ein ›zweiter Satz‹ – »eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also […] bloß von dem Princip des Wollens [ab], nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist« 22 – und ein ›dritter Satz‹ – »Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« 23 – werden dabei von Kant explizit ausgewiesen. Ein ›erster Satz‹ wird jedoch nicht ausgewiesen, wie also lautet er? Folgt man Ludwig, so lautet dieser Satz, dass »einer Handlung vom ›natürlichen gesunden Verstande‹ ein unbedingter Wert genau dann zugeschrieben wird, wenn sie ›nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht‹ getan wird«. 24 Das scheint mir prima facie richtig zu sein, denn wie Ludwig zu Recht betont, wiederholt Kant diese Aussage gleich viermal. Die folgende Erläuterung des Satzes zeigt, dass Ludwig dies so versteht, dass hiermit eine (negative) Bestimmung des subjektiven Bestimmungsgrundes gegeben ist: »d. h.: insofern ihr ausschlaggebender subjektiver Bestimmungsgrund keine Neigung ist. […] etwa Christoph Horn/Corinna Mieth/Nico Scarano: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kommentar. Frankfurt a. M. 2007, S. 163 ff. und Dieter Schönecker/Allen W. Wood: Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Ein einführender Kommentar. Paderborn 2002, S. 11 ff. Auch wenn dies für das Thema des vorliegenden Beitrags nur bedingt von Belang ist, sei an dieser Stelle doch darauf verwiesen, dass sich Ludwigs Erschließung der diesbezüglich umstrittenen Textpassage aus der Vorrede der Grundlegung (GMS, AA 04: 392.17–22) durchaus als innovativ erweist. Während zumeist davon ausgegangen wird, dass die beiden ersten Abschnitte der »Aufsuchung« und erst der dritte Abschnitt der »Festsetzung« des Moralprinzips dienen, zeigt er, dass die Aufsuchung mit dem ersten Abschnitt bereits abgeschlossen ist. Die Festsetzung bedarf sodann zweier Teile, nämlich »einer ›Prüfung‹ des Prinzips«, welche im zweiten Abschnitt vorgenommen wird und »einem Aufweis seiner ›Quellen‹« im dritten Abschnitt. Der von Kant angekündigte »synthetische Weg«, also die »Anwendung des so gerechtfertigten Prinzips des ›einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit‹ (445) wird ›zukünftig‹ in einer separat erscheinenden und der Popularität dann fähig(er)en Metaphysik der Sitten […] erfolgen.« (Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 28). 20 GMS, AA 04: 397.02–03. 21 Ebd., 404.05. 22 Ebd., 399.35–400.03. 23 Ebd., 400.18 f. 24 Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 43.

Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht

Welcher andere subjektive Bestimmungsgrund hernach bei einer Handlung aus Pflicht an die Stelle der Neigung treten muss, wird sich dann (erst) im ›dritten Satz‹ zeigen.« 25 Dagegen werde ich im Folgenden dafür argumentieren, dass der ›erste Satz‹ nicht nur eine negative Bestimmung des subjektiven Bestimmungsgrundes (keine Neigung), sondern darüber hinaus auch des objektiven Bestimmungsgrundes (kein Gegenstand des Begehrens) beinhaltet, die Kant sodann in den beiden folgenden Sätzen positiv bestimmt, nämlich als die Achtung einerseits (im ›dritten Satz‹) und das moralische Gesetz andererseits (im ›zweiten Satz‹). 26 Und das, so werde ich zeigen, ergibt sich durchaus aus Ludwigs eigener Rekonstruktion, so diese nur konsequent zu Ende gedacht wird. Ehe ich mich Ludwigs Rekonstruktion des ›ersten Satzes‹ im Detail zuwende (3.), um auf dieser Grundlage zu zeigen, inwiefern mein Modifikationsvorschlag daraus folgt und wie er sich begründen lässt (4.), möchte ich zunächst einige, gleichsam die Vorbereitung der eigentlichen Suche betreffende Annahmen vorwegschicken (2.).

2.

Wie bei jeder Suche, erweist es sich auch hinsichtlich der Suche nach dem ›ersten Satz‹ als hilfreich, vorab zu überlegen, was genau man eigentlich sucht, wo man es sucht, d. i., ob sich das Suchgebiet entsprechend eingrenzen lässt, und wie man das gesuchte Objekt überhaupt finden kann. Die entsprechenden Vorannahmen Ludwigs – mit denen ich durchweg übereinstimme – hier zu explizieren, dient dabei einerseits der groben Verortung seines Vorschlags – denn dass es eine mittlerweile nahezu unüberschaubare Anzahl an Vorschlägen gibt, wie der ›erste Satz‹ nun laute, 27 hängt wenigstens in Teilen damit zusammen, dass nicht einmal über diese Voraussetzungen Einigkeit herrscht. Andererseits dient die Explikation der Begründung, dass Ludwigs Vorschlag bereits mit Blick auf die Voraussetzungen eine zentrale Innovation bereithält, die den Weg in eine der »vom Kantischen Text wegführende[n] Sackgassen« 28 erfolgreich versperrt und somit wenigstens ein Interpretationsproblem gar nicht erst auftreten lässt. Ebd. Diese Überlegung findet sich bereits in Katharina Naumann: Die Kraft des Exempels. Eine kantische Perspektive auf das Problem der Supererogation, Berlin/Boston 2020, S. 46 ff. 27 Für eine umfassende Übersicht über die Vorschläge der jüngeren Literatur siehe etwa Klaus Steigleder: »Der ›erste Satz‹ in Grundlegung I«, in: Kant-Studien 113 (2022), S. 179–191: S. 179 f., Fn. 2. 28 Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 7. 25

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Wie oben bereits herausgestellt, gehe ich davon aus, dass es sich bei den drei Sätzen, und somit eben auch bei dem gesuchten Satz, tatsächlich um solche zur Pflicht handelt. Auch wenn dies nicht gänzlich unumstritten ist, denn [e]s könnte sich bei dem gesuchten Satz um den ersten Satz des Ersten Abschnitts der Grundlegung handeln (393.5–7). […] Die drei Sätze behandeln nach dieser Interpretation nicht allein den Begriff der Pflicht, sondern sind dann eine schrittweise Explikation dessen, was als uneingeschränkt gut gelten kann.[…] Ebensogut ließe sich jedoch behaupten, es gehe in den drei Sätzen um den moralischen Wert, das Oberthema des Ersten Abschnitts. […] Diesem Interpretationsansatz zufolge […wäre er] identisch mit der These, dass der Begriff der Pflicht den Begriff des guten Willens unter gewissen Einschränkungen und Hindernissen enthält. 29

Insofern sowohl der ›zweite‹ als auch der ›dritte Satz‹ vom Pflichtbegriff handeln und Kant im ›dritten Satz‹ gar eine Bestimmung des Pflichtbegriffs gibt, die er zugleich als eine Folgerung aus den beiden vorhergehenden Sätzen ausweist, 30 scheint mir dies, wenn auch für sich genommen noch nicht hinreichend, »um verläßlich entscheiden zu können, welcher Inhalt mit dem Satz gemeint ist« 31 – weshalb es auch nicht erstaunt, dass gleichwohl dies, soweit ich sehe, von der Mehrheit der Interpretinnen und Interpreten angenommen wird, über den Inhalt dennoch keine Einigkeit herrscht –, so doch hinreichend dafür, dass die Analyse des Begriffs der Pflicht deren Gegenstand ist. 32 Denn andernfalls würde man behaupten müssen, Kant sei der Ansicht, dass einzig Handlungen aus Pflicht uneingeschränkt gut oder moralisch wertvoll sind – dies ist aber schlichtweg unvereinbar damit, dass Kant klarerweise davon ausgeht, »dass überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich [ist], was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«. 33

Horn/Mieth/Scarano: Grundlegung Kommentar, S. 185 ff. Vgl. GMS, AA 04: 400.17–19. 31 Horn/Mieth/Scarano: Grundlegung Kommentar, S. 187. 32 Dazu vgl. auch Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 493. 33 GMS, AA 04: 393.5–7. Das schließt natürlich nicht aus, dass die drei Sätze in gewisser Hinsicht den guten Willen zum Gegenstand haben, wie Dieter Schönecker zu Recht betont: »Certainly every action that is done from duty is an action done from a good will, and in this sense the three propositions are about the good will. The opposite, however, is not true; not every action done from a good will is an action done from duty.« (Dieter Schönecker: »Once Again: What is the ›First Proposition‹ in Kant’s Groundwork? Some Refinements, a New Proposal, and a Reply to Henry Allison«, in: Kantian Review 17 (2012), 281–296: S. 283. 29

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Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht

Darüber hinaus ist im ›dritten Satz‹ gar nicht mehr von moralischem Wert oder von moralischer Güte die Rede. Vielmehr stellen die evaluativen Urteile des gemeinen Menschenverstandes den Ausgangspunkt dafür bereit, den Begriff der Pflicht zu analysieren und somit zugleich die Frage danach zu beantworten, wie unsere deontischen Urteile demzufolge konsequenterweise beschaffen sein sollten, 34 d. i. die Frage nach dem obersten Moralprinzip. Dieses ergibt sich Kant zufolge unmittelbar aus der Analyse des Pflichtbegriffs, der zufolge »nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig [bleibt], welche allein dem Willen zum Princip dienen soll«. 35 Hinsichtlich der Frage, was eigentlich gesucht wird, lässt sich demnach festhalten, dass es sich um einen Satz über die Pflicht handeln muss, der die Werturteile der gemeinen Menschenvernunft zum Gegenstand hat, aus denen in Folge auf analytischem Wege das oberste Moralprinzip gewonnen werden kann. Setzt man dies voraus, so lässt sich die Frage, wo der ›erste Satz‹ wohl zu finden sein könnte, leicht beantworten. Denn Kant markiert den Übergang von der Behandlung des Begriffs des guten Willens zu der des Begriffs der Pflicht unverkennbar: Um aber den Begriff [des] guten Willens, […] der in der Schätzung des ganzen Werths unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält […]. 36

Der gesuchte Satz muss sich schon allein deshalb zwischen dem damit angekündigten Übergang und der expliziten Nennung des ›zweiten Satzes‹ finden, also in den Absätzen 9–13 des ersten Abschnitts und somit innerhalb der Diskussion der vier Beispiele (ehrlich sein; sein Leben erhalten; wohltätig sein; nach Glückseligkeit streben). 37 Zugleich ist damit auch gewährleistet, dass der Satz die Werturteile der gemeinen Menschenvernunft zum Gegenstand hat, 34 Dies ist freilich nur möglich, weil Kant voraussetzt, dass die Legalität einer Handlung eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für deren Moralität ist, was er im ersten Abschnitt der Grundlegung durchaus explizit geltend macht, wenn er schreibt: »Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig erkannt werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; denn bei denen ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten.« (GMS, AA 04: 397.11–14.) 35 Ebd., 402.6 f. 36 Ebd., 397.1–8. 37 Vgl. Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 493 und ders.: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 41 f.

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denn es geht Kant in der Diskussion der Beispiele gerade darum, wie wir mit Blick auf diese vermeintlich urteilen würden. 38 Wie dieser Satz lautet und ob er sich im genannten Textabschnitt explizit oder nur implizit finden lässt, steht damit indes noch nicht fest. Auch wenn der Gegenstand und das Suchgebiet nun schon eingegrenzt sind, stellt sich immer noch die Frage, wie der ›erste Satz‹ dort nun gefunden werden kann. Die naheliegendste – und soweit ich sehe auch am weitesten verbreitete – Methode besteht darin, Kants Bemerkung, beim ›dritten Satz‹ handele es sich um eine »Folgerung aus den beiden vorigen«, 39 so zu verstehen, dass es sich dabei um einen deduktiven Schluss aus den beiden ersten Sätzen handelt. 40 Da uns der ›zweite Satz‹ bekannt ist, lässt sich demnach entweder ein unausgesprochener ›erster Satz‹ rekonstruieren oder ein Satz im genannten Textabschnitt als ein solcher ausweisen, der Kants Argument schlüssig werden lässt. Dass sich diese Methode als erfolgreich erweist – wenn auch nur unter Hinzunahme einiger impliziter Prämissen –, soll im nächsten Abschnitt gezeigt werden. Damit sie sich aber als erfolgreich erweisen kann, ist es zunächst unabdingbar, die bereits angekündigte Innovation von Ludwigs Vorschlag ernst zu nehmen, die gleichsam einen weiteren Gegenstand als Suchobjekt (oder als Teil dessen) ausschließt und somit bereits eine der impliziten Prämissen für uns »Nachgeborene« nachvollziehbar macht. Um von den beiden ersten Sätzen auf den ›dritten Satz‹, dass Pflicht die »Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« 41 ist, schließen zu können, müsse nämlich in keinem der vorhergehenden Sätze bereits davon die Rede sein, dass Pflicht die ›Notwendigkeit einer Handlung‹ sei. Denn dies bezeichnet das (auch von Kants Gegnern) unbestrittene genus proximum, »gleichsam den irreduziblen Bedeutungskern: Pflicht (officium) ist etwas Gesolltes, und ›Sollen‹ ist Ausdruck von Nötigung, einer ›praktischen Notwendigkeit‹«. 42 Geht man mit Ludwig davon aus, dass es in der Grundlegung gerade nicht um die Frage geht, 38 Hieran entzündet sich schließlich auch die in der Sekundärliteratur kontrovers diskutierte Frage, ob man nur im Falle widerstreitender Neigungen aus Pflicht handeln kann oder ob Kant lediglich meint, dass man das Handeln aus Pflicht in diesen Fällen besser erkennt, und Handeln aus Pflicht entsprechende Neigungen daher nicht ausschließt. Dieses Problem kann mit Blick auf die vorliegende Frage jedoch ausgeklammert werden. 39 GMS, AA 04: 400.17. 40 Für eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Bedeutungen von ›Folgerung‹ und ihre jeweilige Plausibilität im vorliegenden Kontext siehe Schönecker: Once Again. Gegen die Annahme, dass es sich hierbei tatsächlich um die Konklusion eines deduktiven Arguments handelt, siehe jüngst etwa Steigleder: Der »erste Satz«. 41 GMS, AA 04: 400.18–19. 42 Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 45.

Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht

ob die »Menschen irgendeiner eigentümlichen sittlichen Verbindlichkeit unterstehen«, sondern einzig um »die Frage ›woher [!] das moralische Gesetz verbinde‹ (450.16)«, 43 dann leuchtet unmittelbar ein, dass der Teil der Definition, der »den philosophischen Sprengstoff liefern soll […] ausschließlich die differentia specifica sein [kann]: ›aus Achtung fürs Gesetz‹.« 44 Oder nochmal anders gewendet: Die Frage ist nicht, ob Pflicht eine Notwendigkeit ausdrückt, sondern vielmehr welche spezifische Notwendigkeit sie ausdrückt. Daher muss bloß gezeigt werden, inwiefern dieser Ausdruck logisch aus den beiden vorhergehenden Sätzen folgt, und zwar in Abgrenzung zu den »übrigen praktischen Notwendigkeiten«, die sich »aus Neigung zu einem Gegenstand des Willens« 45 ergeben. Somit, so Ludwig weiter, erhelle sich aber nicht nur »die Struktur von Kants Argumentation […], sondern auch die mit dieser vollzogene metaethische Abgrenzung« 46 von Baumgarten und Wolff, die gegenüber den Beweggründen moralischen Handelns gleichgültig sind und so, wie es Kant mit seinem ›ersten Satz‹ klarstellt, der Differenziertheit der ›aufgeklärten‹ Wert-Zuschreibungen des ›natürlichen gesunden Verstande[s]‹ (04:397) ganz grundsätzlich nicht gerecht [werden]. Das war für ihn offensichtlich der entscheidende Grund dafür, dass ›alle bisherige Bemühungen […] niemals Pflicht, sondern [immer nur; B. L.] Nothwendigkeit der Handlung aus einem gewissen Interesse‹ herausbekamen (04:432 f.). 47

Mit diesem zentralen Hinweis bringt Ludwig die Debatte insofern auf entscheidende Weise voran, als sich das hartnäckig diskutierte Problem damit schlichtweg gar nicht mehr stellt, nämlich ob und inwiefern von der Notwendigkeit nun im ›ersten‹ 48 oder im ›zweiten Satz‹ 49 die Rede sei. Für die Schlüssigkeit des Arguments bedarf es demnach trotzdem der Annahme, dass Pflicht eine praktische Notwendigkeit ist und insofern subjektive wie objektive Bestimmungsgründe beinhaltet. Hierbei handelt es sich aber sodann um eine den beiden ersten Sätzen vorhergehende unausgesprochene Prämisse des Arguments. Hatte ich zuvor selbst noch gemeint, dass man der Rede von der Notwendigkeit im Rahmen des ›ersten Satzes‹ Rechnung tragen muss, 50 sehe ich mich angesichts dieser Überlegungen zu einer entsprechenden SelbstkorEbd., S. 15. Ebd., S. 45. 45 Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 496. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 497. 48 So etwa Jens Timmermann: Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals: A Commentary, Cambridge 2007, S. 26. 49 So etwa Schönecker: Once Again, S. 284. 50 Vgl. Naumann: Die Kraft des Exempels, S. 44. 43

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rektur genötigt. Zugleich wird sich am Ende zeigen, dass es gerade die hier dargelegten Überlegungen sind, die den Anstoß für meinen Modifikationsvorschlag liefern und somit Ludwig im Gegenzug womöglich auch zu einer Selbstkorrektur nötigen könnten. Diesen auszuführen, wird jedoch erst auf der Grundlage einer eingehenderen Betrachtung von Ludwigs Vorschlag möglich sein, mit dessen grundsätzlicher Stoßrichtung ich vollkommen übereinstimme.

3.

Ausgehend von den vorhergehenden Überlegungen lässt sich die Frage danach, wie der ›erste Satz‹ lautet, nun folgendermaßen präzisieren: Wie muss der ›erste Satz‹ über die Pflicht, der die Werturteile der gemeinen Menschenvernunft enthält und sich in den Absätzen 9–13 findet, lauten, damit die differentia specifica des ›dritten Satzes‹ (›Achtung für das Gesetz‹) eine logische Folgerung aus den beiden vorhergehenden Sätzen darstellt? Um diese Frage zu beantworten, geht Ludwig zunächst davon aus, dass sich ein Kandidat für den ›ersten Satz‹ expressis verbis im genannten Textabschnitt finden lässt: Wenn es aber irgendeine herausgehobene und für das Nachfolgende bedeutende Aussage in den fünf Absätzen geben soll, dann kann es schwerlich eine andere sein als die, dass (im Rahmen der gemeinen Vernunfterkenntnis) einer Handlung unbedingter Wert bzw. moralischer Gehalt (vgl. 397.36) nur dann zukommt, wenn sie ›nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht‹« getan wird: Das nämlich behauptet Kant insgesamt vier Mal gleichlautend (mit jeweils ausführlicher Erläuterung anhand von Fallbeispielen): In Bezug auf Maximen (398.6), Handlungen (398.19 und 25), Charaktere (398.37) und Verhaltensweisen (399.26) – womit für ihn alle relevanten Arten der Gegenstände moralischer Wertschätzung abgedeckt sein dürften. 51

Die textliche Evidenz scheint also klarerweise für den Vorschlag zu sprechen, dass Kant mit dem ›ersten Satz‹ zunächst eine negative Bestimmung des subjektiven Bestimmungsgrundes moralisch wertvoller Handlungen liefert. Insofern mit den Beispielen, denen vom Standpunkt der gemeinen Menschenvernunft unbedingter Wert zugeschrieben wird, gezeigt werden soll, dass »ihr ausschlaggebender subjektiver Bestimmungsgrund keine Neigung ist«. 52 Ob die Frage nach dem ›ersten Satz‹, so wie sie hier präzisiert wurde, damit aber erfolgreich beantwortet ist und es sich somit tatsächlich um den gesuch51 52

Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 41 f. Ebd., S. 43.

Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht

ten Satz handelt, muss sich mindestens noch daran entscheiden, ob sich dieser Vorschlag derart »in den argumentativen Zusammenhang« 53 fügen lässt, dass sich in der Folge tatsächlich auf den ›dritten Satz‹ schließen lässt, in dem sich dann erst zeigen wird, »[w]elcher andere subjektive Bestimmungsgrund hernach bei einer Handlung aus Pflicht an die Stelle der Neigung treten muss.« 54 Selbst unter Hinzunahme der zuvor bereits herausgestellten impliziten Prämisse, dass Pflicht eine praktische Notwendigkeit ist, scheint der ›dritte Satz‹ derart jedoch nicht unmittelbar zu folgen. Dazu scheint es nun weiterer impliziter Prämissen zu bedürfen, wie Ludwig herausstellt – was als solches aber freilich keinesfalls dagegensprechen muss, dass wir es hier mit einer überzeugenden Rekonstruktion zu tun haben, 55 ganz im Gegenteil, wie sich zeigen wird. In einer instruktiven Fußnote fasst Ludwig seine Rekonstruktion von Kants vollzogener Schlussfolgerung »im Überblick« zusammen, wobei er die impliziten Prämissen, die seines Erachtens für ein schlüssiges Argument vonnöten sind, klar herausstellt: Insofern Pflicht eine Nötigung (d. h. eine praktische Notwendigkeit) ausdrückt, beinhaltet sie [1] subjektive wie objektive Bestimmungsgründe. Soll die Nötigung Bezug auf einen unbedingten Wert haben, dann sind alle Neigungen als mögliche subjektive Bestimmungsgründe ausgeschlossen (›Satz eins‹) und in der Folge dann auch alle Gegenstände des Willens als mögliche objektive (›Satz zwei‹). Es bleiben (vermittels der zwei Dichotomien: ›Neigung vs. Achtung‹ [2] und ›Gegenstand vs. Prinzip‹ [3]) nur Achtung und Gesetz übrig und demnach also (eine Bestimmung durch) ›Achtung fürs Gesetz‹ (›Satz drei‹). – In 04:400.19–21 und 04:400.25–29 argumentiert Kant allerdings weder direkt für [2] noch für [3], sondern gibt (den ersten und den zweiten Satz miteinander verschränkend) vielmehr Gründe dafür an, dass die Rede von ›Neigung fürs Gesetz‹ bzw. ›Achtung für einen Gegenstand‹ jeweils unverständlich wäre (was auf [1] zurückgreift und woraus auch erst vermittels [2] bzw. [3] der ›dritte Satz‹ dann tatsächlich gefolgert werden kann; vgl. 04:400.32 f.). 56

Auf den ersten Blick scheint Ludwig also davon auszugehen, dass durch das Explizieren von drei weiteren Prämissen der ›dritte Satz‹ aus den beiden ersten Sätzen folgt. Doch mag es an dieser Stelle verwundern, warum es der dritten Zusatzannahme, dass ›Neigung‹ und ›Gegenstand des Willens‹ einerseits sowie ›Achtung‹ und ›Gesetz‹ andererseits paarweise komplementär sind, überhaupt bedarf. Denn streng genommen würde der ›dritte Satz‹ beEbd., S. 42. Ebd., 43. 55 Für eine, wenn auch meines Erachtens wenig überzeugende Kritik an diesem Vorgehen siehe Steigleder: Der »erste Satz«, S. 185 f., Fn. 8. 56 Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 497 f., Fn. 8. 53

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reits vermittels zweier disjunktiver Schlüsse folgen: Denn sowohl für den subjektiven als auch den objektiven Bestimmungsgrund wird mit der jeweiligen Dichotomie eine ausschließende Disjunktion angegeben, mit deren Hilfe vermittels des ›ersten‹ bzw. des ›zweiten Satzes‹ bereits darauf geschlossen werden kann, dass einzig die Achtung als subjektiver und das Gesetz als objektiver Bestimmungsgrund übrigbleiben. Tatsächlich erweist sich die Rekonstruktion des Kantischen Arguments, die Ludwig vorschlägt, bei näherer Betrachtung jedoch als wesentlich komplexer. Was mitunter auch deshalb notwendig ist, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Kant zufolge »schon der ›zweite Satz‹ seinerseits ›aus dem vorigen klar‹ sein (04:400)« 57 soll. Um dies zu gewährleisten, muss Kant, wie es scheint, sodann bereits zu Beginn der Argumentation wenigstens schon die Komplementarität von ›Neigung‹ und ›Gegenstand des Willens‹ voraussetzen. Wenn ich Ludwigs Interpretation recht verstehe, so lässt sich »die – fraglos etwas fahrige – Argumentation (04:400.19–401.2) zur Stützung des ›dritten Satzes‹ durch die ›beiden vorigen Sätze‹« 58 wie folgt rekonstruieren: 1. Insofern Pflicht eine praktische Notwendigkeit ausdrückt, beinhaltet sie subjektive wie objektive Bestimmungsgründe. 2. 1. Satz: Moralischer Wert kommt einer Handlung genau dann zu, wenn sie ›nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht‹ getan wird, d. h., wenn ihr ausschlaggebender subjektiver Bestimmungsgrund keine Neigung ist. 3. Wenn der objektive Bestimmungsgrund einer Handlung ein Gegenstand des Willens ist, dann ist ihr ausschlaggebender subjektiver Bestimmungsgrund eine Neigung. 4. Der objektive Bestimmungsgrund einer Handlung ist entweder ein Gegenstand des Willens oder ein Prinzip des Wollens. 5. 2. Satz: Der moralische Wert einer Handlung hängt nicht vom Gegenstand des Willens ab, sondern allein vom Prinzip des Wollens. 6. Ein Prinzip des Wollens, das von jedem Gegenstand des Willens absieht, ist ein Gesetz. 7. Wenn der objektive Bestimmungsgrund einer Handlung ein Gesetz ist, dann ist der subjektive Bestimmungsgrund die Achtung. 8. 3. Satz: Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das Gesetz.

57 58

Ebd., S. 497. Ebd., S. 496.

Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht

Mit dieser Rekonstruktion wäre nun gezeigt, dass sich ausgehend von dem in Frage stehenden Vorschlag für den ›ersten Satz‹ durchaus ein gültiges Argument entwickeln lässt, dessen Konklusion der ›dritte Satz‹ ist. Zwei Vorteile dieser Interpretation treten nun klar zutage: Zum einen wird deutlich, warum der Anschein entstehen mag, es handele sich bei Kants Analyse des Pflichtbegriffs nicht um einen deduktiven Schluss. Wie sich gezeigt hat, handelt es sich nämlich keinesfalls um einen einfachen deduktiven Schluss, bei dem die beiden ersten Sätze die Prämissen darstellen, aus denen sich der ›dritte Satz‹ als Konklusion ergibt. Das bedeutet aber eben nicht, dass wir es nicht mit einem deduktiven Schluss zu tun hätten, sondern bloß, dass dieser wesentlich komplexer ist, als es zunächst den Anschein erwecken mag. Zum anderen bewahrt sie einen davor, etwas in den ›ersten Satz‹ hineinzuinterpretieren, was sich dort nicht findet und auch noch gar nicht finden kann: eine positive Bestimmung des subjektiven Bestimmungsgrundes. Geht man nämlich davon aus, dass der ›erste Satz‹ bereits besagt, dass eine Handlung aus Pflicht eine Handlung aus Achtung vor dem Gesetz ist, 59 dann »könnte Kants ›dritter Satz‹ nun allerdings auch ohne die ›beiden vorigen‹ ›gefolgert‹ werden«, 60 weil er dann den Werturteilen der gemeinen Menschenvernunft nicht nur »beiwohnt«, sondern in diesen bereits offen zutage träte und daher nicht nur »nicht gelehrt«, sondern nicht einmal mehr »aufgeklärt« werden müsste. Schließt man diese Option daher aus guten Gründen aus, so liegt es auf der Hand, dass »für irgendeinen Schluss in der Art eines Syllogismus […] stets noch mindestens entweder ein Ober- oder ein Unterbegriff fehlen« und »irgendeine zusätzliche Annahme über dieselbe [die Achtung, K. N.] nachgeliefert, bzw. als eine Selbstverständlichkeit für Autor und Adressaten mit einbezogen wird.« 61 Für diese wie auch die anderen hier genannten zusätzlichen Annahmen liefert Ludwig nach meinem Dafürhalten durchaus überzeugende Belege, sowohl unter Rekurs auf ältere Schriften und Vorlesungen Kants als auch mit Blick auf den Text der Grundlegung. 62 Von einer Diskussion dieser werde ich hier absehen und sie bei meinen folgenden Überlegungen schlichtweg als gegeben zugrunde legen. Insofern ich die Grundzüge der vorgelegten Interpretation teile, wird meine Kritik daran wesentlich moderater ausfallen: In der Hoffnung, Ludwigs Interpretation gleichsam den letzten Schliff zu geben, möchte ich im Folgenden vielmehr zeigen, dass der Inhalt des ›ersten Satzes‹, 59 60 61 62

So etwa Schönecker: Once Again, S. 284. Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 493, Fn. 1. Ebd., S. 496, Fn. 7. Vgl. ebd., S. 495 f. und Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 44 f.

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sofern man die zuvor erörterten Vorannahmen (2.) akzeptiert, konsequenterweise einer Erweiterung bedarf und dass sich diese, wenigstens sofern man die Grundzüge der hier dargelegten Interpretation von Kants Argumentation (3.) teilt, mindestens ebenso gut in den argumentativen Zusammenhang bringen lässt und dessen grundlegende Stoßrichtung sogar noch klarer hervortreten lässt.

4.

Wie sich gezeigt hat, nimmt Ludwig Kant beim Wort, wenn dieser gleich viermal behauptet, einer Handlung komme moralischer Wert zu, wenn sie ›nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht‹ getan wird. Entsprechend geht er davon aus, dass dieser Satz besagt, dass einer Handlung vom gemeinen Menschenverstand moralischer Wert zugeschrieben wird, wenn der ausschlaggebende subjektive Bestimmungsgrund keine Neigung ist. Das scheint mir grundsätzlich zwar richtig zu sein, aber eben keinesfalls vollständig. Demgegenüber werde ich im Folgenden zeigen, dass der ›erste Satz‹ darüber hinaus ebenfalls bereits eine negative Bestimmung des objektiven Bestimmungsgrundes moralisch wertvoller Handlungen beinhaltet, nämlich, dass dieser kein Gegenstand des Willens ist. Mit anderen Worten: Moralischer Wert kommt einer Handlung genau dann zu, wenn sie ›nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht‹ getan wird. Ludwig weist zwar selbst an einer Stelle darauf hin, dass dieser Ausdruck »prima facie […] angemessener« wäre, verfolgt dies aber mit dem Hinweis darauf, dass Kant selbst »solche Bemühung um durchgängige terminologische Stringenz eher fremd« 63 wären, nicht weiter. Wie aber schon deutlich geworden sein sollte, geht es mir hier keinesfalls um die Frage terminologischer Stringenz, sondern vielmehr darum, dass sich hieraus ein sachlicher Unterschied ergibt – einer, den es zumal gerade deshalb als Interpretationshypothese zu prüfen gilt, weil Kants Terminologie bekanntermaßen nicht durchweg stringent ist. Eine solche Prüfung werde ich nun in drei Hinsichten vornehmen: erstens mit Blick auf die Frage, ob diese Erweiterung des ›ersten Satzes‹ konsequenterweise aus den im Vorhergehenden dargelegten Überlegungen Ludwigs folgt; zweitens dahingehend, ob sie sich innerhalb des ersten Abschnitts der Grundlegung belegen lässt und schließlich hinsichtlich der Frage, ob sich der so verstandene ›erste Satz‹ auf sinnvolle Weise in den argumentativen Zusammenhang der drei Sätze fügen lässt. Ludwig geht davon aus, der ›dritte Satz‹ laute, wenn man die »ausgeschlos63

Ebd., S. 164 f., Fn. 70.

Nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht

senen Alternativen mitformuliert, sinngemäß: Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung [genus proximum] zufolge der Achtung für ein Gesetz [differentia specifica] – und nicht etwa (wie die übrigen praktischen Notwendigkeiten) aus Neigung zu einem Gegenstand des Willens.« 64 Dabei ist Ludwig der Ansicht, dass in den beiden ersten Sätzen jeweils eine der Alternativen ausgeschlossen wird – nämlich ›aus Neigung‹ im ›ersten Satz‹ und ›Gegenstand des Willens‹ im ›zweiten Satz‹. Demgegenüber halte ich es prima facie für plausibler, dass der ›erste Satz‹ bereits beide Alternativen ausschließt. Denn insofern man davon ausgeht, dass dieser die Werturteile der gemeinen Menschenvernunft enthält, aus denen in der Folge auf analytischem Wege eine Bestimmung des Pflichtbegriffs gewonnen werden soll, der seinerseits einen subjektiven wie auch den objektiven Bestimmungsgrund enthält, spricht einiges dafür, dass der ›erste Satz‹ bereits eine Aussage über beide beinhaltet, die in der Folge jedoch jeweils einer »Aufklärung« bedarf – also einer positiven Bestimmung. Und dieser Verdacht lässt sich gerade vor dem Hintergrund der oben ausgeführten grundlegenden Annahme Ludwigs erhärten, dass Kant schlichtweg voraussetzt, dass es sich bei der Pflicht um eine bestimmte Art praktischer Notwendigkeit handelt und sie daher subjektive und objektive Bestimmungsgründe umfasst. Davon ausgehend lässt sich nämlich zeigen, dass diese Annahme den Ausführungen in den Absätzen 9–13 durchweg zugrunde liegt. Besonders augenfällig ist dies direkt zu Beginn des hier eingegrenzten Suchgebiets für den ›ersten Satz‹, weil Kant dort zunächst zwei seines Erachtens unumstrittene Bedingungen einführt, die eine moralisch wertvolle Handlung erfüllen muss: eine bezüglich des objektiven Bestimmungsgrundes, nämlich dass pflichtgemäß gehandelt wird, und eine bezüglich des subjektiven Bestimmungsgrundes, nämlich dass sie um ihrer selbst willen getan wird. Bei pflichtwidrigen Handlungen ist daher »gar nicht mal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen sein mögen«, 65 weil sie die erste Bedingung offensichtlich nicht erfüllen. Ebenso gibt es Handlungen, die zwar pflichtgemäß sind, bei denen sich aber leicht erkennen lässt, dass sie »aus selbstsüchtiger Absicht geschehen« sind, weil jemand »durch eine andere Neigung dazu getrieben« 66 war. So etwa im Falle des Krämers, der seine Kundschaft zwar ehrlich bedient, also pflichtmäßig handelt, aber eben nicht um der Ehrlichkeit willen, sondern einzig, weil es »sein Vortheil erforderte« 67 – und was soll dieser Vorteil anderes 64 65 66 67

Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 496. GMS, AA 04: 397.13 f. Ebd., 397.17–19. Ebd., 397.27 f.

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sein als der Gegenstand des Willens, der eben durch die Neigung zu diesem zu einer Handlung nötigt? Das Gleiche zeigt sich aber auch, wenn man in die folgenden Beispiele schaut, die Kant diskutiert, weil es sich bei den genannten Bedingungen zwar um notwendige, aber keinesfalls hinreichende handelt, weshalb zwei Arten von Handlungen übrigbleiben, die beide erfüllen: pflichtmäßige Handlungen, zu denen das »Subject noch überdem [eine] unmittelbare Neigung« 68 hat, und Handlungen aus Pflicht. Die Gegenüberstellung offenbart bei allen drei diskutierten Pflichten (Lebenserhaltung, Wohltätigkeit und eigene Glückseligkeit) insofern die gleiche Struktur, als Kant stets eine »kontrafaktische Reflexion« 69 vornimmt, der zufolge eine Handlung nur dann moralischen Wert hat, wenn sie auch geschehen würde, falls der Gegenstand des Willens wegfällt und somit auch die unmittelbare Neigung zu diesem. Letzteres allein reicht dafür nicht aus: Denn wie Kant bezüglich der Pflicht zur Sicherung der eigenen Glückseligkeit bemerkt, müssen wir es bei einer Handlung, die einer »Neigung großen Abbruch tut«, 70 keineswegs mit einer Handlung aus Pflicht zu tun haben, es kann sich hierbei auch um das Zurückstellen einer Neigung zugunsten einer anderen handeln. Handlungen aus Pflicht wären demnach in erster Annäherung solche, die nicht aus irgendeiner eigennützigen Absicht getan werden – sei diese auch nicht »bloß« eigennützig –, sondern einzig deshalb, weil sie pflichtgemäß sind. Mit anderen Worten: Moralischer Wert kommt einer Handlung zu, wenn jemand das Richtige tut, einfach weil es richtig ist – daran dürfte Kants Überlegungen zufolge auch der natürliche gesunde Verstand keinen Zweifel hegen. Wenigstens dann, wenn man sich von Ludwigs Vorschlag überzeugen lässt, »die Grundlegung von vorneherein mit den Augen der von Kant anvisierten Rezipienten [zu] lesen: der kritischen Moralisten oder der reflektierenden Menschen«, 71 denen er unterstellt, dass sie Pflicht unbestreitbar für eine Art praktische Notwendigkeit halten, erweist sich der folgende Erweiterungsvorschlag also als ein der Sache nach naheliegender Kandidat für den ›ersten Satz‹: Vom natürlichen gesunden Verstande wird einer Handlung ein unbedingter Wert genau dann zugeschrieben, wenn sie ›nicht aus Interesse, sondern aus Pflicht‹ getan wird, d. h.: insofern ihr ausschlaggebender subjektiver Bestimmungsgrund keine Neigung ist und ihr ausschlaggebender objektiver Bestimmungsgrund kein Gegenstand des Begehrens – sei dieser auch in einer 68 69 70 71

Ebd., 397.20 f. Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 43. GMS, AA 04: 399.11. Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 15.

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bestimmten Hinsicht gut. Und dieser Vorschlag lässt sich sodann auch gleich zweimal im Rahmen von Kants weiteren Ausführungen belegen, nämlich sowohl in den Erläuterungen des ›zweiten‹ als auch des ›dritten Satzes‹. Wenden wir uns zunächst dem ›zweiten Satz‹ zu, so formuliert Kant diesen recht ausführlich, wobei dies meiner Lesart folgend bereits in Abgrenzung dazu geschieht, dass der ›Gegenstand des Willens‹ zuvor schon als objektiver Bestimmungsgrund moralisch wertvoller Handlungen ausgeschlossen wurde: [E]ine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll [so bereits der ›erste Satz‹, K. N.], sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird [so nun die vorläufige positive Bestimmung des objektiven Bestimmungsgrundes im ›zweiten Satz‹, K. N.], hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab [so bereits der ›erste Satz‹, K. N.], sondern blos von dem Princip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist [so die vollständige positive Bestimmung des objektiven Bestimmungsgrundes im ›zweiten Satz‹, K. N.]. 72

Demnach zeigt der ›zweite Satz‹ nur noch, welche positive Bestimmung des objektiven Bestimmungsgrundes nun an die Stelle der zuvor bereits ausgeschlossenen Alternative tritt, und besagt zunächst, dass der moralische Wert von Handlungen aus Pflicht allein im »Prinzip des Wollens […] unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens« liegt. Und das erläutert Kant schließlich dahingehend, dass es sich hierbei nur um ein »formelle[s] Princip des Wollens« handeln kann, da ihm, wie der ›erste Satz‹ gezeigt hat, »alles materielle Princip entzogen worden« 73 ist. Somit erweist sich die positive Bestimmung des objektiven Bestimmungsgrundes an dieser Stelle, wenn auch noch nicht expressis verbis, so doch der Sache nach als ›Gesetz‹, insofern dies bloß »eine konsequente Zuspitzung« 74 der Rede vom formalen Prinzip ist. 75 Aber noch bevor Kant diese Erläuterung des Inhalts des ›zweiten Satzes‹ vornimmt, um somit die Frage abschließend zu beantworten, worin der moralische Wert von Handlungen aus Pflicht liegt, »wenn er nicht im Willen in Beziehung auf deren verhoffte Wirkung bestehen soll«, 76 findet sich zunächst noch eine Rekapitulation dessen, was bereits im ›ersten Satz‹ gezeigt wurde, die den hier unterbreiteten Vorschlag offenkundig bestätigt: GMS, AA 04: 399.35–400.03. Ebd. 400.14–16. 74 Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 496. 75 Diese Annahme lässt sich sodann auch an späterer Stelle der Grundlegung belegen, wenn Kant darauf hinweist, dass einzig ein solches Prinzip des Wollens »diejenige Nothwendigkeit bei sich führt, welche wir zum Gesetz verlangen«. GMS, AA 04: 420.10 f. 76 Ebd., 400.06–08. 72 73

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Daß die Absichten, die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre Wirkungen, als Zwecke [ausgeschlossener objektiver Bestimmungsgrund, K. N.] und Triebfedern [ausgeschlossener subjektiver Bestimmungsgrund, K. N.] des Willens, den Handlungen keinen unbedingten und moralischen Werth ertheilen können, ist aus dem vorigen [also aus dem ›ersten Satz‹] klar. 77

Mit anderen Worten: Moralischer Wert kommt einer Handlung, wie der ›erste Satz‹ bereits gezeigt hat, nicht zu, wenn sie ›aus Interesse‹ getan wird, d. i. in der Absicht, den Gegenstand der Handlung »handelnd zur ›Wirklichkeit‹ zu bringen«, welcher »notwendig ein Gegenstand des Begehrens« ist und »daher stets nur ›aus Neigung‹ gewollt« 78 wird. Während der ›zweite Satz‹ ausgehend davon gezeigt hat, dass beim Handeln aus Pflicht das ›Gesetz‹ als objektiver Bestimmungsgrund an die Stelle möglicher ›Gegenstände des Begehrens‹ tritt, wird der ›dritte Satz‹ nur noch zeigen müssen, welcher subjektive Bestimmungsgrund an die Stelle der ›Neigung‹ treten muss, um auf diesem Wege zu einer vollständigen Bestimmung des Pflichtbegriffs zu gelangen. Was uns Kants ›drittem Satz‹ zufolge aber einzig dazu nötigen kann, »einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten« 79 und somit »woran ein Interesse [zu] nehmen, ohne darum aus Interesse zu handeln«, 80 ist ›die Achtung‹ für eben jenes Gesetz. Und dies begründet Kant, wie Ludwig zu Recht betont, in der Erläuterung des Satzes nun damit, »dass die Rede von ›Neigung fürs Gesetz‹ bzw. ›Achtung für einen Gegenstand‹ jeweils unverständlich wäre«. 81 Ehe Kant sodann erläutert, was man unter diesem Gefühl der Achtung zu verstehen hat 82 und wie das gesuchte Gesetz wohl lauten möge83 – worum es hier aber nicht gehen soll –, fasst er die hiermit nun beendete Analyse des Pflichtbegriffs zusammen und liefert damit einen weiteren Beleg für den hier unterbreiteten Vorschlag bezüglich des Inhalts des ›ersten Satzes‹: Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern [der ›erste Satz‹, K. N.], also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz [der ›zweite Satz‹, K. N.] und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz [der dritte Satz, K. N.] […]. 84 77 78 79 80 81 82 83 84

Ebd., 400.03–06. Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 43. GMS, AA 04: 401.01 f. Ebd. 413, Fn. Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 498., Fn. 8. Vgl. GMS, AA 04: 401, Fn. Vgl. ebd. 402.01–15. Ebd., 400.29–33. Demgegenüber heißt es bei Ludwig: »Also ›bleibt nichts für den

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Hiervon ausgehend lässt sich abschließend – in unverkennbarer Anlehnung an Ludwig – recht zügig skizzieren, wie sich der so verstandene und nun auch im kantischen Text nachgewiesene ›erste Satz‹ derart in den argumentativen Zusammenhang fügt, dass der ›zweite Satz‹ schon »aus dem vorigen klar« ist und ›dritte Satz‹ eine »Folgerung aus den beiden vorigen« darstellt: Insofern Pflicht eine Nötigung (d. h. eine praktische Notwendigkeit) ausdrückt, beinhaltet sie subjektive wie objektive Bestimmungsgründe. Soll die Nötigung Bezug auf einen unbedingten Wert haben, dann sind (a) alle Neigungen als mögliche subjektive Bestimmungsgründe und (b) alle Gegenstände des Willens als mögliche objektive Bestimmungsgründe ausgeschlossen (so der ›erste Satz‹). Vermittels der Dichotomie ›Gegenstand vs. Prinzip‹ folgt ›aus dem vorigen‹ (b), dass der Wert einer Handlung aus Pflicht allein vom Prinzip des Wollens abhängt, welches zumal (wie ebenfalls aus b folgt) nur formell sein kann, d. i. ein Gesetz (so der ›zweite Satz‹). Vermittels der Annahme, dass die Rede von ›Neigung fürs Gesetz‹ unverständlich wäre und der Dichotomie ›Neigung vs. Achtung‹ folgt aus (a) und dem ›zweiten Satz‹, dass Pflicht die Nötigung aus ›Achtung fürs Gesetz‹ ist (so der ›dritte Satz‹). Hiermit scheint mir nun aber eine Lösung gefunden zu sein, die sowohl »dem Text gerecht wird« als auch »argumentativ transparent« 85 ist – eine Lösung, der ich zuvor zwar schon nahe war, zu der ich in dieser Konsequenz aber, wie so oft, ohne Bernd Ludwigs bereichernde Überlegungen nicht hätte vordringen können.

Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz [so der ›zweite Satz‹] und subjectiv reine Achtung [so der ›erste Satz‹] für dieses praktische Gesetz.« (Ludwig: Aufklärung über die Sittlichkeit, S. 44). 85 Ludwig: Wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, S. 493.

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Philipp-Alexander Hirsch

»Wer nicht hören will, muss fühlen!« Strafschmerz bei Kant, oder: Die konsequente Denkungsart der Lehre vom höchsten Gut 1. Strafschmerz: Der blinde Fleck in der kantischen Straftheorie?

Was zeichnet staatliche Strafe aus? – Man kann auf diese Frage eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten geben. Dass Strafe »weh tun« müsse, ist jedoch sicherlich ein oftmals angeführtes Definitionsmerkmal: »Wer nicht hören will, muss fühlen!« sagt der Volksmund, um zum Ausdruck zu bringen, dass der Ungehorsame die Folgen seines Fehlverhaltens zu spüren bekommen muss. Nicht weniger ist die Zufügung eines Strafschmerzes bzw. Strafübels ein klassischer Gegenstand der Straftheorie. Vielfach versucht sie zu begründen, mitunter versucht sie zu kritisieren, dass Strafe mit harter Behandlung (hard treatment) einhergehen müsse. Angesichts dessen muss es doch sehr verwundern, dass einer der Säulenheiligen des Retributivismus und seit über 200 Jahren in den Lehrbüchern verhandelter Klassiker der Straftheorie 1 – gemeint ist mit Blick auf die Forschungsinteressen des Geehrten natürlich Kant – sich auf den ersten Blick recht schmallippig hierzu äußert: »Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.« 2 »So weit, so stipulativ« mag man sagen. Denn in Kants 1797 erschienener Rechtslehre werden zwar verschiedene Ansätze zur Begründung staatlicher Strafe problematisiert; warum dabei die Zufügung eines Strafschmerzes notwendig und auch gegenüber dem Bestraften legitim ist, wird jedoch nicht eigens hinterfragt. Dies war nicht immer so: 1794 beklagt Kant in seiner durch die Vigilantiusmitschrift überlieferten Vorlesung zur Metaphysik der Sitten, dass die Verbindung eines 1 Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick in ein beliebiges strafrechtliches Lehrbuch (vgl. bspw. Hans-Heinrich Jescheck/Thomas Weigend: Lehrbuch des Strafrechts: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Berlin 1996, § 8/III und Claus Roxin/Luís Greco: Strafrecht, Allgemeiner Teil: Band 1: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 5. Aufl., München 2020, § 3 Rn. 3 f.) oder in ein straftheoretisches Überblickswerk (vgl. etwa Franziska Dübgen: Theorien der Strafe: Zur Einführung, Hamburg 2016, S. 44 ff. und Tatjana Hörnle: Straftheorien, 2. Aufl., Tübingen 2017, S. 17 f.). 2 RL, AA 06: 331.

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physischen Übels mit einer moralisch verwerflichen Handlung »im Begriff der Strafe enthalten« sei, ohne dass unmittelbar einsehbar oder beweisbar wäre, »[d]aß diese Verbindung nothwendig, und das physische Uebel unmittelbar eine Folge des moralisch Bösen sey, oder daß letzteres in einem malo physico bestehe«. 3 Also ist die Zufügung eines Strafschmerzes doch kein blinder Fleck in der kantischen Straftheorie? Im Folgenden möchte ich dieser Frage auf den Grund gehen: Dabei werde ich – dies sei mit Blick auf die umfangreiche Forschungsliteratur vorausgeschickt – weder im Streit um die richtige Einordnung der kantischen Straftheorie 4 und deren Gegenwartsrelevanz 5 in die nächste Runde gehen noch eine vollständige Darstellung und Interpretation des kantischen Strafverständnisses leisten können. 6 Vielmehr werde ich – ausgehend von einem retributiven Verständnis der kantischen Straftheorie – Kants Behandlung des Strafrechts in der Rechtslehre gezielt dahingehend überprüfen, ob sie überV-MS/Vigil, AA 27: 552. Die klassische Einordnung Kants als Retributivist ist in den letzten Jahrzehnten ins Wanken geraten, da seine Straftheorie Elemente aufweise, die hiermit (zum Teil) unvereinbar seien. Vgl. so etwa Thomas Hill: »Kant on Wrongdoing, Desert, and Punishment«, in: Law and Philosophy 18 (1999), S. 407–441; Otfried Höffe: »Vom Straf- und Begnadigungsrecht«, in: ders. (Hg.): Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, S. 213–233: S. 229 ff.; Heiko Hartmut Lesch: Der Verbrechensbegriff: Grundlinien einer funktionalen Revision, Köln 1999, S. 37 ff.; Andreas Mosbacher: »Kants präventive Straftheorie«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 90 (2004), S. 210–225: S. 214 ff. und 221 ff.; Sharon Byrd/Joachim Hruschka: Kant’s Doctrine of Right: A Commentary, Cambridge 2010, S. 261 ff.; Allen W. Wood: Kantian Ethics, Cambridge, New York 2008, S. 214 ff. und Claudia Blöser: Zurechnung bei Kant: Zum Zusammenhang von Person und Handlung in Kants praktischer Philosophie, Berlin 2014, S. 168 ff. sowie Jean-Christophe Merle: Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde: Eine Kritik am Retributivismus aus der Perspektive des deutschen Idealismus, Berlin 2007, S. 34 ff. und wohl auch Arthur Ripstein: Force and Freedom: Kant’s Legal and Political Philosophy, Cambridge, Mass. 2009, S. 300 ff. Vgl. demgegenüber eine retributivistische Lesart verteidigend bspw. Samuel Fleischacker: »Kant’s Theory of Punishment«, in: Kant-Studien 79 (1988), S. 434–449: S. 434 ff.; Don E. Scheid: »Kant’s Retributivism«, in: Ethics 93 (1983), S. 262–282: S. 262 ff.; Klaus Steigleder: Kants Moralphilosophie: Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart 2002, S. 226 ff.; Dieter Hüning: »Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis«, in: Dieter Hüning/Karin Michel/Andreas Thomas (Hgg.): Aufklärung durch Kritik: Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, Berlin 2004, S. 333–360 oder Eoin O’Connell: »Kantian Moral Retributivism: Punishment, Suffering, and the Highest Good«, in: The Southern Journal of Philosophy 52 (2014), S. 477– 495: S. 477 ff. 5 Eine solche wird angesichts Kants umfangreicher metaphysischer Vorannahmen oftmals in Frage gestellt, vgl. bspw. Hörnle, Straftheorien, S. 17 f. 6 Eine solche müsste sich neben der staatlichen Strafe für rechtliches Fehlverhalten auch noch stärker anderen Formen der Strafe (etwa Strafe als poena naturalis, göttliche Strafe, etc.) widmen. 3

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haupt eine Begründung für die Zufügung eines Strafschmerzes enthält. Ich werde zeigen, dass sich weder aus Kants retributiver Strafbegründung (2.) noch aus dem Talionsprinzip (3.) noch aus allgemeinen Grundsätzen der kantischen Rechtsbegründung (4.) eine Rechtfertigung für die Zufügung eines Strafschmerzes ableiten lässt. Vielmehr zeigt sich, dass sich dieser Teil des kantischen Strafverständnisses nur aus der konsequenten Übertragung seiner Lehre vom höchsten Gut in die Theorie des staatlichen Strafrechts erklären lässt. Erst durch Rekurs auf diesen »Grundbaustein« seiner praktischen Philosophie ist Kant in der Lage, mit Blick auf den Strafschmerz Begründungsdefizite der eigentlichen Straftheorie zu kompensieren (5.). Es gehört zu den schmeichelhaften Usancen von Festschriften, nicht nur einen wissenschaftlichen Beitrag zu verfassen, sondern diesen auch in Beziehung zu Person und Werk des Geehrten zu setzen: Durch Bernd Ludwig habe ich Kant als überaus konsequenten Denker kennengelernt, bei dem Widersprüche und Inkonsistenzen oftmals nur dem ersten Anschein nach bestehen. Um dies zu erkennen, bedarf es jedoch einer Textinterpretation, die sich nicht in den Quisquilien einzelner Textpassagen verliert, sondern die die großen Begründungslinien in Kants Denken konsequent freilegt. Bernd Ludwigs Forschungen zu Kant sind meines Erachtens das beste Beispiel hierfür. Und so hoffe ich, dass auch meine folgende Kantinterpretation diesem doppelten Anspruch einer konsequenten Denkungsart gerecht wird.

2. Strafschmerz und retributive Strafbegründung

Wie bereits eingangs bemerkt, setzt Kant gleich zu Beginn seiner Darstellung des Strafrechts in der Anmerkung E zum Staatsrecht der Rechtslehre schlichtweg voraus, dass die Zufügung eines Strafschmerzes wegen eines Verbrechens Inbegriff des staatlichen Strafrechts ist: »Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.« 7 Diese Bestimmung ist zunächst insoweit wenig überraschend, als sich Kant hiermit ganz in den Bahnen der zeitgenössischen naturrechtlichen Tradition 8 bewegt und seine schon in der zweiten Kritik bemühte Realdefinition der Strafe als »ein physisches Übel, welches [mit einer unmoralischen Tat] als Folge nach Principien einer sittlichen GeRL, AA 06: 331. Seit Grotius, De jura belli ac pacis II, 20, § 1, der Strafe als »malum passionis quod infligitur ad malum actionis« definiert. Vgl. auch Kants maßgeblichen naturrechtlichen Bezugsautor Achenwall, Iuris naturalis pars posterior, 5. Aufl., Göttingen 1763, § 40. 7

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setzgebung verbunden« wird, 9 erneut aufgreift. Allein ersetzt dies keine philosophische Begründung. Und eine solche bleibt Kant auch im Folgenden schuldig. Dies gilt zunächst mit Blick auf sein retributives Strafverständnis, soweit sich dieses – tertium non datur – 10 vor allem 11 aus der Zurückweisung relativer bzw. präventiver Strafbegründungsversuche ergibt: Richterliche Strafe […] kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt […]. Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was […] [sc. den Straftäter] von der Strafe […] entbinde […]. 12

Strafe erfolgt hiernach, um begangenes Unrecht zu vergelten, nicht jedoch um sozial erwünschte Steuerungszwecke zu erreichen. 13 Eine retributivistische Strafbegründung impliziert für sich genommen jedoch lediglich eine formale 9 KpV, AA 05: 37. Vgl. auch V-PP/Powalski, AA 27: 150; V-Mo/Collins, AA 27: 286; V-MS/ Vigil, AA 27: 552 f. 10 Vgl. zuletzt jedoch für einen dritten Weg neben Retributivismus und utilitaristischer Präventionstheorie argumentierend Merle: Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde, S. 41 ff. 11 Über weite Strecken verfolgt die Anmerkung E eine rein negative Stoßrichtung, insofern Kant darzulegen versucht, warum ein staatliches Strafrecht nicht auf spezial- oder generalpräventive Zweckmäßigkeitserwägungen gestützt werden kann. Vgl. RL, AA 06: 331 ff. 12 RL, AA 06: 331. 13 Gleichwohl ist es unbestritten, dass Strafgesetze – insoweit sie Strafe für künftige Verbrechen androhen – auch bei Kant eine sozial regulierende Funktion erfüllen und selbstverständlich darauf abzielen, Straftaten zu verhindern. Dies ist – im Gegensatz zur Tugend – ja gerade die Eigenheit des Rechts, für welches eine »juridisch[e]« Gesetzgebung möglich ist, welche das gesetzlich geforderte Verhalten mit »pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür«, konkret mit »Abneigungen« verknüpft (vgl. RL, 6: 218 f. und dazu sogleich auch unten S. 264 f.) – anders ausgedrückt: Rechtliche Verhaltensmotivation basiert auf Abschreckung durch Androhung von Strafen. Dennoch weist Kant die Vorstellung zurück, dass die Verhängung von Strafen damit gerechtfertigt werden könnte, dass nur durch die Umsetzung der Strafandrohung der Anspruch auf Handlungssteuerung durch das Recht erfüllt werden könne: Die Androhung von Strafen mag zwar aus präventiven Gründen erfolgen, die Verhängung von Strafen bleibt jedenfalls retributiv begründet. Vgl. so auch Hariolf Oberer, »Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre«, in: Reinhard Brandt (Hg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin, New York 1982, S. 399–424: S. 412 f., aber zu anders lautenden Interpretationen Kants die Nachweise in Fn. 4.

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Begründungsrelation, nämlich dass Grund und Maß staatlicher Strafen nicht im Rekurs auf spezial- oder generalpräventive Zweckmäßigkeitserwägungen gerechtfertigt werden können, sondern – eben retributiv – als Ausgleich des Verbrechens, d. h. als Vergeltung, erwiesen werden müssen. Ungeachtet der Frage, worin Kants Retributivismus seine positive Rechtfertigung findet, 14 ist hiermit also noch nichts darüber gesagt, ob Vergeltung der Zufügung eines Strafschmerzes bedarf oder nicht. Folgerichtig ist das in der oben zitierten Passage erwähnte Strafgesetz als kategorischer Imperativ ein rein formales Prinzip, wonach Verbrechen unbedingt bestraft werden müssen, weil die schuldhafte Übertretung eines Gesetzes Strafe als gerechten Schuldausgleich verlangt. Zweck und hinreichender Grund für Strafe ist nach Kant die Vergeltung der Schuld, die in der Gesetzesübertretung liegt. Nichts mehr besagt auch Kants Nominaldefinition der Strafe in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«, wonach »Strafe (poena)« der »rechtliche Effect einer Verschuldung« ist, wenn »jemand […] weniger thut, als [das Gesetz] fordert«. 15 Worin dieser rechtliche Effekt in concreteo besteht, lässt das so bestimmte Vergeltungsprinzip offen. So ist hiermit der bloße Ausspruch eines rechtlichen Tadels (»Du bist der Tat schuldig!«) prima facie ebenso vereinbar wie die hinzutretende Auferlegung eines physischen Strafübels. Das Prinzip gerechter Vergeltung besagt also lediglich, dass Strafe wegen des Verbrechens zu verhängen ist. Es sagt jedoch für sich genommen nichts darüber aus, wie dies zu geschehen hat. 16

3. Strafschmerz und Talionsprinzip

Nähere Auskünfte zu Strafart und -maß lassen sich erst Kants Prinzip der Strafzumessung, dem Talionsprinzip bzw. Prinzip der Wiedervergeltung, entnehmen. Dieses setzt die oben skizzierte retributive Strafbegründung voraus und besagt hierauf aufbauend, dass sich die Strafe nach der juridischen Qualität des Verbrechens zu bestimmen habe:

Vgl. dazu unten S. 268 f. RL, AA 06: 227. 16 So auch Hüning: Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, S. 351.; ähnlich Julius Ebbinghaus: Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, Bonn 1968, S. 306. Dies legt auch schon der Text der Rechtslehre nahe, weil Kant nach der erfolgten Rechtfertigung des Retributivismus mit der anschließenden Frage »Welcher Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richtmaße macht?« einen neuen Begründungsgang einleitet. 14 15

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Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Princip und Richtmaße macht? Kein anderes, als das Princip der Gleichheit, (im Stande des Züngleins an der Wage der Gerechtigkeit) sich nicht mehr auf die eine, als auf die andere Seite hinzuneigen. Also: was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) […] kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten. 17

Mit dem Talionsprinzip, wonach Strafe »Gleiches mit Gleichem gehörig verg[e]lten« soll, 18 scheint Kant nun eine Begründung dafür angeben zu können, dass Strafe mit der Zufügung eines Strafschmerzes einherzugehen habe. Denn die Sanktion einer Körperverletzung mit einer Körperverletzung, einer Tötung mit einer Tötung, einer Beleidigung mit einer Beleidigung, etc. scheint die Zufügung eines Strafschmerzes als gerechte Reaktion auf den »Schmerz« des Verbrechens erforderlich zu machen – so scheinbar Kant selbst, wenn er aus der Bibel zitiert: »Per quod quis peccat, per idem punitur et idem.« 19 Eine solche Lesart überdehnt meiner Ansicht nach jedoch den Aussagegehalt des kantischen Talionsprinzips. Hierfür muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass Kant das Talionsprinzip in der Rechtslehre als Reaktion auf Probleme relativer Straftheorien bei der Bestimmung des Strafmaßes einführt. Wie auch schon bei der Herleitung des Retributivismus hat Kants Argumentation hier also zunächst eine rein negative Stoßrichtung, dass nämlich alle anderen in Betracht kommenden Prinzipien der Strafzumessung beliebig und prinzipienlos (»hin und her schwankend«) sind, weil pragmatische Erwägungen der »Strafklugheit« (gemeint sind Strafzumessungskriterien relativer Straftheorien wie Abschreckung, Prävention und Besserung) 20 in zweifacher Hinsicht dem »Begriff einer Straf-Gerechtigkeit buchstäblich zuwider« sind: 21 Zum einen erlauben sie keine gesetzmäßige Strafzumessung, da krimiRL, AA 06: 332. RL, AA 06: 333. 19 RL, AA 06: 363 bezugnehmend auf Bibelstellen wie aus dem Buch der Weisheit, Kapitel 11, Vers 16. 20 RL, AA 06: 363, Fn. *: Die Strafklugheit ist »bloß pragmatisch […] (ne peccetur) und [gründet] sich auf Erfahrung von dem […], was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten«. 21 RL, AA 06: 363. 17

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nalpolitische Absichten der strafenden Staatsgewalt empirisch bedingt und damit kontingent sind. 22 Zum anderen würde hierdurch der Straftäter zur Erreichung ebenjener kriminalpolitischen Zwecke instrumentalisiert, was »die Menschheit […] in der Person des Missethäters« 23 bzw. – dieser Einwand wird auch bei der Strafbegründung bemüht – seine »angeborne Persönlichkeit« verletzt, weil er »bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt« würde. 24 Wo relative Straftheorien in der Strafzumessung versagen, soll das Talionsprinzip also eine gerechte Strafe ermöglichen, weil – wie Kant schon in der zweiten Kritik hervorhob – in »jeder Strafe als solcher […] zuerst Gerechtigkeit sein [muß] und diese […] das Wesentliche dieses Begriffs aus[macht]«. 25 Wendet man Kants Kritik ins Positive, so ergeben sich hieraus zwei Kriterien gerechter Strafzumessung: 1) Die Strafzumessungskriterien müssen der strafbaren Handlung bzw. dem Verbrechen selbst entnommen werden. Dies ist letztlich nur eine folgerichtige Konsequenz einer retributiven Strafbegründung, bei der die Bestrafung des Täters eine Vergeltung für das begangene Verbrechen darstellen soll, und verhindert eine Instrumentalisierung des Täters zu präventiven Zwecken. 2) Strafen müssen proportional zum Unrecht der Tat bzw. der Schwere der Schuld sein und im Verhältnis zueinander das Unrechts- und Schuldgefälle der ihnen zugrundeliegenden Verbrechen abbilden. Denn nur wenn die Strafe das jeweilige Unrecht der Tat bzw. die jeweilige Schuld des Verbrechers abbildet, kann von einer gesetzmäßigen Strafzumessung gesprochen werden, die eine willkürliche Strafpraxis verhindert.

Das von Kant zur Begründung der Wiedervergeltung bemühte »Princip der Gleichheit, (im Stande des Züngleins an der Wage der Gerechtigkeit)«, 26 wonach Strafe »proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher« bestimmt wird, 27 genügt offenkundig beiden Kriterien. Allerdings stellt es lediglich einen formalen Bezug der Strafe zur Schuld her und gibt also solches lediglich vor, dass Grund und Maß der Strafe aus der Schuld des Täters abzuleiten sind. Das Talionsprinzip – verstanden als formales und als solches a priori geltendes Prinzip der Strafzumessung – legitimiert jedoch als solches Vgl. dazu anschaulich und Kants Argumentation in der zeitgenössischen Debatte verortend Hüning: Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, S. 342 ff. 23 RL, AA 06: 362 f. 24 RL, AA 06: 331. Vgl. dazu schon oben S. 257 f. 25 KpV, AA 05: 37. 26 RL, AA 06: 332. 27 RL, AA 06: 333. 22

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keine konkreten materiellen Formen der Bestrafung und rechtfertigt infolgedessen auch nicht die Zufügung eines Strafschmerzes (verstanden als materielle Kehrseite des durch das Verbrechen zugefügten Schmerzes). Dem mag man entgegenhalten, dass Kant doch das Talionsprinzip selbst inhaltlich durch materielle Strafbestimmungen ausfüllt, die die Zufügung eines Strafschmerzes implizieren, wenn es heißt, […] was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst. 28

Ich möchte hier nicht bestreiten, dass Kant in der Rechtslehre das Talionsprinzip in der Tat materiell durch spiegelnde Strafen ausfüllt, bei denen ein dem durch das Verbrechen verursachten Schaden proportional gleichwertiger Strafschmerz zugefügt werden soll (z. B. Ehrerniedrigung für (tätliche) Beleidigung oder Todesstrafe für Mord). Allerdings ist meines Erachtens festzustellen, dass es sich hierbei nicht um Ableitungen aus dem Talionsprinzip handeln kann. Das Talionsprinzip soll als a priori geltendes Prinzip der Strafgerechtigkeit – in Reaktion auf die Defizite der Strafzumessung nach relativen Straftheorien – lediglich sicherstellen, dass Strafe den Täter nicht instrumentalisiert und dass Strafzumessung gesetzmäßig erfolgt. Eine materielle bzw. inhaltliche Bestimmung der Strafpraxis würde jedoch über diese formale Begründungsrelation hinausgehen und hierdurch gerade auch den apriorischen Geltungsanspruch des Talionsprinzips konterkarieren. 29 Kant selbst scheint dies auch erkannt zu haben, wenn er – wohl auch als Reaktion auf das Unverständnis einiger Rezensenten der Rechtslehre – 30 in dem 1798 erschienenen »Anhang erläuternder Bemerkungen« präzisiert, dass es ihm um »das ius talionis der Form nach« geht, wonach dem Verbrecher, »wenn gleich nicht dem Buchstaben, doch dem Geiste des Strafgesetzes gemäß das [sc. widerfahren soll], was er an anderen verbrochen hat«. 31 Hiernach gibt das Talionsprinzip vor, dass Strafgrund und Strafquantum in der Schuld des Täters ihre Rechtfertigung finden. Welcher Art die Strafe konkret sein soll, lässt sich – RL, AA 06: 332. Vgl. auch Kants folgende Erläuterungen in RL, AA 06: 333 und 363. So auch m. w. N. Georg Steinberg: »Sittliche Strafwürdigkeit als Rechtfertigung staatlichen Strafens nach Kant«, in: Reiner Schulze u. a. (Hg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung, Münster 2008, S. 175–193: S 181 ff.; Oberer: Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, S. 416 ff.; zustimmend Hüning: Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, S. 359. 30 Vgl. dazu anschaulich Hüning: Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, S. 333 ff. 31 RL, AA 06: 363. 28

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so Kant selbst – hieraus nicht ableiten. Dies dürfte dann jedoch auch für die Frage gelten, ob Strafe der Zufügung eines Strafschmerzes bedarf. Eine Andeutung in diese Richtung findet sich in der Vigilantiusmitschrift, wo Kant ebenfalls herausstellt, dass es »ein wesentliches requisitum jeder Strafe ist, daß sie gerecht ist, d. i., daß sie eine unmittelbar nothwendige Folge der moralisch bösen Handlung ist«, sodann aber hinzusetzt: Ist die Strafe aber gerecht, so wird der Grad derselben und die Art derselben, und ob ein physisches Strafmittel nöthig sey, erst nach Klugheit und mit Gnade gewählt. Hier hat die Gerechtigkeit, die an sich auf ganz unerläßlichen Grundsätzen beruht, erst eine latitudinem. 32

Auch hiernach ist die Strafgerechtigkeit nach dem Talionsprinzip rein formal und erfordert nicht die Zufügung eines Strafübels. Man muss sich nur die Gegenfrage stellen, ob dem Talionsprinzip auch eine solche Strafpraxis genügt, wonach der Vorgang der Strafe als rein kommunikativer Akt begriffen wird, durch den gegenüber dem Täter eine Missbilligung bzw. ein Tadel kommuniziert wird, ohne dass es hierzu einer hinzutretenden Schmerzzufügung bedarf. 33 In einer solchen ohne Schmerzzufügung auskommenden Strafpraxis, bei der es allein um die Feststellung und Zuschreibung des Unrechts und die glaubhafte Erneuerung des Versprechens der Legalitätshaltung des Täters ankommt, wäre dem kantischen Talionsprinzip – als formales Prinzip der Strafgerechtigkeit a priori – bereits dadurch Genüge getan, dass ein der Tatschuld proportionaler Tadel kommuniziert wird und sich der Verurteilte als Reaktion darauf glaubhaft erneut legal bewährt. Gewiss: Dies ist nicht Kants Vorstellung einer Strafpraxis; im Gegenteil hat er sich bei der Materialisierung des Talionsprinzips von den durchaus handfesten Bestrafungen des zeitgenössischen Strafrechts leiten lassen. Dass aber diese Materialisierungen nicht den Aussagegehalt des Talionsprinzip als formales Prinzip der Strafgerechtigkeit tangieren, zeigt, dass die Zufügung eines Strafschmerzes seine Rechtfertigung nicht im Prinzip der Wiedervergeltung finden kann, sondern anderweitig begründet werden muss.

V-MS/Vigil, AA 27: 552 f. Vgl. dazu, wie eine solche Strafpraxis heutzutage konkret aussehen könnte, anschaulich Markus Abraham: Sanktion, Norm, Vertrauen: Zur Bedeutung des Strafschmerzes in der Gegenwart, Berlin 2019, S. 247 ff., der in seiner Monographie auch die Probleme aktueller Straftheorien in der Begründung des Strafschmerzes aufzeigt. 32 33

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4. Strafschmerz und allgemeine Rechtsbegründung

Lässt sich also Kants Behandlung des Strafrechts in Anmerkung E zum Staatsrecht der Rechtslehre (sowie dem erläuternden Nachtrag von 1798) keine Begründung für die Befugnis zur Zufügung eines Strafschmerzes entnehmen, so mag sich diese aus allgemeinen Grundsätzen der kantischen Rechtsbegründung ergeben. Prima facie scheinen mir dabei drei Anknüpfungspunkte in Betracht zu kommen: die analytische Verknüpfung von Recht und Zwangsbefugnis, die Möglichkeit einer juridischen Gesetzgebung für Rechtspflichten sowie die Behandlung des Strafrechts als Teil der öffentlichen Gerechtigkeit.

4.1 Rechtszwang

Mitunter wird die Legitimität der Zufügung eines Strafschmerzes auf die Legitimität des allgemein erlaubten Rechtszwangs zurückgeführt. Die Zufügung eines Strafschmerzes sei legitim, weil der Strafzwang (als aufgezwungene Übelszufügung) letztlich eine Ausprägung des bereits in §§ C und D der »Einleitung in die Rechtslehre« formulierten Rechtsgrundsatzes sei, dass zur Unterbindung rechtswidriger Handlungen physischer Zwang i. S. v. vis absoluta als »Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit« 34 rechtlich zulässig ist. So hält es etwa Höffe für ein »unkontrovers[es] […] Definitionselement« der Strafe, dass sie »ein ›Schmerz‹, also Übel«, ist und dass sie Zwangscharakter hat, also dass man gegen den eigenen Willen »mit dem Schmerz ›belegt‹ (331,5)« wird. Die Legitimität des so verstandenen Strafzwangs ergebe sich nun aus allgemeinen Rechtsprinzipien: »Weil die Kriminalstrafe Zwangscharakter hat, ist sie nur unter der Voraussetzung legitim, daß die Zwangsbefugnis schon zum Rechtsbegriff hinzugehört (6: 231–233 […]).« 35 Ergänzt um die Voraussetzung, dass Strafzwang nur durch den Staat ausgeübt werden dürfe, 36 werde »[d]ie im Rechtsimperativ enthaltene generelle Zwangsbefugnis […] im staatlichen öffentlichen Recht zur Strafbefugnis«. 37 Hiernach wird die Zulässigkeit eines Strafschmerzes, der dem Verbrecher aufgezwungen wird, letztlich als Ausfluss der allgemeinen Zwangsbefugnis beim Recht begriffen. Vgl. RL, AA 06: 231. Höffe: Vom Straf- und Begnadigungsrecht, S. 220 f. 36 Die Begründungsschritte Höffes stelle ich hier nicht im Einzelnen dar. Vgl. dazu ebd., 220 ff. 37 Ebd., 222. 34 35

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Hieran ist richtig, dass für Kant die Zufügung eines Strafschmerzes Zwangscharakter hat und daher insofern allgemeinen Rechtsprinzipien unterliegt, als dass jeglicher Zwang (sei es Rechtszwang oder Strafzwang) nur zulässig ist, insoweit er mit der Freiheit aller nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist. 38 Darüber hinaus wird jedoch verkannt, dass Strafe mehr ist als Rechtsdurchsetzung. 39 Denn die Zwangsbefugnis zur Rechtsdurchsetzung, die laut Kant bereits im Rechtsbegriff enthalten ist, beschränkt sich allein auf die Abwendung eines Hindernisses der Freiheit zur Herstellung der Kompatibilität äußerer Willkürsphären nach einem allgemeinen Gesetz, konkret: Wenn ein Dieb meinen Eigentumsgegenstand stiehlt, erlaubt das Recht die zwangsweise Wiedererlangung bzw. (bei Unmöglichkeit) die Einforderung von Schadensersatz. 40 Kriminalstrafe geht jedoch darüber hinaus, da sie jenseits der Restitution des verletzten Rechts einen Strafschmerz auferlegt. Sie geht also über das hinaus, was zur Herstellung der moralisch notwendigen Kompatibilität äußerer Willkürsphären erforderlich ist. Daher unterscheidet Kant auch bewusst zwischen der Rechtsrestitution und der »Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Thäter gerächt (nicht blos der zugefügte Schade ersetzt) wird«. 41 Ist Strafzwang mithin kein Rechtszwang, lässt sich die Befugnis zur Zufügung eines Strafschmerzes auch nicht aus der allgemeinen Zwangsbefugnis beim Recht herleiten.

4.2 Juridische Gesetzgebung

Aber womöglich lässt sich die Zufügung eines Strafschmerzes damit rechtfertigen, dass Rechtspflichten einer juridischen äußeren Gesetzgebung fähig sind, die kein Handeln aus Pflicht verlangt, sondern 38 So auch Oberer: Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, S. 404 ff. Dass diese Einschränkung nicht nur für den Rechtsdurchsetzungszwang, sondern auch den Strafzwang gilt, legt V-MS/Vigil, AA 27: 555 nahe: »[Ü]berhaupt alle Uebel, die dem anderen unter dem Gesetz des Zwanges zugefügt werden, fügt er nach allgemeinen Freiheitsgesetzen sich selbst zu; denn er kann den anderen nur in eben dem Maaße beleidigen, als der andere ihn zwingen kann, die Beleidigung zu unterlassen, oder sein Recht nicht zu brauchen: dies ist aber nach allgemeinen Freiheitgesetzen für Jeden gleich und unbedingt.« 39 Vgl. mit ähnlicher Kritik Oberer: Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, 406 f.; Fleischacker: Kant’s Theory of Punishment, S. 435 und Hanno Kaiser: Widerspruch und harte Behandlung: Zur Rechtfertigung von Strafe, Berlin 1999, S. 69. 40 Letzteres erwähnt Kant in der Rechtslehre als Selbstverständlichkeit en passant, vgl. RL, AA 06: 271 und dazu Ripstein: Force and Freedom, S. 304. 41 TL, AA 06: 460, vgl. vollständig zitiert auch unten S. 273.

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[…] auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt […]. Man sieht in Ansehung der [sc. juridischen Gesetzgebung] leicht ein, daß diese von der Idee der Pflicht unterschiedene Triebfeder von den pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür der Neigungen und Abneigungen und unter diesen von denen der letzteren Art hergenommen sein müsse, weil es eine Gesetzgebung, welche nöthigend, nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll. 42

Klarerweise hat Kant hierbei die Verknüpfung einer Rechtspflicht mit einer Strafandrohung vor Augen, 43 um Pflichtbefolgung sicherzustellen und so eine Verletzung des der Pflicht korrespondierenden Rechts zu verhindern. 44 Juridische Gesetzgebung ist damit jedoch nichts anderes als gesetzmäßiger psychischer Zwang i. S. v. vis compulsiva, d. h. die Verhinderung rechtswidriger Handlungen durch die Inaussichtstellung physischer Zwangsmaßnahmen i. S. v. vis absoluta. 45 Die Legitimität eines solchen psychischen Zwangs ist jedoch nur eine abgeleitete. Sie kann nicht weiterreichen als die Legitimität der angedrohten physischen Zwangsmaßnahmen. Damit ist durch den Hinweis auf die Möglichkeit juridischer Gesetzgebung in der Frage nach der Befugnis zur Auferlegung eines Strafschmerzes, d. h. der Legitimität von Strafzwang, nichts gewonnen. Vielmehr sind wir erneut auf eine Begründung verwiesen, die beim Strafvollzug die Anwendung physischer Zwangsmittel legitimiert. Nun haben wir aber gerade gesehen, dass jedenfalls die in §§ C und D der »Einleitung in die Rechtslehre« begründete Zwangsbefugnis beim Recht lediglich physische Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung von Rechten, nicht jedoch die Auferlegung eines Strafschmerzes für Rechtsverletzungen legitimiert.

4.3 Öffentliche Strafgerechtigkeit

Eine solche gesonderte Rechtfertigung des Strafzwangs könnte sich allerdings aus der Tatsache ergeben, dass Kant das Strafrecht als Teil der öffentlichen RL, AA 06: 219. Vgl. auch V-MS/Vigil, AA 27: 548: »Rechtsgesetze oder Zwangsgesetze können daher auch nie praemia gewähren, indem die vollkommenste Erfüllung derselben in ihrer Natur liegt, und sie nur ein oppositum in der Bestrafung haben.« 44 Vgl. zur sozialen Steuerungswirkung der Strafandrohung und dazu, dass diese nicht Kants retributivistische Strafbegründung infragestellt, bereits oben Fn. 11. 45 Vgl. zu den verschiedenen Zwangsbegriffen in Kants Rechtslehre von meiner Seite eingehend und m. w. N. Philipp-Alexander Hirsch: Freiheit und Staatlichkeit bei Kant: Die autonomietheoretische Begründung von Recht und Staat und das Widerstandsproblem, Berlin 2017, S. 62, 117 ff., 133, 323 ff. 42 43

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Gerechtigkeit begreift: »Die bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen führt schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich, welche der obersten Gewalt zusteht.« 46 Systematisch folgt dies daraus, dass Verbrechen für Kant genuin öffentliches Unrecht sind, 47 weil sie Staatlichkeit als Zustand allgemeinverbindlicher Rechtsgeltung konterkarieren: Diejenige Übertretung des öffentlichen Gesetzes, die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heißt Verbrechen schlechthin (crimen), aber auch ein öffentliches Verbrechen (crimen publicum); […], weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird. 48

Es handelt sich bei Verbrechen jedoch nicht deswegen um öffentliches Unrecht, weil die verletzten Rechtsgüter der Allgemeinheit zugeordnet sind, sondern weil Verbrechen grundsätzlich im Widerspruch zur Möglichkeit einer öffentlichen Gesetzgebung stehen. Eine solche öffentliche Gesetzgebung bewirkt, dass (schon vorstaatlich begründete) materielle Rechte 49 »die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich [haben], weil sie durch [eine] öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und durch [eine] dies Recht ausübende Gewalt gesichert« sind. 50 In einen solchen Zustand einzutreten, ist nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt. Vielmehr verpflichtet die Achtung der Rechte andere dazu, »im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins [im natürlichen Zustande] mit allen anderen aus jenem heraus in einen RL, AA 06: 362. Teilweise wird dies bestritten, weil Kant in RL, AA 06: 331 auch von »Privatverbrechen« spreche, bei denen dies nicht der Fall sei, die aber gleichwohl bestraft werden könnten, vgl. etwa Steigleder: Kants Moralphilosophie, S. 225.; zustimmend wohl Blöser: Zurechnung bei Kant, S. 159 f. Hiergegen spricht bereits, dass Kant diese Taten explizit der Zivilgerichtsbarkeit zuweist und nur öffentliche Verbrechen »vor die Kriminalgerechtigkeit gezogen« werden (RL, AA 06: 331). Vgl. wie hier auch Ebbinghaus: Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, S. 26.; Ripstein: Force and Freedom, S. 308 ff.; Byrd/Hruschka: Kant’s Doctrine of Right, S. 264 ff.; im Ergebnis ebenso Kaiser: Widerspruch und harte Behandlung, S. 76 f.; Höffe: Vom Straf- und Begnadigungsrecht, S. 218, 221. 48 RL, AA 06: 331. 49 Materielle Rechte existieren für Kant auch im vorstaatlichen Zustand. »Dieser enthält nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem [sc. dem staatlichen Zustand] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist ebendieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze notwendig als öffentliche gedacht werden müssen.« (RL, AA 06: 306) Daher ist laut Kant (RL, AA 06: 312) dieser vorstaatliche, »natürlich[e] Zustand nicht eben darum ein Zustand der Ungerechtigkeit«. Jedoch ist es »ein Zustand der Rechtlosigkeit […], wo, wenn das Recht streitig […] war, sich kein kompetenter Richter [findet], rechtskräftig den Ausspruch zu tun«. 50 RL, AA 06: 312. 46 47

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rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit über[zu]gehen«. 51 Der Verbrecher verletzt genau diese Pflicht, sich »einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwang zu unterwerfen«, 52 weil er sich durch seine Tat unilateral vom Prinzip einer öffentlichen Gerechtigkeit lossagt und sich so als Staatsbürger disqualifiziert. Betrachtet man das Verbrechen als öffentliches Unrecht, dann verschiebt sich zum einen der Unrechtsvorwurf: Etwa beim Diebstahl betrifft er nicht mehr die Tatsache, dass materielle Eigentumsrechte der Verbrechensopfer an konkreten Gegenständen verletzt worden sind, sondern dass der Straftäter »aller Anderer Eigenthum unsicher [macht]«, 53 weil seine Handlungsmaxime im Widerspruch zur Möglichkeit einer öffentlichen Eigentumsordnung als solcher steht. 54 An anderer Stelle hat Kant dies als formelles Unrecht (im Unterschied zu materiellem Unrecht, verstanden als Verletzung von Rechtsansprüchen mit Blick auf »die Materie oder das Object, worin ich ein Recht habe« 55) bezeichnet, weil es »dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit [nimmt] und […] so das Recht der Menschen überhaupt umstürz[t]«. 56 Hier51 RL, AA 06: 307. Kants Begründung für das Postulat des öffentlichen Rechts liegt – anders als bei Locke oder Hobbes – nicht bloß darin, dass sich Recht im vorstaatlichen Naturzustand privater Rechtsbeurteilung (Naturzustand als epistemisches Problem, Locke) bzw. unilateraler Rechtsdurchsetzung (Naturzustand als Problem der Rechtssicherung, Hobbes) verdanken würde. Vielmehr ist es ein genuin moralisches Problem, da Recht (verstanden als Inbegriff der Pflichten, »für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist«, RL, AA 06: 239) im vorstaatlichen Naturzustand stets Ausdruck heteronomer Gesetzgebung ist. Erst im Staat, der den vereinigten Willen aller repräsentiert, kann Recht als autonome Selbstverpflichtung begriffen werden. Für eine allgemeinverbindliche Geltung des Rechts muss daher ein jeder den Zustand einer »wilde[n], gesetzlose[n] Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt« (RL, AA 06: 316). Vgl. zum Naturzustand als moralisches Problem eingehend und m. w. N. Hirsch: Freiheit und Staatlichkeit bei Kant, S. 211 ff. 52 RL, AA 06: 312. 53 RL, AA 06: 333. 54 Für Kant ist Staatlichkeit Möglichkeitsbedingung für peremptorisches Eigentum, vgl. RL, AA 06: 255 ff. und dazu Hirsch, Freiheit und Staatlichkeit bei Kant, S. 272 ff. 55 TP, AA 08: 292. 56 RL, AA 06: 308, Fn. *. Vgl. zu Kants Unterscheidung von materiellem und formellem Recht bzw. Unrecht anschaulich Kants Notiz: »Materialiter Unrecht ist, was der Materie (dem obiecte des Willens andrer), formaliter, was den Bedingungen des reciproqven Willens überhaupt wiederstreitet.« (Refl. 6732, AA 19: 144) sowie die Vorarbeiten zur Rechtslehre »Das Recht überhaupt als bloße Form der Willkühr nach Gesetzen der Freyheit ist nur eines – Aber ein Recht (ius quoddam) deren es mehr giebt ist das Recht der materie nach und was man besitzen veräußern etc. etc. kann.« (VARL, AA 23: 274) Diese Unterscheidung findet dann auch Eingang in die 1797 erschienene Rechtslehre, wo Kant das Postulat des

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durch disqualifiziert sich der Straftäter als Staatsbürger und Mitgesetzgeber, weil er sich durch seine Tat vom Prinzip einer öffentlichen Gerechtigkeit ausgenommen hat. Zum anderen verschiebt sich mit dem Unrechtsvorwurf auch die Bedeutung einer rechtlichen Zwangsbefugnis: So bezieht sich die oben dargestellte, 57 bereits im Rechtsbegriff enthaltene Zwangsbefugnis allein auf die Durchsetzung bzw. Wiederherstellung des materiellen Rechts (etwa beim Diebstahl durch zwangsweise Wiedererlangung der gestohlenen Sache bzw. Schadensersatz). Eine Zwangsbefugnis zur Wiederherstellung formellen Rechts muss demgegenüber die öffentliche Gerechtigkeit als solche wiederherstellen. Hierin liegt der Grund, warum »[d]ie bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen […] schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich [führt]«. 58 Denn Strafrecht dient dazu, den Geltungsanspruch des öffentlichen Rechts gegenüber der Unrechtsmaxime des Straftäters zu behaupten: Durch Ausübung von Strafzwang soll die öffentliche Gerechtigkeit in dem Maße wiederhergestellt werden, in dem der Straftäter durch seine Tat diese öffentliche Gerechtigkeit infrage gestellt und sich unilateral vom Geltungsanspruch des öffentlichen Gesetzes befreit hat. 59 Diese Interpretation des kantischen Verbrechensbegriffs und des Strafzwangs als Reaktion hierauf ist nicht nur in der Lage, plausibel zu machen, warum Strafrecht für Kant notwendiger Teil der öffentlichen Gerechtigkeit ist. Sie hat auch den Vorteil, dass sie eine positive Rechtfertigung 60 für Kants retributive Straftheorie liefert, weil die Strafbefugnis Kehrseite des Postulats des öffentlichen Rechts ist. Wird die Pflicht, sich einem öffentlichen gesetzlichen Zwang zu unterwerfen, durch den Straftäter (zumindest partiell) 61 veröffentlichen Rechts, welches die Pflicht zur Staatsbegründung enthält, mit der vernunftrechtlichen Forderung des ius formaliter gleichsetzt. Wer sich diesem Postulat verweigert, tut »überhaupt […] im höchsten Grade daran unrecht in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein rechtlicher ist, d. i. in dem Niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist« (RL, AA 06: 307 f. mit Fn. *). Vgl. von meiner Seite eingehend und m. w. N. zur Unterscheidung von ius formaliter und ius materialiter Hirsch: Freiheit und Staatlichkeit bei Kant, S. 305 ff. 57 Vgl. oben S. 263 f. 58 RL, AA 06: 362. 59 Vgl. im Ergebnis ähnlich auch Ripstein: Force and Freedom, S. 308 ff.; Hüning: Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, S. 352.; Oberer: Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, S. 408 ff. und Ebbinghaus: Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, S. 27 f. 60 Vgl. zur negativen Rechtfertigung durch Zurückweisung relativer Straftheorien oben S. 257 ff. 61 Hierin liegt die entscheidende Differenz gegenüber einer Revolution, vgl. zu letzterer

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letzt, muss diese Verletzung eine Sanktion nach sich ziehen, weil sonst die Anmaßung einer »äußerlich gesetzlose[n] Freiheit« 62 durch den Täter gegenüber dem Anspruch (aber auch dem Versprechen) 63 einer öffentlichen Gerechtigkeit die Oberhand behielte. Allerdings rechtfertigt ein so verstandener Strafzwang zur Wiederherstellung des Geltungsanspruchs des Rechts nicht eo ipso die Zufügung eines Strafschmerzes. Die Wirksamkeit einer öffentlichen Gerechtigkeit beweist sich bereits dadurch, dass der Staat das Verbrechen als Verletzung formellen Rechts ausweist und das formelle Recht dadurch wiederherstellt, dass er »die Bedingungen […], unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann«, 64 aufrechterhält. Anders gesagt: Zum einen muss der Straftäter als jemand ausgewiesen werden, der seine staatsbürgerliche Pflicht verletzt und sich hierdurch der vollen Teilhabe an der öffentlichen Gerechtigkeit unwürdig erwiesen hat. Zum anderen darf er mit seiner Unrechtsanmaßung keinen Erfolg haben. Beides erfordert jedoch keine Zufügung eines Strafschmerzes: Denn die Feststellung und Zuschreibung des formellen Unrechts verlangt lediglich, dass ein entsprechender der Tatschuld proportionaler Tadel kommuniziert wird. Und die Garantie des rechtlichen Zustands besteht eben darin, die materiellen Rechte durch eine öffentliche Gerechtigkeit zu sichern. Dies erfordert jedoch lediglich gerichtliche Adjudikation sowie zwangsweise Durchsetzung materieller Rechte durch den Staat und damit die Realisierung eines Zustands der Freiheit nach öffentlichen Gesetzen. 65 Dass Verbrechen öffentRL, AA 06: 318 ff. und eingehend und m. w. N. hierzu Hirsch: Freiheit und Staatlichkeit bei Kant, S. 337 ff. 62 RL, AA 06: 307. 63 Hierin besteht ja gerade die Garantie der öffentlichen Gerechtigkeit gegenüber den Bürgern. 64 RL, AA 06: 305 f. 65 Darüber hinaus hat die Verletzung formellen Rechts keine empirischen Auswirkungen, die durch die Zufügung eines physischen Strafübels zu verhindern wären. Dies verkennt Ripstein: Force and Freedom, S. 314 ff. wenn er meint, dass die Aufrechterhaltung des »state’s right to tell me what to do – its entitlement to restrict my conduct by its normative claims«, eigenständige empirische Auswirkungen habe. »Empirically, however, a hindrance to freedom can be hindered by an equal and opposite force. Punishment hinders the juridical effect of wrongdoing by upholding the aspect of right from which the criminal sought to exempt himself. […] Normatively, the law survives any wrong against it. In the world of space and time, however, the wrong has an effect, and the only way to restore that supremacy of law is to restore its effectiveness, so that the violation is without legal effect.« Die Effektivität der öffentlichen Gerechtigkeit erschöpft sich jedoch in der Garantie der materiellen Rechte durch den Staat, d. h. deren Bestimmung durch eine »öffentliche (distributive) Gerechtigkeit« und deren Sicherung durch eine »Recht ausübende Gewalt« (RL, AA 06: 312). Anders gesagt: Die Wiederherstellung formellen Rechts erfordert lediglich die Fest-

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liches Unrecht sind und Strafrecht Teil der öffentlichen Gerechtigkeit ist, rechtfertigt also für sich genommen nicht die Auferlegung eines Strafübels. Es bedarf vielmehr weiterhin einer eigenständigen Begründung, die dies legitimiert.

5. Strafschmerz und die gesetzmäßige Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit

Eine solche Begründung lässt sich jedoch nicht der Rechtslehre entnehmen, sondern ist der kantischen Rechtsphilosophie vorgelagert, wie sich aus der durch die Vigilantiusmitschrift überlieferten Vorlesung zur Metaphysik der Sitten entnehmen lässt. Dort äußert sich Kant zum Strafbegriff im Allgemeinen 66 und beklagt, dass die Verbindung eines physischen Übels mit einer moralisch verwerflichen Handlung »im Begriff der Strafe enthalten« sei, ohne dass unmittelbar einsehbar oder beweisbar wäre, »[d]aß diese Verbindung nothwendig, und das physische Uebel unmittelbar eine Folge des moralisch Bösen sey, oder daß letzteres in einem malo physico bestehe«. Nach Zurückweisung präventiver Begründungen der Übelszufügung (Abschreckung anderer und Besserung des Täters) stellt Kant seine Lösung des Problems vor: Ob diese nothwendig sey, das ist, ob hier die Moralität der Handlung mit dem physischen Uebel in Verbindung stehe, da doch beide heterogene Dinge sind, das ist hier die Frage; hier läßt sich nur eine Schicklichkeit finden, die in der Unschicklichkeit einer Unangemessenheit der Folge mit der Handlung selbst ihren Grund hat. Es verlangt unsere Idee von der Gerechtigkeit, daß der moralische Werth der Handlung erkannt werde. Man denkt es sich der Ordnung der Dinge ganz widersprechend, daß eine moralisch böse Handlung mit Straflosigkeit ihrer Natur nach verknüpft sein und die Bestrafung nur vom willkührlichen Zufall abhängen sollte; die Vernunft verknüpft die Gesetzmäßigkeit des moralischen Verhaltens jederzeit mit der Würdigkeit zur Glückseligkeit, denkt sich den Uebertreter als der letzteren unwürdig, das Richteramt wird vermöge seiner gesetzgebenden Macht zur Vergeltung von der Vernunft aufgefordert, ein proportionirtes Uebel gegen die übertretenen moralischen Gesetze zu bestimmen. 67 stellung sowie zwangsweise Durchsetzung materieller Rechte durch den Staat, nicht jedoch die Zufügung eines Strafübels. 66 Dass Gesetzesübertretungen Strafe verdienen, gilt nicht nur für (moralische) Rechtsgesetze, sondern für moralische Gesetze ganz allgemein, sodass der Strafbegriff »noch vor aller Möglichkeit einer Unterscheidung von Recht und Ethos im engeren Sinne (Tugend)« (Oberer: Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, S. 401) Anwendung findet. 67 MdS-Vigil., AA 27: 552, kurs. Herv. v. mir.

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Dass Glückseligkeit und Glückswürdigkeit gesetzmäßig miteinander verknüpft sind, ist laut Kant eine Forderung der praktischen Vernunft. Dieser Gedanke entstammt jedoch nicht Grundprinzipien der kantischen Rechtsphilosophie, sondern seiner bereits in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelten Lehre vom höchsten Gut. 68 Denn um »Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen« zu sein, muss »Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu sein)« gesetzmäßig mit Glückseligkeit im Begriff des höchsten Guts synthetisch verknüpft werden, und zwar »ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Werth der Person und deren Würdigkeit)«. 69 Eine solche gesetzmäßige Proportionalität von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit ist jedoch keine natürliche Folge (un-)moralischen Verhaltens, sondern ist »durch Freiheit des Willens hervorzubringen« und daher »a priori (moralisch) nothwendig«: In dem höchsten für uns praktischen, d. i. durch unsern Willen wirklich zu machenden, Gute werden Tugend und Glückseligkeit als nothwendig verbunden gedacht, so daß das eine durch reine praktische Vernunft nicht angenommen werden kann, ohne daß das andere auch zu ihm gehöre.70

Hierin fügt sich »Strafwürdigkeit«, welche »die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet«, nahtlos ein. Denn Strafe ist »ein physisches Übel, welches […] mit dem moralisch Bösen […] nach Principien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden« muss, sodass »alles Verbrechen […] für sich strafbar ist; d. i. Glückseligkeit (wenigstens zum Theil) verwirkt«. 71 Hierauf baut Kant in der Rechtslehre auf: Erfordert – wie zuvor ausgeführt – 72 ein staatlicher Zustand begriffsnotwendig eine Strafgerechtigkeit und besteht diese Strafgerechtigkeit gerade in der Feststellung und Zuschreibung formellen Unrechts, wodurch der Verbrecher als der vollen Teilhabe an der öffentlichen Gerechtigkeit unwürdig ausgewiesen wird, dann erfordert – hierin besteht die Lehre vom höchsten Gut – ebendiese Unwürdigkeit eine der Tatschuld des Verbrechers proportionale Strafschmerzzufügung, damit die von der Vernunft geforderte Proportionalität von Glückswürdigkeit und 68 Vgl. zu Kants Lehre vom höchsten Gut, auf die hier nicht detailliert eingegangen werden kann, aufschlussreich zuletzt Florian Marwede: Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik, Berlin 2018. 69 KpV, AA 05: 110 f. »Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte […] gar nicht zusammen bestehen.« 70 KpV, AA 05: 113. 71 KpV, AA 05: 37. 72 Vgl. oben S. 265 ff.

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Glückseligkeit wiederherstellt wird. In der Rechtslehre erfährt die Zufügung eines Strafschmerzes als Definitionselement der Strafe also nur deswegen keine gesonderte Rechtfertigung, weil eine solche bereits in den Grundlegungsschriften seiner praktischen Philosophie geleistet wurde. Dass Kant hieran noch immer festhält, wird auch textlich in der Rechtslehre deutlich, wenn Kant die Richtigkeit des Talionsprinzip der »Gleichheit der Strafen« auch damit begründet, dass »dadurch allein proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher das [U]rtheil über alle […] ausgesprochen wird« und dass »jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind«. 73 Dieser Zusammenhang von Strafe und der Lehre vom höchsten Gut ist freilich keine grundstürzend neue Erkenntnis, sondern wurde bereits vielfach festgestellt. Allerdings wird seine Relevanz für die Begründung rechtlicher Strafe regelmäßig bestritten: Zum einen erlaube die in der zweiten Kritik entfaltete Lehre vom höchsten Gut nur einen praktischen Vernunftglauben an ein göttliches Wesen, 74 das eine gerechte Proportionalität herstelle. Eine Befugnis des Menschen, diese Proportionalität herzustellen, indem er andere Menschen für ihre Verfehlungen bestraft, folge daraus nicht. »The crucial point is that the belief that ›God has reasons to make the wicked suffer‹ does not license us to ›help‹ in the project.« 75 Zum anderen sei in der Kritik der praktischen Vernunft nur von einer Proportionalität zwischen Tugend und Glückseligkeit die Rede, nicht aber zwischen Rechtswidrigkeit und Unglück. Die Tugendhaftigkeit eines Menschen sei jedoch epistemisch opak 76 und könne überdies im staatlichen Strafrecht keine Relevanz entfalten, da nach Kant

RL, AA 06: 333. Vgl. zu diesem Postulat der praktischen Vernunft KpV, AA 05: 124 ff. und dazu m. w. N. nur Daniel Keller: Der Begriff des höchsten Guts bei Immanuel Kant: Theologische Deutungen, Paderborn 2008, S. 271 ff. 75 So Hill: Kant on Wrongdoing, Desert, and Punishment, S. 413, Fn. 16. Vgl. ebenso Kaiser: Widerspruch und harte Behandlung, S. 70 f.; Ripstein: Force and Freedom, S. 301; Byrd/ Hruschka: Kant’s Doctrine of Right, S. 270; Blöser: Zurechnung bei Kant, S. 163, Marwede: Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik, S. 185 f. und Merle: Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde, S. 45 ff. und 62 ff. sowie aus systematischer Perspektive bereits Alan Goldman: »The Paradox of Punishment«, in: Philosophy & Public Affairs 9 (1979), S. 42–58: S. 47. 76 Weshalb die proportionale Anpassung der Glückseligkeit an die Sittlichkeit niemals eine direkte Handlungspflicht sein könne, so etwa R. Zev Friedman: »The Importance and Function of Kant’s Highest Good«, in: Journal of the History of Philosophy 22 (1984), S. 325– 342: S. 328 f. und Stephen Engström: »The Concept of the Highest Good in Kant’s Moral Theory«, in: Philosophy and Phenomenological Research 52 (1992), S. 747–780: S. 771. 73

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»die Gerechtigkeit der Strafe […] nur eine äußere [ist], die sich auf die Übereinstimmung des Handelns, nicht der Gesinnungen« bezieht. 77 Hieran ist richtig, dass eine Korrespondenz von Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit allein Gott herstellen kann. Entsprechend heißt es mit Blick auf die Strafgerechtigkeit in der Tugendlehre: Eine jede das Recht eines Menschen kränkende That verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Thäter gerächt (nicht blos der zugefügte Schade ersetzt) wird. Nun ist aber Strafe nicht ein Act der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über Alle, die demselben unterworfen sind, Effect giebt, und wenn wir die Menschen (wie es in der Ethik notwendig ist) in einem rechtlichen Zustande, aber nach bloßen Vernunftgesetzen (nicht nach bürgerlichen) betrachten, so hat niemand die Befugniß Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist […] (nämlich Gott). 78

Hiernach ist allein Gott befugt, auch in ethischer Hinsicht zu strafen, weil allein er oberster Gesetzgeber aller moralischen Gesetze ist, die Tugendgesetze eingeschlossen. 79 Auch ist nur Gott in der Lage, Glückseligkeit proportional zur Tugendhaftigkeit zuzuteilen, weil allein er »ein Herzenskündiger« ist, der »das Innerste der Gesinnungen eines jeden […] durchschauen« kann. 80 Deshalb kann nur er nach moralischen Tugendgesetzen den Sündigen bestrafen und den Tugendhaften belohnen. Diese Restriktionen gelten jedoch nur, soweit man die Strafbefugnis auch in ethischer Hinsicht (mit-)betrachtet. Betrachtet man jedoch allein die rechtliche Strafbefugnis als Inbegriff einer systematischen Verbindung nach öffentlichen Rechtsgesetzen (die Rechtsgemeinschaft bzw. ein rechtlich-bürgerliches gemeines Wesen), erlaubt diese zum einen ein anderes, von Gott verschiedenes einheitsstiftendes Ober77 So Hüning: Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, S. 356. Vgl. ferner – wenngleich mit im Detail unterschiedlicher Stoßrichtung – Reinhard Brandt: »Gerechtigkeit und Strafgerechtigkeit bei Kant«, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Kato (Hgg.): Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 425–463: S. 435 f.; Andreas Mosbacher: Strafrecht und Selbstschädigung: Die Strafbarkeit »opferloser« Delikte im Lichte der Rechtsphilosophie Kants, Berlin; Heidelberg 2001, S. 24 ff. und auch Merle: Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde, S. 45 ff. und 70 ff. 78 TL, AA 06: 460. 79 Kant verwendet in der Metaphysik der Sitten die Begriffe Recht, Ius, Rechtslehre weitestgehend synonym und in Gegensetzung zu Ethik und Tugendlehre. Den ihnen gemeinsamen Oberbegriff bildet bei Kant die Sittenlehre oder Moral. Entsprechend sind rechtliche und ethische Gesetze gleichermaßen moralische Gesetze und konstituieren moralische Pflichten (Rechtspflichten und Tugendpflichten). Vgl. RL, AA 06: 221, 239. 80 RGV, AA 06: 99.

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haupt, 81 dem die Strafbefugnis zukommt: der Staat als Repräsentant des vereinigten Volkswillens. Hier ist »die sich zu einem Ganzen vereinigende Menge selbst der Gesetzgeber (der Constitutionsgesetze) […] und wo also der allgemeine Wille einen gesetzlichen äußeren Zwang errichtet«. 82 Zum anderen geht es hier lediglich um rechtliche Strafe für Verbrechen, wofür allein die äußerlich erkennbare Übereinstimmung des Handelns mit Rechtsgesetzen zu beurteilen ist, nicht jedoch die Übereinstimmung der Gesinnungen mit Tugendgesetzen. Ob der freie Gebrauch der Willkür in äußeren Handlungen allgemeingesetzlich vertretbar ist, ist auch für die menschliche öffentliche Gerechtigkeit einsehbar. Und daher ist es auch den Menschen möglich, Glückseligkeit proportional zur äußeren Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit des Verhaltens zuzuteilen. Anders gesagt: Der Mensch kann den Menschen strafen, weil es nur um rechtliche Strafe geht. Und der Mensch darf den Menschen durch Zufügung eines Strafübels strafen, weil auch insoweit die gesetzmäßige Verknüpfung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit eine Forderung der praktischen Vernunft ist. 83 Hierbei obliegt es jedoch – und hier ergänzt Kants Lehre vom Strafrecht als Teil der öffentlichen Gerechtigkeit seine Lehre vom höchsten Gut – 84 nicht dem Einzelnen, diese Proportionalität herzustellen. Wenn nämlich – wie wir gesehen haben – 85 die Strafwürdigkeitsfeststellung Ausdruck öffentlicher Gerechtigkeit ist, dann kann auch die Zufügung eines hierzu proportionalen Strafübels nur durch das Staatsoberhaupt als Repräsentant des vereinigten gesetzgebenden Willens aller, die »das Strafgesetz dictir[en]«, 86 erfolgen. Deshalb bezeichnet Kant das »Strafrecht« auch als »das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen«, wenngleich die Befugnis, »ihn we-

81 Vgl. dazu eingehend von meiner Seite Hirsch: Freiheit und Staatlichkeit bei Kant, S. 233 ff. 82 Religion, AA 06: S. 98; vgl. auch Kants Bestimmung des »Oberhaupts« in RL, AA 06: 315, das »nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann«. 83 Vgl. ebenso O’Connell: Kantian Moral Retributivism, S. 489 ff. und Oberer: Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, S. 401 ff. 84 Dies verkennt jedoch O’Connell: Kantian Moral Retributivism, S. 491 ff., der Kants retributive Straftheorie allein aus der Lehre vom höchsten Gut ableiten will. Eine ähnliche Tendenz ist bei einigen Autoren juristischer Provenienz (allerdings in Kant-kritischer Absicht) zu sehen, vgl. dazu die Nachweise bei Tudor Avrigeanu: Ambivalenz und Einheit: Eine Untersuchung zur strafrechtswissenschaftlichen Grundlagendiskussion der Gegenwart anhand ihrer Bezüge zu Kants Philosophie, Baden-Baden 2006, S. 157 ff. 85 Vgl. oben S. 265 ff. 86 RL, AA 06: 335.

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gen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen«, 87 ihre Rechtfertigung in Kants Lehre vom höchsten Gut findet, weil es eine Forderung der reinen praktischen Vernunft ist, durch Kriminalstrafe die Glückseligkeit proportional zur Übertretung der Rechtsgesetze zu schmälern. Dass die Auferlegung von Strafschmerz ihre normative Rechtfertigung in Kants Lehre vom höchsten Gut findet, bestätigt wiederum die übrigen Theorieelemente von Kants Strafrechtskonzeption. Erstens: Ist Strafe, d. h. Auferlegung eines physischen Übels, notwendige Folge einer moralwidrigen Handlung (d. h. eines moralischen Übels), dann ist Kants Straftheorie eo ipso absolut. Strafe muss verhängt werden, weil verbrochen wurde (quia peccatum est), und nicht, damit künftig nicht verbrochen werde. 88 Zweitens: Das Talionsprinzip, das von Kant in der Rechtslehre lediglich als formales Strafzumessungskriterium eingeführt wird, erfährt über die Lehre vom höchsten Gut eine inhaltliche Ergänzung dahingehend, dass eine gesetzmäßige Wiedervergeltung nur durch eine proportionale Verknüpfung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, mithin von Sanktion und Unrecht, erfolgen kann. Schließlich sichert – drittens – die Lehre vom höchsten Gut das Strafmonopol des Staates dahingehend ab, dass sich dieses nicht nur aus dem genuin öffentlichen Charakter des Verbrechens ergibt und Kehrseite des Postulats des öffentlichen Rechts ist, sondern dass eine systematische Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit nach Rechtsgesetzen allein das Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit herstellen kann, also das Staatsoberhaupt. Die Befugnis zur Zufügung eines Strafübels bzw. Strafschmerzes als integraler Bestandteil der Strafe beweist damit die Kohärenz von Kants praktischer Philosophie und zeigt ihre großen Begründungslinien auf, insoweit sie sich nur aus der konsequenten Übertragung der kantischen Lehre vom höchsten Gut in die Theorie des staatlichen Strafrechts erklären lässt. Ob allerdings durch den Rekurs auf diesen äußerst voraussetzungsreichen »Grundbaustein« seiner praktischen Philosophie die Anschlussfähigkeit der kantischen Straftheorie aus heutiger Sicht erschwert wird, steht hingegen auf einem anderen Blatt.

RL, AA 06: 331. Vgl. erneut auch MdS-Vigil., 27: 552 f.: »Hieraus ergiebt sich nun, daß ein wesentliches requisitum jeder Strafe ist, daß sie gerecht ist, d. i., daß sie eine unmittelbar nothwendige Folge der moralisch bösen Handlung ist; und darin besteht eben ihre qualität, daß sie ein actus justitiae ist, daß nämlich das physische Uebel um des moralisch Bösen willen zugefügt wird. Daher folgt daraus ihre Gerechtigkeit nicht, wenn sie zur Besserung des Verbrechers oder als Beyspiel anderer zugefügt wird.« 87

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Hendrik Klinge

Konsequente Eschatologie Kants philosophische Rekonstruktion der Hölle 1.

In Angelegenheiten der Religion stellt die »konsequente Denkungsart« im besten Sinne eine Zumutung dar. Ist doch die Versuchung, unliebsamen Konsequenzen auszuweichen, in kaum einem Gebiet so groß wie in jenem, welches Gegenstand der Theologie und Religionsphilosophie ist. Allzu schnell ist hier ein frommes »Weiter nicht!« oder ein demutsvoller Hinweis auf das göttliche Geheimnis bei der Hand, um das, was philosophisch den Ehrentitel konsequenten Denkens führt, unter das Verdikt frevelhafter Anmaßung zu stellen. Gerne unterwirft man sich dem Allmächtigen, legt das eigene Schicksal in dessen alles regierende Hand; vor dem Gedanken, dass der Glaube an jene Allmacht, wenn er ernst genommen wird, zumindest die Frage aufwirft, ob nicht auch das Leid aus jener göttlichen Hand empfangen wird, scheut das fromme Bewusstsein indes allzu gerne zurück. Die dogmatische Lehre von der Erwählung lässt man gerne gelten; dass, horribile dictu, diese als ihr Gegenstück auch die Möglichkeit einer Verwerfung erfordert, wird hingegen gerade in der gegenwärtigen Theologie nun ungern eingestanden. Und was schließlich die theologische Zentrallehre vom Gottmenschen Jesus Christus anbelangt, schreibt schon die orthodoxe lutherische Dogmatik des 16. und 17. Jahrhunderts dem Menschen Jesus von Nazareth alle göttlichen Eigenschaften einschließlich der Allgegenwart zu, schreckt gleichzeitig jedoch davor zurück, umgekehrt auch menschliche Eigenschaften auf Gott zu übertragen, weil das den erschreckenden Gedanken erlaubte, dass, o große Not, Gott selbst am Kreuz den Tod erlitten hat, ein Gedanke, vor dem die Frömmigkeit dann als Warnschild eben jenes »Weiter nicht!« anbringt. 1 Theologie und vielleicht noch mehr Religionsphilosophie haben nun die Aufgabe, das religiöse Bewusstsein, indem sie ihm eben diese Inkonsequenzen vor Augen führen, dazu anzuleiten, mit »sich selbst einstimmig [zu] den1 Vgl. zu diesem dogmatischen Problem Stephen R. Holmes: »Assymetrical assumption. Why Lutheran christology does not lead to kenoticism or divine passibility«, in: Scottish Journal of Theology 72/4 (2019), S. 357–374.

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ken«. 2 Diese Aufgabe ist deshalb so wichtig, weil sie dem Erweis dessen dient, dass Religion nicht widervernünftig ist, wofür die Konsistenz der Glaubensaussagen eine notwendige, wenn auch freilich nicht hinreichende Bedingung ist. Wenn es um die Eschatologie geht, also jenen Abschnitt der theologischen Lehrtradition, der die letzten Dinge – Gericht, Auferstehung, Reich Gottes, Himmel und Hölle etc. – zum Thema hat, stellt sich die Frage der konsequenten Denkungsart mit besonderer Vehemenz; nicht zuletzt deshalb, weil bei diesem traditionell entweder hoch spekulativ oder stumpf biblizistisch betriebenen Geschäft die Konsistenz der Aussagen vielleicht alles ist, was erreicht werden kann. Abermals ist hier die Versuchung groß, den Blick nur auf die hellen Seiten zu lenken; der Glaube an einen Himmel ist ungleich angenehmer als der an die Hölle. Sieht man von allen mythologischen Fermenten ab, die beide Vorstellungen bis heute mit sich führen, und begreift sie schlicht als von der Einbildungskraft gestaltete Symbole für den Zustand vollkommener Seligkeit respektive Unseligkeit, so bleibt für die konsequente Denkungsart doch die Aufgabe, den notwendigen Zusammenhang beider Vorstellungen zu betonen. Den Himmel kann man nicht ohne die Hölle haben, das geglückte Leben nicht ohne das verfehlte, die Seligkeit nicht ohne zumindest die Möglichkeit unseligen Daseins. Ganz gleich, ob man den Besitz der Seligkeit an gute Werke knüpft oder, gut protestantisch, ihn als allein durch Gnaden erworben denkt, in beiden Fällen bleibt die Möglichkeit, dass entweder die guten Werke nicht ausreichen oder die Gnade nicht erwiesen wird, wobei in diesem Fall sicher kein feuriger Pfuhl auf diejenigen wartet, die durch eigenes Verschulden oder schlichte Nicht-Erwählung den Weg zur Seligkeit verfehlen, wohl aber ein Zustand, der dem, in dem sich die Himmlischen befinden, diametral entgegengesetzt ist. Immanuel Kant ist nun wohl der letzte Philosoph, von dem man instruktive Gedanken über diesen Zustand absoluter Unseligkeit erwartet; und viele Äußerungen Kants über die Hölle sind auch vergleichsweise trivial. An die Hölle als eine supranaturale Lokalität glaubt der Aufklärer gewiss nicht und auch den Teufel selbst entmythologisiert er kräftig. 3 In Kants Vorlesungen über rationale Theologie finden sich indes einige bemerkenswerte Passagen über die Hölle. Besonders interessant ist dabei, dass Kant die Vorstellung von der Hölle mit seiner Lehre vom höchsten Gut in Verbindung bringt. Genauer KU, AA 05: 294. Vgl. Andrew Chignell: »The Devil, the Virgin, and the Envoy. Symbols of Moral Struggle in Religion, Part Two, Section Two«, in: Ottfried Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Klassiker Auslegen 41, Berlin 2011, S. 111–129. 2 3

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bildet sich hier anhand der Vorstellung von der Hölle subkutan der Begriff eines größten Übels oder, genauer, eines summum malum consummatum aus. 4 Dass es dieses bei Kant gibt, auch wenn er es explizit niemals so benennt, und dass die Einführung dieser Denkfigur als negatives Gegenstück zum höchsten Gut einen Ausdruck der konsequenten Denkungsart darstellt, ist die These der vorliegenden Studie, die im Folgenden an Kants Texten begründet werden soll. In einem ersten Schritt (Abschnitt 2) werde ich daher an die Lehre vom höchsten Gut erinnern – so, wie Kant selbst sie vor allem in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt. Im darauffolgenden, argumentativ zentralen Abschnitt präsentiere ich dann den Gedanken eines größten Übels anhand der Höllenvorstellung in den Vorlesungen über rationale Theologie und Religionsphilosophie (Abschnitt 3). Sodann wende ich mich wieder den Druckschriften zu, um zu überprüfen, ob sich auch hier Andeutungen für die besagte Lehre vom größten Übel finden lassen (Abschnitt 4). Die beiden, nicht zufällig religionsphilosophischen Schriften, in denen dies m. E. deutlich der Fall ist, i. e. Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee und Das Ende aller Dinge, werde ich daher in Hinblick auf die Frage nach dem größten Übel analysieren. Fünftens und letztens werde ich schließlich meine Überlegungen unter der Leitfrage bündeln, inwiefern das, was sich exegetisch zum Begriff des summum malum consummatum erheben lässt, auch systematisch konsequent ist. Kants Lehre vom höchsten Gut, so meine These, ist unvollständig, solange nicht das Gegenstück eines größten Übels bedacht wird (Abschnitt 5). Dass Kant diesen Gedanken zumindest angedeutet, wenn auch nicht voll entwickelt hat, überhebt ihn aller frommer Halbheiten; ob er hier, in der philosophischen Rekonstruktion des düstersten Kapitels christlicher Eschatologie, der »konsequenten Denkungsart« bis zum Letzten gefolgt ist (oder auch nur folgen wollte), ist freilich eine andere Frage.

4 Diesen Begriff habe ich selbst bereits in meiner Dissertationsschrift vorgeschlagen; die folgenden Überlegungen dienen dem Ziel, den Gedanken, der dort nur angedeutet wurde, nunmehr näher zu entfalten. Der Fokus liegt dabei, anders als in meiner Dissertationsschrift, nicht auf Kants ›Entmythologisierung‹ der Hölle, sondern auf dem summum malum consummatum als einem Gegenstück zum summum bonum consummatum, auf welches die konsequente Denkungsart notwendig stößt. Vgl. Hendrik Klinge: Die moralische Stufenleiter. Kant über Teufel, Menschen, Engel und Gott, Kantstudien – Ergänzungshefte 204, Berlin 2018, S. 181–186.

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2.

Der Lehre vom höchsten Gut in Kants praktischer Philosophie hat sich die Forschung mit besonderer Intensität zugewandt. Dies ist insofern nicht überraschend, als doch diese Lehre unmittelbar mit Kants Reintroduktion des Gottesbegriffs in der praktischen Philosophie verbunden ist, nachdem er ihn aus der theoretischen verbannt hat. Wenn der »Zermalmer der Metaphysik« sich irgendwo als deren Retter erweist, dann hier. Genauer hat das intensive Forschungsinteresse an diesem unbestreitbar zentralen Abschnitt der praktischen Philosophie Kants zwei Gründe. Einmal stieß Kants Lehre vom höchsten Gut bereits bei den Zeitgenossen auf massive Widerstände. Berühmtberüchtigt sind die giftigen Worte Heines, der konstatiert, dass Kant den »Himmel gestürmt« und »die ganze Besatzung über die Klinge [habe] springen lassen«, sodass der »Oberherr der Welt unbewiesen in seinem Blut [schwimmt]«, nur, um aus sentimentaler Anwandlung seinem alten Diener Lampe gegenüber Gott in der praktischen Vernunft auferstehen zu lassen, denn »sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein – der Mensch soll aber glücklich sein – das sagt die praktische Vernunft […]«. 5 Zum anderen stellen uns die Passagen in Kants Werken, die sich mit dem höchsten Gut beschäftigen, auch vor besondere exegetische Schwierigkeiten. Ich werde diese intrikaten Diskussionen im Folgenden nicht referieren, zumal dies an anderer Stelle bereits mustergültig geschehen ist. 6 Stattdessen werde ich eine relativ konservative und behutsame Deutung der Lehre vom höchsten Gut präsentieren. Methodisch scheint dies insofern gerechtfertigt, als es gar nicht meine Absicht ist, für eine bestimmte Interpretation zu werben. Vielmehr soll es um den Nachweis einer notwendigen, von Kant selbst angedeuteten Ergänzung zur Lehre vom höchsten Gut gehen; und diese These ist m. E. vereinbar mit unterschiedlichen Deutungen, die an diese Lehre selbst herangetragen wurden. Die hier gebotene Darstellung bietet also keine neue Interpretation, sondern dient lediglich der Vorbereitung des in den nächsten Abschnitten zu präsentierenden Arguments. 5 Heinrich Heine: »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, in: ders., Werke. Sonderausgabe in zwei Bänden, Wiesbaden 1976, Band 4, S. 183–349: S. 304. 6 Einen ausgezeichneten Überblick über die Forschungsgeschichte zu Kants Lehre vom höchsten Gut bietet Ingo Marthaler: Bewusstes Leben. Moral und Glück bei Immanuel Kant, Kantstudien – Ergänzungshefte 176, Berlin 2014, S. 38–50. Auch Allen Wood betont, dass der Ausdruck »höchstes Gut« bei Kant äußert ambigue ist, und untersucht genau, welche Bedeutung der Begriff in jeder der drei Kritiken im Zusammenhang mit den jeweiligen Varianten des ›praktischen Gottesbeweises« besitzt. Vgl. Allen Wood: Kant and Religion, Cambridge 2020, S. 37, 39–51.

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Die Lehre vom höchsten Gut geht bis in die vorkritische Phase zurück. 7 Besonders prägnant stellt Kant sie dann im Kanon-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft vor. 8 Eingeführt wird das Ideal des höchsten Gutes hier über die dritte von Kants berühmten Fragen, i. e. die Frage: Was kann ich hoffen? 9 Bereits hier wird es notwendig, Kants Terminologie in Bezug auf das höchste Gut zu differenzieren. Kant unterscheidet in der ersten Kritik zwischen einem höchsten ursprünglichen Gut und einem höchsten abgeleiteten Gut. 10 Während das höchste abgeleitete Gut identisch ist mit der intelligiblen, moralischen Welt, wird das höchste ursprüngliche Gut hier mit einer »Intelligenz« identifiziert, in welcher »der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu sein), in genauem Verhältnisse steht«. 11 Obwohl hier bereits die wichtigen Begriffe der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit fallen und deren Verbindung als letztes Ziel ausgegeben wird, erhält jene Verbindung selbst hier noch nicht den Namen eines höchsten Gutes, weder abgeleitet noch vollendet. Das höchste ursprüngliche Gut in der Kritik der reinen Vernunft, i. e. jene »Intelligenz«, die für jene Übereinstimmung bürgen soll, muss vielmehr direkt mit Gott identifiziert werden, der für die synthetische Einheit, auf die Kant alles ankommt, Sorge trägt. Kurz: Kants reife Lehre vom höchsten Gut ist hier also ebenso präludiert wie der sogenannte praktische Gottesbeweis; die begriffliche und systematische Präzision der späteren Schriften ist an diesem Punkt jedoch noch nicht erreicht. Einen wichtigen Fortschritt stellt die Schrift Was heißt sich im Denken orientieren? (1786) dar. Auch hier wird das höchste Gut direkt mit Gott, i. e. »einem ersten Urwesen, als oberster Intelligenz«, identifiziert. 12 Von diesem, wie es nunmehr heißt, »unabhängigen« höchsten Gut, wird nun das höchste Gut, »was in der Welt möglich ist«, unterschieden. 13 Dieses »abhängige« höchste Vgl. dazu Klaus Düsing: »Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie«, in: Kant-Studien 61 (1971), S. 5–42. Für diesen Hinweis danke ich den Herausgebern. 8 Im Folgenden werde ich nicht alle relevanten Passagen in Kants Druckschriften behandeln, sondern lediglich jene, die für den gegenwärtigen Kontext m. E. am aufschlussreichsten sind. 9 Vgl. KrV, B 832 f., AA 03: 522. 10 Vgl. ebd. B 838 f., AA 03: 526 f. Das höchste abgeleitete Gut scheint dann, vermittelt über den Begriff der moralischen Welt, zugleich identisch zu sein mit dem »corpus mysticum der vernünftigen Wesen« (ebd. B 836, AA 03: 525). 11 Ebd. B 838 f., AA 03: 526. 12 WDO, AA 08: 137. 13 Ebd., 139. 7

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Gut wird unmittelbar mit der Sittlichkeit identifiziert; bei genauerem Hinsehen scheint es aber so (der unklare Satzbau lässt hier mehrere Deutungen offen), als ob Kant noch einen Schritt weitergeht. Das abhängige höchste Gut wird einmal betrachtet, »sofern es allein durch Freiheit möglich ist«, dann aber auch in Bezug auf das, »was nicht bloß auf menschliche Freiheit, sondern auch auf die Natur ankommt«. 14 Diesen letzten Aspekt setzt Kant wörtlich mit der Glückseligkeit gleich. Mit dem höchsten abhängigen Gut scheint mithin bereits an dieser Stelle die später so entscheidende »Proportion« von sittlichem Verdienst und Glückseligkeit gemeint zu sein, wobei die Sittlichkeit klar als ein Produkt der Freiheit und die Glückseligkeit als ein solches der Natur ausgewiesen wird. 15 Dies bedeutet sowohl gedanklich als auch terminologisch einen klaren Fortschritt in Richtung der Lehre vom höchsten Gut, so, wie sie in der zweiten Kritik entfaltet wird. In der Kritik der praktischen Vernunft selbst nun erhält Kants Lehre vom höchsten Gut ihren klassischen Ausdruck. Bezeichnend ist zunächst, dass die Rede von Gott selbst als höchstem (ursprünglichen) Gut hier deutlich in den Hintergrund rückt. Obwohl die Unterscheidung von zwei Formen des höchsten Gutes beibehalten wird, identifiziert Kant, anders als in den vorangegangenen Schriften, zunächst keine davon mit Gott. So wird der Gottesbegriff auch gar nicht in der Einführung zur Lehre vom höchsten Gut am Anfang des zweiten Hauptstücks der Dialektik der reinen praktischen Vernunft thematisch, sondern erst später bei der sich an die Auflösung der Antinomie anschließenden Postulatenlehre. 16 Die beiden Formen des höchsten Gutes, die Kant nunmehr nennt, sind das oberste Gut (supremum) und das vollendete (consummatum). Dabei wird das oberste Gut zugleich originarium ausgewiesen, weil es selbst die alles anderem vorausliegende, ursprüngliche Bedingung darstellt, ohne selbst bedingt zu sein. Hier nimmt also Kant die Idee von einem ursprünglichen oder unabhängigen höchsten Gut auf, welches in den voranEbd. Nur anbei kann hier bemerkt werden, dass m. E. hieraus die besondere Bedeutung der Lehre vom höchsten (abgeleiteten) Gut für Kants gesamte Philosophie erhellt. Insofern hier Freiheit und Natur, mundus intelligibilis und mundus sensibilis zusammengeführt werden, stellt die Lehre vom summum bonum consummatum auch architektonisch den Schlussstein des kantischen Denkens dar. Die zwar nicht von ihm erfundene, aber zweifelslos für seine Philosophie zentrale Unterscheidung zwischen den beiden Welten wird von Kant hier wieder in eine Einheit überführt. Das Reich der Freiheit und das Reich der Natur, die Kant unterscheiden muss, um wesentliche Probleme wie den Widerstreit von Freiheit und Determination zu lösen, verschmelzen im höchsten Gut wieder zu einem Reich. Und gerade deshalb muss Gott auch beides sein: der physische Urheber der Natur und der moralische Weltenregent. 16 Vgl. KpV, AA 05: 124–126. 14 15

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gehenden Schriften mit Gott identifiziert wurde. Nun aber, in der Kritik der praktischen Vernunft, ist das ursprüngliche höchste (bzw. oberste) Gut die Moralität als »die Würdigkeit glücklich zu sein«. 17 Das vollendete höchste Gut, welches wiederum zurückweist auf das »abgeleitete« höchste Gut, wie es in der ersten Kritik erscheint, wird nunmehr unmissverständlich identifiziert mit der proportionalen Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit. 18 Terminologisch ist hier insofern ein Fortschritt erreicht, als Kant das oberste vom höchsten Gut klar unterscheidet. Dies erlaubt es nun, das summum bonum consummatum abkürzend schlicht als höchstes Gut zu bezeichnen. Eine derartige terminologische Klarheit hat Kant in den vorangegangenen Schriften nicht erreicht. Der nunmehr aus der Lehre vom höchsten Gut sensu stricto ausgelagerte Gottesbegriff wird als notwendige Ingredienz zur Auflösung der Antinomie präsentiert. Stark vereinfacht zeigt Kant in den folgenden Abschnitten, dass das Verhältnis zwischen derjenigen moralischen Qualität, die glückswürdig macht, i. e. an dieser Stelle die Tugend, 19 und Glückseligkeit kein analytisches, Ebd., 110. Wood unterscheidet diese beiden Komponenten treffend, wenn er zwischen dem »moral good« und dem »natural good« unterscheidet (vgl. Wood: Kant and Religion, S. 37). 19 Dass Kant an dieser Stelle wörtlich die Tugend als diejenige moralische Qualität bezeichnet, die glückswürdig macht, steht in eindeutiger Spannung dazu, dass er bei der Einführung des Unsterblichkeitspostulats nicht die Tugend, sondern die Heiligkeit als bonum supremum ausweist (KpV, AA 05: 122). Das Problem besteht genauer darin, dass Kant gerade im Zusammenhang mit der Gotteslehre Heiligkeit und Tugend als wechselseitig exklusive Begriffe verwendet. Während Tugend die moralische Qualität von Wesen bezeichnet, die noch darum ringen müssen, der moralischen Maxime die Oberherrschaft über ihre Neigungen zu verschaffen, und darum der Pflicht unterworfen sind, definiert Kant heilige Wesen als solche, die eben jenes Kampfes überhoben sind und gleichsam sua sponte der guten Maxime die Führung einräumen. Gemeint sind hier Wesen wie Gott selbst, die keiner Versuchung durch sinnliche Neigungen unterliegen und auf die der Begriff der Pflicht daher auch nicht anwendbar ist (vgl. KpV, AA 05: 82; MS, AA 06: 383; besonders prägnant auch V-Mo/Mron II, AA 29: 611). Da es nun zweifelsohne das bonum supremum ist, welches glückswürdig macht, ergibt sich die besagte Spannung zwischen den beiden Passagen der Kritik der praktischen Vernunft, insofern hier einmal die Tugend, einmal die Heiligkeit als die nämliche Instanz ausgegeben wird. Eine erträgliche Lesart besteht m. E. darin, dass Kant in KpV, AA 05: 110 Tugend nicht streng terminologisch (und vor allem nicht als Gegenbegriff zu Heiligkeit) verwendet, sondern damit allgemein die für das höchste Gute notwendige moralische Qualität des Menschen bezeichnet, welche er wiederum mit dem bonum supremum gleichsetzt. Die Einfügung der »Heiligkeit« am Anfang des Kapitels über das Postulat der Unsterblichkeit wäre dann als präzisierende correctio zu verstehen. Ob dies exegetisch überzeugend ist, mag dahingestellt sein, zumal diese Deutung um den Preis erkauft ist, dass Heiligkeit als Maximalbegriff der Tugend verstanden werden muss, was die von Kant an anderen Stellen betonte qualitative Unterscheidung zwischen beiden Arten moralischer Qualität eigentlich 17

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sondern ein synthetisches ist. Die Antinomie ergibt sich dann daraus, dass, wenn das Verhältnis ein synthetisches sein soll, entweder die Glückseligkeit die Ursache der Tugend sein muss (welche wiederum Ursache der Glückwürdigkeit ist) – oder umgekehrt. Ersteres ist unmöglich, da der Gedanke, dass das Streben nach Glückseligkeit Ursache der Tugend sei, direkt der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft widerspricht. Wer die eigene Glückseligkeit zu seiner Maxime macht, kann niemals im strengen Sinne als moralisch gelten. Dass die Tugend die Ursache der Glückseligkeit sei, ist aber gleichfalls unmöglich, da der Weltenlauf nun einmal so eingerichtet ist, dass der Gute nicht immer glücklich wird; oder, philosophisch präziser formuliert, weil sich das Verhältnis von Ursachen und Wirkungen in der Welt nach Naturgesetzen richtet statt nach »moralischen Gesinnungen des Willens«. 20 Die Lösung dieser Antinomie sieht Kant bekanntlich darin, dass eine »oberste Ursache der Natur« angenommen werden muss, die eine »der moralischen Gesinnung gemäße Causalität hat«. 21 Dies ist nun der kantische deus ex machina, der dafür bürgen soll, dass das Reich der Freiheit und das Reich der Natur endlich doch zusammenfinden; er kann es, weil er selbst über beide Reiche regiert, i. e. Urheber der Natur ist und zugleich nach moralischen Gesetzen regiert. Daher kann Gott allein dafür bürgen, dass es zur proportionalen Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit kommt, die weder aus Natur- noch Freiheitsgesetzen allein erklärbar ist. Wir müssen daher die Existenz Gottes postulieren, da es ansonsten unmöglich wäre, daran zu glauben, dass das höchste Gut, welches in der proportionalen Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit besteht, erreicht werden kann. 22 ausschließt. Systematisch befriedigend im Sinne der »konsequenten Denkungsart« ist m. E. allein die Identifikation des bonum supremum (s. u. Anm. 55). Dieses keineswegs nebensächliche terminologische Problem wird interessanterweise in der Literatur oft gar nicht diskutiert. Wood spricht in Bezug auf das bonum supremum recht vage von »virtue, goodness of will, conformity to duty or the moral law« (Wood: Kant and Religion, S. 37). 20 KpV, AA 05: 113. Hieran ließe sich die weitere, hier nicht zu beantwortende Frage anschließen, ob nicht Kants gesamte Lehre vom höchsten vollendeten Gut, bei der es wesentlich darum geht, dass der gute Mensch auch glücklich werden muss, letztlich motiviert ist durch die traditionell mit der Gestalt des biblischen Hiob verbundenen Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit (welche freilich vom sog. Theodizeeproblem unterschieden werden muss, s. u. Anm. 43). Kant würde dann aus der Notwendigkeit, dass eben jene Gerechtigkeit irgendwann eintreten muss, die Notwendigkeit der Existenz Gottes ableiten, weshalb es für ihn, systematisch konsequent, eigentlich unmöglich erscheinen müsste, die Gerechtigkeit Gottes wie Hiob in Frage zu stellen, weil eben die Gerechtigkeit Gottes der wesentliche Grund für ihn ist, die Existenz desselben zu postulieren. 21 Ebd., 125. 22 In der Metaphysik der Sitten argumentiert Kant etwas anders und m. E. geschickter. Er fragt hier, welche Eigenschaften ein Wesen besitzen muss, das für die Proportionalität von

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An dieser Stelle greift Kant nun auf die Terminologie seiner früheren Schriften zurück. Das höchste abgeleitete Gut, i. e. die Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, wird als notwendiger Zweck und Objekt der reinen praktischen Vernunft ausgewiesen. Wenn wir – und hierin besteht m. E. der Kern dessen, was man den ›praktischen Gottesbeweis‹ nennen könnte – verpflichtet sind, das höchste abgeleitete Gut zu befördern (denn ohne Zweck bzw. Objekt kann die praktische Vernunft niemals sein), sind wir zugleich auch (in einem freilich nicht-moralischen Sinn) dazu verpflichtet, »die Möglichkeit dieses Gutes voraussetzen«, was nur unter der Annahme der Existenz Gottes geschehen kann; oder, wie Kant auch sagen kann, das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Gutes, i. e. des summum bonum consummatum, ist identisch mit dem Postulat des »höchsten ursprünglichen Gutes«, i. e. Gottes. 23 Insofern er hier Gott doch wieder begrifflich als summum bonum originarium ausweist, durchbricht Kant die begriffliche Stringenz, die er selbst zuvor erreicht hatte; wurde doch kurz zuvor noch die Tugend, das summum supremum, als originarium ausgewiesen. 24 Allein, die Konfusion kann vermieden werden, wenn man strikt zwischen oberstem (supremum) und vollendetem (consummatum) höchsten Gut unterscheidet. Dann ergibt sich für Kants reife Lehre vom höchsten Gut folgende begriffliche Topographie: Das höchste Gut kann entweder ein oberstes oder vollendetes Gut sein. Das oberste Gut ist selbst ursprünglich, wohingegen das vollendete höchste Gut abgeleitet ist. Während das oberste Gut die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das vollendete höchste Gut (es fehlt ja noch die Glückseligkeit) darstellt, ist das vollendete höchste Gut selbst insofern perfectissimmum, als es »kein Teil eines noch größeren Ganzen« ist. 25 Von dieser Konstitution des höchsten vollendeten Gutes, i. e. die die Glückswürdigkeit erwerbende moralische Qualität zusammen mit dem proportionalen Maß an Glückseligkeit, muss die Frage nach der Möglichkeit der Wirklichkeit desselben unterschieden werden. Hier ist nun die notwendige und zugleich hinreichende Bedingung, dass ein höchstes ursprüngliches Gut existiert, welches dafür bürgt, dass das höchste abgeleitete Gut, i. e. das höchste vollendete Gut, als erreichbarer Zweck der reinen praktischen Vernunft angenommen werden kann. Diese Unterscheidung liegt quer zu der zuvor etablierten, was insofern nicht verwundert, als sie aus den früheren Schriften Glückswürdigkeit und Glückseligkeit bürgen kann. Nachdem er nachgewiesen hat, dass dieses Wesen u. a. allmächtig und allwissend sein muss, identifiziert er dieses dann ex post als Gott, weil allein ihm eben diese Eigenschaften zukommen. Vgl. MS, AA 06: 439 f. 23 KpV, AA 05: 125. 24 Vgl. ebd., 110. 25 Ebd.

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übernommen wurde. Gleichwohl stellt dies sachlich kein Problem dar, weil die Rede vom ursprünglichen obersten Gut, i. e. der geforderten moralischen Qualität als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des höchsten vollendeten Gutes, im Kontext der Frage nach der Konstitution (oder Essenz, quid est) des höchsten vollendeten Guts begegnet, während die Rede von Gott als dem ursprünglichen höchsten Gut die notwendige und hinreichende Bedingung für die Möglichkeit der Wirklichkeit (oder Existenz, an est) des höchsten vollendeten Gutes darstellt. Es mag sich der Eindruck aufdrängen, dass diese Bemerkungen zugleich übergenau und oberflächlich sind; übergenau, weil sie sich in terminologischen Spitzfindigkeiten verlieren, die zunächst kaum mit der doch eigentlich thematischen Frage nach dem summum malum consummatum in Verbindung stehen, und oberflächlich, weil zentrale Fragen, die gewöhnlich an Kants Lehre vom höchsten Gut gestellt werden (etwa die notorische, wie es denn sowohl moralpsychologisch als auch handlungstheoretisch zu plausibilisieren sei, dass sich die reine praktische Vernunft das höchste vollendete Gut zum Zweck resp. Objekt setzen muss 26), überhaupt nicht thematisiert werden. Das Folgende wird aber hoffentlich diese ungewöhnliche Fokussierung auf terminologische Probleme in Kants Lehre vom höchsten Gut einsichtig werden lassen. Insofern es hier gilt, die Kehrseite der Lehre vom höchsten Gut, i. e. die Lehre vom größten Übel, zu entwickeln, war es notwendig, zuvor die genaue Topographie des begrifflichen Gebiets zu vermessen, in dessen Grenzen jene Lehre zu verorten ist.

3.

Dass Kant Himmel und Hölle nicht als supranaturale Lokalitäten auffasst, sich über Fragen wie die, wie viele Ränge die Hölle habe, wo genau die ›Sodomiten‹ gepeinigt werden und wo die Gegenpäpste, gänzlich ausschweigt, überrascht nicht. Spekulationen über höllische Kreaturen, die, mit flammendem Dreizack bewehrt, die armen Sünder bis in alle Ewigkeit quälen – derartiger Theaterhumbug ist die Sache jenes Mannes nicht, der den Menschen aus seiner »selbst verschuldeten Unmündigkeit« führen will. Aller Phantastereien abhold, bezeichnet Kant in seiner Religionsphilosophie Himmel und

26 Die beste Antwort hierauf gibt Kant m. E. in der Kritik der Urteilskraft, wenn er Spinoza als Repräsentanten eines unglücklichen Atheisten einführt. Vgl. KU, AA 05: 452 f. Genauer dazu: s. u. Anm. 45.

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Hölle vielmehr als Ideale oder transzendentale Ideen, was jede naiv-poetische Gegenständlichkeit à la Dante von Beginn an ausschließt. 27 Wichtig ist nun, dass Kant den Himmel nicht nur als sittliches Ideal und die Hölle nicht nur als Idee absoluter sittlicher Verdorbenheit auffasst. Vielmehr hält er in der Metaphysik Dohna fest: »Himmel das Maximum alles Guten in Ansehung des Wohlbefindens und der Würdigkeit – Hölle das Gegentheil – beides sind Ideale.« 28 Im Ideal des Himmels verbindet sich also die moralische Würdigkeit mit dem »Wohlbefinden«. Es geht nicht um die moralische Vollkommenheit allein, die im Bild des Himmels symbolisiert wird, sondern auch um das »Wohlbefinden«. Substituiert man hier »Wohlbefinden« mit (empirischer) Glückseligkeit, ist hier bereits der Gedanke des höchsten vollendeten Guts, des summum bonum consummatum, angesprochen; besteht dieses, wie oben ausführlich dargestellt, doch in der proportionalen Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit. Das religiöse Ideal des Himmels symbolisiert für Kant mithin nicht allein den höchsten Grad der Moralität, sondern diesen zugleich mit dem höchsten Maximum an Glückseligkeit. Die Himmlischen sind nicht nur moralisch vollkommen, sondern, wie es die Tradition will, zugleich auch selig. Der knappe Hinweis »Hölle das Gegentheil« lässt nun vermuten, dass Kant auch die Hölle nicht einfach mit moralischer Verkommenheit gleichsetzt, sondern vielmehr als Ausdruck für die proportionale Übereinstimmung von (vorläufig formuliert) Unglückswürdigkeit und Unglückseligkeit auffasst – womit dann hier ein erster klarer Hinweis auf das höchste vollendete Übel, das summum malum consummatum, gegeben wäre. In der Danzinger Rationaltheologie findet sich eine Bemerkung, die eben diese Vermutung bestätigt. Die transzendentale Idee des Himmels wird hier gleichgesetzt mit dem »Maximum der Tugend verbunden mit dem Maximo der Seligkeit«, während die Idee der Hölle nunmehr wörtlich als »Maximum der Bosheit verbunden mit dem Maximo der Unglückseligkeit« bezeichnet wird. 29 Insofern Bosheit, i. e. sittliche Verkommenheit, die Bedingung dafür darstellt, unglückswürdig zu sein, ist hier nunmehr explizit die Idee eines summum malum consummatum formuliert.

Vgl. V-Th/Baumbach, AA 28: 1232 sowie V-Met/Dohna, AA 28: 689. In Aufnahme der Terminologie der Kritik der Urteilskraft müsste man hier von einem Ideal der Einbildungskraft, welches »nicht auf Begriffen, sondern auf der Darstellung« beruht, sprechen (KU, AA 05: 232). 28 V-Met/Dohna, AA 28: 689. 29 V-Th/Baumbach, AA 28: 1232. Eine sehr ähnliche Passage findet sich auch in V-PhilTh/Pölitz, AA 28: 1132. Vgl. dazu insgesamt Klinge, Moralische Stufenleiter, 182–184. 27

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Eine terminologisch genauere Entfaltung dieses Gedankens findet sich schließlich in der Natürlichen Theologie Volckmann. Abermals werden Himmel und Hölle als »Ideen in Ansehung von Tugend und Laster« ausgewiesen, welche zugleich aber auch mit dem Gedanken einer proportional zugeteilten Glückseligkeit respektive Unglückseligkeit verknüpft werden. 30 Wichtig für den gegenwärtigen Kontext ist, dass Kant nun vom Himmel als dem »[s]ummum bonum creatum« spricht, welches er mit dem »höchste[n| Gut generaliter oder [dem] gute[n] Wille mit der Seligkeit verbunden« identifiziert. Die Idee der Hölle steht abermals für die Kehrseite, die größte Bosheit oder den »verstocktesten Willen«, verbunden mit »der größten Unseligkeit und dem größten Elend«. 31 Anders als in den bisher angeführten Vorlesungsmitschriften entfaltet Kant hier den Gedanken genauer, indem er ihn mit seiner Lehre von himmlischen Tugenden und teuflischen Lastern verbindet. Die Bezeichnungen »himmlisch« und »teuflisch« dürfen, wie ein Blick in die Metaphysik der Sitten zeigt, 32 hier nicht in einem allzu engen Sinn ausgelegt werden. Mit »himmlischen Tugenden« bezeichnet Kant schlicht die maximale Tugend und teuflische Laster stehen für einen besonders hohen Grad menschlicher Verderbtheit, konkret Undankbarkeit, Neid, Schadenfreude, die gleichwohl noch als menschliche Laster anzusehen sind. Der Bezug auf den Teufel ist hier rein metaphorisch; mit der Idee eines teuflischen Willens, der alle menschlichen Möglichkeiten übersteigt, wie ihn Kant in seiner Religionsschrift thematisiert, hat seine Lehre von den teuflischen Lastern rein gar nichts zu tun. Für den gegenwärtigen Kontext ist nun wichtig, dass Kant mit der himmlischen Tugend exakt die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das höchste vollendete Gut, i. e. das bonum supremum, benennt. Entsprechend müssen dann die teuflischen Laster so aufgefasst werden, dass sie (über Kants Terminologie hinausgehend) das malum supremum versinnbildlichen, welches die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das summum malum consummatum darstellt, i. e. diejenige moralische Qualität, die die Unglücks- oder Elendswürdigkeit bedingt. Dass Kant den Himmel als summum bonum creatum bezeichnet, scheint indes auf seine Auffassung zurückzugehen, dass das höchste vollendete Gut eben nur abgeleitet ist, während Gott selbst das summum bonum originarium darstellt. Überträgt man diesen Gedanken nun abermals auf die Idee der Hölle, so muss festgehalten werden, dass auch diese lediglich das summum malum 30 31 32

V-Th/Volckmann, AA 28: 1132. Ebd. Vgl. dazu Klinge: Moralische Stufenleiter, S. 153–156. 168–173.

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creatum veranschaulicht. Sie ist weder identisch mit dem höchsten Grad an Bosheit (dieser entspricht dem malum supremum, i. e. den teuflischen Lastern), da dieser lediglich das ›Eintrittsticket‹ in die Hölle darstellt, noch ist sie schlicht gleichzusetzen mit dem maximalen Übel schlechthin, i. e. dem summum malum originarium. Für ein solches finden sich m. E. bei Kant keinerlei Hinweise – was auch nicht verwundert, insofern es die dualistische, mit der christlichen Theologie schlechthin nicht zu vereinbarende Vorstellung eines malevolenten Gegengottes implizierte, der, anders als der Teufel, der Macht Gottes nicht untersteht. Ein höchstes ursprüngliches Übel gibt es also für Kant nicht; wohl aber die proportionale Übereinstimmung von Unglückswürdigkeit und Unglückseligkeit, von Bosheit und Elend. Die letzte Formulierung beinhaltet indes eine Ambiguität, die noch der Auflösung bedarf, um die Lehre vom summum malum consummatum abzuschließen. Diese Ambiguität findet sich bei Kant selbst, wenn er davon spricht, dass neben der Bosheit zur Idee der Hölle auch die Vorstellung von »der größten Unseligkeit und dem größten Elend« gehöre.33 Zwischen Unseligkeit und Elend besteht nun ein keineswegs zu ignorierender Unterschied. Während Unseligkeit schlicht die Abwesenheit von Glück (im Sinne der privatio boni) bezeichnet, beinhaltet Elend mehr: die Anwesenheit von wirklichem Leiden. In einer besonders dichten Reflexion kommt Kant selbst auf diesen Unterschied zu sprechen. Dem Himmel, den er hier als Übereinstimmung der »Heiligkeit […] des Willens« mit der »Seligkeit des Zustandes« definiert, können zwei Begriffe entgegengesetzt werden: ein negativer und ein privativer. Privativ ist der Seligkeit, so Kant, das Unglück entgegengesetzt, ein Zustand, »der gar keine Zufridenheit [sic!] übrig lässt«. 34 Unglück kann also schlicht als die Abwesenheit von (empirischer) Glückseligkeit oder Zufriedenheit verstanden werden. Der negative Gegenbegriff zur Seligkeit ist nach Kant indes nicht Unglück, sondern Elend. Anders als beim Unglück, das schlicht widerfährt, enthält das Individuum, das sich in einem solchen Zustand befindet, »in sich selbst die Ursache« dafür, dass es entsprechend leidet. 35 Schlichter formuliert: Anders als für unser Unglück sind wir für unser Elend selbst verantwortlich. Wenn nun die Idee der Hölle voraussetzt, dass der Zustand, in dem wir uns befinden, proportional dem Grad der Bosheit entspricht, wäre es widersinnig, hier von einem Unglück zu sprechen. Man wird nicht schlicht in die Hölle geworfen, man ›verdient‹ sich den Aufenthalt dort selbst durch 33 34 35

V-Th/Volckmann, AA 28: 1132. Refl. 6206, AA 18: 490 f. Ebd.

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moralische Verkommenheit. Folglich muss der empirische Teil des summum malum consummatum, weil er durch dessen moralischen Anteil direkt bedingt ist, auch als Elend und nicht als Unglück aufgefasst werden: »Elend, imgleichen auch einen Willen, der allen moralischen Gesetzen mit Absicht zuwieder handelt, und so entspringt die Idee der Hölle.« 36 Der negative, nicht bloße private Charakter des Elends hat mithin zwei Aspekte, die unterschieden werden müssen. Erstens ist das Elend negativ, weil es in mehr als der bloßen ›Beraubung‹ eines glückseligen Zustandes besteht. Kant nimmt daher auch die traditionelle Rede von den »hollischen Qvaalen« auf, 37 weil sie zum Ausdruck bringt, dass der zur Hölle Verdammte dort größeres Leid erfährt als jenes, welches ihm schon dadurch zuteilwird, dass ihm das Tor zum Himmel verschlossen bleibt. Zweitens ist das Elend negativ, weil es dem Individuum nicht einfach widerfährt, sondern von diesem selbst erworben wird. Es ist mithin nicht nur das Resultat dessen, dass das Tun des Guten unterlassen wird, sondern muss als Antwort darauf verstanden werden, dass aktiv das Böse getan wird, i. e., den moralischen Gesetzen zuwidergehandelt wird. Akzeptiert man diese Schlussfolgerungen, bedarf auch der bisher verwendete Begriff der Unglückswürdigkeit, i. e. der Bosheit als conditio sine qua non für das höchste vollendete Übel, einer Korrektur. Dabei muss zunächst festgehalten werden, dass der Begriff Unglückswürdigkeit mehr beinhaltet als die Unwürdigkeit, glücklich zu sein, oder die Glücksunwürdigkeit. Glücksunwürdigkeit ist eindeutig ein privativer Begriff und mithin unzureichend, um Kants Rede vom malum supremum aufzuschließen. Wer glücksunwürdig ist, ermangelt schlicht jenes Grades an moralischer Vollkommenheit, der die Teilhabe am höchsten vollendeten Gut erlaubt. Der erworbene Grad an Moralität reicht nicht hin, um einen entsprechend proportionierten Grad an Zufriedenheit zu erreichen. Wenn man nun nicht allein die Heiligkeit des Willens als das bonum supremum ansieht, sondern oder auch geringere moralische Qualitäten als ausreichend betrachtet, um Anteil am höchsten vollendeten Gut zu erlangen, ergeben sich Probleme mit Kants Konzeption. Geht man davon aus, dass jede positive moralische Qualität einen proportional entsprechenden Grad an Seligkeit mit sich führen muss, um den Begriff des höchsten vollendeten Gutes zu erreichen, bedeutete dies, dass ein Mensch, der nur einen sehr geringen Grad an Moralität aufweist, dennoch Anspruch auf empirische Glückseligkeit hat – wenn auch, entsprechend seinem Verdienst, nur auf einen sehr geringen. Wenn man hingegen Heiligkeit des Willens als conditio sine qua non für 36 37

Ebd. Refl. 6206, AA 28: 491.

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die Teilhabe am höchsten vollendeten Gut ansieht – was m. E. schon deshalb plausibel ist, weil sich ansonsten das Unsterblichkeitspostulat erübrigen würde –, dann ergibt sich freilich ein anderes Bild. 38 Glücksunwürdig wäre demnach jeder, der selbst auf der Bahn der Unsterblichkeit nicht zum höchsten Grad an Moralität, i. e. Heiligkeit des Willens, gelangt. Dies scheint Kants Position auch deshalb am ehesten zu entsprechen, da er moralische ›Zwischenstufen‹ rigoros ablehnt, wobei er nicht zuletzt explizit auf die christliche Vorstellung von Himmel und Hölle verweist. 39 Dessen ungeachtet bleibt bestehen, dass der Glücksunwürdige schlicht nicht in den Himmel eingeht, i. e. keinen Anteil am höchsten vollendeten Gut gewinnt. Dass er damit zur Hölle fährt, ist keineswegs gesagt. Er könnte sich auch einfach in nichts auflösen, womit er in einen Zustand überginge, der seiner moralischen Qualität vollkommen entspräche: Er ist weder warm noch kalt, hat sich weder die himmlischen Freuden noch die höllischen Qualen verdient. Was ihm gebührt, ist postmortale Nichtexistenz. Der Begriff Unglückswürdigkeit besitzt demgegenüber den Vorzug, dass er diese Möglichkeit ausschließt. Hier ermangelt das Individuum nicht bloß der Würdigkeit, in einen seligen Zustand überzugehen, sondern es ist vielmehr ›würdig‹, für alle Ewigkeit unselig zu existieren. Obwohl Unglückswürdigkeit stärker negativ konnotiert ist als bloße Glücksunwürdigkeit, scheint auch dieser Begriff den Punkt noch nicht ganz zu treffen. Wie oben ausgeführt, versteht Kant selbst »Unglück« als einen privativen Begriff im Gegensatz zum negativen des Elends. Wollte man also vollends konsequent sein – und dies muss ja nach der kantischen »Denkungsart« stets das Ziel sein –, so müsste man statt von Unglückswürdigkeit von Elendswürdigkeit sprechen, um die Leerstelle des malum supremum bei Kant zu füllen. Dieser Begriff ist nun abermals in zweifacher Weise negativ: Einmal, weil es darum geht, eines bestimmten schlechten Zustandes würdig zu sein, statt nur eines besseren Zustandes unwürdig zu sein (dies wäre privativ), und dann, weil dieser Zustand selbst nicht nur in der Abwesenheit von Glück, sondern in der Anwesenheit von Leid bzw. Elend besteht, welches durch das Bild der höllischen Qualen veranschaulicht wird, die mehr beinhalten als die Ermangelung himmlischer Freuden. Denkt man nun Kants Andeutungen über ein höchstes vollendetes Übel, wie es in der Idee der Hölle veranschaulicht wird, über das unmittelbar aus S. o. Anm. 19. Vgl. RGV, AA 06: 60, Anm. Kant verweist hier auf den Gegensatz zwischen Himmel und Hölle (und nicht etwa Erde) als Symbol dafür, dass die Reiche des Guten und des Bösen durch eine »unermeßliche Kluft« (und nicht etwa graduell) voneinander getrennt sind. Vgl. auch MS, AA 06: 461. 38

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dem Text zu Erhebende hinaus ›konsequent‹ zu Ende, ergibt sich folgendes Bild: Das höchste vollendete Übel ist nicht ursprünglich – dies wäre die Idee eines malevolenten Gegengottes –, sondern abgeleitet oder geschaffen (summum malum creatum). Ebenso wie das höchste vollendete Gut, dessen direktes Spiegelbild es ist, hat das höchste vollendete Übel zwei proportional einander entsprechende Bestandteile, von denen der eine moralisch, der andere empirisch ist. Der moralische Anteil besteht in der maximalen Bosheit (als Gegenbegriff zur Heiligkeit), welche durch die teuflischen Laster symbolisiert wird. Die maximale Bosheit stellt dabei zugleich das malum supremum dar, welches die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das höchste vollendete Übel ist. Die Bosheit darf nicht privativ als Unwürdigkeit, glücklich zu sein, gedacht werden, sondern muss vielmehr als die Würdigkeit verstanden werden, in einen maximal schlechten Zustand überzugehen. Da Bosheit nicht einfach bedeutet, das Gute zu unterlassen, verspielt der Böse auch nicht einfach die Chance, glückselig zu werden, sondern erwirbt sich ein ›ticket to hell‹. Zugleich darf das malum supremum aber auch nicht als bloße Unglückswürdigkeit identifiziert werden. Dies hat wiederum mit dem zweiten, empirischen Teil des höchsten Übels zu tun. Auch der empirische Teil des höchsten vollendeten Übels wäre falsch verstanden, erblickte man darin eine bloße privatio boni, i. e. die Abwesenheit der Zufriedenheit, ein Zustand, der dem Nichts vergleichbar wäre. Dieser empirische Teil besteht, sosehr Kant auch von der Idee höllischer Strafen Abstand nimmt, vielmehr in dem Erdulden wirklicher Leiden (bildlich: höllische Qualen). Deshalb genügt der versteckt privative Ausdruck des Unglücks auch nicht, um den Zustand der Verdammnis zu fassen, sondern es bedarf des stärkeren des Elends. Entsprechend muss nun auch das malum supremum als Elendswürdigkeit aufgefasst werden, i. e. die selbst erworbene Würdigkeit, einen Zustand zu erleiden, der in mehr besteht als der bloßen Abwesenheit des Glücks. Bündig gefasst, kann daher im Sinne der »konsequenten Denkungsart« gefolgert werden: Kant deutet in seinen Vorlesungsmitschriften als Gegenbegriff zum höchsten vollendeten Gut die Lehre von einem höchsten vollendeten Übel an. Dieses summum malum consummatum besteht in der proportionalen Übereinstimmung von moralischer Elendswürdigkeit (malum supremum) und empirischem Elend. Die christliche Religion fasst dies durch das Symbol der Hölle: Die Verdammten erleiden ein Elend, das sie sich selbst verdient haben; sie büßen für ihre Sünden mit den Qualen, die sie ›in der Hölle‹ erleiden.

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4.

Es bleibt nun übrig zu überprüfen, inwiefern sich Kants philosophische Rekonstruktion der Hölle wenn auch nicht explizit, so zumindest dem Sachgehalt nach auch in seinen Druckschriften wiederfindet. Dabei liegt der Fokus nicht darauf, Kants direkte Bezugnahmen auf Höllenvorstellungen, die oft nur en passant erfolgen, zu analysieren, sondern darauf, die Einbettung der Vorstellung eines ultimativ unseligen Zustands in den Rahmen seiner vernünftigen Moralphilosophie nachzuverfolgen. Derart deutliche Passagen wie in den Vorlesungsnachschriften finden sich m. W. in den gedruckten Werken nicht. Dennoch lassen sich, wie bereits eingangs betont, in zwei kleineren Arbeiten Kants (ich beschränke mich dabei auf die kritische Periode) zumindest Andeutungen in Richtung jenes Gedankens finden, dass derjenige, der des ewigen Elends würdig ist, mit der gleichen Notwendigkeit zu diesem Zustand gelangen muss wie der Glückswürdige zu seiner Glückseligkeit. In seiner Schrift Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee von 1791 nennt Kant bekanntlich drei Probleme, die dem Glauben an Gott als dem gütigen Regenten der Welt entgegenstehen. Er spricht hier genauer von drei Arten des »Zweckwidrigen« in der Schöpfung, welche der Weisheit des Urhebers derselben entgegengesetzt werden können. 40 Die erste Art des Zweckwidrigen nennt er das schlechthin Zweckwidrige, welches in keiner Weise gebilligt werden kann. Dieser ersten Art des Zweckwidrigen koordiniert Kant mit geschicktem Bezug auf die Eigenschaften Gottes den Einwurf gegen die Heiligkeit des göttlichen Gesetzgebers. Hier geht es um das Moralisch-Böse in der Welt, also mit Leibniz gesprochen das malum morale. 41 Trägt man nun ein, dass für Kant der Zweck der Welt in der Erreichung des höchsten Gutes besteht, scheint das Problem hier darin zu liegen, dass die Existenz der Sünde (wie Kant wörtlich festhält) 42 nicht mit der moralischen Vollkommenheit, i. e. Heiligkeit, des Schöpfers zu vereinbaren ist. Die zweite Form des Zweckwidrigen nennt Kant das bedingt Zweckwidrige, welches niemals als Zweck, jedoch als Mittel gebilligt werden kann. Dieses Zweckwidrige bezeichnet er auch als das natürliche Übel, in Leibniz’ Terminologie also das malum physicum. Diese Zweckwidrigkeit wird nun mit dem Einwurf gegen die Güte des Schöpfergottes koordiniert. Die Tatsache, Vgl. zum Folgenden MpVT, AA 08: 256 f. Leibniz unterscheidet bekanntlich zwischen dem moralischen Übel (malum morale), dem physischen Übel (malum physicum) und dem metaphysischen Übel (malum metaphysicum), das in der schlichten Unvollkommenheit der Schöpfung besteht. Vgl. Gottfried W. Leibniz: Die Theodizee I (= Philosophische Schriften, Bd. 2.1.), Frankfurt a. M. 1996, S. 241. 42 Vgl. EAD, AA 08: 257 f. 40 41

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dass Seuchen und andere ›Naturkatastrophen‹ die armen Menschen plagen, kann möglicherweise, wie Leibniz und andere es getan haben, als Instrument einer (freilich äußerst fragwürdigen) göttlichen Pädagogik angesehen werden. Dieses Übel kann daher als Mittel dienen, niemals aber als Zweck; selbst der Vertreter einer ›schwarzen‹ Pädagogik würde bestreiten, dass der Zweck seiner Handlungen in der Züchtigung der ihm Anvertrauten selbst besteht. Die dritte Form des Zweckwidrigen – und auf diese kommt es nun entscheidend an – identifiziert Kant mit dem Missverhältnis von Verbrechen und Strafen in der Welt. Der Einwurf gegen die göttliche Weisheit, der sich hieraus ergibt, ist eine Anfrage an die göttliche Gerechtigkeit. Es ist eben dieses Problem, das gemeinhin mit der biblischen Figur des Hiob verbunden wird: Der fromme Gerechte, der um so viel mehr leiden muss als die ärgsten Sünder. 43 Diese ›schreiende Ungerechtigkeit‹ ist es, die für Kant die dritte und besonders herausfordernde Form der Zweckwidrigkeit darstellt. 44 Bezeichnend an der Einführung der dritten Form des Zweckwidrigen ist bereits, dass Kant expressis verbis vom Missverhältnis zwischen Verbrechen und Strafe spricht. Geht man davon aus, dass die Erreichung des höchsten vollendeten Guts der ultimative Zweck der Welt ist, scheint dies zunächst überraschend. Statt sich über das Missverhältnis zwischen Verbrechen und Strafe zu beklagen, müsste die Anfrage doch vielmehr lauten, warum der Wohltuende nicht belohnt, der Glückswürdige nicht glückselig wird – so, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft mit Bezug auf Spinoza die Frage aufwirft. 45 Kant formuliert in seiner Theodizeeschrift aber eindeutig negativ: In der Literatur wird das Theodizeeproblem oft gleichgesetzt mit jenem Problem, das im biblischen Hiob-Buch verhandelt wird. Kant ist hier weit scharfsinniger als viele rezente Autoren: Er sieht klar, dass das Leiden Hiobs Anlass dazu gibt, einen Aspekt des Theodizeeproblems zu thematisieren, keineswegs aber mit diesem identisch ist. Neben der Anfrage an die göttliche Gerechtigkeit geht es beim Theodizeeproblem eben auch um jene theologischen ›Bauchschmerzen‹, die das natürliche und moralische Übel bereiten (mit Leibniz ließe sich freilich noch das metaphysische ergänzen). Zur Thematisierung dieser Übel gibt die Geschichte Hiobs nur indirekt Anlass; konkret geht es um die Frage der göttlichen Gerechtigkeit, nicht allgemein um die, ob die Existenz Gottes angesichts des Übels insgesamt zu rechtfertigen sei; eine Frage, die sich zudem in dieser Form auch nur einem neuzeitlichen Bewusstsein stellen kann, für das die Existenz Gottes selbst verhandelbar geworden ist. 44 Mit der zweiten Art des Zweckwidrigen ist diese dritte insofern verbunden, als Kant zumindest den Gedanken zulässt, dass »Übel und Schmerzen als Strafen« vom göttlichen Zuchtmeister eingesetzt werden; aus dem offenkundigen Missverhältnis zwischen beiden, i. e., weil klarer Weise nicht jedem sein »Recht widerfährt«, folgt dann die dritte Form des Zweckwidrigen (vgl. MpVT, AA 08: 257). 45 Spinoza kann laut Kant seinen Atheismus deshalb nicht durchhalten, weil er sieht, dass »die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, […] unangesehen ihrer Würdigkeit glücklich zu sein dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des 43

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Nicht, dass es dem moralischen Wohlgesinnten nicht besser geht, sondern dass der Schurke seiner Strafe entgeht, ist für ihn der Grund, die göttliche Gerechtigkeit in Frage zu stellen. In der kritischen Examinierung, die Kant jenen Versuchen angedeihen lässt, die eine Erklärung für die (scheinbare) Ungerechtigkeit des Weltenurhebers zu geben vermeinen, bestätigt sich dieser Eindruck. In den ersten beiden Abschnitten fokussiert Kant sich ganz auf das Verhältnis von Schuld und Strafen; erst im dritten spricht er allgemeiner vom »moralischen Werth des Menschen und dem Loose des Menschen«. 46 Die einzelnen Argumente brauchen hier nicht genauer referiert zu werden, zumal Kant sie alle recht schnell in ihrer Problematik entlarvt. Weder die Vorstellung, dass alle Schuld ihre Strafe schon in sich trage, insofern den Sünder sein Gewissen peinige, noch die, dass das Ringen mit Leiden den moralischen Charakter stärke (modern gesprochen wäre dies die soul making theodicy) 47, noch die vermeintlich tröstliche Auskunft, dass, wenn schon auf Erden keine Gerechtigkeit zu finden sei, zumindest Grund bestehe, auf einen Ausgleich im Jenseits zu hoffen, vermögen Kant zu überzeugen. Die Anklage gegen die Gerechtigkeit Gottes kann für Kant mit den Mitteln der Philosophie, wie ja bereits der berühmte Titel seiner Schrift verrät, nicht gelöst werden. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist aber entscheidend, dass Kant sich auch hier wider Erwarten nicht (wie in der dritten Kritik) darüber beklagt, dass die Glückseligen nicht glücklich werden, sondern das Problem konsequent mit der »Straflosigkeit des Lasterhaften« identifiziert. 48 Damit ist nun ein klarer systematischer Bezug zur Lehre vom summum malum consummatum hergestellt: Es geht um die Elendswürdigkeit der Elendswürdigen. Freilich entfaltet Kant seinen Gedanken in der Theodizeeschrift nicht; vielmehr lässt er sich aus ihr nur erschließen, und das zudem nur dort, wo Kant das Problem exponiert, nicht in seiner eigenen Auflösung desselben. Was die Frage anbelangt, inwieweit sich die Lehre vom summum malum consummatum auch in den Druckschriften findet, ist das Resultat daher zunächst ernüchternd. Es bleibt bei einer Andeutung, die nicht einmal intendiert sein muss.

Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Thieren der Erde unterworfen« sind und bleiben werden (KU, AA 05: 452 f.). 46 MpVT, AA 08: 262. 47 Vgl. hierzu Daniel Speak: »Free Will and Soul-Making-Theodicees«, in: Justin McBrayer/Daniel Howard-Snyder (Hgg.): The Blackwell Companion to the Problem of Evil, Malden, MA et al 2013, S. 205–221. 48 MpVT, AA 08: 261.

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Dieser Eindruck wird noch durch einen Blick bestärkt in dasjenige Werk, in welchem am ehesten eine wirkliche philosophische ›Rekonstruktion der Hölle‹ zu erwarten wäre: Kants Versuch, die christliche Eschatologie mit den Mitteln seiner Philosophie zu interpretieren, seine kleine, aber religionsphilosophisch bedeutsame Schrift Das Ende aller Dinge. Für die Frage, ob Kant mit dem summum malum consummatum ein transzendentalphilosophisches Äquivalent zur Vorstellung von der Hölle geschaffen hat, ist die Schrift deshalb relevant, weil Kant, wenn auch mit deutlichen Kautelen, für das votiert, was in der theologischen Literatur unter dem nicht ganz glücklichen Titel eines »doppelten Ausgangs« der Heilsgeschichte firmiert. Gemeint ist damit, im Gegensatz zur Vorstellung einer Allversöhnung, dass es eben doch so etwas gebe wie eine Verwerfung – nicht nur die Verheißung ewiger Freuden, sondern auch das Schreckensbild unaufhörlichen Leidens. Abermals muss man dafür nicht die phantastischen Vorstellungen vom gefräßig offenstehenden Höllenrachen bedienen; es reicht theologisch gesehen schlicht aus, die Möglichkeit zuzugestehen, dass nicht alle Menschen von Gott zur Seligkeit ersehen sind. Schriftworte wie die berühmte Rede Christi vom Weltgericht (Matth 25,31–46) legen diese Möglichkeit zumindest äußerst nahe. Kant argumentiert nun nicht als Theologe, sondern als Moralphilosoph. Was seiner Meinung nach für die Option des »doppelten Ausgangs« (oder, wie es bei Kant wörtlich heißt, des »dualistischen Systems« 49) spricht, ist ein eminent praktischer Grund. Er liegt genauer darin, dass »wir uns auch der jenem Verdienste oder dieser Schuld angemessenen Folgen unter Herrschaft des guten oder des bösen Princips für die Ewigkeit gegenwärtigen« müssen. 50 Der Verdienstgedanke mag hier irritierten; dennoch ist gerade damit abermals ein Bezug zu Lehre vom höchsten vollendeten Gut bzw. Übel hergestellt. Kein Verdienst kann ohne Belohnung bleiben, der Glückwürdige muss glückselig werden; umgekehrt gilt aber auch: Keine Schuld darf ohne »angemessene Folgen« bleiben, der Elendswürdige muss elend werden. Daher urteilt Kant auch, dass es »weise [sei,] so zu handeln, als ob ein anderes Leben und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen, samt seinen Folgen bei dem Eintritt in dasselbe unveränderlich sei«. 51 Kant ist kein spekulativer Theologe, der sich die Frage stellt, ob es ein zukünftiges Leben gebe; er ist vielmehr der Philosoph, der von der praktischen Notwendigkeit des Postulats der Unsterblichkeit überzeugt ist. Daher muss hier auch das »als ob« betont werden: Wir sollen so leben, als ob es ein zu49 50 51

EAD, AA 08: 330 f. Ebd. Ebd.

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künftiges, postmortales Dasein gäbe. Zweierlei ist dabei bemerkenswert: Kant hält erstens fest, dass der moralische Zustand bei dem Eintritt in das »andere Leben« unveränderlich ist. Eine »Herzensänderung« oder, weniger metaphorisch, eine »Revolution in der Gesinnung im Menschen« 52 scheint postmortal nicht mehr möglich zu sein; wir schreiten, auch in der Ewigkeit, auf der moralischen Bahn fort, die wir im Leben gewählt haben. Zweitens sind laut Kant bestimmte Folgen mit dem Eintritt in das »andere Leben« zu gewärtigen, welche nach dem zuvor Gesagten zweierlei Natur, i. e. so, wie es das dualistische System vorsieht, sein müssen. 53 Allzu konkret wird Kant hier nicht, nur en passant spricht er im Folgenden einmal von den Bewohnern des Himmels und der Hölle. 54 Klar ist jedoch, dass Kant sein Unsterblichkeitspostulat hier nicht nur auf den unendlichen moralischen Progress bezieht. Vielmehr fordert er hier aus rein praktischen Gründen, dass wir so leben müssten, als ob es auch eine Unsterblichkeit der Bösen gäbe, einen ewigen Progress zum schlechthin Bösen – mit den entsprechenden, nicht näher genannten Folgen. Bezieht man diese Überlegungen nun auf die Lehre vom summum malum consummatum, ergibt sich folgendes Bild: Ebenso wie der infinite Progress zum Guten Bedingung für den moralischen Teil des höchsten vollendeten Gutes ist, i. e. die moralische Vollkommenheit, welche zugleich glückswürdig macht und damit das Postulat der Unsterblichkeit motiviert, 55 gibt es auch einen infiniten Progress zum Bösen, der Teil des höchsten vollendeten Übels Vgl. RGV, AA 06: 47. In seinen einleitenden Bemerkungen spricht Kant von dem Anfang einer »seligen (oder unseligen) Ewigkeit« (EAD, AA 08: 328). 54 EAD, AA 08: 334 f. 55 Kant betont gleich zu Beginn des Abschnitts über das Postulat der Unsterblichkeit, dass die »völlige Angemessenheit der Gesinnungen« zum moralischen Gesetze oder »Heiligkeit« die »oberste Bedingung des höchsten Gutes«, also das bonum supremum, darstellt (KpV, AA 05: 122, s. o. Anm. 19). Daraus wird deutlich, dass eine mögliche Deutung des höchsten vollendeten Gutes bei Kant klarer Weise abgewiesen werden muss; eben eine solche, die den Gedanken der Proportionalität dahingehend missversteht, als ginge es hier darum, dass jeder einen so großen Anteil an der Glückseligkeit erhalte, wie er ihn sich dadurch, dass er der moralischen Maxime bis zu einem gewissen Grad die Oberherrschaft über die Neigungen verschafft, verdient habe. Eine derart graduelle, dem Prinzip suum cuique verpflichtete Deutung ist nicht im Sinne Kants. Nicht ein immer strebendes Bemühen, sondern tatsächliche moralische Vollkommenheit (also Heiligkeit, nicht Tugend, trotz gelegentlich anders lautender Stellen) wird als notwendige Bedingung für die Erreichung des summum bonum consummatum von Kant vorausgesetzt. Für das summum malum consummatum müsste dann spiegelbildlich gelten, dass dieses nur erreicht werden kann durch maximale Bosheit, also vollkommene Verderbtheit der Maximen. Dass Kant graduellen Abstufungen zwischen Gut und Böse überhaupt (auch gerade auch mit Bezug auf die Bilder von Himmel und Hölle) feind ist, wurde bereits betont (RGV, AA 06: 60; s. o. Anm. 39). 52 53

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ist, i. e. die moralische Verderbtheit, welche zugleich elendswürdig macht und ihrerseits das Postulat einer Unsterblichkeit, nunmehr aber mit negativem Vorzeichen, als praktische Notwendigkeit erweist. Der Böse nähert sich postmortal immer weiter dem ›Ideal‹ vollkommener Bosheit an, und erwirbt damit zugleich das ›Recht‹ auf immer größeres Elend; auch davon müssen wir ausgehen, auch das müssen wir aus rein moralischen Gründen postulieren. Es ist nun freilich nicht zu leugnen, dass dieser Gedanke zwar die Lehre vom summum malum consummatum in interessanter Weise erweitert, insofern er das Unsterblichkeitspostulat damit verbindet. Wäre diese Lehre aber nicht bereits aus den Vorlesungsmitschriften bekannt, könnten die sparsamen Bemerkungen in Das Ende aller Dinge kaum als Beleg dafür angeführt werden. Auch jene Druckschrift Kants, in der am ehesten eine wirkliche Entfaltung der Lehre vom höchsten vollendeten Übel zu erwarten gewesen wäre, unterlässt diese. Über die Gründe dafür zu spekulieren, ist müßig. Stattdessen muss konzediert werden, dass die Lehre vom summum malum consummatum eine Konstruktion darstellt, die sich auf Kants Vorlesungen stützen, auf seine Druckschriften aber höchstes beziehen lässt. Anders gewendet: Man muss an diesem Punkt konsequenter sein als Kant selbst, um zu dem nämlichen Ergebnis zu gelangen; aber vielleicht ist es ja gerade dies, was die »konsequente Denkungsart« vom Kant-Ausleger fordert.

5.

Die vorliegende Studie widmete sich Kants konsequenter Denkungsart im Bereich der Religionsphilosophie. Als konkretes Beispiel diente dabei seine philosophische Rekonstruktion der Hölle. Dabei wurde von Beginn an vorausgesetzt, dass die Hölle als supranaturaler Ort, den die menschliche Phantasie mit den Farben der Grausamkeit ausgemalt hat, den Aufklärer Kant kaum interessiert. Seine wenigen Anmerkungen, die sich auf dieses Phantasiegebilde beziehen, waren daher auch nicht Gegenstand der Untersuchung. Vielmehr sollte gezeigt werden, dass Kant in Entsprechung zu seiner Lehre vom höchsten vollendeten Gut ein höchstes vollendetes Übel (summum malum consummatum) kennt. Um diese Vorstellung genauer fassen zu können, wurde zunächst eine terminologische Untersuchung der Lehre vom höchsten Guten vorgenommen. Das düstere Gegenbild zum höchsten Gut selbst wurde dann anhand von einschlägigen Vorlesungsmitschriften im Detail nachgezeichnet. Im Ergebnis ließ sich dabei konstatieren, dass Kant das höchste vollendete Übel als Übereinstimmung von Elendswürdigkeit und Elend denkt. Der Blick auf die Druckschriften war insofern ernüchternd, als sich zeigte,

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dass Kant hier die Lehre vom summum malum consummatum zwar andeutet, aber keineswegs in systematischer Weise entwickelt. Dies wirft abschließend die Frage auf, ob der Advokat der konsequenten Denkungsart nicht selbst vor einer Konsequenz zurückscheut, die weit mehr als nur seine Religionsphilosophie betrifft. Wenn die Übereinstimmung zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit als letzter Zweck menschlichen Handelns angegeben wird – muss dann nicht auch, angesichts der Faktizität moralischen Scheiterns, zugegeben werden, dass auch ein anderer ›Endzustand‹ möglich ist? Reicht es aus, schlicht zu stipulieren, dass, wer nicht glückswürdig ist, auch nicht glückselig ist, und die Frage, was mit jenen geschieht, die sich moralisch verfehlen, einfach auszublenden? So unbequem der Gedanke erscheinen mag: Es würde Kants Denken zutiefst widersprechen, wenn man sich mit einem achselzuckenden »nicht glückswürdig, also auch nicht glückselig«, i. e. einer bloßen privatio boni, begnügte. Ist nur das höchste vollendete Gute notwendig, ja derart zwingend, dass es zur Annahme der Existenz Gottes nötigt; oder besitzt nicht auch die Vorstellung, dass der Schuldige seine gerechte Strafe erhalten muss, eine ähnlich zwingende Kraft? Könnte nicht allein schon hieraus ein ›praktischer Gottesbeweis‹ folgen? Der Atheist Spinoza befindet sich laut Kant in einer unerträglichen Lage, weil er die Gerechten um sich sieht und keine Hoffnung darauf hat, dass sie jemals glücklich werden können. 56 Wie verhält es sich aber nun, wenn eben jene Gerechten Opfer schrecklicher Verbrechen werden, diejenigen, die diese begangen haben, aber ungestraft davonkommen? Ist dies nicht im gleichen Sinne wie das fehlende Glück der Gerechten unerträglich und lässt daher den praktischen Glauben an die Existenz Gottes notwendig werden? Diese Fragen berühren den Bereich des Spekulativen. Sie brauchen hier auch nicht beantwortet zu werden. Wohl aber regen sie dazu an, kritisch zu hinterfragen, ob Kant bei seinem Lehrstück vom höchsten Gut sich einer nicht unerheblichen Inkonsequenz schuldig gemacht hat, indem er in seinen Druckschriften die Lehre von dessen dunklem Gegenstück weitgehend ausspart. Die Vorlesungsmitschriften belegen, dass Kant die Notwendigkeit durchaus gesehen hat, seine Lehre vom höchsten vollendeten Gut durch eine vom höchsten vollendeten Übel zu ergänzen und so das dualistische Moment seiner praktischen, rein philosophischen Eschatologie deutlicher zur Geltung zu bringen. In seinen Druckschriften scheint Kant diesen Gedanken weitgehend zu perhorreszieren. Dies ist psychologisch insofern leicht zu erklären, als dem Gedanken an ein ewiges, hoffnungsloses Elend etwas zutiefst Unmenschliches anhaftet. Dass Kant auf der ›road to hell‹ gedanklich nur einige Schritte 56

S. o. Anm. 45.

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getan hat, ist menschlich mehr als verständlich. Ob die konsequente Denkungsart hier mehr Mut erfordert hätte – dies darf, mit Kant über Kant hinaus, zumindest als Anfrage formuliert werden.

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I V. KO NS EQ UE NT ES W EIT ER DEN KEN

Dietmar H. Heidemann

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts Zur Herkunft des Idealismus des Deutschen Idealismus

1. Einleitung

»Denkungsart«, heißt es in Adelungs Grammatisch-Kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, sei »die ganze zur Fertigkeit gewordene Art und Weise eines Menschen nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln.« 1 Bemerkenswert an dieser Worterklärung ist die Hervorhebung der Bedeutungskomponente des Handelns als eines an sich gefestigten Talents oder Vermögens zum Praktischen. Und tatsächlich findet sich auch bei Kant die semantische Ausweitung dieses in seinem Werk so schillernden Begriffs auf den Bereich des Praktischen: »Denkungsart ist immer was Moralisches.« (V-Lo/Dohna, AA 24: 779) Dass Kants Verständnis von »Denkungsart« wohlüberlegt und nicht lediglich beiläufig erdacht ist, zeigt die Abgrenzung vom Begriff »Denkart«: »Doch könnte man sagen, Denkart wäre die methodus. Die Methode ist 1. populär – diese ist für den gemeinen Verstand – in concreto. 2. scholastisch – gehört für Wissenschaften – in abstracto.« (V-Lo/Dohna, AA 24: 779) Das Attribut »scholastisch« versteht Kant dabei nicht pejorativ, sondern im Sinne philosophischer Systematizität durchaus positiv. 2 Dort, wo Kant in seinem Werk von »Denkungsart« bzw. »Denkart« spricht, geht es schließlich stets um die kritische Reflexion über Grundsätzliches und weit weniger um Fälle partikularen Erkennens oder Handelns. Diese sind von seVgl. die digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, , abgerufen am 15. 04. 2023. Referenz zur gedruckten Ausgabe: Bd. 1, Spalte 1450. 2 Der Kontext dieser der Logik Dohna-Wundlaken entnommenen Stelle zeigt eine klare Abhängigkeit von den Ausführungen Baumgartens zum methodischen Denken in der für Kant so wichtigen Acroasis Logica. In Christianum L.B. De Wolff Dictabat, Halle, Magdeburg 1761, §§ 294–300. Mit Ausnahme der drei Kritiken werden Kants Werke mit Angabe der Band- und Seitenzahlen zitiert nach: Gesammelte Schriften, Hg.: Band I–XXII Preußische Akademie der Wissenschaften, Band XXIII Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Band XXIV Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900 ff. 1

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kundärer Bedeutung und verweisen allenfalls auf das philosophisch Grundsätzliche. Allerdings ist die strikte Unterscheidung zwischen dem Moralischen der Denkungsart und dem Methodischen der Denkart in Kants (kritischem) Werk nicht von Anfang an bestimmend. Auch wenn er den Begriff der Denkungsart in seinen Schriften vielfach in Zusammenhang mit moralischpraktischen Überlegungen verwendet, bezieht ihn der kritische Kant zunächst fast ausschließlich auf das theoretische Erkennen. In der Kritik der reinen Vernunft wird etwa »Kritik« selbst als Beispiel einer »gründlichen Denkungsart« (KrV, A XI, Anm.) bezeichnet oder die Transzendentalphilosophie als solche gilt als »veränderte Methode der Denkungsart« (KrV, B XVIII). Demgegenüber spricht Kant auch von der »sehr verschiedenen Denkungsart der Naturforscher« (KrV, A 655/B 683). 3 In der Kritik der praktischen Vernunft dagegen wird »Denkungsart« klar moralisch-praktisch aufgefasst, nämlich als »sittliche[] Denkungsart« (KpV, A 229) oder »Denkungsart nach moralischen Gesetzen« (KpV, A 286). 4 Die Kritik der Urteilskraft setzt dies weitgehend fort, auch wenn hier neben der rein moralisch-praktischen auch die moralischästhetische Bedeutung von »Denkungsart« anzutreffen ist: »die Denkungsart derer […], die kein Gefühl für die schöne Natur haben« (KU, B 173) oder »die unmittelbare Lust am Schönen der Natur« sei »gleichfalls eine gewisse Liberalität der Denkungsart« (KU, B 116). 5 Ohnehin ist die dritte Kritik in gewisser Weise kanonisch für den Begriff der Denkungsart, nicht zuletzt für die Wortkombination »konsequente Denkungsart«. Denn hier systematisiert Kant »Denkungsart« anhand der Unterscheidung dreier Unterarten: Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören zwar nicht hierher, als Teile der Geschmackskritik, können aber doch zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen. Es sind folgende: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes anderen denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilsfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart. (KU, B 158)

Weitere signifikante Stellen der Kritik der reinen Vernunft sind A 270/B 326, A 465/B 493, A 551/B 579, A 666/B 694, A 676/B 704, A 748/B 776, A 757/B 785, B XXXVII, B 275. Die Kritik der reinen Vernunft wird zitiert nach der Ausgabe von Jens Timmermann (Hg.), Hamburg 1998 (A für die erste Auflage, B für die zweite Auflage). 4 Vgl. auch KpV, A 11, 125, 152, 177–178, 209, 271, 279. Die Kritik der praktischen Vernunft wird zitiert nach der Ausgabe von Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme (Hgg.), Hamburg 2003 (Seitenangaben nach der A-Ausgabe). 5 Vgl. auch KU, B XX, 16, 51, 78, 107, 132, 158–160, 166–168, 170, 218 Anm., 229, 417, 426, 462, 464. Die Kritik der Urteilskraft wird zitiert nach der Ausgabe von Heiner F. Klemme (Hg.), Hamburg 2009 (Seitenangaben nach der B-Ausgabe). 3

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

»Denkungsart« ist demnach Maxime, also subjektives Prinzip des sensus communis, und findet im Zusammenhang mit der Ästhetik aus rein explanatorischen Gründen Erwähnung, nämlich insofern das ästhetische Beurteilungsvermögen, der Geschmack, als Gemeinsinn verstanden werden muss. 6 Während die erste, »vorurteilsfreie[]« Denkungsart eine prinzipientheoretische, auf Autonomie ausgerichtete Grundbestimmung aufklärerischen Selbstoder Verstandesdenkens ist, weist die zweite, »erweiterte[]« Denkungsart, durchaus auch im Sinne der Aufklärung, auf die für die kompetente Urteilskraft überhaupt unerlässliche kognitive Fähigkeit hin, sich in den Standpunkt und also das Beurteilungsvermögen anderer Menschen versetzen zu können, indem man sich vom Vorrat der eigenen Privatmeinungen distanziert. Schließlich ist die dritte, »konsequente[]« Denkungsart als Grundsatz des folgerichtigen Denkens Prinzip der Vernunft als des Vermögens zu schließen. Sie führt das »Selbstdenken« und das »an der Stelle jedes anderen denken« zusammen analog zur dreiteiligen Gliederung der Logik: Begriff – Urteil – Schluss. Insofern geben die drei Arten der Denkungsart eine innere theoretische Systematik zu erkennen, auch wenn Denkungsart ansonsten, vornehmlich in der zweiten und dritten Kritik, für Kant etwas »Moralisches« (V-Lo/ Dohna, AA 24: 779) ist: Nur dann, wenn ich selbst-denken kann und an der Stelle jeder und jedes anderen zu denken vermag, kann ich auch moralisch denken und folglich handeln. Man muss und kann dieses Triumvirat der Denkungsarten nicht mit den drei transzendentalen Ideen Seele – Welt – Gott und schließlich dem Endzweck praktischer Erkenntnis in Parallele bringen. Dass aber zumindest die »konsequente Denkungsart« (KpV, A 11) – seit der Kritik der praktischen Vernunft – ihre Zweckbestimmtheit »allein im Praktischen« hat und daher letztlich zu einem moralisch-praktischen Begriff wird, dürfte unstrittig sein. 7 Dies wird sichtbar auch an der Abgrenzung von »Denkungsart« und »Denkart«. Während Kant »Denkart« in der Kritik der reinen Vernunft als deskriptiven Terminus verwendet, der die grundsätzlichen Neuerungen vor allem im wissenschaftlichen und schließlich auch im philosophischen Denken 6 »Denkungsart« ist für Kant daher auch kein Erkenntnisvermögen (KU B 159) im engeren Sinne, sondern gehört für ihn, wie die Anthropologie nahelegt, zum »Charakter« bzw. zur »Charakteristik« der Person (Anth, AA 07: 291–301). 7 Zu den moralepistemologischen Auswirkungen einer solchen konsequenten Denkungsart hinsichtlich des Verhältnisses von Kritik der reinen Vernunft (A und B), Grundlegung (III) und Kritik der praktischen Vernunft siehe die erhellenden Analysen von Bernd Ludwig: »Die ›consequente Denkungsart der speculativen Kritik‹. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58 (2010), S. 1–34, bes. S. 20 ff.

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rhetorisch zuspitzt, kommt dieser Begriff in der zweiten und dritten Kritik nicht einmal mehr vor, wohl weil Kant die Grundsatzwende im rein theoretischen Denken mit der ersten Kritik als abgeschlossen ansah. 1788 und 1790 bleibt daher nur noch der praktische Begriff der Denkungsart. In der Kritik der reinen Vernunft treffen wir auf die Wendungen »Revolution der Denkart« (KrV, B XI–XII), »die so vorteilhafte Revolution [der] Denkart« (KrV, B XIII), »Umänderung der Denkart« (KrV, B XVI, XXII Anm.) und »Veränderung der Denkart« (KrV, B XIX). Dass Kant den Ausdruck »Denkart« erst in der zweiten Auflage in Anschlag bringt, dürfte mit seiner Absicht zusammenhängen, die Innovation der Transzendentalphilosophie gegenüber den Kritikern der ersten Auflage der Kritik deutlicher profilieren zu wollen. Dabei verbindet er bekanntlich die Idee einer bereits vollzogenen, grundlegenden »Revolution« bzw. »Umänderung der Denkart« in Mathematik und Naturwissenschaften mit dem Gedanken, durch die »Veränderung der Denkart die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori« auch in der Metaphysik »erklären« zu können (KrV, B XIX). Vollzogen wird die »Umänderung« mittels der Annahme, dass »die Gegenstände […] sich nach unserem Erkenntnis richten« (KrV, B XVI), durch die allein sich die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft apriorischer Erkenntnis überhaupt denken lässt. Anders als der Begriff der Denkungsart referiert »Denkart« also allein auf die Grundbestimmungen philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis. 8 Wie erwähnt, in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft verwendet Kant den Begriff der Denkungsart noch in rein theoretischer Bedeutung. Diesem Befund folgend, soll es im Weiteren um einige entscheidende und bisher wenig beachtete Aspekte einer Denkungsart gehen, die Kants kritische Philosophie von Anfang an bestimmt und die ihr fast zum Verhängnis geworden wäre: den »Idealismus« als einer »philosophischen Denkungsart« (KrV, B 275). Kant selbst vertritt einen Idealismus, den transzendentalen Idealismus, der als solcher eine spezifische philosophische Denkungsart repräsentiert. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Kants Bekenntnis zum Idealismus und Einführung des transzendentalen Idealismus in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft im Grunde eine Ungeheuerlichkeit war. Ungeheuerlich war dieses Bekenntnis, weil das akademische Umfeld und intellektuelle Den Begriff »Denkart« scheint Kant im Übrigen aus dem von ihm stark rezipierten Werk von Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung, 2 Bde., Leipzig 1777, aufzunehmen. Tetens verwendet diesen Begriff an zahlreichen Stellen seines Werkes, allerdings ohne ihn näher zu profilieren. »Denkart« scheint für ihn als Sammelbegriff für die kognitiven Vermögen des Verstandes wie das »Gewahrnehmungsvermögen« und das »Denkvermögen« (Bd. 1, 310; vgl. Bd. 2, S. 663) zu fungieren. 8

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

Ambiente, in dem diese Theorie ihre Geburtsstunde erlebte, vor allem durch eines geprägt war: einen auf Seiten der philosophischen Protagonisten der Zeit und weit darüber hinaus gepflegten Anti-Idealismus. Im Folgenden werden die Rolle und das Schicksal des kantischen Idealismus als Denkungsart vor dem Hintergrund dieses Anti-Idealismus im 18. Jahrhundert näher untersucht. Ich werde dafür argumentieren, dass Kant mit der Einführung des transzendentalen Idealismus ein außerordentliches Wagnis eingegangen ist, nicht nur der Sache nach, sondern insbesondere auch akademisch. Denn er musste auf Seiten der philosophischen Zunft seiner Gegenwart mit massivem Protest gegen seinen Theorievorschlag rechnen. Um dies zu verdeutlichen, werde ich im ersten Abschnitt an einigen Autoren des 18. Jahrhundert exemplifizieren, dass und worin die tiefgreifende Aversion gegenüber dem Idealismus schon vor der Publikation der Kritik der reinen Vernunft bestand. Im zweiten Abschnitt wende ich mich zunächst einigen einschlägigen Reaktionen auf Kants Einführung des transzendentalen Idealismus zu, um daraufhin auf Kants Gegenreaktion einzugehen, insbesondere auf die Widerlegung des Idealismus. Die Schlussfolgerungen meiner Überlegungen sollen zuletzt nicht nur die zu konstatierende überraschende Konsequenz sichtbar machen, mit der Kant an einer Denkungsart festhält, die eigentlich von Anfang zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. Hinweisen möchte ich vor allem auch auf die weitgehend übersehene Tatsache, dass es dieser Konsequenz Kants zu verdanken ist, dass sich die Philosophie von Fichte bis Hegel wie selbstverständlich zum Idealismus erklärt, was später zur Epochenbezeichnung Deutscher Idealismus Anlass gibt. Ohne die Konsequenz der kantischen idealistischen Denkungsart hätte es den Deutschen Idealismus nicht als Deutschen Idealismus geben können.

2. Anti-Idealismus im 18. Jahrhundert

Anders als die Philosophiegeschichtsschreibung zuweilen glauben macht, ist das 18. Jahrhundert zunächst alles andere als das Jahrhundert des Idealismus. Ganz im Gegenteil formiert sich im 18. Jahrhundert eine breite Front gegen idealistisches Gedankengut, die im philosophischen Denken nahezu aller Couleur anzutreffen ist. Erstaunlich ist, dass man der Gegenseite dieser Front, dem Idealismus selbst, dabei im Grunde nicht einmal in concreto habhaft werden kann. Zumindest lassen sich selbstbekennende Idealisten zunächst nicht ausmachen. So kann man sich bei nüchterner Betrachtung der Dinge zuweilen nicht des Eindrucks erwehren, der Idealismus sei eine bloße Chimäre. Völlig fabulös ist das historische Phänomen des Idealismus allerdings nicht,

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zumindest dann nicht, wenn man der Herkunft des Begriffs ›Idealismus‹ nachgeht. Aber schon dies ist kein leichtes Unterfangen. Zurück geht der Begriff sicher nicht auf Platons Ideenlehre, wie Natorp meint. Nicht nur bezeichnet Natorp sein Werk Platons Ideenlehre im Untertitel als »Einführung in den Idealismus«, sondern er macht Platon selbst, und nicht neuzeitliche Philosophen wie Berkeley, zum Namengeber des »Idealismus«. 9 Dies ist nicht nur systematisch fragwürdig, lässt sich Platon doch eher einer die ontologische Selbständigkeit der Ideen behauptenden metaphysisch-realistischen Position zuordnen, sondern auch historisch unzutreffend. Denn zumindest der Begriff ›Idealismus‹ entstammt eindeutig der Philosophie der Neuzeit und hängt dabei nicht vom antiken idea-Begriff Platons ab. Gleichwohl sind die wortgeschichtlichen Ursprünge dieses Begriffs in der Neuzeit kaum mit Sicherheit festzumachen. Ein älterer Beleg für die Verwendung von Idealismus bzw. Idealist als Leibniz’ Artikel »Réponse aux réflexions contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire Critique, article Rorarius, sur le système de l’harmonie preetablie« (1702), in dem von den »plus grands Idealistes« die Rede ist, lässt sich bis dato nicht angeben. 10 Zum Idealismus gesellt sich im 18. Jahrhundert der Egoismus. Auf nur schwer zu rekonstruierenden Wegen haben diese Begriffe Eingang in die schulphilosophischen Debatten gefunden. Wolff etwa bezeichnet die Idealisten in seiner Deutschen Metaphysik als monistische Dogmatiker, die »der Welt weiter keinen Raum als in Gedancken der Seele und der Geister einräumen«. Darüber hinaus glaube ein Egoist, »er sey das einige wuerkliche Wesen und ausser ihm kein anderes«. 11 Für die Leser philosophischer Literatur stellen im 18. Jahrhundert aber vor allem die Vertreter des Egoismus ein Kuriosum dar. Nicht wenige Texte dieser Zeit bezeugen das intensive, letztlich vor allem kritische Interesse an ihren, aber auch an den Lehren der Idealisten. 12 Als Idealisten herhalten müssen dabei in der Regel 9 Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Hamburg 1923, S. VII (Erstdruck Leipzig 1903). Vgl. etwa auch Otto Willmann in seiner dreibändigen Geschichte des Idealismus (Braunschweig 1894), Platon habe dem Begriff des Idealismus das »Gepräge einer philosophischen Kunstausdrucks gegeben« (vgl. Bd. 1, S. 1). 10 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt, Bd. IV, Hildesheim 1965, S. 554–571, hier S. 560. 11 Christian Wolff: Vernuenfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen ueberhaupt, Halle 111741 (= Deutsche Metaphysik), in: ders.: Gesammelte Werke, hrsg. und bearb. v. J. École, H. W. Arndt, Ch. A. Chorr, J. E. Hofmann und M. Thomann, Hildesheim u. a. 1962 ff. (= WW), I.2, § 942 und § 944. 12 Vgl. in Auswahl Israël Gottlieb Canz: Idealismus seu crassissimus eorum error, qui corpora et sua et mundana, Tübingen 1731, Jacob Carpov: Idealismus ex concessis explosus, Frankfurt und Leipzig 1740, Prüfung der Secte, die an allem zweifelt, hrsg. von Albrecht von Haller, Göttingen 1751, Johann C. Eschenbach: Idealismus fundamento destitutus, Rostock 1752,

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

Berkeley und Malebranche bzw. überhaupt die Cartesianer. Zum Beispiel wird Berkeley in Diderots und D’Alemberts berühmter Encyclopédie (1778) als Vertreter des Egoismus und zugleich »pyrrhonisme«, nämlich eines Skeptizismus gegenüber der Erkennbarkeit der Wirklichkeit porträtiert: »Berkeley, parmi les modernes, a fait tous ses efforts pour l’établir.« 13 Für die Kontroverse um den Idealismus wichtig ist zudem Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique, in dessen vielfach kontrovers diskutiertem Artikel »Zeno« der Zusammenhang des Problems der unendlichen Teilbarkeit bzw. Unteilbarkeit der Materie mit der Frage nach der Realität der »Körper« im Kontext der zenonischen Paradoxien erörtert wird. Bayle erklärt dabei das Zustandekommen einer idealistischen Lehre so, als haben die neuen Philosophen […] die Gründe der epoche, in Ansehung der Toene, des Geruchs, der Kaelte und der Hitze, der Haerte und der Weiche, der Schwere und der Leichtigkeit, des Geschmacks und der Farben usw. so wohl begriffen, daß sie lehren, all diese Eigenschaften der Koerper waeren Begriffe unserer Seele, und in den Gegenstaenden unserer Sinne nicht vorhanden. Warum sollten wir nicht ebendasselbe von den Koerpern sagen? 14

Den Bezugspunkt bildet hier wiederum Berkeley, und zwar nun dessen Kritik an Lockes Lehre von den primären und sekundären Qualitäten. Im Essay Concerning Human Understanding (1690) unterscheidet Locke bekanntlich zwischen primären Qualitäten (Festigkeit, Ausdehnung, Gestalt, Zahl, Bewegung oder Ruhe), die den wahrnehmbaren Dingen selbst zukommen, und sekundären Qualitäten (Farben, Gerüchen, Geschmacksarten usw.), die der Subjektivität unserer Sinnlichkeit angehören. 15 In seiner Locke-Kritik wird diese Differenz zwischen Objektivität primärer und Subjektivität sekundärer Qualitäten von Berkeley zugunsten der Immaterialität der Außenwelt aufgehoben oder subjektiviert: »there is not any other substance than spirit, or that which Claude Adrien Helvétius: De L’Esprit, Amsterdam 1758, Justus Christian Hennings: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere, Halle 1774. Weit verbreitet war zudem Eschenbachs Sammlung der vornehmsten Schriftsteller, die die Wirklichkeit ihres eigenen Körpers und der ganzen Körperwelt leugnen. Enthaltend des Berkeleys Gespräche zwischen Hylas und Philonous und des Colliers Allgemeinen Schlüssel, Rostock 1756. 13 Vgl. den Artikel »Égoistes«, in: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, hrsg. von D. Diderot und J. R. D’Alembert, Genf, Neuchâtel 31778, S. 997. 14 Vgl. Pierre Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; mit Anmerkungen von Maturin Veyssiere la Croze und anderen von Johann Christoph Gottsched (Nachdruck Hildesheim und New York 1978), Bd. 4, Artikel »Zeno«. 15 Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von A. D. Woozley, Glasgow 91980, Buch II, C.VIII, § 9.

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perceives.« 16 Berkeley gemäß ist der Begriff einer nicht denkenden Substanz als Materie, die Ideen in uns wirkt, ein Widerspruch in sich selbst. Denn jede Idee sei letztlich nur Idee in einem vorstellenden Geiste, wenn sie das in uns erwirkte Abbild (image) der Qualität eines wahrgenommenen äußeren Objektes sein soll. Was die primären Qualitäten angeht, so können diese wie die sekundären nichts anderes als Idee sein, gleich ob ich sie als Bild (idea) oder Urbild (archetyp) einer solchen wahrnehme oder vorstelle. 17 Damit behauptet Berkeley nicht, was er letztlich theologisch begründet, die Irrealität der sinnlich erfahrbaren Welt, sondern argumentiert gegen den lockeschen Begriff der Materie und gegen Descartes’ Auffassung von der res extensa: »I do not argue against the existence of any one thing that we can apprehend, either by sense or reflection.« 18 Berkeley versteht sich selbst also weder als Idealist noch als Egoist. Gleichwohl wird er, wie auch andere, im 18. Jahrhundert von einer Vielzahl von Kritikern für seine angeblichen idealistischen bzw. egoistischen Lehren gescholten. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: In Wolffs Psychologia Rationalis heißt es: »Inter idealistas nomen suum recentius professus est Georgius Berkeley« (§ 36). Canz klassifiziert in seiner Schrift Idealismus seu crassissimus eorum error neben den Cartesianern im Allgemeinen, Malebranche und Bayle auch Berkeley (§ 12, unter Berufung auf Wolff) als Idealist und propagiert überhaupt die Widerlegung (»refutatio«, §§ 25–26, 29) des Idealismus. In Carpovs Idealismus ex concessis explosus werden nahezu dieselben Namen mit dem Idealismus (und Egoismus) als einer unhaltbaren skeptischen Lehre in Verbindung gebracht (u. a. § 37): Der Idealist »negat existentiam corporum« (§ 21, vgl. §§ 17, 34) und stehe dem Atheismus nahe (§ 32). In der von Haller herausgegebenen Prüfung der Secte, die an allem zweifelt wird der vorgeblich idealistische Skeptiker Bayle sogar unverhohlen des Atheismus bezichtigt (S. 14 u. ö.). In Hennings Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere (S. 145, Anm.) heißt es wiederum: »Berkeley […] ist ein wahrhafter Idealiste«. 19 Schließlich macht Eschenbach in seiner Sammlung der vornehmsten Schriftsteller, die die Wirklichkeit ihres eigenen Körpers und der ganzen Körperwelt leugnen neben Collier vor allem Berkeley zum Gewährsmann des Idealismus, den er ein für alle Mal zu widerlegen beabsichtigt. Vgl. George Berkeley: A Treatise Concerning The Principles Of Human Knowledge, hrsg. von E. Rhys, London und New York 1934, Part 1, VII. 17 Vgl. ebd., Part 1, VII. und IX. 18 Ebd., Part 1, XXXV. 19 Hennings erklärt in seinem Werk (S. 144–147, Anm.) eine ganze Reihe Autoren zu Idealisten und empfiehlt zugleich eine Auswahl von Autoren, bei denen sich anti-idealistische Argumente finden. 16

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

Man wird sich fragen müssen, was so viele Philosophen des 18. Jahrhunderts zu einem solchen Anti-Idealismus bewogen hat. Noch Schiller deklamiert in »Über naive und sentimentalische Dichtung«, »dass der wahre Idealism in seinen Wirkungen unsicher und öfters gefährlich ist«. 20 Über die Gründe lässt sich zunächst nur spekulieren. Sie liegen wohl nicht in anti-aufklärerischen Bestrebungen, da sich viele der Idealismus-Kritiker selbst zur Aufklärung rechnen, sondern haben vielmehr mit einer Grundaversion gegenüber einem exzessiven Cartesianismus zu tun, der das mentale Eigenleben der res cogitans und ihrer geistigen Vollzüge betont und damit die Körperwelt zur bloß vorgestellten Außenwelt herabstuft, so dass für ihr selbstständiges Bestehen entgegen der Intention Descartes’ kein Platz bleibt. 21 Wolff liefert ein eindrückliches Beispiel hierfür. Demnach »[…] thun die Idealisten den natuerlichen Wissenschaften keinen Eintrag […]«, denn sie leugnen »[…] die wuerkliche Gegenwart der Welt außer der Seele […]«. 22 Auch er bezeichnet die Idealisten daher als eine »gefaehrliche Secte«, die man widerlegen müsse. 23 So führt der allseits kolportierte Anti-Idealismus im 18. Jahrhundert zu fast schon inflationär zu nennenden Idealismus-Widerlegungen, die bei einschlägigen ebenso wie bei weniger bekannten Autoren zu finden sind. Wolffs eigene Idealismus-Widerlegungen erreichen eine gewisse Prominenz, so dass sie von manchen Autoren imitiert oder als Anregungen zu Idealismus-Kritik genommen werden. 24 Um die Idealisten, die die Verschiedenheit von Seele und Welt leugnen, zu widerlegen, beruft sich Wolff zum Beispiel auf die ontologische Kontingenz von Seele und Welt, was die Existenzmöglichkeit anderer Seelen und Welten einschließe. Darum könne der zureichende Grund ihres Daseins, so das Argument, nur in Gott liegen, weshalb sie voneinander verschieden seien. 25 Wolff setzt hierbei die uneingeschränkte Gültigkeit des Prin20 Vgl. »Über naive und sentimentalische Dichtung« (Teil 3), in: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75–122: S. 121. Das vollständige Zitat lautet: »Wenn dagegen schon der wahre Idealism in seinen Wirkungen unsicher und öfters gefährlich ist, so ist der falsche in den seinigen schrecklich.« Schiller unterscheidet den wahren ›platonischen‹ Idealismus vom falschen Idealismus der bloß phantasierenden »Einbildungskraft« und ist also nicht grundsätzlich gegen den Idealismus eingestellt. 21 Siehe hierzu Dietmar H. Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, Berlin, New York 1998 (= Kantstudien Ergänzungsheft 131), S. 15–46. 22 Vgl. Deutsche Metaphysik, § 787. 23 Vgl. Christian Wolff: Der Vernuenfftigen Gedancken von Gott, der Welt, der Seele des Menschen, auch allen Dingen ueberhaupt, Anderer Teil, bestehend in ausfuerlichen Anmerckungen, Frankfurt a. M. 1740, in: WW, I.3, § 293. 24 Auch Kant führt in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft eine »Widerlegung des Idealismus« (B 274) durch (siehe unten). 25 Vgl. Deutsche Metaphysik, § 943.

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zips des zureichenden Grundes voraus, um nicht nur die Existenz eines notwendigen Wesens, sondern auch die Verschiedenheit von Seele und Welt zu beweisen. Sein Argument setzt sich aus einer Reihe von Einzelschritten zusammen, die mit seiner Seelenlehre in enger Verbindung stehen. Für den Idealisten liegt demnach der Grund der Welt im Wesen der Seele. Wolff selbst hingegen identifiziert das Wesen der Seele mit deren Vorstellungskraft, durch die sie Vorstellungen und deren Ordnung überhaupt hervorbringe. Auch könne sie verschiedene Welten vorstellen. Der zureichende Grund für die Existenz der Seele und ihre Vorstellungen liege jedoch nicht in der Seele selbst, sondern in Gott, da die Seele als ein kontingentes Wesen nicht selbst Träger ihres eigenen Wesensgrundes sein könne. Diesen Gedanken der Verschiedenheit von Grund und Begründetem überträgt Wolff auf das Verhältnis von Seele und Welt, sodass die Existenz der Welt nicht auf die Existenz eines kontingenten Wesens, die Seele, zurückgeführt werden kann, was der Idealismus aber behaupte. Der Grund der Wirklichkeit der Körperwelt liege daher wie bei der Seele in Gott, auch wenn die Körperwelt durch die Seele vorgestellt wird. Mit dieser Argumentation beansprucht Wolff, den »Knoten der Idealisten« gelöst und die Ursachen des Zweifels an der »Existenz der Körper« ausgeräumt zu haben. 26 Ein weiteres sprechendes Beispiel für den Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts ist Crusius, der ebenfalls Widerlegungen des Idealismus vorlegt. Eine Widerlegung des Idealismus müsse demnach zeigen, »[…] daß die Empfindungen auch ein existierendes Objekt haben, d. i. daß, wenn wir empfinden, auch ausserhalb der Empfindungs-Idee ein existierendes Ding vorhanden sey, von welchem in der Empfindungs-Idee etwas vorgestellt wird«. 27 Crusius geht dabei aus von der Unbezweifelbarkeit von Bewusstseinszuständen. Von diesen unterscheidet er die äußeren Empfindungen: »Was die äußeren Empfindungen angelanget, so haben wir dabey die Idealisten zu Gegnern, unter denen einige nur Geister, aber keine Materie glauben, andere aber auf die Bahn gebracht haben, es könne nur iedweder davon gewiß seyn, daß er selbst sey, nicht aber, ob es auch andere Leute gebe.« 28 Von den äußeren Objekten meiner Vorstellungen müsse nun, wolle man nicht grundlos parteiisch urteilen, 26 Vgl. Wolff, Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, § 349. Anders als Wolff führt Baumgarten in der Metaphysica (Halle 31779) zwar keine Widerlegungen des Idealismus durch, doch finden sich in diesem Werk entsprechende Bemerkungen zu den Idealisten (§ 402 und § 438) sowie zu den Egoisten (§ 392 und § 438), die von Wolffs Bestimmungen kaum abweichen. 27 Vgl. Christian August Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, Leipzig 1747, § 437. 28 Ebd.

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

wie von den inneren Objekten des Bewusstseins die Existenz zugegeben werden. Nach Crusius macht sich der Idealist folglich der ungerechtfertigten Parteinahme schuldig, wenn er allein das subjektive Bewusstsein von Vorstellungen für unbestreitbar hält. Da der Idealismus die Existenz der Außenwelt bestreitet, dürfe er des Weiteren aufgrund der behaupteten Singularität seiner Existenz weder in einen philosophischen Diskurs eintreten noch überhaupt Gefühlsregungen zeigen. Im Übrigen sei die »Gewißheit äußerer Objekte« von Gott in unserer Seele eingerichtet worden, weshalb ihre Existenz für uns unstrittig sei. Diese Gewißheit sei Ausdruck göttlicher Vollkommenheit und manifestiere sich durch das Dasein von Materie und Mitmenschen in der Welt. Da die Idealisten die Existenz der Materie leugneten, verschlössen sie sich daher Gott. Mit dieser theologisch motivierten Kritik setzt Crusius den Idealismus bzw. Skeptizismus folglich – anders als Wolff – mit Gottlosigkeit und »Ungerechtigkeit« gegenüber Gott gleich. 29 Die Reihe solcher Widerlegungen des Idealismus bzw. genereller Idealismus-Kritik vor allem der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließe sich weiter fortsetzen. 30 Dass der Anti-Idealismus noch weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hineinreicht, verdeutlichen einige weitere Beispiele prominenter Philosophen dieser Zeit. So lassen sich kritische Auseinandersetzungen mit dem Idealismus (und Egoismus) etwa in Johann Nicolas Tetens’ Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (Leipzig 1777, Bd. 1, S. 373–411) ebenso finden wie in Moses Mendelssohns Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (Berlin 1785), wo ebenfalls der Versuch unternommen wird, »die Idealisten zu widerlegen« (S. 108). Mendelssohns Ablehnung der Kritik der reinen Vernunft dürfte daher nicht nur mit Kants Metaphysikkritik als solcher, sondern ebenso mit der dortigen Wiedergewinnung des Idealismus zu tun haben. Für eine positive Aufnahme des kantischen Idealismus-Projekts sollte sich vor allem der AntiIdealismus Johann Georg Heinrich Feders, des Rezensenten der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, als Hindernis erweisen. Aus seiner Aversion gegenüber dieser Lehre hat Feder zeit seines Lebens keinen Hehl gemacht, wie etwa in seiner Logik und Metaphysik (4. Auflage Göttingen 1775, §§ 5, 59– 65), wo er gegen die »Idealisten« »Gewoehnliche Gruende« und »Gesunde Vernunft unter dem Schutze des Instincts« (§ 61) vorbringt. Angesichts eines solchen verbreiteten Anti-Idealismus, ja einer Übermacht der Anti-Idealisten muss man sich fragen, wie Kant es 1781 hat wagen können, eine Kritik der reinen Vernunft zu veröffentlichen, in der er eine Theorie einführt, die den 29 30

Vgl. ebd. § 428. Vgl. Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, S. 24–46.

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für die überwiegende Mehrzahl der Philosophen seiner Zeit herausfordernden Namen ›transzendentaler Idealismus‹ erhält. Kant war stets auf der philosophischen Höhe seiner Zeit, sodass ihm der allgemein verbreitete Anti-Idealismus sicher nicht verborgen blieb. 1770 in De Forma hatte er sich noch selbst »contra idealismum« (§ 11) ausgesprochen. Er musste also damit rechnen, dass seinem Idealismus mit Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft massive Angriffe drohten. Und so sollte es auch kommen.

3. Konsequent idealistische Denkungsart: Anti-Idealismus und transzendentaler Idealismus

In seiner Schrift Ueber Raum und Caussalitaet. Zur Pruefung der Kantischen Philosophie (Göttingen 1787) behauptet Feder, die Kritik der reinen Vernunft (A) provoziere die »skeptische Bestreitung der natürlichen Denkart« (§ 15), wogegen allein der »Antiidealismus nach simplen und festen Gründen des gemeinen Menschenverstandes« (§ 16) Abhilfe verschaffen könne. Richtschnur müsse überhaupt der »gemeine Menschenverstand« sein, gleich wie »gelehrt und scharfsinnig« ein Philosoph sei. Und dies sei »beym Streit überm Idealism […] oft versehn worden« (§ 16). Manchem Aspekt des kantischen Idealismus stimmt Feder zwar vordergründig zu. In der Sache aber bleibt er hart: Er sei bekennender »Anti-idealist« (§ 16) und halte es letztlich gar nicht für erforderlich, die Wirklichkeit der Körperwelt gegen die Idealisten zu beweisen. Denn die sei ohnehin durch den gemeinen Menschenverstand verbürgt. 31 So nimmt es nicht wunder, dass die Kritik der reinen Vernunft (A) bei Feder auf wenig fruchtbaren Boden fällt, als dieser sich, gemeinsam mit Garve, ihrer annimmt, um das Werk zu rezensieren. Ganz unschuldig an der ungünstigen Aufnahme seines Hauptwerks war Kant nicht, geben doch manche seiner Formulierungen durchaus Anlass zu Missverständnissen. Das gilt nicht zuletzt für die kanonische Passage der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, die den »Lehrbegriff« des transzendentalen Idealismus einführt: Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealismus aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge an sich selbst, ansehen […]. (KrV, A 369)

Zum Verhältnis Feder-Kant siehe Reinhard Brandt: »Feder und Kant«, in: Kant-Studien 80 (1989), S. 249–264 sowie zu Feder im Allgemeinen die Beiträge in Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hgg.): Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821): Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant, Berlin, Boston 2018. 31

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

Eine zweite Stelle der ersten Auflage macht die Sache nicht besser. Der transzendentale Idealismus lehre, daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. (KrV, A 490 f./B 518 f.) 32

Feder nahm derlei prima facie idealistische Bekenntnisse gerne auf, um sie in der mit Garve gemeinsam verfassten Rezension der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft für die Zwecke seines Anti-Idealismus auszuschlachten. In der Rezension, erschienen in der Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen vom 19. Januar 1782, heißt es daher auch, der kantische Idealismus sei nichts anderes als ein System des höhern, oder wie es der Verf. nennt, des transcendentellen Idealismus; eines Idealismus, der Geist und Materie auf gleiche Weise umfaßt, die Welt und uns selbst in Vorstellungen verwandelt […]. 33

Kants Reaktion in den Prolegomena auf dieses Globalurteil und mehr noch auf den Vergleich des transzendentalen mit dem Berkeleyschen Idealismus ist eindeutig: [M]eine Protestation wider alle Zumuthung eines Idealisms ist so bündig und einleuchtend, daß sie sogar überflüssig scheinen würde, wenn es nicht unbefugte Richter gäbe, die, indem sie für jede Abweichung von ihrer verkehrten, obgleich gemeinen Meinung gerne einen alten Namen haben möchten und niemals über den Geist der philosophischen Benennung urtheilen, sondern bloß am Buchstaben hingen, bereit ständen, ihren eigenen Wahn an die Stelle wohl bestimmter Begriffe zu setzen und diese dadurch zu verdrehen und zu verunstalten. (Prol, AA 04: 293).

Wie empört Kant über das Urteil seiner Rezensenten war, zeigt die spöttische Ironie, mit der er in den Prolegomena ihr Vorgehen aufs Korn nimmt: Ähnlich auch in den Prolegomena: »Da nun die Sinne nach dem jetzt Erwiesenen uns niemals und in keinem einzigen Stück die Dinge an sich selbst, sondern nur ihre Erscheinungen zu erkennen geben, diese aber bloße Vorstellungen der Sinnlichkeit sind, ›so müssen auch alle Körper sammt dem Raume, darin sie sich befinden, für nichts als bloße Vorstellungen in uns gehalten werden und existiren nirgend anders, als blos in unsern Gedanken.‹« (Prol, AA 04: 288). 33 Vgl. Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen. Göttingen 1770–82. 3. Stück, den 19. Januar 1782. S. 40–48: Riga. Critik der reinen Vernunft. Von Imman. Kant. 1781. 856S. Octav., in: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87, hrsg. von A. Landau, Bebra 1991, S. 10–17, hier S. 10. 32

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[…] als wenn jemand, der niemals von Geometrie etwas gehört oder gesehen hätte, einen Euklid fände und ersucht würde, sein Urtheil darüber zu fällen, nachdem er beim Durchblättern auf viele Figuren gestoßen, etwa sagte: ›Das Buch ist eine systematische Anweisung zum Zeichnen: der Verfasser bedient sich einer besondern Sprache, um dunkle, unverständliche Vorschriften zu geben‹. (Prol, AA 04: 374)

Da Kant sich in einer für ihn philosophisch zentralen Frage getroffen sieht, ignoriert er die Idealismus-Kritik nicht, sondern fordert die zunächst anonymen Rezensenten zu einer öffentlichen Auseinandersetzung heraus und damit, »aus dem Incognito zu treten« (Prol, AA 04: 379). Christian Garve gibt sich daraufhin in einem Brief vom 13. Juli 1783 als einer der beiden Verfasser der Göttinger Rezension zu erkennen. Er sei 1781 vom Direktor der Göttingischen Anzeigen, Feder, um eine Besprechung der Kritik der reinen Vernunft gebeten worden, habe eingewilligt und daraufhin eine Rezension verfasst. Allerdings erkannte er den Vorabdruck seiner Rezension nur zum Teil als die ursprüngliche Fassung seines Textentwurfs wieder, weil sie ein Mitarbeiter der Göttingischen Anzeigen (Feder) »abkürzte u. interpolirte«. 34 Von ihr distanziert sich Garve nun und versichert: »Den bösen Willen die Sache zu verstellen, habe ich nicht, u. bin desselben nicht fähig.« Kant antwortet am 7. August 1783, er habe den Anteil Garves an der Göttinger Rezension ohnehin für sehr gering gehalten. Diejenige »Denkungsart«, die er Garve zugesteht, spricht er dem Co-Rezensenten ab und beklagt sich über dessen »sichtbaren Grimme« gegen ihn. 35 Aus einem Brief Johann Erich Biesters vom 11. Juni 1786 wissen wir, dass Kant offenbar eine Verteidigungsschrift gegen Feder plante. Seitens Feder scheint sich der Idealismus-Streit mit Kant sogar noch einmal verschärft zu haben. Denn am 21. September 1786 teilt der Marburger Philosophieprofessor Johann Bering Kant die Nachricht über das Lehrverbot seiner Philosophie in Hessen durch eine »CabinetsOrdre« mit. Die »Quelle« dieses Verbots sei in Göttingen bei Feder und Meiners zu suchen, wobei Ersterer an einer Schrift gegen ihn, Kant, arbeite. Am 25. Oktober 1786 erhält Kant auch von Ludwig Vgl. im Folgenden Kants Briefwechsel, Bd. I, 1747–1788, in: AA 10, hier S. 330. Garves ursprünglicher Entwurf der Rezension zeugt tatsächlich von größerem Verständnis gegenüber der Kritik der reinen Vernunft, als es die publizierte Version offenbart. Auch sind die zahlreichen Abänderungen Feders im Vergleich beider Fassungen klar erkennbar. Vgl. Garves Originalrezension der Kritik der reinen Vernunft in: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Berlin 1765–96. Anhang zu dem sieben und dreyßigsten bis zwey und funfzigsten Bande der allgemeinen deutschen Bibliothek. Zweyte Abtheilung. (Herbst 1783) S. 838–862: Kritik der reinen Vernunft, von Immanuel Kant. Riga, 1781. 856 Seiten, in: Rezensionen zur Kantischen Philosophie, S. 34–55, hier S. 53. 34 35

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Heinrich Jakob die briefliche Mitteilung, Feder wolle in einer öffentlichen Schrift demonstrieren, dass die kantische »Philosophie nichts sei als eine verfeinerte scholastische«. 36 Auch Christian Gottfried Schütz berichtet Kant (Brief vom 23. März 1787) von Feders und Meiners Urheberschaft des Lehrverbots seiner Philosophie in Hessen. Mit dem Lehrverbot in Hessen und seinen sogar politischen Begleiterscheinungen erreicht der Idealismus-Streit gegen Ende des 18. Jahrhunderts seinen vorläufigen Höhepunkt. Nun hätte Kant nach dem Erscheinen der Göttinger Rezension die Möglichkeit gehabt, vor allem in den Prolegomena und der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sowie letztlich in allen weiteren Schriften, auf den Begriff ›Idealismus‹ schlichtweg zu verzichten, um die Auseinandersetzung um die Transzendentalphilosophie nicht durch einen Streit um Worte überlagern zu lassen und ihr so den bloß terminologischen Schrecken des Idealismus zu nehmen. Die Suspension des Begriffs ›Idealismus‹ hätte ihn möglicherweise nicht einmal dazu veranlassen müssen, seine Theorie jenseits dieser terminologischen Änderung in wesentlichen Punkten zu modifizieren. Angesichts des allgemeinen anti-idealistischen Klimas des 18. Jahrhunderts wäre eine solche Entscheidung aus strategischen Erwägungen vielleicht sogar klug gewesen, um die Gemüter zu beruhigen. Kant aber entscheidet sich anders. Seiner konsequent idealistischen Denkungsart gemäß hält er auch nach seiner Replik auf die Göttinger Rezension in den Prolegomena und Feders forciertem Anti-Idealismus in Ueber Raum und Caussalitaet am Begriff des Idealismus fest. Die Umstände der Entstehung der Widerlegung des Idealismus in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, vor allem die von Kant nachträglich in der B-Vorrede angewiesene Verbesserung ihres Beweisgangs, zeigen klar, dass Kant den Begriff des Idealismus zum Kernbestand seiner (theoretischen) Philosophie zählt, der aus für ihn sachlichen Gründen unverzichtbar ist. Dies findet auch in der Widerlegung des Idealismus der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft selbst Ausdruck. Kant konzipiert die Widerlegung als zunächst abschließende Klärung der Sache, auch wenn sie de facto nicht die Beendigung der Kontroverse bedeutete. Denn der Idealismus-Streit setzt sich nach 1787 unvermindert fort. Bis spät in die 1790er Jahre hinein entwirft Kant in immer wieder neuen Ansätzen Idealismus-Widerlegungen. 37 Die 36 Vgl. auch die Nachricht in den Gothaischen gelehrten Zeitungen vom 11. November 1786 (in: Rezensionen zur Kantischen Philosophie, S. 470): »Hr. Hofrath Feder arbeitet jetzt an einer Schrift, worin er erweisen will, daß die Kantische Philosophie eine verfeinerte scholastische sey.« 37 Vgl. Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, S. 175–232.

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Widerlegung des Idealismus dokumentiert in mustergültiger Form, wie sich Kant den Abschluss der Kontroverse offenbar vorstellte. Zum einen besteht ihre Absicht in der begrifflichen Festlegung desjenigen Begriffs des Idealismus und seiner Spezifikationen, von dem er seinen eigenen transzendentalen Idealismus grundsätzlich unterschieden sehen möchte. Zum anderen bietet sie einen Beweis für das »Dasein der Gegenstände im Raum außer mir« (KrV, B 275). Die Widerlegung des Idealismus verfolgt also letztendlich nicht den bloßen Nachweis der konzeptionellen Inkonsistenz des nach Kant unhaltbaren Idealismus, sondern einen positiven Beweis der Existenz der Außenwelt. Zu diesem Zwecke unterscheidet Kant zwei Arten des »materialen« Idealismus (KrV, B 274): den problematischen und den dogmatischen Idealismus. Während sich der kritische oder formale Idealismus auf die Form der Erfahrung gründet, richtet sich der materiale Idealismus gegen den materialen Inhalt der Erfahrung, indem er das Dasein der Außenwelt anzweifelt oder leugnet. Der materiale als problematischer Idealismus, der in der Widerlegung des Idealismus Descartes zugeschrieben wird, bezweifelt das Dasein der Gegenstände des äußeren Sinnes und hält es für unerweislich. Einzige unbezweifelbare Behauptung dieses Idealismus-Begriffs sei der empirische Satz: »Ich bin. Wie in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, wo der skeptische Idealismus als ein »Wohltäter der menschlichen Vernunft« (KrV A 377) gepriesen wird, lobt Kant den cartesischen Idealismus auch in der Widerlegung des Idealismus (B), und zwar als eine »gründliche philosophische Denkungsart« (KrV, B 275). Dem transzendentalen Idealismus ist der skeptische bzw. problematische Idealismus gleichwohl entgegengesetzt, weil in Kants eigener Theorie das Dasein äußerer Gegenstände nicht zweifelhaft ist. Auch wenn Kant nicht über detaillierte Descartes-Kenntnisse zu verfügen scheint, stellt er doch zutreffend dar, dass gemäß Descartes’ methodischem Skeptizismus nur das Dasein des denkenden Ich unbezweifelbar, die Existenz der Dinge im Raum aber ungewiss ist. Berücksichtigt man des Weiteren die Kritik an der metaphysischen Existenzbestimmung des denkenden Ich in den Paralogismen, ist das kantische Beweisvorhaben offensichtlich, nämlich »daß das Spiel, welches der Idealismus trieb, ihm mit mehrerem Rechte umgekehrt vergolten wird« (KrV, B 276). Denn Beweisanspruch der Widerlegung des Idealismus ist die These, dass innere durch äußere Erfahrung bedingt ist und ein materiales Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem inneren und äußeren Sinn besteht. 38 Anders als der problematische hält der dogmatische Idealismus, den Kant 38 Vgl. Dietmar H. Heidemann: »Material Dependence and Kant’s Refutation of Idealism«, in: Topoi 42 (2023), S. 21–34, https://doi.org/10.1007/s11245–022–09837–7.

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in der Widerlegung Berkeley zuordnet, die Existenz der Außenwelt nicht für zweifelhaft, sondern für »falsch und unmöglich« (KrV, B 274). Der dogmatische Idealismus begründet seine Behauptung jedoch nicht mit dem Hinweis auf Existenzgewissheit und innere Erfahrung, sondern im Ausgang von einer Grundsatzkritik am newtonschen Raumbegriff. Demnach schließt der dogmatische Idealismus von der Unhaltbarkeit dieses Raumbegriffs auf die nur scheinbare Existenz der Außenwelt: Der dogmatische Idealismus ist unvermeidlich, wenn man den Raum als Eigenschaft, die den Dingen an sich selbst zukommen soll, ansieht; denn da ist er mit allem, dem er zur Bedingung dient, ein Unding. Der Grund zu diesem Idealismus aber ist von uns in der transzendentalen Ästhetik gehoben. (KrV, B 275)

Kant bezieht sich an dieser Stelle auf die der transzendentalen Ästhetik der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hinzugefügten Anmerkungen. Dort erklärt er, dass wenn Raum und Zeit »objektive Realität« (KrV, B 70) zugeschrieben würde, sie also absolute Realitäten an sich wären, würden wie in Berkeleys Kritik an Newton die Gegenstände unserer Anschauung »in bloßen Schein verwandelt« (KrV, B 70 f.). Den Ausgangspunkt der Widerlegung des Idealismus, deren Argumentation hier nur in groben Zügen skizziert sei, bildet das Faktum des empirischen Bewusstseins meines Daseins: Da ich mir unbezweifelbar meines Daseins im inneren Sinn als in der Zeit bestimmt bewusst bin und Zeitbestimmung überhaupt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraussetze, dieses Beharrliche im inneren Sinn aber nicht angetroffen werden könne, beweise das Bewusstsein meines Daseins die Existenz eines Beharrlichen des äußeren Sinnes und damit die Existenz der Außenwelt. Bewusstwerden kann ich mir meines Daseins in der Zeit dabei nur, indem ich im inneren Sinn den Wechsel von Vorstellungen erfahre. Der Inhalt dieser Vorstellungen kann aber von mir selbst nicht produziert sein, da das menschliche Erkenntnisvermögen auf sinnlich Gegebenes angewiesen ist, das erst bestimmt werden muss, um erkannt werden zu können. Denn das Mannigfaltige der Anschauung kann nicht ursprünglich vom inneren Sinn selbst hervorgebracht sein, sondern muss aus dem passiven äußeren Sinn stammen, in das ich das Beharrliche setze, durch das ich den Wechsel meiner Vorstellungen im inneren Sinn und folglich mein Dasein in der Zeit bestimme. Entsprechend lautet der »Lehrsatz« der Widerlegung des Idealismus: »Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.« (KrV, B 275). 39 Die hinter diesem »Lehrsatz« stehende Be39

Kant betont, dass das Bewusstsein meines eigenen Daseins zwar ein »bloßes«, aber

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weisstrategie gegen den materialen Idealismus lautet, dass das empirische Selbstbewusstsein als unbezweifelbare innere Erfahrung zu gelten hat, der auch der Idealist zustimmen muss. Wird nun gezeigt, dass die Möglichkeit empirischen Selbstbewusstseins die Realität äußerer Erfahrung voraussetzt, so sei damit der materiale Idealismus widerlegt. Der Argumentationsgang lässt sich wie folgt rekonstruieren: (A) »Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt.« (B) »Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus.« (KrV, B 275) (C) Also setzt das Bewusstsein meines in der Zeit bestimmten Daseins etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Achillesverse dieses formal gültigen Schlusses ist die Begründung der zweiten Prämisse, nämlich dass das Beharrliche in der Wahrnehmung »nicht eine Anschauung in mir sein [kann]« (KrV, B XXXIX, Anm.). Kant argumentiert, dass ich zur Bestimmung meines Daseins nur über Vorstellungen in mir verfüge, deren beständigen Wechsel ich im inneren Sinn beobachten kann. Dieser Wechsel erfolgt in der Zeit, weil die Zeit die Form des inneren Sinnes ist. Der Vorstellungswechsel selbst ist für mich aber nur erfahrbar durch die Beziehung der Vorstellungen auf ein von ihnen unterschiedenes Beharrliches, sodass ich mein Dasein in der Zeit auch nur unter dieser Bedingung bestimmen kann. Dieses Beharrliche könne aber nicht unter den beständig wechselnden Vorstellungen des inneren Sinnes angetroffen werden, sondern »nur durch ein Ding außer mir« wahrgenommen werden und muss daher als ein wirkliches »Ding außer mir« (KrV, B 275) existieren: »Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich.« (KrV, B 275 f.) Diese Konklusion begründet einen weiteren Argumentationsschritt:

doch empirisch bestimmtes Bewusstsein ist. In der Tat bildet die Spezifizierung von »bloßem« als empirisch bestimmtem Bewusstsein die Grundlage der Argumentation gegen den problematischen Idealismus. Mit dem Begriff »bloßes Bewußtsein« bezeichnet Kant jedoch in der Regel das reine Bewusstsein, »welches in allem Denken enthalten ist, oder wenigstens sein kann« (KrV, B 812) und »alle Begriffe begleitet« (B 404). Dass hierbei (auch) die Problemlage des Faktums der reinen praktischen Vernunft im Hintergrund steht, zeigt Bernd Ludwig: »Was weiß ich vom Ich? Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kritischen Metaphysik im Jahre 1786«, in: Mario Brandhorst, Andree Hahmann und Bernd Ludwig (Hgg.): Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus, Hamburg 2012, S. 155–194, bes. S. 173–193.

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

(D) »Nun ist das Bewußtsein in der Zeit mit dem Bewußtsein der Möglichkeit dieser Zeitbestimmung notwendig verbunden.« (E) »Also ist es auch mit der Existenz der Dinge außer mir, als Bedingung der Zeitbestimmung, notwendig verbunden.« (KrV, B 276). Es geht mir in diesem Beitrag nicht um eine Analyse der Stichhaltigkeit der kantischen Widerlegung des Idealismus. Die voranstehende Rekonstruktion ihres Beweisgangs soll lediglich belegen, dass Kant klar differenziert zwischen Idealismus-Begriffen, die unhaltbar sind, und seinem eigenen transzendentalen Idealismus, den er von solchen unhaltbaren Idealismus-Begriffen unterscheidet. Die bloße Tatsache, dass er noch in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft eine Widerlegung des Idealismus einfügt, die den Streit mit Feder und anderen in einem Klima des Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts fortsetzt, und gegen die Idealisten einen expliziten Beweis der Existenz der Körperwelt aufstellt, belegt, dass Kant nicht dazu bereit war, den Begriff ›Idealismus‹ als einen wesentlichen deskriptiven Terminus seiner eigenen Philosophie aufzugeben. Diese konsequente idealistische Denkungsart sollte für die klassische deutsche Philosophie nach Kant epocheprägend werden.

4. Schluss: Der Ursprung des Idealismus des Deutschen Idealismus

Die Epochenbezeichnung ›Deutscher Idealismus‹ ist kein rhetorisches Stilmittel der Selbstbeschreibung seiner Proponenten, sondern Invention der Philosophiegeschichtsschreibung bereits der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zurück geht sie wohl auf Karl Ludwig Michelet, der sie in seiner Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel (Berlin 1837, 1838) mit nationalistischem Pathos und im Brustton des Chauvinismus einführte als – »auf deutschem Boden« errungener – »Sieg des deutschen Idealismus, welcher seit Kant und durch Kant seine Herrschaft über die ganze philosophische Welt auszubreiten sucht« (Bd. 1, S. 10). 40 Ein solch ›kosmopolitisches‹ Verständnis von Philosophie kann nicht als dasjenige Kants gel40 Anders als Walter Jaeschke in seinen ausschlussreichen Überlegungen »Zur Genealogie des Deutschen Idealismus. Konstitutionsgeschichtliche Bemerkungen in methodologischer Absicht« (in: ders.: Hegels Philosophie, Hamburg 2020, S. 393–429) meint, geht die Bezeichnung »Deutscher Idealismus« wohl nicht auf Engels (ebd., S. 399, Fn. 14), sondern eben auf Michelet zurück. Ich schließe mich Jaeschke allerdings ausdrücklich darin an, dass das »früheste Auftreten eines Terminus« schnell das Schicksal erleiden kann, durch »einen noch früheren Nachweis zum späteren« zu werden (ebd., S. 398). Dies gilt naturgemäß ebenso für meinen Nachweis des früheren Auftretens bei Michelet. Jaeschkes instruktive Thesen zur »Genese« (ebd., S. 398) des Konzepts »Deutscher Idealismus« sind weitaus um-

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ten. Fragwürdig ist ohnehin, ob Kant dem Deutschen Idealismus zuzurechnen ist. Was Michelet wie auch andere in seiner historischen Reflexion auf die Systeme des Deutschen Idealismus nicht näher reflektiert, ist die Herkunft des Theorienamens ›Idealismus‹ in der Epochenbezeichnung ›Deutscher Idealismus‹. Denn was für Kant gilt, gilt auch für die Deutschen Idealisten. Auch sie wussten wie schon Schiller (siehe oben) um die Streitbarkeit des Begriffs ›Idealismus‹. Mit Bezug auf den »dogmatische[n] Idealist« schreibt etwa Fichte in der Grundlage des Naturrechts, dass es »keinen Idealisten gegeben [hat], der seine Zweifel oder vermeinte Gewißheit bis auf sein Handeln ausgedehnt hätte, und es kann keinen geben; denn dann könnte er gar nicht handeln, aber dann könnte er auch nicht leben«. 41 Und noch Hegel wendet sich in längeren Ausführungen in der Wissenschaft der Logik (1832) gegen den unhaltbaren »bewußtlose[n] Idealismus des Bewußtseyns überhaupt«, auch wenn ansonsten gelte: »Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus, oder hat denselben wenigstens zu ihrem Princip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist.« 42 Weitere Beispiele für Lob und Tadel des Idealismus durch Fichte, Schelling, Hegel und andere deutsche Idealisten ließen sich nennen. Dabei ist diesen Philosophen kaum bewusst, welchen komplexen theoriegeschichtlichen Umständen sie ihren gemeinsamen epochengeschichtlichen Vereinigungsnamen ›Idealismus‹ verdanken. Ohne Kants positive Wiederaufnahme des Idealismus-Begriffs gegen die allgemeine antiidealistische Grundströmung des 18. Jahrhunderts wäre die Entstehung des deutschen Idealismus unter dem Theorielabel ›Idealismus‹ nicht denkbar gewesen. Die Rezeption des Begriffs ›Idealismus‹ von Kant erfolgte in der Frühphase des Deutschen Idealismus wie selbstverständlich bereits durch Fichte in den frühen Wissenschaftslehren und Schelling sollte diesen Begriff sogar in den Titel seines Systems des transzendentalen Idealismus (1800) aufnehmen. Wie Hegel waren Fichte und Schelling selbstbekennende Idealisten. Dies ist überaus bemerkenswert, da ihnen der Streit um den Idealismus im Anschluss an die Publikation der Kritik der reinen Vernunft (A) bestens vertraut war, d. h., sie mussten damit rechnen, derselben Idealismus-Schelte ausgesetzt zu werden wie Kant vor ihnen. Kants konsequent idealistische Denkungsart hat insofern Wirkungen über sein eigenes Werk hinaus gezeitigt, deren Folgen er

fassender angelegt als meine Argumentation, dass dieses Konzept ohne die Rückgewinnung des Idealismus-Begriffs durch Kant nicht denkbar gewesen wäre. 41 In: J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Bd. I, 3, hrsg. von R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 338. 42 In: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 21, hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke, Hamburg 1985, S. 142 f.

Kantische konsequente Denkungsart und der Anti-Idealismus des 18. Jahrhunderts

selbst nicht abzusehen vermochte. Die Geschichte des Idealismus des deutschen Idealismus, die den Ursprüngen des Idealismus-Begriffs im 18. Jahrhundert nachgeht, muss erst noch verfasst werden.

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Christian Beyer

Husserl über Existenz und Existenzurteile 1. Einleitung

Zu einer »konsequenten Denkungsart« in der Kritischen Philosophie ist Kant nach Bernd Ludwigs Interpretation gelangt, indem er (veranlasst durch zwei Rezensionen von Pistorius) über die Begründung eines Existenzurteils aus transzendentalphilosophischer Sicht nachgedacht hat: ›Ich als denkende Substanz (Seelenwesen) existiere wirklich‹ (vgl. Ludwig 2010, Abschn. Vf.; Ludwig 2012, Abschn. IIIff.). Dieses Urteil ist für Kant nicht lediglich eine triviale Feststellung, in der sich die »logische Funktion« (B 429 f.) des ›Ich denke‹ artikuliert, sondern ein erkenntniserweiterndes Urteil, dessen Rechtfertigung freilich nicht »in der Erfahrung« liegen könne, sondern »a priori« im Rekurs auf das »Bewußtsein des moralischen Gesetzes« und das »eigene[…] Dasein […] als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend« (B 430 f.) erfolge. Wenn sich Kants »konsequente Denkungsart« demnach der (Meta-) Rechtfertigung eines nicht-trivialen, informativen Existenzurteils verdankt, dann dürfte der Unterschied eines solchen Urteils von einem trivialen Existenzurteil nicht nur bedeutungs- und intentionalitätstheoretisch, sondern auch metaphilosophisch von Interesse sein. Eine detaillierte, u. a. durch Freges (auch Kants logischer Urteilstafel gegenüber bahnbrechende; vgl. Ludwig, unveröffentlicht, Abschn. IV, Fn. 30) Logik beeinflusste Analyse dieses Unterschieds findet sich bei Husserl. Seine diesbezügliche Auffassung wird ausführlich in dem langen § 40 (»Existenzialurteile und Impersonalien«) seiner Vorlesungen über Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie (1917/18; erste Fassung 1910/11) dargelegt. Dabei knüpft er ausdrücklich an Ideen Bolzanos, Brentanos und (wie gesagt) Freges an. Nachfolgend möchte ich – in der gebotenen Kürze – Husserls einschlägige Ausführungen wiedergeben, unter besonderer Berücksichtigung der Konsequenzen, die sich aus ihnen für die Analyse singulärer Existenzaussagen ergeben, zu denen auch das im vorigen Absatz erwähnte kantische Ich-Urteil inhaltlich zu gehören scheint. (Den Begriff einer solchen Aussage werde ich gleich näher erläutern). Der Darstellung bei Husserl folgend, beginne ich mit seiner Diskussion von Brentanos Auffassung der Existenzurteile (Abschnitt 3), schildere dann die Gedanken, die er von dem, wie er sagt, »scharf-

Husserl über Existenz und Existenzurteile

sinnigen Frege« übernimmt, aber auch, wie er mit Blick auf singuläre Existenzaussagen von ihm abweicht (Abschnitt 4), und gehe anschließend auf seine Kritik sowohl als auch seine positive Anknüpfung an Bolzano bei der Entfaltung seiner eigenen, »noematischen« Sichtweise ein (Abschnitt 5). Abschließend wird die »transzendental-idealistische« Dimension von Husserls Existenzauffassung erläutert und diskutiert. Dabei erweist sich Husserl in einem prägnanten Sinne als analytischer Philosoph (Abschnitt 6). Als Erstes möchte ich den Begriff einer singulären Existenzaussage einführen (Abschnitt 2).

2. Singuläre Existenzaussagen

Was sagen wir – welche Art von Aussage oder Proposition drücken wir aus –, wenn wir (S1) bis (S3) mit behauptender Kraft äußern? 1 (S1) Holmes existiert nicht. (S2) Die Baker Street existiert. (S3) Dieser blutige Dolch existiert nicht. Es kommt darauf an, wie der singuläre Term jeweils verwendet wird – welche »nominale Form« er annimmt (Hua XXX, 144). So kann es im (Satz-)Kontext von (S1) mehrere Verwendungen des Namens ›Holmes‹ geben, je nachdem, ob sich die Sprecherin auf eine reale Person oder vielmehr eine fiktive Figur bezieht oder ob sie (wie Conan Doyle, wenn er aus einer seiner SherlockHolmes-Geschichten vorliest) nur im Als-ob-Modus auf eine reale Person referiert, indem sie ›Holmes‹ verwendet, um so zu tun, als ob sie auf jemanden referierte (statt zu referieren), ohne jedoch die Absicht zu haben, die Adressaten ihrer Äußerung zu täuschen (vgl. Künne 1983, 291–294). In ähnlicher Weise kann im Kontext von (S3) ›dieser blutige Dolch‹ sowohl zwecks Bezugnahme auf einen realen Dolch, einen halluzinierten oder illusorischen Dolch als auch zwecks Als-ob-Referenz auf einen Dolch verwendet werden. So könnte ich auf einen blutigen Dolch zeigen, ganz offensichtlich in dem Glauben, dass ich visuell mit einem solchen Dolch konfrontiert bin, und (S3) äußern, um in Bezug auf den Dolch, auf den ich dabei zeige, zu behaupten, dass er nicht existiert – was natürlich trivialerweise falsch wäre. Wenn es mir dagegen so vorkommt, als sähe ich einen blutigen Dolch, ich meine visuelle Erfahrung aber für halluzinatorisch oder illusorisch halte, dann könnte ich (S3) äußern, 1 Für den vorliegenden Abschnitt vgl. Beyer 2004, Abschn. 1. (Die Auflösung der Kurznachweise findet sich im Literaturverzeichnis am Ende dieses Beitrags.)

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um von einem halluzinierten oder illusorischen Dolch zu behaupten, dass er nicht wirklich existiert (vgl. Kripke 1973, 4. Vorlesung); in diesem Fall würde meine Äußerung (dem Ausdruck) einer nicht-trivialen, (potentiell) informativen Aussage dienen. (Man denke an Fälle, in denen jemand glaubt, dass er und seine Begleiterin einer gemeinsamen Wahrnehmungstäuschung unterliegen, und (S3) äußert, um einen entsprechenden Glauben bei seiner Begleiterin hervorzurufen; vgl. Evans 1982, 352.) In ähnlicher Weise kann ich (S2) sowohl äußern, um eine triviale Wahrheit auszudrücken, als auch, um eine informative Feststellung zu treffen, als auch, um etwas im Als-ob-Modus zu behaupten – d. h. um in der Manier eines Schauspielers vorzugeben, etwas zu behaupten, ohne dabei die Absicht zu haben, mein Publikum zu täuschen. Im Folgenden werde ich mich auf diejenigen Verwendungsweisen von Sätzen wie (S1) bis (S3) beschränken, in denen sie geäußert werden können, um etwas Informatives zu behaupten. Ich werde auf solche Aussagen unter dem Titel singuläre Existenzaussagen Bezug nehmen. Wie Gareth Evans herausgestellt hat, scheint das Wort ›wirklich‹ als Operator zu fungieren, der, wenn er einem Satz vorangestellt wird, mit dem etwas im Als-ob-Modus behauptet werden kann, einen Satz erzeugt, dessen assertive Äußerung dann und nur dann als wahr (in Bezug auf die wirkliche Welt w0) zu bewerten ist, wenn (=: gdw) die jeweilige Als-ob-Behauptung eine wahre Aussage (in Bezug auf w0) ausdrückt (vgl. Evans 1982, 369 ff.). So wäre eine gegebene assertive Äußerung ›Really (Baker Street does exist)‹ oder ›Baker Street really does exist‹, wobei sich ›Baker Street‹ auf die bekannte Baker Street in London bezieht, die in Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten beschrieben wird, de facto wahr, und im Kontext einer gegebenen Sherlock-Holmes-Geschichte würde jede entsprechende Als-ob-Behauptung eine Aussage zum Ausdruck bringen, die relativ zur wirklichen Welt wahr ist. (So wie ich die Formulierung ›… drückt eine Aussage aus‹ verwende, kann man sagen, dass sowohl Behauptungen als auch ihre unverbindlichen, nicht setzenden Gegenstücke, einschließlich Als-ob-Behauptungen, eine Aussage ausdrücken.) Eine Besonderheit dessen, was ich »singuläre Existenzaussagen« nenne, im Gegensatz zu jenen »Existenzaussagen«, die durch (Äußerungen von) Sätzen wie (S1) bis (S3) in ihrer nichtinformativen Verwendung ausgedrückt werden können, ist, dass sie durch Sätze behauptet werden können, die aus einem Satz des Typs ›a existiert (nicht)‹ und einem vorangestellten ›wirklich‹ in der erwähnten Verwendungsweise bestehen (wobei ›a‹ für einen bestimmten singulären Term steht). Aussagen, die mit Sätzen wie (S1') bis (S3') behauptet werden können, sind Beispiele dafür.

Husserl über Existenz und Existenzurteile

(S1') Wirklich! Holmes existiert nicht. (S2') Wirklich! Die Baker Street existiert. (S3') Wirklich! Dieser blutige Dolch existiert nicht. 2 Ich gehe davon aus, dass singuläre Existenzaussagen die (möglichen) propositionalen Gehalte bestimmter (psychischer) Urteile sind, die durch die assertive Äußerung von Sätzen wie (S1') bis (S3') (im engeren Sinne) kundgegeben (vgl. Hua XIX/1, 39 ff.) werden können. Die Frage, um deren Beantwortung bei Husserl es im Folgenden geht, ist also die folgende: Welche Form nimmt der propositionale Gehalt an, der geurteilt wird, wenn die Sprecherin einen Satz aufrichtig äußert, um eine singuläre Existenzaussage auszudrücken?

3. Husserls Lesart von Brentanos Existenzauffassung

Husserl behandelt singuläre Existenzaussagen nicht separat, sondern, wie die Eingangspassage von § 40 zeigt, zusammen mit generellen Existenzaussagen: [1] Ich nannte letzthin die universellen Aussagen ein Kreuz der Logik. In noch höherem Maße gilt das von den Existentialaussagen und von den ihnen dem Sinn nach innig verwandten Impersonalien. Beispiele von Existentialsätzen sind: »Gott existiert« oder: »Gott ist«, »Ein regelmäßiges Dekaeder existiert nicht, ist nicht«. Beispiele von Impersonalien: »Es fehlt an Geld«, »Es brennt«, »Es gibt regelmäßige Hexaeder«, »Es gibt nicht regelmäßige Dekaeder« usw. (Hua XXX, 172)

Brentano erklärt die »innige Verwandtschaft« zwischen Existenzaussagen und Impersonalien, so Husserl, indem er beide als subjektlos – und damit nach seiner Auffassung auch prädikatlos – konzipiert: Es handle sich beiderseits um »einfache Urteile«, in denen etwas, z. B. Gott oder ein regelmäßiges Dekaeder überhaupt, »anerkannt«, d. h. »behauptend gesetzt«, oder »verworfen« werde (ebd., 174). Alle Urteile mit »festen Termini« (also solchen, die sich mit 2 Evans würde ›Dieser blutige Dolch existiert nicht (wirklich)‹ so paraphrasieren: ›Not (Really (this blooddy dagger does exist))‹, also ungefähr im Sinne von ›Dieser blutige Dolch existiert? Nicht wirklich!‹. Diese Abweichung ist aus meiner Sicht unproblematisch, da mir (S3') und Evans’ Paraphrase äquivalent zu sein scheinen. Entsprechend bin ich der Auffassung, dass der eingebettete Satz in (S3'), also ›Dieser blutige Dolch existiert nicht‹, dazu verwendet werden kann, etwas im Als-ob-Modus zu behaupten. Schließlich kann man ja vortäuschen, vorzutäuschen, etwas in Bezug auf einen bestimmten blutigen Dolch zu behaupten (ohne die Adressaten täuschen zu wollen); und um mit Hilfe meines Evans-inspirierten ›wirklich!‹-Tests zu verdeutlichen, dass (S3) zwecks Behauptung einer (negativen) Existenzaussage gebraucht werden kann, muss ich (S3) als (S3') wiedergeben (statt Evans’ Paraphrase zu wählen).

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Eigennamen, Demonstrativa oder singulären indefinite Kennzeichnungen [»quidam«-Ausdrücken] 3 artikulieren lassen) seien in derartigen einfachen Urteilen fundiert. Kategorisch geformt seien einfache Urteile nach Brentano nur dann, wenn sie »Leerstellen« oder »Überhaupt-Stellen« im (Frege-inspirierten; s. u.) Sinne Husserls enthielten: [2] Also, um rein partikuläre und universelle Urteile handelt es sich dann. Alle solchen Urteile sind nach Brentano in Wahrheit Existentialurteile; so sei die Form »Einige S sind p«, »Einige Menschen sind gelehrt« zu reduzieren auf: »Es gibt ein S-seiendes p« oder, ganz rein gefaßt: »Ein p-seiendes S ist«, »Alle S sind p« = »Es gibt kein SP« 4 usw. (Hua XXX, 175)

Auch wenn Husserl Brentanos Gleichschaltung von Existenzurteilen, quantifizierten Urteilen (also partikulären oder universellen) und Setzungen ablehnt (ebd., 176–79), greift er Brentanos Idee der Setzung auf. Die festen Termini singulärer Urteile seien »Träger eigener behauptender Setzung«, die »Termini der Partikularität und Universalität« (wie z. B. ›ein regelmäßiges Hexaeder‹ in Zitat [1]) hingegen nicht; stattdessen enthielten diese »Leerstellen« (ebd., 178). Diesen Terminus gebraucht Husserl ähnlich wie Frege, von dem er nach eigener Auskunft (ebd., 180) auch die Idee der »propositionalen Funktion« übernimmt (auch wenn dieser Ausdruck und das einschlägige Zitat [3] eher nach Russell klingen). Damit komme ich zu Abschnitt 4.

4. Der »scharfsinnige Frege«. Singuläre Existenzaussagen als »Funktionalsätze mit einem Quasi-Subjekt ohne Setzung«

In einem auf von der Herausgeberin auf das Jahr 1910 datierten Manuskript schreibt Husserl: [3] Daß ein A b ist, gilt a) mitunter, in »einem Fall«, in mehreren Fällen; a') auch: gilt in einem gewissen Fall, gilt in mehreren gewissen Fällen, in einer gewissen Mehrheit von Fällen; und b) gilt allgemein. Wir haben zu unterscheiden 1) die »Urteilsform«: »Ein A ist b«, »Ein Mensch ist sterblich« – die Funktion, die propositionale Funktion. 2) Das Urteil und den Satzgedanken: »Ein Mensch ist sterblich«. Das letztere ist notwendig entweder universelles oder partikuläres Urteil oder quidam-Urteil. Das erstere ist überhaupt kein Urteil, sondern eben Funktion. Und von der Funktion kann ich aussagen, daß sie »erfüllt« ist in gewissen Fällen, entweder partikulär oder universell. (Hua XXX, 359) 3 Z. B. ›Jemand ist draußen vor der Tür‹ = ›Es gibt eine/n [bestimmte/n Mann/Frau], der/ die draußen vor der Tür ist‹; vgl. Hua XXX, § 32, Ende. 4 Lies: ›Es gibt kein nicht p-seiendes S‹.

Husserl über Existenz und Existenzurteile

Bei den sub 1) angeführten Fällen handelt es sich um »uneigentliche Sätze« im Sinne Freges: In der hier relevanten Verwendungsweise enthält der Satz ›Ein Mensch ist sterblich‹ (ebenso wie die Sätze ›Etwas ist sterblich‹ und ›Es ist kein Gott‹ im Kontext des zwecks Ausdruck eines »allgemeinen Gedankens« verwendeten Satzes ›Wenn etwas sterblich ist, dann ist es kein Gott‹) einen unbestimmt »andeutenden« Bestandteil, der einer durch einen Quantor zu bindenden (oder durch »das Zeichen des Arguments« zu ersetzenden; vgl. Frege 1891, 7 f.) Variablen entspricht, und der Satz drückt (in dieser Verwendungsweise) keine wahrheitswertfähige Proposition aus (vgl. Frege 21983, 207; vgl. auch Frege 1892, 42 ff.). Tatsächlich beruft sich Husserl im Zusammenhang mit 1) ausdrücklich auf Frege: [4] Dieses Gemeinsame ist nun nichts anderes, als was der Mathematiker in seiner Sphäre Funktion nennt, und der scharfsinnige Frege hat das Verdienst, dies in seiner Schrift »Funktion und Begriff« (die Anfang der 90er Jahre erschienen ist) erkannt zu haben […]. Also. z. B. »Ein Mensch ist sterblich« ist eine Funktion oder propositionale Funktion, die nominal herausgestellt ist, 5 wenn wir aussagen: »Daß ein Mensch sterblich ist, gilt allgemein«. Allgemeine Geltung können wir nicht vom Urteil aussagen. Das Urteil »Ein Mensch überhaupt ist sterblich« oder »Jeder Mensch ist sterblich« ist ein allgemeines Urteil und ein gültiges Urteil. Aber es hat genau besehen keinen Sinn, von ihm zu sagen, es gelte in jedem Fall. Dagegen diese bloße Satzform »Ein Mensch ist sterblich« mit der Leerstelle »ein« gilt in jedem Fall, nämlich sie ergibt jederzeit einen gültigen Satz, welchen besonderen Menschen wir auch an die Leerstelle bringen mögen. Die Leerstellen einer propositionalen Funktion sind das, was der Mathematiker Argumente nennt. Wir hätten dann zu unterscheiden quantifizierte und nichtquantifizierte Funktionen. (Hua XXX, 180)

Allerdings würde Frege den (der Variablen entsprechenden) unbestimmt andeutenden Bestandteil des Satzes ›Ein Mensch ist sterblich‹ (in der hier relevanten Verwendungsweise) nicht mit zum Funktionsausdruck zählen. Letzterer enthält nach Frege eine Leerstelle oder »Lücke«, welche hier durch eine Variable bzw. ihr alltagssprachliches Gegenstück in unbestimmt andeutender Weise ausgefüllt wird, so dass ein uneigentlicher Satz entsteht (vgl. Frege 2 1983, 217). Wie dem auch sei, quantifizierte Funktionen (denen durch einen Quantor regierte uneigentliche Sätze entsprechen) machen jedenfalls für Husserl den propositionalen Gehalt – die »volle logische Materie« (ebd.) – eines »Über-

5 Frege würde die Nominalisierung einer Funktion (eines Funktionsausdrucks) mangels Ergänzungsbedürftigkeit natürlich nicht mehr als Funktionsausdruck betrachten.

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haupt-Urteils« (ebd., 181) aus, d. h. eines partikulären oder universellen Urteils. Ein solches Urteil enthält Termini, wie z. B. ›ein Mensch‹, die, so Husserl, »keine Setzung annehmen, ja nicht einmal annehmen können, ohne daß das ganze Urteil den Charakter des Überhaupt-Urteils verliert« (ebd.). [5] Nachdem wir diese Unterschiede gemacht haben, ist leicht zu sehen, daß alle Urteile hinsichtlich ihrer Materien in zwei große Klassen zerfallen. Die Materien sind entweder quantifizierte Funktionen, oder sie sind Besonderungen der unquantifizierten Funktionen, aus entsprechenden Funktionen dadurch hervorgehend, daß man die Leerstellen, die Argumente, durch bestimmte »Werte« erfüllt. Dadurch entstehen die festen Urteile, die keine »Argumente«, sondern »feste Termini« enthalten, volle Termini oder ihnen hier parallel stehende mit »dies« oder »gewisse« […]. In jedem festen Terminus steckt eine Setzung. (Hua XXX, 181)

Setzungen sind demnach keine (und sei’s auch einfachen) Existenzurteile oder -behauptungen, sondern entstehen durch Einsetzung eines singulären Terms in eine Argument- oder Leerstelle des Ausdrucks einer propositionalen Funktion bzw. durch Zuordnung »bestimmte[r] ›Werte‹« bezüglich dieser Funktion. Das Urteilen eines »festen Urteils« besteht u. a. darin, dass man eine solche Zuordnung vornimmt – »daß man die Leerstellen, die Argumente, durch bestimmte ›Werte‹ erfüllt«. Dieser Aspekt des Urteilens heißt »Untersetzung« (ebd., 189). Sein ergänzender prädikativer Aspekt lässt sich dann als »Daraufsetzung« beschreiben. Erst das Ganze, bestehend aus dieser prädikativen Daraufsetzung und ihrer zugrundeliegenden Subjektsetzung, ist ein Urteilsakt. Daher wird mit einem festen sprachlichen Terminus auch kein eigenes Urteil kundgegeben, sondern lediglich eine Subjektsetzung im erläuterten Sinne. Entsprechend heißt es schon in einer Vorstudie zu den Logischen Untersuchungen: [6] »Sage ich ›der Kaiser‹, so sage ich nichts aus, d. h., ich prädiziere nicht (in dem Ausdruck für sich), aber es ›liegt darin‹, dass es sich um eine wirkliche Persönlichkeit handelt. In dieser Form, d. h. mit solchem Subjekt, kann nur prädizieren, wer anerkennt, dass es einen Kaiser gibt (obschon er diese Anerkennung als den Satz nicht vollzieht). Und umgekehrt, wer dies anerkennt, kann von dem Kaiser sprechen. […] Sagt jemand ›Der Kaiser von Frankreich‹, so wenden wir ein ›Du glaubst, es gebe einen Kaiser von Frankreich‹ etc. (Hua XXXX, 139)

Ähnlich wie für Frege (vgl. dessen Antwort auf den Einwand einer Skeptikerin, welche die Existenz des Mondes infragestellt, in Frege 1892, 31 f.) und auch für Strawson (an dessen Russell-Kritik in Strawson 1950 insbesondere der letzte Satz des Zitats [6] erinnert) geht für Husserl mit dem Gebrauch einer

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Kennzeichnung wie ›der Kaiser‹ also eine Existenzpräsupposition einher, die nicht mit einer Existenzbehauptung zu verwechseln sei: die sog. behauptende Setzung oder »Anerkennung« eines Bezugsgegenstandes seitens der Sprecherin. Zu der Auffassung, dass nur Urteile mit festen Termini, aber keine mit quantifizierten Funktionen als Materie solche Setzungen involvieren und mit solchen Präsuppositionen verbunden sind, ist Husserl möglicherweise im direkten Austausch mit Frege gelangt, der in seinem Brief an Husserl vom 9. 12. 1906 schreibt: [7] Sie schreiben: »Die Form mit ›Alle‹ wird normalerweise so verstanden, dass die Existenz von Gegenständen, die unter den terminalen Begriffen stehen, mitgemeint und als zugestanden vorausgesetzt ist«. Mir scheint, dass der Sinn, den Sie haben wollen, nur erreicht wird, wenn das Wort »mitgemeint« gestrichen wird. Wenn die Existenz mitgemeint wäre, so wäre die Verneinung des Satzes »alle m sind n« »es gibt ein m, das nicht n ist; oder es gibt kein m«. Dies wollen Sie aber, wie es scheint, nicht. Die Existenz soll zwar als zugestanden vorausgesetzt, aber nicht mitgemeint sein. Ich gebrauche nun die Wendung mit ›Alle‹ so, dass ich die Existenz weder mitmeine, noch als zugestanden voraussetze. […] Der Grund für meine Festsetzung ist die Einfachheit. (Frege 1976, 106)

Aus Einfachheitsgründen sei es für logische Zwecke »untunlich«, den Allquantor mit einer Existenzpräsupposition zu verwenden (ebd.). Solche Präsupposition sollten demnach nur mit dem Gebrauch sprachlicher Gegenstücke der von Husserl so genannten festen Termini einhergehen. In Zitat [8] führt Husserl seine Idee, dass »die Leerstellen nicht schon Setzungen enthalten«, allerdings auf seine zuvor präsentierte kritische Auseinandersetzung mit Brentano zurück, die freilich ihrerseits vor dem Hintergrund Frege’scher Gedanken über Quantifikation zu verstehen ist: [8] Wir scheiden die Urteile mit Unbestimmten, in denen nur quidam-Stellen auftreten, von solchen, in denen echte Termini der Partikularität und Universalität auftreten. Wir können sagen, die ersteren sind Träger eigener behauptender Setzung, die letzteren nicht. Darauf werden wir durch Brentanos Reduktionen aufmerksam, die, genau überlegt, eben voraussetzen, daß die Leerstellen nicht schon Setzungen enthalten, da nur dann seine Auffassung, es handle sich bei den ganzen Urteilen um einfache Behauptungen, richtig sein kann. In einem partikulären und universellen Urteil können zwar sonst Stellen der behauptenden Setzung auftreten, aber das ist sicher, daß die Unbestimmtheitstermini nicht diese Stellen sein können. (Hua XXXX, 178)

Als Zwischenfazit kann daher festgehalten werden, dass Husserl Brentanos Idee der Subjektsetzung vor dem Hintergrund der Frege’schen Logik dahingehend modifiziert, dass es sich dabei nicht um ein Existenzurteil, sondern die

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intentionale Ausfüllung einer Leerstelle durch einen »Wert« (Argument) handelt – einen Gegenstand im logischen Sinne. In den meisten Fällen geht der Gebrauch singulärer Terme automatisch mit einer Existenzpräsupposition einher. Es gibt aber auch Fälle, in denen eine solche Präsupposition erst etabliert werden muss – und genau an dieser Stelle kommen singuläre Existenzurteile bzw. -aussagen ins Spiel, wie wir nunmehr sehen werden. Die Bezeichnung »singuläres Existenzurteil« ist allerdings insofern missverständlich, als ein solches Urteil Husserl zufolge gar keinen festen Terminus involviert, sondern, wie gleich noch hinreichend deutlich werden wird, ein »Quasi-Subjekt ohne Setzung« (ebd., 186). Es liegt also keine Untersetzung und daher auch keine Daraufsetzung vor – das Urteil ist kein kategorisches, es ist vielmehr subjekt- und prädikatlos (ebd., 191). Anhand des Beispiels ›Sokrates ist etwas‹ begründet Husserl dies wie folgt: [9] Denn ist Sokrates mit der Subjektsetzung in Wirklichkeitsweise gesetzt, so sagt das leere »etwas« von ihm gar nichts Neues aus; natürlich, jedes Subjekt ist etwas, das liegt schon in der Subjektsetzung als solcher. […] Also, wenn wir die Sätze »Sokrates ist etwas«, »Sokrates ist nichts« als kategorische verstehen, dann besagen sie ungefähr soviel wie: »Sokrates ist Sokrates« und »Sokrates ist nicht Sokrates«, jedenfalls etwas damit Äquivalentes. Es ist aber völlig evident, daß sie dann nicht gleichwertig sein können den Existentialsätzen »Sokrates existiert«, »Sokrates existiert nicht«. (Hua XXX, 189)

Warum ist dies völlig evident? Weil eine singuläre Existenzaussage im Gegensatz zu ›Sokrates ist Sokrates‹ keine »pure, lächerliche Tautologie« ist, sondern erkenntniserweiternd. Dazu muss der Ausdruck ›Sokrates‹ dann aber ohne Setzung verwendet werden: [10] Entweder wir vollziehen bei dem festen Terminus eine Setzung, wir sagen aus: »Sokrates ist etwas«, »Gott ist etwas« – wo das Subjekt ein als wirklich gesetztes und somit eigentliches Subjekt ist –, dann verliert das »etwas« auf Prädikatseite den Charakter eines Arguments, und das Urteil wird zu einer Tautologie; ebenso im Fall der Negation, das kategorische Urteil, das dann erwächst, wird zum negativen Gegenteil einer Tautologie […]. Oder wir vollziehen keine Setzung, und mit denselben Worten – »Sokrates ist etwas«, »Der Zentaur Cheiron ist nichts« – ist jetzt ein total anderer Gedanke vollzogen. […] Also, nicht wird von Sokrates so ausgesagt, daß er existiere, daß er etwas sei, so wie von ihm ausgesagt wird, daß er der Lehrer des Plato, der Retter der griechischen Kultur vor der Sophistik u.dgl. war, als ob die einen und die anderen Prädikationen auf gleicher Stufe ständen. Ständen diese Prädikationen gleich, dann wäre »etwas« Prädikat, und das Prädikat »etwas« ist ein nichtssagendes, ein tautologisches Prädikat. Vielmehr wird im existentialen Urteilen überhaupt nicht im gewöhnlichen Sinn prädiziert, sondern eine Funktion – »Sokrates ist etwas« – erhält

Husserl über Existenz und Existenzurteile

idealerweise wie beim partikulären Urteil einen Gültigkeitswert, der sich bei der Leerstelle sozusagen einstempelt. […] Das höchst Merkwürdige der besprochenen Urteile – »Sokrates ist etwas« – in dem Sinn von Existentialurteilen ist dies, daß sie als Funktionalurteile auftreten, derart daß ihre Funktion einen Eigennamen ohne Setzung enthält. (Hua XXX, 190 f.)

Da Husserl, wie im Zusammenhang mit Zitat [4] deutlich wurde, Freges Unterscheidung zwischen Funktionsausdrücken und uneigentlichen, unbestimmt andeutende Ausdrücke (»Unbestimmte«) enthaltenden Sätzen nicht berücksichtigt, ist dieser Vorschlag aus Frege’scher Sicht modifikationsbedürftig. Er lautet dann, dass ein im vorliegenden Fall (›Sokrates ist etwas‹ als »Existential-« und »Funktionalurteil«) unausgesprochener Operator die unbestimmt andeutenden Bestandteile des uneigentlichen Satzes ›Sokrates ist etwas‹ derart bindet, dass ein (in diesem Falle gleichlautender) eigentlicher Satz resultiert, welcher eine nicht-tautologische Existenzaussage zum Ausdruck bringt (wobei der nicht setzende Eigenname ›Sokrates‹ im Rahmen des uneigentlichen Satzes die Singularität dieser Existenzaussage unbestimmt andeutet). Im Lichte der in Abschnitt 2 angestellten Überlegungen liegt es nahe, den ›Wirklich!‹-Operator mit diesem unausgesprochenen Element gleichzusetzen. Allerdings handelt es sich bei dem Urteil ›Sokrates ist wirklich‹ (der entsprechenden »Wirklichkeitsprädikation«) Husserl zufolge wohl nicht um ein Funktionalurteil (vgl. den zweiten Satz des folgenden Zitats [11] und die nachfolgende Klammerbemerkung). Hiervon abgesehen gelte für dieses Urteil aber das in [10] über das Funktionalurteil ›Sokrates ist etwas‹ Gesagte: Auch dieses Urteil wäre [11] […] eine Art Tautologie, wenn wir schon Sokrates in Wirklichkeitsweise gesetzt hätten. Nun wird man sich hier nicht entschließen wollen, die nicht-tautologischen Wirklichkeitsprädikationen mit Funktionalurteilen zu identifizieren. (Abgesehen davon, daß die Frage, was dem Funktionalsatz »Sokrates ist etwas« als festem Satz entspricht, unlösliche Schwierigkeiten bereiten würde, wenn wir nicht anderweitige Wirklichkeitsprädikationen hätten, die nicht Funktionalprädikationen sind.) (Hua XXX, 197)

Beide Formen – ›Sokrates ist etwas‹ und ›Sokrates ist wirklich‹ – sind singuläre Existenzaussagen in dem in Abschnitt 2 erläuterten Sinne; und Husserl zufolge sind sie miteinander »äquivalent« (ebd., 195), aber sinnverschieden. Um Letzteres auszubuchstabieren, bietet sich eine reduktive Analyse der zweiten Form an, der zufolge ›Sokrates‹ hier wie die Namenbuchstaben in (existenzannahmen-)freien Logiken ohne Existenzpräsupposition verwendet wird und der zugrundeliegende Gebrauch von ›… ist wirklich‹ auf ›9x(…=x)‹ reduziert, aber (aus den in der Klammerbemerkung in Zitat [11] angedeuteten

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Gründen) 6 nicht entsprechend eliminiert werden kann. Dann kann der Satz ›Sokrates ist wirklich‹, nachdem einmal ein solches »nicht-tautologisches« Existenzurteil gefällt (und dabei evtl. durch diesen Satz kundgegeben) wurde, fortan dazu verwendet werden, ein triviales (tautologisches) Existenzurteil kundzugeben, welches (wie es in Zitat [11] in der Klammer heißt) »dem Funktionalsatz ›Sokrates ist etwas‹ als festem Satz entspricht«. Die nicht-triviale Lesart des Satzes ›Sokrates ist wirklich‹ interpretiert Husserl zudem in kritischer Auseinandersetzung mit Bolzano im Rekurs auf seine Konzeption des Noema. Damit komme ich zu Abschnitt 5.

5. Husserls Diskussion von Bolzanos Auffassung singulärer Existenzurteile und seine Noema-Konzeption

Dass der Name ›Sokrates‹ in den beiden Beispielsätzen nicht setzend ist, läuft darauf hinaus, dass sein Gebrauch hier nicht die Existenz eines Namensträgers präsupponiert. Eine Möglichkeit, dies zu erklären, bietet laut Husserl prima facie die Bolzano’sche Auffassung, wonach solche Sätze in Wahrheit von der nominalen Bedeutung – der »Vorstellungen an sich« – handeln, die der Name ausdrückt, und von dieser Bedeutung »Gegenständlichkeit« prädizieren, also die Eigenschaft, dass ihr etwas auf der Gegenstandsebene entspricht. (Letzteres darf man aber, so Husserl, bei Strafe eines infiniten Regres6 Es ist mir nicht gelungen, diese Begründung zu rekonstruieren. Dem nicht-tautologischen Funktionalsatz ›Sokrates ist etwas‹ würde als fester Satz doch schlicht der gleichlautende Satz entsprechen, der so verwendet wird, dass er eine tautologische Aussage zum Ausdruck bringt; und diese Aussage läuft darauf hinaus, dass Sokrates mit etwas identisch ist (nämlich mit sich selbst). Vgl. die folgende Überlegung in Freges Nachwort zu seinem Dialog mit Pünjer über Existenz: »In dem Satze ›A ist sich selbst gleich‹ erfährt man ebensowenig etwas Neues über das A wie in dem Satze ›A existiert‹. Man kann in beiden für A setzen, was man will, sie bleiben immer richtig. […] Wenn man den Satz ›A ist sich selbst gleich‹ ausspricht, so kann das nur den Zweck haben, das logische Gesetz der Identität auszusprechen, nicht aber den, das A in irgendeiner Weise näher kennen zu lernen« (Frege 21983, 74). Husserls Ansatz zur Erklärung des unterschiedlichen Erkenntniswerts gleichlautender Sätze, die zwecks Ausdruck singulärer bzw. tautologischer Existenzaussagen verwendet werden, besteht denn auch nicht im Versuch, das Existenzprädikat im Falle singulärer Existenzaussagen irgendwie mit nicht-trivialem Informationsgehalt auszustatten, sondern eben darin, singuläre Existenzaussagen mit einem »Quasi-Subjekt ohne Setzung« zu versehen, derart dass sie nur dann mittels eines Satzes des Typs ›A existiert‹ ausgedrückt werden können, wenn der Satz so verwendet wird, dass mit dem Gebrauch des singulären Terms keine Existenzpräsupposition einhergeht. (In der soeben zitierten Frege-Passage steht ›A‹ hingegen durchweg für einen singulären Term, der mit Existenzpräsupposition verwendet wird.)

Husserl über Existenz und Existenzurteile

ses nicht als Analyse des Begriffs der Gegenständlichkeit auffassen, welcher vielmehr ein undefinierbarer Grundbegriff sei; vgl. ebd., 194.) Mit diesem Vorschlag sei Bolzano »der Wahrheit in der Frage des Existentialsatzes (wenn wir ihn als Satz über […] Wirklichsein auffassen) am nächsten gekommen« (ebd., 207). So, wie er dasteht, funktioniere der Vorschlag aber nicht. Um dies zu verdeutlichen, stellt Husserl eine phänomenologische Überlegung an: [12] Was aber bedenklich erscheint, ist, daß die Existentialurteile im Sinne von Wirklichkeits- und Unwirklichkeitsurteilen kategorische Urteile über Vorstellungen sein sollen. Die Veranlassung, sie so zu interpretieren, ist offenbar die ganz auffällige Änderung der Einstellung, die vorliegt, wenn wir z. B. einmal urteilen, und zwar kategorisch: »Der große Löwe ist aus der Menagerie ausgebrochen« und das andere Mal: »Ein Löwe, das ist etwas Wirkliches, ist keine Fiktion«. Das deutet sich Bolzano so, daß einmal in der Tat über Löwen, das andere Mal über die Vorstellung »ein Löwe« geurteilt wird. Aber ist nicht auch das ein Unterschied der Einstellung, ob wir einmal urteilen: »›Ein Löwe‹ ist eine nominale Vorstellung« – wo wir ja ganz gewiß über die Vorstellung »ein Löwe« urteilen […] – und ob wir andererseits urteilen: »Ein Löwe existiert«? Hätte Bolzano recht, daß da beiderseits über Vorstellungen geurteilt wird, so dürfte ja keine Einstellungsänderung eintreten, wenn wir vom einen zum anderen Beispiel übergehen. (Hua XXX, 196)

Das scheint mir eine zutreffende Beobachtung über die Bedeutungsintentionen zu sein, die dem Gebrauch der verwendeten Terme zugrunde liegen, und Entsprechendes gilt für ›Sokrates ist wirklich‹ vs. ›Die Vorstellung [Sokrates] ist gegenständlich‹. Was bedeutet der Subjektterm in dem Satz ›Sokrates ist wirklich‹ aber dann? [13] Bolzano sagt, das urteilsmäßig Gesetzte ist nicht »Sokrates«, sondern die »Vorstellung Sokrates«. Das kann aber Mehrfaches bedeuten. Die subjektive Vorstellung als Erlebnis des Vorstellens ist hier natürlich ausgeschlossen, im Bolzanoschen Sinn ist vielmehr die »Vorstellung an sich« gemeint, und das haben wir uns als nominale Bedeutung interpretiert; aber das ist nicht der einzige Begriff von Vorstellung, und gerade dieser Begriff hat sich ja als unbrauchbar erwiesen. Vorstellung kann auch heißen: »das Vorgestellte als solches« – und dieser Ausdruck wird in einem bestimmten Sinn genommen. (Hua XXX, 198)

Unter dem Titel »das Vorgestellte als solches« bringt Husserl hier seinen Begriff des gegenständlichen Kerns des Noema ins Spiel, den er auch als »Gegenstand in Anführungszeichen« beschreibt. Die Anführungszeichen sorgen dafür, dass der Gegenstand in der noematischen Beschreibung nicht als existent gesetzt wird – auch gegenstandlose subjektive Vorstellungen haben ein

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Vorgestelltes als solches. Der vorgestellte Gegenstand in Anführungszeichen sei von der nominalen Bedeutung zu unterscheiden. [14] Wie kommen wir zu dieser Unterscheidung? Nun, dadurch, daß es so etwas wie identifizierendes und unterscheidendes Urteilen gibt. Wir urteilen total identifizierend etwa: »Sokrates ist der Sohn des Sophroniskos«, »Der Sieger von Jena ist derselbe wie der Besiegte von Waterloo«. Und was wir nun von Sokrates behaupten, das überträgt sich uns selbstverständlich auch auf den Sohn von Sophroniskos. […] Wir sagen: Geurteilt wird im Identitätsurteil über den Gegenstand und über seine Identität mit sich selbst, und das hat Sinn dadurch, daß zwei Bedeutungen – evtl. sehr verschieden gebaut – verbunden sind durch die Bedeutung »identisch«. Über die Identität von Sokrates und dem Sohn des Sophroniskos urteilen ist aber nicht über diese Bedeutungen urteilen […]. […] Im Urteilszusammenhang hebt sich uns also in verschiedener Weise der Gegenstand als Identisches ab gegenüber den verschiedenen Vorstellungen bzw. Bedeutungen. Derselbe Gegenstand tritt uns entgegen als Einheit gegenüber verschiedenen Bedeutungen, in denen er vorstellig ist […]. (Hua XXX, 199 ff.)

Dem festen Terminus ›der Sohn des Sophroniskos‹ entspricht als nominale Bedeutung der »Gegenstand im Wie der Gemeintheit«, also das Noema oder (genauer:) der noematische Sinn, und das Vorgestellte als solches im Sinne des »gemeinten Gegenstandes« (auch: »Gegenstandes schlechthin«, »bestimmbaren X«) ist Husserl zufolge lediglich ein »Moment« dieses Sinnes: [15] Jemand redet etwa ernstlich von dem regelmäßigen Dekaeder. Dagegen richtet sich alsbald unser Nein. Wir sagen: »Das ist nicht!«, »– ist nicht wirklich«. Wieder ist aber der Gegenstand, der da betroffen ist, nicht das regelmäßige Dekaeder selbst (als ob wir von ihm aussagen würden – damit wäre es ja als seiend gesetzt, während wir ihm ja entgegenhalten das »Es ist nicht«), vielmehr das vorgestellte Dekaeder als solches. Nun werden Sie aber einwenden: Ist das nicht genau Bolzanos Lehre, nur mit anderen Worten? Nein […]. Mit dem Vorgestellten kann gemeint sein der Gegenstand schlechthin, und es kann (gemeint) sein der Gegenstand im Wie der Gemeintheit, und dieser Unterschied wird evident durch Gegenüberstellung von Terminis der Identifikation. (Während wir identifizieren, haben wir dasselbe als dasselbe bewußt, aber das Wie, der Sinn ist beiderseits verschieden. Der Sieger von Waterloo = der Besiegte von Jena – auf den Gegenstand kann der Blick gerichtet sein, er kann aber auch gerichtet sein auf den Sinn. Der Sinn impliziert den gemeinten Gegenstand. Der Gegenstand als Sinnesmoment ist nicht der Gegenstand im gewöhnlichen Sinn, sondern eben Sinnesmoment.) (Hua XXX, 202 f.)

Diesen Begriff des gegenständlichen Kerns des noematischen Sinns, also des gemeinten Gegenstandes schlechthin (auch: bestimmbaren X), den etwa im

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Beispiel aus Zitat [14] die beiden nominalen Bedeutungen von ›Sokrates‹ und ›der Sohn des Sophroniskos‹ als gemeinsames »Sinnesmoment« »implizieren« (gleichviel, ob das entsprechende Identitätsurteil wahr oder falsch ist), vermisst Husserl bei Bolzano. 7 Laut Husserl ist dieser »Gegenstand schlechthin« – nicht zu verwechseln mit dem »Gegenstand im gewöhnlichen Sinn« – infolge einer Setzung Teil (»Moment«) des noematischen Gegenstücks eines festen Terminus, der einen bestimmten Gegenstand vorstellt, und zwar unabhängig von der Weise, wie er diesen Gegenstand vorstellt (etwa als Sohn des Sophroniskos). Eine solche Setzung kann aufgrund eines singulären Existenzurteils erfolgen, das ein geeignetes »Quasi-Subjekt ohne Setzung« involviert, etwa die nicht setzende Vorstellung eines Sokrates oder (um auf die Beispiele S1-S3 zurückzukommen) eines Holmes, einer Baker Street oder eines gewissen blutigen Dolches. An der Leerstelle ›Sokrates‹ »stempelt sich« diese Setzung dann »sozusagen ein«, wie es in Zitat [10] heißt, und der Ausdruck ›Sokrates‹ entspricht fortan einem festen Terminus. Dies gilt selbst dann, wenn das betreffende Existenzurteil falsch ist, etwa aufgrund einer (nicht als solche durchschauten) Halluzination. In diesem Fall kann der »Gegenstand schlechthin« (das X) durch nachfolgende Urteile keine »erkenntnismäßige Sinnbereicherung« (Hua XX/2, 359) erfahren, der »Gegenstand, so wie er intendiert ist«, ist ein instabiles Sinngebilde (Stichwort: intentionale »Explosion«; vgl. Hua III/1, 320). Im veridischen Fall entspricht ihm hingegen ein bestimmter wirklicher Gegenstand (etwa ein Dolch) – nach Jiahao Wus Interpretation ist der »Gegenstand in Anführungszeichen« in diesem Fall sogar mit dem wirklichen Gegenstand identisch (vgl. Wu 2020, 165): »der Gegenstand-in-Anführungszeichen (das X) = der Gegenstand-ohne-Anführungszeichen« (Wu 2020, 144). Im nicht veridischen Falle (etwa im Falle einer Halluzination) gebe es ebenfalls ein X, aber eine solche »Disquotation« (ebd.) sei dann unzulässig. Den naheliegenden Einwand, dass Husserl den noematischen Sinn einer Baum-Wahrnehmung (das »Baumwahrgenommene als solches«) im Unterschied zum wahrgenommenen Baume als nicht brennbar beschreibe (vgl. Hua III/1, 205), kontert Wu mit der These, das Baumwahrgenommene als solches insgesamt könne nicht abbrennen, sein innerster Kern (das X) im veridischen Falle aber schon (vgl. Wu 2020, 158). Mark Siebel hat mich darauf hingewiesen, dass dieser Begriff mit Bolzanos Konzeption einer »Anschauung an sich« als einer »einfachen Einzelvorstellung« verwandt zu sein scheint (vgl. Bolzano 1837, 325 ff.). Allerdings entspricht jeder Anschauung im Sinne Bolzanos ein wirklicher Gegenstand, was für das bestimmbare X nicht gilt, welches im Übrigen laut Husserl ausnahmslos in jeder Einzelvorstellung an sich (jedem »Gegenstand, so wie er intendiert ist«) steckt, auch in nicht anschaulichen (sondern rein »begrifflichen«) Einzelvorstellungen im Sinne Bolzanos. 7

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Das ist eine kohärente Interpretation, die sich auch durch Zitate stützen lässt (vgl. Wu 2020, 159), hat aber die unschöne Konsequenz, dass das Wahrnehmungsnoema im veridischen Falle eine hybride – teils konkrete (Baum), teils abstrakte – Entität darstellt; Wu schreibt dazu, das Noema sei eben »kein reines Metall, sondern eine Legierung« (Wu 2020, 165). Ich selber ziehe vor dem Hintergrund der in Hua XXVI, Beilage XIX, diskutierten Beispiele perzeptueller Verwechslungen (Zwillingsbeispiele) und Husserls diesbezüglicher Überlegungen eine Rekonstruktion (bzw. Emendation) vor, die sich an dem im veridischen und nicht veridischen Fall identischen noetischen Pendant des bestimmbaren X orientiert: der vorprädikativen »Identitätssynthesis« (Hua XXVI, 51), die intentionalitätstheoretisch dafür verantwortlich ist, dass (wie es in Zitat [14] heißt) im »Identitätsurteil über den Gegenstand und über seine Identität mit sich selbst« geurteilt wird – und nicht über noematische Sinne (genauer: nominale Bedeutungen). In Beyer 2000 (§ 7) hatte ich dafür die vorprädikative mentale Disposition angesetzt, zeitübergreifende Identitätsurteile zu fällen, aufgrund der erwähnten Verwechslungsbeispiele jedoch auf die (von Wu gewählte) Möglichkeit verzichtet, das bestimmbare X im veridischen Falle mit dem Referenzobjekt oder auch mit einem entsprechenden objektabhängigen sub-propositionalen Gehalt gleichzusetzen. Objektabhängig ist nach meiner Rekonstruktion im veridischen Falle nicht das bestimmbare X allein, sondern erst der es als »Sinnesmoment« »implizierende«, dank des für die erkenntnismäßige Objektkonstitution zuständigen mentalen Informationsdossiers oder »Eigenbegriffs« (Hua XX/2, 358) gegenstandsbezogene noematische Sinn insgesamt. Das Wort »Quasi« bedeutet bei Husserl so viel wie »Als-ob«. Nicht-setzende Phantasievorstellungen sind z. B. Quasi-Wahrnehmungen oder Quasi-Erinnerungen, kurzum: Als-ob-Erfahrungen, in denen nur imaginativ so getan wird, als ob man eine Wahrnehmung oder Erinnerung erlebte (vgl. Husserl 1939, 199). Dies könnte auf einen Zusammenhang mit Husserls Theorie der Fiktion hindeuten, deren spätere Fassung in Husserls Werk Erfahrung und Urteil präsentiert wird, das teilweise auf Manuskripten von 1910–14 basiert (vgl. Husserl 1939, XXIV). Im dortigen § 40 heißt es: [16] Trotz der wesenhaften Zusammenhangslosigkeit aller Phantasieanschauungen ist doch in gewisser Weise auch hier Einheit möglich, nämlich sofern sich in allen Phantasien […] eine einzige Quasi-Welt konstituiert, als eine einzige teils angeschaut, teils vermeint ist in leeren Horizonten. Freilich steht es in unserer Freiheit, die Unbestimmtheit dieser Horizonte willkürlich durch Phantasien sich quasi-erfüllen zu lassen. […] Wie stehen die Vereinzelungen von Zeitpunkt, Zeitdauer etc. innerhalb verschiedener Phantasiewelten zueinander? Wir können im Hinblick auf ihre Be-

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standteile von Gleichheit und Ähnlichkeit sprechen, aber niemals von Identität, was gar keinen Sinn gäbe; und somit können keine verbindenden Unverträglichkeiten auftreten, die solche Identität ja voraussetzen würden. Es hat z. B. keinen Sinn, zu fragen, ob das Gretel in einem Märchen und ein Gretel in einem anderen Märchen dasselbe Gretel ist, ob was für das eine phantasiert und ausgesagt ist, mit dem für das andere Phantasierten stimme oder nicht stimme, wie auch, ob sie miteinander verwandt sind usw. Festsetzen – und es annehmen ist schon ein Festsetzen – kann ich es, aber dann beziehen sich beide Märchen auf dieselbe Welt. Innerhalb eines Märchens kann ich so fragen, da haben wir von vornherein eine Phantasiewelt, nur freilich hört die Frage auch da auf, wo die Phantasie aufhört, wo sie nicht näher bestimmt hat; und es bleibt der Ausgestaltung der Phantasie im Sinne der Fortführung der Einheit einer Phantasie vorbehalten, Bestimmungen willkürlich zu treffen (oder im unwillkürlichen Fortspinnen solche möglich werden zu lassen). In der wirklichen Welt bleibt nichts offen, sie ist, wie sie ist. Die Phantasiewelt »ist« und ist so und so, soweit sie von Gnaden der Phantasie phantasiert worden ist […]. […] In dem Ausgeführten liegt beschlossen, daß Individuation und Identität des Individuellen, sowie die darauf sich gründende mögliche Identifizierung nur innerhalb der Welt wirklicher Erfahrung auf Grund der absoluten Zeitlage möglich ist. […] Phantasieerfahrung gibt danach überhaupt keine individuellen Gegenstände im eigentlichen Sinn, sondern nur quasi-individuelle und QuasiIdentität, nämlich innerhalb der festgehaltenen Einheit einer Phantasiewelt. (Husserl 1939, 200–203)

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass setzende (oder wie es in Erfahrung und Urteil heißt: positionale), echte Erfahrungen über ihre Gegenstände bzw. deren Identität innerhalb des Erfahrungshorizonts nicht verfügen können: Die entsprechenden Setzungen erfolgen im Gegensatz zu Quasi-Setzungen ganz unwillkürlich. Das Noema einer Wahrnehmung bzw. Erinnerung besitzt daher einen anderen »thetischen Charakter« als das einer bloßen Phantasievorstellung. Dagfinn Føllesdal schreibt zutreffend über diesen thetischen Charakter, den Husserl in einem Manuskript von 1908 bezogen auf den Fall der Wahrnehmungen und Erinnerungen als »impressionalen Glauben« und als »den impressionalen Charakter« schlechthin kennzeichnet (Hua XXXIII, 218) 8: [17] There is […] a connection between memory and present sensation that constrains us, and this gives to memory, as it gives to perception, a reality-character. What is remembered, and what is perceived, is experienced as real. Remembering and perceiving are here unlike fantasizing, which is unencumbured by my hyle. I can fantasize whatever I want. I may fantasize that there is a horse in this room, but I cannot perceive a horse now, however hard I try. The prize we have to pay 8

Auf diesen Text hat mich Frode Kjosavik aufmerksam gemacht.

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for the freedom of fantasy is that what we fantasize is not real. The recalcitrance that is present in perception and in memory plays an important part in giving these kinds of acts their reality-character. (Føllesdal 2007, 282)

Es ist verlockend, diesen Gedanken der phantasiemäßigen Quasi-Setzung mit Husserls zuvor wiedergegebenen Ausführungen über singuläre Existenzurteile als Funktionalurteile »mit einem Quasi-Subjekt ohne Setzung« zu verbinden. Demnach drückten Sätze wie ›Holmes war kein schwieriger Mitbewohner‹ intra-fiktional keine Propositionen aus, sondern propositionale Funktionen. Im Rahmen einer Husserl-Interpretation sollten wir dieser Verlockung aber widerstehen. 9 Nichts spricht dafür, dass wir laut Husserl ein setzendes Denken an Sokrates fingieren, während wir urteilen: ›Sokrates ist etwas, er existiert wirklich‹ – auch wenn eine solche Auffassung bezüglich negativer singulärer Existenzurteile phänomenologisch durchaus plausibel erscheint, wie die folgende Überlegung bei Evans illustriert: [18] A singular negative existential statement involves a make-believe reference, which must bring with it the possibility of make-believedly having, or soliciting, an answer to the question ›Which one are you referring to?‹ ›Which one is it‹, we might say, ›that you are saying does not really exist?‹ And giving an answer, or even being prepared with an answer, to this question inevitably draws one into the pretence. ›That little green man on the top of the wall – that is the man I am saying does not exist‹. (Evans 1982, 369)

Mit »Quasi-Subjekt ohne Setzung« ist hingegen bei Husserl nicht ein »Subjekt mit Quasi-Setzung« gemeint, mit dem eine Bezugnahme (reference) im Als-ob- oder make-believe-Modus vorgegeben würde, sondern einfach ein Terminus, der nur scheinbar ein an Subjektstelle stehender fester Terminus ist, in Wahrheit aber ohne Setzung eines individuellen Gegenstandes verwendet wird. Es handelt sich um ein Als-ob-Subjekt im Sinne eines Schein-Subjekts im Rahmen eines Urteils, das in Wahrheit nicht kategorisch (kein S-PUrteil) ist. (Husserl nennt es wegen seiner scheinbar kategorischen Form »kategoroid«; vgl. Hua XXX, 190.) Eine Aussage zur Ontologie der Fiktion, wie man sie mit (S1) aufstellt, wenn man damit eine negative Existenzaussage ausdrückt, gibt demnach nicht gleichsam im Als-ob-Modus vor, auf Holmes zu referieren, um etwas über ihn zu prädizieren (hier: Mangel an Existenz). Diese Auffassung würde den Unterschied zwischen Behauptungen über Fiktives und intra-fiktionalen Quasi-Behauptungen – etwa beim Vorlesen aus einer Sherlock-Holmes-Geschichte in Dr.-Watson-Montur – verwischen. Wer 9

In Beyer 2004 war ich dieser Versuchung selber erlegen.

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eine Phantasiegeschichte ausspinnt oder sich darauf einlässt, vollzieht QuasiSetzungen; wer singuläre Existenzaussagen über Fiktives aufstellt, tut es nicht; und wenn Husserl recht hat, vollzieht er oder sie auch keine echte Setzung. Kehren wir nun zu unserem Ausgangspunkte zurück! Kant stellt fest, dass er als »Seelenwesen« (Pistorius) 10 – oder vielleicht besser: dass sein Seelenwesen – existiert. Er setzt dabei nicht schon dogmatisch voraus, dass dieses Seelenwesen existiert, und fingiert auch kein solches Wesen. Vielmehr drückt sich in dem weder setzenden noch quasi-setzenden Gebrauch des Ausdrucks ›denkende Substanz (Seelenwesen)‹ im Rahmen des Satzes ›Ich als denkende Substanz (Seelenwesen) existiere‹ aus, dass Kant zuvor (husserlsch formuliert) transzendentale epoché geübt hat, was die Frage des Gegenstandsbezugs dieses Terminus betrifft. Ausgehend vom Gedanken der Selbstgesetzgebung zieht er hier einen Schluss, der aus seiner Sicht dazu führt, dass der Terminus fortan mit vollem transzendentalphilosophischen Recht setzend verwendet werden kann. 11

6. Epilog: Ein »transzendentaler Idealist« als analytischer Philosoph »Husserl could be considered in the analytic tradition.« Noam Chomsky 12

Die vorstehenden Ausführungen illustrieren am Beispiel der Existenzaussagen, dass sich Husserl mühelos mit zeitgenössischen (Frege) und neueren (Evans) Vertretern der sog. analytischen Philosophie ins Gespräch bringen lässt. Tatsächlich kann man noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass Husserl (in einem prägnanten Sinne) ein analytischer Philosoph ist – ebenso wie alle anderen Philosophinnen und Philosophen, die konsequent den kantischen Grundsatz befolgen, »[j]ederzeit mit sich selbst einstimmig [zu] denken«. 10 Andree Hahmann hat mich darauf hingewiesen, dass sich die Bezeichnung »denkende Substanz« hier vor dem Hintergrund der (wie Ludwig gezeigt hat) Pistorius-inspirierten Überarbeitung der »Paralogismen« in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft verbietet (vgl. erneut B 431 f.). 11 Für hilfreiche Diskussion zu den Abschnitten 1–4 danke ich den Teilnehmenden der gemeinsam mit Dolf Rami organisierten Tagung Existenz und Quantifikation bei Frege, seinen Vorgängern und Zeitgenossen (Göttingen, August 2022). 12 Chomsky: Sam Harris, Husserl, and Kripkenstein, 2021 [YouTube] https://www. youtube.com/watch?v=RIY0GFtHU2U, 48:05–48:10.

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Um dies zu verdeutlichen, benötigen wir ein Kriterium analytischen Philosophierens. Das brauchbarste und plausibelste Kriterium, das ich kenne, stammt von Føllesdal. Es liegt, dies sei vorweggenommen, in der Konsequenz von Føllesdals Überlegungen, dass es mehr und weniger analytische Philosophinnen und Philosophen gibt, ähnlich wie es mehr und weniger handwerklich geschickte Menschen gibt. Nun ist kein Mensch gänzlich ungeschickt, dennoch würden wir nicht alle Menschen ohne weiteres als geschickt klassifizieren, sondern nur solche, die einen gewissen Mindestgrad an Geschicklichkeit aufweisen; wobei dieser Grad nicht genau festgelegt oder bekannt sein mag. Analog sind die meisten Philosophen im von Føllesdal erläuterten Sinne analytisch, dennoch sind einige so wenig analytisch, dass es nicht richtig wäre, sie ohne weiteres als analytische Philosophen zu bezeichnen. 13 Føllesdals Kriterium. Analytisches Philosophieren beruht auf Argumentation und vernünftiger Begründung (Rechtfertigung), die wiederum zur Klarheit und Verständlichkeit (Interpretierbarkeit) der vertretenen Thesen beiträgt. Vernünftige philosophische Begründung (Rechtfertigung) alterniert zwischen der Untersuchung allgemeiner Zusammenhänge und detaillierter Beschreibung derart, dass die beschriebenen Details einen Platz in der allgemeinen Konzeption finden, diese jedoch auch zu den Details passt dergestalt, dass beides hochgradig miteinander kohäriert (vgl. Føllesdal 1996, 10 ff.). Bei manchen Philosophen stehen die Details im Vordergrund, bei anderen die allgemeinen oder theoretischen Zusammenhänge. Analytische Philosophen gehen so vor, dass beides zusammenstimmt, so dass ihre Beschreibungen, Überlegungen und Thesen vernünftig aufeinander abgestimmt und dadurch nachvollziehbar sind. Je größer die so verstandene Rechtfertigung ist, desto analytischer ist die entsprechende Philosophie. Daher ist gute Philosophie immer auch hochgradig analytisch – oder kurzweg: sie ist analytisch. Daraus folgt nicht, dass analytische Philosophie automatisch gute Philosophie ist; denn nicht alles, was gut begründet und vernünftig nachvollziehbar ist, ist auch interessant, erhellend oder relevant im Zusammenhang mit den Problemen, die sich uns stellen, wenn wir, um es mit Günther Patzig zu formulieren, über »die Bedingungen der Möglichkeit genau dessen« nachdenken, »was in jeder anderen als der philosophischen Einstellung für selbstverständlich muß genommen werden« (Patzig 1962, 14).

13 Dennoch ist Føllesdals Kriterium zugegebenermaßen sehr weit; ich kenne jedoch (wie gesagt) kein besseres.

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Wendet man Føllesdals Kriterium an, dann erweist sich Husserl als analytischer Philosoph. Die meisten seiner philosophischen Überlegungen lassen sich klar formulieren und vernünftig diskutieren. Dazu passt, dass Husserl auf eine »Philosophie als strenge Wissenschaft« abzielt; wobei er zwischen »streng« und »exakt« unterscheidet. Eine exakte Wissenschaft wie die moderne Physik sei die Phänomenologie gerade nicht, eher lasse sie sich der protophysikalischen Morphologie vergleichen, in denen der »deskriptive Naturforscher« Objekte z. B. als »gezackt, gekerbt, linsenförmig« usw. beschreibt, statt sie unter »exakt geometrische Begriffe« zu subsumieren (vgl. Hua III/1, 155). Solche vagen Begriffe seien dem »morphologischen Wesen« der »fließenden« Gegenstände, die sich uns wahrnehmungsmäßig präsentieren, genau angemessen. Morphologie und Phänomenologie seien strenge, aber als deskriptive Wissenschaften eben gerade nicht »exakte Idealwissenschaften« (ebd., 158). Dass der Begründer der so verstandenen Phänomenologie sogar ein großer Wissenschaftler ist, bezeugen die vielen Einsichten der neueren analytischen Philosophie, die er zumindest teilweise antizipiert hat, etwa, um nur einige Beispiele aus der Sprachphilosophie anzuführen, Kaplans Unterscheidung zwischen content und character (vgl. Hua XIX/1, 88 ff.), Putnams Zwillingserde (vgl. Hua XXVI, 211 f.), Lewis’ Fiktionsoperatoren (vgl. Hua XXII, 317), Donnellans Unterscheidung zwischen referentiell und attributiv (vgl. Hua XXVI, 170 f.), Strawsons Kritik an einer Russell’schen Kennzeichnungsanalyse (vgl. Hua XXXX, 139), Grice’ Analyse des Meinens bzw. der nicht-natürlichen Bedeutung (vgl. Hua XIV, 166) oder Searles Versuch, die Sprachphilosophie in die Philosophie des Geistes einzubetten (vgl. Hua XIX/ 1, 39 ff., 48 ff.). Diese Aufzählung ist sicherlich beeindruckend, ebenso wie die Übereinstimmungen, die der weitere Vergleich mit Frege zutage fördert, etwa mit Blick auf ihre Argumentation für die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung singulärer Terme, die der Sache nach auch bei Husserl (im Einklang mit seiner oben erläuterten Unterscheidung zwischen singulären und »tautologischen« Existenzaussagen) auf den unterschiedlichen »Erkenntniswert« (Frege) mancher wahrer Identitätsaussagen rekurriert (vgl. Hua XXVI, 28, 100 f.). Noch aussagekräftiger dürfte jedoch der erfolgreiche Versuch sein, Husserl’sche Überlegungen, die bei selbsterklärten analytischen Philosophen auf wenig Gegenliebe stoßen und nicht recht ernst genommen werden, als analytische Philosophie auszuweisen. Ich denke dabei insbesondere an Husserls Hinwendung zu dem, was er »transzendentaler Idealismus« nennt. Diese ist für die Existenzthematik von besonderem Interesse. Patzig bringt sie zu Recht mit Husserls Wahrheitsauffassung in Verbindung:

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[19] Erst in diesem Zusammenhang einer strikt idealistischen Position ist es möglich, zwischen Evidenz und Wahrheit ohne Widersprüche eine identitäthafte Verknüpfung herzustellen. Man kann die Konsequenz bewundern, mit der Husserl den Preis bezahlt hat, der für die Rettung seiner Evidenztheorie der Wahrheit zu entrichten war. Der Preis scheint jedoch zu hoch […]. (Patzig 2011 [1971], 75)

Patzig bezieht sich hier insbesondere auf die Paragraphen über den Zusammenhang von Wahrheit und Evidenz in der VI. Logischen Untersuchung. Husserl analysiert dort den Begriff der Wahrheit im Sinne der »Urteilsrichtigkeit« wie folgt: [20] Der Satz ›richtet‹ sich nach der Sache selbst; er sagt, so ist es, und es ist wirklich so. Darin ist aber die ideale, also generelle Möglichkeit ausgesprochen, daß sich überhaupt ein Satz solcher Materie im Sinne strengster Adäquation erfüllen läßt. (Hua XIX/2, 653)

Der propositionale Gehalt – die »Materie« – eines Urteils ist demnach genau dann wahr, wenn für alle Urteile mit diesem Gehalt idealiter gilt, dass sie sich »im Sinne strengster Adäquation« anschaulich »erfüllen« lassen. Ein solches Erfüllungserlebnis, das also laut Husserl genau dann idealiter möglich ist, wenn der Urteilsgehalt wahr ist – ein solches Erfüllungserlebnis heißt »Evidenz« im strengen Sinne des Wortes und liegt genau dann vor, wenn die folgende Bedingung erfüllt ist: [21] Der Gegenstand ist nicht bloß gemeint, sondern, so wie er gemeint ist und in eins gesetzt mit dem Meinen, im strengsten Sinne gegeben […]. Die Evidenz selbst ist […] der Akt jener vollkommensten Deckungssynthesis. (Hua XIX/2, 651)

In der Evidenz wird, so Husserl, »die volle Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem als solchem« erlebt (Hua XIX/2, S. 651 f.). Das »Gemeinte«: das ist der symbolisch oder signitiv unter bestimmten Aspekten geurteilte Sachverhalt (Russell würde hier im Erkenntnisfall zumeist von »knowledge by description« sprechen). Das »Gegebene«: dabei handelt es sich um denselben Urteilssachverhalt in der Gegebenheitsweise »leibhafter Selbstgegenwart«, in der jede seiner Komponenten und zugleich der Sachverhalt als ganzer sich anschaulich präsentiert (Russell würde hier wohl von »knowledge by acquaintance« sprechen). In der vollkommenen Evidenz kommt die Übereinstimmung oder »Deckung« dieser anschaulichen Präsentation des geurteilten Sachverhalts mit der symbolischen Urteilsintention, die in dieser Präsentation ihre epistemische Erfüllung findet, ihrerseits zur anschaulichen Gegebenheit – es handelt sich, etwas vereinfacht gesprochen, um knowledge by acquaintance zweiter Stufe des Inhalts, dass der erkannte oder anschaulich gegebene Sachverhalt sich genau so präsentiert, wie er im bloßen Urteil signitiv oder sym-

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bolisch intendiert war. Wahrheit liegt ihrem Wesen nach genau dann vor, wenn eine solche vollkommene Evidenz idealiter möglich ist. So lautet Husserls »Evidenztheorie der Wahrheit«, von der Patzig behauptet, sie sei nur um den Preis einer inakzeptablen »strikt idealistischen Position« zu haben. Nun spielt Husserls Evidenztheorie in der Tat eine zentrale Rolle in dem »transzendentalen Idealismus«, den er seit 1907 vertreten hat. Machen wir uns zunächst einmal klar, dass diese Auffassung als allgemeine Wahrheitstheorie undurchführbar ist, ganz unabhängig davon, ob sie in einem idealistischen Rahmen vertreten wird oder nicht. Dies lässt sich leicht mithilfe eines Arguments zeigen, das Wolfgang Künne gegen die eine Zeit lang von Hilary Putnam vertretene und mit seinem sogenannten »internen Realismus« assoziierte (vgl. Putnam 1990) »epistemische Wahrheitsauffassung« in Feld führt. Wenn Evidenz im strikten Sinne des Wortes vorliegt, dann gewiss auch, mit Putnam zu sprechen, eine »idealiter rational akzeptierbare« (Putnam 1990, 41) und in diesem Sinne vollständig gerechtfertigte Überzeugung. Wie Künne zeigt, gibt es jedoch Wahrheiten, für die gilt: Es ist nicht einmal im Prinzip möglich, bezüglich solcher Wahrheiten eine gerechtfertigte Überzeugung zu haben – so z. B. die Wahrheit, die man erhält, wenn man die Anzahl n spezifiziert, für die Folgendes gilt: Bolzanos blühender Baum. (i) Die Anzahl der Blüten des Kirschbaums in Bolzanos Garten am 15. Mai 1830 beträgt n, und (ii) niemand ist jemals in der Überzeugung gerechtfertigt, dass (i). – Wenn jemand darin gerechtfertigt wäre, die Konjunktion aus (i) und (ii) für wahr zu halten, dann wäre er oder sie auch darin gerechtfertigt, (i) für wahr zu halten, was aber im Widerspruch zu (ii) stünde (vgl. Künne 1992, 240). Wenn es aber in Bolzanos Garten am 15. Mai 1830 einen blühenden Kirschbaum gab, dessen Blüten niemand gezählt hat, dann ist die Konjunktion aus (i) und (ii) wahr. Folglich besitzen die Begriffe der Wahrheit einerseits und der (vollständig) gerechtfertigten Behauptbarkeit nicht einmal denselben Umfang, und die epistemische Wahrheitsauffassung ist falsch (es sei denn, man postuliert ad hoc einen Philosophengott, der unentwegt Kirschbaumblüten zählt, oder bestreitet (ii) aus irgendeinem anderen Grunde). Es ist somit nicht der Fall, dass jede Wahrheit stets »warrantable on the basis of experience and intelligence for creatures with a ›rational and sensible nature‹« (Putnam 1990, 41) ist. Folglich impliziert Wahrheit auch nicht die Möglichkeit eines entsprechenden Evidenzerlebnisses. Halten wir also fest, dass die Evidenztheorie allenfalls in eingeschränkter Form akzeptabel ist, als Auffassung über das Wesen einer bestimmten, wenn auch sehr umfassenden Klasse von Wahrheiten. Namentlich geht es im

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Rahmen von Husserls Überlegungen zugunsten des transzendentalen Idealismus um Wahrheiten bezüglich der Existenz kontingenter raumzeitlicher Gegenstände. Diese Wahrheiten bestehen der auf sie bezogenen Evidenztheorie zufolge ihrem Wesen nach genau dann, wenn entsprechende Evidenzerlebnisse idealiter möglich sind. So weit die Position der Logischen Untersuchungen. Die Pointe von Husserls Hinwendung zum Idealismus besteht nun in der These, dass diese Möglichkeit eines entsprechenden Evidenzerlebnisses nur dann vorliegt, wenn Subjekte mit den kontingenten Gegenständen, deren Existenz in den betreffenden Wahrheiten ausgesagt wird, ko-existieren. Husserls diesbezügliches Argument ist meines Erachtens in der Tat problematisch – wenn auch nicht so problematisch, wie Patzig suggeriert; aber das Argument lässt sich ohne größeren Rekonstruktionsaufwand klar hinschreiben und vernünftig diskutieren; es handelt sich im obigen Sinne um ein Beispiel für analytische Philosophie. Gerade deshalb lässt es sich gut kritisieren. [22] Sei A eine Welt oder überhaupt ein nicht-ideales Sein, also ein matter of fact, dann haben wir zwei offene Möglichkeiten a priori: A existiert nicht, obschon es möglich ist, und A ist nicht nur möglich, sondern existiert auch. Existiert A, so muss die Seinsausweisung, also die rechtmäßige Erkenntnis von A möglich sein. Andererseits: Existiert A nicht, so ist sie unmöglich. Denn wäre sie möglich[…], so wäre die rechtmäßige Erkenntnis verträglich mit der Nichtexistenz des Erkannten, was ein Widerspruch ist […]. Die rechtmäßige Erkenntnis schließt ja die Existenz des Erkannten notwendig in sich […]. Nun ist aber klar, dass die Möglichkeit der Erkenntnis als leere logische Möglichkeit besteht, ob A existiert oder nicht existiert, dass sie m. a. W. Korrelat der bloßen logischen Möglichkeit des Seins, der bloß widerstreitlosen (einstimmigen) Vorstellbarkeit ist. […] Somit ist die hier ausgeschlossene Möglichkeit, die zur Existenz des A gehört, sicher nicht [die] bloß logische Vorstellbarkeit. Sie ist ›reale‹ Möglichkeit, wie umgekehrt die von der Existenz des A geforderte Erkenntnismöglichkeit eine ›reale‹ ist. Was sagt diese Realität, was fordert sie? Natürlich ein Erkenntnissubjekt. Aber ein bloß logisch mögliches Subjekt ist kein Substrat realer Möglichkeiten. Die Existenz eines möglichen A (aber eines zufälligen, dessen Nichtexistenz also ›logisch‹ offen ist) fordert die Existenz eines wirklichen Subjekts, das A entweder erfährt bzw. aufgrund der Erfahrung erkennt oder das die praktische Möglichkeit (bzw. das praktische Können) hat, das A zu erfahren und zu erkennen […]. Ich denke, dieser Gedankengang ist lückenlos begründend, und so hätten wir eine wichtige allgemeine erkenntnistheoretische These erwiesen: Die Existenz eines jeden tatsächlichen Seins, eines jeden ›individuellen‹ (natürlich Sachverhalte, Beziehungen etc. eingeschlossen) fordert die notwendige Mitexistenz eines erkennenden bzw. erkenntnisbefähigten Subjekts. (Hua XXXVI, 138 ff.)

Zusammengefasst (und vor dem Hintergrund der Evidenztheorie) lautet die Argumentation:

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(P1) Für jedes mögliche kontingente (»zufällige«) Objekt A gilt: Es ist genau dann wahr, dass A existiert, wenn es idealiter möglich ist, »das A zu erfahren und zu erkennen«. (P2) Die in (P1) beschriebene ideale Möglichkeit ist keine leere logische Möglichkeit (»widerstreitlose Vorstellbarkeit«), sondern eine reale Möglichkeit – gemäß (P1) muss also idealiter die reale Möglichkeit der empirischen Erkenntnis bezüglich A bestehen, damit die Aussage, dass A existiert, wahr ist. (Denn die leere logische Möglichkeit, A zu erfahren und zu erkennen, ist mit der Nichtexistenz von A verträglich.) (P3) Die reale Möglichkeit, »das A zu erfahren und zu erkennen«, »fordert die Existenz eines wirklichen Subjekts, das A entweder erfährt bzw. aufgrund der Erfahrung erkennt oder das die praktische Möglichkeit (bzw. das praktische Können) hat, das A zu erfahren und zu erkennen«. (C1) Also (wegen P1-P3): Für jedes mögliche kontingente (»zufällige«) Objekt A gilt: Es ist genau dann wahr, dass A existiert, wenn ein wirkliches Subjekt die in (P3) beschriebene Bedingung idealiter erfüllt. (C2) Also ist die (im letzten Satz des Zitats formulierte) These des transzendentalen Idealismus 14 wahr. Man beachte, dass es hier nicht speziell um die Wahrheit singulärer, also nicht-trivialer Existenzaussagen (vgl. Abschnitt 2) geht; die Konzeption eines »Quasi-Subjekts ohne Setzung« (vgl. Abschnitt 4) greift daher nicht, und Husserl muss nolens volens von »möglichen […] zufälligen« Gegenständen (vgl. Zitat [22], vorletzter Satz) 15 sprechen. Zweierlei ist darüber hinaus erläuterungsbedürftig: (i) Die Prämisse (P3) und (ii) die Bedeutung der Aussage, dass idealiter ein (gemäß (P3)) mit dem Objekt A koexistentes Subjekt das A empirisch zu erkennen vermag. (i) In (P3) wird der Begriff einer »realen Möglichkeit« verwendet. Darunter versteht Husserl eine Möglichkeit, »›für die etwas spricht‹ und bald mehr, bald weniger spricht« (Hua XX/1, 178). Reale Möglichkeiten sind mit anderen Worten für Husserl mehr oder weniger (vernünftig) motivierte Möglichkeiten; und – das ist der entscheidende Punkt –

14 Vgl. Hua XXXVI, 156: »Der transzendentale Idealismus sagt: Eine Natur ist nicht denkbar ohne mitexistierende Subjekte möglicher Erfahrung von ihr; es genügen nicht mögliche Erfahrungssubjekte«. 15 Husserls Rede von »zufälligen« möglichen Gegenständen spricht dagegen, ihm eine Konzeption von possibilia im Sinne des Nezessitismus zu unterstellen, wonach alles Mögliche notwendigerweise existiert. Dass auch Bolzano unter »bloß möglichen Gegenständen« keine solchen possibilia versteht, versuche ich in Beyer 2022 darzutun – ein Aufsatz, der sehr vom Austausch mit Bernd Ludwig profitiert hat.

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Husserl versteht »Motivation« dahingehend, dass Motivation stets jemandes Motivation für etwas ist. Er erklärt den Motivationsbegriff wie folgt: [23] [W]ie komme ich darauf, was hat mich dazu gebracht? Daß man so fragen kann, charakterisiert alle Motivation überhaupt. (Hua IV, 222)

Keine Motivation, und daher auch keine reale Erkenntnismöglichkeit, ohne ein Subjekt, das solche Fragen wie die in Zitat [23] formulierte stellen kann. Deshalb vertritt Husserl (P3) und behauptet die Abhängigkeit der realen Möglichkeit, A empirisch zu erkennen, von der Koexistenz eines Subjekts, das die »praktische Möglichkeit« hat, A so zu erkennen. (P3) ist nun aber problematisch. Es stimmt: Reale Erkenntnismöglichkeiten sind vernünftig motivierte Erkenntnismöglichkeiten; worin sollten sie sich sonst von leeren logischen Erkenntnismöglichkeiten unterscheiden? Aber die fragliche Motivation muss nicht faktisch als reeller Erlebniszusammenhang vorliegen. Husserls Begründung der gegenteiligen These, wonach wirkliche Erfahrungssubjekte und reelle Erlebniszusammenhänge vonnöten sind, greift auf den Begriff der vollständigen epistemischen Rechtfertigung (oder des höchsten Grades an realer Möglichkeit) zurück, den er (im Falle empirischen Bewusstseins) nur dann für anwendbar hält, wenn Wahrheit vorliegt – ganz im Einklang mit der Evidenztheorie: [24] Soll das Ding [der Natur; C.B.] wirklich existieren, also die Annahme, dass es existiere, nicht nur beschränkt vernünftig, beschränkt berechtigt sein, sondern unbeschränkt, voll und ganz, so muss ein aktuelles Ich sein, an dessen Erfahrungen sich nicht nur das Sein des Dinges bekundet, sondern so, dass nichts im Bewusstsein dieses Ich auftritt, das diesem Sein durchstreichend in den Weg tritt, und dass der Bewusstseinsverlauf dieses Ich auch nicht so ist, dass er das Sein dieses Dinges offen lässt. (Hua XXXVI, 76 f.)

Dahinter steht eine Konzeption der vollständigen Rechtfertigung, die einerseits internalistisch ist, also rechtfertigende Gründe verlangt, die einem Subjekt aus seiner eigenen subjektiven Perspektive zugänglich sind, und andererseits nicht-fallibilistisch, die also vollständige Rechtfertigung nur im Falle der Wahrheit zulässt. Diese Kombination erkenntnistheoretischer Rechtfertigungsauffassungen ist vorderhand problematisch, denn nur ein allwissendes Subjekt scheint über derartige Rechtfertigungen verfügen zu können. (Husserl hat hierauf jedoch eine Antwort; siehe unten, Stichwort: »transzendentale Intersubjektivität«.) Wie dem auch sei, man sollte vollständige Rechtfertigung jedenfalls – wie Bolzanos blühender Baum zeigt – nicht einfach mit Wahrheit gleichsetzen, auch wenn dies in der Konsequenz der Evidenztheorie als allgemeiner Wahrheitstheorie liegt und Husserl denn auch zumindest an

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manchen Stellen dazu tendiert, diese Gleichsetzung vorzunehmen, z. B. in § 16 seiner Formalen und transzendentalen Logik, wo er »Wahrheit« zunächst mit »echtem Wissen« identifiziert, das »von jedem […] Vernünftigen wiederholbar« ist (Hua XVII, 46), und dann die (etwas schwächere) These vertritt, dass Wahrheit und derartiges Wissen miteinander »korrelieren« (Hua XVII, 47). Es genügt nach dem Gesagten, dass die passende Motivation vorliegen würde, wäre ein geeignetes Erfahrungssubjekt existent. In dieser abgeschwächten Form erscheint der transzendentale Idealismus akzeptabel. Doch was besagt hier »ein geeignetes Erkenntnissubjekt«? Damit komme ich zu der Frage (ii), was es bedeutet, dass idealiter ein mit A ko-existentes Subjekt A empirisch zu erkennen vermag. (Eine entsprechende Verständnisfrage stellt sich mit Blick auf Putnams Terminus »idealiter rational akzeptierbar«.) Ein solches Subjekt müsste die praktische Möglichkeit haben, jedes kontingente raumzeitliche Objekt empirisch als existent zu erkennen. Ein Einzelsubjekt hat aber – niemand weiß dies besser als Husserl – nur einen begrenzten Erfahrungshorizont. Das fragliche ideal gerechtfertigte Subjekt müsste eine Vielzahl solcher beschränkter Einzelperspektiven berücksichtigen, was Husserl zufolge im Prinzip durch wechselseitige Einfühlung möglich ist. Es handelt sich bei der Idee eines solchen Subjekts um ein erkenntnispraktisches Ideal im Rahmen dessen, was Husserl »transzendentale Intersubjektivität« nennt. Husserl spricht denn auch im vorliegenden Zusammenhang von einer »Vielheit im kommunikativen Verband stehender« Einzelsubjekte. Er schreibt: [25] [Die betr. realen Möglichkeiten sind] motivierte Möglichkeiten […], die ihre Motivation irgendwo im gesamten absoluten Bewusstsein, dem aktuellen, haben, also in irgendeinem empirischen Bewusstsein (unter der Vielheit im kommunikativen Verband stehender Bewusstseine oder in irgendeinem ›realen‹ Einzelbewusstsein). (Hua XXXVI, 61)

Auch in diesem Zitat fordert Husserl aber aktuelles Bewusstsein, damit die reale Möglichkeit besteht, dass ein wirkliches Objekt A als existent zu erkennen ist. Warum reicht nach seinem Dafürhalten das potentielle Bewusstsein eines kontrafaktischen – also nicht zwingend mit A koexistenten – Subjekts, welches das eben erwähnte erkenntnispraktische Ideal erfüllen würde, nicht aus? Einen – wie wir sahen, zumindest problematischen – Grund haben wir schon kennengelernt: Husserls nicht-fallibilistische Konzeption der vollständigen epistemischen Rechtfertigung. Ein weiterer Grund ist metaphysischer Natur – und er ist nicht weniger problematisch. Husserl ist der Ansicht, dass reale Möglichkeiten ein »Substrat« erfordern, und »ein bloß logisch mögliches Subjekt« könne nicht als Substrat fungieren (Hua XXXVI, 139). Er be-

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ruft sich hier auf eine im erkenntnistheoretischen Kontext problematische metaphysische Annahme, wonach reale Möglichkeiten stets wirklich vorliegende epistemische Dispositionen oder (in Husserls Terminologie) »Habitualitäten« sind – und nicht lediglich höherstufige reale Möglichkeiten dahingehend, dass ein Erkenntnissubjekt entsprechende Dispositionen erwerben würde oder könnte, wenn es zusammen mit dem Erkenntnisgegenstand existierte. Warum sollte die Wirklichkeit einer Möglichkeit daran hängen, dass de facto jemand da ist, der sie zu erkennen vermag – reicht es nicht, wenn sie erkennbar ist, vorausgesetzt, dass es gleichzeitig Erkenntnissubjekte gibt? In der Tat: Reale Erkenntnismöglichkeiten können sehr wohl ohne mitexistierende epistemische Subjekte bestehen. Husserl betont selber, dass »sicher kein Mensch und kein Tier in der Welt sein müsste, die wir als wirkliche Welt kennen. (Aber [so fügt er hinzu; C.B.] das ist schon eine Änderung der Welt)« (Hua XXXVI, 121). 16 Ich kann nicht umhin, Husserl einen simplen Denkfehler zu attestieren, wenn er für reale Erkenntnismöglichkeiten koexistente Subjekte als Substrate entsprechender epistemischer Vermögen fordert. Er setzt Folgendes voraus: [26] Es ist klar: Soll die Annahme der Existenz des Dinges, die Annahme, dass eine der idealen Möglichkeiten wirklich geltend sei, eine vernünftige sein, so genügt dazu nicht die ideale Möglichkeit eines das Ding erfahrenden Bewusstseins, sondern es ist erfordert ein aktuell erfahrendes Bewusstsein, also ein wirklich seiendes Ich in Erfahrungsbeziehung zu diesem Ding. (Hua XXXVI, 76)

Was Husserl hier sagt, stimmt natürlich in einem Sinne, aber dann ist es trivial: Natürlich wird Rechtfertigung ohne Subjekt nicht wirklich besessen, genauso wie es keine Überzeugung ohne jemanden gibt, der überzeugt ist. Aber die Frage ist, ob reale Erkenntnismöglichkeiten und entsprechende Rechtfertigungsgründe bezüglich eines wirklichen Objekts A tatsächlich die faktische Koexistenz eines Subjekts erfordern, das entsprechend gerechtfertigt ist. Ich glaube nicht, dass dies erforderlich ist. Es genügt, dass die höherstufige Möglichkeit vorliegt, vernünftig motivierte Erkenntnisdispositionen bezüglich A zu erwerben, wenn nur epistemische Subjekte zusammen mit A existieren würden. Ich ziehe deshalb den Schluss, dass die Prämisse (P3) zu stark ist und durch die folgende These ersetzt werden sollte, die mit der Wirklichkeit einer Welt ohne mitexistierendes Erkenntnissubjekt kompatibel ist: (P3') Die reale Möglichkeit, bezüglich eines kontingenten Gegenstandes A Wissen (der Form A existiert) zu erwerben, fordert die höherstufige reale 16 Husserl hat den zugehörigen Absatz später allerdings mit einem großen Fragezeichen markiert (vgl. Hua XXXVI, 121, Fn. 2).

Husserl über Existenz und Existenzurteile

Möglichkeit »eines wirklichen Subjekts, das A entweder erfährt bzw. aufgrund der Erfahrung erkennt oder das die praktische Möglichkeit (bzw. das praktische Können) hat, das A zu erfahren und zu erkennen«. Entsprechend sollte die These des transzendentalen Idealismus durch die folgende These ersetzt werden, die man als These des schwachen transzendentalen Idealismus bezeichnen könnte und die aus der Korrelationsthese und der modifizierten Abhängigkeitsthese folgt: Schwacher transzendentaler Idealismus. Die Existenz eines kontingenten Objekts A fordert die höherstufige reale Möglichkeit eines A »erkennenden« bzw. bezüglich A »erkenntnisbefähigten Subjekts«. Was bleibt dann aber noch von der behaupteten Subjekt- oder Bewusstseinsabhängigkeit übrig? Nach dem vorliegenden Modifikationsvorschlag erfordern reale Erkenntnismöglichkeiten bezüglich A lediglich, dass A als möglicher Reiz bereitsteht, um ein etwaiges koexistentes (ideales) Erkenntnissubjekt zu motivieren, Wissen über A zu erwerben. Was jedoch als eine solche reale Möglichkeit gelten würde, das hängt in der Tat von einem Subjekt und seinem Rechtfertigungskontext ab, nämlich von uns, die wir als Philosophinnen und Philosophen über derartige kontrafaktische Situationen reflektieren, und zwar im methodischen Kontext unserer phänomenologischen Analyse der Konstitution realer Objekte als intentionale Korrelate der anschaulichen Erfüllungskomponenten entsprechender Evidenzerlebnisse. 17 In diesem Sinne sind die fraglichen realen höherstufigen Möglichkeiten bezüglich der Erkenntnis von A eine Funktion der Rechtfertigungsstandards, die wir als Phänomenologinnen bzw. Phänomenologen im Lichte unserer Konstitutionsanalyse als hinreichend gerechtfertigt erkennen, damit ein kontrafaktisches oder faktisches Subjekt vollständige Rechtfertigung bezüglich A erwirbt. Die resultierenden realen Möglichkeiten bestimmen dabei die Art und Weise, wie A strukturiert ist – besteht z. B. die reale Möglichkeit, A als farbige Figur zu erkennen? Dies scheint der wahre Kern von Husserls transzendentalem Idealismus zu sein. Es dürfte aufschlussreich sein, diese Auffassung mit dem zu vergleichen, was Kant unter »transzendentalem Idealismus« versteht. Glücklicherweise existiert dafür in Göttingen ein hervorragender Ansprechpartner.

Husserl vertritt eine kontextualistische Rechtfertigungsauffassung, wonach unterschiedliche Informations- und Methodenkontexte unterschiedliche Rechtfertigungsstandards generieren; dies gilt ausdrücklich auch für den methodischen Kontext einer transzendentalphänomenologischen Konstitutionsanalyse (vgl. Hua VIII, 65 f.). 17

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Christian Beyer

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Felix Mühlhölzer

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen In seinem Tractatus logico-philosophicus spricht Wittgenstein so nebenbei vom »Kantsche[n] Problem von der rechten und linken Hand, die man nicht zur Deckung bringen kann« (in der schon durch die Art der Nummerierung als eher nebensächlich gekennzeichneten Bemerkung 6.36111), 1 und das betreffende Problem hat tatsächlich das Schicksal, meistens nur beiläufig genannt zu werden. Ich vermute, Wittgenstein wurde durch die Lektüre von Russells The Principles of Mathematics darauf aufmerksam gemacht 2, wo es in § 404 beschrieben und jenes Nicht-zur-Deckung-bringen-Können als »a curious fact« bezeichnet wird. Es ist ein geometrisches Problem und lässt sich vielleicht am besten so formulieren: Betrachten wir eine menschliche Hand, sagen wir, die rechte. Dann ist deren Spielbild (im präzisen mathematischen Sinn einer Spiegelung) eine linke Hand, die in ihren inneren Abmessungen mit der ursprünglichen exakt übereinstimmt; trotzdem lassen sich beide nicht durch eine Bewegung im Raum (in unserem normalen drei-dimensionalen Raum) zur Deckung bringen. Die Frage lautet dann, woran dies liegt. Sollte es nicht innere geometrische Eigenschaften der Hände geben, die für diese Unmöglichkeit verantwortlich gemacht werden können? Aber was genau könnten solche inneren Eigenschaften sein? Man sollte an dieser Stelle etwas vorsichtig sein, denn mit »Hand« ist dabei natürlich nicht eine wirkliche Hand gemeint, sondern eine geometrische Figur mit der Gestalt einer Hand; und so spricht auch Wittgenstein im weiteren Verlauf von TLP 6.36111 von »Figuren«. Dann sind eine rechte und die dazu spiegelbildliche linke Hand rein geometrische Entitäten und deren Nicht-zurDeckung-Bringen ein entsprechendes rein geometrisches Phänomen. Wenn ich im Folgenden im Hinblick auf solche Phänomene salopp von ,Gegenständen‹ wie ›Händen‹ oder vergleichbaren spreche, sollen, wenn nichts anderes gesagt wird, immer die entsprechenden geometrischen Figuren gemeint sein. 1 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 6, Frankfurt a. M., 1989; zitiert als TLP. 2 Dieses Buch erschien 1903 und wurde von Wittgenstein gründlich gelesen. Im Jahr 1937 gab es eine zweite Auflage, die sich von der ersten nur durch eine neue Einleitung unterscheidet; der eigentliche Inhalt ist unverändert übernommen worden. Bertrand Russell: The Principles of Mathematics, London 1903; zweite Auflage von 1937.

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen

Kant hat Paare von Gegenständen dieser Art inkongruente Gegenstücke genannt, erstmals in einem kurzen Aufsatz aus dem Jahr 1768, der den seltsamen Titel trägt: »Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume«. Ich werde mich dieser Terminologie anschließen 3 und das betreffende Phänomen, eben dass Figuren mit identischen inneren Abmessungen trotzdem nicht durch Bewegung zur Deckung gebracht werden können, einfach als »Rechts-links-Phänomen« bezeichnen. Kant spricht nicht von ›Figuren‹, sondern von ›Gestalten‹, im Falle der Hände von ›körperlichen Gestalten‹, aber damit sind gerade die entsprechenden geometrischen Figuren gemeint. Natürlich stößt man auf das Rechts-links-Phänomen nicht nur bei Händen, sondern ebenfalls, wie von Kant in seinem Aufsatz genannt, bei Schrauben mit Rechts- bzw. Links-Windung und zahlreichen anderen Gegenständen. Obwohl dieses so schön anschauliche Phänomen auch bei Kant eher eine periphere Rolle spielt, wird es von ihm doch nach 1768 noch mehrmals und auf durchaus verschiedene Weise ins Spiel gebracht, und sein Bezug darauf ist insbesondere hilfreich zum Verständnis seines transzendentalen Idealismus. Es lohnt sich, genauer darauf einzugehen. 4

1. Das Rechts-links-Phänomen aus kantischer Sicht

Kants Aufsatz von 1768 basiert auf einer prima facie schönen Idee, mit deren Hilfe er eine Entscheidung herbeiführen möchte in der Debatte um die angemessene Auffassung vom Wesen des Raumes: die newtonsche vom absoluten Raum, wonach der Raum eine Art riesiger, unbegrenzt ausgedehnter Behälter ist, in dem sich alle körperlichen Objekte befinden; und die leibnizsche relationale Auffassung, wonach es sich bei dem, was wir »Raum« nennen, um ein System bestimmter Beziehungen zwischen Körpern handelt, eben räumlicher Beziehungen. Es gibt eine Reihe klassischer Argumente für oder gegen die eine oder die andere Auffassung, auf die ich hier nicht weiter eingehe. 5

Heutzutage spricht man auch von ›enantiomorphen Gegenstücken‹. Was ich im folgenden Abschnitt schreibe, findet sich, von kleinen Nebenbemerkungen abgesehen, in ausführlicherer Form in meinem Aufsatz »Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke aus Kantischer und heutiger Sicht«, in: Kant-Studien 83 (1992), S. 436–453. In den späteren Abschnitten gehe ich jedoch weit darüber hinaus. 5 Siehe dazu die Skizze in Felix Mühlhölzer: »Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke aus Kantischer und heutiger Sicht«, S. 438 f., und die dort angegebene weitere Literatur, vor allem Michael Friedman: Foundation of Space-Time Theories, Princeton 1983 und John Earman: World Enough and Space-Time, Cambridge Mass. 1989. 3

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Kants Argument von 1768 fällt aus dem Rahmen, weil es, anders als die restlichen Argumente, wesentlich vom Rechts-links-Phänomen Gebrauch macht. Betrachten wir also eine bestimmte Hand (zu einem bestimmten Zeitpunkt). Ihre geometrische Gestalt ist gegeben durch die Abstände zwischen allen ihren Punkten. Es lässt sich zeigen, dass die euklidische Geometrie unter alleiniger Verwendung des Abstandsbegriffs axiomatisiert werden kann, 6 und daraus scheint der Schluss erlaubt, dass eine Beschreibung der Hand, die (im Prinzip) sämtliche Abstände zwischen ihren Punkten angibt, eine geometrisch vollständige Beschreibung ist. Weiterhin entspricht solch eine Beschreibung der relationalen leibnizschen Auffassung vom Raum. Betrachten wir nun die spiegelbildliche Hand. Wenn unsere ursprüngliche Beschreibung sagte, dass z. B. der Abstand zwischen der Spitze des Daumens und der Spitze des Zeigefingers 4 cm betrug, so müssen wir das Gleiche auch über das Spiegelbild sagen, und so für alle anderen Abstands-Angaben. Das heißt, die Beschreibungen der ursprünglichen Hand und ihres Spiegelbilds sind vollkommen identisch. Kant zieht daraus den Schluss, dass der Relationist, der nicht mehr zur Verfügung hat als solche Beschreibungen, dem Rechts-links-Phänomen nicht gerecht werden könne. Er könne den Unterschied zwischen einer Hand und ihrem Spiegelbild nicht erfassen. Kant zieht weiterhin den Schluss, dass deshalb die newtonsche Konzeption des absoluten Raums den Vorzug verdiene. Nun ist es natürlich so, dass der Relationist eine Hand und ihr Spiegelbild durchaus unterscheiden kann, nämlich dadurch, dass er die Hände mit einem geeigneten dritten Körper vergleicht, einem Standardkörper, wie man vielleicht sagen möchte. Dieser Standardkörper kann selbst eine Hand sein, aber auch z. B. eine Schraube. Unsere ursprüngliche Hand und ihr Spiegelbild stehen dann in unterschiedlichen Relationen zu ihm, und diese Relationen kann man als ›verschiedene Eigenschaften‹ der Hände auffassen. Es handelt sich dabei eben um relationale Eigenschaften. Kant allerdings ist mit dieser Antwort nicht zufrieden. Er denkt, dass eine Hand und ihr Spiegelbild einen inneren Unterschied aufweisen müssen; er spricht auch von einem inneren Grunde, auf dem die Rechts-links-Verschiedenheit beruhe. 7 Er sagt nicht explizit, was er mit dem Begriff »innerer Unterschied« meint, aber aus dem betreffenden Kontext lässt sich erschließen, dass er vom inneren Unterschied spricht, wenn verschiedene innere Eigenschaften vorliegen. Der Begriff der inneren Eigenschaft ist dabei im Wesentlichen der leibnizsche: Eine innere Eigenschaft eines Gegenstandes ist eine solche, die nicht durch den Bezug zu ande6 7

Siehe dazu z. B. Leonard Blumenthal: Distance Geometry, Chelsea, New York 1970. Beides in Kant, GUGR, AA 02: 382.

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen

ren Gegenständen konstituiert wird. Eine innere Eigenschaft stellt also das kontradiktorische Gegenteil zu einer relationalen Eigenschaft dar. In seinem Aufsatz gelingt es Kant jedoch nicht, solch eine innere Eigenschaft wirklich angeben. Zwar versucht er, ihre Existenz durch ein interessantes Argument zu garantieren, in dem er, ganz charakteristisch für ihn, das Gemachtwerden einer Hand (durch Gott, etwa) bemüht, aber sein Argument funktioniert letztlich nicht. Ich habe dies in meinem Text »Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke aus Kantischer und heutiger Sicht« im Detail gezeigt 8 und werde hier nicht nochmals darauf eingehen. Es kommt hinzu, dass sich Kant, wie gesagt, nach seiner Zurückweisung der leibnizschen relationalen Raum-Auffassung auf die Seite Newtons und dessen absoluten Raum schlägt, wobei jedoch das Rechts-links-Phänomen unerledigt bleibt. Der im Titel seines Aufsatzes formulierte Anspruch, für dieses Phänomen einen ersten Grund anzugeben, bleibt unerfüllt. Nur zwei Jahre später, in seiner Dissertation von 1770 (De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis), bezeichnet er jedoch ganz lapidar den absoluten Raum als »leere Erfindung der Vernunft«, die »zur Welt der Fabeln« gehöre.9 Er hat in der Zwischenzeit nämlich die Anschauung und deren Wichtigkeit für unsere Auffassung vom Raum entdeckt, womit er sich nicht nur von Leibniz ein zusätzliches Stück weiter entfernt, sondern jetzt auch von Newton. Die Argumentation im Aufsatz von 1768 gehört nun der Vergangenheit an. Die große Neuerung der Dissertation liegt in Kants Behauptung einer Aufspaltung unseres Erkenntnisvermögens in zwei radikal verschiedene Stämme: in Sinnlichkeit und Verstand (oder Vernunft). Eigentlich wichtig ist dabei das, was Kant zur Sinnlichkeit sagt. Seine Ausführungen über den Verstand sind, im Vergleich zu dem, was dann in der Kritik der reinen Vernunft geschieht, noch ganz unbefriedigend. Über den wesentlichen Unterschied zwischen Vernunft und Verstand, und insbesondere über die Bezogenheit des Verstandes auf das in der Anschauung Gegebene, ist sich Kant 1770 noch nicht im Klaren. Konzentrieren wir uns deshalb hauptsächlich auf seine Theorie der Sinnlichkeit. Die sinnliche Komponente unserer Erkenntnis ist die anschauliche Komponente im Gegensatz zur begrifflichen. Kant entdeckt die Anschauung als eigenständige Rechtfertigungsinstanz für Erkenntnisse, und er erfindet die Siehe Mühlhölzer: Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke, S. 437–446. Kant, MSI, AA 02: 404: »Quot attinet primum illud inane rationis commentum […] pertinent ad mundum fabulosum.«; vgl. S. 63 der deutschen Übersetzung von Norbert Hinske in: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 5, S. 7–107, Darmstadt 1968. 8

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Konzeption der reinen Anschauung, um die Möglichkeit mathematischer Erkenntnisse – die apriorisch sind und zugleich synthetisch – erklären zu können. Er entwirft eine Art Theorie der Anschauung, in der er wichtige Kriterien angibt, um die Bereiche des Anschaulichen und des Begrifflichen deutlich voneinander abzugrenzen. Anschauung ist nach Kant wesentlich passiv; in ihr erkennen wir unmittelbar; und in ihr wird einzelnes geschaut. Das begriffliche Denken dagegen ist aktiv, mittelbar und allgemein. Dies sind einige der Unterscheidungsmerkmale, die Kant angibt. 10 In diesem Kontext taucht seine zweite Bezugnahme auf das Rechts-linksPhänomen auf. Er deutet nun unsere Erkenntnis des Unterschieds zwischen einer rechten und ihrer spiegelbildlichen Hand als auf Anschauung, und zwar reiner Anschauung, beruhend. Der Unterschied zwischen zwei inkongruenten Gegenstücken könne nicht begrifflich erfasst werden, vielmehr sei es so, wie er schreibt, »dass hier nur durch eine Art von reiner Anschauung die Verschiedenheit, nämlich die Inkongruenz, bemerkt werden kann«. 11 Wichtig hierbei ist weniger, dass diese Anschauung rein ist, also apriorisch, als vielmehr, dass es tatsächlich die Anschauung ist, die benötigt wird und das begriffliche Erkenntnisvermögen nicht ausreicht. John Earman denkt, dass Kant auf diese Weise jenen prima facie irgendwie flüchtigen inneren Unterschied zwischen inkongruenten Gegenstücken zu fassen bekommen möchte. 12 Kants Geschichte der inkongruenten Gegenstücke wird von ihm dann erst wieder in den Prolegomena und ganz kurz auch den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft fortgesetzt. In der Kritik der reinen Vernunft dagegen findet man von ihr keine Spur. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft heißt es: »dass [der Unterschied zwischen zwei inkongruenten Gegenstücken] einen guten bestätigenden Beweisgrund zu dem Satze abgebe: dass der Raum überhaupt nicht zu den Eigenschaften oder Verhältnisse der Dinge an sich selbst […] gehöre«. 13 Die inkongruenten Gegenstücke werden also jetzt zur Stützung des transzendentalen Idealismus in Anspruch genommen. Dazu findet sich in den Prolegomena Genaueres. Es ist bei Kant üblich, dass für ein und dieselbe Behauptung mehrere Argumente angegeben – oder besser: angedeutet – werden. Dies trifft in besonderem Maße auf die Behauptung der transzendentalen Idealität des Raumes zu. Ich konzentriere mich im Folgenden auf zwei wichtige Argumente, die Siehe MSI, AA 02: 392–398. Siehe MSI, AA 02: 403; auf S. 59 der Hinske-Übersetzung. 12 Siehe John Earman: »On the Other Hand …: A Reconsideration of Kant, Incongruent Counterparts, and Absolute Space«, in: James Van Cleve u. Robert Frederick (Hgg.): The Philosophy of Right and Left, Dordrecht 1991, S. 235–255: S. 249 f. 13 Siehe Kant MAN, AA 04: 484. 10 11

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen

sich aus den Prolegomena herauslesen lassen. Nennen wir das erste »das Aprioritäts-Argument« und das zweite »das Argument aus der empirischen Anschauung«. Im Aprioritäts-Argument wird aus der Apriorität einer synthetischen Erkenntnis geschlossen, dass diese Erkenntnis nicht Dinge an sich betreffen kann. In seinen Schriften zeigt sich, dass Kant letztlich nur ein Modell für synthetisch-apriorische Erkenntnis akzeptiert: Diese Erkenntnis kommt genau dann zustande, wenn wir den Dingen – oder genauer: dem, was uns von den Dingen gegeben ist – irgendetwas aufzwingen. Von diesem von uns Aufgezwungen, beispielsweise einer bestimmten räumlichen Struktur, können wir apriorisches Wissen haben. Aber das Aufgezwungene kommt natürlich nicht dem Ding zu, wie es an sich ist. Also kann synthetisch-apriorische Erkenntnis nicht Erkenntnis von Dingen an sich sein. Kant verfügt jedoch auch über Argumente für seinen transzendentalen Idealismus, die nicht von Apriorität Gebrauch machen. Im § 9 der Prolegomena stellt er die Frage, ob wir vielleicht empirische Anschauung von einem Ding, wie es an sich ist, haben können. Er macht sich dann im weiteren Verlauf klar, dass dies nur auf zweierlei Weise möglich wäre: erstens, wenn Eigenschaften des Dings in unsere Vorstellungskraft ›hinüberwandern‹ könnten, und zweitens, wenn die Anschauung dem Ding ›völlig ähnlich‹ sei. 14 Beides hält er für absurd, und er schließt, dass Erkenntnis, die auf empirischer Anschauung beruht, keine Erkenntnis von Dingen an sich sein kann. Dies ist das Argument aus der empirischen Anschauung. Nimmt man das Aprioritäts-Argument und das Argument aus der empirischen Anschauung zusammen, so besagen sie, dass solche Erkenntnis, die wesentlich auf Anschauung beruht – sei es nun apriorische oder empirische –, keine Erkenntnis von Dingen an sich sein kann. Damit wird die Relevanz der inkongruenten Gegenstücke aufs Neue deutlich. Sie scheinen besonders überzeugend vorzuführen, dass es solch irreduzibel anschauliche Erkenntnis tatsächlich gibt, und zugleich zeigen sie, dass diese Erkenntnis empirische Gegenstände betrifft. Sie stützen damit Kants Behauptung, dass unsere Erkenntnis empirischer Gegenstände keine Erkenntnis von Dingen an sich sei. Kant präsentiert die inkongruenten Gegenstücke als Beispiel für anschauliche Erkenntnis. Das ist geistreich, aber man kann damit kaum zufrieden sein. Erstens bleibt der erkenntnistheoretische Status dieser Erkenntnis unklar. Sie kann einerseits wirken wie empirische Erkenntnis (»Man hat versucht, eine rechte Hand und die spiegelbildliche zur Deckung zu bringen, es ist jedoch bis jetzt niemandem gelungen«); andererseits scheint sie eher einen 14

Vgl. Prol, AA 04: 282 und 289 f.

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mathematischen Charakter aufzuweisen, wobei man jedoch keinen mathematischen Beweis dafür hat. Die Art der Unmöglichkeit ist noch nicht geklärt. Zweitens sollte man sich zurückerinnern an Kants schöne Frage aus seinem Aufsatz von 1768: die Frage nach dem ersten Grunde des Unterschieds zwischen zwei inkongruenten Gegenstücken. Sein zunächst angedeuteter Verweis auf Newtons absoluten Raum führt nicht weiter, und Kant hat ihn selbst schnell aufgegeben. Aber auch der nachfolgende Verweis auf Anschauung ist höchst unklar. Zwar sind die Standard-Beispiele inkongruenter Gegenstücke Paare anschaulicher Gegenstände, aber inwiefern damit jener ›erste Grund‹ aufgezeigt würde, bleibt offen. Eigentlich gewinnt man eher den Eindruck, dass der gesuchte erste Grund, im Gegensatz zu Kants Idee, weniger ein anschaulicher, als vielmehr ein begrifflicher sein könnte. Dafür kann man auf folgende Weise argumentieren. Betrachten wir anstelle einer Hand, etwas schematischer, ein sog. Dreibein:

Dies ist eine Figur im normalen dreidimensionalen Raum, bestehend aus drei paarweise senkrecht aufeinander stehenden Pfeilen, die nach rechts, nach oben und nach vorne zeigen, was man so darstellen kann: O

V R

Man stelle sich z. B. vor, dass dieses Dreibein in einem Menschen liegt, der uns den Rücken zukehrt, sodass der nach vorne weisende, also mit V bezeichnete, Pfeil in Richtung seiner Nasenspitze zeigt. Er steht senkrecht auf dem RechtsPfeil R und dem nach oben zeigenden Pfeil O. Wenn man nun nichts anderes tut, als ihn einfach umzukehren, also an der bisherigen O-R-Ebene zu spiegeln, und wenn man nun diesen umgedrehten Pfeil als »nach vorne« dekla-

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen

riert, wandelt sich der zuvor als »nach rechts zeigend« deklarierte automatisch in einen »nach links zeigenden« um! Dies geschieht, ohne dass mit ihm selbst etwas gemacht worden wäre, sondern einfach dadurch, dass man den Nach-vorne-Pfeil umdreht. Es hat wenig mit ›Anschauung‹ zu tun, sondern mit der eigentümlichen Beziehung, die zwischen den Begriffen »oben«, »vorne« und »rechts«/»links« besteht. 15 Oder betrachten wir nochmals die rechte Hand, die wir uns als leicht gewölbt denken sollten, mit dem Daumen nach rechts, den restlichen Fingern nach oben und den Knöcheln nach vorne. Im Spiegelbild wird dann erneut die Nach-vorne-Richtung umgedreht, wodurch sich die rechte in eine linke Hand verwandelt. Kants Verweis auf Anschauung erweist sich somit als letztlich irreführend, jedenfalls dann, wenn man tatsächlich nach dem ›ersten Grunde‹ für das Rechts-links-Phänomen sucht! Ich werde im Verlauf dieses Aufsatzes auf die gerade skizzierte Einsicht in den begrifflichen Charakter dieses Phänomens genauer eingehen.

2. Das Rechts-links-Phänomen bei Russell und dem frühen Wittgenstein

Der Anschauungs-Begriff leistet also wenig, um uns das Rechts-links-Phänomen wirklich tief verstehen zu lassen, und nach Kants Tod und durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch ist dieser Begriff dann im Hinblick auf die Mathematik Schritt für Schritt an den Rand gedrängt worden. Am dramatischsten vielleicht schon 1817, als Bernard Bolzano den anschaulich evident erscheinenden Satz bewies, dass eine auf einem abgeschlossenen Intervall [a,b] definierte stetige reellwertige Funktion f mit der Eigenschaft, dass f (a) und f (b) verschiedene Vorzeichen besitzen, an mindestens einer zwischen a und b liegenden Stelle gleich Null sein muss (dies ist, in moderner Terminologie formuliert, der sog. Zwischenwertsatz). 16 Ohne Bezugnahme auf Anschauung konnte Bolzano dies mittels einer rein begrifflich vorgehenden Definition Auf diese Weise erhält die Rätselfrage, warum ein Spiegel rechts und links vertauscht, nicht aber oben und unten, ihre logische Antwort: Wenn man, ihm zugewandt, vor einem Spiegel steht, ist im Spiegelbild der Vorne-Pfeil umgedreht, während mit den beiden anderen nichts geschieht. Nur heißt der Pfeil, der außerhalb des Spiegels als »Pfeil nach rechts« gilt, nun im Spiegelbild »Pfeil nach links«. So funktionieren unsere Begriffe: ohne dass mit ihm etwas geschieht, wird der Nach-rechts-Pfeil, wenn man den Nach-vorne-Pfeil umdreht, zu einem Nach-links-Pfeil, eben durch die neue Konstellation der drei Pfeile zueinander. 16 Siehe Bernard Bolzano: Rein analytischer Beweis, daß zwischen je zwey Werthen, die ein entgegengesetßtes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege, Prag 1817. 15

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der Stetigkeit auf rein begrifflichem Wege zeigen. Explizit gegen Kant gerichtet war später auch Freges Versuch einer logizistischen Grundlegung der Arithmetik, formuliert mit Hilfe seiner Begriffsschrift von 1879, die in der Weise lückenlos sein sollte, dass in ihr sich, wie Frege schreibt, »nicht unbemerkt etwas Anschauliches eindrängen« kann. 17 Frege hat sein Projekt der Rückführung der Arithmetik auf Logik, das er in Frege 1884 skizziert und dann in Frege 1893 und 1903 durchzuführen versucht hat, 18 zwar am Ende als gescheitert angesehen, sodass er sich genötigt sah, nun doch wieder die Anschauung zu bemühen, aber Russell hat danach, zusammen mit Whitehead, unter dem Titel Principia Mathematica einen neuen Ansatz solch einer Rückführung präsentiert und nicht mehr zurückgenommen. 19 Russell und Whitehead wollten tatsächlich, über Frege hinausgehend, die gesamte Mathematik als Logik erweisen – wie aber steht es dann mit unserem Rechts-links-Phänomen? In den Principia wird es einfach ignoriert, aber Russells logizistisches Vorläufer-Buch, The Principles of Mathematics von 1903, enthält, wie schon zu Beginn dieses Aufsatzes bemerkt, einen ganzen Abschnitt dazu. Geometrie wird im Rahmen seines Logizismus einfach als analytische Geometrie verstanden, sodass sie auf Tupel reeller Zahlen (logizistisch rekonstruiert) zurückgeführt werden kann, im Falle des dreidimensionalen Raums z. B. auf die Menge von Zahlen-Tripeln (x1,x2,x3). In Russells seltsamer Terminologie und Bezeichnungsweise kann man dies nicht sofort erkennen, aber was er tut, ist nichts anderes. Es lässt sich dann mathematisch beweisen, dass ein Dreibein durch stetige Verschiebung nicht in ein dazu spiegelbildliches überführt werden kann. (Russell verweist nicht auf Dreibeine, sondern auf Tetraeder, aber das macht keinen relevanten Unterschied aus.) Der dabei verwendete Begriff der Stetigkeit ist im Wesentlichen der von Bolzano eingeführte und nimmt natürlich nicht auf Anschauung Bezug. So kann das Rechts-links-Phänomen rein mathematisch nachgezeichnet werden, und Russells Logizismus hat damit keine Probleme. Russell überlässt sich den formalen Vorgehensweisen, die er in der existierenden Mathematik vorfindet; viel mehr geschieht bei ihm jedoch nicht. Zwar gibt er zu erkennen, dass er zur Erfassung des Rechts-links-Phänomens eigentlich ein eigenes Axiom für nötig hält, aber er sagt nicht, wie dieses Axiom genau aussehen soll, und er geht nicht in durchsichtiger Weise auf die ma17 Siehe Gottlob Frege: Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle 1879, S. X. 18 Siehe Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, Leipzig 1884; Grundgesetze der Arithmetik, I. Band, Jena 1893; Grundgesetze der Arithmetik, II. Band, Jena 1903. 19 Siehe Alfred North Whitehead, Betrand Russell: Principia Mathematica, 3 Bände, Cambridge 1910–1913.

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen

thematischen Zusammenhänge ein, die dem betreffenden Unmöglichkeits-Beweis zugrunde liegen. Zwar bringt er die sog. ›Determinante‹ ins Spiel, und sein expliziter Verweis auf Stetigkeit ist wichtig, aber die genauen mathematischen Verhältnisse werden nicht wirklich klar. Ich werde auf sie in den nachfolgenden Abschnitten genauer eingehen. Was Wittgensteins Umgang mit dem Rechts-links-Phänomen in Tractatus 6.36111 angeht, so ist der noch weiter von einer Klärung entfernt als der Russell’sche. Wittgenstein ist kein ›Logizist‹ in der Art Russells (und ursprünglich Freges), aber er hat auf ähnliche Weise zu dem von Kant angepeilten ›ersten Grund‹ nichts zu sagen. Die Stellung des Abschnitts über rechte und linke Hand innerhalb von 6.3, worin eigentlich das von Wittgenstein so genannte ›Kausalitätsgesetz‹ im Zentrum steht, suggeriert, dass er das Rechtslinks-Phänomen mit Kausalität in Zusammenhang bringt, aber dieser Zusammenhang wird mit keinem Wort erklärt. Max Black wirft in seinem TractatusKommentar an dieser Stelle das Handtuch, wenn er bemerkt: »the bearing of Wittgenstein’s remarks about the problem of incongruent counterparts (6.36111) upon his theory of causality is unclear«. 20 Und wenn Wittgenstein in 6.36111 schreibt: »Rechte und linke Hand sind tatsächlich vollkommen kongruent. Und dass man sie nicht zur Deckung bringen kann, hat damit nichts zu tun«, reibt man sich die Augen: Ist dieser singuläre Sachverhalt denn nicht erklärungsbedürftig? Hat sich Kant denn völlig umsonst damit herumgeschlagen? Dazu kommt bei Wittgenstein noch, dass er die Bemerkung anknüpft: »Den rechten Handschuh könnte man an die linke Hand ziehen, wenn man ihn im vierdimensionalen Raum umdrehen könnte«. Aber dieses ›Umdrehen im vierdimensionalen Raum‹ ist eine völlig abstrakte Idee, und Kant möchte verstehen, was in unserem dreidimensionalen Raum passiert. Dazu bemüht er seine Anschauungs-Theorie. Klar ist, dass Wittgenstein Kants Inanspruchnahme des Anschauungs-Begriffs von Vornherein nicht akzeptiert. In 6.233 schreibt er: »Die Frage, ob man zur Lösung der mathematischen Probleme die Anschauung braucht, muss dahin beantwortet werden, dass eben die Sprache hier die nötige Anschauung liefert.« Man würde dies nun gerne auf das Rechts-links-Problem angewandt sehen, aber der Tractatus gibt keinen Hinweis. Vielleicht kann man beim späten Wittgenstein und dessen Sprach-Orientiertheit etwas dazu finden?

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Max Black: A Companion to Wittgenstein’s ›Tractatus‹, London 1964, S. 362.

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3. Der späte Wittgenstein und das Rechts-links-Phänomen

Tatsächlich kommt der späte Wittgenstein einige Male auf das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke zurück. Wenn ich es richtig sehe, passiert dies zum ersten Mal in einer Notiz vom 1. Oktober 1937 in seinem Manuskript 119 (siehe dort S. 61–63), die dann als eigener Paragraph, § 141, im Teil I der Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik erscheint. 21 Dieser Paragraph beginnt wie folgt: Was geht da vor, wenn Einer versucht, eine Figur mit ihrem Spiegelbild durch Verschieben in der Ebene zur Deckung zu bringen und es ihm nicht gelingt? Er legt sie in verschiedener Weise aufeinander; blickt auf die Teile, die sich nicht decken, ist unbefriedigt, sagt etwa: »es muss doch gehen«, und legt die Figuren wieder anders zusammen. Was geht vor, wenn Einer versucht, ein Gewicht aufzuheben und es ihm nicht gelingt, weil das Gewicht zu schwer ist? Er nimmt die und die Stellung ein, fasst das Gewicht an und spannt die und die Muskeln an, dann lässt er es los und gibt etwa Zeichen der Unbefriedigung. Worin zeigt sich die geometrische, logische Unmöglichkeit der ersten Aufgabe?

Man kann bei den von Wittgenstein angesprochenen spiegelbildlichen Figuren, die nicht durch Verschieben in der Ebene zur Deckung gebracht werden können, etwa an die gespiegelten Dreiecks-Figuren und denken. Wittgenstein stellt sich, so wie er die Situation beschreibt, offensichtlich weiterhin vor, dass diese Figuren real vorliegen, etwa in der Weise, dass sie z. B. aus Karton ausgeschnitten sind, oder dass es sich um vor uns liegende Teile eines Tangram-Spiels handelt. Trotzdem wird die betreffende Unmöglichkeit nicht als empirische verstanden, und sie ist von ganz anderer Art als diejenige, ein zu schweres Gewicht zu heben. Wenn Wittgenstein erstere als »logische« bezeichnet, klingt dies allerdings nicht plausibel; er erklärt es auch nicht, und ich gehe nicht weiter darauf ein. Ohne Zweifel schätzt man sie jedoch als mathematische ein. Zwar macht die von Wittgenstein im ersten Absatz beschriebene Person ein paar Versuche, die Figuren durch Verschieben tatsächlich zur Deckung zu bringen, denkt auch zunächst: »Es muss doch gehen«, gibt ihre Versuche jedoch schnell auf. Die Einsicht wird schließlich lauten, dass es sich hier um eine mathematische Unmöglichkeit handeln muss, dass allerdings zunächst nicht klar ist, wie genau man sie begreifen sollte. Die 21 Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: Werkausgabe Bd. 6, Frankfurt a. M. 1989; zitiert als BGM.

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Unmöglichkeit, das besagte Gewicht zu heben, ist dagegen eine kontingente, durch Erfahrung zu begründende, vielleicht auch durch eine empirische Theorie über die Fähigkeiten von Menschen, Gewichte zu heben. Sie bringt keine größeren Probleme mit sich. Wittgenstein setzt den Paragraphen dann auf folgende Weise fort: »Nun, er hätte doch an einem Bild oder in anderer Weise zeigen können, wie das aussieht, was er im zweiten Versuch anstrebte.« – Aber er behauptet, das auch im ersten Fall zu können, indem er zwei gleiche, kongruente, Figuren miteinander zur Deckung bringt. – Was sollen wir nun sagen? Dass diese beiden Fälle eben verschieden sind? Aber das sind ja auch Bild und Wirklichkeit im zweiten Fall.

Der erste, in Anführungszeichen gesetzte Satz wird von Wittgenstein einem Gesprächspartner in den Mund gelegt. Das »in anderer Weise zeigen« könnte etwa darin bestehen, dass man eine Maschine das Gewicht aufheben lässt. So, wie in einem passenden Bild gezeigt, oder wie im Fall der Maschine, sieht es aus, wenn das betreffende Gewicht aufgehoben wird. Man kann jedoch – so die unausgesprochene Pointe dieser Bemerkung – eben nicht zeigen, wie es aussieht, wenn z. B. und zur Deckung gebracht werden. – Diese prima facie sehr einleuchtend klingende Unterscheidung zwischen dem grundsätzlich Verschiedenen der betreffenden mathematischen und der empirischen Unmöglichkeit wird von Wittgenstein jedoch nur dem Gesprächspartner in den Mund gelegt, und er formuliert, beginnend seinem ersten »Aber«, sofort einen Einwand. Dieser Einwand ist nicht so leicht zu verstehen, unter anderem wegen Wittgensteins verwirrender Verwendung der Wörter »Fall« und »Fälle«. Die beste Interpretation, die ich geben kann, wäre die folgende: Man könnte doch auch im Fall der inkongruenten Gegenstücke (»im ersten Fall«), sagen wir im Fall von und , zeigen, wie es aussieht, wenn sie durch Verschieben zur Deckung gebracht werden, indem man einfach zwei kongruente Figuren durch Verschieben zur Deckung bringt, etwa die Figuren

und

. Man könnte sagen: so sieht ein Zur-Deckung-Bringen durch Verschieben eben aus! Und wenn nun jemand erwidert, dies sei doch etwas völlig anderes, als wenn man zeigt, wie das Aufheben jenes Gewichts aussieht, denn es ginge hier, im geometrischen Fall, doch gerade um die wesentliche Verschiedenheit von und , so könnte darauf die Antwort lauten (Wittgensteins zweites »Aber«), dass auch im Fall des Gewichts (»im zweiten Fall«) eine wesentliche Verschiedenheit vorliegt, eben die zwischen der Wirklich-

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keit des Nicht-Aufheben-Könnens und der Unwirklichkeit dessen, was das Bild zeigt (Wittgensteins »die beiden Fälle« in der vorletzten Frage deute ich dabei als: Fall der Figuren

und

im Gegensatz zum Fall der

Figuren und ). Dies wäre allerdings, wenn sie von Wittgenstein tatsächlich so intendiert war, eine sehr schief klingende Überlegung, jedenfalls dann, wenn man sie, wie Wittgenstein dies tut, ohne weitere Diskussion gleich wieder verlässt. Weder im nachfolgenden Paragraphen von BGM I noch an irgendeiner späteren Stelle wird sie wiederaufgenommen. Vor allem aber ist sie auch ganz unnötig, denn man kann sich sehr leicht vorstellen, wie

durch ein-

faches Verschieben in übergehen kann, indem man die Figuren nämlich auf einem Möbiusband ansiedelt. Dann gibt es eine globale Verschiebung, die über das ganze Band verläuft und bei der in übergeht. Nichts leichter als das. Das Möbiusband wurde 1858 entdeckt (siehe den entsprechenden Wikipedia-Artikel), so dass Kant noch nichts davon wissen konnte; aber dass nun, wie es angesichts seiner Diskussion in BGM I § 141 aussieht, auch Wittgenstein nichts von ihm zu wissen schien, ist doch eher erstaunlich. Auch in späteren Notizen von ihm ist nie die Rede davon. Wittgensteins nächster Text zum Rechts-links-Problems stammt aus dem Jahr 1938 und findet sich im MS 160. 22 Er behandelt dieses Problem nun ganz im Sinne seiner Spätphilosophie. Es geht ihm um den Status eines Satzes wie (RL) Es ist unmöglich, die rechte und linke Hand zur Deckung zu bringen,

der einerseits wie ein Erfahrungssatz klingen könnte, andererseits aber auch, und wohl eher, als mathematischer. Die offensichtliche Frage lautet dann, worin der Unterschied besteht. Man sollte an dieser Stelle hinreichend genau sein: Was kann es denn heißen, (RL) als Erfahrungssatz zu verstehen? Man kann doch nicht einfach nachschauen, ob sich eine rechte und eine linke Hand zur Deckung bringen lassen. Und auch bei den entsprechenden Figuren lässt sich das nicht so gut bewerkstelligen: fertigt man sie aus Draht an, oder in ähnlicher Weise? In dieser Hinsicht ist die in BGM I § 141 beschriebene Situation einfacher, weil dort nicht Hände, sondern flächige Figuren besprochen werden, die man he-

22 Ludwig Wittgenstein: Manuskripte aus Wittgensteins Nachlass gemäß der Bergen Electronic Edition, Oxford; zitiert als MS, mit Manuskript- und Seiten-Nummer nach der Ausgabe von 2000.

Rechte und linke Hand bei Kant und anderen

rumschieben und aufeinanderlegen kann. Wittgenstein behandelt in einer späteren Notiz, wie wir sehen werden, jedoch nicht nur Hände, sondern auch Handschuhe, und dann ist eine empirische Überprüfung möglich, indem man testet, ob der Handschuh für die rechte Hand auf die linke passt. Oder anstelle von Handschuhen stellt man andersartige handartige Hohlräume her und prüft, ob in den Rechte-Hand-Hohlraum eine linke Hand passt. So kann (RL) als empirisch prüfbar verstanden werden. Wittgenstein schreibt nun in seinem MS 160 unter anderem Folgendes: Wie wenn einer sagte: »Ich kann offenbar in irgendeinem Sinne versuchen die rechte Hand mit der linken zur Deckung zu bringen und es vergebens versuchen: also lehrt Erfahrung mich, dass dies nicht möglich sei; es handelt sich hier also nicht um eine logische, sondern erfahrungsmäßige, physikalische Unmöglichkeit.« Die Antwort ist: Der Satz: »es ist unmöglich, die rechte und linke Hand zur Deckung zu bringen« kann als geometrischer, aber auch als physikalischer Satz verwendet werden. (Oder, wie man auch sagen kann – obwohl dies leicht irreführende Ideen gibt: der Satz kann geometrisch oder auch physikalisch gemeint sein.) Wenn das erstere, so ist damit festgesetzt, dass jedes anscheinende Gelingen des Versuchs als Sinnestäuschung zu bezeichnen ist, ob dieser nun auf die Spur kommt oder nicht; ja dass der Vorgang, von dem ich sagte, er sei in irgendeinem Sinne ein Versuch, nicht als physikalischer Versuch zu gelten habe, d. h. sein Resultat nicht als das eines physikalischen Versuchs weiter zu behandeln ist. Im zweiten Falle wird man dem Versuchenden nicht sagen, »aber siehst Du denn nicht, dass es unmöglich ist!« – sondern wird vielleicht der Hoffnung Ausdruck geben, dass es einmal doch gelingen werde. (Die klugen Leute) 23

Der Schluss-Abschnitt über jemanden, der (RL) als Erfahrungssatz begreift und dem man entgegenkommend sagt, er solle die Hoffnung nicht aufgeben, weil das Zur-Deckung-Bringen vielleicht doch einmal, in irgendeiner Form, gelingen könnte, würde allzu seltsam klingen, hätte Wittgenstein nicht in Klammern hinzugefügt: »Die klugen Leute«. Damit wird auf das grimmsche Märchen Nr. 104, aus den Kinder- und Hausmärchen, verwiesen, das denselben Titel trägt und in dem eine Reihe einfältiger Menschen und ihre unfassbar dummen Verhaltensweisen beschrieben wird. Wenn ich diesen Verweis richtig verstehe, wäre die genannte Hoffnung von ähnlicher Dummheit wie im Falle jener Leute im Märchen – ob nun von Seiten des entgegenkommenden Menschen oder des weiterhin nach einem Zur-Deckung-Bringen-Suchenden. Wittgensteins Aussage ist hier ohne Zweifel ironisch zu verstehen.

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MS 160, S. 29r-30v; ich habe kleine formale Korrekturen vorgenommen.

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Sicherlich wird so gut wie jeder (RL) nicht als Erfahrungssatz, sondern in irgendeinem ›apriorischen‹ Sinn verstehen, wobei aber zunächst unklar ist, was genau seine Apriorität ausmacht. Kant hat reine Anschauung angeboten, ohne jedoch Befriedigendes dazu zu sagen. Reine Anschauung ist für Kant die Grundlage mathematischer Erkenntnis, und Wittgensteins Alternative zu »Erfahrungssatz« ist hier ganz automatisch »geometrischer«, also »mathematischer«. Wenn er am Ende (und so verstehe ich ihn) (RL) zunächst, bevor er dann jenen ›Versuchenden‹ ins Spiel bringt, mit dem Ausruf kommentiert: »aber siehst du denn nicht, dass es unmöglich ist!«, wird man erwidern, dass man es eben nicht ›sieht‹, in einem irgendwie deutlichen Sinn von »sehen«. Gerade darin liegt das bei genauerem Nachdenken vielleicht letztlich irgendwie mysteriös erscheinende von (RL). Was Wittgenstein jedoch zuvor schreibt, entspricht eher seiner Auffassung des Mathematischen, wie er sie in seiner Spätphilosophie entwickelt: man habe, wenn jene Unmöglichkeit des Zur-Deckung-Bringens als mathematische interpretiert wird, »festgesetzt, dass jedes anscheinende Gelingen des Versuchs als Sinnestäuschung zu bezeichnen ist, ob dieser nun auf die Spur kommt oder nicht; ja dass der Vorgang, von dem ich sagte, er sei in irgendeinem Sinne ein Versuch, nicht als physikalischer Versuch zu gelten habe, d. h. sein Resultat nicht als das eines physikalischen Versuchs weiter zu behandeln ist«. Dies entspricht seiner Auffassung von mathematischen Sätzen als Regeln, oder zumindest als »ihrem Wesen nach mit Regeln verwandt«. 24 Allerdings wird dabei das für die meisten mathematischen Sätze Wesentliche ausgelassen: dass sie bewiesen werden, und man möchte nun einen Beweis von (RL) kennen lernen. Dessen Existenz wurde zwar von Russell vage angedeutet (durch Hinweise auf Stetigkeit und die sog. ›Determinante‹), aber mehr haben wir momentan noch nicht. In Wittgensteins Lectures on the Foundations of Mathematics von 1939 gibt es eine kurze Besprechung der rechten und linken Hand, bei der auf die Möglichkeit solch eines Beweises zumindest angespielt wird. In einer Diskussion, die hauptsächlich von Turing angeregt ist, sagt Wittgenstein Folgendes: We can easily persuade a normal person that the right hand and the left hand (you can take two more mathematical things if you like) cannot be superimposed. Wouldn’t one be tempted to say that it is a mathematical fact: that if we prove this, we have proved a mathematical fact? When Hardy says, »Goldbach’s theorem is either true or false«, he means »The numbers either have this structure or they haven’t this structure.« Similarly 24 Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, in: Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt a. M. 1989, S. 60.

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we might say, »These two structures [the hands] have the quality that they can’t be superimposed.« You could of course show him that they can’t be. 25

Ja, man kann es mit einem Beweis zeigen, aber Wittgenstein verliert kein Wort darüber, wie er aussehen könnte. Im Folgenden skizziere ich solch einen Beweis, formuliert in der Begrifflichkeit der heutigen Mathematik. Der vorliegende Artikel ist kein mathematischer, weswegen es bei einer Skizze bleiben muss, aber ich versuche, die wesentlichen Beweis-Schritte deutlich werden zu lassen. 26 Als erstes sind, der mathematischen Präzision wegen, einige begriffliche Festlegungen nötig. Beginnen wir mit dem dreidimensionalen euklidischen Raum. Er sei repräsentiert, wie auch schon bei Russell, durch die Menge von Tripeln (x1,x2,x3) reeller Zahlen, eine Menge, die wir wie üblich als ℝ3 bezeichnen. Anstatt der Hände betrachten wir, wie von Wittgenstein angedeutet, »more mathematical things«, und zwar einfach Tripel, also Anordnungen, von drei aufeinander senkrecht stehende Einheitsvektoren (d. h. Vektoren der Länge 1). 27 Dabei kann man Vektoren ebenfalls als Elemente des ℝ3 auffassen: ein (x1,x2,x3) 2 ℝ3 nun nicht als geometrischer Punkt verstanden, sondern als Vektor, der vom Nullpunkt des ℝ3 bis zum Punkt (x1,x2,x3) an der Spitze verläuft. Ich werde beide Auffassungen der Elemente des ℝ3 – als Punkte oder als Vektoren – immer deutlich auseinanderhalten. 28 Sei nun p ein beliebiger Punkt des ℝ3. Man kann dann den ›Vektor v an p‹ einfach durch das Paar (p,v) repräsentieren, mit v 2 ℝ3, jetzt als Vektor aufgefasst. Das entsprechende Vektor-Tripel lautet dann: ((p,v1),(p,v2),(p,v3)), mit Einheits-Vektoren v1,v2,v3, die paarweise aufeinander senkrecht stehen. EntLudwig Wittgenstein: Wittgenstein’s Lectures on the Foundations of Mathematics, Cambridge, 1939, hrsg. v. Cora Diamond, Hassocks 1976, S. 139; zitiert als LFM. 26 Ich orientiere mich hauptsächlich an Michael Spivak: A Comprehensive Introduction to Differential Geometry, Vol. One, Second Edition, Berkeley 1979, S. 114–121, S. 138 f. und S. 273–285, wobei ich Spivaks begriffliche Allgemeinheit nicht übernehme. Speziell zum Begriff der Orientierung siehe auch Michael Spivak: Calculus on Manifolds, New York 1965, S. 75–85, Klaus Jänich: Lineare Algebra, 6. Auflage, Berlin 1996, S. 157, und Theodor Bröcker, Klaus Jänich: Einführung in die Differentialtopologie, Berlin etc. 1973, S. 35–44. 27 Man könnte auch, allgemeiner, drei linear unabhängige Vektoren hernehmen, ohne von deren wechselseitiger Orthogonalität oder von deren Länge zu sprechen (was im vorliegenden Kontext eigentlich keine Rolle spielt), aber der Anschaulichkeit halber bleibe ich bei den senkrecht aufeinander stehenden Einheitsvektoren. 28 In der Schule wird häufig diese Zweideutigkeit von (x ,x ,x ) – einerseits als geometri1 2 3 scher Punkt in ℝ3, andererseits als Vektor, der vom Nullpunkt des ℝ3 bis zum Spitzenpunkt (x1,x2,x3) reicht – durcheinandergebracht, sowohl von Lehrern als auch in Schulbüchern, was zu entsprechender Verwirrung bei den Schülern führt. 25

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scheidend ist schließlich der Begriff der Orientierung solch eines Vektor-Tripels. Unter der ›Standard-Orientierung‹ versteht man einfach das Tripel der Vektoren (1,0,0), (0,1,0), (0,0,1), kurz bezeichnet als e1, e2, e3, so dass also die Standard-Orientierung an Punkt p durch ((p,e1),(p,e2),(p,e3)) repräsentiert ist. Hat man zwei solcher Tripel, v1,v2,v3 und v'1,v'2,v'3, so sind sie als VektorraumBasen linear korreliert, d. h., es gilt v'i = a1iv1 + a2iv2 + a3iv3, und man nennt sie nun gleich orientiert, wenn die Determinante der Matrix A = (aij) positiv ist; in Zeichen det A > 0; und sie heißen gegensätzlich orientiert, wenn det A < 0. Aufgrund elementarer Eigenschaften der Determinante gilt dann, dass die Orientiertheit geändert wird, wenn man bei drei Vektoren v1,v2,v3 die Reihenfolge von zweien vertauscht; und ebenfalls, wenn man wie im Fall des oben besprochenen ROV-Dreibeins den Vektor, der dem V-Pfeil entspricht, umkehrt. Weiterhin ist, erneut wegen elementarer Eigenschaften der Determinante, Gleichorientiertheit im definierten Sinn eine Äquivalenzrelation mit genau zwei Äquivalenzklassen von gleichorientierten Basen. Auf genau diese Weise kommt also die von Russell erwähnte Determinante ins Spiel. Im Zentrum steht dann das Verschieben von Dreibeinen bzw. Vektoren. Denn im Satz: (RL) Es ist unmöglich, die rechte und linke Hand zur Deckung zu bringen, ist natürlich die Unmöglichkeit durch Verschiebung gemeint. Wie Russell betont hat, muss hier stetige Verschiebung gemeint sein, so dass also Sprünge, die nun doch eine rechte in eine linke Hand überführen könnten, nicht möglich sind. Wie kann man innerhalb des gerade skizzierten begrifflichen Rahmens diese Stetigkeit erfassen? Man sollte hier zwei Fälle unterscheiden: Erstens den Fall, dass das Ausgangs-Dreibein bzw. Vektor-Tripel nicht von dem Punkt, in dem es lokalisiert ist, weggeschoben wird; d. h. der Nullpunkt, von dem seine drei Vektoren ausgehen, sei immer derselbe, so dass nur die Vektoren selbst betrachtet werden müssen, unabhängig davon, an welchem Raumpunkt sie festgemacht sind. An so etwas scheint Kant gedacht zu haben, wenn er von einem Gegenstand, der nicht mit seinem Gegenstück zur Deckung gebracht werden kann, schreibt: »man mag ihn drehen und wenden wie man will« (Kant 1768, S. 27). Das Wort »wenden« ist kein Muster an Klarheit, aber ich deute Kants Äußerung so, dass er mit seiner Formulierung eine stetige Abwandlung des ursprünglichen Gegenstands meint. Mathematisch kann man dies ausdrücken, indem man sich das Ausgangs-Tripel v1,v2,v3 auf stetige Weise in ein End-Tripel w1,w2,w3 transformiert denkt. Auf dem Bewegungsweg von v1,v2,v3 nach w1,w2,w3 liegen andere Vektor-Tripel, nennen wir sie v'1,v'2,v'3, und jedes von ihnen ist (da es sich um Vektorraum-Basen handelt) mit v1,v2,v3 linear korreliert; d. h., es

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gilt: v'i = a1iv1 + a2iv2 + a3iv3, wobei diese Korrelation eineindeutig ist. Dies bedeutet aber gerade, dass die Determinante der Matrix A = (aij) ungleich Null ist. Man kann sich die betreffende Transformation, die von v1,v2,v3 zu w1,w2, w3 führt, durch eine Funktion f vom Einheits-Intervall [0,1] (also der Menge der reellen Zahlen von 0 bis 1) in die Menge jener Vektor-Tripel dargestellt denken, so dass also f(0) = (v1,v2,v3) und f(1) = (w1,w2,w3) ist. Weiterhin soll diese Funktion stetig sein. 29 Ihr entspricht dann eine ebenfalls stetige Funktion der betreffenden Transformationen, die von v1,v2,v3 bis zu w1,w2,w3 führen, repräsentiert durch Matrizen A(t), mit t 2 [1,0], so dass A(0) die Einheitsmatrix ist (da am Anfang, also bei t = 0, mit (v1,v2,v3) nichts gemacht wird) und A(1) die Matrix, die der Transformation von (v1,v2,v3) in (w1,w2,w3) entspricht. Auch diese Transformation der Matrizen ist stetig, und dasselbe gilt schließlich auch von ihren Determinanten 30. Insgesamt ergibt sich damit, dass det A(0) = 1 ist, also > 0, und dass wegen der Stetigkeit der Determinanten-Transformation auch det A(1) > 0 sein muss (andernfalls hätte man, da alle diese Determinanten 6¼ 0 sind, einen Widerspruch zum Zwischenwert-Satz). Aber dies bedeutet – in unserer neuen, präzisen Sprache –, dass die Vektor-Tripel (v1,v2,v3) und (w1,w2,w3) gleich orientiert sind. Kantisch gesprochen: ein Gegenstand kann nicht mit seinem inkongruenten Gegenstück durch stetige Bewegung zur Deckung gebracht werden, sondern immer nur mit einem kongruenten. Kommen wir zum zweiten Fall. Er besteht darin, dass das Ausgangs-Tripel nicht an Ort und Stelle, sondern im Raum verschoben wird. Wir können dies so beschreiben, dass wir das Tripel v1,v2,v3, von dem man ausgeht, in einem Punkt p0 lokalisieren, und dann das in einen anderen Punkt verschobene, sagen wir in den Punkt p1, durch Vektoren w1,w2,w3. Man