Ökonomie sichtbar machen: Die Welt nationaler Schulden in Bildschirmgröße. Eine Ethnographie [1. Aufl.] 9783839416082

Nationalökonomien und ihre Verschuldung sind eigentlich unüberschaubar. Am Beispiel sogenannter Entwicklungs- und Schwel

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Ökonomie sichtbar machen: Die Welt nationaler Schulden in Bildschirmgröße. Eine Ethnographie [1. Aufl.]
 9783839416082

Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung: Ökonomie sichtbar machen, verfolgen und voraussehen
1.1 Die internationale Finanzkrise im Jahr 2009 und das Forschungs ziel
1.2 Ausgangsfrage: Kann man Verschuldung überhaupt sehen?
1.3 Forschungsmethode und empirische Daten
1.4 Aufbau der Untersuchung
2. Strukturell Unüberschaubares kulturell überschaubar machen
2.1 Einleitung: Was und wo sind nationale Schulden?
2.2 Das strukturelle Grundproblem
2.2.1 Externe und öffentliche Schulden als maßloses Gemeinschaftshandeln
2.2.2 Historischer Kontext: Die internationale Schuldenkrise von 1975 bis 1983 als mikrosoziales und mikrotechnisches Problem
2.2.3 Die heutige Finanzstärke, Komplexität, globale Reichweite und Dynamik nationaler Schuldenportfolios: Indonesien und Argentinien
2.3 Die wissenskulturelle „Lösung“
2.3.1 Vier skopische Systeme von UNCTAD, IWF und Weltbank
2.3.2 Eine vielstimmige Gemeinschaft transnationaler Schuldenexperten
2.3.3 Monitoringpraxis
2.4 Zusammenfassung
3. Zur Selbst- und Fremdbeobachtung nationaler Schulden
3.1 Einleitung: Global-inklusive und global-exklusive skopische Systeme
3.2 Selbstbeobachtung: skopische Grundfunktionen auf Regierungsebene
3.2.1 Klassifizieren
3.2.2 Zentralisieren
3.2.3 Reflektieren
3.3 Fremdbeobachtung: Die Systeme von UNCTAD, IWF und Weltbank im globalen Projektionszusammenhang
3.3.1 Globale Projektion und Reprojektion
3.3.2 Projektion zur Weltbank
3.3.3 Projektion zum IWF
3.4 Ausblick: nationale Schulden auf dem Handy? Extreme Skopik und neue In- und Exklusionen in der Zukunft
3.5 Zusammenfassung
4. Nationalökonomie voraussehen. Die rastlose Zukunftsmaschinerie des Schuldenmanagements
4.1 Einleitung
4.2 Theoretische Grundlagen
4.2.1 Die ökonomische Erwartungsmaschine nach Keynes
4.2.2 Der zeitliche „Flow“ gegenwärtiger Finanzmärkte nach Knorr Cetina und Preda
4.2.3 Dynamisierung des Kommunikationsgenres „Tabelle“ nach Yates
4.2.4 Dynamisierung von „Appräsentation“ nach Schütz und Luckmann
4.3 Die DMFAS-Software als nationalökonomische Zukunftsmaschine
4.3.1 Die zeitlichen Grundmerkmale nationaler Schulden
4.3.2 Die finanzielle Zukunft immer wieder neu ausrollen: das Funktionspaket „Amortization Table“
4.4 Das Zusammenspiel von Marktunsicherheiten und nationaler Zukunftsmaschinerie
4.4.1 Überblick: Vier Marktunsicherheiten
4.4.2 Ein paar Dutzend Zukünfte: Rastlose Reprojektionsarbeit infolge schwankender Wechselkurse
4.4.3 Dreifache makroökonomische Projektionsarbeit mit Zinsen, Inflation und Bruttoinlandsprodukt
4.4.4 Die Re-Re-(…)-Projektionsmaschinerie für Umschuldungsverfahren
4.5 Zusammenfassung
5. Hochtechnologische Weltsituationen: Die situative Einfaltung und Entfaltung von Weltkomponenten im täglichen Schuldenmanagement
5.1 Einleitung: Weltsituationen anstelle von Globalität und Lokalität
5.2 Theoretische Grundlagen: Mikrosoziologische Situationsbegriffe
5.2.1 Goffman makroskopisch erweitert: synthetische Situationen nach Knorr Cetina
5.2.2 Haraway, Suchman und Pickering weitergedacht: Kaleidoskopwissen, verweltlichtes situatives Handeln und die „Welt-Wäschemangel“ der Praxis
5.3 Empirie
5.3.1 Erste synthetische Dimension: globale IT-Konzerne
5.3.2 Zweite synthetische Dimension: der globale Währungsund Geldmarkt
5.3.3 Dritte synthetische Dimension: internationale und regionale Finanzinstitutionen
5.3.4 Vierte synthetische Dimension: Nationalstaaten
5.3.5 Die überraschende Ent-Faltung hochtechnologischer Weltsituationen
5.4 Zusammenfassung
6. Technologische Sorge in Weltsituationen
6.1 Einleitung: ein skopisches System physiologisch betrachtet
6.2 Theoretische Grundlagen
6.2.1 Technologische Sorge als Pendant zur familiären Sorge nach Hochschild
6.2.2 Der Begriff der „Sorge um sich“ in der Hochenergiephysik nach Knorr Cetina
6.2.3 Verarmte starre Symbolwelten? Einwände gegen das „kritische Projekt“ der IT-Soziologie
6.3 Empirie: Fünf Raum-Zeit-Strategien der technologischen Sorge
6.3.1 Die persönliche Ad-hoc-Sorge in Situationszeit und -raum
6.3.2 Die biographische Sorge um das „Leben“ und die „Krankheiten“ einer Software
6.3.3 Automatisierte Sorge in System-Fluss-Zeit und Speicherplatzgröße
6.3.4 Laborartige Sorge: Zentralisierte Fernbeobachtung, Fehler-Reproduktion und Simulation (Vorsorge)
6.3.5 Bürokratische legitime Sorge in der langsamen Zeit einer UN-Organisation
6.4 Zusammenfassung
7. Zusammenfassung
Literatur

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Barbara Grimpe Ökonomie sichtbar machen

Barbara Grimpe (Dr. rer. soc.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissen, Ökonomie und Vertrauen in soziologischer und kulturanthropologischer Perspektive.

Barbara Grimpe

Ökonomie sichtbar machen Die Welt nationaler Schulden in Bildschirmgröße. Eine Ethnographie

Dissertation der Universität Konstanz Tag der mündlichen Prüfung: 14. Januar 2010 Referentin: Prof. Dr. Karin Knorr Cetina Referent: PD Dr. Alex Preda

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Barbara Grimpe Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1608-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Abbildungsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

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Vorwort

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1.

Einleitung: Ökonomie sichtbar machen, verfolgen und voraussehen

1.1 Die internationale Finanzkrise im Jahr 2009 und das Forschungsziel 1.2 Ausgangsfrage: Kann man Verschuldung überhaupt sehen? 1.3 Forschungsmethode und empirische Daten 1.4 Aufbau der Untersuchung 2.

Strukturell Unüberschaubares kulturell überschaubar machen

2.1 Einleitung: Was und wo sind nationale Schulden? 2.2 Das strukturelle Grundproblem 2.2.1 Externe und öffentliche Schulden als maßloses Gemeinschaftshandeln 2.2.2 Historischer Kontext: Die internationale Schuldenkrise von 1975 bis 1983 als mikrosoziales und mikrotechnisches Problem 2.2.3 Die heutige Finanzstärke, Komplexität, globale Reichweite und Dynamik nationaler Schuldenportfolios: Indonesien und Argentinien 2.3 Die wissenskulturelle „Lösung“

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3.

4.

2.3.1 Vier skopische Systeme von UNCTAD, IWF und Weltbank

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2.3.2 Eine vielstimmige Gemeinschaft transnationaler Schuldenexperten 2.3.3 Monitoringpraxis 2.4 Zusammenfassung

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Zur Selbst- und Fremdbeobachtung nationaler Schulden

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3.1 Einleitung: Global-inklusive und global-exklusive skopische Systeme 3.2 Selbstbeobachtung: skopische Grundfunktionen auf Regierungsebene 3.2.1 Klassifizieren 3.2.2 Zentralisieren 3.2.3 Reflektieren 3.3 Fremdbeobachtung: Die Systeme von UNCTAD, IWF und Weltbank im globalen Projektionszusammenhang 3.3.1 Globale Projektion und Reprojektion 3.3.2 Projektion zur Weltbank 3.3.3 Projektion zum IWF 3.4 Ausblick: nationale Schulden auf dem Handy? Extreme Skopik und neue In- und Exklusionen in der Zukunft 3.5 Zusammenfassung

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Nationalökonomie voraussehen. Die rastlose Zukunftsmaschinerie des Schuldenmanagements

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4.1 Einleitung 4.2 Theoretische Grundlagen 4.2.1 Die ökonomische Erwartungsmaschine nach Keynes 4.2.2 Der zeitliche „Flow“ gegenwärtiger Finanzmärkte nach Knorr Cetina und Preda 4.2.3 Dynamisierung des Kommunikationsgenres „Tabelle“ nach Yates 4.2.4 Dynamisierung von „Appräsentation“ nach Schütz und Luckmann 4.3 Die DMFAS-Software als nationalökonomische Zukunftsmaschine

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4.3.1 Die zeitlichen Grundmerkmale nationaler Schulden 4.3.2 Die finanzielle Zukunft immer wieder neu ausrollen: das Funktionspaket „Amortization Table“ 4.4 Das Zusammenspiel von Marktunsicherheiten und nationaler Zukunftsmaschinerie 4.4.1 Überblick: Vier Marktunsicherheiten 4.4.2 Ein paar Dutzend Zukünfte: Rastlose Reprojektionsarbeit infolge schwankender Wechselkurse 4.4.3 Dreifache makroökonomische Projektionsarbeit mit Zinsen, Inflation und Bruttoinlandsprodukt 4.4.4 Die Re-Re-(…)-Projektionsmaschinerie für Umschuldungsverfahren 4.5 Zusammenfassung 5.

Hochtechnologische Weltsituationen: Die situative Einfaltung und Entfaltung von Weltkomponenten im täglichen Schuldenmanagement

5.1 Einleitung: Weltsituationen anstelle von Globalität und Lokalität 5.2 Theoretische Grundlagen: Mikrosoziologische Situationsbegriffe 5.2.1 Goffman makroskopisch erweitert: synthetische Situationen nach Knorr Cetina 5.2.2 Haraway, Suchman und Pickering weitergedacht: Kaleidoskopwissen, verweltlichtes situatives Handeln und die „Welt-Wäschemangel“ der Praxis 5.3 Empirie 5.3.1 Erste synthetische Dimension: globale IT-Konzerne 5.3.2 Zweite synthetische Dimension: der globale Währungs- und Geldmarkt 5.3.3 Dritte synthetische Dimension: internationale und regionale Finanzinstitutionen 5.3.4 Vierte synthetische Dimension: Nationalstaaten 5.3.5 Die überraschende Ent-Faltung hochtechnologischer Weltsituationen 5.4 Zusammenfassung

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6.

Technologische Sorge in Weltsituationen

6.1 Einleitung: ein skopisches System physiologisch betrachtet 6.2 Theoretische Grundlagen 6.2.1 Technologische Sorge als Pendant zur familiären Sorge nach Hochschild 6.2.2 Der Begriff der „Sorge um sich“ in der Hochenergiephysik nach Knorr Cetina 6.2.3 Verarmte starre Symbolwelten? Einwände gegen das „kritische Projekt“ der IT-Soziologie 6.3 Empirie: Fünf Raum-Zeit-Strategien der technologischen Sorge 6.3.1 Die persönliche Ad-hoc-Sorge in Situationszeit und -raum 6.3.2 Die biographische Sorge um das „Leben“ und die „Krankheiten“ einer Software 6.3.3 Automatisierte Sorge in System-Fluss-Zeit und Speicherplatzgröße 6.3.4 Laborartige Sorge: Zentralisierte Fernbeobachtung, Fehler-Reproduktion und Simulation (Vorsorge) 6.3.5 Bürokratische legitime Sorge in der langsamen Zeit einer UN-Organisation 6.4 Zusammenfassung 7.

Zusammenfassung

Literatur

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5:

Abbildung 6:

Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14:

So sah ein Besucher von Cleveland im April 2008 eine unbezahlte Hypothek So sah der IWF im April 2008 das globale Finanzsystem Die technoepistemische Weltübersicht von IWF und Goldman Sachs Wie Mikrocomputerisierung in die Makroökonomie eingenistet ist Nationale Verschuldung in Relation zu verschiedenen Gläubigern, Märkten, makroökonomischen Variablen und nationalen Wirtschaftssektoren Das Zusammenspiel von transnationaler epistemischer Gemeinschaft, skopischen Systemen, Selbst- und Fremdbeobachtung Die Bedeutungstiefe der englischen Begriffe „monitor“, „monitoring“ und „monition“ Global-inklusive Finanzskopie zwischen UNCTAD, 66 Staaten, IWF und Weltbank Das DMFAS-Hauptmenü Die DMFAS-Tiefenstruktur Das Bildschirmfenster „General Information“, erste Seite Das Bildschirmfenster „General Information“, zweite Seite Amortisationstabelle Bericht über die Gesamtschulden von Burkina Faso

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Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20:

Abbildung 21: Abbildung 22:

Abbildung 23: Abbildung 24:

Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30:

Abbildung 31:

Abbildung 32:

Flussdiagramm des integrierten Finanzmanagementsystems von Argentinien Bildschirmfenster für Zahlungsanweisungen Bildschirmfenster für Zahlungsanweisungen mit Budgetlinien Bildschirmfenster mit der „automatic bridge“ zur Weltbank Die buchstäbliche Weltsicht der Weltbank auf vier verschuldete Staaten Argentinien, Indonesien und 62 andere Staaten in der komparativen Fremdbeobachtung des IWF Externe Verschuldung Indonesiens im IWFFormat Projektionsschleife von der nationalen Website Indonesiens zurück zur transnationalen Website des IWF Willkommen im Internet: das Portal der neuen DMFAS-Software 6.0 Die deutsche Staatsverschuldung am 17.9.2010 um ca. 16.46 Uhr – jede Sekunde ein anderer Stand, der Bildschirm fließt Das DMFAS-Hauptmenü Amortisationstabelle Die Schulden-Zukunftsmaschinerie Makroökonomische Mehrfachprojektionen für argentinische Staatsanleihen Grundfunktionsweise des DSM der Weltbank Weltentscheidungen in der „Tranche Management Option Two“ der DMFAS-Software Sorgt sich so die Gegenwartsgesellschaft? Verschiedene Formen der Sorge um Menschen und Technologie IT-Entwicklung in der legitimen bürokratischen Zeit einer UN-Organisation

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Abkürzungsverzeichnis

ADB AsDF CS-DRMS DMFAS DeMPA DRS DSM GDDS GDF DSBB IBRD IMF, IWF KfW OECD SDDS LIBOR SDR UNCTAD UNDP

African Development Bank Asian Development Fund Commonwealth Secretariat Debt Recording and Management System Debt Management and Financial Analysis System Debt Management Performance Assessment Debtor Reporting System Debt Strategy Module General Data Dissemination System Global Development Finance Dissemination Standards Bulletin Board International Bank for Reconstruction and Development International Monetary Fund, Internationaler Währungsfonds Kreditanstalt für Wiederaufbau Organisation for Economic Co-operation and Development Special Data Dissemination Standard London Interbank Offered Rate Special Drawing Right United Nations Conference on Trade and Development United Nations Development Programme

Vorwort

Dieses Buch wäre ohne die Unterstützung vieler Menschen nicht möglich gewesen. An erster Stelle möchte ich Frau Prof. Dr. Karin Knorr Cetina und Herrn PD Dr. Alex Preda, der in Edinburgh lehrt, für die kontinuierliche fachliche und persönliche Betreuung sehr danken. Desweiteren danke ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des DMFAS-Programms in Genf, die mich über viele Monate in der Villa Bocage und auf Projektreisen an ihrer Arbeit teilnehmen und sich viele Löcher in ihre Bäuche fragen ließen. Ganz besonders hat mir Manuela Jander mit ihrer genauen und kritischen Lektüre der fast fertigen Dissertation geholfen. Philippe Straatman, der frühere Chef des DMFASProgramms, gab mir im Sommer 2004 die Zusage, meine Feldforschung in seiner Organisation durchzuführen. Ich würde ihm gern persönlich noch einmal dafür danken und ihm das Endprodukt zeigen, doch leider geht das nicht mehr. Besonderer Dank gilt meinen Eltern, meiner Schwester und meinen Brüdern, die mich im Hintergrund (und eigentlich auch oft im Vordergrund) jahrelang unterstützt haben. Sehr herzlich möchte ich Frau Dr. Eleonore Lehr-Rottmann für weitreichende Einsichten danken. Stefan Beljean, Andrea Lassak, Ulrike Niedner-Kalthoff und Dr. Daniel Šuber gilt mein Dank für unverzichtbare Hinweise auf Schwächen in der Arbeit. Herrn Prof. Dr. Werner Schiffauer möchte ich nachträglich herzlich für viele spannende Veranstaltungen in Kulturanthropologie danken. Diese Studienerfahrungen haben mich nachhaltig geprägt. Herrn Prof. Dr. Herbert Kalthoff gilt mein Dank für jahrelange Unterstützung während der Studien- und Promotionszeit. Zudem danke ich Herrn Prof. Dr. Jakob Tanner für die schon jetzt bemerkenswerte Unterstützung im Rahmen meiner neuen Stelle. Schließlich möchte ich einigen geschätzten Freunden und Kollegen danken, die

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mir alltäglich im Kleinen und Großen geholfen haben oder mich einfach nur durch die Promotionszeit begleitet haben: Mareike Clauss, Dr. Vanessa Dirksen, Dr. Verena Felder, Dr. Anna Kusser, Dr. Carola Lehle, Dr. Diana Pitschel, Sophia Prinz, Hilmar Schäfer, Anne Sonnenmoser, Dr. Tobias Studer, Dr. Ekaterina Svetlova und Leon Wansleben.

1. Einleitung: Ökonomie sichtbar machen, verfolgen und voraussehen

1.1 D IE INTERNATIONALE F INANZKRISE IM J AHR 2009 UND DAS F ORSCHUNGSZIEL Am 2. April 2009 fand in London ein Weltfinanzgipfel der Finanzminister und Zentralbank-Präsidenten der G-20 statt. Die G-20 sind diejenigen Länder, welche zu diesem Zeitpunkt als „systemisch“ wichtig für das globale Finanzsystem galten (G-20 2009a). In Reaktion auf die damalige Finanzkrise gab diese Gruppe folgende Deklaration ab: „We, the Leaders of the G20, have taken, and will continue to take, action to strengthen regulation and supervision […] of the financial sector. Our principles are strengthening transparency and accountability, enhancing sound regulation, promoting integrity in financial markets and reinforcing international cooperation. […] [The new Financial Stability Board] will: […] assess vulnerabilities affecting the financial system, identify and oversee action needed to address them; […] promote co-ordination and information exchange among authorities responsible for financial stability; […] advise on and monitor best practice in meeting regulatory standards […]. We have agreed that all systemically important financial institutions, markets, and instruments should be subject to an appropriate degree of regulation and oversight. In particular: […] large and complex financial institutions require particularly careful oversight given their systemic importance“ (G-20 2009b: 1, 3).

Die vorliegende Untersuchung zeigt, inwiefern schon vor der jüngsten Finanzkrise die in diesem Zitat durchscheinende, über die Welt verteilte Kognition zur Überwachung und Regulierung des globalen Finanzsystems Realität war (vgl. Hutchins 1995). Die Analyse konzentriert

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sich dabei auf einen Teilbereich: die Schulden von Nationalstaaten. An den empirischen Daten über diesen Bereich wird deutlich, dass nicht alles so neu ist, wie es im Jahr 2009 scheint. Schon lange vor der Krise gab es zahlreiche, über die Welt verstreute nationale und transnationale Finanzexperten, die mögliche Verwundbarkeiten („vulnerabilities“) des Finanzsystems im Bereich nationaler Verschuldung prüften, die Koordination und den Informationsaustausch untereinander sowie die Anwendung gemeinsamer Standards vorantrieben, und möglichst alle „systemisch wichtigen“ Aspekte zu überschauen versuchten. Dass nationale Schuldenportfolios besonders aufmerksame Aufsicht erfordern („particularly careful oversight“), ist vielen der in dieser Arbeit untersuchten Finanzexperten klar: Sie haben diesen Anspruch schon längst in technologische Beobachtungssysteme überführt, und diese Systeme versuchen sie ständig weiter zu entwickeln. Diese Beobachtungssysteme sind der Gegenstand der vorliegenden Studie. Es handelt sich um verschiedene Informations- und Kommunikationstechnologien, die als „skopische Systeme“ bezeichnet werden können (Knorr Cetina/Preda 2007). Skopische Systeme sind als akteursähnliche Stellvertreter von menschlichen Experten permanent an der täglichen Übersichts- und Aufsichtsarbeit im transnationalen Schuldenmanagement beteiligt. Im Vordergrund der empirischen Untersuchung steht ein bestimmtes skopisches System, nämlich eine Software der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD). Die „DMFAS-Software“ (Debt Management and Financial Analysis System) wird von 82 Finanzministerien bzw. Zentralbanken in 66 Entwicklungs- und Schwellenländern zur Verwaltung der nationalen Schulden benutzt (vgl. World Bank 2008c: 11, 14). Es wird gezeigt, wie nationale und transnationale Schuldenexperten an verschiedensten Orten weltweit diese Software nutzen, um Schulden sichtbar zu machen, zu verfolgen und sogar (möglichst) vorauszusehen. Außerdem werden zwei skopische Systeme der Weltbank und eins des Internationalen Währungsfonds (IWF) untersucht, die eine ähnliche Funktion erfüllen. Insgesamt wird empirisch begründet, dass globale Finanzaufsicht in der tagtäglichen Praxis eine über die Welt verteilte, ungeheuer differenzierte und ständig am Laufen zu haltende Finanzmikroskopie ist. Die genauen Merkmale dieser globalen Finanzmikroskopie werden mikrosoziologisch herausgearbeitet.

E INLEITUNG

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1.2 AUSGANGSFRAGE : K ANN MAN V ERSCHULDUNG ÜBERHAUPT SEHEN ? Abbildung 1: So sah ein Besucher von Cleveland im April 2008 eine unbezahlte Hypothek

Quelle: Tigges 2008: o.S.

Mit einer demolierten, vermutlich von Plünderern ausgeschlachteten Hauswand und mit Briefkästen, an denen inzwischen die Behälter für die Tageszeitungen fehlen, aber immer noch die Initialen der ehemaligen Hausbesitzer stehen, macht die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.4.2008 deutlich, wie die amerikanische Hypothekenkrise „im Detail aussieht“ (Tigges 2008; siehe Abbildung 1). In der dazugehörigen Reportage wird über einen Stadtbezirk von Cleveland berichtet, der durch die landesweit höchste Zahl an Zwangsversteigerungen in den USA „traurige Berühmtheit“ erlangt habe (a.a.O.). Das Foto zeigt eines von tausenden Fallbeispielen individueller Verschuldung durch diejenigen Haus- und Wohnungskredite, die in den letzten Jahren in den USA an Bankkunden mit geringer Bonität („subprime“) vergeben wurden, dann bei vielen Bürgern in eine Überschuldung mündeten und ab Sommer 2007 eine globale Kettenreaktion auslösten. Die Subprime-Krise hat sich seitdem vom ursprünglichen

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US-amerikanischen Markt für Kreditneehmer mit geringer Bonität auf das globale Finanzsystem insgesamt ausgedehnt. Dies konstatiert auch der IWF, dessen explizites Mandat dass „Überschauen“ der Weltökonomie ist („oversight of the world economy“; IMF 2008a). So heißt es zu Beginn des Global Financial Stabilitty Report von April 2008: Eine erhebliche Verschlechterung in Teilen n des Subprime-Marktes habe sich inzwischen „krebsähnlich“ in die Kredit K - und Kapitalmärkte ausgedehnt und berge nun Risiken für die makroökonomischen Aussichten der USA und der Welt insgesamt (IMF 2008b: 1). Gleich auf der nächsten Seite des Berichts folgt dann das d zu dieser Aussage gehörende Schaubild, die „globale Finanzstabillitätskarte“ (IMF 2008b: 2; siehe Abbildung 2). Abbildung 2: So sah der IWF im April 2008 2 das globale Finanzsystem

Quelle: Reproduktion von IMF 2008b: 2

Während das Foto die Folgen eines einzelnen Falls von Überschulh das Haus verlassen, desdung sichtbar macht (die Hausbesitzer haben k nnen), werden mit der Grafik sen Hypothek sie nicht mehr abzahlen kö gkeiten in Wechselwirkung mit die Folgen zahlreicher Zahlungsunfähig zahlreichen anderen Messgrößen auf der Ebene eines globalen abstrak-

E INLEITUNG

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ten Systems sichtbar gemacht (vgl. IMF 2008b: 1). „Sichtbar“ ist in beiden Fällen metaphorisch gemeint, auch wenn Foto und Grafik beide konkret den Gesichtssinn, die Augen des Betrachters, ansprechen. Die Schuldenart „Hypothek“, ihr genaues Ausmaß und ihr Wechselverhältnis mit anderen ökonomischen Größen sind jeweils nicht direkt zu sehen; dennoch können sie mit diesen Darstellungen auf kleinstem Raum anschaulich und verständlich und in diesem Sinn sichtbar gemacht werden. Man könnte durchaus versuchen, eine Hypothek oder das globale Finanzsystem auch direkt zu sehen. Im ersten Fall, beim Foto und der einzelnen Hypothek, ist dies relativ leicht, denn die Unsichtbarkeit der Hypothek ist nur vorläufig. Man könnte sich vom Hausbesitzer, wenn man ihn denn noch findet (viele Bewohner Clevelands sind offenbar geflüchtet), den Vertrag für die Hypothek, den Tilgungsplan oder die Kontoauszüge zeigen lassen, auf denen sich vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit noch die Rückzahlungen des Kredits ablesen ließen. Dann könnte man sich eine Übersicht über seine sonstigen Haushaltseinnahmen und -ausgaben verschaffen, indem man um die Vorlage anderer Kontoauszüge, anderer Belege, anderer Verträge etc. bittet. Im zweiten Fall, also bei der Grafik, ist es nicht so einfach. Der sich um alle möglichen Hypotheken rankende „Haushalt“ der globalen Ökonomie ist nur schwer Detail für Detail zu erfassen. Und was sollte man sich auch alles zeigen lassen, um die Instabilität des globalen Finanzsystems konkreter zu sehen? Hierzu wären nicht bloß lauter über die Welt verstreute Kreditverträge, Tilgungspläne und Kontoauszüge zu studieren. Es wären auch viele andere Akten, Zahlungsbelege etc. zu prüfen, auf denen ökonomische Transaktionen verzeichnet sind (z.B. Geldgeschäfte zwischen Banken), die zwar weit über den unmittelbaren Abschluss einer Hypothek hinausgehen, dennoch aber über viele ökonomische Kettenglieder eine Beziehung zu ihm haben dürften (z.B. wenn das Geldgeschäft zwischen Banken seinerseits ein Kreditgeschäft ist, welches der Bank die Finanzierung von Hypotheken ermöglicht). Und selbst wenn man diesen diversen ökonomischen Kettengliedern nachgeht, so verliert man ja unweigerlich mit jedem weiteren Glied das Finanzsystem als eigene Gestalt aus den Augen. Es ist also ein Dilemma: In dem Maße, wie man sich auf die Ebene einzelner Transaktionen und ihrer Dokumentation begibt, verliert man gleichzeitig die Übersicht über das Ganze. Es können keine allgemeinen Aus-

20 | ÖKONOMIE SICHTBAR MACHEN

sagen mehr über die Stabilität des globalen Finanzsystems insgesamt getroffen werden. Dieses grundlegende Problem, also dass komplexe ökonomische Phänomene wie Form, Ausmaß und Wirkungen von Hypothekenschulden auf globaler Ebene sowie im Zeitverlauf nur indirekt über zahlreiche Arbeitsschritte der Selektion, Klassifikation, Aggregation, Kalkulation, Projektion u.v.m. sichtbar werden, wird deutlich, wenn man einmal anhand des Global Financial Stability Report die Quellen der oben abgebildeten Finanzstabilitätskarte studiert (IMF 2008b: 40 ff.). Die grüne Linie in der Darstellung symbolisiert, wie der IWF gegenwärtig vier Typen von Risiken sowie zwei Typen von Bedingungen im Vergleich zu Oktober 2007 (gelbe Linie) einschätzt, d.h. „makroökonomische Risiken“, „Emerging Market-Risiken“, „Kreditrisiken“ und „Markt- und Liquiditätsrisiken“ sowie „monetäre und finanzielle Bedingungen“ und „Risiko-Appetit“ (IMF 2008b: 8). Während die aktuellen Risiken vom Zentrum der spinnennetzartigen Grafik wegzudriften scheinen, sieht es so aus, als hätten die Bedingungen in Richtung des Zentrums angezogen (sie sind laut IWF „tighter“ geworden; IMF 2008b: 2). Schlägt man im Bericht nach, woraus diese vier Typen von Risiken und zwei Typen von Bedingungen im Einzelnen bestehen, so ist zu erfahren, dass sie auf eine Mischung aus ca. 30 Indikatoren und Schätzungen zurückgehen (IMF 2008b: 40). Auffällig ist, dass die Indikatoren wiederum ungefähr zur Hälfte bildhaft erläutert werden, in folgendem Sinn: Der Fließtext ist durchsetzt von insgesamt 31 graphischen Darstellungen. Schaut man sich davon nur eine Grafik genauer an, z.B. den „Composite Goldman Sachs Global Financial Conditions Index“, so ist festzustellen: Die Darstellung ist inhaltlich extrem komplex und gleichzeitig beeindruckend kompakt (IMF 2008b: 42).

E INLEITUNG

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Abbildung 3: Die technoepistemische Weltübersicht von IWF und Goldman Sachs

Quelle: IMF 2008b: 42

Die Grafik zeigt in vier verschiedenen Farben die Entwicklungslinien der Nationalökonomien Japan (dunkelgrün), China (hellgrün) und der USA (schwarz) sowie des Konglomerats „Euro area“ (gelb) über den Zeitraum 1990 bis Anfang 2008 in Bezug auf, in der jeweiligen Linie zusammengefasst: „movements in real exchange rates, real short- and long-term interest rates, credit spreads, equity returns, and market capitalization“ (IMF 2008b: 42). Eine fünfte Linie zeigt die Mittelwerte dieser vier Entwicklungen („Composite“, grau). Ein ziemlich großes Stück der globalen Ökonomie, nämlich die ökonomische Entwicklung des Euro-Wirtschaftsraums, Japans, Chinas und der USA über die letzten zehn Jahre, wird hier also auf wenigen Zentimetern einer Berichtsseite dargestellt. Das globale Finanzsystem in Form einer einzigen schematischen Darstellung wie der IWF-Finanzstabilitätskarte sichtbar zu machen, setzt also große Mengen an ihrerseits dichten Graphiken, Tabellen, Klassifikationen, Schlüsselzahlen und Kalkulationen in teils mehrjähriger historischer Betrachtung und insofern auch die alltägliche Vorarbeit von zahlreichen anderen Akteuren voraus. Im vorliegenden Fall sind solche Akteure z. B. die Investmentbank Goldman Sachs, vermutlich aber auch Regierungsbehörden. Ohne leistungsstarke Computertechnologie könnten alle diese Daten kaum statistisch aggregiert und Kalkulationen kaum durchgeführt werden. Ebenso könnten all diese Graphiken und Tabellen ohne leistungsstarke Bild- und Tabellenbear-

22 | ÖKONOMIE SICHTBAR MACHEN

beitungsprogramme sowie Bildschirme, mit denen sich die Darstellungen dann konzentriert vor Augen führen lassen, kaum erstellt werden. Diese empirische Komplexität ökonomischer Sichtbarmachung kann analytisch in drei wesentliche Bestandteile zerlegt werden: epistemische Leistungen, transnationale epistemische Gemeinschaft und skopische Systeme. Die vorliegende Arbeit analysiert, was diese drei Komponenten jeweils auszeichnet, und wie genau sie zusammenspielen, damit Ökonomie auf möglichst wenig Platz anschaulich und verständlich werden kann. Epistemische Leistungen Der IWF muss spezifische Leistungen erbringen, um den Zustand des globalen Finanzsystems überhaupt sichtbar, und vor allem, um die Darstellung für Investoren und politische Entscheidungsträger rund um die Welt glaubwürdig zu machen. Diese epistemischen Leistungen sind: • das Klassifizieren, speziell taxonomisches Klassifizieren (vgl. Fou-

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cault 1997: 82-91, 165-210; Handelman 1981; Bowker/Star 1999; Desrosières 1998: 237 ff.); das zu Klassifikationsleistungen oft dazugehörende Zentralisieren (vgl. „Subsumption“ bei Handelman 1981: 9); das Arrangement von Daten in Listen, Tabellen oder Grafiken, was mit Klassifikationsleistungen kulturell unmittelbar verbunden ist (vgl. Foucault 1997: 19, 22; Goody 1977: 52 ff.; Thompson 1998: 286; Yates 1989: 84); das Kalkulieren (vgl. Kalthoff 2005, 2007); das statistische Aggregieren (vgl. Desrosières 1998: 237 ff.); das räumliche Projizieren bzw. Hin- und Her-Reflektieren von Daten zwischen verschiedenen elektronischen Systemen, einzelnen Teilsystemen oder individuellen Akteuren (vgl. Knorr Cetina 2005a: 40/41); das zeitliche Projizieren, d.h. das Entwerfen ökonomischer Zukunft, und vor allem das fortwährende maschinenartige Reprojizieren (vgl. die „ökonomische Maschine“ in Keynes 1936/ 1973: 50).

Diese epistemischen Leistungen sind für viele ökonomische Akteure der Welt einigermaßen institutionalisiert – sowohl für sich genommen

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als auch im Zusammenspiel miteinander (vgl. Berger/Luckmann 1969/2007: 49-98). Es sind Handlungen, die im Hintergrund ökonomischer Darstellungen operieren bzw. dort von anderen Akteuren – etwa aufgrund von Begleittexten – vermutet werden (wie das Kalkulieren). Alternativ sind es Handlungen, die im Vordergrund selbst sichtbar werden (z.B. Klassifizieren im Genre der Grafik, welche als solche am Ende auch visualisiert wird). Im Lauf der Geschichte haben sie sich durch verschiedenste, über den Globus verteilte „Institutionsballungen“ hindurch – „Institutionsballungen, die wir Gesellschaften nennen“ (Berger/Luckmann 1969/2007: 59, 72) – als sinnhafte Maßnahmen zur Ordnung der Wirtschaft herausgebildet. Dabei ist ihre Institutionalisierung weder abgeschlossen noch an verschiedenen Orten bei verschiedenen Akteuren gleichförmig verlaufen: Sie wurden und werden bis heute aufwändig historisch-kulturell stabilisiert.1 Dennoch lässt sich festhalten: Die genannten epistemischen Leistungen stellen zusammengenommen ein (vorläufiges) dichtes Institutionsbündel dar, mit dem eine eigene Welt der Ökonomie – eine Welt reprojizierbarer Zahlengestalten – konstituiert wird. Im Fall der obigen Grafik steigert sich die Glaubwürdigkeit solcher Zahlengestalten dadurch, dass sie vom IWF und damit einem weithin anerkannten „Typus“, d.h. von einem im Zeitverlauf für die globale Ökonomie schon selbst zur Institution gewordenen Akteur, produziert wurden (Berger/Luckmann 1969: 58). In dem Ausmaß, wie die Zahlenwelt des IWF nun ihrerseits von anderen, über den Globus verteilten Experten beobachtet wird und deren Wissen und Anschlusshandeln, einschließlich ihrer eigenen Produktion von Zahlengestalten, beeinflusst, entsteht

1

Die historischen Phasen der Institutionalisierung der epistemischen Leistungen sind zum Teil ganz unterschiedlich verlaufen, und auch in der Gegenwart gibt es bei der konkreten Umsetzung noch sehr viel Spielraum. So hängt etwa räumliches Projizieren stark von den letzten Jahrzehnten der Computer- und Internet-Entwicklung ab, die Anfänge des taxonomischen Klassifizierens hingegen liegen etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts (Foucault 1997: 83; vgl. Handelman 1981: 6). Und „richtiges“ Klassifizieren ist bis heute ein höchst umstrittenes Feld: Aus wessen Sicht sollen in der Schuldenwirklichkeit, die je nach Standpunkt anders aussieht, wo genau die begrifflichen Grenzen gezogen werden? Die Kapitel 2.3.2 und 3.2.1 gehen auf diese Frage, die sich auf transnationaler Ebene ständig stellt, näher ein.

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eine immer dichtere ökonomische Welt, die letztlich als äußerlich Gegebenes, als „Vergegenständlichung“, erfahren werden kann (vgl. Berger/Luckmann 1969/2007: 94-95). Allerdings ist hier noch eine empirische Präzisierung nötig: Der IWF greift selbst auf andere ökonomisch typisierten (institutionalisierten) Akteure zurück, um seine Glaubwürdigkeit weiter abzusichern. Dies führt zur nächsten wichtigen Komponente ökonomischer Sichtbarmachung: Transnationale epistemische Gemeinschaft Der IWF ist auf die globale Kooperation mit anderen ökonomischen Akteuren angewiesen, um möglichst viele relevante Aspekte des Finanzsystems zu erfassen. Im obigen Beispielfall, der Grafik, ist es eine große Investmentbank. Im Rahmen dieser Arbeit, die sich auf nationale Schulden konzentriert, sind solche Akteure vor allem Vertreter der Weltbank, von UNCTAD und von allen Nationalstaaten dieser Welt. Die Schuldenexperten dieser Organisationen und Staaten bilden zusammen eine „transnationale epistemische Gemeinschaft“ (Haas 1992; vgl. Ikenberry 1992). Dies ist eine über die Welt verteilte, auf Konferenzen, in Einzelprojekten und manchmal auch in informellen Arbeitsgesprächen zusammentreffende Expertengemeinschaft. Nach Haas bilden sich transnationale epistemische Gemeinschaften typischerweise angesichts besonders komplexer, nationale Grenzen überschreitender Probleme wie z.B. in der Klimapolitik. Die beteiligten Experten könnten, so Haas, aus verschiedenen Disziplinen stammen, würden aber einen grundsätzlich ähnlichen „Denkstil“ pflegen; sie hätten z.B. dasselbe Verständnis von Kausalitätsbeziehungen (Haas 1992: 2-3; Fleck 1935/1980: 121). Es wird im Lauf dieser Arbeit noch zu zeigen sein, dass die transnationale Schuldenexpertengemeinschaft keineswegs homogen ist. Zwar gibt es grobe institutionelle Übereinstimmungen: Die oben genannten epistemischen Leistungen werden grundsätzlich von allen Beteiligten anerkannt. Doch in einem Beobachtungszusammenhang, der den gesamten Globus und also Unmengen von verschiedenen „Institutionsballungen“ (Berger/Luckmann 1969/2007: 59), d.h. Nationalstaaten, überspannen soll, gibt es, sozusagen unterhalb dieser groben Übereinkunft, immer noch sehr viel Raum für Konflikte. In der vorliegenden Arbeit werden verschiedene Situationen aufgezeigt, in denen UNCTAD-Mitarbeiter sich mit IWF-

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und Weltbank-Mitarbeitern streiten, zu anderen Zeiten aber auch wieder problemlos einigen – gewissermaßen innerhalb der Spannbreite der möglichen Umsetzung einer anerkannten epistemischen Leistung. Auch die Zusammenarbeit mit den Vertretern der Nationalstaaten verläuft alles andere als reibungslos.2 Skopische Systeme Die Weltübersicht des IWF ist schließlich auch von bestimmten epistemischen Hochtechnologien abhängig (vgl. Rammert/ SchulzSchaeffer 2002: 26 ff. zu verschiedenen „avancierten“ Technologien). Im vorliegenden Untersuchungsfeld sind es „skopische Systeme“ (Knorr Cetina 2003, 2005a, 2006, 2009; Knorr Cetina/Preda 2007). Es können drei wesentliche Merkmale dieser Systeme unterschieden werden: Erstens sind sie Träger der o.g. epistemischen Leistungen. Zweitens verdichten sie diese Leistungen aber auch besonders und fungieren so wie sehr antriebsstarke, durch Menschen kaum zu ersetzende Propellermaschinen, mit denen höhere Ordnungsebenen erreicht werden. So sind z.B. kompakte, plausible und schnell revidierbare Szenarien von aggregierter ökonomischer Zukunft ohne solche Systeme ganz unmöglich. In diesen Systemen, mit ihnen und durch sie hindurch werden ganz neue Situationen der ökonomischen Beobachtung erzeugt, die ganz neue Weltübersichten ermöglichen. Skopische Systeme erlauben es, relativ viele und relativ weit, ja gar weltweit verstreute Daten zusammenzuführen und zu ordnen, verschiedene Kalkulationen für unterschiedliche Zwecke anzustellen, ausgesprochen kompakte und gleichzeitig vielfältig variierbare Grafiken und Tabellen zu entwerfen,

2

Dieses Verständnis einer nur groben Institutionalisierung kommt dem Ansatz von Greve und Heintz nahe, die „zwischen unterschiedlichen Graden der Institutionalisierung globaler Strukturen […] unterscheiden“ (Greve/Heintz 2005: 113). Epistemische Gemeinschaften nehmen, so die beiden Autoren, ungefähr eine mittlere Position zwischen staatenunabhängigen globalen Gerichtshöfen einerseits und bestimmten politischen Bewegungen (etwa der Frauenbewegung) andererseits ein: Ihre „Regeln und gemeinsamen Deutungen“ seien mittelmäßig „objektiviert“ (a.a.O.). Im nächsten Kapitel wird diese Mittelposition unter dem Begriff der „contested epistemic community“ und anhand empirischer Beispiele näher erläutert.

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diese unterschiedlichen Darstellungen ökonomischer Realität dann auf Bildschirmen übersichtlich vor Augen zu führen, und all diese Operationen bei Bedarf immer und immer wieder in kürzester Zeit zu revidieren, sobald sich an einer der zahlreichen „Datenfronten“ durch neue äußere Einflüsse die Werte ändern. Alle diese außerordentlichen epistemischen Kapazitäten von skopischen Systemen machen sie allerdings auch, drittens, zu besonders empfindlichen Quasi-Akteuren, die ständig selbst aufmerksam umsorgt werden müssen. Nachfolgend werden nun nicht mehr private Hypotheken, sondern nationale Schulden sog. „Entwicklungs-“ und „Schwellenländer“ genauer untersucht. Es wird analysiert, wie die Schulden eines Nationalstaats durch die Regierung, d.h. durch das jeweilige Finanzministerium oder die Zentralbank, verwaltet werden, und außerdem, welche transnationalen Bemühungen des Schuldenmanagements es gibt. Ähnlich wie im eben skizzierten Fall der Sichtbarmachung von globaler Finanzstabilität wird herausgearbeitet, welche epistemischen Leistungen sowie skopischen Systeme existieren, um nationale Verschuldung sichtbar zu machen, im Zeitverlauf zu verfolgen und vorauszusehen, und auf welche Weise ökonomische Experten dabei transnational kooperieren.

1.3 F ORSCHUNGSMETHODE EMPIRISCHE D ATEN

UND

Die Daten für die vorliegende Untersuchung wurden im Zeitraum 2004 bis 2009 erhoben. Den Kern bildet eine insgesamt fast zehnmonatige „multi-sited ethnography“ (Marcus 1998), die ich verteilt über die Jahre 2004 bis 2006 in Genf, Burkina Faso, Indonesien und Argentinien durchführte. Diese teilnehmende Beobachtung ergänzte ich durch insgesamt 28 ethnographische Interviews an allen vier Feldforschungsorten (zahlreiche informelle Gespräche nicht mitgerechnet). Schließlich wurden über den gesamten Zeitraum einerseits im Feld gesammelte Originaldokumente, andererseits im Internet recherchierte Publikationen wie z.B. IWF-, Weltbank- und UN-Veröffentlichungen sowie institutionelle Websites analysiert. Der genaue zeitliche Ablauf der Forschung war wie folgt: Von August 2004 bis März 2005 konnte ich ein insgesamt ca. 6½ Monate dauerndes Praktikum beim DMFAS-Programm in Genf absolvieren.

E INLEITUNG

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Das Schuldenmanagementsystem, das diese Unterorganisation von UNCTAD von ca. 1979 an konzipiert hat, wird derzeit in 82 Finanzministerien und Zentralbanken benutzt; insgesamt kooperiert das DMFAS-Programm mit 66 Ländern (World Bank 2008c: 11, 14; vgl. DMFAS 1999/2000: 1). Von Genf aus begleitete ich verschiedene DMFAS-Mitarbeiter auf zwei sog. „country missions“ (so werden Projektreisen in die Länder genannt). Zuerst ging es nach Burkina Faso (September 2004), wo zunächst eine einwöchige Regionalkonferenz für mehrere afrikanische Länder und dann ein gut zweiwöchiges Training speziell für die Nutzer der DMFAS-Software im Finanzministerium von Burkina Faso stattfand. Kurz darauf konnte ich an einer dreiwöchigen Projektreise nach Indonesien (November 2004) teilnehmen, wo DMFAS-Mitarbeiter u.a. neue Projektmaßnahmen in Zentralbank und Finanzministerium mit den dortigen Autoritäten besprachen (die Software ist in Indonesien in beiden Institutionen installiert). Nach einer ersten Phase der Datenauswertung von ca. April 2005 bis Februar 2006 reiste ich im März 2006 außerhalb einer offiziellen „country mission“ des DMFAS-Programms nach Argentinien, um im dortigen Finanzministerium eineinhalb Monate teilnehmende Beobachtung durchzuführen. In den ersten Wochen stand das lokale Schuldenmanagement im Fokus. In der letzten Woche wurde mir die Teilnahme an einer vom DMFAS-Programm vor Ort abgehaltenen Schuldenmanagementkonferenz für lateinamerikanische Länder ermöglicht. Ein wenig später, d.h. Mitte Juni 2006, konnte ich wiederum in Genf die „Fifth Inter-Regional Debt Management Conference“ von UNCTAD, eine internationale Konferenz für nationale und internationale Schuldenexperten, teilnehmend beobachten (vgl. DMFAS 2008d). Letzte empirische Daten wurden schließlich vom 3. bis 5. Juni 2009 beim DMFAS-Programm in Genf erhoben. Insbesondere führte ich mit verschiedenen DMFAS-Mitarbeitern informelle Gespräche sowie semistrukturierte Interviews über eine bis dahin erarbeitete Vorversion der Dissertation. Ziel war es zu klären, ob die Darstellung der technischen Softwaredetails sowie die fachlichen Aussagen über Schuldenmanagementpraktiken aus Teilnehmersicht zutreffen. Einzelne Korrekturen wurden daraufhin noch vorgenommen. Hinsichtlich der Tonbandaufnahmen, die durch alle Phasen der Datenerhebung hindurch stattfanden, ergibt sich folgendes Bild: Insgesamt wurden neun unterschiedliche interne Sitzungen des DMFASProgramms mitgeschnitten (ca. 16 Stunden Aufnahmezeit). Während

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der lateinamerikanischen Konferenz in Argentinien konnte ich zudem den Vortrag eines Vertreters des IMF Statistics Department aufnehmen (ca. drei Stunden). An der Universität Konstanz wurde ein Teil eines Vortrags mitgeschnitten, den der Leiter der IT-Abteilung des DMFASProgramms im Juli 2005 im Forschungskolloquium des Lehrstuhls Knorr Cetina hielt (eine halbe Stunde). Von 22 ethnographischen Interviews, die im Zeitraum 2004 – 2006 durchgeführt wurden, nahm ich drei auf Tonband auf: zwei mit höherrangigen DMFAS-Mitarbeitern (insgesamt ca. drei Stunden), darunter der Leiter der IT-Abteilung, sowie eins mit dem früheren Chef der Technical Advisory Group on Public Debt Management des Schatzamts der Weltbank (ca. eineinhalb Stunden). Die übrigen 19 ethnographischen Interviews protokollierte ich: in Indonesien 12 Interviews mit Mitarbeitern der Zentralbank und des Finanzministeriums (unterschiedliche Hierarchieebenen), im argentinischen Finanzministerium sieben (u.a. mit dem Leiter der Schuldenmanagementabteilung und seinem Stellvertreter). Die Gesamtdauer dieser 19 protokollierten Interviews beträgt ca. 25 Stunden. In den meisten Fällen führte ich außerdem unterschiedlich lange informelle Anbahnungs- sowie Nachgespräche mit den Interviewpartnern, da die meisten Interviews ja in Feldforschungsaufenthalte eingebettet waren. In der letzten Phase der Datenerhebung im Juni 2009 interviewte ich noch einmal sechs Experten des DMFAS-Programms in Genf (alle mit Tonbandaufnahme). Die Gesamtdauer dieser Interviews beträgt ca. sechs Stunden.

1.4 AUFBAU DER U NTERSUCHUNG Im nächsten Kapitel wird die strukturelle Grundproblematik beim Management nationaler Schulden erläutert. Viele nationale Schuldenportfolios sind so finanzstark, in sich komplex, global in der Ausdehnung und dynamisch in der Zeit, dass sie von menschlichen Augen überhaupt nicht überschaut werden können – selbst dann nicht, wenn es eine umfangreiche Aktenführung gibt. So besteht permanent die Gefahr unkontrollierter Überschuldung. Die internationale Schuldenkrise der Entwicklungsländer um 1980 kann zum Teil auf diese Problematik zurückgeführt werden. Anhand einiger Dokumente aus den Jahren während und kurz nach dieser Krise lässt sich zeigen, dass und wie Schuldenexperten weltweit für einen systematischen Ersatz des einfa-

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chen menschlichen Blicks und der reinen Schriftlichkeit plädieren: für die Computerisierung nationaler Schuldenbüros. Zur Forderung nach Computerisierung kam die Ermahnung hinzu, noch so kleinste Details in den Schuldendaten vollständig, genau und im Zeitverlauf immer wieder neu zu erfassen. Insofern fundierten die Schuldenexperten die Stabilität des internationalen Finanzsystems schon damals mikrotechnisch und mikrosozial. Dies ist das zentrale Argument des nächsten Kapitels. Im Rest des Kapitels wird ausgeführt, was gegenwärtig die drei Lösungswege für die Grundproblematik der Unübersichtlichkeit von nationaler Schuld sind. Es sind erstens vier skopische Systeme, d.h. hochentwickelte Nachfolger der schon damals eingeforderten Computersysteme, zweitens eine transnationale epistemische Gemeinschaft von Schuldenexperten und drittens eine Monitoringpraxis. Dies sind der Annahme nach die drei wesentlichen Elemente eines umfassenden wissenskulturellen „Leistungspakets“ zur Sichtbarmachung von Verschuldung, wie in diesem Kapitel bereits angedeutet wurde und dort weiter ausgeführt wird. Das dritte Kapitel vertieft diese Charakterisierung für eins der drei Lösungselemente, nämlich für die skopischen Systeme. Als Erstes wird die Unterscheidung zwischen global-inklusiven und globalexklusiven skopischen Systemen getroffen (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008). Die konkreten drei skopischen Systeme, die in diesem Kapitel untersucht werden, sind als global-inklusive Systeme zu bezeichnen. Es sind die DMFAS-Software von UNCTAD sowie zwei Internetplattformen, das Dissemination Standards Bulletin Board des IWF (DSBB) und die Global Development Finance-Datenbank der Weltbank (GDF). Im Wesentlichen steht „Inklusivität“ hier dafür, dass diese drei ökonomischen Beobachtungssysteme ständig nationalstaatliche Beobachtungsbedürfnisse zusätzlich zu den transnationalen einschließen müssen. Exklusive Beobachtungssysteme wie z.B. die im elektronifizierten Foreign Exchange-Interbankenhandel benutzten Systeme sind von einer solchen nationalstaatlichen „Durchwucherung“ weitestgehend bereinigt. Danach gliedert sich das Kapitel in zwei Teile: Als Erstes wird die Funktionsweise skopischer Systeme auf der Ebene der Selbstbeobachtung von nationaler Verschuldung, d.h. der Beobachtung der Schulden durch die jeweiligen Regierungen selbst, erläutert. Auf Grundlage der eigenen empirischen Daten werden hier drei Hauptfunktionen skopischer Systeme unterschieden: Klassifizieren, Zentralisieren und Reflektieren. Im zweiten Teil wird dann die analytische

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Perspektive auf die Ebene der komparativen Fremdbeobachtung von nationaler Verschuldung durch IWF und Weltbank verschoben. Auf Grundlage der eigenen teilnehmenden Beobachtung einzelner Sitzungen und informeller Gespräche von UNCTAD-, IWF- und WeltbankMitarbeitern sowie einer Analyse verschiedener Websites wird hier zwischen zwei weltumspannenden Projektionsbeziehungen unterschieden: der Beziehung von der DMFAS-Software zum Weltbanksystem sowie derjenigen von der DMFAS-Software zum IWF-System. Das vierte Kapitel widmet sich der Zeit- und speziell der Zukunftsdimension des Schuldenmanagements. Die DMFAS-Software und ein weiteres skopisches System, das Debt Sustainabity Module der Weltbank (DSM), werden in ihrer Eigenschaft als rastlose „Zukunftsmaschinen“ untersucht. Die Analyse ist von drei theoretischen Linien durchzogen: Erstens wird die Metapher der „ökonomischen Maschine“ nach Keynes auf das transnationale Schuldenmanagement übertragen (Keynes 1936/1973: 50). Zweitens wird der ursprünglich für Finanzmärkte entwickelte „Flow“-Begriff von Knorr Cetina und Preda in modifizierter Form angewendet (Knorr Cetina/Preda 2007). Drittens wird das Kommunikationsgenre der Tabelle im Sinn von Yates (1989: XV, XVII, 65, 77, 80-84) „verzeitlicht“ bzw. „verzukunftet“. In gleicher Weise wird viertens mit dem Begriff „Appräsentation“ nach Schütz und Luckmann verfahren (Schütz/Luckmann 1994: 178 ff.). Im Weiteren wird ausgeführt, was die rastlose Zukunftsmaschinerie konkret antreibt: veränderliche Wechselkurse, Zinsschwankungen, Inflation und ein veränderliches Bruttoinlandsprodukt. Dies sind in das jeweilige nationale Schuldenmanagement von außen „einbrechende“ Marktunsicherheiten. Das fünfte Kapitel führt diese Interpretation zum „Einbruch“ von Marktunsicherheiten in das tägliche Schuldenmanagement weiter und radikalisiert die soziologische Deutung. Noch so kleine alltägliche Situationen des Schuldenmanagements müssen, wie die eigenen empirischen Beobachtungen nahelegen, als extrem „synthetische“ Situationen begriffen werden, in denen verschiedenste Weltkomponenten direkt in die nur Minuten oder gar Sekunden dauernden Arbeitsschritte der Datenverarbeitung hineinspielen (vgl. Knorr Cetina 2009). Die lokale situative Schuldendatenverarbeitung, so das Grundargument, ist eine von verschiedenen Weltebenen durchzogene Büroarbeit. In theoretischer Hinsicht werden entsprechend folgende Beiträge geleistet: Der Situationsbegriff von Goffman wird im Sinn von Knorr Cetina

E INLEITUNG

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„synthetisiert“ (Goffman 1964, 1983; Knorr Cetina 2009). Außerdem werden die Theorieansätze von Haraway (1991), Suchman (2002) und Pickering (1993), die von der Situiertheit und lokalen Spezifik von Handlungen und Wissen ausgehen, „verweltlicht“, ohne dass damit die mikrosoziale und mikrotechnische Fundierung des Wissens und Handels von Schuldenexperten in Frage gestellt wird. Mit anderen Worten, es wird keine „glatte“ Globalisierungsthese vertreten. Vielmehr wird ein differenzierter Begriff von Welt entwickelt. Das letzte Kapitel setzt dieses empirisch begründete Konzept hochtechnologischer Weltsituationen voraus und fragt weitergehend, was diese Komplexität des täglichen Schuldenmanagements eigentlich für diejenigen bedeutet, die skopische Systeme ständig am Laufen halten müssen. Hierzu werden die alltäglichen Wartungs- und Reparaturarbeiten der DMFAS-Experten in den Blick genommen. Die DMFASSoftware ist eng in die alltägliche Arbeit in 82 nationalen Schuldenbüros weltweit eingebunden. Was tun die DMFAS-Experten, um diese bis zu 82fach verschiedenen Situationen der Schuldenbeobachtung stabil zu halten? Es werden fünf Strategien der technologischen Sorge, die zeitlich und räumlich alle unterschiedlich ausgerichtet sind und so dem „Weltcharakter“ des Schuldenmanagements gerecht zu werden versuchen, unterschieden. Was die Theoretisierung angeht, so werden die Begriffe der familiären Sorge nach Hochschild, das Sorge-Konzept von Knorr Cetina aus der Hochenergiephysik und aktuelle techniksoziologische Arbeiten auf die Reparatur- und Wartungsarbeit übertragen. Die DMFAS-Software, so die zentrale These, ist ein skopischer Quasi-Akteur, der einen empfindlichen ökonomischen Stoffwechsel hat und deshalb ständig aufmerksam umsorgt werden muss. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung. Hier werden die wichtigsten Untersuchungsergebnisse drei Fragestellungen zugeordnet: Erstens, wie ökonomische Realität, ihre Beobachtung und ökonomisches Handeln ineinandergreifen; zweitens, wie Globalisierung in der Praxis funktioniert; drittens, welcher Technologiebegriff zu den analysierten Systemen passt. Im Ausblick werden weiterführende Forschungsfragen diskutiert.

1. Strukturell Unüberschaubares kulturell überschaubar machen

2.1 E INLEITUNG : W AS S CHULDEN ?

UND WO SIND NATIONALE

Was sind nationale Schulden? Wo beginnen und enden sie? Die Antwort auf diese beiden Fragen scheint zunächst naheliegend und banal: Nationale Schulden sind die Schulden eines Nationalstaats, der Kredite aufgenommen hat. Diese Schulden beginnen und hören dort auf, wo der Staat seinen Einflussbereich und seine Grenzen hat. Doch beides ist in der Praxis nicht leicht zu bestimmen. Eine Regierung kann die Verschuldung des eigenen Staates prinzipiell nur schwer kennen; sie hat ein grundsätzliches Beobachtungsproblem, so die erste leitende Annahme. Erst recht stellt sich dieses strukturelle Beobachtungsproblem, so die zweite leitende Annahme, für Nicht-Regierungsangehörige, etwa Investoren im In- und Ausland, Politiker anderer Länder, Vertreter internationaler Organisation. Diese doppelte Beobachtungsproblematik beginnt schon mit scheinbar einfachen Definitionen: Wie werden Schulden bezeichnet? Was zählt alles dazu, was nicht – und aus wessen Sicht? In transnationaler Perspektive wird die Brisanz dieser Definitionsfragen besonders deutlich: Verstehen alle Menschen rund um den Globus dasselbe unter einem Nationalstaat, unter Schuld, und speziell unter nationaler Schuld? Nachfolgend wird die Beobachtungsproblematik in ihren verschiedenen Facetten näher erläutert. Dazu werden zunächst zwei übliche, relativ stabile Definitionen von nationaler Schuld vorgestellt.1 Da-

1

Dass viele weitere Schuldendefinitionen dagegen durchaus umstritten sind, wird später im Abschnitt zur vielstimmigen epistemischen Gemeinschaft

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rauf folgt eine Diskussion des Zusammenhangs von nationaler Schuld und „Gemeinschaftshandeln“ auf Weltebene (Weber 1921/1980: 398). Im Anschluss wird das doppelte, d.h. national-innere und transnational-äußere Beobachtungsproblem speziell in Bezug auf sog. „Entwicklungs“- und „Schwellenländer“, um die es in der weiteren Analyse vorrangig geht, erläutert. Als Erstes wird eine historische Perspektive eingenommen: Im Kontext der internationalen Schuldenkrise um 1980 legten transnationale Schuldenexperten den Grundstein für die gegenwärtige Praxis der Schuldenbeobachtung, indem sie explizit eine „Computerisierung“ forderten. Gleichzeitig wurde damals ein Sinnzusammenhang zwischen mikrosozialen und mikrotechnischen Verwaltungsdetails und den auf Makroebene angesiedelten Ordnungsbemühungen internationaler Finanzinstitutionen etabliert. Danach wird eine stärker gegenwartsbezogene Perspektive eingenommen: Gegenstand sind die komplexen Verschuldungssituationen von Indonesien und Argentinien im Zeitraum 2003 bis 2006 (entsprechende Daten wurden während der Haupt-Feldforschungszeit von 2004 bis 2006 erhoben). Schließlich werden die drei kulturellen Lösungselemente für die Beobachtungsproblematik vorgestellt: skopische Systeme, eine transnationale Expertengemeinschaft und eine weltumspannende „Monitoringpraxis“, die u.a. verschiedene epistemische Leistungen umfasst. Es wird deutlich, inwiefern nicht nur die nationale, sondern auch die transnationale Schuldenbeobachtung in der Praxis mikrosozial und mikrotechnisch fundiert ist. Sie ist ein Konglomerat „globaler Mikrostrukturen“ (Knorr Cetina/Bruegger 2002a).

der Schuldenexperten deutlich (vgl. außerdem Kapitel 3.2.1 zum Klassifizieren).

S TRUKTURELL U NÜBERSCHAUBARES KULTURELL

2.2 D AS

STRUKTURELLE

ÜBERSCHAUBAR MACHEN

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G RUNDPROBLEM

2.2.1 Externe und öffentliche Schulden als maßloses Gemeinschaftshandeln Nationale Schulden umfassen in dieser Arbeit sog. „externe“ und „öffentliche“ Schulden. Diese werden von transnationalen Schuldenexperten vorläufig wie folgt definiert:2 „Gross external debt is the amount, at any given time, of disbursed and outstanding contractual liabilities of residents of a country to nonresidents to repay principal, with or without interest, or to pay interest, with or without principal“ (IMF 2003: 1). „Broadly defined, [public debt] […] is the debt obligations of the public sector of a country. For example, it can be the direct debt of the state which means that the central administration of the country manages the loan, or the debt contracted by a public enterprise but which is managed by the central administration of the country“ (UNCTAD 2008a).

Schulden umfassen gemäß der ersten Definition grundsätzlich die beiden Komponenten „principal“ – das ist der eigentliche, in Raten zu begleichende Schuldbetrag – und „interest“ (Zinsen). Beide Komponenten müssen über einen vertraglich vereinbarten, meist mehrjährigen Zeitraum zurückgezahlt werden. „Extern“ sind Schulden dann, wenn das Schuldverhältnis sich aus der Perspektive des Schuldners über die Grenzen des Staates, in dem er wohnhaft ist, erstreckt. Dabei kann es sich bei Schuldner und Gläubiger sowohl um Privatpersonen bzw. privatwirtschaftliche Institutionen als auch um öffentliche Träger handeln. Umgekehrt ist in der Definition von öffentlichen Schulden immer nur folgende Konstellation im Blick: Ein öffentliche Institution eines Landes, oft die Regierung, hat sich bei einer anderen Partei verschuldet. Der Gläubiger kann nun aber, anders als bei der Definition externer Schulden, in einem anderen oder im eigenen Land wohnhaft sein.

2

Den sog. „Debt Guide“ (Teilnehmerbegriff), ein Handbuch, aus dem die erste Definition für externe Schulden stammt, benutzten und zitierten die Schuldenexperten im Feld relativ häufig. Er wird daher im Verlauf der Arbeit noch wiederholt als Referenz auftreten.

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Staatsanleihen z.B. fallen oft in beide Kategorien, also unter externe und öffentliche Schulden: Häufig geben Regierungen Anleihen sowohl an Inländer als auch an Ausländer aus. In der Praxis werden beide Schuldenarten – extern und öffentlich – meist vom nationalen Finanzministerium oder von der nationalen Zentralbank, oder auch von beiden, verwaltet. In beiden Definitionen deutet sich bereits die immense Komplexität des Untersuchungsbereichs an. Mit Max Webers Verständnis von Kredit bzw. Schuld lässt sie sich noch genauer fassen und spezifisch soziologisch deuten. Für Weber sind Kreditaufnahme und Verschuldung Teil des „Gemeinschaftshandelns“ (Weber 1921/1980: 398). Übertragen auf die externen und öffentlichen Schulden eines Staates, die effektiv den Globus umspannen und Makroakteure wie Regierungen oder regionale Entwicklungsbanken einbeziehen, heißt dies: Nationale Schulden sind buchstäblich maßloses, auf die Welt ausgedehntes Gemeinschaftshandeln. Dies ist näher zu erläutern. Weber versteht Kredit als „Abtausch gegenwärtig innegehabter gegen Eintausch der Zusage künftig zu übertragender Verfügungsgewalt […] über Sachgüter oder Geld“ (Weber 1921/1980: 42). Dabei hänge die genaue „Verfügungssphäre“ des Einzelnen, die Lage seiner „subjektiven Rechte“, von verschiedenen „Rechtssätzen“ ab (1921/1980: 398; Hervorhebungen im Original). Weber unterscheidet „gebietende“, „verbietende“ und „erlaubende“ Sätze (a.a.O.; vgl. Richter/Furubotn 2003: 148).3 Jeder einzelne dieser Rechtssätze sei „Quelle gänzlich neuer Situationen innerhalb des Gemeinschaftshandelns“, nämlich eine „Machtquelle“, um „Anderen ein Tun zu gebieten oder zu verbieten oder zu erlauben“ (a.a.O.). Außerdem gibt es Weber zufolge Effekte, die über die Schuldner-

3

Richter und Furubotn betonen, dass ein Verfügungsrecht „im allgemeinen ein Bündel von einzelnen Rechten“ sei (Richter/Furubotn 2003: 148). Dieses Konzept eines „Bündels“ bzw. verschiedener möglicher Einzelrechte, die in einer ökonomischen Transaktion ganz oder anteilig transferiert werden, erinnert an Webers Unterscheidung verschiedener Rechtssätze. Nach Richter und Furubotn gehört dieses Konzept differenzierter Verfügungsrechte zu zwölf zentralen „Begriffen und Hypothesen“ der Neuen Institutionenökonomie, mit denen die „traditionellen Produktionsund Tauschmodelle“ der „neoklassischen Theorie“ in Frage gestellt werden (Richter/Furubotn 2003: 2, 3).

S TRUKTURELL U NÜBERSCHAUBARES KULTURELL

ÜBERSCHAUBAR MACHEN

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Gläubiger-Dyade noch hinausreichen. Jedes Rechtsgeschäft habe auch noch „Reflexwirkungen“ auf unzählige „Dritte“, indem viele Außenstehende nun mit einer neuen, für sie günstigen oder ungünstigen Verteilung von Verfügungsrechten konfrontiert seien (Weber 1921/1980: 398, 409, 410; Hervorhebungen im Original). 4 In Webers Definitionen geht es zunächst nur um einen einzelnen Kredit bzw. eine einzelne Schuld zwischen Personen. Welche komplexe Verfügungsrechtsstruktur – d.h. Unmengen von weit verteilten Machtquellen in Folge unzähliger verschiedener Rechtssätze und unzähliger Reflexwirkungen – besteht demgegenüber bei nationaler Verschuldung? Nationale Verschuldung heißt effektiv: Im Fall eines einzigen Staates existieren Hunderte bis Tausende von Verträgen, die weltweit zwischen verschiedenen Makroakteuren und Individuen, von Makroakteuren untereinander sowie von Individuen untereinander geschlossen wurden.5 Das Schuldenportfolio eines Staates gilt als das größte, oder zumindest als eines der größten Finanzportfolios innerhalb eines Landes; außerdem hat der Schuldendienst oft den größten Anteil an den staatlichen Haushaltsausgaben (vgl. Baball 2004; vgl. IMF/World Bank 2003: 3). Viele der Darlehensverträge haben zudem

4

Weber erläutert sein Konzept der „Reflexwirkungen“ folgendermaßen: „In irgendeinem Maß und Sinn wirkt fast jedes Rechtsgeschäft zwischen zwei Personen, indem es die Art der Verteilung der rechtlich garantierten Verfügungsgewalten verschiebt, auf die Beziehungen zu unbestimmt vielen Dritten zurück. […] So werden die Interessen der etwaigen Gläubiger eines jeden, der eine Schuldverpflichtung eingeht, durch dessen vermehrte Belastung mit Verbindlichkeiten berührt“ (Weber 1921/1980: 409, 410). Das Konzept der „externen Effekte“, das im Rahmen der Neuen Institutionenökonomie entwickelt wurde, weist eine gewisse Ähnlichkeit mit Webers Reflexbegriff auf: „Vom Auftreten einer Externalität spricht man dann, wenn die wirtschaftliche Situation einer Person durch Konsumoder Produktionstätigkeit anderer Personen berührt wird“ (Richter/Furubotn 2003: 109).

5

Beispielsweise betrug im Jahr 2004 allein die Zahl der zwischen der indonesischen Regierung und den Regierungen anderer Länder geschlossenen bilateralen Kreditverträge 949; die Zahl der multilateralen Kredite – das sind Kredite von internationalen Gläubigerorganisationen – betrug 415 (Bank Indonesia 2004). Auf die verschiedenen Merkmale nationaler Schuldenportfolios geht der übernächste Abschnitt genauer ein.

38 | Ö KONOMIE SICHTBAR MACHEN

Laufzeiten von Jahren bis Jahrzehnten und eine jeweils eigene Zeitstruktur von Ausschüttungen, Rückzahlungen und Zinszahlungen, was nationale Verschuldung im Aggregat sehr dynamisch macht.6 Darüber hinaus fallen die zu diesen Verträgen gehörenden Rechtssätze in der Summe nicht unter eine einzige, d.h. noch einigermaßen übersichtliche Rechtsordnung, sondern unter diverse Gerichtsbarkeiten. Im Konfliktfall fehlt dann oft eine „übergeordnete Weltautorität“, die schlichten kann (Richter/Furubotn 2003: 525). Dies macht etwa der Fall Argentiniens deutlich.7 Insgesamt kann die Verfügungsrechtsstruktur in Bezug auf die Verschuldung eines Staates praktisch nicht erschöpfend analysiert werden; noch viel weniger lassen sich – rein wirtschaftswissenschaftlich – zuverlässige Prognosen über die zukünftige Verschuldungslage treffen.8 In der Praxis versuchen transnationale Schuldenmanager gleichwohl, mithilfe skopischer Systeme die Maßlosigkeit nationaler Verschuldung immer wieder einzufangen, so gut es eben geht, und sie bemühen sich immer und immer wieder, Prognosen über zukünftige nationale Verschuldungssituationen zu stellen. Diese bestmöglichen

6

Im vierten Kapitel wird auf die langen Laufzeiten sowie weitere besondere zeitliche Merkmale von Schuldverträgen, und auf die damit zusammenhängenden Schuldenmanagementprobleme, näher eingegangen.

7

In 2003 versuchte die argentinische Regierung u.a. 152 Anleihen, die unter acht ausländische Rechtsordnungen fielen, umzustrukturieren, und musste dafür verschiedenste Gläubiger rund um die Welt umwerben (vgl. Nielsen 2003: 19).

8

Richter und Furubotn zufolge kommt dem „Verfügungsrechtsansatz“ der Neuen Institutionenökonomie „die entscheidende Aufgabe zu, nachzuweisen, daß der Inhalt der Verfügungsrechte sich auf Allokation und Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen in ganz bestimmter und statistisch prognostizierbarer Weise auswirkt“ (2003: 91). Wollte man in Bezug auf das vorliegende Untersuchungsfeld eine genaue Verfügungsrechtsanalyse durchführen, ließe sich der Anspruch auf statistische Prognostizierbarkeit wohl kaum einlösen. Das liegt u.a. daran, dass die hier zu untersuchenden, global verteilten Verfügungsrechte den Bezugsrahmen eines einzelnen Staates sprengen. Zur Theorie der Verfügungsrechte, wie sie Richter und Furubotn diskutierten, gehört jedoch explizit eine solche Einschränkung, nämlich eine „Theorie des Staates“ bzw. der „Institutionenrahmen des klassischen liberalen Staates“ (Richter/Furubotn 2003: 90, 140).

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Prognosen sind allerdings nur bis zur nächsten bestmöglichen Prognose gültig.9 Interessanterweise gehört zu dieser täglichen Arbeit auch eine Form des standardisierten und technisierten Reflektierens der jeweils aktuellen aggregierten Verschuldungssituation an Dritte. Dies kann gedeutet werden als (immer wieder neuer) Versuch, die Reflexwirkungen, von denen Weber spricht, in kontrollierte Bahnen zu lenken. So bemühen sich die Schuldenexperten von UN, IWF und Weltbank im Verbund mit IT-Experten darum, die ständig neuen Verschuldungssituation eines Landes über eng definierte Formate (bestimmte Berichtsformen auf bestimmten Websites) so schnell wie möglich oder wenigstens in festen Rhythmen (quartals- und jahresweise) zu anderen relevanten Parteien hinzuprojizieren. Auf diese intendierten Reflexe ist später noch näher einzugehen.10 Wie finanzstark, komplex und global weitreichend das Schuldenportfolio eines Nationalstaats häufig ist, wird in den nächsten beiden Abschnitten noch deutlicher – in historischer Perspektive und anhand der Beispiele Indonesiens und Argentiniens. In beiden Abschnitten wird auch kurz auf die Dynamik von nationaler Verschuldung eingegangen, d.h. auf die Tatsache, dass die Schuldenportfolios der meisten Staaten von einem auf den anderen Tag nicht mit sich identisch sind. Die gesamte finanzielle Gestalt eines nationalen Schuldenportfolios wandelt sich permanent. Eine ausführliche Analyse dieser Wandelbarkeit erfolgt aber an anderer Stelle.11 2.2.2 Historischer Kontext: Die internationale Schuldenkrise von 1975 bis 1983 als mikrosoziales und mikrotechnisches Problem Das Phänomen systematischer Staatsverschuldung ist schon relativ alt. Hart konstatiert, dass bereits im 16. Jahrhundert Spanien und die sog. „Stadt-Staaten“ wie z.B. Venedig langfristig hoch verschuldet gewesen seien (Hart 1995: 286). Dieser Trend habe sich dann in den nächs-

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Auf die konkrete Praxis der Erfassung nationaler Schulden geht das dritte Kapitel näher ein, auf die rastlose Projektionsarbeit das vierte.

10

Siehe dazu die Abschnitte zum räumlichen Reflektieren bzw. Projizieren auf nationaler Ebene und zum Projizieren auf globaler Ebene im dritten Kapitel.

11 Siehe viertes Kapitel.

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ten Jahrzehnten bei allen Staaten durchgesetzt: „[B]y the end of the seventeenth century, almost all states were permanently in debt“ (a.a.O.). Der Hauptgrund sei die Finanzierung von Kriegen gewesen (Hart 1995: 286; vgl. Goldscheid 1917/1976: 319-323; vgl. Schumpeter 1918/1976: 336- 337).12 Ein Staat, der erfolgreich alle seine Schulden zurückzahle und auch noch einen jährlichen Budgetüberschuss produziere, ein sog. „Ersparnis-Staat“, sei die Ausnahme gewesen (Körner 1995: 2007). Stattdessen habe sich historisch ein Verständnis des Staates als „Steuerstaat“ herausgebildet, wobei die Kreditaufnah-

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Goldscheid war laut Hickel einer der ersten Soziologen, der die Finanzwissenschaft für die Soziologie erschlossen hat (vgl. Hickel 1976: 21). Goldscheid sagte bereits 1917: „Der Krieg durchbricht das reguläre Leben der Gruppe, stellt diese mit einem Male nicht nur vor wesentlich größere Aufgaben, sondern auch vor ganz gewaltig gesteigerte Ausgaben, die gemeinsam aufgebracht werden müssen. Überall können wir es in der Geschichte beobachten, und zwar bei kleinen primitiven Gemeinwesen ebenso wie bei den vorgeschrittensten, zu Riesenverbänden zusammengeschweißten Völkern, dass die gewaltig erhöhten Ausgaben, mit denen jeder Krieg verbunden ist, die Frage der Sicherung und Erweiterung des Staatsschatzes oder Staatskredits zum brennenden Problem erhebt. […] Wehrorganisation und Finanzorganisation sind also schon vom Ursprung an tief innerlich verankert“ (Goldscheid 1917/1976: 321/322; Hervorhebungen im Original). Ein Jahr später bezeichnete auch Schumpeter den Krieg als Hauptursache von (vor-)staatlicher Verschuldung, d.h. der Verschuldung von Fürsten im 14. und 15. Jahrhundert (Schumpeter 1918/ 1976: 336-337). Er würdigte Goldscheids finanzsoziologische Arbeiten mit folgenden Worten: „Goldscheids Verdienst wird es immer bleiben, dass er als Erster den gebührenden Nachdruck […] [darauf] lenkte, dass das Budget […] ein Gemenge harter, nackter Tatsachen [ist], die erst noch in den Bereich der Soziologie gezogen werden müssen“ (Schumpeter 1918/1976: 331). Gleichwohl kritisierte er Goldscheids Argumentation auch erheblich – etwa die Tatsache, dass dieser für einen „repropriierten Wirtschaftsstaat“ plädiere, der sich von der Privatwirtschaft, dem „Vampyr des Staates“, befreien solle (Goldscheid 1917/1976: 326, 328). Demgegenüber fand Schumpeter, dass die Privatwirtschaft sehr wohl geeignet sei, das Staatsvolk zu versorgen, wenn denn die staatliche Bürokratie dies „nicht hindert und einen Berg von Akten zwischen uns und die nötigen Rohstoffe stellt“ (Schumpeter 1918/1976: 367, 369).

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me selbstverständlich und durch regelmäßige Steuererhebung abgesichert worden sei (Hart 1995: 286; vgl. Goldscheid 1917/1976: 323; vgl. Schumpeter 1918/1976: 329 ff.). Diese Entwicklung vieler Städte und Länder zum Typus des Steuerstaats ist von diversen Sozialwissenschaftlern und Historikern bereits ausführlich untersucht worden, einschließlich der finanziellen Kehrseite, d.h. permanenter Verschuldung (vgl. Backhaus/Wagner 2004; Bonney 1995; Goldscheid 1917/1976; Schumpeter 1918/1976). Zur Geschichte des eigenen empirischen Feldes gibt es nach jetzigem Kenntnisstand allerdings keine passende Sekundärliteratur: Computertechnologien im Schuldenmanagement scheinen noch nicht systematisch historisch untersucht worden zu sein. Daher wurden für die vorliegende Arbeit einige Quellentexte recherchiert, die im Weiteren analysiert werden. Daraus lässt sich zumindest eine erste „kleine“ Technikgeschichte von Schuldenmanagementsystemen speziell für Entwicklungs- und Schwellenländer rekonstruieren.13 Diese Technikgeschichte setzt bei der internationalen Schuldenkrise von ca. 1975 bis ca. 1983 ein (World Bank 1984: xviii). Dieser Zeitraum wurde gewählt, da hier eine Schnittmenge eher makropolitisch ausgerichteter Argumente der Weltbank und eher technisch bzw. operationell orientierter Argumente der UN zu erkennen ist, wie nachfolgend noch ausgeführt wird. Die Weltbank und die UN bilden zusammen mit dem IWF im Schuldenbereich eine auch in der Gegenwart noch höchst einflussreiche Triade.14 Der Weltbank zufolge war die internationale Schuldenkrise eine Phase der Weltwirtschaft, in der die bestehende Auslandsverschuldung von vielen Ländern mit einer schwachen Wachstumsrate der Weltproduktion, stagnierenden Exporten, hohen Zinsraten, nervösen privaten Kreditgebern und einer nur langsam ausgebauten Entwicklungshilfe sehr ungünstig zusammenspielten (vgl. World Bank 1984: vii). Zahlreiche Entwicklungsländer seien damals in erhebliche Zahlungsschwierigkeiten gegenüber ihren Gläubigern geraten, zumeist Indust-

13 Eine eigenständige historische Recherche und Analyse in Bezug auf staatliche Finanztechnologien insgesamt wäre sicher lohnenswert. Sie könnte beispielsweise als Gegenstück zu Predas soziohistorischen Studien (2006, 2009) über Informationstechnologien im Finanzmarkt konzipiert werden. 14 Siehe dazu die Ausführungen zur globalen komparativen Fremdbeobachtung im dritten Kapitel.

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rieländer bzw. kommerzielle Banken aus Industrieländern. Insgesamt seien im Zeitraum 1975 bis 1983 mindestens 84 Umschuldungsverfahren für 34 Länder durchgeführt worden (Zahlen für Weltbank-Mitgliedsländer; World Bank 1984: xviii). Im Jahr 1982 etwa traten von August an gut 30 Entwicklungsländer fast gleichzeitig in Umschuldungsverhandlungen mit ihren weltweiten Gläubigern, und im Jahr 1983 kam es schließlich zu einem sprunghaften Anstieg in Restrukturierungsmaßnahmen (vgl. World Bank 1984: vii). So betrug die Gesamtsumme der neu verhandelten Auslandsschuld von 27 Ländern allein in diesem Jahr über 67 Milliarden US-Dollar (World Bank 1984: xviii). In dieser Periode, d.h. in den von der Weltbank statistisch gut dokumentierten Jahren 1975 bis 1983, wurde auch das DMFAS-Programm von UNCTAD aktiv. Einige DMFAS-Mitarbeiter führten erste „technical assistance“-Projekte in hochverschuldeten Entwicklungsländern durch (1979), nahmen Anfang der 1980er Jahre an Umschuldungsverfahren teil und installierten bis 1981 in vier Ländern die erste DMFAS-Software-Version (DMFAS 1999/2000: 1). Es läge nahe, diese doch eher partikular anmutenden frühen Aktivitäten des DMFAS-Programms beiseite zu lassen und die internationale Schuldenkrise nun als dezidiert makropolitischen Problemzusammenhang weiter zu untersuchen. Sie könnte etwa als „Nord-Süd“Konflikt zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern interpretiert werden – alternativ auch als (Stellvertreter-)Konflikt zwischen IWF und Weltbank einerseits und UNCTAD andererseits (Ferdowsi 2002: 156, 157-167; vgl. Wolf 2005: 41- 44). Doch dieser Interpretationsweg erscheint hinreichend bekannt. Hier wird stattdessen vorgeschlagen, die Krise als mikrosozialen sowie mikrotechnischen Problemzusammenhang, in dem die Entwicklung skopischer Systeme ihren ungefähren Ursprung hatte, weiterzuverfolgen. Aus heutiger Sicht wird die staatliche und globale Übersicht über verschuldete Nationalökonomien tagtäglich mithilfe zahlreicher Detail-Funktionen und Handlungen hergestellt. Gleichzeitig geht die Entwicklung dieser Details historisch wesentlich auf die Erfahrungen der internationalen Schuldenkrise zurück, so die hier vertretende Annahme. Im Weiteren wird die Krise entsprechend neu mikrosoziologisch und mikrotechnologisch „gelesen“.

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Das nachfolgende Zitat erlaubt einen unmittelbaren Einstieg in die „Niederungen“ mikrosozialer und mikrotechnischer Schuldenmanagementprobleme: „In 1979, UNCTAD started to execute its first technical assistance project on external debt. The first difficulty I found was the lack of information on external debt: how much did the country owe? To which creditors? In which currencies? When were the payments falling due, and in which currencies? Who were the national debtors besides the central government? The idea of creating a Computer-based Debt Management System (CBDMS) emerged very naturally from this experience. My participation as the UNCTAD representative in the meeting of the Paris Club in the early 1980s confirmed that this lack of information applied generally to developing countries as a whole“ (DMFAS 1999/2000: 1, 2).

Wie viel schuldet ein Land? Welchen Gläubigern? In welchen Währungen? Wann werden die Rückzahlungen fällig? Was sind weitere nationale Schuldner außerhalb der Zentralregierung? Diese Fragen, so berichtet der ehemalige Chef des DMFAS-Programms, seien Ende der 1970er Jahre für viele verschuldete Länder nicht zu beantworten gewesen. Wie weit diese Problematik zu jener Zeit verbreitet war, sei ihm klar geworden während seiner Mitarbeit im sog. „Paris Club“.15 Er konstatiert einen „Informationsmangel“ über den tatsächlichen Schuldenstand aller Entwicklungsländer. Die erste Version der DMFASSoftware („Computer-based Debt Management System“) sei aus dem Bemühen heraus entwickelt worden, diesen Mangel zu beheben. Einen Informationsmangel bemerkten in der damaligen Periode auch andere Experten, etwa eine von dem United Nations Development Programme (UNDP) bestellte Gruppe von Ökonomen (UNDP 1989: 1, 3). Gleiches gilt für einige Weltbank-Experten, speziell Mitarbeiter der External Debt Division im Economic Analysis and Projections Department der Weltbank (World Bank 1984). Wie der eben zitierte ehemalige DMFAS-Chef sind sie der Meinung, dass verbesserte technische Systeme diese Informationslücken schließen kön-

15 Der Paris Club ist ein noch heute existierender informeller Zusammenschluss von Gläubigerstaaten, die mit hoch verschuldeten Ländern Umschuldungsvereinbarungen treffen. Die erste Verhandlung fand mit Argentinien im Jahr 1956 statt (Club de Paris 2008).

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nen. Sie stellen dieses Argument explizit in den Kontext der damals erlebten internationalen Schuldenkrise, wie die nachfolgenden Zitate zeigen. Mit anderen Worten: Es sind Teilnehmer des Feldes (Zeitzeugen), die von sich aus die Makroprobleme des globalen Finanzsystems mit der konkreten technischen Ausstattung von Schuldenbüros in Verbindung bringen. Im zweiten Zitat etwa wird auf diese Mikroebene mit dem Ausdruck „operational level“ Bezug genommen. „The debt difficulties of the past two years have underscored the importance of improving timely information on all international financial flows. […] [The] quality and timeliness [of debt information] depend ultimately on the member countries supplying it. […] Governments need prompt and accurate information on the totality, currency composition, interest terms, and maturity profile of [their] outstanding […] debt. […] Better information […] [is] in turn requiring better debt-monitoring and reporting systems“ (World Bank 1984: xxii, xxiv). „The debt crisis has forced a change of attitude. […] The new emphasis must be on extreme caution in […] keeping constant watch over the portfolio of existing loans in order to take every opportunity to reduce its cost and to spread the exchange and interest risks. […] The ability to take quick decisions (of possibly far-reaching financial significance) at the operational level is indispensable for success […]. [D]ebt is the use of money over time; since money has a cost – to be paid, or calculated, as opportunities lost – time also has a cost. […] The debt crisis has heightened awareness […] of the need for better information upon which debt management decisions can be made. An important […] part of the response to this need has been the development of a number of computer-based debt management systems (CBDMs)“ (UNDP 1989: 19, 20, 24, 25).

Diese Zitate weisen nicht nur einen Mikro-Makro-Argumentationsbogen auf. Zusätzlich werden hier nationale Schuld, Zeit und ständige Kalkulation bzw. permanente Beobachtung prägnant miteinander verknüpft („timely information“; „more extensive information more quickly“; „constant watch“; „debt is the use of money over time“). Es scheint, dass die Experten damit eine neue zeitsensible Schuldenbeobachtung einfordern. Da ein Schuldenportfolio ständig Wechselkursund Zinsschwankungen ausgesetzt ist (vgl. „exchange and interest rates“ im zweiten Zitat), muss offenbar die Managementpraxis entspre-

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chend dynamisiert werden. Es wird suggeeriert, dass die geforderten Computersysteme diese Zeitsensibilität erleeichtern. Die sich hier andeutende Sinnverschiebung von statischer Bestandsaufnahme B in Richtung einer bewussten, immer stärker proffessionalisierten „Verzeitlichung“ und speziell „Verzukunftung“ des Schuldenmanagements S wird später noch genauer analysiert.16 Es gibt weitere Belege dafür, dass die d Teilnehmer des Feldes selbst eine Beziehung zwischen globalem Finanzsystem und MikroSchuldenmanagement herstellen. In einer Weltbank-Publikation zu einer Tagung aus dem Jahr 1989 findet sich das nächste Beispiel (World Bank 1990). Im Vorwort heißt es, nationales Schuldenmanagement bestehe aus einer Menge von „nestted contexts“ (World Bank 1990: 1). Dieses Argument ist auch grafissch dargestellt. Der Grafik zufolge bildet Computerisierung den Kerrn jeder Schuldenmanagementinstitution, welche ihrerseits in die Makroökonomie M eingebettet ist: g in die Makroökonomie Abbildung 4: Wie Mikrocomputerisierung eingenistet ist

Quelle: Reproduktion von World Bank 1990: 1

M Ein weiteres Beispiel für einen solchen Mikro-Makro-Brückenschlag ist in einem der übrigen Beiträge zum Konfferenzband enthalten. Darin 16

Siehe dazu das vierte Kapitel zur rastlosen Zukunftsmaschinierie. Z

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wird u.a. der Vortrag eines Vertreters von Pakistan, der über die Erfahrungen seiner Regierung mit der DMFAS-Software berichtete, wiedergegeben (damals die frühe Software-Version 4.0; vgl. World Bank 1990: 59). Unmittelbar im Anschluss an den Vortrag entspann sich offenbar ein Wortwechsel zwischen einem Konferenzteilnehmer, vermutlich der Vertreter eines anderen Staates,17 und dem damaligen Chef des DMFAS-Programms, „Mr. Cosio-Pascal“ (World Bank 1990: 61). Ein Ausschnitt dieses Wortwechsels sei hier wiedergegeben: „Questioner #1:

What about debt that is refinanced every three months? We have to define whether it’s paid in three or six months, and in what currency, and at what rate.

Mr. Cosio-Pascal:

That’s no problem. […]

Questioner #1:

Well, but you have to have a very highly revised and updated calendar. We are talking about thousands of [credit] lines that have to be modified, and if we are talking about doing this every three months, that’s a lot of work. In the case of Paris Club (rescheduling), it is typically country by country. Can you also support this case […]? How is this handled? Do you open a subloan, or subcredit?

Mr. Cosio-Pascal:

That’s right. Currently the system registers and validates the different schedules or calendars for the Paris Club, modifying them one by one, really.

Questioner #1:

Well, in that case, the (number of separate lines for different) amortization rates can double and triple. I don’t know if a system can handle, say, 2,000 or 3,000 lines that are going to be doubled and tripled in trying to make provisions or predictions for repayment.

Mr. Cosio-Pascal:

Let me give you an example. We’re using the system for Egypt at this time, which has 4,500 loans that generate something like 30,000 different payment schedules. And it’s working with no problems.

Questioner #1:

We have about 15,000 lines ourselves for US$ 43 billion that’s being restructured. So, any kind of capacity is almost insufficient.

17 Die Weltbank zitiert diesen Teilnehmer nur als „Questioner #1“ (World Bank 1990: 61). Aber der Inhalt seiner Rede legt nahe, dass es ein Mitarbeiter der Schuldenverwaltung irgendeines Staates ist.

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Mr. Cosio-Pascal:

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Well, that’s the question. It’s all a matter of the computer’s capacity” (World Bank 1990: 61; Ergänzungen in runden Klammern im Original).

Das Zitat macht deutlich: Es gibt ein makroökonomisches Ausgangsproblem, nämlich die Tatsache, dass viele Länder ihre Schulden mit den im Paris Club zusammengeschlossenen Gläubigerländern neu aushandeln müssen. „Questioner #1“ spricht den Paris Club explizit an. Ansonsten konzentriert er sich aber auf mikrosoziale und mikrotechnische Details, die – gleichwohl – mit Paris Club-Umschuldungsverhandlungen zusammenhängen. Beispielsweise sagt er: „We are talking about thousands of [credit] lines that have to be modified, and if we are talking about doing this every three months, that’s a lot of work”. So entwickelt sich in der Folge eine Diskussion um die genaue Leistungsfähigkeit der DMFAS-Software. Es wird etwa die Frage aufgeworfen, wie viele Schuldendaten in der Software maximal gespeichert werden können („I don’t know if a system can handle, say, 2,000 or 3000 [credit] lines“). Cosio-Pascal gibt daraufhin detailliert Auskunft. Unter anderem zieht er jüngste konkrete Erfahrungen mit einem einzelnen Land, nämlich Ägypten, heran („We’re using the system for Egypt at this time, which has 4,500 loans that generate something like 30,000 different payment schedules“). Insgesamt veranschaulicht dieser Wortwechsel, dass es tatsächlich lauter kleine Verbindungsfäden zwischen den Mikrodetails des Schuldenmanagements und ganz großen Staatsproblemen – hier: der Rückkehr in die Kreditwürdigkeit nach staatlicher Insolvenz – gibt. 2.2.3 Die heutige Finanzstärke, Komplexität, globale Reichweite und Dynamik nationaler Schuldenportfolios: Indonesien und Argentinien Im Jahr 1989 charakterisierten die UNDP-Experten, die bereits im letzten Abschnitt zitiert wurden, das Schuldenmanagement von Entwicklungsländern in ihrem Lagebericht auf eine Weise, die auch auf die heutigen Verhältnisse noch recht gut passt: Das Schuldenportfolio vieler Länder sei „far from ideal in terms of ease in handling“ (UNDP

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1989: 17).18 Anhand von Indonesien und Argentinien lässt sich nun beispielhaft erläutern, wie finanzstark, komplex, global und dynamisch die Schuldbeziehungen einer Regierung auch gegenwärtig noch sind. Dies gilt umso mehr, als das „aktive“ Schuldenmanagement in Entwicklungs- und Schwellenländern – etwa durch gezielte Strukturierung und Platzierung von Anleihen – inzwischen zugenommen hat (vgl. UNDP 1989: 17-18). Mehr denn je treffen all die Merkmale, die die UNDP-Experten aufzählen, auf die Schuldenportfolios von Entwicklungs- und Schwellenländern zu: die große Menge von Schuldverträgen; die Vielzahl verschiedener Gläubiger; der Einfluss verschiedener Geld- und Kapitalmärkte auf das Portfolio; die zahlreichen, über das Land verstreuten Projektbeteiligte, deren Arbeit aus den Schuldengeldern finanziert wird; die spezifischen Komplikationen durch Umschuldungsverfahren, z.B. eine erschwerte Vorhersage zukünftig verfügbarer Finanzmittel (vgl. UNDP 1989: 17-18).

18 „The debt portfolio of most developing countries is far from ideal in terms of ease of handling. The number of individual loans may be very large – Egypt has over 4,000 and many smaller debtors carry upwards of 1,000 loans on their books. These loans are usually owed to a significantly large number of creditors – say some 20 official lenders […] and about as many export credit agencies […]. […] [A] sizable number of money and capital markets are prominent in many debtor portfolios. All these lenders are likely to differ with regard to financial terms, legal procedures and documentation, reporting requirements, etc. Many loans are tied to projects […] which may consist of a ‚cocktail’ of small projects and therefore be as burdensome administratively as individual loans […]. No wonder that sound debt management can be very demanding for a borrowing country […]. When debt is restructured in the Paris and London Clubs, its management is further complicated. With debt relief or ,new money’ made contingent on macro-economic adjustment, the availability of funds to finance development becomes more difficult to project. […] In view of all this, the UNDP Team felt that even ‚passive’ debt management, i.e. servicing debt according to the letter of the loan contracts and reporting faithfully on it, is a highly demanding task for many if not most developing countries. Going beyond this into ‚active’ debt management, e.g. in the form of portfolio restructuring, hedging etc., is of course even more taxing“ (UNDP 1989: 1718).

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Nachfolgend sind zunächst einige ausgewählte Daten zu Indonesiens externen öffentliche Schulden aufgeführt (Stand 30. Juni 2004).19 An erster Stelle fällt die Finanzstärke des Portfolios mit 78 Milliarden USDollar ins Auge. Die nachfolgenden Punkte verdeutlichen die Komplexität und globale Reichweite nationaler Verschuldung: • • • • • • • • •

78 Mrd. US-Dollar Schulden gesamt Gläubigerländer, bei denen Indonesien verschuldet ist: 28 Von Gläubigerländern erhaltende bilaterale Kredite:20 über 949 Von internationalen Gläubigerorganisationen (z.B. dem IWF) erhaltene multilaterale Kredite: 415 Anzahl dieser Gläubigerorganisationen: 8 Währungen, in denen die Kredite vergeben wurden: 14 Nationale ökonomische Sektoren, in denen mit Krediten finanzierte Projekte21 durchgeführt werden: 38 17 Mrd. US-Dollar Schulden durch Exportkredite22 Länder, bei denen Indonesien öffentliche Schulden durch Exportkredite hat: 25

19 Der hier gewählte Oberbegriff „externe öffentliche Schulden“ wurde aus dem Quartalsbericht der indonesischen Zentralbank übernommen, genauso wie etwa die Unterscheidung von 38 „nationalen ökonomischen Sektoren“. Andere Schuldenexperten bevorzugen durchaus abweichende Begriffe und Unterscheidungen. Im dritten Kapitel wird anhand der Konzepte „öffentliche“, „kontingente“ und „öffentlich garantierte Schulden“ deutlich, dass Klassifikationen transnational ständig hinterfragt werden. Diese drei und viele andere Begriffe waren Gegenstand einer lateinamerikanischen Schuldenmanagement-Konferenz, die teilnehmend beobachtet wurde (24. - 28.4.2006). 20 Bei den bilateralen Krediten liegen nur Angaben über die 20 wichtigsten Gläubiger vor. Japan etwa hat mit 431 Krediten und über 21 Milliarden US-Dollar mit Abstand den größten Anteil (Bank Indonesia 2004: 58-67). 21 Viele Kredite dienen der Finanzierung von Entwicklungsprojekten. Im Fall von Indonesien sind es Projekte in 38 unterschiedlichen ökonomischen Sektoren, z.B. „Finanzinstitutionen“ oder „Elektrizität, Gas und Dampfkraft“ (Bank Indonesia 2004: 2-5). 22 Unter den Schulden durch Exportkredite (insgesamt 68 Kredite) sind allein 64 von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (Bank Indonesia 2004: 10, 80 ff.).

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Der Quartalsbericht der indonesischen Zentralbank vom 30. Juni 2004 enthält diese und andere Schuldendaten in 81 statistischen Tabellen auf 119 Seiten (Bank Indonesia 2004). In diesen 81 Tabellen sind wiederum Dutzende verschiedener Datenkategorien enthalten. In Folge der Finanzkrise von 1997 befand sich noch ein Teil der Schulden in der Restrukturierung durch den Paris Club, ein anderer Teil in der Restrukturierung durch den sog. „London Club“ (vgl. Nasution 2004).23 Die Paris Club-Restrukturierungen etwa sind unterschiedlichster Art und betreffen eine Vielzahl von bilateralen Krediten – die Tabelle mit den verschiedenen dazugehörigen Kategorien und Daten füllt fast fünf Seiten des Quartalsberichts (Bank Indonesia 2004: 1217). Staatsanleihen („bonds“) spielen zum genannten Zeitpunkt mit etwas mehr als 1,3 Milliarden US-Dollar anteilsmäßig nur eine untergeordnete Rolle (Bank Indonesia 2004: 1). Im Aggregat implizieren alle diese Schulden eine enorme, je nach Eingrenzung des Feldes in die Tausende gehende Zahl von öffentlichen, privaten, direkten und indirekten individuellen und institutionellen Transaktionspartnern der indonesischen Regierung weltweit. Solche Transaktionspartner sind z.B. andere Zentralbanken, über die Ausschüttung und Rückzahlung der Kredite abgewickelt werden, aber auch in- und ausländische Privatbanken oder die Beteiligten von Entwicklungsprojekten, beispielsweise ausländische Entwicklungsorganisationen oder Consultingfirmen, welche über die Finanzierung eines Projekts vor ihren örtlichen und externen Auftraggebern buchhalterisch Rechenschaft ablegen müssen. Die nachfolgende Grafik veranschaulicht, wie komplex ein nationalstaatliches Portfolio prinzipiell ist, und wie weit es global reicht. Die indonesischen Daten sind hier zusammengeführt mit verschiedenen Daten Argentiniens (Zeitraum 2003 bis 2006), um gleichzeitig die verschiedenen Ausprägungen nationaler Verschuldung aufzuzeigen.

23 Der „London Club“ ist ein Zusammenschluss international tätiger privater Gläubigerbanken (vgl. Deutsche Bundesbank 2003: 229).

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Abbildung 5: Nationale Verschuldung in Relation zu verschiedenen Gläubigern, Märkten, makroökonomischen Variablen und nationalen Wirtschaftssektoren

Quelle: eigene Darstellung.24 Daten übernommeen aus: Mecon 2005; Nielsen 2003, 2004; interner Dokumentation des argen ntinischen Finanzministeriums (12.4.2006); Bank Indonesia 2004

S eine nur Während für Indonesien die Anleihen im Schuldenportfolio untergeordnete Rolle spielen, haben sie im argentinischen Portfolio – und in unterschiedlichem Ausmaß auch bei anderen Ländern – ein sehr 24 Zur Erläuterung der Angaben bei „Anleihen nmarkt“ im Schaubild: „Umzustrukturierende“ Anleihen sind nur diejeniigen Obligationen, die gemäß eines Vorschlags des argentinischen Staatsssekretariats für Finanzen von 2003 in geringerwertige Schuldtitel umgew wandelt werden sollten, um die Verschuldung Argentiniens nach der Krise zu verringern (Nielsen 2003: 18, 19). Es gibt weitere argentinische Anleiihen, die keiner Umstrukturierung unterzogen werden sollten (Nielsen 2003: 2 20), d.h. der Anleihenmarkt war damals für Argentinien noch komplexer, k als das Schaubild suggeriert.

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großes Gewicht. Bei Argentinien machten sie am 31.12.2005 ca. 50% von insgesamt über 128 Mrd. Euro Gesamtschulden aus (Mecon 2005). Ein weiteres wichtiges Merkmal von nationalen Schuldenportfolios, das buchstäblich nicht mit der regungslosen Abbildung 5 veranschaulicht werden kann, ist deren Dynamik. Alle bisher angeführten Daten spiegeln den Schuldenstand zu einem gegebenen Zeitpunkt wider (in der Sprache der Schuldenexperten: „debt stock“). In dieser Perspektive werden aber sämtliche „Fluss“-Aspekte von nationaler Verschuldung unterschlagen (die Experten sprechen vom „debt flow“). Ein wesentliches Grundmerkmal nationaler Verschuldung ist jedoch, dass sich ihre Gestalt im Zeitverlauf ständig wandelt. Dies geschieht in grundsätzlich unvorhersehbarer Weise. Daraus ergibt sich ein erhebliches strukturelles Managementproblem. Am Beispiel von Argentinien lässt sich dieser Umstand kurz erläutern, später wird er detailliert analysiert.25 Erstens sind diverse argentinische Staatsanleihen entweder an das Bruttosozialprodukt oder an die Inflation gekoppelt, d.h. es sind indexierte Anleihen; entsprechend schwankt der Wert des Gesamtportfolios ständig. Dies ist nicht allein ein Merkmal des argentinischen Portfolios (Die argentinische Regierung beschloss solche Indexierungen in Reaktion auf die Finanzkrise im Jahr 2001; vgl. Nielsen 2004: 3). Vielmehr haben auch andere, etwa europäische Länder, indexierte Schulden (vgl. Hain 2003). Zweitens schwankt der Wert eines staatlichen Schuldenportfolios auch in dem Maße, wie Zinsen mit variablem Zinssatz gezahlt werden müssen. Beispielsweise sind ein Drittel der argentinischen Anleihen als Anleihen mit variablem Zins definiert; der LIBOR-Zinssatz ist darunter der wichtigste (vgl. Mecon 2005).

25 Das vierte Kapitel untersucht das Problem der Dynamik und Zukunftsunsicherheit eines Schuldenportfolios, und wie damit praktisch umgegangen wird, eingehender.

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2.3 D IE

WISSENSKULTURELLE

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„L ÖSUNG “

2.3.1 Vier skopische Systeme von UNCTAD, IWF und Weltbank Können solche finanzstarken, komplexen, global weitreichenden und dynamischen Finanzportfolios wie die von Nationalstaaten von den jeweiligen Regierungen erfolgreich verwaltet werden? Und besteht für Außenstehende im Ausland – andere Regierungen, internationale Finanzinstitutionen oder individuelle Investoren – eine Chance, solche veränderlichen Portfolios zu überschauen und zu verstehen? Die komplexe wissenskulturelle „Lösung“ für dieses Ausgangsproblem besteht im Zusammenspiel von transnationalen Experten und spezifischen Beobachtungssystemen innerhalb einer weltumspannenden Monitoringpraxis. Die Systeme können als „skopische Systeme“ bezeichnet werden (Knorr Cetina 2003, 2005a). Skopische Systeme sind Informations- und Kommunikationstechnologien, die weit verstreute ökonomische Informationen auf einer zentralen Plattform zusammenbringen, weiterverarbeiten und auf Bildschirmen kompakt vor Augen führen können (Knorr Cetina 2005a: 40; vgl. Knorr Cetina 2003). Diese neuartigen Informationen können zu den Personen und Institutionen, die die ursprünglichen Daten von unterschiedlichen Orten aus eingegeben haben, sowie zu anderen Personen und Institutionen, die eher von außen in das System Einblick nehmen, zurückprojiziert werden (a.a.O.). Über getrennt voneinander und doch – allerdings global verteilt – gemeinsam einsehbare gleiche Bildschirme werden die jeweiligen Handlungen der Personen bzw. Institutionen indirekt aneinander ausgerichtet. Sie werden „skopisch koordiniert“, wie es im Theorieansatz heißt (a.a.O.). Der empirische Fall, auf dessen Grundlage dieser Begriff von bildschirmtechnologisch erzielter sozialer Koordination entwickelt wurde, sind die Handels- und Nachrichtensysteme im internationalen Devisenhandel, darunter etwa die von Reuters entwickelten Systeme (vgl. Knorr Cetina/Bruegger 2002b: 394-395). Im transnationalen Schuldenmanagement erlauben ähnliche skopische Systeme, eine eigentlich komplexe, weit über die territorialen Grenzen eines Nationalstaats hinausgehende und sich ständig wandelnde Verschuldungssituation überhaupt sichtbar, übersichtlich, im Zeitverlauf verfolgbar und (so weit wie möglich) vorhersehbar zu ma-

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chen. Dieser Prozess ist wohlgemerkt durch und durch epistemisiert, d.h. er vollzieht sich fernab einer vermeintlich objektiven Sicht auf Ökonomie. „Epistemisiert“ heißt konkret: Skopische Systeme inkorporieren in stark verdichteter Weise Klassifikationen, Kalkulationsregeln, statistische Aggregationsmöglichkeiten, Standards für relevante Datenkategorien, visuelle Darstellungsmöglichkeiten sowie zeitlich und räumlich ausgerichtete Projektionsfunktionen. Alles zusammen erlaubt Schuldenmanagern das Sichtbarmachen, Übersichtlich-Machen, Verfolgen und Voraussehen von ökonomischer Entwicklung auf nicht mehr als DIN-A-4-großen Computermonitoren. In diesem Sinn stellen skopische Systeme ein gleichermaßen technisches wie wissenskulturelles „Leistungspaket“ für die praktische Beobachtung von Nationalökonomien dar. Mit diesem Leistungspaket kann auf das strukturelle Ausgangsproblem der eingeschränkten Sichtbarkeit nationaler Verschuldung reagiert werden. Es handelt sich dabei, wie anschließend näher erläutert wird, um ein Leistungspaket, das nicht unumstritten ist sondern innerhalb einer transnationalen Expertengemeinschaft immer wieder „geöffnet“ und in Teilen hinterfragt wird. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft sind im Wesentlichen Vertreter von IWF, Weltbank und UNCTAD.26 Welche konkreten skopischen Systeme werden analysiert? In erster Linie die bereits erwähnte DMFAS-Software von UNCTAD, und zwar speziell die aktuelle Version 5.3. Außerdem werden drei weitere skopische Systeme untersucht, die direkt oder indirekt zu dieser Software in Beziehung stehen, was ihre Entwicklung und Nutzung angeht:

26 Situativ sind auch höherrangige nationale Schuldenmanager zu dieser Expertengemeinschaft hinzuzuzählen, obgleich ihr Mandat zunächst immer ein nationalstaatliches ist. Sie gehören etwa immer dann dazu, wenn sie sich bei transnationalen Zusammenkünften (z.B. Konferenzen) gegenüber Experten anderer Länder bzw. Vertretern internationaler Finanzinstitutionen um Verständigung bemühen. Sie wechseln dann aus ihrem jeweiligen nationalen „Kulturcode“ in einen „Metacode“ (Rottenburg 2002: 213 ff.). Gerade dieses Code-Switching betreiben allerdings die DMFAS-Mitarbeiter – als UN-Vertreter – alltäglich, gewissermaßen professionell. Dies veranschaulicht der nächste Abschnitt. Dagegen wurde in der vorliegenden Arbeit das situative Code-Switching von nationalen Schuldenmanagern weniger untersucht; es ist aber im Weiteren immer „mitzudenken“.

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• das Debt Sustainability Module, kurz „DSM“, eine mit der DMFAS-

Software kompatible Anwendung der Weltbank, die u.a. dafür benutzt werden kann, Szenarien zukünftiger Verschuldung zu entwerfen, etwa im Rahmen von Umschuldungsverfahren (vgl. World Bank 2008a); • eine von der Weltbank eingerichtete Website mit dem Titel „Global Development Finance“ (GDF) – von dieser Website aus kann auf eine Datenbank zugegriffen werden, in der die Weltbank die Schulden von 134 Entwicklungs- und Schwellenländern abbildet (Stand 2008; World Bank 2008b); • eine vom IWF betriebene Internetplattform, das Dissemination Standards Bulletin Board (DSBB), welches ebenfalls auf Bildschirmgröße die Verschuldungssituationen ganzer Nationalökonomien abbildet. Hier sind 64 Länder, die im Rahmen des Special Data Dissemination Standard (SDDS) an den IWF Bericht erstatten, aufgeführt (Stand 2008; vgl. IMF 2008c). Das DSM dient ähnlich wie die DMFAS-Software vor allem dazu, dass sich eine Regierung methodisch kontrolliert selbst beobachten kann, etwa in die Zukunft hinein (z.B. was das Verhältnis von erwarteten Schuldenzahlen zu erwarteten makroökonomischen Kennzahlen der eigenen Nationalökonomie angeht). Dagegen erfüllen die beiden anderen skopischen Systeme von IWF und Weltbank die Funktion der komparativen Fremdbeobachtung von Nationalökonomien.27 Die DMFAS-Software wiederum nimmt im Verhältnis zu diesen beiden Fremdbeobachtungssystemen von IWF und Weltbank eine dialektische Position als global-inklusives System ein (Knorr Cetina/Grimpe 2008: 177-183): Sie leistet sowohl nationale als auch globale komparative Finanzskopie. Denn mit ihrer Hilfe können Schuldendaten in bestimm-

27 Dabei nutzen offenbar nicht nur die Weltbank und der IWF diese beiden Systeme, sondern auch andere ökonomische Akteure (vgl. World Bank 2002: 1). Es handelt sich laut IWF und Weltbank um „users in general, and financial market participants in particular“; konkret werden RatingAgenturen, andere internationale Organisationen, Regierungen, kommerzielle Banken und private einzelne Investoren genannt (World Bank 2002: 1; IMF 2007: ix; IMF 2008e: 1; Alexander et al. 2008: 36). Im dritten Kapitel wird auf diesen zusätzlichen Beobachtungszirkel näher eingegangen.

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ten Formaten zur GDF-Datenbank sowiie auf das DSBB projiziert werden. m einen global verschachtelten Insgesamt handelt es sich also um Beobachtungszusammenhang, der in dieser d Arbeit untersucht wird. Die folgende Abbildung stellt diesen Zu usammenhang vereinfacht dar: Abbildung 6: Das Zusammenspiel von trransnationaler epistemischer Gemeinschaft, skopischen Systemen, Sellbst- und Fremdbeobachtung

Quelle: eigene Darstellung

Zunächst zur unteren Hälfte der Grafiik: Die DMFAS-Software und das DSM der Weltbank erlauben versschiedensten Regierungen, die eigene Nationalökonomie zu überschauen. In jeder Ökonomie „wuchern“ unterschiedliche nationale offizielle Institutionen und informelle Praktikendes Schuldenmanagements.. Dies sollen die beiden Pflanzen links und rechts symbolisieren. Die D DMFAS-Software und das DSM können viele national Spezifika eiinfangen – sie sammeln, klassifizieren, zentralisieren, aggregieren und kalkulieren Schuldendaten aber auch von Land zu Land ähnlich. So machen sie Nationalökonomien in ihrer spezifischen Gestalt sicchtbar und im Zeitverlauf beobachtbar (siehe die beiden kleinen Au ugen links und rechts). Mithilfe der DMFAS-Software können Daten in nnerhalb jedes Landes auch auf ähnliche Weise in andere Finanztechno ologien „hineinreflektiert“ wer-

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den (etwa in Budgetierungssysteme, im Rahmen eines integrierten Finanzmanagementsystems auf Regierungsebene). Dies ist hier vereinfacht durch das Nebeneinander von DMFAS-Software und DSM angedeutet. Das DSM entwirft Schuldenszenarien auf Grundlage von Datenexporten aus der DMFAS-Software. Es können außerdem Projektionsleistungen in Richtung internationaler Finanzinstitutionen wie des IWF und der Weltbank erbracht werden. Über diese Projektionsleistungen wird die komparative Fremdbeobachtung von nationalen Schuldendaten möglich, was in der oberen Hälfte der Grafik symbolisiert ist. Über die DMFAS-Software lassen sich die skopischen Systeme von IWF und Weltbank, d.h. das DSBB und die GDF-Datenbank, mit zahlreichen nationalen Daten füttern, so dass nun verschiedene Nationalökonomien „nebeneinander“ beobachtet werden können. Dieser transnationale Vergleichsblick ist mit dem großen Auge in der Mitte und den Pfeilen links und rechts zu den Nationalökonomien dargestellt. Obwohl Selbst- und Fremdbeobachtung begrifflich scheinbar klar voneinander zu trennen sind, gibt es doch in der Praxis immer wieder Überschneidungen. Denn DMFAS-, IWF- und Weltbank-Experten haben miteinander zum Teil Kooperationsvereinbarungen getroffen und kommen immer wieder auf internationalen Konferenzen oder zu informellen Gesprächen zusammen, um Erfahrungen und Änderungsvorschläge auszutauschen. Sie sind die Mitglieder einer transnationalen epistemischen Gemeinschaft (in der Grafik symbolisiert durch den Kreis), in der mögliche allgemeinverbindliche Standards diskutiert werden. An welchen konkreten Punkten die Grenzen zwischen (zu partikularen) Gewohnheiten nationaler Selbstbeobachtung und (möglichst allgemeinen) Gewohnheiten der komparativen Fremdbeobachtung verlaufen, wird immer wieder neu verhandelt. 2.3.2 Eine vielstimmige Gemeinschaft transnationaler Schuldenexperten In Bezug auf die transnationale Gemeinschaft der Schuldenexperten wird vor allem das sog. „DMFAS-Programm“ untersucht, das bei UNCTAD angesiedelt ist (vgl. UNCTAD 2008b). Das DMFASProgramm besteht aus derzeit 26 Mitarbeitern in den Bereichen Schuldenmanagement, IT-Entwicklung, Projektmanagement und Verwaltung (DMFAS 2008b). Die erste DMFAS-Software wurde um 1979

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entwickelt (vgl. DMFAS 1999/2000: 1, 2). Seitdem wurden diese erste Version und ihre Nachfolgerversionen an derart vielen Orten installiert, dass das Programm inzwischen buchstäblich globale Bedeutung erlangt hat: „[The] DMFAS [Programme] currently works directly with 31 middle-income countries and 35 low-income countries, and typically provides services to governments through technical cooperation projects. These countries account for approximately 40% of outstanding and publicly guaranteed long-term debt for all developing countries“ (World Bank 2008c: 11).

Die DMFAS-Experten betreuen nicht nur die in den Zentralbanken oder Finanzministerien dieser Länder installierte Software (im Moment sind es Installationen in insgesamt 82 Institutionen; World Bank 2008c: 14). Sie propagieren auch bestimmte Klassifikationsweisen, Kalkulations- und Projektionsmethoden sowie Statistiktabellen auf nationalen oder regionalen Workshops. Dazu gehört z.B. das Werben für die zahlreichen, meist als „international“ bezeichneten Definitionen, die im sog. „Debt Guide“ enthalten sind (IMF 2003). Der Debt Guide wurde gemeinsam von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, dem Commonwealth-Sekretariat, Eurostat, dem IWF, der OECD, dem Sekretariat des Paris Club, UNCTAD und der Weltbank erstellt (a.a.O.). Zudem richten die DMFAS-Experten seit 1997 alle zwei Jahre eine Konferenz aus, an der nationale Schuldenmanager sowie IWF- und Weltbank-Vertreter teilnehmen (vgl. DMFAS 2008a). Die Zusammenarbeit mit den Ländern dient offiziell dazu, die „besten Praktiken“ im Schuldenmanagement zu ermitteln, die Fähigkeiten auszubauen („capacity building“) und die „Entwicklung“ zu fördern (vgl. DMFAS 2008a). Im Verbund mit IWF und Weltbank werben die DMFAS-Experten auch im Bereich der „Praktiken“ für allgemeine Standards.28 DMFAS-, IWF- und Weltbank-Experten bilden zusammen eine transnationale Arbeitsgemeinschaft, in der die Überzeugungen, was adäquates Schuldenmanagement angeht, teils friedlich geteilt werden, teils heftig umstritten sind. So nehmen die DMFAS-Experten z.B. oft

28 Beispielsweise haben IWF und Weltbank Empfehlungen herausgegeben, wie am besten die Fremdwährungsreserven im Verhältnis zu Verschuldung zu bemessen seien (IMF 2001).

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die Rolle des Fürsprechers für die Entwicklungs- und Schwellenländer ein. Dies dürfte u.a. durch das historische Mandat von UNCTAD – die Etablierung einer neuen Weltwirtschaftsordnung zugunsten von Entwicklungsländern – bedingt sein (vgl. Ferdowsi 2002: 157; Wolf 2005: 42, 98). Gleichwohl sind sich die DMFAS-Experten mit den IWF- und Weltbank-Experten aber wiederum in vielen Punkten einig, etwa was die Relevanz bestimmter statistischer Standards angeht (z.B. der im letzten Abschnitt erwähnte „Special Data Dissemination Standard“; vgl. IMF 2007). Die nachfolgende Sequenz aus einem Training für indonesische DMFAS-Softwarenutzer am 26.10.2004 in Genf verdeutlicht diesen Zwiespalt. Es ist ein Wortwechsel zwischen zwei DMFAS-Experten und dem Leiter der Schuldenmanagementabteilung der indonesischen Zentralbank. Zuvor hatte sich der Indonesier kritisch über den IWF geäußert (sinngemäße Wiedergabe aus Feldnotizen): DMFAS 1:

I assure you, our cooperation is with [IMF] statistics department, not policy.

Indonesien:

IMF and Indonesia – wrong policy, wrong prescriptions – in fact, Bank Indonesia [indonesische Zentralbank] has a close relationship with IMF. […] [But we] have to be careful.

DMFAS 2:

As […] [DMFAS 1] says, we do not cooperate with policy – but agree on statistics.

An einem zweiten Beispiel wird diese Dialektik in Bezug auf die Kooperation des DMFAS-Programms mit IWF und Weltbank einerseits und nationalen Schuldenmanagern andererseits noch klarer. Es handelt sich um eine interne Besprechung des DMFAS-Programms am 15. Dezember 2004. Damals trafen sich fünf DMFAS-Mitarbeiter, um das neue „Statistical Bulletin Module“ vorzubereiten. Dies ist ein Softwaremodul, das die Erstellung von Monats- und Quartalsberichten erleichtern soll. Damals sprach man darüber, dass das Modul so zu konstruieren sei, dass nationale Schuldenmanager 88 spezifische Statistiktabellen generieren können. Zwar saßen keine nationalen Schuldenmanager und auch keine Vertreter von IWF oder Weltbank mit am Tisch – doch die fünf DMFAS-Experten stritten sich über diese Tabellen untereinander in einer Weise, als ob solche externen Experten dabei gewesen wären, also quasi vertretungsweise. Sie brachten nämlich buch-

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stäblich verschiedene nationale und internationale Stimmen zu Gehör (sinngemäße Wiedergabe aus Feldnotizen): DMFAS 1:

Shouldn’t we write in the first part of the document [gemeint ist vermutlich das Begleitdokument zum neuen Modul]: each country has its own history, background […] [however,] we shouldn’t teach an individual statistical bulletin but a standardized one. […] [But we also] know: you can’t go to Pakistan and say: you produce rubbish.

DMFAS 2:

Sorry, […], you have to tell them, it’s rubbish […] [Beispielhaft führt er Tabellen zu offiziellen Exportkrediten, welche die indonesischen Schuldenmanager produzieren, an].

DMFAS 1 und 3:

[Beide grinsen:] But these tables are not necessarily rubbish. It depends on the purpose. […]

DMFAS 3:

We want them to learn new international standards – this is what we had in mind –

DMFAS 1 und 2:

Yes […].

DMFAS 4:

[But] we are not gods!

DMFAS 2:

Once their voice is heard – it’s good with me. Once their voice corresponds to international standards – it’s good with me. But their voice should be heard.

In dieser Sequenz ruft der als „DMFAS 4“ bezeichnete Experte aus: „Wir sind keine Götter“! Damit spielt er vermutlich darauf an, dass es ihm und seinen Kollegen nicht möglich sein wird, allwissend die absolut richtigen Standards für alle Länder zu formulieren. „DMFAS 2“ fasst mit seinen letzten Worten schließlich die Dialektik zusammen, die die gesamte, ca. einstündige Diskussion der fünf Mitarbeiter vorher prägte, und die das DMFAS-Programm grundlegend charakterisiert. Das DMFAS-Programm ist im Software-Entwicklungsprozess ständig mit der Quadratur des Kreises beschäftigt: Seine Mitarbeiter versuchen, sowohl alle nationalen Stimmen gleichrangig zu Wort kommen lassen, was zum Mandat der UN-Organisation passt, als auch den

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wechselnden Standards von IWF- und Weltbank-Experten, die als epistemische Kollegen begriffen werden, gerecht zu werden.29 Damit weist die Expertengemeinschaft aus DMFAS-, IWF- und Weltbank-Mitarbeitern in gewisser Weise Ähnlichkeit mit Ikenberrys „primitive epistemic community“ auf (Ikenberry 1992: 293). Ikenberry bezeichnet so eine Gruppe amerikanischer und britischer Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft, die nach dem zweiten Weltkrieg die neue Weltwirtschaftsordnung ausgehandelt hätten. Als „primitiv“ bezeichnet er diese Gruppe u.a. deshalb, weil in ihr zunächst kaum zu vereinbarende Zielsetzungen aufeinander gestoßen seien, d.h. der Grad an Gemeinschaftlichkeit war relativ niedrig (Ikenberry 1992: 290). Während etwa die britische Seite den Handel innerhalb des Commonwealth durch das „imperiale Präferenzsystem“ habe schützen wollen, seien die USA für ein vollständig geöffnetes Welthandelssystem eingetreten (a.a.O.). Ikenberry fragt, wie dennoch das gemeinsame Bretton Woods-Abkommen habe zustande kommen können. Seine Antwort lautet, dass eine Gruppe von „gut platzierten britischen und amerikanischen Ökonomen und Politik-Spezialisten“, die von keynesianischen Ideen inspiriert gewesen sei, den Fokus von den höchst umstrittenen Handelsfragen auf Fragen der Geldpolitik verschoben habe; so sei eine Einigung möglich geworden (Ikenberry 1992: 291). Obwohl die von Ikenberry analysierte Expertengemeinschaft mit der hier untersuchten vergleichbar ist, was die Schärfe innerer Konfliktlinien angeht, erscheint der von Ikenberry gewählte Begriff „primitiv“ unpassend. Er suggeriert einen Mangel an Fachkenntnis, der nicht gegeben ist – ganz im Gegenteil. In dieser Arbeit wird stattdessen von einer „contested epistemic community“ gesprochen. Die Mitglieder einer solch vielstimmigen, immer wieder von Streit durchzogenen transnationalen Expertengemeinschaft teilen bestimmte grundlegende professionelle Orientierungen. Beispielsweise ist institutionalisiert, dass nationale Verschuldung nicht etwa in Form einer dramatischen Geschichte immer wieder ein wenig anders zu erzählen ist (nar-

29 Es ist an der hier zitierten letzten Gesprächssequenz nicht erkennbar, aber empirische Tatsache, dass mit den erwähnten „neuen internationalen Standards“ tatsächlich Tabellenformate gemeint sind, die von IWF und Weltbank favorisiert werden. Viele davon finden sich im „Debt Guide“ (IMF 2003), auf den die DMFAS-Experten im Haupt-Feldforschungszeitraum (2004 bis 2006) wiederholt Bezug nahmen.

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ratives erinnertes Wissen), sondern in Form eindeutig klassifizierter Zahlen niederzuschreiben und zu speichern ist (schriftlich fixiertes, taxonomisch geordnetes Wissen; vgl. Goody 1977: 54, Handelman 1981). Aber die Mitglieder der Gemeinschaft misstrauen und kritisieren sich auch gegenseitig immer wieder in Bezug auf ihre jeweiligen (tatsächlichen oder unterstellten) politischen Eigeninteressen, und sie debattieren beispielsweise, wo genau die eindeutigen Grenzen zwischen verschiedenen Schuldenarten gezogen werden sollen, wie viele Kategorien und Unterkategorien es im Detail geben soll, usw.30 Allgemeiner formuliert: Das Wissen einer transnationalen Expertengemeinschaft, die von vorneherein auf zahlreichen „Institutionsballungen“ (Nationalstaaten) aufsitzt, bleibt ständig in Bewegung (Berger/Luckmann 1969/2007: 59). Die verschiedenen Mitglieder versuchen auf dieser Makroebene fortwährend, verschiedene Wissensbestandteile institutionell zu stabilisieren (vgl. Berger/Luckmann 1969/ 2007: 95). Von einer endgültigen „Vergegenständlichung“ ihres Berufswissens, geschweige denn „Verdinglichung“ – die äußerste Form der Objektivierung – bleibt die Gemeinschaft aber weit entfernt (a.a.O.).31

30 Speziell auf solche detaillierten, im Weltzusammenhang aber unvermeidlichen Klassifikationsprobleme geht das dritte Kapitel näher ein (Abschnitt „Klassifizieren“). 31

Die „Verdinglichung“ begreifen Berger und Luckmann als „äußersten Schritt des Prozesses der Objektivation“, bei dem gesellschaftlich produzierte Wirklichkeit schließlich als „nicht humanisierbare, starre Faktizität fixiert wird“ – im Unterschied zur Vergegenständlichung seien sich die Menschen an diesem Punkt nicht mehr bewusst, dass sie selbst diese Faktizität erzeugt haben (a.a.O.). Die hier untersuchten Schuldenexperten bleiben sich hingegen relativ distanziert bewusst, dass sie klassifizieren, und dass sie dies in unterschiedlicher Weise tun (dies gilt auch für die anderen epistemischen Leistungen), und dass dies schließlich die Arbeit ist, mit der sie ihr Geld verdienen. Das legen etwa private Besuche zu Hause bei zwei DMFAS-Mitarbeitern und ihrer Familie nahe. Diese beiden scheinen ihre berufliche Wirklichkeit nicht als dermaßen gegeben zu erfahren wie ihre Identität als Vater einer Tochter bzw. Mutter von zwei Kindern (vgl. Berger/Luckmann 1969/2007: 62 zur Institution der Vaterschaft).

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2.3.3 Monitoringpraxis Der global verschachtelte Beobachtungszusammenhang nationaler Verschuldung ist eingebettet in eine sich aus verschiedenen epistemischen Leistungen zusammensetzende Monitoringpraxis, die von den Schuldenexperten weltweit in vielen Hinsichten selbstverständlich geteilt wird. Die wesentlichen Merkmale dieser Monitoringpraxis können kultursoziologisch in Anlehnung an Geertz analysiert werden, und zwar speziell mit Rückgriff auf seine Ausführungen zum balinesischen Hahnenkampf (Geertz 1973: 412 ff.). Geertz beginnt seine dichte Beschreibung des Hahnenkampfes mit einer Erzählung über seinen Feldzugang und geht dann zu einer Analyse der zahlreichen Wortbedeutungen von „Hahn“ über (Geertz 1973: 418). Dies ist die Grundlage seiner anschließenden mehrschichtigen Kulturanalyse des Hahnenkampfes selbst. Dass „Hahn“ in der balinesischen Sprache u.a. „Held“, „Kämpfer“ und „Lady-Killer“ bedeutet, unterfüttert seine spätere Interpretation des Hahnenkampfs als eines kollektiven Ausdrucks von Männlichkeit, die im balinesischen Alltagsleben normalerweise unterdrückt werde (Geertz 1973: 418, 419-420). In vergleichbarer Weise soll hier nun das Fundament einer dichten Beschreibung des transnationalen Schuldenmanagements gelegt werden. Im Folgenden wird die der Annahme nach nicht zufällige Sprachverwandtschaft zwischen „Monitoring“ als spezifischer ökonomischer Beobachtungspraxis und den Computermonitoren skopischer Systeme exploriert. Das Oxford English Dictionary führt zahlreiche Bedeutungen des Verbs „monitor“ und der Substantive „monitor“ und „monition“ an (Oxford English Dictionary 1989a: 1001-1002; Shorter Oxford English Dictionary 2002: 1817). Diese Bedeutungspalette bietet diverse Überraschungen. Das Substantiv „monitor“ etwa steht für eine kirchliche Abmahnung bei unterstellten „skandalösen Lastern“ (Oxford English Dictionary 1989a: 1002). Es kann außerdem eine in alle Richtungen schwenkbare Düse, eine lichtdurchlässige Dachluke oder eine in Afrika, Asien und Australien verbreitete Echsen-Spezies, die angeblich vor nahenden Krokodilen warnt, meinen (vgl. Shorter Oxford English Dictionary 2002: 1817). So kurios die Liste anmuten mag – diese und weitere, nachfolgend wiedergegebene Bedeutungen erlauben

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einen ersten kultursoziologischen Zugang zum transnationalen Schuldenmanagement. Abbildung 7: Die Bedeutungstiefe der englischen Begriffe „monitor“, „monitoring“ und „monition“ Monitor […] noun. […] 1 An official letter conveying an admonition. […] 3 A person who or thing which admonishes someone or gives advice or a warning as to conduct. […] 4 a A reminder, a warning. […] c a VDU connected directly to the source of a video signal, esp. one from a computer. Also monitor screen etc. […] Any instrument or device for monitoring some process or quantity, as for detecting or measuring radioactivity. […] f A computer program which monitors the […] operation of a system. […] 6 More fully monitor lizard. Any of various large tropical […] lizards […] (so called from being supposed to warn of the vicinity of crocodiles). […] 7 Hist. [from the name of an ironclad used in the US Civil War.] A warship having […] heavy guns […]. 8 A clerestory in the roof of a […] building […]. 9 A joined nozzle used in hydraulic mining, which may be turned in any direction. […] monitor […] verb trans. […] 1 Guide as a monitor. […] 2 b Listen to and report on […]. […] c Observe, supervise, keep under review; measure or test at intervals, esp. for the purpose of regulation or control. […] monition […] noun & verb […] ► A noun. 1 = ADMONITION. […] 2 A warning of the presence or imminence of something (now spec. of some impending danger). […] 3 […] a formal notice from a bishop or ecclesiastical court admonishing a person not to commit an offence. […] ► B verb trans. ECCLESIASTICAL. Warn by a monition. Quelle: Shorter Oxford English Dictionary 2002: 1817

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Ausgehend von diesen Definitionen lassen sich nun unter Einbeziehung eigener empirischen Daten acht Bedeutungsdimensionen des transnationalen Schuldenmanagements herausarbeiten. Diese werden im Lauf der Arbeit noch näher untersucht. (1) Sichtbarmachung von eigentlich unsichtbarer Nationalökonomie mit spezialisierten Beobachtungsinstrumenten In dieser Bedeutungsdimension von ökonomischer Beobachtung gibt es Überlappungen mit wissenssoziologischen Erkenntnissen. Skopische Systeme erinnern sprachlich nicht zufällig an Mikroskope oder auch Stethoskope, also an naturwissenschaftliche bzw. medizinische Technologien zur Sichtbarmachung einer sonst so nicht sichtbaren Realitätsebene. Man nehme das im Zitat aus dem Shorter Oxford English Dictionary angesprochene Beispiel der Messung von Radioaktivität („…as for detecting or measuring radioactivity“). Radioaktivität ist nur scheinbar „zu sehen“, nämlich nur im Messinstrument selbst, z.B. einem Geigerzähler („instrument […] for monitoring […] radioactivity“). In der ökonomischen Praxis ermöglichen Computermonitore in diesem Sinne die Darstellung von etwas grundsätzlich Abwesendem, was dem Repräsentationsbegriff von Tibbetts nahe kommt (Tibbetts 1988: 73). Mit anderen Worten, die Monitore der DMFAS-Software und der anderen, im Rahmen dieser Arbeit untersuchten drei Systeme – das DSM sowie die GDF-Datenbank der Weltbank und das DSBB des IWF – konstituieren ökonomische Realität immer schon im Prozess ihrer Abbildung. Denn die ungeheuren Ausmaße nationaler Verschuldung, die Wechselwirkungen mit anderen makroökonomischen Variablen und die Entwicklung im Zeitverlauf können nicht anders als mittels Bildschirmtechnologien, und mithilfe der damit verknüpften Softwarefunktionen wie Speichern, Klassifizieren, Standardisieren, Kalkulieren, Statistisches Aggregieren, tabellarisches Formatieren und Zukunfts-Projizieren „gesehen“ werden. Die Bildschirmdarstellungen erlauben es, verschiedene ökonomische Einzelwerte, die sonst nicht gleichzeitig mit- und nebeneinander zu sehen sind, auf kaum mehr als DIN-A-4-Format zusammenzubringen und so auch semantisch miteinander zu verknüpfen. Diese Form der kompakten Darstellung von anwesendem Daten zusammen mit sonst abwesenden, aber durchaus relevanten, z.B. abhängigen anderen Daten (beispielsweise hängt die effektive Höhe der

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Zinszahlungen von der Laufzeit des Kredits ab), passt zu dem, was Schütz und Luckmann über die Eigenart von „Appräsentationen“ gesagt haben (Schütz/Luckmann 1994: 178 ff.). Wenn ein Mensch appräsentiere, ergänze er bei einem Gegenstand (z.B. einem Salzstreuer auf einem Tisch), den er nur von einer bestimmten Seite aus sehen könne, kognitiv dessen gerade nicht sichtbaren anderen Seiten. Das ganze Alltagsleben bestehe aus solchen ständigen Appräsentationsleistungen. Ähnliches geschieht durch skopischen Systeme, in technologischer Weise: Sie appräsentieren dem Nutzer verschiedene Daten, die für ihn einen Bedeutungszusammenhang bilden, normalerweise aber nicht gleichzeitig gesehen werden können. Im Endeffekt erbringen sie so eine buchstäblich übermenschliche Appräsentationsleistung, die das bloße Zusammenbringen vorläufig abwesender Daten noch weit übersteigt: Sie können Verschuldung als spezifische Gestalt sichtbar machen. Es gibt Verschuldung als charakteristisches, interpretierbares, vergleichbares Phänomen für Ökonomen sonst gar nicht. (2) Methodisch kontrollierte Beobachtung Das „Messen und Testen in Intervallen“ ist immer Bestandteil des ökonomischen Beobachtens auf nationaler wie auch transnationaler Ebene des Schuldenmanagements (Abbildung 7: „measure or test at intervals“; „observe“). Dazu gehört auch, die Messungen und Tests ständig zu wiederholen. Beispielsweise empfehlen der IWF und andere internationale Finanzorganisationen, die „Bewegung“ des Verhältnisses von Schulden und Exporten eines Landes im Zeitverlauf zu verfolgen (IMF 2003: 173). Die Beobachtungen sind also wiederholter Revision unterworfen (Abbildung 7: „Keep under review“). Schuldenmanager wenden mithilfe der DMFAS-Software, aber auch mithilfe anderer Systeme wie z.B. des DSM der Weltbank, zahlreiche Kalkulationsmethoden zur Bemessung gegenwärtiger oder zukünftiger Verschuldungssituationen an. Einmal fertiggestellte Kalkulationen müssen wiederholt revidiert werden, wenn sich die Ausgangsbedingungen ändern – manche von ihnen immer und immer wieder.

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(3) Ökonomische Beobachtungsinstrumente als global verteilte Warnmelder Neben dem periodischen Messen und Testen von Verschuldung ist es in der technologisierten Schuldenbeobachtung üblich, „Warnungen“ vor drohender finanzieller und administrativer „Gefahr“ zu automatisieren (vgl. Abbildung 7: „A warning of the presence or imminence of […] some impending danger“). Als Instrument zur Selbstbeobachtung kann ein System wie die DMFAS-Software die Regierung eines Landes laufend über die eigene Verschuldung informieren und z.B. auf interne Inkonsistenzen in den oft komplizierten Rechenwerken hinweisen. So kann die Software in zahlreichen Phasen der Dateneingabe Warnmeldungen geben, die dann mittig auf dem Bildschirm aufspringen, oder sie kann automatisch ein- bis mehrseitige Fehlerberichte erstellen.32 Letzteres passiert z.B., wenn eine eben kalkulierte Amortisationstabelle – das ist eine Tabelle, die die Daten und Summen für die Rückzahlung eines einzelnen Kredits und der Zinsen dafür zusammenfasst – Rechenfehler enthält, die der menschliche Softwarenutzer zu übersehen droht, zumal angesichts eines insgesamt komplizierten Schuldenportfolios (vgl. DMFAS 2004a, Kap. 11: 9). Außerdem können in dem mit der DMFAS-Software kompatiblen DSM Grenzwerte für Verschuldung festgelegt werden, wenn z.B. ein als „nachhaltig“ definiertes Niveau nicht überschritten werden soll (vgl. IMF/IDA 2004). (4) Globale Beobachtung mit und ohne Sanktionsmacht Der IWF hat das offizielle, aber oft umstrittene Mandat, als oberster „Richter“ zahlreiche Überwachungsmaßnahmen im globalen Finanzsystem durchzuführen (vgl. in Abbildung 7: „court“). So studieren und kritisieren IWF-Mitarbeiter beispielsweise Format und Inhalt nationaler Schuldenstatistiken häufig. Dies konnte etwa Ende November 2004 in der indonesischen Zentralbank beobachtet werden, als ein Vertreter des Statistik-Departments des IWF den Quartalsbericht der indonesischen Zentralbank in Anwesenheit eines DMFAS-Mitarbeiters einer

32 Im sechsten Kapitel wird ein Teil dieser automatisierten Fehlerberichte (sog. „error log files“) unter dem Begriff der automatisierten Sorge noch genauer analysiert.

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kritischen Prüfung unterzog. Außerdem befragte er diesen DMFASMitarbeiter intensiv zu zahlreichen Einzelfunktionen der DMFASSoftware.33 In diesem Zusammenhang unterschied er wiederholt zwischen Schuldenkategorien, die bei den Indonesiern „clean“ seien, und solchen, die es noch nicht seien. Offenbar erstellen zusätzlich auch andere IWF-Mitarbeiter, die vom Statistik-Department – darunter der zitierte Experte – relativ unabhängig agieren, im Zuge offizieller sog. „IMF missions“ Berichte über die Schuldensituation und das Schuldenmanagement eines Landes (mündliche Auskunft eines DMFASMitarbeiters während einer Projektreise nach Burkina Faso im September 2004). Dabei kann der IWF anscheinend dank seines Prinzips, Kredite bzw. einzelne Kredittranchen gegen Konditionalitäten herauszugeben, Sanktionsmittel gegenüber vermeintlich uneinsichtigen nationalen Autoritäten ergreifen, d.h. effektiv „Warnungen“ aussprechen und dazu „schwere Waffen“ in Anschlag bringen (in Abbildung 7: „admonitions“, „heavy guns“; vgl. IMF 2008f). UNCTAD dagegen fehlen solche Druckmittel offenbar grundsätzlich. Diesen fundamentalen Unterschied stellte jedenfalls ein DMFAS-Mitarbeiter heraus: Der IWF verfüge über „carrot and stick“ (lockendes Geld und drohende Sanktionen), um seine Ansprüche an nationales Schuldenmanagement durchzusetzen. UNCTAD hingegen verfüge nur über eine Karotte. Damit meinte er die DMFAS-Software, welche sich Regierungen zu einem relativ niedrigen Preis entweder selbst kaufen oder, wie häufig der Fall, im Rahmen von Entwicklungsprojekten durch externe Geldgeber finanzieren lassen können.

33 Dafür fertigte der IWF-Vertreter eine Liste mit den aus seiner Sicht relevanten Diskussionspunkten an, welche er dann gemeinsam mit dem DMFAS-Mitarbeiter durchging. Auf dieser Liste standen z.B. Fragen wie (Wiedergabe aus Feldnotizen): „[Is there] room for [recording] domestic debt [in the DMFAS software]? Where does input [into the DMFAS software] come from, and go to? [Does the DMFAS software record] market values? What [is the] coding [in the DMFAS software] for debt instruments?“

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(5) Die Verstrickung von ökonomischer Beobachtung in verschiedene Weltsichten Die Herstellung von skopischen Systemen wie der DMFAS-Software oder der erwähnten IWF- und Weltbanksysteme ist mit Glaubensvorstellungen und Weltsichten verbunden, wie es in „monition“ als „ekklesiastischer“ Abmahnung anklingt (vgl. Abbildung 7). Beispielsweise glauben IWF und Weltbank – zumindest offiziell – daran, dass „sound practices“ im nationalen Schuldenmanagement Finanzkrisen wie diejenigen in den 1990er Jahren verhindern können, und dafür haben sie umfangreiche Richtlinien mit detaillierten Vorstellungen, wie solche soliden Praktiken ihrer Meinung nach aussehen, erarbeitet (World Bank/IMF 2007: 5; vgl. World Bank 2008e). Aber auch die Klassifikationen, die in skopischen Systemen wie die DMFAS-Software eingebaut sind, verkörpern eine Sicht auf Schulden, die notwendigerweise alternative Sichten ausschließt. Allerdings räumt die Software durchaus eine gewisse Flexibilität bzw. Spannbreite des Klassifizierens ein, wie noch an anderer Stelle eingehender untersucht wird.34 Dennoch bleibt als Grundproblem: Klassifikationen unterteilen die Welt gemäß begrenzter Ordnungsvorstellungen (vgl. Bowker/Star 1999: 5). Die Teilnahme an verschiedenen Schuldenmanagementkonferenzen machte deutlich, dass nationale Schuldenmanager und transnationale Schuldenexperten entsprechend über die adäquate Schuldenbegriffe ständig verhandeln, und dass sie einige zu stabilisieren versuchen – bis hin zur Deklaration bestimmter Begriffe als „Standards“. (6) Nationalkulturelle Beobachtungsnischen in globalisierter Beobachtung Die in zahlreichen Ländern und also an unterschiedlichen Stellen des globalen Finanzsystems installierten DMFAS-Systeme sind entfernt vergleichbar mit den oben zitierten Echsen, die bei drohender Gefahr eine Warnstellung einnehmen („monitor lizard“). Es ist nämlich so, dass diese „Spezies“ von Beobachtungstechnologie von Land zu Land und oft sogar von lokaler Installation zu lokaler Installation variiert, d.h. es gibt tatsächlich auch hier „afrikanische“, „asiatische“ und „lateinamerikanische“, genauer aber noch: nationale Unterschiede, was

34

Siehe dazu den Abschnitt „Klassifizieren“ im dritten Kapitel.

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die konkret genutzten Softwarefunktionen anbelangt. So ist die DMFAS-Software als Standardpaket zwar derart komplex programmiert, dass sie von vorneherein alle möglichen verschiedenen Funktionen enthält. Von diesen benutzt jedes Land aber jeweils nur diejenigen Funktionen, die es für das eigene spezifische nationale Schuldenmanagement nötig hat, oder die für die Erstellung von IWF- oder Weltbankkonformen Berichten erforderlich sind. Außerdem enthält die Software z.B. an verschiedenen Stellen sog. „user-defined fields“, die die jeweiligen Länder nach ihren eigenen Bedürfnissen ausfüllen bzw. codieren können (DMFAS 2004a, Kap. 3: 21). Insgesamt ist die Software damit ein nationales Beobachtungssystem, das einerseits über alle Länder hinweg einer (Standard)-„Gattung“ entspricht wie der allgemeinen Monitor-Echse, andererseits aber auch verschiedene nationalkulturelle „Arten“ innerhalb dieser Gattung aufweist. (7) Nationale und globale Verschachtelung von Beobachtungssystemen Ein „gelenkiges“ System, das in „alle Richtungen gedreht werden kann“, ist die DMFAS-Software z.B. dann, wenn sie eine Komponente im integrierten Finanzmanagementsystem einer Landesregierung ist (vgl. Abbildung 7: „joined nozzle […] which may be turned in any direction“; vgl. Borresen/Cosio-Pascal 2002: 22). Sie kann, sobald sie an verschiedenen Stellen verlinkt ist mit anderen nationalen Beobachtungsystemen (z.B. für das staatliche Budget oder die Rechnungslegung), in alle diese Richtungen „gedreht“ werden, um den entsprechenden Regierungseinheiten unterschiedliche Schuldendaten zu liefern. Auch kann sie selbst aus diesen verlinkten Systemen Daten aufnehmen (z.B. die Bestätigung über eine tatsächlich erfolgte Ratenzahlung für eine Schuld). Die DMFAS-Software kann auch zum Finanzminister „gedreht“ werden, ad hoc angeforderte Sonderberichte zu erstellen (dies teilte ein für die indonesischen Statistiken zuständiger Mitarbeiter im indonesischen Finanzministerium Ende November 2004 mit). Schließlich kann sie in Richtung von IWF und Weltbank „gedreht“ werden, indem sie zahlreiche Funktionen enthält, die die Erstellung von Schuldenberichten gemäß der Anforderungen dieser beiden Institutionen ermöglicht. Ein Beispiel dafür sind die sog. „form 1“ und „form 2“-Softwarefunktionen, die nach genauen Vorgaben der Weltbank konstruiert wurden. Sie erlauben es den nationalen Schul-

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denmanagern, die alljährlich nötigen Jahresberichte an die Weltbank zu formatieren und, via E-mail, nach Washington zu verschicken, wo sie u.a. in das Debtor Reporting System der Bank überführt werden (vgl. UNCTAD 2008c: 14). Von da aus werden sie in die GDF-Datenbank eingespeist. Sowohl die Weltbank selbst als auch sonstige Internetnutzer können so schließlich auf Distanz die Verschuldung von Entwicklungs- und Schwellenländern mitverfolgen. (8) Ökonomische Beobachtung, die sich bei „Transparenz“ selbst vergisst Wenn die Verfahren und die Technologien der Beobachtung in der Praxis reibungslos zusammenspielen, kann im Auge des Betrachters die Illusion einer mühelosen, direkten Sichtbarkeit von nationalökonomischer Verschuldung entstehen, so als könne ökonomische Realität doch unmittelbar und leicht gesehen werden. Wenn ökonomische Beobachtungstechnologien ohne technisches Versagen funktionieren, so verschwindet ihre Materialität und der damit verbundene vorgängige Speicher-, Klassifikations-, Kalkulations-, Aggregations-, Projektionsaufwand etc. hinter dem, was auf der Bildschirmoberfläche – am Ende des Arbeitsprozesses – zu sehen ist. Ein Computermonitor mag dann als selbst unwichtiges neutrales Medium, als schlichte „Dachluke“ wirken, durch die hindurch der ökonomische Beobachter die ihn eigentlich interessierende ökonomische Realität draußen direkt sieht (vgl. Abbildung 7: „clerestory“). Doch die Dachluken-Illusion ist sehr zerbrechlich. Star und Bowker haben dieses Paradox, also die in der konkreten Erfahrung zunächst wirkmächtige Illusion neutral vermittelnder Technologien und ihre gleichzeitige Zerbrechlichkeit, als Merkmal von Infrastrukturen allgemein identifiziert (Star/Bowker 2002). Sie konstatieren, dass Infrastrukturen wie z.B. Stromversorgung, Stromnetz und Lichtschalter in der Wahrnehmung ihrer Benutzer nur solange selbst vollkommen unwichtig und insofern „transparent“ (komplett durchsichtig bzw. unsichtbar) bleiben, solange sie funktionieren. Es sei ja z.B. das Licht im Zimmer selbst, auf das es dem Benutzer ankomme, nicht etwa der Schalter, der Stromkasten, das Versorgungsnetz etc., die das Licht ermöglichen. Doch sobald diese Bestandteile von technischer Infrastruktur versagten, würden sie plötzlich „sichtbar“ im Auge des irritierten Benutzers („visible upon breakdown“, Star/Bowker 2002: 152). Nun

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müsse dieser sich ihren genauen Aufbau und mögliche Fehlerquellen Schritt für Schritt klar machen sowie verschiedene Tests durchführen, um sie wieder zum Laufen zu bringen. Wenn das gelungen sei, so werde sich seine Wahrnehmung wieder auf das Licht verschieben können, also die technisch erzeugte Realität. Bei Heidegger findet sich diese Argumentationskette unter dem Begriff „Zeug“: Im Alltag sei „Zeug“ (z.B. Schreibzeug) für seinen Benutzer selbstverständlich „zuhanden“. Dass jedes „Zeug“ aber eigene spezifische Strukturen aufweise, falle erst dann auf, wenn diese gewohnte „Zuhandenheit“ einmal gestört sei (Heidegger 1927/1963: 68, 72-76). An anderer Stelle wird auf das immense Ausmaß an gewohnter Zuhandenheit im stark technologisierten Schuldenmanagement noch zurückzukommen sein – und wie aufwändig die „Reparaturarbeit“ ausfallen kann, wenn diese gewohnte Zuhandenheit auf einmal überraschend gestört wird.35

2.4 Z USAMMENFASSUNG Viele Staaten haben ein finanzstarkes, differenziertes Schuldenportfolio, das hintergründig aus verschiedensten global verzweigten Transaktionsbeziehungen besteht und aufgrund von externen Einflüssen wie Wechselkursen und Zinsschwankungen ständig seine Gestalt verändert. Dadurch ist es strukturell gesehen eigentlich für eine Regierung unmöglich, alle nationalen Schulden im Detail zu überschauen. „Nationale Schuld“ als Aggregatgröße ist insofern zunächst unsichtbar. Dieser Sachverhalt wurde nicht nur mit gegenwartsbezogenen empirischen Daten sondern auch in historischer Perspektive anhand der internationalen Schuldenkrise der Entwicklungsländer von ca. 1975 bis ca. 1983 deutlich gemacht. Dagegen können skopische Systeme Schulden auf kaum mehr als DIN-A-4-großen Bildschirmen in all ihren Einzelheiten überschaubar und als Gesamtgestalt mit eigener Entwicklungsdynamik sichtbar machen. Sie stellen, zusammen mit einer transnationalen Expertengemeinschaft und einer Monitoringpraxis, die wissenskulturelle Lösung für das grundsätzliche Beobachtungsproblem bei nationalen Schulden

35 Siehe dazu das fünfte Kapitel, speziell den Abschnitt zur überraschenden Ent-Faltung hochtechnologischer Weltsituationen, und das sechste Kapitel.

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dar. Insgesamt werden so die nationale Selbst- und die globale komparative Fremdbeobachtung von Nationalökonomien möglich. Zur Untermauerung dieser These wurden drei spezifische skopische Systeme kurz vorgestellt: die DMFAS-Software von UNCTAD, die im Zentrum der Analyse insgesamt steht, das DSM und die GDF-Datenbank der Weltbank sowie das DSBB, eine Internetplattform des IWF. Die transnationale epistemische Gemeinschaft, die konkret untersucht wurde, umfasst entsprechend Schuldenexperten des DMFAS-Programms (innerhalb von UNCTAD) sowie IWF- und Weltbank-Experten. Auf der Grundlage eigener empirischer Beobachtungen muss dieses weltumspannende Gespann aus drei Expertengruppen allerdings als intern umstrittene epistemische Gemeinschaft interpretiert werden („contested“). Die DMFAS-Softwareentwickler fühlen sich in ihrer Arbeitspraxis im Sinn des UN-Mandats verpflichtet, verschiedensten nationalen Ansprüchen gerecht zu werden; sie versuchen, diesen mit konkreten Softwarefunktionen und in Opposition zu vermeintlich internationalen Standards von IWF und Weltbank eine „Stimme“ zu geben. Gleichzeitig teilen sie aber auch bestimmte Überzeugungen – die sie lieber „technisch“ als „politisch“ nennen – mit den IWF- und Weltbank-Experten. Damit finden doch auch deren Ansprüche Eingang in die Softwareentwicklung. Das vorliegende Kapitel machte auch deutlich, dass die zahlreichen Funktionen, die in skopischen Systemen konzentriert sind, und dass die Expertise innerhalb der transnationalen epistemischen Gemeinschaft nicht perspektivisch neutral und rational-selbstverständlich sind, sondern historisch-kulturell gewachsen. So wurde die These einer das transnationale Schuldenmanagement durchziehenden Monitoringpraxis aufgestellt. Im Anschluss wurden die sprachliche Bedeutungsvielfalt der englischen Begriffe „monitoring“, „monitor“ (für die skopischen Bildschirme) und „(ad)monition“ aufgezeigt. Darauf aufbauend wurden acht Bedeutungsschichten der Monitoringpraxis im transnationalen Schuldenmanagement herausgearbeitet.

3. Zur Selbst- und Fremdbeobachtung nationaler Schulden

3.1 E INLEITUNG : G LOBAL - INKLUSIVE UND GLOBAL - EXKLUSIVE SKOPISCHE S YSTEME Können Regierungen ihre nationale Verschuldung selbst „sehen“, und kann sie auch nach außen hin für andere Länder, Organisationen und einzelne Investoren sichtbar gemacht werden? Das heißt, ist ihre spezifische Gestalt zu einem gegebenen Zeitpunkt für staatliche und außerstaatliche Akteure vollständig epistemisch begreifbar, und lässt sich ihre Entwicklung durch die Zeit hindurch verfolgen? Wenn ja, was sind die spezifischen Merkmale dieser Selbst- und Fremdbeobachtung von nationaler Verschuldung? Die Ausgangssituation legt zunächst nahe, dass Regierungen und andere Parteien außerhalb des betreffenden Staates die Schulden nicht überblicken, dass sie deren Aggregatgestalt nicht erkennen können. Was die Menge und den Charakter einzelner Schuldbeziehungen mit den unterschiedlichsten involvierten Transaktionspartnern anbelangt, was verschiedenste Kreditarten, Laufzeiten sowie äußere Einflüsse internationaler Finanz- und sogar Gütermärkte angeht, ist das Schuldenportfolio eines Landes kaum an Komplexität zu überbieten. Es ist oftmals milliardenschwer; und es ist meist das größte Finanzportfolio eines Landes (IMF/World Bank 2003: 3; Wheeler 2004: 6). Die nationalökonomischen Schuldbeziehungen, ob nun der Regierung selbst (öffentliche Schulden) oder der Bewohner eines Landes insgesamt ins Ausland (externe Schulden), reichen meist weit, und kreuz und quer, in andere Länder der Welt hinein. Zudem erstrecken sich Kreditausschüttungen, Kreditrückzahlungen und Zinszahlungen oftmals über

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viele Jahre oder sogar Jahrzehnte, wie im Fall von bilateralen und multilateralen Krediten. Schließlich unterliegt das Schuldenportfolio einer Regierung u.a. Schwankungen in Marktpreisen wie z.B. Zinsraten, Wechselkursen, oder Güterpreisen (Wheeler 2004: 7). Angesichts dieser Ausgangsproblematik stellen leistungsstarke Informationssysteme, die große Datenmengen zusammenführen und speichern, in kürzester Zeit verarbeiten und bei Bedarf (bei veränderten Ausgangsbedingungen oder -annahmen) neu verarbeiten und die Ergebnisse schließlich auf einer Bildschirmoberfläche in kaum mehr als DIN-A-4-Größe darstellen können, eine kulturelle Chance dar, ein in Zeit und Raum komplexes nationales Schuldenportfolio konzentriert vor Augen zu führen. Solche Bildschirm-Technologien bieten die Möglichkeit, eine buchstäblich globale und zeitlich offene Verschuldungssituation (seh)sinnlich erfahrbar zu machen. Anspruchsvolles Schuldenmanagement wird also zu einer verkörperlichten Alltagsarbeit, indem kompakte Computermonitore zwischen der im Hintergrund laufenden komplizierten Programmierung einerseits und dem menschlichen Auge andererseits vermitteln. Gleichzeitig ist eben diese sinnlich erfahrbare Realität eine schon epistemisch extrem prozessierte Realität, d.h. sie ist eine Realität in eigenem Recht geworden. Epistemisch weit entfernt von der unmittelbaren Erfahrung von Primärdaten (z.B. das Erlebnis des Abschlusses eines einzelnen Kreditvertrags; die persönliche Kenntnis aller beteiligten Vertragsparteien; das sichere Gefühl, eine vertrauensvolle Kreditbeziehung eingegangen zu sein) können Managementinformationssysteme das Aggregat nationaler Verschuldung kompakt beobachtbar machen. Genauer gesagt, erst durch zahlreiche epistemische Leistungen, die in solche Systeme eingeschrieben sind, kann nationale Verschuldung in ihrer spezifischen Gesamtgestalt „gesehen“ werden: durch Sammeln, Zentralisieren, Speichern, Klassifizieren, Kalkulieren, statistisches Aggregieren, tabellarisches Darstellen, räumliches Projizieren bzw. Reflektieren zwischen skopischen Teilsystemen, Projektionen in die Zukunft, und schließlich durch häufiges Revidieren all dieser Leistungen. Dem Nutzer erschließt sich die Gestalt nationaler Verschuldung dann gewissermaßen auf der äußersten Oberfläche solcher leistungsstarker Technologien: dem Bildschirm, oft auch mehreren Bildschirmen, zwischen denen er wechseln kann. Diese selbst epistemisch konzentrierten Bildschirmtechnologien, die es dem Nutzer erlauben, seinen Blick auf visualisierte Schlüsseldaten von Verschuldung zu konzentrieren und da-

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raufhin wichtige Folgeentscheidungen zu treffen, können als „skopische Systeme“ bezeichnet werden (vgl. Knorr Cetina 2003, 2005a und 2006; Knorr Cetina/Preda 2007; Knorr Cetina/Grimpe 2008). Der vielschichtige epistemische Beobachtungsprozess von nationalen Schuldendaten mithilfe skopischer Systeme soll nachfolgend am Beispiel der DMFAS-Software, einem von UNCTAD in Genf entwickelten Schuldenmanagementsystem, das in 66 Ländern benutzt wird, analysiert werden (DMFAS 2008c: z.Z. 58 „aktive“ und acht „inaktive“ Projektländer). Aktuell läuft das System in 82 Finanzministerien und Zentralbanken (Weltbank 2008c: 11). Es wird ein Teil des eben skizzierten „Leistungspakets“ unterschiedlicher epistemischer Beobachtungsfunktionen, die diese Software bietet, untersucht. Dabei sind analytisch zwei Ebenen zu unterscheiden: Die DMFAS-Software ist hinsichtlich zahlreicher Einzelfunktionen ein komplexes nationales Finanz-Beobachtungssystem. Das heißt, es ist ein skopisches System, das einer Regierung die ständige Selbstbeobachtung der eigenen Verschuldungssituation ermöglicht. Es sind in diesem Fall die dem Nationalstaat eigenen Regierungsangestellten bzw. Zentralbankmitarbeiter, die das Beobachtungssystem tagtäglich mit neuen Daten füttern und zur Erstellung von Schuldenberichten z.B. für Parlament und Finanzminister sowie für den Informationsaustausch mit anderen Regierungseinheiten und dortigen Finanzsystemen, etwa Budgetierungssystemen, nutzen (vgl. Borresen/Cosio-Pascal 2002 zu integrierten Finanzmanagementsystemen). Zu dieser Selbstbeobachtungsfunktion kommt eine zweite skopische Grundfunktion hinzu: Die DMFAS-Software als globales System zur komparativen Fremdbeobachtung nationaler Verschuldung. In die Software sind an verschiedenen Stellen Funktionen einprogrammiert, die es anderen Parteien außerhalb des jeweiligen Nationalstaats erlauben, dessen nationale Verschuldungssituation zu beobachten und mit den Verschuldungssituationen anderer Nationalstaaten zu vergleichen. Dazu gehört, dass solche Fremdbeobachter die DMFAS-Daten in ihre eigenen skopischen Systeme übernehmen. Diese Fremdbeobachter sind, in erster Instanz, der IWF und die Weltbank. Das DMFAS-Programm kooperiert sowohl formal als auch informell mit Schuldenexperten von IWF und Weltbank (z.B. mittels gemeinsamer Konferenzen oder kurzfristig anberaumter Einzelgespräche). In zweiter Instanz sind es wiederum die Nutzer eben solcher IWF- und Weltbank-Systeme,

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die die nach dorthin weiter „geskopten“ Schuldendaten eines Nationalstaats beobachten. Dieser Beobachtungszusammenhang ist allerdings empirisch, wie es scheint, bisher noch nicht gut genug belegt ist, abgesehen von einigen IWF- und Weltbank-Publikationen. Es handelt sich um Ratingagenturen, und über sie mittelbar „Marktteilnehmer“, sowie ansatzweise auch verschiedene politische Akteure (IMF/World Bank 2005: 6, 38 ff.; Knorr Cetina/ Grimpe 2008; vgl. IMF 2008d; IMF 2008e; IMF 2007; IMF/World Bank 2005). Beide Grundfunktionen der DMFAS-Software, also die nationale Selbst- und die globale komparative Fremdbeobachtung, kulminieren innerhalb des Systems, d.h. was die materielle Form und den semantischen Gehalt der Software angeht, in einer großen Funktionskomplexität. Denn die Entwickler bei UNCTAD in Genf versuchen, den verschiedenen Nationalstaaten mit ihren nationalkulturell immer wieder divergierenden Managementerfordernissen mit einer Standardsoftware gerecht zu werden. Dies äußert sich z.B. in der hohen Frequenz von Projektreisen, die die DMFAS-Mitarbeiter von Genf aus in alle Länder ständig unternehmen, um neue Nutzungsbedürfnisse zu eruieren. Umgekehrt werden immer wieder Länder bzw. Nutzergruppen nach Genf zu Workshops eingeladen, wo sie ihre Benutzungsansprüche vorbringen können (während der Feldforschung am 26.10.2004 etwa zwei Vertreter der indonesischen Zentralbank). Schließlich ist es auch so, dass die DMFAS-Mitarbeiter in Genf selbst ständig die sich verändernden Nutzerbedürfnisse zu antizipieren versuchen. Am sog. „Helpdesk“ und in den Büros der sog. „user representatives“ – zum Zeitpunkt der Feldforschung waren effektiv zwei Mitarbeiter „user representatives“ – werden die meisten der tatsächlichen sowie antizipierten Bedürfnisse verarbeitet (DMFAS 2008b). Historisch gesehen ist die DMFAS-Software auf diese Weise seit der ersten Version im Jahr 1979 um immer mehr Spezialfunktionen erweitert worden (DMFAS 1999/2000: 1, 2). Sie ist im Zeitverlauf immer bedeutungstiefer geworden: Sie umfasst zahlreiche skopische Funktionen, die zum einen verschiedenste nationalkulturelle Bedürfnisse der Selbstbeobachtung, zum anderen die für das globale Finanzsystem spezifischen Bedürfnisse der komparativen Fremdbeobachtung betreffen. In Anlehnung an Theorien der Postsozialität und der jüngeren Techniksoziologie muss die skopische DMFAS-Software damit buchstäblich als höchst eigen-

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sinnige technologische Seinsform begriffen werden (vgl. Knorr Cetina 1998; Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; Braaun-Thürmann 2002).1 Abbildung 8: Global-inklusive Finanzskopiee zwischen UNCTAD, 66 Staaten, IWF und Weltbank

Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage von DM MFAS 2008c

Die obige Abbildung stellt diese zwei anallytisch verschiedenen Ebenen in ihrem empirischen Zusammenhang g dar. In der Mitte ist die 1

Dies soll heißen: Das „Wesen“ der Softwaree selbst korrespondiert mit der Komplexität des Grundproblems, also die Beobachtbarkeit B von nationaler Verschuldung in Raum und Zeit sicherzustellen, für nationale wie auch global-systemische Erfordernisse. Es handellt sich keinesfalls um eine einfache 1:1-Korrespondenz im Sinne einer eindeutigen e Wiedergabe, sondern eher eine von den Genfer DMFAS-E Entwicklern tagtäglich immer wieder erbrachte fragile Übersetzungsleistu ung. Die Beobachtungsproblematik wird historisch-kulturell „gelöst“ in Form von immer wieder neu hinzugefügten oder korrigierten Programm mierskripten, einer bestimmten Architektur mit verschiedenen Hard- und Softwareebenen, Bildschirmoberflächen, welche z.B. Tabellen mit Akttionsfeldern („buttons“) anzeigen, um die Datenverarbeitung zu ermöglicchen, Speicher- und Kalkulationsfunktionen u.v.m. Das alles macht die Software S letztlich auch eigendynamisch. Im sechsten Kapitel wird auf diesen d Quasi-Akteursstatus näher eingegangen.

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skopische DMFAS-Software symbolisiert. Sie wird im Haus von UNCTAD entwickelt, welche historisch gesehen die politische Organisation ist, um auf internationaler Bühne die Interessen von Entwicklungsländern gegenüber den westlichen Industriestaaten sowie IWF und Weltbank zu vertreten (vgl. Ferdowsi 2002: 157/158; Wolf 2005: 41/42). Zwischen Genf und den 66 Nationalstaaten in Osteuropa, der ehemaligen Sowjetunion, Asien, dem Nahen Osten, Afrika, Lateinamerika und den Karibischen Inseln, wo die Software überall benutzt wird, findet ein ständiger Informationsaustausch statt. Dies ist durch die dreifachen Linien symbolisiert. Diese Linien sollen hier auch die o.g. Antizipationsarbeit sowie eigene Softwareerfahrungen der Genfer mit abbilden.2 In jedem der Länder bzw. in jeder der derzeit 82 derzeitigen Finanzinstitutionen, in denen die Software läuft, wird sie in einer nationalkulturell immer etwas anderen Weise benutzt. Diese nationalkulturellen Nutzungsunterschiede ergeben sich zahlreich aus Staatsmerkmalen, die kodifizierter, aber auch informeller Natur sind. So variieren z.B. Gesetze über die Verwendung des Staatsbudgets und die Durchführungsbestimmungen für die Berichterstattung von Land zu Land, und es gibt in allen Ländern (manchmal sogar personenabhängige) lokale Praktiken, die sich nur bei längerem Aufenthalt vor Ort erfahren lassen. Das informelle Wissen über solche lokalen Praktiken

2

Um die Grafik übersichtlich zu halten, werden die Antizipationen und eigenen Erfahrungen in diesen Linien mit eingeschlossen. Gleichwohl handelt es sich dabei um eine gesonderte Form von Expertenpraxis: Die DMFAS-Experten imaginieren eventuelle Nutzerbedürfnisse in Verbindung mit ihrer eigenen langjährigen (und immer wieder an aktuellen Trends im Schuldenmanagement neu ausgerichteten) Erfahrung sowie aufgrund selbst erlebter Nutzungsprobleme mit der auch für sie inzwischen bedeutungstiefen Software. In den sog. „User Requirement Definition (URD) Meetings“, die die IT-Entwickler in Genf allwöchentlich abhalten, und die zur „Definition“ der als Nächstes anstehenden SoftwareErweiterungen und Problemlösungen dienen, wird entsprechend unterschieden zwischen tatsächlichen User-Anfragen aus den Ländern und den Verbesserungsvorschlägen der DMFAS-Mitarbeiter selbst. Im weiteren IT-Entwicklungsprozess hin zur letztlichen Programmierung wird auf die Änderungen dann meist nur noch vereinheitlicht als „URDs“ Bezug genommen. Die Problemerfahrungen der Entwickler mit ihrem eigenen System werden im fünften und sechsten Kapitel noch genauer besprochen.

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etwa versuchen DMFAS-Mitarbeiter über mehrjährige persönliche Beziehungen zu „ihren“ Kontaktpersonen in „ihren“ Projektländern, wie sie sich selbst oft ausdrücken, aufrechtzuerhalten. Aber auch nach außen hin gibt es wichtige Unterschiede im nationalen Schuldenmanagement – vor allem in der Art der jeweiligen Schuldner-GläubigerBeziehungen, die ein Regierungsapparat unterhält (in der Grafik sind diese Beziehungen nicht dargestellt).3 Schließlich gibt es verschiedene skopische Projektionsleistungen vom DMFAS-System nach Washington zur Weltbank und zum IWF, die der komparativen Fremdbeobachtung von Nationalökonomien dienen. Diese Projektionsleistungen sind mit den zwei im oberen Teil der Grafik verlaufenden Pfeilen dargestellt.4 Die Systeme von IWF und Weltbank sind ihrerseits als skopische Systeme zu bezeichnen:

3

Ein Beispiel für solche Unterschiede in Bezug auf offizielle, kodifizierte Außenbeziehungen: Kredite, die Schuldnerländer vom Asiatischen Entwicklungsfonds erhalten haben, erfordern ganze eigene komplizierte Kalkulationsregeln. In der DMFAS-Software wurde auf diese Erfordernisse entsprechend mit Sonderfunktionen reagiert (vgl. DMFAS 2004a, Kap. 13). Nur Schuldnerländer des Asiatischen Entwicklungsfonds sind auf diese Funktionen angewiesen, so wie andere Länder auf ganz andere Sonderfunktionen angewiesen sind. Beispielsweise benutzt Argentinien, welches ungefähr die Hälfte seiner Schulden in Staatsanleihen hält, besonders das sog. „bonds module“ (vgl. DMFAS 2004a, Kap. 10).

4

Es gibt noch andere „Projektionsstrahlen“ in Richtung IWF und Weltbank sowie auch in Richtung anderer internationaler Finanzinstitutionen, die in dieser Arbeit nicht genauer untersucht werden, da die im Feldforschungszeitraum begleiteten DMFAS-, Weltbank- oder IWF-Experten nur wenig Bezug auf sie nahmen. So begannen etwa die DMFAS-Mitarbeiter gegen Ende der Haupt-Feldforschungszeit im März 2005 eine große interne Diskussion über „templates“ der Weltbank. Dabei handelt es sich um Standardformate, die – der damaligen Planung nach – mit den Schuldendaten von Nationalstaaten gefüllt und dann in eine von der Weltbank verwaltete „publicly available centralized database of quarterly external debt statistics“ überführt werden sollten (World Bank/IMF 2004: 1). „By bringing such data and metadata together in one central location“, hieß es, „ the database would support macroeconomic analysis and cross-country comparison “ (a.a.O.; Hervorhebungen BG). Am 6.07.2005 hielt der Leiter der IT-Gruppe des DMFAS-Programms an der Universität Konstanz ei-

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Zum einen enthält die DMFAS-Software an Weltbank-Vorgaben ausgerichtete Funktionen wie etwa die sog. „automatic bridge“ (vgl. UNCTAD 2008c: 14). Mithilfe dieser „automatischen Brücke“ können Schuldnerländer der Weltbank alljährlich den von der Bank geforderten Bericht über ihre momentane Gesamt-Schuldensituation nach Washington schicken. Ende 2006 etwa hatten 19 Länder, in denen die DMFAS-Software installiert ist, diese „Brücke“ genutzt (UNCTAD 2008c: 14). Die Weltbank verarbeitet die zugeschickten Länderdaten innerhalb ihres Debtor Reporting System und überführt sie von da aus in den „Global Development Finance“ („GDF“; World Bank 2000: 1; UNCTAD 2008c: 14). Dies ist ein halbjährlich aktualisierter Katalog, der als Handbuch und CD-Rom zu erwerben und seit einigen Jahren auch online von der ganzen Welt aus einzusehen ist (World Bank 2008b). Dieses „Scoping Up“ von originär nationalen Schuldendaten auf eine globale Finanzsystemebene ist ein unauflösbar sozio-technologischer Prozess, und es ist eine fragile, ständig am Laufen zu haltende Form global verteilten Handelns (Knorr/Grimpe 2008: 162, 181; vgl. Hutchins 1995). In diesem Prozess des „Scoping Up“ auf eine Ebene der globalen komparativen Fremdbeobachtung von Nationalökonomien bleibt die zugrundeliegende staatliche Souveränität oft ein störender Faktor (natürlich aus Sicht der internationalen Finanzinstitutionen); manchmal unterstützt sie aber auch skopische Koordination, weil sie geskopte Zahlen mit „gesatzter“ Autorität versieht (Weber 1921/1980: 125). Auf beide Varianten ist noch genauer einzugehen.

nen Vortrag über die gegenwärtigen Aufgaben in der IT-Entwicklung. In diesem Zusammenhang sprach er diese „templates“ erneut an. Man beachte an dem folgenden Zitat aus seinem Vortrag, dass er davon spricht, die nötigen Informationen könnten mit der Software zukünftig „automatisch generiert“ werden, ähnlich wie im Fall der bereits existierenden “automatischen Brücke” der Weltbank: „Eh, […] they [IWF und Weltbank] are near to launch an initiative together […] that are the ,templates’ of the World Bank and IMF, and that’s general information not only of debt but of the economy of the country, fiscal sector and external sector. And the information for the debt side is going to be automatically generated from the system, so we have a lot of relationship. […] [It] is a new template for debt sustainability analysis – and that’s a new thing, in order to monitor what is happening- to the count – to the economy – but this is new, this is practically internal [lacht kurz]” [Hervorhebungen im Original].

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Zum anderen wurden im Feldforschungszeitraum (August 2004 bis März 2005) von den Genfer Entwicklern 88 „statistische Tabellen“ konzipiert – die DMFAS-Mitarbeiter sprachen immer von „den“ Statistiktabellen für das „statistical bulletin“-Modul. Es wurde der Anspruch formuliert, dass alle Softwarenutzer in allen Ländern in der Lage sein sollten, diese Tabellen standardmäßig mit der DMFASSoftware zu produzieren. Darunter waren vier Tabellen, die den Vorgaben des IWF aus seiner „Data Dissemination Initiative“ entsprachen (DMFAS 2004b: 10). Zu dieser Initiative gehören der „Special Data Dissemination Standard“ und das „General Data Dissemination System“ („SDDS“ und „GDDS“; vgl. IMF 2008e). Nationale Schuldenberichte in SDDS- und GDDS-Format macht der IWF über das Internet der ganzen Welt verfügbar, nämlich auf dem „IMF Dissemination Standards Bulletin Board“ („DSBB“; vgl. IMF 2008c). Derzeit sind z.B. die Verschuldungssituationen von 64 Ländern auf dem DSBB abrufbar. Auch dieses „Scoping Up“ auf eine vom IWF in Abstimmung mit der Weltbank konzipierte Systemebene komparativer Fremdbeobachtung von Nationalstaaten im Internet ist, wie die „automatische Brücke“ der Weltbank, durchzogen von Nationalstaatlichkeit (vgl. die „Standards and Codes Initiative“ der beiden Bretton Woods-Institutionen; IMF/World Bank 2005).5 Zusammenfassend lässt sich die Grafik damit so erläutern: Im linken oberen Teil sind die skopischen, nationalkulturell durchzogenen Projektionsleistungen der DMFAS-Software zum jeweiligen skopischen System der Weltbank und des IWF dargestellt. Für die zahlreichen Nationalkulturen in den Projektionsstrahlen stehen der rechte und untere Teil der Grafik. Jeder Nationalstaat projiziert seine nationale Realität von Verschuldung auf immer etwas verschiedene Weise nach

5

So können Zusammenfassungen, die Länder im SDDS-Format über ihren aktuellen Gesamtschuldenstand erstellt haben, nur über sog. „National Summary Data Pages“ eingesehen werden. Im Fall der entsprechenden argentinischen EXCEL-Tabelle sieht man z.B. außerdem, dass die Statistik in der Landessprache überschrieben ist (Überschrift „deuda externa bruta“ für „externe Bruttoverschuldung“; IMF 2008g). Ein anderes Beispiel für die ständige Kopräsenz von Nationalstaatlichkeit äußert sich darin, dass der IWF „metadata“ bzw. „methodologies“ fordert, mit denen die Länder ihre eigenen Verfahren der Datenverwaltung transparent machen sollen (vgl. IMF 2007: 60).

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Washington. Diese ständige kulturelle, politische und technologische Dialektik zwischen nationaler und globaler Finanzskopie verdichtet sich in der Mitte der Grafik: in der bedeutungstiefen DMFAS-Software. Die DMFAS-Entwickler im Haus von UNCTAD streiten sich immer wieder miteinander über ihre Positionierung in diesem spannungsreichen transnationalen Feld, und dies schlägt sich letztlich auch in der Software nieder. Die DMFAS-Mitarbeiter sitzen die ganze Zeit „zwischen den Stühlen“. In ihrer Organisation und in ihrer Software wird die Dialektik zwischen den globalen Finanzsystem-Perspektiven von IWF und Weltbank einerseits und den Landesperspektiven der 66 souveränen Nationalstaaten andererseits ausgelebt. Dass der Entwicklungsprozess der DMFAS-Software in Genf ein unaufhebbar dialektischer Prozess zwischen global-systemischen und nationalkulturellen Beobachtungserfordernissen ist, hat theoretische Implikationen für den Begriff des Globalen. Die Software muss als ein global-inklusives System eingestuft werden (Knorr Cetina/Grimpe 2008: 177-183). Darin unterscheidet es sich deutlich von „FOREXS“, einem Konglomerat aus mehreren Informationstechnologien mit bis zu fünf Bildschirmen im Interbanken-Devisenhandel, an dem die Theorie skopischer Systeme ursprünglich entwickelt wurde (Knorr Cetina/ Grimpe 2008: 162; vgl. Knorr Cetina 2003). Im Gegensatz zur DMFAS-Software tritt Nationalkultur innerhalb von FOREXS kaum mehr in Erscheinung (zumindest gegenwärtig, historisch mag dies anders gewesen sein), und anders als das alltägliche Schuldenmanagement in den einzelnen Ländern ist der alltägliche InterbankenDevisenhandel nicht systematisch von jeweils national verschiedenen Praktiken „durchwachsen“.6 Das heißt, der mittels FOREXS funktio-

6

Die Traders finden allen lebensweltlichen Kontext ihrer Arbeit in FOREXS selbst: Das System erlaubt sowohl den unmittelbaren Handelsvollzug als auch die Einschätzung der Kontextbedingungen für diesen Vollzug, es bietet den „on screen referential context wherein everything takes place“ (Knorr Cetina 2005a: 42; vgl. Knorr Cetina/ Grimpe 2008: 164). Nationalkultur fehlt hier also auch in folgendem Sinn: Die Traders müssen buchstäblich nicht die Augen von ihren Bildschirmen abwenden und ihre Arbeitsplätze in New York, Tokio oder London verlassen, um sich vor Ort, also in den USA, Japan oder Großbritannien, mit nationalspezifischen Zusatzinformationen zu versorgen und ihren Preisdaten Sinn zu verleihen. Stattdessen werden ihnen praktisch alle Informationen und

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nierende Devisenhandel, der auf relativ wenige Trading-Plätze weltweit verteilt ist, ist ein Markt, der tatsächlich global im eigenen Recht geworden ist. Er entbehrt (gegenwärtig) weitestgehend nationalstaatlicher Einflüsse, was seine grundlegende Funktionsweise angeht. Mit der DMFAS-Software praktiziertes Schuldenmanagement ist im Vergleich dazu von Büro zu Büro, von Hauptstadt zu Hauptstadt, relativ verschieden. FOREXS muss daher insgesamt als global-exklusives skopisches System bezeichnet werden (Knorr Cetina/Grimpe 2008: 182).7 Das Merkmal der globalen Inklusivität weisen auch viele andere globale Systeme auf. So wird z.B. noch deutlich werden, dass auch das IWF-System ein global-inklusives System ist. Ein anderes Beispiel aus der Medizin ist die „International Classification of Deseases“ („ICD“), ein von der WHO entwickeltes Klassifikationssystem für Krankheiten (vgl. Bowker/Star 1999). Krankenhäuser, einzelne Ärzte, Statistikbehörden, Versicherungsgesellschaften, Epidemologen und sogar Priester benutzen es weltweit, um die Ursachen von Krankheiten zu benennen (Bowker/Star 1999: 72, 110). Das übergeordnete Ziel dieses Klassifikationssystems besteht laut Bowker und Star darin, globale Krankheitsmuster erkennbar zu machen, etwa um die Ausbreitung von Seuchen rechtzeitig zu erkennen, und Informationen und finanzielle Ressourcen im globalen Maßstab zu koordinieren (1999: 17-19, 21). Gleichzeitig werde es nur in dem Maße auch tatsächlich von den Medizinern, Statistikbehörden, Priestern usw. benutzt, wenn es die loka-

der ganze Kontext, den sie zum Handel brauchen (z.B. auch Nachrichten über wichtige nationalpolitische Ereignisse), auf den Bildschirmen mitangezeigt bzw. „appräsentiert“ (Schütz/Luckmann 1994: 178). 7

Ein mit „global-exklusiv“ vergleichbarer Begriff ist „genuin global“: die elektronifizierten Märkte des internationalen Devisenhandels sind „genuinly global markets“, sie sind „collective disembodied systems generated entirely in a [global] symbolic space“ (Knorr Cetina 2005a: 38). Es sind hochgradig technologisierte Märkte, deren Funktionsweise fundamental mit derjenigen früherer Märkte bricht: Zum einen bilden nicht mehr Netzwerke den wesentlichen Rückhalt für die Händler-Interaktionen, sondern ein technologisch ständig reflexiv (re-)produzierter Informationsfluss („flow architecture“); zum anderen haben sich in der sozialen Organisation Zeitstrukturen vor Raumstrukturen gedrängt (vgl. Knorr Cetina 2005a: 39/40).

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len Krankheitserfahrungen und -vorstellungen ausreichend miterfasst. Dem ICD-System gelingt dies Bowker und Star zufolge nicht ganz; es mangele an Genauigkeit bei z.B. ländlichen tropischen Krankheiten (1999: 76). Allerdings würden die ICD-Entwickler dies insofern reflektieren, als sie mit dem Klassifikationssystem „no exaggerated claims to time-less truth“ erheben, sondern es als „fluid picture of the world of disease“ verstünden: „one that is sensitive to changes in the world […] and to the work practices of statisticians and record keepers“ (1999: 77). Genau dies trifft auch auf die DMFAS-Mitarbeiter zu: Es wird noch zu zeigen sein, dass auch sie das Schulden-Klassifikationssystem, dass sie in ihr eigenes Produkt eingebaut haben, immer wieder der Kritik der nationalen Softwarenutzer und der beiden Bretton Woods-Institutionen aussetzen, um es daraufhin fortwährend zu revidieren.8 Im Weiteren werden nun die Merkmale der DMFAS-Software als eines global-inklusiven Systems und damit die verschiedenen Komponenten der Grafik abgearbeitet. Als erstes werden drei skopische Grundfunktionen der Software untersucht, die Staaten die Selbstbeobachtung ihrer Schulden ermöglichen: Klassifizieren, Zentralisieren und Reflektieren. Danach wird der darüber hinausgehende globale Projektions- und Re-Projektionszusammenhang analysiert. Darauf folgt ein Ausblick auf ein zukünftiges skopisches System, nämlich die neue DMFAS-Software-Version 6.0, sowie auf eine neue WeltbankInitiative, die quasi Röntgenaufnahmen der Organisationsstrukturen nationaler Schuldenbüros fordert. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung.

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Dieser ständige selbstkritische Revisionsprozess in der IT-Entwicklung wird im sechsten Kapitel eingehender behandelt.

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3.2 S ELBSTBEOBACHTUNG : SKOPISCHE G RUNDFUNKTIONEN AUF R EGIERUNGSEBENE 3.2.1 Klassifizieren Das Klassifizieren ist eine der grundlegenden menschlichen Techniken, die Welt zu ordnen („to classify is human“, Bowker/Star 1999: 1). Die Entscheidung für die eine oder andere Klassifikationsweise ist immer auch eine Entscheidung darüber, wie die Welt – hier: die nationale Schuldenrealität – zu einem bestimmten historisch-kulturellen Zeitpunkt gesehen werden soll, oder auch schärfer formuliert: wer bzw. was dazugehören soll, und wer bzw. was nicht. Bowker und Star drücken dies so aus: „Each […] category valorizes some point of view and silences another“ (1999: 5). Allgemeiner gesprochen zeigt sich in Klassifikationsarbeit, welche soziale Ordnung etabliert oder stabilisiert werden soll (vgl. Desrosières 1998: 3). In diesem Abschnitt werden zwei Aspekte des Klassifizierens behandelt: zum einen das, was als grundsätzliches und prinzipiell unauflösbares qualitatives Dilemma internationaler Klassifikationen bezeichnet werden kann; zum anderen das, was das quantitative Komplexitätsproblem der Entwicklung einer Standardsoftware für relativ viele verschiedene Nutzer genannt werden kann. Beide Problematiken gründen empirisch in der Tatsache, dass die DMFAS-Software von derzeit 82 Finanzinstitutionen bzw. in 66 Ländern benutzt wird und auch an IWF- und Weltbank-Standards ausgerichtet ist; beide Problematiken sind dennoch auch unterschiedlicher Natur. Die Genfer DMFASExperten bemühen sich darum, die Software unter beiden Gesichtspunkten ständig weiter zu entwickeln. Im ersten Fall geht es dabei prinzipiell um – nie für alle Beteiligten zufriedenstellende – Umprogrammierungen grundlegender Kategorien in der Software. Scheint es deutliche neue internationale „Trends“, wie die Entwickler manchmal sagen, im Schuldenmanagement zu geben, so wird entsprechend die Änderung bestimmter grundlegender Softwarefunktionen in Betracht gezogen. Werden hingegen neue lokale Einzelbedürfnisse von verschiedenen Nutzern angemeldet, was bei 82 Nutzer-Institutionen häufig vorkommt, so resultiert dies eher in Programmergänzungen. Diese machen die Software im Zeitverlauf sozusagen dicker und dicker. Auf beide Varianten von Klassifikationsarbeit wird nun genauer eingegangen.

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Zunächst zum Dilemma internationaler Klassifikationen: Für eine Software, die von derzeit 66 Ländern rund um die Welt benutzt wird und der Weltbank sowie dem IWF als „Zulieferer“ für deren skopische Systeme dient, ist die Programmierung vorgegebener Schulden-Klassifikationen eine Aufgabe, die niemals zufriedenstellend erfüllt werden kann. Sie entspricht dem ständigen Balanceakt, den z.B. die Verfasser der internationalen Klassifikation für Krankheiten (ICD) vollführen müssen (vgl. Bowker/Star 1999). Eine internationale Klassifikation ist einerseits nur dann brauchbar, wenn sie einfache systematische Ländervergleiche ermöglicht, also wenn sie vollständig und konsistent ist. Sie ist aber andererseits ebenfalls nur dann brauchbar, wenn die Kategorien nicht über ganz unterschiedliche nationale Realitäten gestülpt werden und also Länder nur äußerlich vergleichbar erscheinen, obwohl die jeweiligen nationalen Vertreter ihre jeweilige empirische Realität ganz unterschiedlich erleben und bezeichnen. Man kann sich dieses Dilemma für die Ökonomie so vergegenwärtigen: Ein potentieller Investor wird sich bemühen, ein Land so genau wie möglich kennenzulernen, um daraufhin eine aus seiner Sicht möglichst gesicherte Investitionsentscheidung zu treffen. „Genau“ kennenlernen kann er dieses Land aber auch nur, wenn er dieses Land, auf der Suche nach Investitionsalternativen, anderen Ländern gegenüberstellt und dabei die Besonderheiten des ersten Landes in eine gröbere Vergleichssprache übersetzt. In die eine wie andere Richtung, d.h. hin zum Einzelfallwissen auf Landesebene oder hin zum Globalwissen über alle möglichen Länder hinweg, ist mit dem Erkenntnisgewinn eines Investors also auch immer Erkenntnisverlust verbunden. In Bezug auf nationale Schulden kann dieses Klassifikationsdilemma an folgendem Beispiel verdeutlicht werden. Schon so grobe Kategorien wie „externe“ und „interne“, „öffentliche“ und „private“ Schulden sind nicht eindeutig und ein für alle Mal zu bestimmen. Dies stellte sich während einer vom DMFAS-Programm in Buenos Aires vom 24. bis 28. April 2006 organisierten Konferenz für lateinamerikanische Länder heraus. Ein großer Teil der Seminardiskussion wurde auf transnationale Sprachpflege verwendet: auf die wechselseitige Rückversicherung über in möglichst allen Ländern geteilte Schuldenbegriffe. Dieser Abstimmungsprozess schloss Irritationen, Einwände und Unverständnis bei verschiedenen Teilnehmern ein. Die folgenden Ausschnitte veranschaulichen diese kollektive Sprachpflege. In der zitierten Situation besprechen die Teilnehmer gerade zwei von insge-

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samt über 80 verschiedenen Tabellen, die die DMFAS-Mitarbeiter Anfang 2006 für relevant hielten, um nationale Verschuldungssituationen adäquat darzustellen:9

Argentinien 1:

Ich denke nicht, dass es sehr gut ist, dass […] die öffentlich garantierten Schulden hier in dieser Weise dargestellt sind – und dass die anderen Unterkategorien dadurch nur implizit dargestellt sind.

DMFAS 1:

Ja, es sollte in drei Sektoren [d.h. drei Unterkategorien] unterteilt sein. […]

Argentinien 2:

Außerdem meine ich, es sollte in die zwei großen Gruppen „finanzieller öffentlicher Sektor“ und „nicht-finanzieller öffentlicher Sektor“ unterteilt werden. […]

DMFAS 2:

[Leitet die gesamte Diskussion:] Und [für Euch alle], wie wichtig ist diese Tabelle [überhaupt]?

Bolivien:

[…] [Kritisiert, wie hier “öffentliche Schulden” abgebildet sind.]

Paraguay:

[Zu dieser Kritik:] Aber man muss ja die Kontingenz10 anzeigen, dass dies einmal [öffentliche] Schulden werden könnten.

Bolivien:

Aber garantierte private Schulden sind öffentliche Schulden!

DMFAS 2:

Andere Meinungen?

Nicaragua:

Nein – es ist privat – nur wenn es nicht bezahlt wird, wird es öffentliche Schuld – und in diesem Sinne ist es kontingent. […] [Jemand fragt etwas]

DMFAS 2:

Nein, Kommissionen11 sind hier nicht drin. Ja? [Übergibt das Wort an einen anderen Schuldenmanager Argentiniens,

9

Das nachfolgende Zitat ist aus dem Spanischen übersetzt, es beruht auf Feldnotizen. Die – zum Teil wiederholt sprechenden – Ländervertreter und DMFAS-Mitarbeiter sind hier durch die Landesnamen bzw. „DMFAS“ abgekürzt und nummeriert. Die Hervorhebungen stammen von den Sprechern selbst.

10 Dieser Begriff bezieht sich auf „contingent liabilities“. Das sind langfristig erwartete Schulden, die sehr unsicher sind – in ihrer Höhe, und was den Zeitpunkt ihrer Fälligkeit angeht. Ein Beispiel sind die erwarteten zukünftigen Ansprüche von Rentenempfängern eines Staates.

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der sich dazu äußern möchte:] Argentinien 3:

Hm, es hängt von der Höhe der Kommissionen ab, oder?

Nicaragua:

[Zu DMFAS 2:] Kommissionen sind in der Tat wichtig.

DMFAS 2:

Wir haben hier also viel Diskussion – bei der Verbesserung der Unterkategorien […].

In diesem Beispiel wird u.a. das begriffliche Verhältnis von öffentlich garantierten privaten Schulden und öffentlichen Schulden diskutiert. Öffentlich garantierte private Schulden sind ein interessanter paradoxer Klassifikationsfall: Wem sind solche Schulden nun zuzurechnen – dem betreffenden privaten Akteur, der eventuell seinen Zahlungsverpflichtungen in der Zukunft nicht nachkommen wird? Oder der Regierung, die in diesem Fall, aber eben auch nur möglichen Fall, zahlt? Dies kann, wenn es viele öffentlich garantierte private Schulden in einem Land gibt, zu erheblichen Unterschieden in der staatlichen Buchhaltung und damit der ausgedrückten nationalen Verschuldung führen. Auffällig sind in diesem Beispiel außerdem die Phrasen „es ist privat“ oder „private Schulden sind öffentliche Schulden“, mit denen Realität festgelegt wird; die Verhandlungen darüber, was wie sichtbar gemacht werden sollte in der Tabelle („man muss ja die Kontingenz anzeigen“); und was die Tabelle gar nicht erst enthalten sollte, oder gerade doch (hier: die Kommissionen). Darin zeigt sich insgesamt das Bemühen, gemeinsam zu bestimmen, wie die Schuldenrealität eines Staates begrifflich zu fassen und sichtbar zu machen ist, d.h. was sie ist in der Sprache der Teilnehmer, und was sie auch nicht ist, und was entsprechend in den Tabellen vorrangig, gar nicht oder nur untergeordnet dargestellt werden muss. In solchen transnationalen Diskussionsrunden klassifizieren und also ordnen sich nationale Schuldenmanager ihre Schuldenrealität im Verhältnis zu den anderen Schuldenrealitäten anderer nationaler Schuldenmanager. Transnationale Schuldenmanager wie diejenigen des DMFAS-Programms lernen von diesen diskursiven Ordnungsaktivitäten. Die wiederkehrenden Konferenzen sind immer wieder die Gelegenheiten für diese kollektive Sprachpflege. Viele der Sprechakte auf den Konferenzen hinterlassen letztlich auch ihre Spuren in der DMFAS-Software, in Form von Reprogrammierungen. Das heißt, es

11 „Kommissionen“ sind besondere Gebühren, die neben den eigentlichen Raten zur Rückzahlung des Kredits und den Zinsen oft erhoben werden.

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sind folgenreiche Sprechakte, die einen merklichen praktischen Unterschied in der Welt machen – hier: einen Unterschied in der weltweit benutzten Software und so auch im mit dieser Software wiederum betriebenen Schuldenmanagement (vgl. Smith 2005: 10-11).12 Nun zur zweiten Klassifikationsproblematik, mit der die Genfer Entwickler konfrontiert sind: das quantitative Komplexitätsproblem. Die Genfer versuchen, gleichzeitig 66 Länder bzw. 82 Finanzinstitutionen, in denen das nationale Schuldenmanagement immer etwas anders praktiziert wird, mit nur einer Standardsoftware zu „versorgen“. Wie kann dies gehen? Die Antwort auf diese Frage lässt sich am besten grafisch veranschaulichen. Die folgende Darstellung gibt zunächst nur die dünne oberste „Schicht“ der DMFAS-Software, nämlich die linke Seite des horizontal über den oberen Teil des Bildschirms verlaufenden Hauptmenüs, wider: Abbildung 9: Das DMFAS-Hauptmenü File

Administration

Mobilize

Service

Report

Analysis

Utilities

Quelle: eigene Darstellung nach DMFAS 2004, Kap. 3: 4

Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht demgegenüber die Tiefenstruktur, d.h. den weit verzweigten Raum, der sich in der DMFASSoftware unterhalb dieser ersten Schicht auftut. Man beachte dabei, dass hier aus Platzgründen nur die Funktionen unter dem Punkt „Administration“ dargestellt sind; die Menüpunkte „Mobilize“ etc. wurden weggelassen. Und auch innerhalb dieses Ausschnitts ist nur ein einziges Bildschirmfenster ausführlicher wiedergegeben: „Page 1“ der

12 Dass es sich lohnt, Diskurse kulturtheoretisch zu analysieren (etwa den Diskurs auf den hier erwähnten Schuldenkonferenzen), statt sie als „window dressing“ im Vordergrund vermeintlich handfesterer Handlungen abzutun, macht Smith am Beispiel von Kriegen deutlich (Smith 2005: 10). In einem öffentlichen Diskurs, in dem sich Pro- und Contra-Meinungen über einen eventuellen Krieg formieren, werde Legitimität für oder gegen Kriegshandlungen erzeugt. So sei z.B. ein Krieg ohne ein – sprachlich produziertes – „cultural mandate“ in der Praxis harte Arbeit: „It drains morale, sometimes secrecy is required that limits effectiveness, there is dissent, parliaments become noisy and editorials shrill, budgets are hard to justify, and deaths even more so” (Smith 2005: 11).

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Ordnungsebene „General Information“. Danach sind nur noch beispielhaft einzelne Funktionen oder die Anzahl der vorgefundenen verschiedenen Felder (für Dateneingaben) in den zahlreichen weiteren Bildschirmfenstern angeführt.13 Abbildung 10: Die DMFAS-Tiefenstruktur Administration Loans General Information  Page 1 [Eingabefelder:] Loan Id; Status14; Name; Creditor Ref.; Other Reference; Debt Source15; Maturity16; IBRD Ref.; Date Signed; Date Effective Limit; Date Authorized; Authorization ID; Date Drawing Limit; Date Effective; Authorization Type17; Amount; Base Currency18; [Ankreuzfelder:] Syndicated; Currency Pool; [Buttons:] Find; New; Save; Exit; >>; Other Participants; Amendment History; Status History; Share Trade; Fund; Revolving – Page 2: […] Page 3: [Überschrift:] User-Defined Fields  Other Participants  [Eingabefelder:] Name19; Participation Type20; Amount; Percentage Notes21 Amendment History  [diverse Eingabefelder] Status History  [diverse Eingabefelder] Share Trade  [diverse Eingabefelder] Fund  [diverse Eingabefelder] Revolving  [diverse Eingabefelder]

13 In der Abbildung sind einige Begriffe mit Fußnoten versehen, um aufzuzeigen, dass sich in der DMFAS-Software dahinter noch weitere Funktionen bzw. Begriffe verbergen. Diese sind nachfolgend so weit wie möglich wörtlich wiedergegeben (einiges ist nur grafisch richtig verständlich). Auslassungen sind durch eckige Kammern markiert – eine vollständige Darstellung wäre unübersichtlich. 14 Active Loan - 0; Cancelled Loan - 2; Fully Paid - 1; Hypothetical - 4; Loan in Pipeline - 3; Written off – 6 […]; 15 Domestic – 2; External - 1 16 Medium/Long term; Short term 17 Decree – 2; Law – 1; Resolution – 3; […] 18 African Currency Unit - AFU; African Dev. Fund Unit – ADF […] 19 African Development Fund – 27 […] 20 Creditor Insurer - 40 21 „!“-Buttons […]

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Tranches  Characteristics, User-Defined Fields [10 Eingabefelder] [...] Allocation  [diverse Eingabefelder]  Allocation Details Participants  [diverse Eingabefelder] Onlending Fund Usage  [diverse Eingabefelder] Drawings  [diverse Eingabefelder] Interest  Interest, Penalty Interest [14 Eingabefelder] Rate Values Parameters Special Conditions Other Penalty Rates Principal  Payment Schedule [10 Eingabefelder] Parameters Amortization Table [6 Eingabefelder] Capitalization sch.; [4 Eingabefelder] Commission Terms; [21 Eingabefelder] Bonds General Information Series Commission Terms On-lent Loans General Information Tranches Commission Terms Grants Projects General Agreements Reorganization Reference Files Participants Bank Accounts Exchange Rates Common Interest Rates Budget Lines Commercial Interest Ref. Rates Maturity Groups Interest Rate Groups Euro national Currency Units Funds Historical Exchange Rates Reports Loans  Loan Information Sheet Tranche Information Sheet Loan Account Statement Amortization Table Bonds

94 | Ö KONOMIE SICHTBAR MACHEN  Loan Information Sheet Series Information Sheet Loan Account Statement Amortization Table Grant Information Sheet Terms of Agreed Minutes Project Information Sheet Reference Files Participants Exchange Rates Funds Utilities Loans Copy a Loan Delete a Loan Reclassify a Loan Delete Tranche Copy Tranche Bonds Copy a Bond Delete a Bond Reclassify a Bond Copy Series Delete Series

Quelle: eigene Erhebung, 1.2.2006

In dieser Tiefenstruktur der DMFAS-Software liegt die technologische Antwort auf die quantitative Komplexitätsproblematik.22 Konkret gibt

22 In der DMFAS-Software gibt es zudem hinter dieser unmittelbar zugänglichen Tiefenstruktur noch ein zweite versteckte Struktur, die dem einfachen Softwarenutzer im Alltag nicht zugänglich ist, sondern nur über einen Browser zu erreichen ist (für avancierte Schuldenmanager bzw. ITExperten). Die DMFAS-Mitarbeiter nennen diese Struktur kurz „DMFAS tables“; sie erlaubt es beispielsweise, Funktionsstörungen zu erkennen. Hier sind hintergründige Verknüpfungen zwischen einzelnen Feldern, die in den Bildschirmfenstern – wie dargestellt in Abbildung 10 – äußerlich getrennt voneinander liegen, erkennbar. Das heißt, auf der tieferen Ebene ist nachvollziehbar, in welcher Weise Dateneingaben bzw. Veränderungen in der einen „Ecke“ der Software auch zu Veränderungen in einer anderen „Ecke“ führen. Dieses hintergründige Tabellensystem ist in jeder DMFAS-Version 5.3, ob es sich nun um eine englisch-, französisch-, spanisch- oder arabischsprachige Version handelt, in englischer Sprache programmiert. Ein DMFAS-Mitarbeiter äußerte sich zu diesem System einmal kritisch wie folgt (1.9.2008, sinngemäß nach Feldnotiz): „Es gibt Tabellen sozusagen hinter dem Bildschirm, die der Nutzer nicht sieht. Er

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es drei Arten von Freiräumen, die die DMFAS-Entwickler für die verschiedenen Nutzer an vielen Stellen dieser tiefen Baumstruktur eingebaut haben. Es sind erstens die „user-defined fields“, in denen Nutzer eigene wichtige Kategorien definieren können, zweitens die expliziten Datenfelder für Bemerkungen („remarks“) und drittens die „lists of values“, in denen zusätzlich Werte – d.h. Definitionen, was als valide Dateneingabe gilt – eingetragen werden können (dies gilt nur für die eine der beiden Typen von Listen, die sog. „offene“ Liste; es gibt auch „geschlossene“). Einige der Begriffe, mit denen in der Software „lists of values“ und „user-defined fields“ verknüpft sind, sind in der obigen Abbildung unterstrichen. Zudem gibt es zwei Momente, die Komplexität der DMFASSoftware zugunsten von immer mehr Nutzungsmöglichkeiten quantitativ zu steigern, die in dem für Abbildung 7 gewählten taxonomischen Darstellungsmodus nicht erkennbar sind: Zum einen wird die Software angesichts permanent in Genf eingehender Anfragen der weltweiten Softwarenutzer fortwährend im Zeitverlauf Programmerweiterungen unterzogen.23 Eine große Programmerweiterung war z.B. das „bonds module“; es markiert eine wichtige Veränderung der DMFAS-Version 5.3 gegenüber der Vorgänger-Version 5.2 (vgl. DMFAS 2004a, Kap. 1: 5). In dem Maße, in dem sich Länder (welche die DMFAS-Software benutzen) stärker dem Kapitalmarkt öffnen und u.a. differenzierte Staatsanleihen ausgeben, gewinnt dieses Modul an Bedeutung. Kleinere Programmerweiterungen werden als „patches“ (Pflaster) bezeichnet und der jeweiligen aktuellen DMFAS-Software nicht nur technisch, sondern auch in Bezug auf die Namensgebung „angeklebt“. Zur Zeit der Feldforschung war man gerade bei Version 5.3 mit patch 54 angekommen, die Software wurde entsprechend „DMFAS 5.3.54“ genannt.

braucht ja auch nur zu wissen, dass er alles korrekt eingegeben hat. Beispielsweise hinter ‚General Information‘ sind noch 2 [3?] Tabellen, die bei Eingabe mit-ausgefüllt, mit-bearbeitet werden. Zu denen bekommt man Zugang über Oracle Browser. Die Tabellen sind teilweise untereinander verknüpft, z.B. die Schuldvertrags- und die Zinsinformationen. Die Namen der Tabellen sind oft gar nicht so eingängig für den gewöhnlichen Nutzer – vor allem, wenn er nicht Englisch versteht, denn alle Tabellen sind auf Englisch. Die Tabellennamen sind Abkürzungen […]. Beispiel: Tabelle PARTS, was für „participants“ steht. Das ist nicht evident!“ 23 Siehe dazu ausführlicher das sechste Kapitel.

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Über die Jahre wurden und werden bis heute in Version 5.3 also buchstäblich immer mehr Funktionen angehäuft, so dass die Software immer komplexer geworden ist. Ein langjähriger DMFAS-Mitarbeiter beklagte einmal in diesem Zusammenhang, Version 5.3 sei über die Zeit sehr schwerfällig geworden (Interview vom 1.2.2006). Seit einiger Zeit arbeitet man in Genf deshalb an einer technisch ganz neuen Architektur der DMFAS-Software. Seit Mitte 2009 wird diese neue Version 6.0 in den ersten Ländern installiert (Informationsstand aus der letzten Phase der Datenerhebung, 3. – 5.6.09). Zum anderen gibt es zahlreiche Querverbindungen oder auch Übergänge zwischen den oben abgebildeten Feldern bzw. Funktionen und anderen Feldern bzw. Funktionen unter anderen Menüpunkten. Dadurch wird die Software insgesamt zu einem vielfältig verschachtelten „Gebäude“, durch das der jeweilige Softwarenutzer bei der Datenverarbeitung auf sehr unterschiedlichen „Wegen“ gehen kann – bald in dieses, bald in jenes „Einzelzimmer“ hinein. Die Argentinier z.B. frequentieren das bereits erwähnte neue Modul für Anleihen relativ häufig (ca. die Hälfte ihrer nationalen Schulden sind Anleiheschulden; vgl. Mecon 2006). Die Indonesier, die fast keine Anleihen ausgegeben haben, werden es dagegen selten „betreten“. Demgegenüber müssen sie wiederholt die Funktionsbereiche für die anspruchsvolle Kalkulation von Krediten des Asiatischen Entwicklungsfonds aufsuchen (vgl. AsDF 2008). Die DMFAS-Software weist also zahlreiche nationalkulturelle Benutzungsnischen und „Laufwege“ auf. In der Theorie skopischer Systeme, die ursprünglich am Interbanken-Devisenhandel entwickelt wurde, wird ein solches „Sich-Einrichten“ in Bildschirmräumen bereits thematisiert, wobei hier eine etwas andere Ausgangssituation herrscht. Der Devisenmarkt ist ein global-exklusiver Markt, die dort benutzten skopischen Systeme sind global-exklusive Systeme (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008: 182). Das heißt, es fehlen dort die zahlreichen nationalkulturellen Benutzungsnischen, die für ein global-inklusives System wie die DMFAS-Software typisch sind. Doch auch für die Devisenhändler gilt laut Knorr Cetina und Preda, dass sie den auf ihren Bildschirmen dargestellten Markt, der aus „begehbaren“ Regionen bestehe, in verschiedenen Weisen „bewohnen“: „The screen that rolls out the life-world in which traders move [...] constitutes a complex environment composed of ,walkable’ regions and of horizons that

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ground activities. […] [T]raders are able to deal with this flux [des Marktes]; their ways of ,inhabiting’ it are adapted to the time-world they confront” (Knorr Cetina/Preda 2007: 131; vgl. Knorr-Cetina/Bruegger 2002b).

Für die bisherige Theorie skopischer Systeme stellen die bedeutungsgeladene Tiefenstruktur der DMFAS-Software, d.h. die Tatsache, dass diese Technologie eigentlich einem weit verzweigtem, vielfältig ausgestattetem Bildschirmraum mit unterschiedlichen nationalkulturellen Nischen gleichkommt, sowie die ständige Umgestaltung des Systems im Zeitverlauf, eine wichtige Erweiterung dar. Die vermeintlich selbe DMFAS-Software erlaubt in unterschiedlichen historischen und nationalkulturellen Kontexten eine auch immer etwas verschiedene Produktion ökonomischer Daten. Die Beobachtung von nationaler Verschuldung in solchen verschiedenen Kontexten ist eine einerseits immer vergleichbare, andererseits immer auch etwas verschiedene Praxis. Übergeordnet lässt sich für die Theorie skopischer Systeme schlussfolgern: Verschiedene skopische Systeme implizieren verschiedene „Wohnverhältnisse“. Die Benutzer eines global-exklusiven Systems etwa, vergleicht man sie untereinander, scheinen dieses sehr ähnlich zu „bewohnen“ (wie z.B. FOREXS im Interbanken-Devisenhandel, vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008: 162). Die jeweils nationalen Bewohner eines global-inklusiven Systems wie z.B. der DMFAS-Software hingegen richten sich, vergleicht man sie untereinander, relativ unterschiedlich ein. 3.2.2 Zentralisieren Wie kann nationale Verschuldung kompakt zusammen-gesehen werden? Die DMFAS-Software erlaubt die zentrale Sammlung, Speicherung und Weiterverarbeitung zahlreicher heterogener und andernfalls räumlich weit verstreuter Daten. Nationale Verschuldung wird in nicht mehr als der Bildschirmgröße eines PCs sichtbar gemacht. Zentralisierung in dieser Form der extrem verdichteten Sichtbarmachung verstreuter Daten ist nach Knorr Cetina eine Grundfunktion skopischer Systeme: „Like an array of crystals acting as lenses that collect light, focusing it on one point […], [scopic systems] collect and focus activities, interests, and events on one surface […]. The system acts as a centering […] device through which

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things pass […]. The technical systems gather up a life-world while simultaneously projecting it.” (Knorr Cetina 2005a: 40-41).

Wie Zentralisierung im Fall der DMFAS-Software genau funktioniert, soll nun in drei Schritten von der Einzelfallebene eines Kredits bis zur Aggregatebene aufgezeigt werden. Auf der Aggregatebene, d.h. der Operation mit ganzen Kreditgruppen bis hin zur Darstellung der Gesamtsumme der Verschuldung, wird der Nutzen speziell von Computern deutlich. Ihre Rechenleistung kann nicht mehr durch Menschen erbracht werden; die Sicht der Dinge, die sie bieten können (hier: nationale Verschuldung insgesamt), kann keine andere Seinsform leisten. Insofern kann ein skopisches System wie die DMFAS-Software als akteursähnliche Seinsform im eigenen Recht begriffen werden (vgl. Knorr Cetina 1997; Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; Braun-Thürmann 2002).24 Anhand der folgenden beiden Screenshots der aktuellen DMFASVersion 5.3 wird zunächst gezeigt, wie wichtige Daten eines einzelnen Kredits abgebildet werden (vgl. DMFAS 2004, Kap. 9: 17 ff.). Danach wird erläutert, wie die zentrale Zusammenschau eines mehrjährigen Kreditverlaufs möglich ist, nämlich mit sog. „Amortisationstabellen“.25 Schließlich wird an einem Schuldenbericht von Burkina Faso deutlich gemacht, wie sich ganze Kreditgruppen in Bildschirmgröße zusammen-sehen lassen.

24 Dass und wie genau eine solche globale technologische Seinsform auch aufwendig umsorgt werden muss, wird im sechsten Kapitel behandelt. 25 Debt natives sagen, dass Schulden „amortisiert“ werden. Dies ist ein gängiger, aber mehrdeutiger betriebswirtschaftlicher Grundbegriff (vgl. z.B. Büschgen 1992: 52 zu vier unterschiedlichen Bedeutungen). Im vorliegenden Fall heißt „amortisieren“, „über Zeit“ eine Schuld zu begleichen (Bannock/Manser 2003: 8). Noch genauer ist eine Amortisation die „planmäßige Rückzahlung einer Schuld nach einem im Voraus festgelegten Tilgungsplan“; dieser Tilgungsplan ist eine „Aufstellung der Art und Höhe der Tilgung in Teilbeiträgen über die Laufzeit“ eines Kredits (Büschgen 2006: 24, 896). Die erwähnte Aufstellung erfolgt im hier untersuchten Feld sehr oft im Format von Tabellen.

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Abbildung 11: Das Bildschirmfenster „Geneeral Information“, erste Seite

Quelle: Interview mit dem IT-Chef des DMFAS-Programms, 1.2.2006

Abbildung 12: Das Bildschirmfenster „Geneeral Information“, zweite Seite

Quelle: a.a.O.

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In den beiden Abbildungen ist beispielhaft zu sehen, wie ein kommerzieller Kredit registriert wird. In diesem Fall ist es ein frei erdachter Kredit, den die DMFAS-Softwareentwickler in Genf am 1.02.2006 zu Testzwecken benutzten – daher sein ungewöhnlicher Name „test DSO“. Die beiden Screenshots können wie folgt gelesen werden: Es handelt sich um eine externe Schuld („Debt Source EXTERNAL“) in der Gesamthöhe von einer Million siebenhunderttausend US-Dollar („Amount 1,700,000.00“; „Base Currency USD“) mit einer mittleren bis langfristigen Laufzeit, d.h. über einem Jahr („Maturity MEDIUM/ LONG TERM“). Der Schuldner („Debtor“) ist das Ministerium für Wasser und Entwicklung („MIN OF WATER x. DEV.“). Das Ministerium wird hier als „PRIVATE“ klassifiziert. Dies ist eigentlich unpassend – DMFAS-Mitarbeiter würden normalerweise eindeutig den Begriff „PUBLIC“ zuweisen. Die Abweichung kann mit der Tatsache zusammenhängen, dass es sich um einen fiktiven Kredit zu Testzwecken handelt. Gläubiger („Lead Manager“) ist die „Continental Bank N.A.“. Diese Bank ist ein „privater Gläubiger“ („Lender Category PRIVATE CREDITORS“), und sie ist innerhalb dieser Kategorie als kommerzielle Bank eingeordnet („Creditor Type COMMERCIAL BANKS“). Der Kreditvertrag wurde am 01.01.2002 unterzeichnet („Date Signed“), die erste Ausschüttung kann an eben diesem Tag erfolgen („Date Effective“), der letztmögliche Termin für eine Ausschüttung ist der 31.12.2002 („Date Drawing Limit“). Dieser Kredit ist für die Finanzierung eines oder mehrerer Projekte bestimmt („Purpose FINANCING OF PROJECTS“). Er besteht aus mehreren „Tranchen“, d.h. Teilkrediten („Tranche Management TRANCHES/SERIES“). Dies sind alles Informationen, die so oder ähnlich in Kreditverträgen enthalten sind. Die Softwarenutzer sollen mit dem Abschluss eines Kreditvertrags idealerweise – d.h. aus Sicht der DMFASEntwickler – die oftmals über sehr viele Seiten im Vertragsdokument sowie in Zusatzdokumenten verstreuten Informationen in diesen überschaubaren Bildschirmfenstern eintragen. Letztlich hat diese einfache Übertragung einen enormen Zentralisierungseffekt: Der User kann in wenigen Sekunden von diesen Informationen über einen bestimmten Kredit zu allen möglichen anderen Krediten mit anderen Basisdaten springen, indem er jeweils eine andere Kredit-Identifikationsnummer eintippt (siehe „LOAN ID.“ links oben in Abbildung 11). Im Aggregat betrachtet kann man sich also in Sekundenschnelle einen Überblick

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über sehr viele Daten verschaffen, die sonst auf verschiedenste Textstellen in umfangreichen Vertragsdokumenten und auf Bürowände voller Ordner verteilt sind – oder auch noch weiter verstreut in verschiedenen Regierungseinheiten lagern.26 Anhand der beiden Screenshots wird unmittelbar die systematische Bedeutung von Vorleistungen im Bereich des Klassifizierens, das im letzten Abschnitt behandelt wurde, deutlich. Skopische Systeme im Schuldenmanagement können nur dann nationale Schulden zusammen-schaubar machen, wenn sie die zahlreichen und heterogenen Daten rigoros klassifizieren. Diese wechselseitige Bedingtheit von rigoroser Klassifikationsarbeit und effektiver, äußerster Zusammenschau leuchtet am meisten ein, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die DMFAS-Software es schafft, wiederum auf nicht mehr als DIN-A-4Bildschirmfläche die mehrjährigen Verläufe einzelner Kreditbeziehungen sowie den Zustand ganzer Kreditgruppen darzustellen. Dies gelingt durch das Format der Tabelle. Die Tabelle ist der übersichtliche „Tisch“, auf dem Klassifikationsarbeit konkret geleistet wird (Foucault 1997: 19).27 Die Tabelle ist außerdem laut Yates in komplexen Organisationen das zweiteffektivste Genre zur Kommunikation, übertroffen nur noch von der Grafik (Yates 1989: 84).

26 Bereits die Lagerung aller Papierdokumente zu Schuldvereinbarungen an zentraler Stelle stellt nicht den Regelfall dar. So kritisierte etwa ein DMFAS-Mitarbeiter die Verwaltung der Akten in einem afrikanischen Land (Feldnotizen, 18.8.2004): „Selbst wenn sie [die Schuldenmanager dieses Landes] Akten besitzen – im Grunde haben sie keine, auch wenn sie es anders sehen. Denn man kann da nicht hingehen, einen Ordner rausziehen und da alles über einen Kredit finden“. 27 Foucault verwendet das Wort „Tisch“ (franz. „table“) im metaphorischen Sinn als „Tableau, das dem Denken gestattet, eine Ordnungsarbeit mit den Lebewesen vorzunehmen, eine Aufteilung in Klassen, eine namentliche Gruppierung, durch die ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede bezeichnet werden, dort, wo seit fernsten Zeiten die Sprache sich mit dem Raum kreuzt“ (Foucault 1997: 19).

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Abbildung 13: Amortisationstabelle

FAS-Programms, 1.2.2006 Quelle: Interview mit dem IT-Chef des DMF

D gespeicherte Diese Abbildung zeigt eine in der DMFAS-Software Amortisationstabelle, also den Zeitplan n für die stufenweise Tilgung eines Kredits („schedule“, DMFAS 200 04a, Kap. 11: 3). Im vorliegenden Fall handelt es sich wieder um den n obigen kommerziellen Kredit für Testzwecke. In der ersten Spalte steh hen die Termine für die Finanztransaktionen innerhalb der Laufzeit dees Kredits. Die drei wichtigsten Transaktionsarten sind daneben in der zweiten z bis vierte Spalte aufgeführt: die Ausschüttungen, die Rückzah hlungen und die Zinszahlungen. Die „Total“-Zeile zeigt jeweils die Geesamtsumme, die am Ende der Laufzeit des Kredits für diese drei Trransaktionsarten anfällt.28 Eine DMFAS-Mitarbeiterin sagte einmal, fü ür sie sei das Software-Funkti-

28 Die Summe der Rückzahlungen müsstte eigentlich der Summe der Ausschüttungen entsprechen. Die Abweicchung hängt nach Auskunft einer später befragten DMFAS-Mitarbeiterin n (3.6.2009) mit einer bestimmten Systemeinstellung zur Rundung von Scchuldbeträgen zusammen, die nicht als technischer Rechenfehler einzustufeen sei.

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onspaket „Amortization Table“ das „Herz“ der Software (Feldnotiz, 1.9.04).29 Nun ist die Zusammenschau ganzer Gruppen von Krediten näher zu untersuchen. Die folgende Abbildung ist ein Beispiel dafür: Abbildung 14: Bericht über die Gesamtschulden von Burkina Faso

Quelle: Felddokument, 22.09.2004

29

Diesen Ausdruck wiederholte sie im Gespräch später noch einmal. „Herz“ passt zur physiologischen Perspektive, die im sechsten Kapitel auf die Software eingenommen wird.

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Im vorliegenden Fall, der ersten von insgesamt drei Seiten eines Berichts, handelt es sich um eine mit der DMFAS-Software produzierte Aufstellung aller ausstehenden öffentlichen Schulden von Burkina Faso („ENCOURS“), unterschieden entlang der Kategorie „Gläubiger“ („CREANCIER“). Man sieht oben als erstes die Gesamtschulden („GRAND TOTAL“), unterschieden nach 17 Währungen, u.a. Euro („EUR“) und US-Dollar („USD“). Dann folgen alphabetisch geordnet alle Gläubiger untereinander (Länder wie Algerien, aber auch multilaterale Organisationen wie BAD, die Afrikanische Bank für Entwicklung). Diesen ist – wiederum unterschieden nach Währungen – zugeordnet, wie hoch die Summe ist (in Tausend), die Burkina Faso jeweils am 31.12.2003 schuldet („devise des tranches (originale)/ milliers“). Dieser Bericht wurde im September 2004 unter Anleitung eines DMFAS-Experten von den Mitarbeitern des Finanzministeriums von Burkina Faso erstellt. Mit einer solchen Daten-Aggregation wird im Prinzip die Ordnungsfunktion eines einzelnen „Tableau“ noch gesteigert (Foucault 1997: 19).30 3.2.3 Reflektieren Als nächstes wird erläutert, wie ein skopisches System zum Zweck noch stärkerer Zentralisierung eingerichtet werden kann: als eine Art Großsystem, das grundsätzlich dezentral arbeitende nationale Verwaltungseinheiten an bestimmten Punkten verknüpft. Mit anderen Worten, es wird aufgezeigt, wie die Zusammen-Schau von Schuldendaten auch bei institutioneller Auffächerung möglich ist. Integrierte Finanzmanagementsysteme, in denen die DMFAS-Software ein Teilsystem unter mehreren anderen – z.B. Budgetierungssystem – ist, sind solche skopischen Großsysteme: Sie leisten eine institutionelle Zusammen-

30 Im vorliegenden Fall gilt ganz besonders „im Prinzip“. Denn der abgebildete Bericht enthält eine taxonomische Irritation, die eine eindeutige Zentralisierung wahrscheinlich verhindert. So ist „Burkina Faso“, also der Schuldner selbst, unter den Gläubigern mit aufgeführt (siehe unterer Bildrand). Der DMFAS-Experte sprach die örtlichen Schuldenmanager im September 2004 darauf an. Leider hat die Verfasserin aber keine Feldnotizen über deren Erwiderung vorliegen, so dass keine eingehende Interpretation dieses Aspekts möglich ist.

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schau (vgl. Borresen/Cosio-Pascal 2002: 22). In nationalen skopischen Großsystemen werden die Zustände der miteinander integrierten skopischen Teilsysteme permanent wechselseitig ineinander reflektiert. Dieser Pingpong-artige Reflexionsprozess dient aus Sicht der Teilnehmer des Feldes einer übergreifenden Prozesskontrolle – hier konkret der Bekämpfung von Korruption. Auf beide Aspekte, den in theoretischer Hinsicht bemerkenswerten Reflexionsprozess und diesen praktischen Nutzen, ist nun näher einzugehen. Permanente, hin und her wechselnde Reflexion in einem skopischen Großsystem kommt einer Intensivierung der skopischen Grundfunktion der Reflexivität gleich (vgl. Knorr Cetina 2005a: 41). Dass und wie skopische Finanzsysteme grundsätzlich reflexiv arbeiten, hat Knorr Cetina am Beispiel des internationalen Devisenhandels gezeigt. Dort gebe es gar keine „pre-reflexive“ Realität mehr, die Händler reagierten auf eine immer schon „reflektierte, repräsentierte [Markt]Realität“, die sie auf ihre Bildschirme „projiziert“ vorfänden (Knorr Cetina 2005a: 40). Diese Marktrealität, so Knorr Cetina, veränderten die einzelnen Händler immer wieder selbst, nämlich durch ihre jeweiligen neuen Kaufs- und Verkaufsentscheidungen; und der so ständig erneuerte Markt werde immer wieder auf jeden Händler-Bildschirm projiziert. Wie funktioniert dieser Reflexionsprozess im Fall des nationalen Schuldenmanagements konkret? Das lässt sich zunächst anhand eines praktischen Beispiels über integrierte Finanzmanagementsysteme als Antikorruptionsinstrumente deutlich machen. Eine Mitarbeiterin des DMFAS-Programms wurde dazu befragt, ob und wenn ja, inwiefern über Technologien – hier war konkret die DMFAS-Software gemeint – Standards und Kontrolle in Länder hineingetragen werden können (informelles Gespräch vom 2.8.2004). In ihrer ausführlichen Antwort kam sie von sich aus auf integrierte Finanzmanagementsysteme zu sprechen (Feldnotizen): Ja, das wissen wir eben oft nicht, wie weit [die durch DMFAS erzielte] Kontrolle [der nationalen Schuldenmanager vor Ort] tatsächlich reicht – nein, es gibt kein späteres Checken bzw. kein Auditing, obwohl das nötig wäre – Audit wäre gut – doch das lassen die Länder ja auch nicht ohne weiteres mit sich machen, werden sagen: „warum durch UNCTAD? Wir haben doch unsere eigenen Auditors.“ Wir von DMFAS, wir sind ja vor allem BWLer und VWLer, keine Auditors. Aber vielleicht wird ja so was mal durch die Wadmo [internationale

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Vereinigung von Schuldenmanagern] eingeführt. Das könnte auch nicht anders als über Zuckerbrot und Peitsche mit diesen Ländern laufen. – Allerdings: auch durch integrierte Finanzmanagementsysteme […] [gibt es] stärkere Kontrolle. Korruption [ist] dadurch nicht mehr so leicht möglich. Verknüpfung von Accounting, Treasury, Budget … und überall wird Ausgabe/Einnahme verbucht – auch der letzte Bleistift. Es kursiert ein Geschichte über Kolumbien, als dieses noch kein integriertes Finanzsystem gehabt hat. Die geht so: Ein Mitarbeiter hat am Freitag seinem Chef ‚noch schnell’ ein payment order [Zahlungsanweisung] vorgelegt, die dieser auch nichtsahnend noch schnell unterschrieben hat; der Mitarbeiter hat dann übers Wochenende seine Koffer gepackt und ist mit der ganzen Familie in die USA geflogen, wo das Geld nämlich eigentlich hintransferiert wurde; man kam erst am Dienstag darauf, dass da was nicht stimmte – doch dann war das Geld auch wiederum woanders weitertransferiert, man hat ihn wohl nicht wiedergefunden. In solchen Ländern ist es auch einfacher, so wegzukommen. 12 Millionen Dollar. Anschließend haben sie auf alle Fälle ein integriertes Finanzmanagementsystem gewollt.

Anhand dieses Beispiels lässt sich nachvollziehen, dass Selbstbereicherung ein für komplexe arbeitsteilige Organisationen typisches Problem ist (der Chef unterschreibt eines von vielen Dokumenten einer Organisation, über die er niemals den vollständigen Überblick haben kann). Ob die Geschichte im Detail wahr oder eher Anekdote ist, spielt hier keine Rolle; sie macht in jedem Fall zutreffend den grundlegenden Organisationswandel, der mit einem integrierten Finanzmanagementsystem erzielt werden kann, greifbar. In den Worten der zitierten DMFAS-Expertin besteht dieser Wandel z.B. darin, dass noch so geringe Werte wie „der letzte Bleistift“ in einem nun von allen relevanten ökonomischen Akteuren einsehbaren virtuellen Raum sichtbar und weiter verfolgbar werden. Die einzelnen Merkmale dieses Organisationswandels können nun am Beispiel des im argentinischen Finanzministerium installierten integrierten Systems herausgearbeitet werden. Man sieht hier, wie systematisch Reflexionsmöglichkeiten in die einzelnen Teilsysteme dieses skopischen Großsystems eingebaut sind. Durch solche Reflexionsfunktionen wird das Schuldenmanagement in einen Fließprozess verwandelt, und die beteiligten Schuldenmanager werden zu doppelgesichtigen Akteuren, die gleichzeitig passive Rezipienten und aktive Gestalter der (immer wieder reflektierten, fließenden) Schuldenrealität sind. Alle drei Merkmale – Reflexivität, Flusscharakter und doppelge-

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sichtige ökonomische Akteure – sind Merkmale einer skopischen Produktion und Reproduktion von Realität, wie Knorr Cetina und Preda für den internationalen Devisenhandel konstatieren: „The [scopic] system acts as a centering and mediating device through which things pass and from which they flow forward. [T]he reflexive mechanism and ,projection plane’ is the computer screen […]. [T]he pre-reflexive reality is cutoff and replaced. […] The technical systems gather up a life-world while simultaneously projecting it. […] [They] make up a […] scoping medium that allows participants to simultaneously confront the market and to be part of it” (Knorr Cetina/Preda 2007: 126-127).

Was in diesem Zitat „ scopic system“ heißt, ist im vorliegenden Fall das gesamte integrierte Finanzmanagementsystem einschließlich der DMFAS-Software als skopischer Teilkomponente. Die Ausdrücke „Life-world“ und „market“ können auf die über die verschiedenen skopischen Teilsysteme zusammengeführten institutionellen Nischen von Schuldenrealität übertragen werden. Den im Zitat erwähnten „participants“, die sowohl aktiver Teil des Marktes als auch passiv diesem ausgesetzt sind, entsprechen im Fall des integrierten Systems im Schuldenmanagement die über verschiedene Verwaltungseinheiten verteilten Schuldenmanager, Budgetverwalter oder Angestellten des Schatzamts. Anhand von Argentinien lassen sich diese Merkmale integrierter Finanzmanagementsysteme nun konkret erläutern. Zunächst zeigt das folgende Zitat, dass „Reflex“ ein von den Argentiniern selbst gewählter Ausdruck ist, kein rein theoretischer, von außen herangetragener Begriff (Hervorhebungen BG): „Todas las transacciones de Deuda Pública deben tener su reflejo presupuestario.“ („Alle Transaktionen der Abteilung für öffentliche Schulden müssen ihren Haushalts-Reflex haben.“)

Die Aussage entstammt einer PowerPoint-Folie eines Vortrags, den ein argentinischer Schuldenmanager über das integrierte Finanzmanagementsystem der argentinischen Regierung im Frühjahr 2006 auf einem lateinamerikanischen Workshop für Finanzadministration hielt (Sistema Integrado de Información Financiera, kurz „SIDIF“). Das argentinische integrierte System ist für einen außenstehenden Laien

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kompliziert: Das Vortragspapier, auf das sich dieser Experte dann auch in einem Gespräch mit der Verfasserin bezog, bestand aus 55 meist dicht beschriebenen Folien mit neun Flussdiagrammen. Diese Diagramme symbolisierten, in welcher Weise die Informationen zwischen den verschiedenen Komponenten von SIDIF zirkulieren. Nachfolgend ist ein Beispiel zu sehen: Abbildung 15: Flussdiagramm des integrierten Finanzmanagementsystems von Argentinien

Quelle: interne Dokumentation des argentinischen Finanzministeriums (Kopie mit Notizen der Verfasserin)

An diesem Diagramm wird deutlich, in welcher Weise „Sigade“ – das ist die spanische Abkürzung für die DMFAS-Software – Teil eines größeren skopischen und speziell reflexiven Systemzusammenhangs auf Regierungsebene ist. Dieser skopisch-reflexive Systemzusammenhang erstreckt sich über (siehe Spalten von links nach rechts): die Abteilung für öffentliche Kredite, die Abteilung für allgemeine nationale Rechnungsführung, das nationale Schatzamt und die Zentralbank („Oficina Nacional de Crédito Público“; „Contaduría General de la Nación“; „Tesorería General de la Nación“; „Banco Central“). Abgebildet ist das Verfahren („Procedimiento“) zur Durchführung von Schulden-Rückzahlungen. Anhand des „Chronogramms der Zahlungsfälligkeiten“ („cronograma de vencimientos“), d.h. anhand der Amortisationspläne, die in der DMFAS-Software gespeichert sind, wird geprüft, für welchen Kredit was für eine Zahlungsverpflichtung besteht.

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Durch die verschiedenen eben genannten Abteilungen hindurch wird bis zur Zentralbank, die tatsächlich die Zahlung an den Gläubiger ausführt („El Banco transfiere los Fondos“), die Zahlungsanweisung („orden de pago“) übermittelt. Von der Zentralbank aus schließt sich dann dieser Informationskreis zurück zur DMFAS-Software, indem die Bank die Zahlungsbestätigung übermittelt („Confirma pago“ mit SWIFT-Nummer). Dass und wie sich in der DMFAS-Software sowie in den anderen angeschlossenen skopischen Teilsystemen die jeweilige Bildschirmrealität immer wieder ändert, machen die nächsten beiden Abbildungen deutlich. Beide Screenshots stammen aus der Phase der Datenerhebung im argentinischen Finanzministerium im April 2008. Sie sind zwei Beispiele für Bildschirmfenster, mit denen eine damals für Zahlungsanweisungen zuständige Angestellte täglich arbeitete. Abbildung 16: Bildschirmfenster für Zahlungsanweisungen

Quelle: Kopie eines Screenshot; erhalten im argentinischen Finanzministerium im März/April 2006

In Abbildung 16 ist in der äußersten rechten Spalte wortwörtlich die „Situation“ der jeweiligen Zahlungsanweisung angegeben. Zum Beispiel heißt „ESPERANDO“, dass es noch keine Bestätigung von der Zentralbank gibt; „CONFIRMADO“ steht für eine solche Bestätigung; „ERRONEO“ bedeutet einen Fehler irgendwo in der weiteren Informationsverarbeitung, nachdem eine Zahlung von der DMFAS-Soft-

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ware aus angewiesen wurde.31 Dieser Bildschirm verändert sich je nach Status bzw. Fortschritt der Zahlungsanweisung durch die verschiedenen Abteilungen hindurch. Zum Beispiel verändert sich „ESPERANDO“ in „CONFIRMADO“, sobald die Zentralbank bestätigt, dass die Zahlung tatsächlich erfolgte. Abbildung 17: Bildschirmfenster für Zahlungsanweisungen mit Budgetlinien

Quelle: a.a.O.

Der zweite Screenshot zeigt weitere Informationen in Bezug auf eine bestimmte Zahlungsanweisung. In diesem Fall ist es die fehlerhafte Anweisung mit dem Status „ERRONEO“. Hier sieht man im unteren Teil der Abbildung ein Beispiel für den oben zitierten „HaushaltsReflex“: die zu diesem Kredit gehörigen Budgetlinien („Líneas“ und „Línea presupuestaria“). Die Softwarenutzer, die auf die beiden Bildschirmfenster schauen, sind sowohl passive Rezipienten der Situation einzelner Kredite, was den Status der Zahlungen angeht, als auch aktive Gestalter dieser Situation, sobald sie eine Zahlungsaufforderung eingegeben haben (und „ESPERANDO“ erscheint). So wie sich die Informationen in der rechten Spalte passiv vor ihren Augen wie auch aktiv mit ihren Daten31 Die Bedeutung von „2DA CARGA“ ist der Verfasserin leider nicht mehr bekannt.

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eingaben immer wieder verändern, so ändern sich auch die Zustände in den anderen skopischen Teilsystemen. Wie am – buchstäblichen – Flussdiagramm (Abbildung 15) deutlich wird, fließt die Schuldenrealität insgesamt permanent und verändert vom einen zum nächsten Moment ihre Identität – im Minuten-, Stunden- oder auch nur Tagestakt, je nachdem, um welches Schuldendatum es sich handelt, wie komplex das Portfolio ist (in Argentinien ist es z.B. viel komplexer als in Burkina Faso), oder wie viele und welche Teilsysteme bzw. Regierungsabteilungen miteinander integriert werden. Die Aspekte der Reflexivität und des Flusses sowie die Tatsache, dass die ökonomischen Akteure als Gestalter wie auch Rezipienten gleichermaßen auftreten, erlauben eine Revision eines bisher einschlägigen wissenssoziologischen Repräsentationsbegriffs. Gemeint ist der Repräsentationsbegriff von Latour, der anhand der Praktiken in den Naturwissenschaften entwickelt wurde (Latour 1988, 1995). Die vorausgegangene Analyse hat deutlich gemacht, dass dieser Begriff für das Schuldenmanagement – eventuell für die aktuelle ökonomische Praxis allgemein – korrigiert werden muss. Speziell müssen die Termini „Inskription“ und „transversaler Pfad“, die laut Latour wissenschaftliche Repräsentationsarbeit ausmachen, umgedeutet werden. Latour sagt, Naturwissenschaftler würden ihre Erkenntnisse über die Natur „in the form of two-dimensional, superimposable, combinable inscriptions“ erlangen (1995: 147). Als Beispiel für eine „Inskription“ nennt er einen Messfaden, der von den Bodenkundlern über einen Landstrich gezogen, für eine Weile dort liegen gelassen und dann, in Verbindung mit einem Zähler, dazu benutzt wird, die räumliche Ausdehnung dieses Landstrichs in Zahlen und damit in wissenschaftliche Buchführung zu übersetzen (vgl. Latour 1995: 158). Im Fall des Schuldenmanagements gibt es zwar auch lauter Inskriptionen, nämlich die besprochenen wechselseitigen „Reflexe“, d.h. in Zahlen und Buchstaben ausgedrückte Querverweise zwischen Teilrealitäten der jeweiligen Teilsysteme. Jedoch sind dies nur elektronische Inskriptionen, also ausschließlich Inskriptionen zwischen den jeweiligen miteinander integrierten technologischen Einzelsystemen, und es sind auch ständig revidierte Inskriptionen. Auf eine externe „natürliche“ ökonomische Realität wird unter Schuldenmana-

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gern gar nicht oder kaum Bezug genommen, im Gegensatz zu Latours Naturwissenschaftlern.32 Der Begriff „transversaler Pfad“ passt schon eher in die Praxis des modernen Schuldenmanagements. So bezeichnet Latour Repräsentationen, die sich kettenartig in hintereinander geschalteten Medien aufeinander beziehen, also eine „transversale“ Verbindung durch verschiedene naturwissenschaftliche Medien hindurch bilden (1988: 17). Doch auch hier gilt: Das Konzept mag zwar auf ein großes Maß an Virtualität im Repräsentationsprozess verweisen, d.h. auf das Phänomen, dass naturwissenschaftliche Realität über weite Strecken innerhalb verschiedener Medien gebunden bleibt, statt eine Welt „draußen“ zu sein. Doch auch hier ist noch immer nicht die Idee des dynamischen Wandels, des ständigen Flusses von Informationen innerhalb eines Großsystems – wie es für integrierte Finanzmanagementsysteme charakteristisch ist – enthalten. Die ökonomische Realität und der auf sie bezogene Beobachtungsprozess bleiben also im Fall des modernen Schuldenmanagements größtenteils in miteinander verschachtelten skopischen Teilsystemen gebunden. Die ökonomische Realität wandelt sich aber auch permanent durch verschiedene, reflexhafte Dateneingaben an unterschiedlichen Stellen des Gesamtsystems. Das ist ein für die soziologische Theoriebildung bemerkenswertes Phänomen moderner Organisationen: ein sich dynamisch fortentwickelnder sozioelektronischer Raum, in dem das, was beobachtet wird, und der Beobachtungsprozess selbst ganz eng miteinander verwoben sind. Es ist schwer, hier noch

32

So hat sich ja z.B. im Fall Argentiniens die Haushaltsabteilung über die Budgetlinien in die DMFAS-Software eingeschrieben. Aber auch andere Ziffern bzw. Kurzbezeichnungen, wie in Abbildung 15 angedeutet („Formulario C41, Formulario C55“), verbinden die Systeme untereinander. Es gibt zwar auch zu diesen Bezeichnungen gehörende Papierformulare sowie Ausdrucke aus der DMFAS-Software und den anderen Teilsystemen. Doch mit solchen Papieren besteht ja in den meisten Fällen immer noch keine Referenz zu einer irgendwie „natürlich“ gearteten ökonomischen Realität „da draußen“. Ausnahmen stellen z.B. die Inskriptionen bezüglich Projektdaten da. Entwicklungsländer nehmen Kredite vor allem zur Finanzierung von Entwicklungsprojekten auf. Handelt es sich z.B. um Infrastrukturprojekte, verweisen die im skopische System erfassten Daten zum Teil auf konkrete physische Realität (z.B. Brücken).

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zwischen präexistenter (ökonomischer) Realität und der Wahrnehmung dieser Realität zu unterscheiden.

3.3 F REMDBEOBACHTUNG : D IE S YSTEME VON UNCTAD, IWF UND W ELTBANK IM GLOBALEN P ROJEKTIONSZUSAMMENHANG 3.3.1 Globale Projektion und Reprojektion Am 6.07.2005 hielt der Leiter der IT-Abteilung des DMFASProgramms im Forschungskolloquium des Lehrstuhls Knorr Cetina einen Vortrag über die DMFAS-Software. In der anschließenden Diskussion erläuterte er, welche Rolle die Software im globalen Finanzsystem spielt (Transkript der Tonbandaufnahme): Knorr Cetina:

How do the results – I mean, we talked about penetration of countries, but, what’s the penetration into the global side – I mean, the results, where do they go – are they only available to the country? Or are there countries issuing the results in terms of your system, in terms of your classification [ITLeiter: yeah], then to the World Bank [IT-Leiter: yeah], or the IMF, or to other […], in their annual reports, or where […]?

IT-Leiter:

Yeah, we include in the system links, or interfaces, with the – with global, with global systems – the main, the most important is with the debt statistics, the Global Guide of the World Bank, directly from the system, the users are generating two or three forms, form 1, 2 and 3 that are going – via e-mail or electronically to the World Bank, and that is the information that they process, and they publish annually in the – global – publication of debt statistics, for external debt, that is – sooo – and that, that’s the main, the main interface, no? But we also have some contacts with the IMF – because the IMF, they are asking information from the countries, GDDS, and SDDS for middle-income countries, and that’s – statistics are also being – extract/excerpt [?] from the system […]. [N]ormally the countries, they need to report [?] monthly to show what is happening, to the public, that’s part of the transparency, that’s part of the – what the, the rest of the world is, is requesting.

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In den nächsten beiden Abschnitten wird analysiert, wie genau die vom IT-Leiter angesprochenen „links“ bzw. „interfaces“ zwischen der DMFAS-Software einerseits und den IWF- und Weltbank-Systemen andererseits aussehen. Allgemeiner gesagt, es wird analysiert, in welcher Weise nationale Schuldenrealität über die DMFAS-Software auf eine globale Systemebene zur komparativen Fremdbeobachtung von Nationalökonomien projiziert wird. In diesem Projektionszusammenhang werden die Schuldendaten nicht einfach übermittelt sondern auch epistemisch überformt. Erstens werden originär nationalspezifische Schuldendaten in der DMFAS-Software mithilfe bestimmter Softwarefunktionen umformatiert und dann relativ automatisiert zur Weltbank verschickt, nämlich über die „automatic bridge“, ein Teilnehmerbegriff der DMFASExperten (UNCTAD 2008c: 14). Dort werden sie u.a. in die GDFDatenbank im Internet hochgeladen. In der zitierten Vortragsdiskussion verwies der IT-Leiter auf diesen Projektionszusammenhang, in dem er vom „Global Guide“ und von den „forms 1, 2 and 3“ sprach. Zweitens sind in die DMFAS-Software an verschiedenen Stellen Standards der vom IWF initiierten „Data Dissemination Initiative“ eingebaut (vgl. IMF 2008e). Die Schuldendaten der Länder, die im Rahmen dieser Initiative an den IWF Bericht erstatten, werden auf die Internetplattform „DSBB“ hochgeladen (IMF 2008c; vgl. IMF 2008d). Der IT-Leiter spricht diesen Projektionszusammenhang an, indem er die „SDDS“ und „GDDS“ erwähnt („Special Data Dissemination Standard“ und „General Data Dissemination System“). Diese beiden Online-Systeme, also das der Weltbank und das des IWF, sind ihrerseits skopische Systeme. Von ihnen aus entspannt sich wiederum, wie der IT-Leiter am Schluss des Zitats andeutet, ein weiterer globaler Projektionszusammenhang („that‘s part of transparency, that’s what the rest of the world is requesting“). Das IWF- und das Weltbank-System strahlen die nun untereinander vergleichbaren nationalökonomischen Schuldenstatistiken weltweit aus, z.B. zu so relevanten ökonomischen Akteuren wie Ratingagenturen, Entscheidungsträgern in Nationalstaaten, internationalen Organisationen und Banken sowie individuellen Investoren (vgl. IMF/World Bank 2005: 6, 38ff.). Allerdings sind die empirischen Belege, dass und wie genau die genannten ökonomischen Akteure diese „geskopten“ Vergleichsdaten nutzen, im doppelten Sinn eindimensional. Zum einen methodisch: Es scheint bisher nur auf quantitativen Umfragen beruhende Publikatio-

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nen von IWF und Weltbank selbst zu geben (IMF 2008d; IMF 2008e; IMF 2007; IMF/World Bank 2005). Es hätte den Rahmen der vorliegenden Untersuchung gesprengt, entsprechendes eigenes qualitatives Feldforschungsmaterial zu erheben. Zum anderen erscheint die Datenlage auch inhaltlich eindimensional, was eng mit dem ersten Punkt zusammenhängt. Beim Lesen eben dieser Publikationen drängt sich nämlich der Eindruck auf, dass die beiden Organisationen möglichst affirmativ und optimistisch über die eigenen Projektionserfolge zu berichten versuchen. So wird z.B. in einer aktuellen IWF-Studie Folgendes verkündet: „In its first 10 years, the IMF’s Data Dissemination Initiative has had a demonstrable positive impact on data dissemination. Currently, the General Data Dissemination System (GDDS) and the Special Data Dissemination Standard (SDDS) taken together include 83 percent of the IMF’s member countries. This initiative has become an integral part of the international financial architecture and has helped to promote economic transparency and efficiency. Along with other financial standards and codes it has served to strengthen transparency and good governance globally” (IMF 2008e: 128).

Hingegen kommt eine andere Studie, die sich mehr auf bestimmte Details der Initiative konzentriert und von Weltbank und IWF gemeinsam verfasst wurde, nur zu sehr bescheidenen Aussagen (IMF/World Bank 2005). So scheinen Marktteilnehmer, wenn überhaupt, nur indirekt über Ratingagenturen erreicht zu werden: „The initiative scores fairly high in terms of its overall worth, although less in terms of some specific benefits […]. Direct use of ROSCs [Berichte, die Länderstatistiken im SDDS- oder GDDS-Format enthalten] by market participants is low. […] Use does not appear to have increased in recent years: a survey conducted in 2003 reported similar results. […] Market participants may, however, use ROSCs indirectly. Rating agencies noted that they typically use ROSCs to form their views on ratings, which in turn influence the behavior of other market participants” (IMF/World Bank 2005: 20, 24).

Außer solchen und anderen IWF- und Weltbank-Publikationen gibt es nach jetzigem Kenntnisstand kein weiteres empirisches Material zur Rezeption von SDDS- und GDDS-Statistiken. Der globale Re-Projektionszusammenhang kann also (noch) nicht gut genug belegt, ge-

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schweige denn präzise charakterisiert werden. Die weitere Analyse konzentriert sich daher auf den ersten, empirisch besser begründeten Projektionszusammengang zwischen der DMFAS-Software und den Systemen der beiden Bretton Woods-Institutionen. Die Frage, inwieweit der „Rest der Welt“, wie sich der IT-Experte salopp ausdrückte (siehe Ende des Zitats oben), wiederum diese globalen Projektionen rezipiert, wird ausgeblendet. 3.3.2 Projektion zur Weltbank Mithilfe der DMFAS-Software können Schuldnerländer der Weltbank spezielle Statistiken, die die Bank teils jährlich, teils quartalsweise im Rahmen seines sog. „Debtor Reporting System“ (DRS) einfordert, leichter erstellen (Weltbank 2000). Zum Beispiel kann die Amortisationstabelle eines Kredits „such as it is produced by DMFAS […] be communicated to the World Bank“ (DMFAS 2002: 4). Besonders wichtig sind „form 1“ und „form 2“ der Weltbank, zwei Standardformulare, die das jeweilige Land mit seinen aktuellen Schuldendaten ausfüllen soll (vgl. World Bank 2000). „Form 1“ und „form 2“ können direkt in der DMFAS-Software abgerufen und mit gespeicherten Daten komplettiert werden; schließlich können die Dateien an eine E-mail angehängt und an die Weltbank geschickt werden (DMFAS 2002: 4). Dieser Einbau von Weltbank-Formaten in die Software ist Teil einer offiziellen Kooperation mit der Weltbank und wurde von der Bank finanziert (mündliche Information des Chefs des DMFASProgramms vom 24.03.2005; vgl. Weltbank 2008). Dies ist nicht die einzige handfeste Verbindung zwischen Weltbank und DMFASProgramm. Abgesehen von den immer wiederkehrenden Zusammenkünften auf internationalen Konferenzen sowie punktuell auf Projektreisen gibt es noch einen weiteren soziotechnischen Link: Das DMFAS-Programm propagiert auf Software-Workshops offiziell das DSM der Weltbank – so geschehen etwa im Feldforschungszeitraum in Burkina Faso im September 2004. Das ist ein Softwaremodul, mit dem spezielle Simulationen z.B. für Umschuldungsverfahren durchgeführt werden können (vgl. World Bank 2008a). Außerdem hatte ein DMFAS-Mitarbeiter im Feldforschungszeitraum ein eigenes Büro im Hauptsitz der Weltbank in Washington, d.h. das DMFAS-Programm

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war damals der Weltbank auch „körperlich“ besonders nah.33 Die Zum und Weltbank manifessammenarbeit zwischen DMFAS-Programm tiert sich also in verschiedenen Hinsichten. Offiziell werden die „form 1“- und „fo orm 2“-Softwarefunktionen als „automatische Brücke“ bezeichnet (U UNCTAD 2008c: 14; vgl. DMFAS 2002: 4). Die nachfolgende Abbilldung zeigt eines der dazugehörigen Bildschirmfenster in der DMFAS S-Software.34 Im Jahr 2006 beispielsweise benutzten offenbar 19 Länder diese „Brücke“ (UNCTAD 2008c: 14). Abbildung 18: Bildschirmfenster mit der „automatic bridge“ zur Weltbank

Quelle: Interview mit dem IT-Chef des DMFAS-Programms, 1.02.2006

33

In der Phase der letzten Datenerhebung An nfang Juni 2009 erwähnte eine DMFAS-Mitarbeiterin nebenbei, das Büro sei s vor kurzem aufgelöst worden. Die Gründe dafür sind der Verfasserin nicht n bekannt.

34

Die Abbildung zeigt ein Fenster für einen „form 1“-Bericht, der in Genf zur Zeit der Feldforschung gerade für Testzwecke erstellt wurde (daher n hier bedeuten: Es sollen pro„prueba“ für Spanisch „Test“). Die Angaben beweise die aktuellen Staatsanleihen („BONOS 1“) für den Zeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2000 zusammengestellt werden.

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Wohin führt die „automatische Brücke“, wer oder was „geht“ über sie? Die Brücke überführt Schuldeninformationen von einer auf die nationalökonomische Selbstbeobachtung ausgerichteten Ebene auf eine globale Ebene der komparativen Fremdbeobachtung von Nationalstaaten. Dies geschieht in „skopischer“ Weise: Die originär nationalen Schuldendaten werden von verschiedenen Ländern aus auf eine gemeinsame Plattform der Weltbank „projiziert“ (bzw. „streamed“, Knorr Cetina/Preda 2007: 125, 126). Dabei ist diese Projektion keine einfache Verschickung von Daten. Vielmehr ist es ein Transfer, bei dem die Schuldendaten epistemisch überarbeitet werden, indem die Berichtsformate „form 1“ und „form 2“ durchlaufen werden müssen. So wird eine Realitätsebene für ökonomische Akteure als globale Beobachter geschaffen – in diesem Fall ist es die Weltbank. Die Weltbank prüft anhand der erhaltenen Daten, inwieweit die einzelnen Länder in der Lage sind, ihre ausstehenden Schulden zu bedienen, und sie fertigt Analysen sowie Zukunftsprognosen für globale ökonomische Entwicklungen insgesamt an (DMFAS 2002: 4). Abbildung 19: Die buchstäbliche Weltsicht der Weltbank auf vier verschuldete Staaten

Quelle: World Bank 2010

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Die obige Abbildung zeigt beispielhaft, wie die Weltbank im Jahr 2010 die Verschuldungssituationen von Argentinien, Indonesien, Russland und Mexiko auf nur wenigen Zentimetern Bildschirmoberfläche im Vergleich zueinander sah (Schuldendienst in Bezug auf externe Schulden, in Tausend US-Dollar). Während es den DMFASSoftwarenutzern im Alltag immer erst um die Erfassung der nationalen Verschuldungssituation im Dienste ihrer jeweiligen Regierungen geht, wird nun dieses bis dahin in den Landesgrenzen verwaltete Wissen neu formatiert, sekundenschnell an die Weltbank versendet, dort in das Debtor Reporting System eingebaut und von da aus u.a. auf die GDFWebsite gebracht, wo Internetnutzer selbst Grafiken wie die oben abgebildete erstellen können (World Bank 2010; vgl. Weltbank 2000). Dadurch wird nicht nur ein weitreichender Vergleichsblick quer über Dutzende von Nationalökonomien ermöglicht (im Jahr 2008 beispielsweise betrug die genaue Zahl 134; vgl. World Bank 2008b). Es wird auch erst eine globale ökonomische Realität epistemisch konstituiert: Alle Schuldnerländer der Weltbank müssen sich durch die Standard-Formate „form 1“ und „form 2“ gewissermaßen hindurchzwängen; wenn sie dann letztlich in diesen oder anderen Statistiken im GDF nebeneinander stehen, Land für Land, so sehen sie „ökonomisch“ so aus, wie sie die Weltbank ökonomisch sehen möchte. Zu einem gewissen Grad kann zudem die eigene ökonomische Sicht von Internetnutzern in diese Weltbank-Sicht einfließen, da auf der GDF-Website bestimmte Elemente der Statistiken „maßgeschneidert“ werden können („customized“; World Bank 2010).35 Die DMFAS-Software erbringt der Weltbank mit der „automatischen Brücke“ also anscheinend einen doppelten Dienst. Die zahlreichen, weltweit verstreuten Länderdaten müssen nicht mehr aufwendig vor Ort eingesammelt werden – die Technologie scheint dies stellvertretend zu leisten. Außerdem inkorporiert die Software das Klassifikationsschema der Weltbank, also im übertragenden wie konkreten Sinn ihre Weltsicht (vgl. Star/Bowker 1999: 1; Desrosières 1998: 3). Durch

35

Im sechsten Kapitel wird diese epistemische Transformation von (nationalen) Ausgangsdaten in eine neue (transnationale) Schuldensicht als „ökonomischer Stoffwechsel“ bezeichnet. Die DMFAS-Software wird als ein skopische System, das solchen ökonomischen Stoffwechsel betreibt, charakterisiert, und die weitere Analyse zeigt, wie aufwändig das System deshalb umsorgt werden muss.

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die DMFAS-Software hindurch werden einzelne Länderdaten „automatisch“, so scheint es, auf eine von der Weltbank entworfene Ebene globalisierter ökonomischer Realität projiziert. Diese Aspekte klangen auch im Interview mit einem WeltbankExperten, der früher Chef der Technical Advisory Group on Public Debt Management im Schatzamt der Bank war, an. Er gab die Anfänge der DMFAS-Software in einer Weise wieder, die das DMFASProgramm bzw. UNCTAD als Dienstleister der Weltbank, und zusätzlich sogar als Dienstleister des IWF erscheinen lässt (Interview vom 21.06.2005): „The earliest reasons why the World Bank and the IMF got involved with the countries in data collection is going way back, there was no DMFAS […] – but countries are required […] to record certain debt to the World Bank, and to report certain international financial statistics […] to the IMF, and eh, the earliest impetus of this kind of [DMFAS] software came from those requirements […]. Because countries were required to report, but they didn’t have systems, I mean, they kept their debt records in ledgers, paper, and so, producing the information was extremely labour intensive […]. [T]he World Bank to a very large degree in earliest years, and I think later [?] the IMF used to send large teams out into the fields to help countries collect the data, to validate the data […]. [A]gain, in the earliest days, the World Bank itself actually developed a rudimentary debt reporting system for this reason, they were tired of, every time they went, getting up the dusty record manually [?] […]. [Then] shortly after the World Bank got into this, […] UNCTAD, likewise […] started to develop some – pretty rudimentary – eh, systems for debt recording and reporting and […] – once that happened the World Bank stopped. They said […] ,Great, you do it!‘ [I]t’s not necessarily part of the natural mandate of […] UNCTAD […] to be software providers – but, as they did so – eh, as I say, the World Bank, they sort of said: ,Wonderful!’ You know. […] UNCTAD […] [has] built up a very large competitive advantage because they know intimately what are the requirements of the World Bank and the IMF” (Hervorhebungen BG).

Ist die DMFAS-Software also im Grunde ein Instrument der Weltbank, um von Washington aus die Schuldnerländer zu einer einheitlichen Berichterstattung zu bringen? So mutet es hier zumindest an: Die Weltbank könne sich darauf verlassen, dass UNCTAD, im speziellen das DMFAS-Programm, die Anforderungen von Weltbank und IWF kenne. Also müsse sich die Weltbank nicht mehr selbst um die Einfüh-

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rung von Schuldenmanagementtechnologie in den einzelnen Ländern kümmern. Gleichzeitig verfüge das DMFAS-Programm aufgrund seiner zahlreichen Projektreisen über relativ detaillierte Lokalkenntnisse. Wenn also die Wahrnehmung dieses Weltbank-Experten zutrifft, so vertritt die DMFAS-Software als „Artefakt, das Politik hat“, in zahlreichen Ländern, die die „automatische Brücke“ benutzen, die Interessen der Weltbank (Winner 1980). Allerdings funktioniert die Berichterstattung an die Weltbank wohl doch nicht so “automatisch“, wie offiziell dargestellt. Im März 2005 informierte die Weltbank das DMFAS-Programm darüber, dass die Länder nicht fehlerfrei, regelmäßig und rechtzeitig über ihren Schuldenstand berichten würden. Diese Information gab der Chef des DMFAS-Programms am 24.03.2005 auf einer der wöchentlichen Sitzungen, auf denen die Projektmanager zusammenkommen („Project Manager Meeting“), an seine Kollegen weiter. Daraufhin entspann sich unter den anwesenden zehn Mitarbeitern eine Diskussion über die bisherigen Erfahrungen mit der „automatischen Brücke“, und was nun, wenn überhaupt, weiter zu tun sei (Tonbandmitschnitt vom 24.03.2005): Mitarbeiter 1:

[S]ome countries still report in paper, and there are some countries that have very good databases. However, they are not using the bridge […]. We’ll have to see in each case what’s happening. […]

Chef:

[An DMFAS-Mitarbeiter 2 gerichtet:] We have sent at one point something to the country, so you did at least, to push them in using the bridge.

Mitarbeiter 2:

Mhm.

Chef:

You did that, eh? […] [T]o some extend maybe we should do that just before the reporting period starts […] as a normal procedure. […]

IT-Leiter:

We receive[d] an e-mail of the World Bank, they’re complaining with the information that they receive from Costa Rica, Egypt and Romania, and that was essentially caused because they are using a version of the system, 5.2.44, that is a version where the bridge is wrong, has errors, so – now we are working in the help desk to see how we can update all the countries that are using an old version […].

Mitarbeiter 1:

[Mitarbeiter, der sein Büro eine Zeitlang in Washington im

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Hauptsitz der Weltbank hatte:] [The World Bank] wanna write terms of reference for me, and that’s already complicated in the relationship between UNCTAD and the World Bank. […] Chef:

Okay, they [die Weltbank] want to know where our Consultants are going to be so eventually the Consultants can help them, with reporting […]. But, you see, […] I’m not convinced, you know because we are going to, we give our finger and they’re taking our arm here, we will be, at the end of the day reporting to the World Bank which is not – we shouldn’t be reporting, it’s the country that should do the reporting. […]. Let’s not have our arm in this because then we appear as the World Bank’s arm […]. But I think we should help, and we‘re going to continue to help [Hervorhebungen im Original].

Die Diskussion zeigt in verschiedenen Hinsichten die ambivalente Position, die das DMFAS-Programm selbst gegenüber der Weltbank einnimmt. Auf der einen Seite stehen Bemühungen, die „automatische Brücke“ wieder funktionsfähig zu machen, z.B. durch das Beheben technischer Schwierigkeiten, wie der Leiter der IT-Abteilung meint, oder durch regelmäßige schriftliche Aufforderungen an die Länder – „as a normal procedure“, wie der DMFAS-Chef vorschlägt. Letzterer regt sogar noch stärkeren Druck an: „to push them in using the bridge“. Auch betont der DMFAS-Chef in einer für die Entwicklungszusammenarbeit typischen Rhetorik, man müsse den Ländern ja auf alle Fälle „helfen“. Auf der anderen Seite sticht aber auch heraus, dass man sich auf keinen Fall zum Handlanger der Weltbank machen wolle. Dass die Bank beabsichtige, dem im eigenen Hause stationierten DMFAS-Mitarbeiter Richtlinien („terms of reference“) zu schreiben, und auch die Anfrage, die lokalen DMFAS-Consultants sollten doch bei der Berichterstattung „helfen“, werden als Übergriffe in die eigene institutionelle Eigenständigkeit verstanden. Der DMFAS-Chef sagt, man müsse aufpassen: Wenn man den kleinen Finger hinhalte, so könne die Weltbank gleich den ganzen Arm wollen. Auf mikrosozialer Interaktionsebene wird hier also die makropolitische Spannung zwischen zwei Weltorganisationen, Weltbank und UNCTAD, spürbar. Man bedenke: Als im Jahre 1964 UNCTAD als internationale Konferenz erstmals stattfand („erste Konferenz der Ver-

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einten Nationen für Handel und Entwicklung“), sollte damit die „Neue Weltwirtschaftsordnung“, die Entwicklungsländer u.a. gegenüber den beiden Bretton Woods-Institutionen stärken sollte, begründet werden (Ferdowsi 2002: 157; Wolf 2005: 42, 98). So sollten etwa 1974 der IWF und die Weltbank explizit bestimmte Zuständigkeiten an UNCTAD – und damit indirekt die Industrieländer an die Entwicklungsländer – abtreten (Wolf 2005: 98-99). Das DMFAS-Programm trägt diese Spannung zwischen der politischen, eben auch mit technischer Kompetenz unterfütterten Fürsorge für „ihre“ Länder auf der einen und der gelegentlichen Kooperationsbereitschaft mit der Weltbank und IWF auf der anderen Seite permanent intern aus. Was die Relevanz dieses empirischen Falls für die Theorie skopischer Systeme angeht, so ist festzuhalten: Die skopische Produktion einer globalen Realitätsebene von Weltbank-Statistiken, d.h. eine mithilfe der DMFAS-Software maschinisierte Berichterstattung an die Weltbank, ist explizit in der Kooperation von Weltbank und DMFASProgramm vorgesehen. Allerdings funktioniert sie aus verschiedenen Gründen nicht immer, und die DMFAS-Mitarbeiter zögern, diese skopischen Mängel durch persönliche Einsätze in den Ländern auszugleichen. Aber bleiben nicht immerhin noch viele Fälle, in denen ein Land die DMFAS-Software eben doch nutzt und seinen Schuldenstand regelmäßig an die Weltbank übermittelt? Diese Fälle gibt es in der Tat, Argentinien ist ein Beispiel dafür. So teilte ein Schuldenmanager, der im argentinischen Finanzministerium für die Verwaltung der multilateralen Kredite zuständig ist, im Laufe eines Interviews mit (6.4.2006), er würde tatsächlich jährlich die nötigen Daten in den „form 1“- und „form 2“-Bildschirmfenstern der DMFAS-Software eintragen und dann an die Weltbank e-mailen. Es könnte also vielleicht geschlossen werden, dass wenigstens manche Länder, wie Argentinien, sich voll auf den skopischen Koordinationsmechanismus einlassen und also die Theorie skopischer Systeme in begrenztem empirischem Rahmen Bestätigung findet. Allerdings zeigt der Fall Argentiniens auch, dass die Koordination mit der Weltbank nicht rein skopisch funktioniert. Zum vollständigen Gelingen skopischer Koordination gehört anscheinend eine zusätzliche soziale Absicherung durch „gesatzte“ Autorität, die in Face-to-face-Interaktionen, in denen Zeugnis über den Wahrheitsgehalt von geskopten

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Zahlen abgelegt werden muss, ausgespielt wird (Weber 1921/1980: 125). Dieser Wirkungszusammenhang aus skopischer Koordination, gesatzter Autorität und persönlichem Bezeugen soll nun abschließend untersucht werden. Er äußert sich praktisch wie folgt: Der eben zitierte argentinische Schuldenmanager fährt regelmäßig nach Washington, um mit der zuständigen Weltbank-Mitarbeiterin über die Schuldenstatistiken seiner Regierung zu sprechen. Der Grund dafür sei, wie er erläutert (Feldnotizen, 6.04.2006): Manchmal verstehen sie nicht – warum Schulden ändern, so oder so registriert sind. Besonders nach einem Zahlungsausfall – besonders bei aufgelaufenen Schulden („arrears“). – Als ich die Woche [in Washington] da war – das war anstrengend; musste mit der Frau Berechnungen durchgehen und viele Fragen beantworten, musste erklären können, warum dieser Kredit so oder so aussieht – und zwar, wenn ich sie nicht überzeugen konnte, sagte sie z.B.: „nehmen wir das also raus“ – während ich das dann […] nicht wollte, und also richtig erklären und überzeugen musste. [Auf meine Nachfrage:] Ja, ich war dort mit der DMFAS-Software – hatte sie im Laptop mitgebracht, und mit diesen Daten haben dann beide versucht, die Zahlen zu konsolidieren.

Man merkt an diesem Kommentar: Die mit der DMFAS-Software skopisch an die Weltbank übermittelten Zahlen sprechen offenbar nicht ausreichend für sich. Der Argentinier muss „erklären“ und „überzeugen“, damit die Weltbank-Mitarbeiterin versteht, warum einzelne Kredite so aussehen, wie sie über die „form1“- und „form 2“Brücke zur Weltbank geschickt wurden. Die Zahlen müssen noch „konsolidiert“ werden. Dabei ist evident, dass nicht irgendein Argentinier so Zeugnis ablegen könnte über die argentinischen Zahlen: Es kann nur ein staatlich legitimierter Sprecher sein. Dafür steht der Begriff der „gesatzten“ Autorität (Weber 1921/1980: 125). Allerdings fällt hier auch auf: Der Schuldenmanager nimmt die DMFAS-Software mit der argentinischen Datenbank durchaus mit an den Ort der persönlichen Vermittlungs- und Überzeugungsarbeit. Die mit der Software geskopten Zahlen bleiben also vermutlich grundsätzlich valide. Skopische Koordination wird, so scheint es, nicht etwa durch das persönliche Zeugnis vor Ort und die dazugehörige gesatzte nationalstaatliche Autorität ersetzt, sondern (nur) unterfüttert.

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3.3.3 Projektion zum IWF Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, wie mithilfe der DMFAS-Software originär nationale Schuldendaten auf die Ebene der globalen komparativen Fremdbeobachtung der Weltbank „projiziert“ bzw. „geskopt“ werden (Knorr Cetina 2005a: 40; Knorr Cetina/Grimpe 2008: 162, 181). Wie sieht dieser Projektionszusammenhang nun im Fall des IWF aus? Die nachfolgende Analyse konzentriert sich auf empirisches Material zu Indonesien, um diese Frage zu beantworten (Feldforschungsphase November 2004). Zunächst wird dazu eine kleine „Rundreise“ durch das DSSB, die betreffende IWF-Plattform, unternommen (IMF 2008c). Die besuchten „Stationen“ dieser virtuellen Reise sind Websites zu Indonesiens Schuldensituation (hier: externe Schulden). Dann wird die Analyse methodisch und zeitlich verschoben: Es werden die Beobachtungsprotokolle einer Begegnung zwischen einem DMFAS-Experten und einem Vertreter des IMF Statistics Department in der indonesischen Zentralbank im November 2004 interpretiert. Diese damalige Begegnung dient, ähnlich wie schon die im letzten Abschnitt analysierte interne Sitzung des DMFAS-Programms, als Beispiel, um zu zeigen, wie genau sich transnationale Experten sowohl mit den nationalen Autoritäten als auch untereinander in der Praxis um die Etablierung eines globalen Projektionszusammenhangs bemühen.

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Abbildung 20: Argentinien, Indonesien und 62 andere Staaten in der komparativen Fremdbeobachtung des IWF

Quelle: IMF 2008c (Ausschnitte)

Auf dem DSBB des IWF kann man sich in wenigen buchstäblichen Augenblicken eine Übersicht über die ökonomischen Gesamtsituationen von 64 Nationalstaaten verschaffen (Stand 2008; IMF 2008c). Dazu muss nur der „button“ neben dem gewünschten Land angeklickt werden (in der Abbildung: die blauen Felder in der unteren Hälfte auf der rechten Seite). Diese Aktionstasten tragen den Namen einer Qualitätssicherungsinitiative des IWF („DQAF View“ für einen „Blick“ auf Zahlen im „Data Quality Assessment Framework“; vgl. IMF 2008i). Die Tasten führen zu vier Wirtschaftssektoren des jeweiligen Landes: Real-, Fiskal-, Finanz- und Externer Sektor. Externe Schulden befinden sich in der letzten Kategorie. Klickt man diese z.B. im Fall von Indonesien an, erscheint zunächst eine ausführliche Darstellung der Entstehungsbedingungen der indonesischen Schuldenstatistiken (IMF 2008h). Von da aus ist der Übergang zu einer Seite möglich, die anders als die vorigen unter einer indonesischen Webadresse gespeichert

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ist. Hier ist nun eine lange Tabelle über die ökonomische Situation Inn: donesiens im zweiten Quartal 2008 zu sehen Abbildung 21: Externe Verschuldung Indoneesiens im IWF-Format

Quelle: Bank Indonesia 2008 (Ausschnitt)

Wie die Webadresse oben in Abbildung 21 deutlich macht, handelt es sich offiziell um ein Produkt der in ndonesischen Zentralbank („http://www.bi.go.id/sdds/“). Die IWF-Plaattform ist also an dieser Stelle unverkennbar nationalstaatlich „du urchwachsen“. Gleichwohl enthält dieses Produkt auch mehrere Linkss zurück zu IWF-Websites. Diese sehen so aus:

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Abbildung 22: Projektionsschleife von der nationalen Website nalen Website des IWF Indonesiens zurück zur transnation

Quelle: Bank Indonesiaa 2008 (Ausschnitt)

Unter „Metadata“ sind nun erneut Erläu uterungen zu den Bedingungen und zur Art der Datenerhebung im Falll Indonesiens versammelt. Der Aufbau dieser Website (IMF 2008j) istt dem der vorigen (IMF 2008h, siehe oben) sehr ähnlich. Websites stechen einerseits die Auf diesen beiden Metadaten-W Standardkategorien der Qualitätssicheru ungsinitiative des IWF ins Auge: Alle Erläuterungen wurden in den Rahmen dieses „Framework“, d Perspektive muss auch umwie es ja wörtlich heißt, gesetzt. Doch die gewendet werden: Es fällt auch auf, wie w sehr innerhalb dieses engen Rahmens nationalstaatlich spezifische Angaben A „wuchern“. Dies zeigt sich z.B. an ständig wiederholten Hin nweisen auf nationale Gesetze, Erlasse oder Durchführungsbestimmun ngen; hier z.B.: „The Republic of Indonesia Act. No. 23“, „Central Baank Act No 23/1999“, „Regulation of Bank Indonesia No.2/22/PBI/200 00“ (IMF 2008h). Vorerst kann also festgehalten weerden: Die globale komparative Fremdbeobachtung, die die IWF-Plattfform durchaus ermöglicht, inkludiert an mehreren Stellen Elemente der originär nationalen Selbstbeobachtung von Verschuldung. Dabei bleibt der IWF wahrscheinlich bemüht, das Gesamtsystem vom IWF--Rahmen beherrscht zu halten; dies lässt die Hin- und Zurück-Verlinku ung der nationalen Websites zu den Metadaten-Websites vermuten (vg gl. IMF 2008h und 2008i). In diesem Sinn muss die IWF-Plattforrm, das DSBB, als „globalinklusives“ skopisches System begriffeen werden (vgl. Knorr Cetina/ Grimpe 2008). Nun ist es so, dass viele der extern nen Schuldendaten, die auf dem DSBB abgebildet sind, durch die DM MFAS-Software im jeweiligen

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Land produziert werden. Auch für Indonesien gilt dies: Bestimmte Daten „are originated from Debt Management and Financial Analysis System (DMFAS) version 5.3“, wie auf einer IMF-Website nachzulesen ist (IMF 2008h). Nachfolgend wird gezeigt, mit welchen Problemen sich IWF und DMFAS-Programm beim praktischen Aufbau eines solchen Projektionszusammenhangs auseinandersetzen. Die nächsten Zitate stammen aus der Feldforschungsphase in der indonesischen Zentralbank im November 2004. Sie sind den Protokollen mehrerer Gespräche zwischen einem DMFAS-Experten und einem Vertreter des IMF Statistics Department entnommen, die teilnehmend beobachtet werden durften. Der IWF-Experte hatte von seiner Institution den Auftrag bekommen, mit den Indonesiern deren Pläne für ein neues Verfahren sowie ein neues technisches System zur Erfassung von externen privaten Schulden zu besprechen. Abgesehen von dem erwähnten DMFAS-Experten war u.a. auch der Chef des DMFASProgramms selbst vor Ort, um eine eventuelle zukünftige Weiterentwicklung der DMFAS-Software in diesem Bereich zu besprechen. Mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit bemühte sich außerdem auch der IWF-Experte darum, vor Ort sowohl das DMFAS-Personal als auch ihre Software in diese Pläne einzubinden. Man erlebte hier also gewissermaßen im November 2004 einen Projektionszusammenhang zwischen DMFAS-Programm und IWF „in the making“. Das erste Zitat aus einem Gespräch der beiden vom 26.11.2004 beginnt damit, dass sich der IWF-Schuldenexperte bei seinem DMFAS-„Kollegen“ über die Pläne der Indonesier beklagt. Danach zeigt sich in verschiedenen Hinsichten, wie er das DMFAS-Programm einzubinden versucht (Hervorhebungen BG): IWF:

They want very low thresholds [Schulden-Level, ab dem ein Unternehmen Bericht erstatten soll] – they have even the vision to get debt figures from individuals! […] Maybe you and [Name] can have a look at their forms – they had 3 [?] forms before [vor den Verfahrensänderungen], and now they have 17!

DMFAS: IWF:

Oh, yes [das ist viel]. For example, for an international bond, there should be just one form. […] Do you have a template on the input in DMFAS? Maybe we can use it for the private debt [recording system]. […] [Zu den Plänen der Indonesier, in welchem Abstand die Daten regelmäßig aktualisiert werden sollen:] In private debt they want

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to reduce it to ten days! That’s tight. In SDDS, best practice is: quarterly, with a 90 day lag. […] An IMF mission is coming next week. […] I would like him [den Leiter jener „mission“] to become aware of the potential of the DMFAS software […]. We have to find a common language, a language that also meets IMF requirements.

Der IWF-Vertreter trägt aus seiner Institution bestimmte Ideale, wie denn das Verfahren für die Erfassung der Schuldendaten aussehen sollte, an die lokalen Praktiken der Indonesier heran: Er spricht die „SDDS“ an, die, wie oben erläutert, zum Standard-Rahmen für die Fremdbeobachtung von nationalen Schuldendaten auf dem DSBB gehören („in SDDS, best practice is…“). Die Erfassung aller externen privaten Schulden ist für ein Land grundsätzlich relativ anspruchsvoll; das mag der Grund sein, warum er kritisiert, dass die Indonesier die Daten alle zehn Tage aktualisieren wollen. Außerdem sieht man, wie die Erfahrungen des DMFAS-Programms technisch und personell, wenn es nach ihm ginge, genutzt werden könnten, um die geplanten Verfahren zu verbessern: Zum einen könne doch der DMFAS-Experte zusammen mit einem der örtlichen Schuldenmanager „einen Blick“ auf die geplanten Formulare werfen; zum anderen soll offenbar die DMFAS-Software als Vorbild dienen, was erforderliche Dateneingaben angeht (hier „templates“). Seine Rede mündet in den Appell, man müsse eine „gemeinsame Sprache“ unter den verschiedenen IWFAbgesandten, den Indonesiern und dem DMFAS-Programm finden („common language“). Was dieses erste Zitat noch nicht zeigt, ist das hohe Tempo, mit dem sich der IWF-Vertreter und der DMFAS-Experte über die DMFAS-Software, die indonesischen Statistiken, die lokalen Verwaltungspraktiken u.v.m. in dieser und in anderen Situationen in Indonesien im November 2004 austauschten. Es war nur schwer möglich, die Inhalte dieser Gespräche im Zuge der teilnehmenden Beobachtung zuverlässig zu protokollieren, da sie vor Fachbegriffen nur so strotzten, und da die beiden Gesprächspartner kaum Atempausen einlegten. Einen groben Eindruck davon kann der nachfolgende Ausschnitt eines weiteren Gesprächs vermitteln (26.11.2004). Die eingeklammerten Lücken sind hier keine bewussten Auslassungen, sondern sie zeigen unmittelbar, zusammen mit den Fragezeichen, was angesichts des außerordentlichen Redeflusses der beiden so schnell nicht zu protokollie-

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ren war. Dieses scheinbar banale feldforschungspraktische Moment ist auch analytisch relevant – für die These einer transnationalen epistemischen Gemeinschaft, wie im Anschluss erläutert wird. IWF:

Tell me on reconciliation: midrate [?] exchange rate, […] – when

DMFAS:

At the end of the day.

IWF:

Ok, good for stocks – I can accept this for flows, too.

DMFAS:

I don’t see an issue there.

does it come in?

IWF:

Yes, yes, it’s over the top what you […] Does DMFAS has the provision – how do I know – that the opening position is the same like the closing position [?]

DMFAS:

[Er fasst ganz schnell zusammen:] start with opening positions; then disbursement in original currency; then you have all [denkbaren] variations in principal: […] swaps, arrears created […] [Und „arrears“ lassen sich ihrerseits aufsplitten und werden entsprechend mannigfaltig in DMFAS erfasst: […]]; interest [Zinsen ihrerseits aufgesplittet, und werden entsprechend mannigfaltig erfasst in DMFAS: „interest arrears created“, „penalty interest“, „accrued interest“, […] ]. That’s what you call immediate due in the IMF/World Bank.

IWF:

Exactly.

An dieser Interaktion fallen das schnelle Turn-Taking in Form der kurzen, immer unmittelbar vom Gesprächspartner erwiderten Sätze und die Dichte an Fachbegriffen auf. Zusammen mit der Tatsache, dass die Zusammenkunft zwischen IWF- und DMFAS-Experte überhaupt stattfand, und dass es nicht nur einmalig, sondern zu wiederholten Gesprächen zwischen beiden kam (es gab vor Ort mindestens drei Treffen der beiden innerhalb von ca. einer Woche), ist folgende Deutung möglich: Die beobachtete Interaktion ist ein mikrosoziologisches Beispiel dafür, dass es im Schuldenmanagement eine transnationale epistemische Gemeinschaft gibt (vgl. Haas 1992; Ikenberry 1992). Diese Deutung muss allerdings noch präzisiert werden. Denn andere empirische Daten zeigen, dass die hier situativ beobachtete „Interaktionsharmonie“ zwischen zwei Schuldenexperten verschiedener Institutionen nicht mit einem ständigen totalen Konsens zu verwechseln ist. In dieser Hinsicht wiederholt sich das Muster, das im letzten Abschnitt über den Projektionszusammenhang DMFAS –

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Weltbank herausgearbeitet wurde: Die DMFAS- und Bretton WoodsExperten teilen zahlreiche epistemische Grundauffassungen, was das Schuldenmanagement angeht, und beide Seiten sehen die Notwendigkeit „internationaler Standards“ im Schuldenmanagement. Dennoch sieht sich das DMFAS-Programm auch, in der Rolle einer UNOrganisation, als Interessenvertreter der Entwicklungs- und Schwellenländer. So werden die „Annäherungsversuche“ der Weltbank, und ebenfalls diejenigen des IWF, immer auch mit Skepsis quittiert. In Bezug auf den IWF ist dafür folgende Feldnotiz instruktiv. Der DMFASExperte äußerte sich nach dem oben zitierten Wortwechsel nämlich im Zwiegespräch mit der Verfasserin wie folgt (26.11.2004): But, you see, he [der IWF-Vertreter] is more pushing for cooperation with us, he is asking more questions than myself. […] You saw, I didn’t invite him to the statistics workshop [den das DMFAS-Programm damals, d.h. für Januar 2005, in der Zentralbank und im Finanzministerium von Indonesien plante]. As […] [Chef des DMFAS-Programms] said, and I agree with this: we have to be careful, we don’t want to get one-dimensional.

Die letzte Formulierung macht deutlich, dass DMFAS- und IWFExperten nicht harmonisch epistemisch vergemeinschaftet sind („we don’t want to get one-dimensional“). Vielmehr pendeln die DMFASExperten permanent zwischen Einverständnis und Zwietracht mit den IWF-Schuldenexperten. Fasst man diese und die vorigen Untersuchungsergebnisse zum Projektionszusammenhang DMFAS – IWF zusammen, und stellt man sie den Ergebnissen zum Projektionszusammenhang DMFAS – Weltbank aus dem letzten Abschnitt gegenüber, so lassen sich zwei Ähnlichkeiten feststellen: Wie schon bei der GDF-Datenbank der Weltbank sind DMFAS-Software und DMFAS-Personal maßgeblich am „Framing“ nationaler Schuldendaten für die globale Beobachtungsebene beteiligt. Die Software enthält seit dem Jahr 2000 die Funktionen für die „automatische Brücke“ zur Weltbank, und der Einbau von Standards, die zur Internet-Plattform des IWF gehören, wurde von den Genfern im Forschungszeitraum 2004/2005 vorbereitet (vgl. DMFAS 1999/2000). In beiden Fällen gibt es empirische Belege für die grundsätzliche Kooperation zwischen dem DMFAS-Programm und den Bretton Woods-Institutionen. So wurde etwa an den beobachteten Gesprächen zwischen dem Vertreter des IMF Statistics Department mit

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dem DMFAS-Experten in Indonesien deutlich: IWF und DMFASProgramm tauschen sich mit einer auffälligen Selbstverständlichkeit wie Kollegen einer transnationalen epistemischen Gemeinschaft, die ihre Grundannahmen nicht mehr hinterfragen, aus (vgl. Haas 1992; Ikenberry 1992). Allerdings ist dieser Konsens nicht ungebrochen: Wie schon im Vergleichsfall DMFAS – Weltbank herrscht auch gegenüber dem IWF Skepsis. Beide Vergleichsfälle sprechen also für das Konzept einer „contested epistemic community“ von DMFAS-, Weltbank- und IWF-Experten.36 Dazu passt eine weitere Parallele bei beiden Vergleichsfällen. Sowohl im Projektionszusammenhang DMFAS – Weltbank als auch im Projektionszusammenhang DMFAS – IWF koexistiert die von den transnationalen Experten mühsam aufgebaute und am Laufen gehaltene Ebene globaler komparativer Fremdbeobachtung ständig mit nationalkulturellen Praktiken der Selbstbeobachtung von Verschuldung. Genauer gesagt, im Fall der IWF-Plattform „wuchert“ die Nationalkultur ganz deutlich innerhalb des im sonstigen Aufbau der Websites vorherrschenden Standard-Rahmens. Das IWF-System inkludiert Nationalstaatlichkeit also offensichtlich – vermutlich notgedrungen, denn die Souveränität seiner Mitgliedsstaaten kann der IWF letztlich nicht unterlaufen. Im Fall des Weltbank-Projektionszusammenhangs sah man Nationalkultur insofern „wuchern“, als nicht alle Länder, die im Prinzip über die „automatische Brücke“ verfügen, diese auch wirklich nutzen. Auch hier hat die Weltbank systematisch mit der Souveränität der Nationalstaaten zu kämpfen. Allerdings gab es im letzen Abschnitt auch ein Beispiel dafür, wie Nationalstaatlichkeit den Projektionszusammenhang stützen kann: Über zur Weltbank geskopte nationale Schuldenzahlen wird bei Bedarf, so legt das besprochene Beispiel nahe, durch einen legitimen Sprecher des betreffenden Landes Zeugnis abgelegt.

36 Diese Art von Expertengemeinschaft wurde im zweiten Kapitel ausführlicher behandelt.

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3.4 AUSBLICK : NATIONALE S CHULDEN AUF DEM H ANDY ? E XTREME S KOPIK UND NEUE I N - UND E XKLUSIONEN IN DER Z UKUNFT Mit der neuen Version 6.0 der DMFAS-Software wird sich die globale technoepistemische Sichtbarmachung von nationaler Verschuldung voraussichtlich verschärfen. Gleichzeitig ist mit einer stärker differenzierten Exklusion von ökonomischen Teilnehmern, die an einer Einsicht in nationale Verschuldungssituationen interessiert sind, zu rechnen. Diese doppelte Entwicklung – die globale Skopik wird extremisiert, während gleichzeitig der Zugang zu diesen erweiterten elektronischen Beobachtungsräumen genauer geregelt wird – lässt sich auch noch an einem anderen Arbeitsfeld festmachen: der Beteiligung von DMFAS-Experten am sog. „DeMPA“, einer neuen Initiative der Weltbank zur Prüfung der Leistungsfähigkeit nationaler Schuldenbüros („Debt Management Performance Assessment“; World Bank 2009). Auf diese beiden Beispielfälle, also die neue Version 6.0 und die Aktivitäten des DMFAS-Programms im Rahmen von DeMPA, ist nun näher einzugehen. Am Schluss kann dann geprüft werden, was diese Entwicklungen für die Theorie skopischer Systeme bedeuten, und hier speziell für die Begriffe „inklusiv“ und „exklusiv“ (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008: 177-183). Die Schlussfolgerungen sind allerdings vorläufig, es ist weitere empirische Forschung nötig: Version 6.0 wird seit Mitte des Jahres 2009 erst nach und nach weltweit installiert, und auch die DeMPA-Initiative steht erst am Anfang. In beiden Fällen gilt: „It‘s still early days“, wie der Chef des DMFAS-Programms im Juni 2009 sagte (Interview vom 5.6.2009).

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Abbildung 23: Willkommen im Internet: das Portal der neuen DMFAS-Software 6.0

Quelle: Interview mit dem Technical Writer des DMFAS-Programms vom 5.6.2009

Einer PowerPoint-Präsentation des DMFAS-Programms über die neue Software ist zu entnehmen, dass Version 6.0 anstelle von COBOL mit Java programmiert ist (DMFAS 2009: 33). Java ist eine inzwischen sehr weit verbreitete Programmiersprache für unzählige IT-Systeme – von lokalen Rechnern über Konsum-Elektrowaren bis zu Industrierobotern, wie das Unternehmen Sun Microsystems, das als Urheber der Entwicklung der Java-Sprache bezeichnet werden könnte, mitteilt (JCP 2009a). Java-Produkte werden gegenwärtig durch eine aus ca. 1200 Personen bestehende halb-öffentliche Gemeinschaft, bei der die Mitgliedschaft für Individuen – aber noch nicht für Unternehmen oder sonstige Körperschaften – kostenlos ist, fortentwickelt (JCP 2009b). Die Produkte sind offenbar mit vielen verschiedenen technischen Plattformen kompatibel (JCP 2009a). Auch die mit Java programmierte neue DMFAS-Software 6.0 ist dem DMFAS-Programm zufolge im Vergleich zur Vorversion 5.3 ein in technischer Hinsicht mindestens dreifach „geöffnetes“ System: „It is open to different application servers“, „open to different networking operation systems“ und „compatible with other systems/interfaces“ (DMFAS 2009: 33; Hervorhebungen BG). Dabei werden zwei der drei möglichen „application servers“ selbst als „open source“-Systeme bezeichnet (a.a.O.).

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Diese technische Offenheit, die in unterschiedlicher Weise für diverse Systeme zu gelten scheint, welche im zukünftigen transnationalen Schuldenmanagement offenbar stärker miteinander verflochten werden, impliziert schon für sich genommen einen neuen globalen sozioelektronischen Raum zahlreicher Feedback-Schleifen zwischen Entwicklern und Nutzern. Dieser Raum wäre hinsichtlich seiner genauen Ausdehnung und der Funktionsweise jedes einzelnen Teilsystems – nicht nur der DMFAS-Software – in einem eigenen Forschungsprojekt zu untersuchen. Dazu wäre es nötig, sich tiefer in programmiertechnische Details einzuarbeiten und innerhalb der Techniksoziologie aktuellste IT-soziologische Literatur heranzuziehen, etwa zu sog. „open source-“ bzw. „freier“ Software (vgl. Kelty 2008). Die vorliegende Analyse beschränkt sich im Weiteren auf wenige erste empirische Daten zur DMFAS-Software. Nachfolgend wird eine über 10 Jahre beim DMFAS-Programm beschäftigte Schuldenexpertin zitiert, die in der letzten Phase der Datenerhebung (Juni 2009) zu den neuen Merkmalen der Version 6.0 befragt wurde. Anhand ihrer Aussagen erscheint die zunächst rein „technisch“ anmutende Öffnung der Software als sozial äußerst folgenreiche Sichtbarmachung nationaler Schuldenportfolios zugunsten verschiedener Weltgegenden (Territorien) und Welt-Parteien (Interview 4.6.2009; Tonbandmitschnitt; Hervorhebungen BG): „Für mich das Wichtigste ist [...] die ganze technologische Plattform [...], dass das Ganze eben […] – wie sagt man – Ubiquität oder wie sagt man auf Deutsch – diese Verfügbarkeit von Daten einfach – äh, drastisch erhöht wird. […] Dass also die Daten wirklich in Sekundenbruchteilen von allen Ecken und Enden, theoretisch, bezogen werden können. Das ist ganz wichtig, also – und dass man das System eben noch weiter runter installieren kann, das heißt [...], dann kannst Du eben sehr sehr einfach auch – was wir machen, geben Access to Auditors, das ist auch son Projekt, das solltest Du vielleicht auch mal notieren, wenn Du das INTOSAI noch mit reinbringen willst. Hier haben wir z.B. das Auditing Office [zeichnet eine Skizze]. Die eben direkt jetzt an die Datenbank, per Internet, sich einloggen können, und dort Reports, also die ganzen Tabellen, produzieren können. Und ihre Financial Audit machen können. Und […] dann kannst Du das so machen, dass Du hier – das Ganze ausstrahlen lassen kannst. Auf, auf, ich sag mal – regionaler, munizipaler Ebene, eben wie in Argentinien. […] Du kannst den Leuten sagen: [...] ‚Loggt Euch beim Internet ein und schickt uns die Daten hier ins Ministerium.’ […] Gut, die [argentini-

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schen Provinzen] haben jetzt ihre eigenen Datenbanken, ne, die waren natürlich nicht so wild drauf, die Daten direkt dem Ministerium zu geben. Und die schicken, soviel ich weiß, [bisher] nur Reports ans Ministerium. Jetzt gibts die Möglichkeit, dass die keine Datenbank haben sondern sich vom Screen aus halt direkt hier in die Datenbank [des Ministeriums] einloggen [zeigt auf Skizze].“

Die DMFAS-Expertin spricht eingangs von „Ubiquität“, um die zukünftige Skopik zu charakterisieren, und betont die gesteigerte Reflexions- und Fließgeschwindigkeit in den neuen Beobachtungszusammenhängen („in Sekundenbruchteilen von allen Ecken und Enden“). „Ubiquität“ bedeutet u.a. die „Fähigkeit, überall oder an allen Orten zur gleichen Zeit zu sein“ (Oxford English Dictionary 1989b: 805). Die neue Version 6.0 transformiert nationale Verschuldungssituationen also in überall gleichzeitig zugängliche Daten? Aus Sicht der Interviewten trifft dies konkret insofern zu, als man nun „das Ganze ausstrahlen lassen“ könne, indem zum einen externe Finanzprüfer („auditors“), zum anderen staatliche Leitungsebenen unterhalb der Zentralregierung eines Landes auf regionaler bzw. munizipaler Ebene leichter in die nationale Schuldenbeobachtung hineingezogen werden könnten. Dabei ist dies für die zweite Gruppe, die regionalen bzw. munizipalen Entscheidungsträger, offenbar von zweifelhaftem Nutzen: Die Interviewte sagt, dass etwa die argentinischen Provinzen „natürlich nicht so wild drauf [waren], die Daten direkt dem Ministerium zu geben“. Vermutlich, so lässt sich weiter argumentieren, drohen sie mit dem unmittelbaren Anschluss ihrer eigenen Beobachtungssysteme an dasjenige der Zentralregierung Teile ihrer territorialen Entscheidungsmacht einzubüßen. Der Hinweis der Expertin auf INTOSAI macht dann das buchstäblich globale Ausmaß der sozialen Konsequenzen der technischen Öffnung der Version 6.0 deutlich. INTOSAI ist die „Internationale Organisation der Obersten Rechnungskontrollbehörden“ und hat in ihrer Funktion als Dachorganisation von externen Finanzprüfungsinstitutionen (wie z.B. dem deutschen Bundesrechnungshof) interessanterweise anscheinend sowohl staatsnahe als auch staatsferne Eigenschaften (INTOSAI 2009). Sie repräsentiert sich nämlich als „nichtstaatliche“ und „autonome“ Organisation mit dem Auftrag, den internationalen Erfahrungsaustausch für – gleichwohl – „staatliche“ Finanzkontrolle zu fördern (a.a.O.). Externe Finanzprüfer könnten der zitieren DMFAS-Expertin zufolge von gleich welchen Punkten des Globus aus

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in Zukunft wesentlich leichter Zugang zu den internen Daten eines nationalen Schuldenbüros bekommen.37 Im Auto der eben zitierten DMFAS-Expertin kam es noch zu einem informellen Nachgespräch. Die Expertin zeigte während der Fahrt auf ihr Handy und sagte, in Zukunft könne man sich „theoretisch“ auch mit dem Handy von irgendwo in der Welt aus in ein nationales Schuldenportfolio einwählen. Damit, so lässt sich hier vorläufig schlussfolgern, würden sich die Projektionsleistungen, die von Nationalstaaten mithilfe der DMFAS-Software z.B. zur Weltbank geleistet werden, wie folgt ändern: Vertreter nationaler Schuldenbüros hätten auf ihrer Reise nach Washington, wo die Schuldenzahlen manchmal persönlich bezeugt werden müssen, nicht mehr eine (schon veraltete) Kopie der nationalen Datenbank auf einem Laptop mit im Gepäck, sondern könnten sich vor Ort sekundenschnell in die hochaktuelle Datenbank ihrer Heimatinstitution einloggen.38 Dies wäre ein Beispiel außerordentlicher Zeit-Raum-Kompression in alltäglicher Arbeit – außerordentlich auch deshalb, weil es um ausgesprochen relevante ökonomische Daten geht. Es sind Daten teils „systemisch wichtiger“ Finanzinstitutionen (G-20 2009a: 1, 3). Mithilfe eines lokalen Rechners oder gar mit dem eigenen Handy würde ein nationaler Vertreter, z.B. Argentiniens, gemeinsam mit einem Weltbank-Vertreter in Washing-

37 Es wären dann aber auch Ablenkungsstrategien des nationalen Schuldenbüros zu erwarten. Eine sich anbietende, auch in anderen soziotechnischen Handlungskontexten (z.B. universitären Prüfungsverfahren) übliche Ablenkungsstrategie ist etwa der Rückzug auf vermeintlich unumgehbare „technische Probleme“ (z.B. bei elektronifizierten Prüfungsinformationssystemen), deren Behebung vorläufig außerhalb der Möglichkeiten der betreffenden Organisationseinheit (z.B. des Fachbereichs) und stattdessen im Zuständigkeitsbereich anderer Einheiten (z.B. der technischen Administration) liegt. Damit kann eine Organisationseinheit gerade in der Einführungsphase neuer Technologien nach außen plausibel Zeit gewinnen, um unliebsame Nutzungswünsche abzuwehren. 38 Im letzten Abschnitt wurde erläutert, wie ein Beamter des argentinischen Finanzministeriums die zur Weltbank projizierten Schuldendaten kraft seines Amtes persönlich vor Ort bezeugt. Der Beamte hatte dabei berichtet, er habe bei seiner letzten Reise nach Washington die DMFASSoftware mit der nationalen Datenbank im Laptop mitgebracht (die Datenbank ist also quasi physisch mit ihm verreist).

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ton die eigene, in Buenos Aires verwaltete nationale Verschuldung einsehen. Dabei wäre schon diese Sprachwahl – Washington versus Buenos Aires – nicht realitätsnah. Denn die nationalen Datenbanken könnten, so teilte die DMFAS-Expertin auch mit, dank der Java-Programmierung und Internet-Kompatibilität der neuen Software-Version 6.0 auf einem beliebigen Server weltweit liegen. Und dies sei auf der Benutzeroberfläche des Systems, wie auf sonstigen Websites, nicht zu bemerken (Interview am 4.6.2009). Wenn es in der Zukunft tatsächlich zu solchen unsichtbaren Verschiebungen technischer Hinterbühnen kommt, so sind das technische Mikroprozesse, die makropolitisch höchst brisant sind. Dies hat der Chef des DMFAS-Programms angedeutet (Interview vom 5.6.2009): Speicherplätze extrem wichtiger Datenbanken und deren Betreuung durch IT-Fachkräfte könnten kreuz und quer über die Welt verschoben werden. Aber dies müssten Staaten sich gut überlegen.39 Denn welche neuen Kräfteverhältnisse würden sich so über den Globus entspannen – Kräfteverhältnisse, die untrennbar gemischt sozial (bzw. politisch), ökonomisch und elektronisch sind? Aus dem o.g. Zitat der Schuldenexpertin lässt sich auch die Kehrseite dieser vielfachen Öffnung des sozioelektronischen Beobachtungsraums von Verschuldung herauslesen: die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen. Nachdem die Interviewte auf die „drastische“ Erhöhung der Verfügbarkeit von Daten hingewiesen hat, ergänzt sie gleich im nächsten Satz: „Wobei auch drastisch die Security verbessert

39 Der Chef sprach davon, dass die neue webbasierte DMFAS-Software 6.0 für sog. „low-income countries“ eine Chance darstelle: Sie könnten nun mit sehr geringem Finanz- und Arbeitsaufwand ihren örtlichen Zugang zur eigenen Datenbank aufrechterhalten, während diese effektiv ganz woanders betreut werde. Allerdings müsste über eine solche globale Aufsplittung von Zugang und technischem Support politisch entschieden werden (Tonbandmitschnitt; Hervorhebungen im Original): „Even for the low-income countries, a Web version is simplier to manage. Then a clientserver version. Because it gives more opportunities. Now, obviously for some of these opportunities they need a political decision, and what I'm talking about here is that it would give them the opportunity, for example, to have their database managed elsewhere. […] To log into it. For example, for us eventually to set up a regional center we could have that. But that's a political decision.”

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werden muss, ne“. In einem anderen Interview erläuterte sie, dass die Sicherheitsmaßnahmen bestimmte technische Einstellungen sind (3.6.2009): „Du musst, wenn Du ein Netzwerk hast, sowieso ne Firewall um Dich herum haben, klar, also, im Prinzip sind die Daten alle hinter der Firewall. Und da jetzt die Türchen, Durchgänge oder Portals oder was zu öffnen, brauchst Du wie gesagt dieses Password. – Normalerweise werden die Passwörter dann auch regelmäßig verändert, damit Du dran kommst, außerdem – diese Security, die 5.3 schon hat, die in 6.0 noch verschärft wird, die geht im Prinzip bis runter auf die einzelnen Daten, also Du, Du – hast jetzt nicht mehr Zugriff aufs ganze System […] sondern, Du hast Zugriff nur noch auf einzelne Datenportionen.“

Interessant ist, dass die Interviewte von „Türchen“, „Durchgängen“ und „Portals“ im Plural spricht, und dass sie betont, die Sicherheitseinstellungen gingen „bis runter auf die einzelnen Daten“ bzw. „Datenportionen“. Die grundsätzliche globale Öffnung des Beobachtungssystems geht demnach anscheinend mit einer Definition verschiedener charakteristischer Einzelzugänge einher. Werden also für verschiedene Nutzer des Beobachtungssystems in Zukunft verschiedenste Gänge durch diesen neuen riesigen Beobachtungsraum gelegt? Sind sie dann wie Würmer in einem weit verzweigten Erdreich, die am besten nur ihre eigenen Gänge kennen? Und wer entscheidet nach welchen Maßgaben über die jeweils zulässigen Gänge? Eine solche globale Öffnung eines skopischen Systems, das gleichzeitig „innerlich“ höchst partikular zu begehen ist, ist vermutlich ein soziologisch ganz neu zu theoretisierendes Phänomen. Es würde eine genauere Erforschung lohnen. Ähnlich paradox – global geöffnet und doch auch differenziertexklusiv – mutet auch ein anderer neuer Arbeitsbereich des DMFASProgramms an. Dies ist die noch im Aufbau begriffene Kooperation mit der Weltbank im Rahmen der DeMPA-Initiative. Die folgende Interviewsequenz thematisiert diese Kooperation. Das Besondere ist: Nun sollen offenbar abgesehen von den Schuldendaten auch die Organisationen selbst, d.h. die Finanzministerien und Zentralbanken, welche die Daten generieren, global sichtbar gemacht werden (Interview mit der o.g. DMFAS-Expertin, 4.6.2009; Hervorhebungen im Original):

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DMFAS-Expertin:

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Gerade dieses DeMPA finde ich recht interessant, weil das im Prinzip wie son Audit ist, Management-Audit, also die – Weltbank und – und wir – arbeiten ja zusammen, wir schicken die Mission zusammen raus […], wobei wir dann arbeitsteilig vorgehen, die Weltbank guckt sich dann doch eher die institutionellen Sachen an, und die Strategiesachen, und wir beschäftigen uns dann doch mehr mit – ja was Daten sind und und […] Security und Reporting, […], Statistics. […]. Also, ähm, da wird im Prinzip – ja – um nach dieser Logik mal zu schaun: Es wird im Prinzip ein Bild gemacht, oder es wird abgelichtet, wie dieses Schuldenbüro funktioniert. – Und dann wird das Ganze bewertet. Und aufgrund dieser Bewertung wird dann eben ein Reformplan vorgeschlagen. […] Also wird schon im Prinzip sone Art Röntgenbild von der ganzen Organisation dort gemacht.

BG:

Und weißt Du [...] was dann mit diesen Informationen, Ratings [...] weiter passiert? [...] Ob die z.B. weiter disclosed werden sollen - diese Sichtbarmachungsfrage.

DMFAS-Expertin:

Nee, die werden nicht weiter disclosed, also das nicht […]. Die Idee ist, dass wir die untereinander uns – das heißt, zuspielen nicht, aber untereinander – äh, zuschicken – die Bank und wir, also alle – ich sag mal, Technical Cooperation or Technical Assistance Providers in dem Moment, äh, und wir sollen unsere Projekte eben daraufhin ausrichten. Und da sind viele, viele Mitspieler da, zum Beispiel in Honduras hier in dem Fall, da sitzt der American Treasury – American Treasury hat überall jetzt seine Berater hingesandt. Die sind überall in der ganzen Welt. […] Naja, also hier jetzt mit dem Sichtbarmachen, es geht jetzt nicht nur um diese Schulden und, und – ich sag mal die Daten, die dabei rauskommen, sondern es wird im Prinzip die die ganze Organisation sichtbar gemacht, durch dieses DeMPA.

Die DMFAS-Expertin beschreibt die Prüfung von Schuldenbüros im Rahmen der DeMPA-Initiative selbst in Metaphern der Sichtbarmachung („Bild gemacht“, „abgelichtet“, „Röntgenbild“). Weltbank, DMFAS-Programm und „viele, viele [weitere] Mitspieler“ wie z.B.

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das Amerikanische Schatzamt seien an dieser Durchleuchtung nationaler Institutionen beteiligt. Gleichzeitig sagt sie aber auch, dass die Ratings „nicht weiter disclosed“ würden, sondern nur innerhalb einer Gruppe bestimmter Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit zirkulieren würden (die Ratings sind Noten von A bis D; vgl. World Bank 2009). Der Chef des DMFAS-Programms korrigierte ihre Aussagen über diesen Exklusionsmechanismus in einem späteren Interview etwas. Die Weltbank habe es vorerst den Ländern selbst überlassen, zu entscheiden, ob sie die Prüfergebnisse weltweit (im Internet) veröffentlichen wollen, und beharre auch bisher auf diesem Prinzip. Allerdings vermutete er, dass die zunehmende Debatte über die Transparenz von Entwicklungszusammenarbeit dazu führen werde, die Prüfberichte in jedem Fall weltweit zu veröffentlichen (Interview vom 5.6.2009).40 Zusammengefasst stellt sich folgende Frage: Was bedeuten diese sich in Bezug auf die DeMPA-„Röntgen“-Initiative und die Öffnung der DMFAS-Software anbahnenden Entwicklungen für die Theorie skopischer Systeme (vgl. Knorr Cetina 2003; Knorr Cetina/Preda 2007; Knorr Cetina/Grimpe 2008)? Zunächst passen die letzten Ausführungen zum Exklusionsmechanismus bei der DeMPA-Initiative zum bisher verwendeten Begriff des global-inklusiven skopischen Systems, auch wenn dies terminologisch zunächst verwirrend anmutet (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008: 177-183). „Inklusiv“ bedeutet im bisherigen Begriffswerk: Ein skopisches System wie z.B. das DSBB (Internetplattform des IWF), die GDF-Datenbank der Weltbank (auch zugänglich über das Internet) sowie die DMFAS-Software schließen in sich sehr viele nationalspezifische Daten oder Funktionen ein, während sie gleichzeitig ökonomische Informationen global hin und her projizieren können. Solche skopischen Systeme produzieren oder zu-

40 Er sagte wörtlich (Hervorhebungen im Original): „There have been twenty of the DeMPA missions done, but still I think it's too early to tell exactly what impact it will have. – The commitment of the World Bank is that the results would not be published – if the country does not want them to be. […] And that is something which the World Bank is holding to. So far. But I say it's still early days, and if you look now with the Paris Declaration on Aid Effectiveness and everything that is happening there, on aid transparency and all of that, I think the results should be published, they should be shared.“

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mindest unterstützen also eine übergeordnete komparative Optik über alle Nationalstaaten hinweg, sind aber vielfach „durchwachsen“ von nationalen Eigenheiten ökonomischer Datenerfassung. Umgekehrt sind global-exklusive Systeme weitestgehend bereinigt von Nationalstaatlichkeit, sie exkludieren diese absichtsvoll.41 So erscheinen also auch die Röntgenaufnahmen der DeMPA-Initiative in gewissem Sinn als global-inklusive Aufnahmen: Die Nationalstaaten bleiben zunächst die tonangebenden politisch-ökonomischen Akteure des Beobachtungszusammenhangs, indem sie bestimmen, ob „ihre“ Röntgenaufnahmen veröffentlicht werden oder nicht. Und doch passiert hier auch etwas Neues, was quer zur bisherigen Unterscheidung globaler Exklusivität und Inklusivität skopischer Systeme liegt. Wird nicht gleichzeitig aufgrund zahlreicher neuer globaler Mitspieler unterschiedlichster Provenienz – man denke an das Amerikanische Schatzamt – ein ganz neuer, sich in seinem Zuschnitt ständig wandelnder Beobachtungsraum aufgeschlossen, in dem immer wieder neu über die legitime und nichtlegitime Einsichtnahme in nationale Schuldenbüros entschieden wird? Die Röntgenaufnahmen werden ja im Zuge immer neuer sog. „country missions“, Land für Land, erstellt (siehe „DeMPA Mission Calendar“ im Internet, World Bank 2009). Schaut man sich die wenigen im Internet veröffentlichten Prüfdokumente etwas näher an, so ist festzustellen, dass jede bisherige „mission“ eine neue Zusammenstellung (sozusagen eine neue Mischung) verschiedenster Finanzexperten von Weltbank und anderen Organisationen aufwies (vgl. World Bank 2009). Entsteht so je „mission“ bald eher exklusives, bald eher inklusives Wissen, und was genau beinhaltet „inklusiv“ und „exklusiv“ (für wen) dann jeweils? Welche neuen (d.h. theoretisch irgendwie neu zu kategorisierenden) globalen epistemischen Vergemeinschaftungen entstehen so langfristig, „mission“ für „mission“, und salopp gesagt, Mischung für Mischung? Müssen die neuen epistemischen Vergemeinschaftungen als sehr temporär verstanden werden – nämlich als Gemeinschaften, deren Inklusivität bzw. Exklusivität mikrosozial ständig neu verhandelt wird? Auch die Ausführungen zur neuen DMFAS-Software 6.0 können einerseits an die bisherigen Begriffe der Theorie skopischer Systeme angeschlossen werden, führen aber andererseits auch, im Detail be-

41 Siehe dazu die Ausführungen zu global-exklusiven und -inklusiven Systemen in den ersten Abschnitten dieses Kapitels.

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trachtet, zu theoretischer Verwirrung. Wie werden die partikularen „Beobachtungsgänge“, die in Zukunft eventuell quer über den Globus durch verschiedene Teilsysteme hindurch auf nationale Datenbanken gelegt werden, genau aussehen? Welchen ökonomischen und politischen Akteuren, privat oder öffentlich, kollektiv oder individuell (z.B. individuelle Investoren weltweit), werden wie weit Einsichtnahmen gewährt? Dies sind erste Fragen, denen im Zuge einer eingehenderen empirischen Erforschung und durch weitergehende theoretische Begriffsarbeit nachzugehen wäre.

3.5 Z USAMMENFASSUNG In diesem Kapitel wurde empirisch begründet, dass und inwiefern die DMFAS-Software, ein Schuldenmanagementsystem von UNCTAD, als „skopisches System“ begriffen werden kann (vgl. Knorr Cetina 2003 und 2005a; Knorr Cetina/Preda 2007). Die DMFAS-Software als skopisches System vereint in sich zahlreiche epistemische Leistungen zur Sichtbarmachung und Zusammenschau eines so komplexen, global weitreichenden und dynamischen Phänomens wie der Verschuldung einer Nationalökonomie. Diese Leistungen umfassen u.a., wie ausgeführt wurde, das Klassifizieren, Zentralisieren und Reflektieren von Schulden; hinzuzuzählen sind verschiedene Projektionsfunktionen, die die Übertragung von Schuldendaten in andere skopische Systeme erlauben. In Projektionsprozessen zwischen skopischen Systemen werden die „selben“ Daten allerdings auch in unterschiedlichem Ausmaß umformatiert, was im äußersten Fall bedeutet: Daten werden nicht einfach nur neutral vermittelt sondern epistemisch überformt. Über weite Distanzen, d.h. bei Projektionsleistungen zwischen relativ unterschiedlich konzipierten skopischen Systemen von verschiedenen ökonomischen Akteuren (hier: Nationalstaaten, UNCTAD, IWF und Weltbank), kann dies zu erheblichen Unterschieden führen, wie die „selbe“ Verschuldung am einen Ort bzw. vom einen Akteur im Vergleich zum anderen Ort bzw. vom anderen Akteur gesehen wird. Die Analyse dieser vier skopischen Leistungen wurde in zwei Teile untergliedert, die zwei miteinander konfligierende Seiten der DMFAS-Software herausstellten. Im ersten Teil wurde das System vorrangig im nationalstaatlichen Bezugsrahmen untersucht, wo es Regierungen als Instrument zur Selbstbeobachtung der nationalen Ver-

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schuldung dient. Der zweite Teil analysierte die Software im Bezugsrahmen des globalen Finanzsystems, wo sie zusammen mit zwei anderen skopischen Systemen von IWF und Weltbank Daten bereitstellt, die eine globale komparative Fremdbeobachtung der Verschuldungssituationen aller möglichen Länder erlaubt. Beide Bezugsrahmen der Beobachtung von Verschuldung kollidieren strukturell, was sich in verschiedenen hier analysierten Situationen im Arbeitsalltag von DMFAS-, Weltbank- und UNCTAD-Mitarbeitern zeigt. Insgesamt lässt sich dieser permanente Konflikt begrifflich wie folgt fassen: Die Experten der UN und der beiden Bretton Woods-Institutionen müssen unter verschiedenen Gesichtspunkten als eine transnationale „epistemic community“ begriffen werden (vgl. Haas 1995; Ikenberry 1995). Doch da diese Gemeinschaft immer wieder un-einstimmig agiert, ist diese noch präziser als „contested epistemic community“ zu bezeichnen. Gleichwohl schlägt sich dieser Bezugsrahmen-Konflikt auch gewissermaßen produktiv in der Softwareentwicklung nieder: In die DMFAS-Software wurden seit ca. 1979 (erste Version) im Zeitverlauf sowohl zahlreiche nationalkulturell spezifische Managementfunktionen als auch sog. „internationale Standards“ einprogrammiert. Über die Zeit ist die Software so, anders gesagt, zu einer komplexen, selbst sehr bedeutungstiefen Seinsform im eigenen Recht geworden. In theoretischer Hinsicht ist der Begriff des skopischen Systems für die DMFAS-Software daher zu präzisieren. Die Software muss als global-inklusives skopisches System verstanden werden (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008). Im Vergleich zu global-exklusiven Systemen sind global-inklusive Systeme weit verzweigte Bildschirmräume, die in sich sehr viele, kulturell unterschiedliche Nutzungsbedürfnisse vereinen, und die also im Extremfall zu total divergierenden Nutzungsweisen des – insofern nur noch äußerlich – selben Systems führen können. Sie sind auch permanent der unausweichlichen Kritik ihrer sehr heterogenen Nutzer ausgesetzt, die die Eigenschaften des Systems in ihrem jeweiligen lokalen Kontext grundsätzlich als zu starr, zu grob etc. einstufen. Für die DMFAS-Software wie auch viele andere Systeme (z.B. andere UN- oder auch EU-Klassifikationssysteme), die Standards über weiterhin als souverän anerkannte Nationalstaaten und als erhaltenswert angesehene lokale Kulturen hinweg zu etablieren versuchen, gilt dieses grundsätzliche Dilemma. Global-exklusive Systeme, die am anderen Ende des Spektrums stehen und Nationalität und Lokalität buchstäblich übergehen (dürfen), sind auf der Welt wohl weitaus

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seltener anzutreffen. Solche Systeme tragen vermutlich sämtliche Kontextinformationen, die zur Weiterverarbeitung und zum Verständnis relevanter Daten nötig sind, in sich als eigene geschlossene Lebenswelt. Ein Beispiel für ein global-exklusives System sind die Handelsund Informationssysteme im inzwischen vollständig elektronisierten Interbankenhandel mit Devisen (vgl. Knorr Cetina 2005a). Im letzten Abschnitt wurde schließlich ein Ausblick auf das zukünftige skopische Schuldenmanagement gegeben. Auf Grundlage der letzten empirischen Datenerhebung (Juni 2009) konnten die Besonderheiten zweier neuer Arbeitsbereiche des DMFAS-Programms, die beide auf unterschiedliche Weise zur weltweiten Beobachtung nationaler Verschuldungssituationen beitragen, herausgearbeitet werden. Sowohl die neue DMFAS-Software 6.0, die seit Mitte Juli 2009 in die Distribution gegangen ist, als auch die „DeMPA“-Initiative der Weltbank, die der Prüfung der Performanz von nationalen SchuldenmanagementBüros dient und seit kurzem vom DMFAS-Programm mitgetragen wird, sind Beispiele für eine potentielle Verschärfung der globalen Skopik. Im ersten Fall besteht diese Verschärfung darin, dass nationale Schulden-Datenbanken, so „lokal“ sie einer bestimmten nationalen Finanzinstitution (Finanzministerium oder Zentralbank) noch zugeordnet erscheinen mögen, zukünftig im Prinzip vollständig und realzeitnah über das Internet von gleich welchem Punkt der Welt aus eingesehen werden können. Auch müssen diese Datenbanken gar nicht mehr physisch im Land selbst „liegen“, d.h. es entsteht im globalen Maßstab eventuell eine ganz neue, sehr komplizierte Landkarte faktischer (Speicher-)Orte nationaler Verschuldungen und des jeweiligen, dann möglicherweise auch räumlich verteilten täglichen Managements. Im zweiten Fall kann von einer Verschärfung globaler Skopik insofern gesprochen werden, als die Initiative über die Sichtbarmachung von Schuldendaten hinaus auch noch auf die röntgenartige Hervorbringung der hinter diesen Daten liegenden nationalen Organisationsstrukturen abzielt. Dies ist wie eine Sichtbarmachung zweiter Ordnung, sie kann den „zuerst“ sichtbar gemachten Daten in der Art einer Meta-Rahmung zusätzlichen Sinn geben: Wie sind die nackten Zahlen aus ihrem Herstellungskotext heraus zu verstehen? Beide Fälle verweisen auch auf mögliche neue zukünftige Entwicklungen, was den Ein- oder Ausschluss von ökonomischen Akteuren in den neuen globalen sozioelektronischen Beobachtungsraum angeht. An diesem Punkt kann die Theorie skopischer Systeme weiter

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vorangetrieben werden. Beispielsweise müssten Inklusions- und Exklusionsverhältnisse in Zukunft wohl stärker prozessual gedacht werden: als immer wieder verschiedenartig zurückgelegte Wege durch ein kompliziertes Raumsystem. Sie müssen vermutlich auch als ständig wandelbar begriffen werden – hier, im Fall von DeMPA: von „mission“ zu „mission“ werden die Teilnehmer des Prüfverfahrens neu zusammengestellt, und die Prüfberichte werden unterschiedlich weit veröffentlicht. Diese Theorieerweiterung bedürfte aber einer besseren empirischen Datengrundlage, die im Rahmen zukünftiger Forschung zu erarbeiten wäre.

4. Nationalökonomie voraussehen. Die rastlose Zukunftsmaschinerie des Schuldenmanagements

4.1 E INLEITUNG „[D]ie Zeitlichkeit [steht] in einem bemerkenswerten Zusammenhang zur Ökonomie und zum ökonomischen Menschen. […] [D]er Einbruch der Zeitlichkeit und die Irritation durch die Zukunft [scheint] […] ein konstitutives Attribut des Ökonomischen zu sein. Der ökonomische Mensch ist durch seine Ausrichtung auf die Zukunft charakterisiert, ebenso wie die Definition der Ökonomie als System selbst an der Zukunft zu hängen scheint“ (Tellmann 2007: 241).

Abbildung 24: Die deutsche Staatsverschuldung am 17.9.2010 um ca. 16.46 Uhr – jede Sekunde ein anderer Stand, der Bildschirm fließt

Quelle: Bund der Steuerzahler 2010

In diesem Kapitel wird die rastlose „Zukunftsmaschinerie“ des nationalen Schuldenmanagements untersucht. Die nachfolgend begründete erste These lautet, dass Nationalstaaten, die ein relativ finanzstarkes, komplexes und global weit verzweigtes sowie dynamisches Schulden-

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portfolio aufweisen – wie etwa Argentinien und Indonesien1 – und dieses Portfolio mit speziellen Bildschirmtechnologien zu kontrollieren versuchen, prinzipiell ständig ihre finanzielle Zukunft reprojizieren. Diese prinzipielle Notwendigkeit ergibt sich aufgrund der folgenden zusammenspielenden Merkmale des Feldes: aufgrund der zeitlichen Grundmerkmale und unterschiedlichen Arten von Krediten, die ein Staat aufnehmen kann, aufgrund der zeitlich entsprechend komplizierten Struktur eines staatlichen Portfolios insgesamt, und vor allem, aufgrund der verschiedenen Marktunsicherheiten, die in das nationalstaatliche Portfolio hineinwirken. Auf dieser ersten These baut die zweite These auf. Sie betrifft die Beziehung zwischen der Zeit des Marktes und der Zeit des Staates. Es bedarf, wie bereits Tellmann feststellte, einer „theoretische[n] Problematisierung von Zeitlichkeit, die den Blick gegen eine Hypostasierung von Unverständlichkeit und einfacher Entgegensetzung von beschleunigter Finanzökonomie und Nationalökonomie stärken kann“ (Tellmann 2007: 243). Die vorliegende Analyse möchte zu diesem Vorhaben mithilfe einer empirisch begründeten Theoriediskussion beitragen. Markt und Staat haben keine total unvereinbaren Temporalitätsstrukturen. Finanzmärkte einerseits und Staat und Bürokratie andererseits stehen sich nicht als relativ klar unterscheidbare Teilsysteme der Gesellschaft gegenüber (vgl. Rosa 2009: 88, 122-123). Dass Nationalstaaten „zu langsam geworden [sind] für das Transaktionstempo der globalisierten Moderne“, ist eine Annahme, die auf dieser Vorstellung gesellschaftlicher Teilsysteme aufbaut (Rosa 2005: 48; vgl. Rosa 2009: 110); vor dem Hintergrund des nachfolgend diskutierten empirischen Materials scheint sie jedoch sehr fraglich. Denn die Mitarbeiter nationaler Bürokratien sind darum bemüht (in sicherlich unterschiedlichem Ausmaß und auf z.T. unterschiedliche Weise), Schwankungen von Marktwerten immer wieder in Rechnung zu stellen – in diesem Fall konkret in die Berechnungen zukünftiger nationaler Verschuldung. Umgekehrt ist ein Staat, etwa über Staatsanleihen, selbst einer der Hauptakteure in verschiedenen Märkten. Es wird hier davon ausgegangen, dass auf staatlicher Ebene praktisch unendlich oft Re-Re-(…)-Projektionsarbeit betrieben werden muss, sofern die Schulden einer Nationalökonomie an den Finanz-

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Siehe dazu das zweite Kapitel, wo die Schuldenportfolios dieser beiden Länder charakterisiert wurden

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markt gekoppelt sind. Bei den meisten Nationalökonomien ist dies gegenwärtig der Fall. Wiederholte Reprojektionsarbeit ist prinzipiell zudem von denjenigen Ländern zu betreiben, die Umschuldungsverfahren durchlaufen; bisher waren dies über fünfzig Länder (vgl. Klein 1994: 141). Solche Länder haben oft relativ viele konzessionelle Kredite, d.h. Kredite, die mit niedrigeren als mit Marktzinsen verzinst werden. In dieser speziellen Hinsicht sind die Schulden der betreffenden Länder dann zwar zunächst entkoppelt vom Finanzmarkt – doch im Vorfeld von Umschuldungsverfahren wird über Diskontierung wiederum eine Marktnähe der Kredite hergestellt. In konzeptueller Hinsicht dehnt dieses Kapitel die Reichweite einer soziologischen Grundlagentheorie sowie eines wirtschaftswissenschaftlichen, finanzsoziologischen und organisationshistorischen Theorieansatzes aus. Gleichzeitig werden diese vier Theoriestränge untereinander verbunden. Aus Schütz’ und Luckmanns „Strukturen der Lebenswelt“ wird das Konzept der „Appräsentation“ und speziell des „Anzeichens“ übernommen (Schütz/Luckmann 1994: 178 ff.). Es wird gezeigt, dass Schuldenmanager verschiedentlich Appräsentationsarbeit mit Tabellen betreiben, d.h. mithilfe von in Tabellen dargestellten zukunftsbezogenen Schuldendaten die transzendente ökonomische Zukunft in der Gegenwart mit-präsent machen. Das Besondere dabei ist, dass diese Appräsentationsarbeit ständig wiederholt wird, d.h. dynamisiert ist, was Schütz und Luckmann nicht behandeln. Die zweite Theorie ist von Keynes: Er hat die Art, wie Produzenten und Investoren (und speziell Spekulanten) mit Zukunftsunsicherheit umgehen, als „ökonomische Maschine“ ständig erneuerter Erwartungen bezeichnet (Keynes 1936/1973: 50). Das vorliegende Kapitel wendet diese Argumentation auf nationalstaatliche Schuldenmanager an. Der dritte Theorieansatz stammt von Knorr Cetina bzw. Knorr Cetina und Preda, die mit dem sog. „Flow“-Begriff einen speziellen Zeitbegriff für gegenwärtige Finanzmärkte entwickelt haben (Knorr Cetina 2003 und 2005a; Knorr Cetina/Preda 2007). Es zeigt sich, dass ein Teil ihrer Argumentation auch auf das „fließende“ Zukunftsmanagement im Feld nationalstaatlicher Verschuldung übertragen werden kann. Außerdem fällt inhaltlich im Vergleich dieses Theorieansatzes mit dem von Keynes eine Ähnlichkeit zwischen der „Fluss“- und der „Maschinen“Metaphorik auf. Schließlich wird der Theorieansatz von Yates (1989) zur Bedeutung spezifischer Kommunikationsformen wie der Tabelle für die Kontrolle komplexer Organisationen berücksichtigt. Yates

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nimmt vor allem eine synchrone Perspektive auf die Funktion von Tabellen an der Spitze einer Organisation ein. Dieses Kapitel fügt dieser Perspektive eine diachrone Perspektive hinzu, indem gezeigt wird, dass die Manager von komplexen Organisationen – im vorliegenden Fall Nationalstaaten – Tabellen im Zeitverlauf immer wieder reproduzieren. Die Zukunftsmaschinerie wird ausgehend von der Funktionsweise der DMFAS-Software untersucht (DMFAS 2008a). Dies ist ein Informationssystem, mit dem gegenwärtig 82 Institutionen (Finanzministerien und Zentralbanken) in 66 Ländern ihre Schulden verwalten. Zusammen sind dies ca. 40%, d.h. mehr als 500 Milliarden US-Dollar aller ausstehenden und öffentlich garantierten langfristigen Schulden der Entwicklungs- und Schwellenländer (vgl. Weltbank 2008c: 11). Das vorliegende Kapitel konzentriert sich auf die Zukunfts-Projektionsfunktionen der Software für „fließende“ Schulden (engl. Teilnehmerbegriff: „debt flow“), d.h. für Finanztransaktionen (hauptsächlich Ausschüttungen von Krediten oder Tilgungs- und Zinszahlungen), die über Zeiträume hinweg betrachtet werden. Auf Basis der gespeicherten Daten zu bereits erfolgten Transaktionen, einprogrammierten Kalkulationsregeln und der Rechnerleistung eines Computers kann die DMFAS-Software die Schuldenzukunft einer Nationalökonomie immer wieder reprojizieren. Daher wird für dieses System der Begriff der ökonomischen „Zukunftsmaschine“ eingeführt. Eine vergleichbare Software, die von vielen anderen Ländern benutzt wird, das „CS-DRMS“ des Commonwealth Secretariat, weist nach den verfügbaren Informationen ähnliche Zukunfts-Projektionsfunktionen auf (vgl. CS-DRMS 2008). Dies gilt auch für die Systeme „DSM“ und „Debt Pro“ (vgl. World Bank 2008a, Debt Pro 2008). Damit kann davon ausgegangen werden, dass die Projektionsmaschinerie des Schuldenmanagements ein über die DMFAS-Software hinausgehendes Phänomen ist. Schuldenmanagement in der Art einer Maschinerie scheint international auf Schuldnerseite verbreitet zu sein, wie in der weiteren Analyse an folgenden Beispielen erläutert wird: Zunächst wird das Management von Krediten, die beim Asiatischen Entwicklungsfonds (AsDF) aufgenommen werden können, näher untersucht. Diese regionale Entwicklungsbank erlegt Schuldnerländern wie z.B. Indonesien indirekt Re-Re-(…)-Projektionsarbeit auf. Im Anschluss wird aufgezeigt, inwiefern Staatsanleihen, die an eine sich ständig ändernde makroökonomische Realität gekoppelt sind (inde-

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xierte Anleihen), immer wieder revidierte Projektionsarbeit erfordern. Argentinien, das verschiedene solcher indexierter Anleihen ausgegeben hat, dient hier als Beispiel. Schließlich werden diejenigen Länder, die nach Zahlungsschwierigkeiten in Umschuldungsverhandlungen mit Gläubigern des sog. „Paris Club“ treten, genauer betrachtet (vgl. Club de Paris 2008). Das Besondere bei diesen Ländern ist, dass sie im Grunde diverse Zukunftsszenarien durchspielen müssen, sofern sie ein möglichst passgenaues, vorteilhaftes Umschuldungsangebot für sich aushandeln wollen. Über diese drei beispielhaften Untersuchungsbereiche hinaus, die Entwicklungs- und Schwellenländer fokussieren, ist anzunehmen, dass alle Länder, die ihre Schulden in irgendeiner Form „marked-tomarket“ haben, alltäglich eine ähnliche, wenn nicht gar noch rastlosere Zukunftsmaschinerie am Laufen halten (vgl. Wheeler 2004: 127). Das Besondere an der Herstellung von Zukunftsszenarien ist, dass viele Schuldenexperten nicht nur einmalig Projektionen erstellen, sondern dass sie diese Projektionen ständig revidieren; und diese wiederholten Revisionen werden methodisch kontrolliert durchgeführt, um den Eindruck möglichst „sicherer“ Zukunftsbilder zu erzeugen. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde, ist die Revision und speziell auch die Re-Re-(…)-Vision ökonomischer Beobachtungen – in diesem Fall: die methodisch kontrollierte, immer wieder überarbeitete Antizipation einer eigentlich noch nicht verfügbaren ökonomischen Zukunft – Teil der Semantik von „monitoring“: „Keep under review; measure or test at intervals, esp. for the purpose of regulation or control“ (Shorter Oxford English Dictionary 2002: 181).2 Dass es sich bei ökonomischer Revisionsarbeit sogar um ein global verbreitetes Phänomen handelt, das sich nicht nur in der Managementpraxis und den Technologien auf Seiten der Schuldner, sondern auch auf Seiten der Gläubiger sowie bei internationalen Finanzinstitutionen finden lässt, legen mehrere empirische Hinweise nahe: Erstens bildet auch die Gläubigerseite die jeweils vergebenen Kredite in der Regel in Amortisationstabellen ab, und diese enthalten, wie auch die Amortisationstabellen beim Schuldner, Projektionen. Eine Einzelbeobachtung aus der Feldforschungsphase in Argentinien (März/ April 2004) zu einer Kreditbeziehung zwischen Japan und Ar-

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Ausführlicher wurde auf diese Bedeutungsvielfalt von „monitoring“ und verwandten Begriffen am Ende des zweiten Kapitels eingegangen.

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gentinien legt nahe, dass auch diese Gläubigerprojektionen revidiert werden.3 Zweitens enthält das empirische Material zur Reprojektionsarbeit Argentiniens bezüglich seiner Staatsanleihen einen Hinweis darauf, dass auch der IWF Zukunftsprojektionsarbeit betreibt. Dies passt zu Informationen über das globale Beobachtungssystem für Nationalökonomien im Rahmen der SDDS-Standardisierungsinitiative des IWF: Nachdrücklich empfiehlt der IWF den Staaten, die gemäß des SDDS-Formats Schuldenstatistiken im Internet veröffentlichen, Projektionen über zukünftige Schuldenzahlen zu liefern („debt service projections“, also Berechnungen zukünftiger Schuldenrückzahlungen incl. Zinszahlungen, IMF 2007: 11, 14).4 Auch die Weltbank gibt an, auf Grundlage eines bestimmten Rechenmodells Projektionen u.a. zu den Entwicklungsaussichten und der Zahlungsfähigkeit ihrer Schuldnerländer anzufertigen (das sog. „Revised Minimum Standard Model extended – RMSM-X“, Klein 1994: 121). Dass solche IWF- und Weltbank-Projektionen außerdem immer wieder revidiert werden, liegt nahe, kann allerdings nicht mit eigenem empirischem Material gezeigt werden. Das Kapitel ist folgendermaßen aufgebaut: Als Erstes werden die o.g. vier Theorieansätze von Keynes, Knorr Cetina bzw. Knorr Cetina und Preda, Yates sowie Schütz und Luckmann bezüglich ihrer Anwendbarkeit auf das Feld des nationalstaatlichen Schuldenmanagements diskutiert. Danach werden die Grundmerkmale staatlicher Kreditinstrumente und ein spezieller Aspekt der DMFAS-Software, die Zukunftsprojektionsfunktion für Amortisationstabellen, erläutert. Der anschließende Teil konzentriert sich auf die Wirkung von vier bestimmten Marktunsicherheiten auf ein staatliches Schuldenportfolio: Schwankungen von Währungswechselkursen, Zinsschwankungen, die zukünftige Entwicklung der Inflation und die zukünftige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Es wird in drei Unterabschnitten ausge-

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Konkret enthielt der im argentinischen Ministerium verwaltete Ordner mit der mehrjährigen Korrespondenz beider Seiten mehrere, im Zeitverlauf durch den Gläubiger aktualisierte Amortisationstabellen.

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Die SDDS-Initiative des IWF wurde im dritten Kapitel in Zusammenhang mit der skopischen Grundfunktion der räumlichen Projektion aus Nationalstaaten hin zum IWF nach Washingtion besprochen. Hier wird nun dagegen zeitliches Projizieren besprochen: tabellarische Zukunftsvisionen als „Würfe voraus“ in die Zukunft.

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führt, wie diese Unsicherheitsaspekte mit Hilfe von Bildschirmtechnologie methodisch kalkuliert und dadurch (einigermaßen) kontrolliert werden können. Hier wird auch gezeigt, dass Projektionsarbeit eine makropolitisch aufgeladene ökonomische Praxis ist. Die Zusammenfassung hebt noch einmal die wichtigsten Ergebnisse hervor.

4.2 T HEORETISCHE G RUNDLAGEN 4.2.1 Die ökonomische Erwartungsmaschine nach Keynes Keynes unterscheidet zwischen kurzfristigen, eher dem Tagesrhythmus der alltäglichen Produktion unterworfenen Erwartungen, die ein Unternehmer bezüglich des zukünftigen Preises der von ihm hergestellten Güter hat, und den langfristigen Erwartungen eines Investoren, die sich oftmals wie eine zweite Schicht über diese kurzfristigen Erwartungen legen würden (vgl. Keynes 1936/1973: 46/47, 51). Das folgende Zitat entstammt seiner Argumentation zur Wechselwirkung zwischen dem ersten Typ von Erwartungen, also den kurzfristigen Produzenten-Erwartungen, und der Beschäftigungsrate, wobei er die prinzipiell selbe Argumentation später auch auf Investoren – und darunter speziell diejenigen, die als „Spekulanten“ agieren würden – und deren langfristige Erwartungen anwendet (Keynes 1936/1973: 151): „[T]he state of expectation is liable to constant change, a new expectation being superimposed long before the previous change has fully worked itself out; so that the economic machine is occupied at any given time with a number of overlapping activities, the existence of which is due to various past states of expectation“ (Keynes 1936/1973: 50).

„Ökonomische Maschine“ steht hier für rastloses, vor allem von Erwartungen angetriebenes ökonomisches Handeln. „Die“ ökonomische Maschine erscheint wie ein unpersönlicher Mechanismus, eine grundlegende Gesetzmäßigkeit. Keynes erklärt diesen Mechanismus genauer: Produzenten und Investoren würden wiederholt aufeinanderfolgende, immer wieder geänderte Erwartungen aufstellen – doch die Effekte dieser Erwartungen (in Keynes’ Fall vorrangig Beschäftigungseffekte) würden sich erst mit einiger Verzögerung bzw. nicht immer gleich

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vollständig bemerkbar machen (Keynes 1936/1973: 48). Ein gegenwärtig zu beobachtender Effekt (hier: eine bestimmte Beschäftigungsrate) oder auch eine bestehende Kapitalausstattung seien also eigentlich das Resultat mehrerer früherer Erwartungszustände (Keynes 1936/1973: 50). Für die kurzfristig orientierten Produzenten stellt Keynes außerdem fest: „expected and realised results run into and overlap one another in their influence“ (a.a.O.). Das heißt, die von den Produzenten gebildeten Erwartungen würden mit der gerade erst abgeschlossenen Gegenwart in dem Sinn ineinanderfließen, als die kürzlich erzielten Verkaufserlöse als Ausgangspunkt für neue Zukunftserwartungen dienten, immer und immer wieder (a.a.O.: 51). Auch für die „Zukunftsmaschinerie“ im Schuldenmanagement greift die Argumentation von Keynes, wobei ein grundlegender Aspekt nicht direkt am empirischen Material aufgezeigt werden kann. So lässt sich nicht direkt empirisch belegen, dass die zu verschiedenen Zeitpunkten revidierten Amortisationstabellen (hier: im Fall von Krediten des Asiatischen Entwicklungsfonds) und die neu in den Markt eingeführten Kreditinstrumente (hier: argentinische Staatsanleihen) eigentlich das Resultat ganzer Ketten früherer aufeinander aufbauender Erwartungen sind. Entsprechend lässt sich letztlich nicht eindeutig behaupten, dass Schuldenmanagement, wie das o.g. Zitat von Keynes nahelegt, im Grunde vollständig Erwartungsmanagement ist: praktiziert in der Gegenwart mit gegebenem „state of expectation“, weiter fortgesetzt durch ständig „new superimposed expectations“, aus der Vergangenheit heraus angetrieben durch „various past states of expectations“. In abgeschwächter Form erscheint aber diese These – „Schuldenmanagement ist Erwartungsmanagement“ – durchaus plausibel. So wird im Empirieteil die Kreditvergabepraxis des Asiatischen Entwicklungsfonds (AsDF) näher untersucht, und hier wird deutlich werden, dass die Erwartungen anderer Akteure – in diesem Fall ein Gläubiger wie der AsDF – im Hintergrund auf die Zukunftserwartungen des Schuldners – in diesem Fall die indonesische Regierung – einwirken. Denn die Prognosen, die der AsDF bezüglich der zukünftigen Entwicklung der Wechselkurse anstellt, um sein Portfolio möglichst effizient zu halten, und die Entscheidungen, die er daraufhin bezüglich der Währungen der Kreditausschüttungen trifft, zeichnen sich indirekt auf der anderen Seite, im Portfolio des Schuldners, ab. So muss nämlich der Schuldner seine Rückzahlungen zuerst immer in denjenigen Wäh-

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rungen tätigen, die der Gläubiger zum jeweiligen Zahlungstermin gerade am besten gebrauchen kann – das sind die Währungen, die im Währungsmarkt gerade am meisten wert sind. Es kann außerdem in Anlehnung an Keynes über diesen Spezialfall hinaus allgemeiner argumentiert werden, dass Schuldenmanagement, sobald es in irgendeiner Form an den Finanzmarkt gekoppelt ist, also „marked-to-market“ ist, im Grunde an die aggregierten Erwartungen verschiedenster Finanzmarktakteure gekoppelt ist und daher mit verschiedenen Arten aggregierter Erwartungen kalkulieren muss (Wheeler 2004: 127; vgl. Keynes 1936/1973: 151, 154/155). So bemerkt Keynes über den amerikanischen Stock Exchange, dass die täglichen Reevaluationen von Investitionen, die im Kursverlauf des Marktes sichtbar würden, die Investoren – hier spricht er explizit und kritisch von „Spekulanten“ – dazu bringen würden, ständig ihre einmal getroffenen Investitionsentscheidungen zu überdenken, neue Prognosen zu erstellen und in der Folge wieder andere neue Investitionsentscheidungen zu treffen – wobei diese Prognosen und Entscheidungen ihrerseits nicht auf einer faktischen Realität sondern auf Vermutungen zum zukünftigen Entscheidungsverhalten der breiten Investorenmasse beruhen würden (a.a.O.). Dieser Argumentation zufolge reproduziert sich also der Kurs des Aktienmarkts aus nichts als Antizipationen von Antizipationen. Überträgt man diese Argumentation von Keynes nun z.B. auf den Geldmarkt, würde das für die vorliegende Arbeit bedeuten: Da viele Länder, wie etwa Argentinien, Anleihen mit variabler Zinsrate ausgegeben haben (oft z.B. mit Referenzzinssatz LIBOR), sind sie bei schwankendem Referenzzinssatz im Grunde schwankenden Antizipationen ausgesetzt. In letzter Konsequenz heißt das, dass Regierungen ihre Schuldenportfolio niemals vollständig und ein für alle Mal planen können. Die Sicht der ökonomischen Zukunft muss immer wieder re-vidiert werden, Entscheidungen über laufende und zukünftige Kredite müssen immer wieder neu abgewogen werden. Auch wenn sich also die These „Schuldenmanagement ist Erwartungsmanagement“ eher in schwacher Form und etwas umständlich belegen lässt, so besteht doch in den anderen von Keynes angeführten Punkten eine direkte, empirisch klar greifbare Übereinstimmung zwischen seiner „ökonomischen Maschine“ und der hier untersuchten Zukunftsmaschinerie im nationalstaatlichen Schuldenmanagement. Die von Keynes postulierte enge Überlappung, das „Ineinanderlaufen“ von einer eben abgeschlossenen Gegenwart und einer darauf aufbauenden

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neuen Projektion, oder sogar mehrerer paralleler Projektionen, kann z.B. an den mit der DMFAS-Software produzierbaren Amortisierungstabellen gezeigt werden: Die Projektion der Restlaufzeit eines Kredits läuft mit seiner jüngsten Tilgungsvergangenheit buchstäblich auf dem Bildschirm zusammen, und die Restlaufzeit wird in Abhängigkeit von der Tilgungsvergangenheit kalkuliert. Darüber hinaus wird der „maschinelle“ Charakter, d.h. die quasi automatisierte Rastlosigkeit im Ineinandergreifen von Vergangenheitsanalyse und Zukunftsprojektion bei Krediten, die wie diejenigen des Asiatischen Entwicklungsfonds im Zeitverlauf immer wieder anders aussehen, deutlich: Bei solchen Krediten sind über Jahre oder Jahrzehnte ein Dutzend und mehr Zukünfte zu (re-)projizieren. 4.2.2 Der zeitliche „Flow“ gegenwärtiger Finanzmärkte nach Knorr Cetina und Preda Die von Keynes angesprochenen ständigen „Überlappungen von Aktivitäten“, nämlich die fortwährende Revision von Erwartungen über die Zukunft auf dem Boden einer gerade erst abgeschlossenen Gegenwart (im Fall von Produzenten) oder auch auf dem Boden von wiederum früheren bzw. fremden Erwartungen (im Fall von Investoren und Spekulanten am Stock Exchange), finden ihre ungefähre Entsprechung im „Flow“-Begriff von Knorr Cetina bzw. Knorr Cetina und Preda (Knorr Cetina 2003 und 2005a, Knorr Cetina/Preda 2007). Mit diesem Begriff charakterisieren die beiden Autoren die Zeitstruktur heutiger globalisierter und technologisierter Finanzmärkte. Knorr Cetina und Preda zufolge „fließt“ ein Finanzmarkt – in ihrem Fall etwa der internationale Devisenhandel – in folgendem Sinn: Die weltweit verstreuten Traders, die alle die gleichen elektronischen Handelssysteme benutzten, beobachteten an ihren Bildschirmen unabhängig voneinander denselben (also inzwischen hochgradig standardisierten) Markt, träfen auf Grundlage dieser Beobachtungen ihre individuellen Kauf- und Verkaufsentscheidungen und veränderten damit im Aggregat eben diesen gemeinsamen Markt wiederum ständig. Der Markt sei nie ganz mit sich identisch, da Händlerentscheidungen reflexiv immer an vorige Händlerentscheidungen, diese wiederum reflexiv an vorige Entscheidungen anknüpften usw. (vgl. Knorr Cetina/Preda 2007: 126, 129-130). Demnach nimmt also ein informationstechnolo-

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gisch vermittelter Finanzmarkt im Aggregat und im Zeitverlauf ständig eine neue Gestalt an. Eine dieser Argumentation zugehörige zentrale These lässt sich in abgewandelter Form auf die Zukunftsmaschinerie im Schuldenmanagement übertragen. Knorr Cetina und Preda konstatieren, der auf die Bildschirme der Händler projizierte Markt sei „processual in the sense of an infinite succession of non-identical matter projecting itself forward as changing screen“ (Knorr Cetina/Preda 2007: 131; Hervorhebungen im Original).

Bezogen auf das nationalstaatliche Schuldenmanagement lässt sich parallel zu dieser These behaupten: Prinzipiell wird die finanzielle Zukunft eines Nationalstaats mit Hilfe von leistungsfähiger Bildschirmtechnologie immer wieder nicht-identisch mit sich selbst gemacht, indem sie auf dem Boden einer sich ständig „vorwärts schiebenden“ Gegenwart permanent revidiert wird.

In allen empirischen Fallbeispielen, die im Laufe dieses Kapitels besprochen werden, zeigt sich dieser für das technologisierte Schuldenmanagement typische rastlose Zukunfts-Revisionsmechanismus. Die noch ausstehenden Amortisationen von Krediten können in Reaktion auf Marktunsicherheiten rekalkuliert werden, wobei jüngste gespeicherte Transaktionsdaten und bestimmte Kalkulationsregeln zum Ausgangspunkt genommen werden (vgl. DMFAS 2004a, Kap. 13: 3). Auch im solchermaßen technologisierten Schuldenmanagement gibt es einen „changing screen“, ähnlich wie bei den Devisenhändlern. Allerdings aktualisiert sich der Bildschirm von Schuldenmanagern nicht im Sekundentakt sondern eher tage- bis stundenweise – je nachdem, wie komplex das jeweilige nationale Portfolio ist, und wie eng es mit anderen Managementsystemen auf der Regierungsebene verknüpft ist. Schuldenmanager können in der DMFAS-Software ein Funktionspaket nutzen, welches ihnen auf einem Bildschirm die zweigeteilte Schuldenrealität eines Kredits zeigt – in der oberen Hälfte die letzten, schon in der Vergangenheit liegenden Transaktionsdaten, in der unteren Hälfte die projizierte Zukunft für die restliche Tilgung. Sie können nun den Kredit immer dann „vorwärtsrollen“, wenn sie nach nicht geplanten aber tatsächlich erfolgten Transaktionen eine Aktionstaste betätigen;

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die verbleibenden Geldmengen und Zahlungssequenzen werden dann rekalkuliert (vgl. die Funktion „Roll Forward Estimated Drawings“; DMFAS 2004a, Kap. 11: 5). Bei besonders unsicheren Krediten wie z.B. Krediten des Asiatischen Entwicklungsfonds „fließt“ so der Bildschirm, der einen einzelnen Kredit zeigt, im Wochentakt oder häufiger, und mit ihm die Zukunft des Kredits. Im Aggregat kann sich bei einem finanzstarken und komplexen nationalstaatlichen Schuldenportfolio (wie z.B. dem von Indonesien oder Argentinien) diese „Fließgeschwindigkeit“ der nationalökonomischen Zukunft durch alltägliche Revidierungen auf Tages- bis Stundentakt erhöhen. 4.2.3 Dynamisierung des Kommunikationsgenres „Tabelle“ nach Yates Tabellen sind laut Yates nach Grafiken das zweiteffizienteste „Genre“ für Kommunikation, um eine komplexe Organisation zu überschauen und zu kontrollieren (1989: 84). Zusammen mit anderen schriftlichen Kommunikationsformen wie z.B. dem Formular würden Tabellen und Grafiken in der Geschichte des Managements den Übergang von mündlicher zu schriftlicher Kommunikation markieren (Yates 1989: XV). Tabellen und Grafiken stünden aber, anders als Formulare, an der Spitze der organisationsinternen „Hierarchie“ von „aufwärtsgerichteten“ Informationsflüssen, und sie könnten besonders dafür genutzt werden, Individuen und Operationen auf niedrigeren Ebenen zu überwachen und zu bewerten (Yates 1989: XVII, 65). Außerdem könne eine Organisation mit diesen beiden Kommunikationsformen Zeit sparen: Zum Beispiel müsse der Verfasser einer Tabelle die Statistiken nicht noch in Prosa einbetten, und der Leser fände die Zahlen schneller verfügbar vor (Yates 1989: 80). Durch die Standardisierung von Schriftdokumenten könne ebenfalls Zeit eingespart werden (Yates 1989: 83). Speziell Tabellen würden außerdem den Vergleich verschiedener Daten erleichtern (Yates 1989: 80). Die hier untersuchten, skopisch generierten Amortisationstabellen weisen die meisten dieser genannten Eigenschaften auf: Sie stellen Einzeltransaktionsdaten summarisch dar, ermöglichen den Vergleich von Daten untereinander, sind standardisiert, und sie ermöglichen durch im Hintergrund einprogrammierte Toleranzgrenzen auch die Kontrolle der Eingaben von vorgeschalteten Sachbearbeitern (vgl. „constraints“ in DMFAS 2004a, Kap. 9: 66). Die Amortisationstabel-

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len stehen aber zunächst nur an der „Spitze“ eines einzelnen Kredits. Es wird am Beispiel neu emittierter argentinischer Staatsanleihen noch dargestellt, wie andere, ebenfalls tabellarisch fixierte, aber makroökonomische Daten an ganze Gruppen von Kreditinstrumenten gekoppelt werden. Yates diskutiert neben dem Aspekt der Zeitersparnis auch den Nutzen von Tabellen und Grafiken in Bezug auf zukünftige oder zukunftsbezogene Managemententscheidungen. Mit Tabellen und Grafiken könnten „Entscheidungen für die Zukunft“ abgesichert oder „Rückschlüsse für zukünftiges Führungsverhalten“ gezogen werden (1989: 77, 84). Im vorliegenden Fall gilt dies ähnlich: Mit Hilfe von Amortisationstabellen versuchen Schuldenmanager, die finanzielle Zukunft einer ausgesprochen komplexen Organisation, nämlich einer Nationalökonomie, im Voraus abzubilden. Was bei Yates aber nicht besonders theoretisch gewürdigt wird, ist der Aspekt der Rekursivität in der Tabellenproduktion, genauer: die wiederholte Revidierung der Annahmen über die Zukunft im Zeitverlauf. Alle nachfolgend angeführten empirischen Beispiele thematisieren solche Revidierungen. Yates nimmt keine solche diachrone Perspektive auf Tabellen ein sondern konzentriert sich auf den Stellenwert von Tabellen in der „Upward“- und „Downward“-Kommunikation und für die Kontrolleffizienz innerhalb einer komplexen Organisation (Yates 1989: XVII, 66 ff., 77 ff.). Außerdem behandelt sie Tabellen nicht als Koordinationsmittel, um weltweit verstreute Akteure – Gläubiger und Schuldner – aufeinander abzustimmen. Gelegentlich ist dies aber der Fall, etwa indem ein Gläubiger aktualisierte Amortisationstabellen an den Schuldner schickt und dieser sie mit den eigenen Tabellen für dieselbe Beziehung – gewissermaßen gespiegelt – abgleicht. Ein anderes Beispiel, das im anschließenden empirischen Teil eingehender erläutert wird, stellt die Vorgehensweise der argentinischen Regierung nach der Finanzkrise der Jahre 2001/2002 dar: Die Struktur der neuen Anleihen wurde mit makroökonomischen Tabellen begründet, welche im Internet veröffentlicht wurden; letzteres geschah vermutlich, um möglichst viele der weltweit verstreuten Gläubiger zu erreichen und ihr Verhalten indirekt zu koordinieren. Die nachfolgende Analyse stellt damit in zwei Punkten eine Erweiterung von Yates’ Untersuchungsergebnissen dar: Zum einen wird in diachronischer Perspektive die Rekursivität der Erstellung von Tabellen betont, zum anderen wird deutlich gemacht,

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dass die Kommunikationsform „Tabelle“ ein Koordinationsmittel ist, das weit über die Grenzen einer einzelnen Organisation hinaus reicht. 4.2.4 Dynamisierung von „Appräsentation“ nach Schütz und Luckmann In der „natürlichen Einstellung“ der meisten Menschen zu ihrer alltäglichen „Lebenswelt“ erscheinen der eigene und andere Nationalstaaten selbstverständlich gegeben (Schütz/Luckmann 1991: 25). Vergleichbar erscheinen auch Nationalökonomien in der alltäglichen Arbeitswelt von Wirtschafts- und Finanzexperten fraglos gegeben, und zwar ebenfalls intersubjektiv: Dieser Teil der „Grundstruktur“ der beruflichen Wirklichkeit ist unzähligen Wirtschafts- und Finanzexperten weltweit kommunikativ gemeinsam (Schütz/Luckmann 1991: 26). Gleichzeitig ist eine Nationalökonomie allerdings ein komplexes Aggregat aus unterschiedlichsten ökonomischen, juristischen und nicht-professionellen kollektiven Aktivitäten und kollektiv erlebten Zuständen. Es ist keine unmittelbare Erfahrung dieser ökonomischen Realität auf einmal möglich. Sie liegt vollkommen außerhalb der Erfahrungsgrenzen des einzelnen Menschen; ähnlich aussichtslos ist der Versuch eines Menschen, den Mond herunter zu holen (Schütz/ Luckmann 1994: 142 ff.). Nationalökonomien erreichen in diesem Sinn das Ausmaß „großer Transzendenzen“ (Schütz/Luckmann 1991: 161 ff.). Das heißt, sie bilden für den Einzelnen überkomplexe, eigendynamische und im Vergleich zu der eigenen begehbaren Lebenswelt außerordentliche Wirklichkeiten, die niemals direkt beeinflusst, geschweige denn in der zukünftigen Entwicklung geplant werden können. Diese Transzendenzerfahrung nationalökonomischer Wirklichkeit lässt sich auch prinzipiell in keine Richtung auflösen: ganz sicher nicht „nach oben“ in Richtung weiterer Aggregation auf die globalökonomische Ebene, aber auch nicht, was auf den ersten Blick eher möglich scheint, „nach unten“ in Richtung nicht-aggregierter Einzelphänomene. So transzendiert beispielsweise schon eine einzelne Kreditbeziehung zwischen zwei Transaktionspartnern die zeitlichen und räumlichen Grenzen der beiden in „mittlerem“ Ausmaß, indem der Eine niemals die Grenze zum Bewusstsein – und also auch nicht die Grenze zu

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den ökonomischen Interessen und Möglichkeiten – des Anderen überschreiten kann (Schütz/Luckmann 1991: 151/152).5 So ist auch staatliche Verschuldung eine große transzendente Wirklichkeit. Wer schuldet wem wie viel Geld im In- und Ausland, in welchen Währungen, mit welchen Fristen, mit welchen Zinsen, und zu welchen Ausschüttungs- und Zahlungsterminen etc.? Diese Fragen können eigentlich nicht innerhalb der lebensweltlichen Grenzen eines Menschen beantwortet werden. Innerstaatliche und zwischenstaatliche Schuldbeziehungen sind transzendent aufgrund der hier besonders weiten räumlichen und zeitlichen Entfernungen zum jeweiligen Transaktionspartner und Zahlungstermin, und aufgrund der relativ großen Anzahl und der Variabilität solcher Beziehungen, was das Portfolio eines ganzen Staates angeht. So wird es empirisch gesehen interessant, zu klären, worin denn – trotzdem – die tägliche Arbeit der Schuldenmanager, die ja mit diesem Transzendenzproblem systematisch konfrontiert sind, besteht. Im Sinne von Schütz und Luckmann lässt sich darauf antworten: Diese Experten überschreiten ihre körperlichen, räumlichen und zeitlichen Grenzen mithilfe ökonomischer „Appräsentationen“ (Schütz/ Luckmann 1991: 178 ff.). Eine Appräsentation ist eine grundlegende Bewusstseinsleistung, bei der – in der einfachsten Form – anhand eines konkret vorliegenden, im Hier und Jetzt wahrnehmbaren Datums ein zweites abwesendes Datum in Gedanken mit-vergegenwärtigt wird (wobei aber diese beiden Daten nicht isoliert nebeneinanderherlaufen: Das eine färbt etwas von seinem Sinn auf das andere ab, und umgekehrt, vgl. Schütz/Luckmann 1994: 180). Was die nachfolgende Analyse der Zukunftsmaschinerie im Schuldenmanagement anbelangt, so lassen sich konkret zwei Handlungsstrategien der Appräsentierung von Nationalökonomie und speziell Verschuldung im empirischen Feld feststellen:

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Folgt man Schütz und Luckmann weiter, so ist es aber immerhin möglich, dass jeder der beiden Transaktionspartner jeweils ausgehend von seinem Wissen über sich selbst zu ungefähren Verhaltensannahmen über den Anderen kommt; er kann „über die Grenze hinüberblicken […] [und] die dahinterliegende Landschaft“, die „in ihren Hauptzügen der ihm vertrauten, heimatlichen gleicht“, erkennen (Schütz/Luckmann 1991: 152). Allerdings bleibt eine einzelne Kreditbeziehung damit immer noch eine „mittlere Transzendenz“ (Schütz/Luckmann 1991: 151).

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Erstens appräsentieren sich Schuldenmanager selbst (und intersubjektiv Schuldenmanager untereinander) innerhalb von Tabellen, speziell Amortisationstabellen, die Zukunft gleich neben der kürzlich vollendeten Gegenwart. Genauer gesagt, in Amortisationstabellen werden aufbauend auf den Daten zu tatsächlich erfolgten Transaktionen die zukünftigen Transaktionsdaten für die verbleibende Laufzeit des Kredits errechnet und mit-abgebildet (appräsentiert). Darauf wird im übernächsten Abschnitt genauer eingegangen. Zweitens arbeiten Schuldenmanager mit in sich noch weitaus dichteren Tabellen als Amortisationstabellen. In makroökonomischen Tabellen werden verschiedenste ökonomische Kennzahlen wie z.B. das Verhältnis von Staatsverschuldung zum Export oder auch die Inflationsrate aus vollendeter Gegenwart und kalkulierter bzw. geschätzter Zukunft zusammengeführt. In solchen Fällen machen Tabellen nicht nur mit-präsent, was sonst nicht gleichzeitig erfahrbar ist, sondern sie konstituieren auch eine Realität: Lassen sich hochgradig verdichtete Kennzahlen zusammen-sehen, so entsteht im Auge des Betrachters überhaupt erst das Phänomen „Nationalökonomie“. Beispielhaft wird eine solche konstitutive Appräsentationsarbeit im letzten Abschnitt dieses Kapitels ausgeführt. Ökonomische Appräsentationen werden außerdem nicht einmalig erstellt sondern immer und immer wieder reproduziert. Dies geschieht mithilfe von skopischen Systemen und den darin eingebauten Kalkulationsfunktionen. Außerdem verständigen sich Schuldenexperten an unterschiedlichsten Orten bzw. in unterschiedlichsten Finanzinstitutionen dieser Welt über solche tabellarischen Appräsentationen. Bei Schütz und Luckmann (1994) sind alle diese Aspekte begrifflich nicht erfasst. Im Rahmen dieser Arbeit wird der bisherige Begriff der Appräsentation daher insofern theoretisch erweitert, als von technologisierter, globalisierter und – vor allem – dynamisierter Appräsentation gesprochen wird.

N ATIONALÖKONOMIE VORAUSSEHEN | 165

4.3 D IE DMFAS-S OFTWARE NATIONALÖKONOMISCHE

ALS

Z UKUNFTSMASCHINE

4.3.1 Die zeitlichen Grundmerkmale nationaler Schulden Das Portfolio jedes Nationalstaats, der als „Entwicklungsland“ bezeichnet wird, besteht aus vielen verschiedenen Arten von Krediten, je nachdem, welche Klassifikationsweise zugrunde gelegt wird, und um welches Land es sich handelt. In der DMFAS-Software etwa werden hauptsächlich die nachfolgenden Kreditarten unterschieden (DMFAS 2004a, Kap. 3: 5; Kap. 16: 3): • „loans“, d.h. bilaterale Kredite, welche zwischen Staaten geschlos-

sen werden, sowie multilaterale Kredite, die ein Staat bei einer internationalen oder regionalen Finanzinstitution wie dem IMF, der Weltbank oder dem AsDF aufnimmt; • „bonds“ (Staatsanleihen); • „grants“ (Zuschüsse bzw. reine Schenkungen); • „on-lent loans“, d.h. Kredite, die eine Regierung aufgenommen und intern im eigenen Land an Dritte weiter verliehen hat (eigentlich keine Schulden, d.h. Passiva der Regierung, sondern Aktiva). Abgesehen von den Zuschüssen, bei denen keine Rückzahlung nötig ist, weisen alle diese Kreditinstrumente die gleichen, auf Zeitpunkte oder Zeiträume bezogenen Grundmerkmale auf. Diese Grundmerkmale sind: • ein Zeitpunkt oder mehrere vereinbarte Zeitpunkte zur Ausschüttung

des Kredits (engl. „disbursement“ oder auch „drawing“); • mehrere Zeitpunkte zur Rückzahlung des Kredits („principal pay-

ments“); • mehrere Zeitpunkte für Zinszahlungen („interest payments“); • eine oder mehrere im Wechselkurs schwankende Währungen („cur-

rencies“), die für Ausschüttung, Rückzahlung und Zinszahlung vereinbart werden; • eine oder mehrere Kredit-„Tranchen“ („tranches“), in denen die o.g. Merkmale unterschiedlich definiert sein können (DMFAS 2004a, Kap. 9: 10), anschaulich gemacht in Form unterschiedlicher Amortisationstabellen („amortization tables“);

166 | ÖKONOMIE SICHTBAR MACHEN

• eine sog. „Gnadenfrist“ („grace period“), nach der die Rückzahlung

des Kredites erfolgen muss (gerechnet von der Vertragsunterzeichnung; vgl. DMFAS 2004a, Kap. 9: 21); • eine Laufzeit („maturity“), innerhalb derer ein Kredit insgesamt zurückgezahlt werden muss. Diese Laufzeit umfasst die „Gnadenfrist“ und den Rückzahlungszeitraum. Die Laufzeit wird meist unterschieden in mittel- bis langfristig („medium“/ „long term“), d.h. mehr als ein Jahr, und kurzfristig („short term“), d.h. weniger als ein Jahr (DMFAS 2004a, Kap. 9: 9). Bei Entwicklungs- und Schwellenländern haben die Kreditinstrumente mit mittel- bis langfristiger Laufzeit einen relativ großen Anteil am Gesamtportfolio.6 Abbildung 25: Das DMFAS-Hauptmenü File

Administration

Mobilize

Service

Report

Analysis

Utilities

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an DMFAS 2004, Kap. 3: 4

Ausgehend vom DMFAS-Hauptmenü ist die Speicherung dieser Grundmerkmale eines Kredits unter „Administration“, „Mobilize“ und „Service“ möglich. An diesen Stellen lässt sich auch das Funktionspaket „Amortization Table“ aufrufen, mit dem die meisten der o.g. Grundmerkmale übersichtlich angezeigt werden können. Außerdem kann der Nutzer auf spezielle Aggregations-, Kalkulations- und Projektionsfunktionen unter den mittleren Menüpunkten „Report“ und „Analysis“ zurückgreifen. Nachfolgend soll nun das Zukunftsmanagement, das die DMFAS-Software an diesen verschiedenen Stellen erlaubt, genauer untersucht werden.

6

Zum Beispiel wurden im Fall von Argentinien im letzten Quartal des Jahres 2005 bei den öffentlichen Schulden ca. 93% als mittel- bis langfristige Schulden ausgewiesen (Mecon 2005). Bei Indonesien hatten im letzten Quartal des Jahres 2004 fast 91% der externen Schulden eine Laufzeit von mehr als 12 Jahren (MoF Indonesia 2004).

N ATIONALÖKONOMIE VORAUSSEHEN | 167

4.3.2 Die finanzielle Zukunft immer wieder neu ausrollen: das Funktionspaket „Amortization Table“ Die DMFAS-Software erlaubt es, in verschiedenen Formen die Zukünfte von Finanzflüssen zu rekalkulieren, im Einzelfall und im Aggregat. Diese grundlegende Rekalkulationsfunktion wird an verschiedenen Stellen des Benutzerhandbuchs des Systems thematisiert, z.B. mittels der Begriffe „(re)calculate“, „(re)compute“ oder „adjust“ bzw. „re-adjust“ (DMFAS 2004, Kap. 11: 4, 5; Kap. 9: 12, 62-64; Kap. 26: 5, 8). Beispielsweise kann der Amortisationsplan eines Kredits „rekalkuliert“ werden, wenn kürzlich irgendeine ungeplante Transaktion stattgefunden hat; „recompute“ bezieht sich u.a. darauf, zukünftige Rückzahlungen unter der Bedingung, dass es in mittelfristiger Zukunft parallel auch noch Ausschüttungen desselben Kredits gibt, vorzunehmen („projection on outstanding“, DMFAS 2004a, Kap. 26: 3 ff.). Ähnlich zu diesen beiden Fällen lassen sich z.B. Schätzungen zur zukünftigen Amortisation eines Kredits „wieder-anpassen“ („re-adjust“), sobald eine Ausschüttung tatsächlich stattgefunden hat. Es sieht insgesamt so aus, dass die drei Ausdrücke „recalculate“, „readjust“ und „recompute“ nicht streng voneinander unterschieden werden sondern eher begriffliche Varianten einer allgemeinen Grundleistung der Software sind: Die Zukunft des Schuldenportfolios unter verschiedensten Bedingungen neu zu berechnen. Entsprechende Aktionstasten („buttons“) für solche ZukunftsNeuberechnungen finden sich auf der in viele Bildschirmfenster aufgefächerten Benutzeroberfläche des Systems an diversen Stellen. Im folgenden Beispiel zum Funktionspaket „Amortization Table“ geht es zunächst um das Zukunftsmanagement eines einzelnen Kredits. In den nachfolgenden Abschnitten werden darauf aufbauend Rekalkulationsmöglichkeiten auf Aggregatebene thematisiert, teilweise mit Bezug auf die spezifischen Leistungen der DMFAS-Software, teilweise darüber hinausgehend mit Bezug auf Managementleistungen, die ein Nationalstaat mit einem finanzstarken, komplexen, global weit reichenden und dynamischen Schuldenportfolio grundsätzlich zu erbringen hat, ob nun

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mit diesem oder irgendeinem anderen Informationssystem (vgl. CSDRMS 2008; World Bank 2008a; Debt Pro 2008).7 Die zeitlichen Grundmerkmale eines Kreditinstruments werden sowohl im transnationalen Schuldenmanagement im Allgemeinen als auch in der DMFAS-Software im Speziellen in einem spezifischen Genre repräsentiert: der Amortisationstabelle. Das Benutzerhandbuch bezeichnet die Amortisationstabelle eines Kredits als „integralen und essentiellen Teil des Managements“ (DMFAS 2004a, Kap. 11: 3). Dies gilt prinzipiell für beide Seiten einer Schuld, also Gläubiger und Schuldner. So ist dem Handbuch auch zu entnehmen, dass oft schon der anfängliche Kreditvertrag eine tabellarische Darstellung des Amortisationsverlaufs enthält, und dass die Gläubigerseite dem verschuldeten Staat im Zusammenhang mit fälligen Transaktionen, z.B. Rückzahlungen, eine aktualisierte Amortisationstabelle zuschickt (a.a.O.). In der DMFAS-Software sind Amortisationstabellen im Funktionspaket „Amortization Table“ enthalten und mit Programmfunktionen zur Klassifikation, Aggregation, Kalkulation und Zukunftsprojektion von Schuldendaten verknüpft. Diesem Funktionspaket wird im Genfer DMFAS-Programm zentrale Bedeutung beigemessen. Für eine Mitarbeiterin ist dies sogar das „Herz“ des Systems, was sie nachdrücklich wiederholte (Feldnotiz vom 1.9.2004). Die nachfolgende Abbildung zeigt die Amortisationstabelle eines in der Software gespeicherten Kredits, also den Zeitplan für dessen stufenweise Tilgung („schedule“; DMFAS 2004a, Kap. 11: 3). Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Kredit, der für Testzwecke kreiert wurde.

7

Im zweiten Kapitel wurden die wesentlichen Merkmale eines nationalen Schuldenportfolios und die sich daraus ergebene strukturelle Unüberschaubarkeit detaillierter behandelt.

N ATIONALÖ ÖKONOMIE VORAUSSEHEN | 169

Abbildung 26: Amortisationstabelle

Quelle: Interview mit dem IT-Chef des DMFAS-Programms, 1.2.2006

ür die Finanztransaktionen In der ersten Spalte stehen die Termine fü innerhalb der Laufzeit eines Kredits. Die drei d wichtigsten Transaktionsarten sind daneben in der zweiten bis vierte Spalte aufgeführt: die Ausschüttungen, die Rückzahlungen und diie Zinszahlungen. Die „Total“-Zeile zeigt jeweils die Gesamtsumme, die am Ende der Laufzeit eines Kredits für diese drei Transaktionsarteen anfällt.8 Man beachte hier nun besonders die drrei schmalen Zusatzspalten, die rechts von den weißen Hauptspalten sttehen und kleine Sternchen enthalten. Diese Sternchen stehen für tatsäcchlich erfolgte Finanztransaktionen. Damit wird der konkret fassbare Bildschirm, B und mit ihm der abstraktere Kreditverlauf, zweigeteilt: in vergangene „reale“ und darunter zukünftige „geschätzte“ Transaktioneen („real“ und „estimated“;

8

Eigentlich müsste die Summe der Rückzah hlungen identisch sein mit der Summe der Ausschüttungen. Die Abweich hung hängt offenbar mit einer bestimmten Systemeinstellung zur Rundung g von Schuldbeträgen zusammen, die nicht als Rechenfehler einzustufen n ist. Dies teilte eine DMFASMitarbeiterin in einer späteren Nachbesprech hung mit (3.6.2009).

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DMFAS 2004a, Kap. 11: 3-4).9 Der untere Teil ist also Resultat zukunftsmaschinenartiger Berechnungen der DMFAS-Software. Wie funktioniert diese Zukunftsmaschinerie genau? Die in der DMFAS-Software produzierte Amortisationstabelle eines Kredits ist kein einmaliges unveränderliches „Foto“ der Zukunft dieses Kredits (im Gegensatz etwa zum hier in diesen Text eingefügten Screenshot). Vielmehr ermöglicht die Software in diesem Fenster eine dynamische Darstellung der Zukunft: Sind z.B. Ausschüttungen nicht zum geschätzten Zeitpunkt oder nicht in der geschätzten Höhe erfolgt (was in anderen Fenstern der Software registriert werden muss), so kann der Benutzer in diesem Fenster den „Calculate“-Knopf drücken (in der Abbildung mittig), und die ganze Amortisationstabelle wird wieder neu entworfen, d.h. die noch für die nächsten Monate und Jahre verbleibenden Ausschüttungstermine und -beträge werden mit Bezug auf die Gesamtlaufzeit und den noch zur Ausschüttung verbleibenden Restbetrag des Kredits neu berechnet (vgl. DMFAS 2004a, Kap. 11: 4). Genauso kann bei Rückzahlungen oder Zinszahlungen, die vom Termin oder vom Betrag her anders ausfallen als die ursprünglich geplanten, die verbleibende Rückzahlungs- und Zinszukunft des jeweiligen Kredits rekalkuliert werden. So ist es möglich, im Laufe der oft jahrzehntelangen Amortisation eines Kredits mit mehreren möglichen Ausschüttungen, zahlreichen geplanten Rückzahlungen und Zinszahlungen über die Jahre immer wieder Neuentwürfe der vorigen Neuentwürfe der diesen wiederum vorausgehenden Neuentwürfe etc. anzufertigen. Aus wissenssoziologischer Perspektive spiegelt dieser in die Software eingebaute Revisionsmechanismus die technologisch dynamisierte Variante einer Appräsentation wider: Die eigentlich transzendente Zukunft eines Kredits wird buchstäblich vor den Augen des Softwarenutzers gemeinsam mit der zugänglichen Gegenwart bzw. der einmal zugänglich gewesenen jüngsten Vergangenheit präsent gemacht (vgl. Schütz/Luckmann 1994: 178 ff.). Denn bei jedem Neuentwurf wird die Zukunft des Kredits auf demselben Bildschirm im-

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Die Daten können nicht direkt in der Tabelle eingegeben werden, sondern die Software zieht sie automatisch aus an anderen Stellen vorhandenen Eingaben herüber. Die Tabelle bietet also eine Zusammenschau dieser zuvor erfolgten Einzeleingaben (vgl. die skopische Grundfunktion „Zentralisieren“ im dritten Kapitel).

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mer zusammen mit der jüngsten Vergangenheit, z.B. der eben erst am selben Tag vollendeten Gegenwart, abgebildet. Dieser Revisionsmechanismus der DMFAS-Software soll nun noch an anderen, komplexeren Beispielen und auf Aggregatebene veranschaulicht werden. Es soll dabei deutlich werden, dass das Phänomen der wiederholten Neudarstellung von nationalstaatlicher Schuldenzukunft nicht allein auf dieses spezielle Funktionspaket und diese spezielle Software beschränkt ist, sondern, so die These, Teil einer umfassenderen, d.h. transnationalen und über verschiedene Finanzorganisationen verbreiteten Zukunftsmaschinerie ist.

4.4 D AS Z USAMMENSPIEL VON M ARKTUNSICHERHEITEN UND Z UKUNFTSMASCHINERIE

NATIONALER

4.4.1 Überblick: Vier Marktunsicherheiten „In the early 1990s, many of what are today considered leading government debt management offices were recording transactions in handwritten ledgers or on whiteboards. Their portfolios were not marked-to-market, calculation of the portfolio duration was difficult, only rudimentary scenario analysis was possible, and measures such as cost at risk were still a decade away from common use. Since then, the complexity of the decisions and transactions handled by government debt managers has increased greatly, and the tools available for dealing with debt management have been transformed“ (Wheeler 2004: 127).

Diese Worte des früheren Vizepräsidenten der Weltbank beziehen sich zunächst, wie die Formulierung „leading government debt management offices“ zeigt, auf Schuldenmanagementabteilungen in üblicherweise als „entwickelt“ bezeichneten Ländern – z.B. Neuseeland, wo Wheeler die örtliche Abteilung leitete (vgl. Wheeler 2004: xiii). In diesen Ländern habe sich eine Transformation von Schreibarbeit zur Benutzung anspruchsvollerer technologischer „tools“, d.h. Informationssysteme, vollzogen, und zwar parallel mit der Aufnahme von Finanzmarktgeschäften („marked-to-market“; Wheeler 2004: 127). Gleichzeitig seien die Kompetenzen, was die Kalkulation der Portfoliolaufzeiten, die Analyse von Zukunftsszenarien und die Verwendung spezieller Messgrößen anbelangt, erweitert worden (a.a.O.).

172 | ÖKONOMIE SICHTBAR MACHEN

Die Schuldenportfolios von Indonesien und Argentinien zeigen,10 dass das Problem der historisch gestiegenen Komplexität von Entscheidungen und Transaktionen im nationalstaatlichen Schuldenmanagement inzwischen nicht nur für „entwickelte“, sondern auch für Entwicklungs- oder Schwellenländer gilt; dies führt Wheeler auch an anderen Stellen aus.11 Aus seiner Sicht ist die DMFAS-Software – neben einer ähnlich konstruierten Software des Commonwealth Secretariat, dem CS-DRMS – ein System, das dieser zweiten Gruppe von Staaten wesentliche Funktionen bietet, um große Datenmengen zu verarbeiten, einen mehr oder minder gegebenen Marktzugang zu handhaben und mit unterschiedlichen Zukunftsszenarien zu operieren; zusätzlich, mittels der Schnittstelle zum DSM der Weltbank, erlaube es, makroökonomische und Zahlungsbilanzanalysen durchzuführen (Wheeler 2004: 130; vgl. DMFAS 2008a; vgl. UNCTAD o.J.).12 Dass leistungsstarke Informationstechnologie und speziell die in Schuldenmanagementsystemen eingebauten Projektionsfunktionen zumindest teilweise einen kontrollierten Umgang mit Marktunsicherheiten ermöglichen, konstatieren auch Experten des DMFAS-Programms: „[C]omputers allow debt managers to answer ‚what-if’ questions about the profile of future payments if interest rates and/or exchange rates rise or fall, and thus to rapidly analyse changes in the country’s debt burden resulting from hypothetical changes in financial markets. In the same way, a computerized system can allow debt managers to check the debt data against the real economy’s macroeconomic variables so that projections of financing needs to close

10 Vgl. die Diskussion der Grundproblematik nationaler Verschuldung im zweiten Kapitel 11 Beispielsweise diskutiert Wheeler die Notwendigkeit des „capacity building“, und in diesem Zusammenhang setzt er sich mit Entwicklungs- und Schwellenländern („developing and emerging market countries“) sowie deren „choice of debt-recording and management information systems“ auseinander (Wheeler 2004: 159 ff., 167). Dabei entwirft er zwei „country scenarios“: ein Szenario für Länder, die am nationalen Geld- bzw. Anleihenmarkt aktiv sind und eines für Länder, auf die dies nicht zutrifft (Wheeler 2004: 168 ff.). 12 Wie das CS-DRMS funktioniert, wird auf der Website des Commonwealth Secretariat erläutert (CS-DRMS 2008).

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the balance of payments and/or the national budget deficit are obtained“ (Borresen/Cosio-Pascal 2002: 11/12).

In dieser Stellungnahme weisen der ehemalige Chef des DMFASProgramms und einer seiner Mitarbeiter auf das Projektionspotential von Computern hin: Man könne mit ihnen „Was-wäre-wenn“-Fragen beantworten bzw. hypothetische Veränderungen im Finanzmarkt durchspielen. So könne die Wirkung von eventuellen Änderungen der Zinsrate oder des Wechselkurses auf zukünftige Kreditrückzahlungen getestet werden, und die Schuldendaten könnten mit verschiedenen makroökonomischen Variablen in Beziehung gesetzt werden. In den nachfolgenden Abschnitten werden vier verschiedene Marktunsicherheiten, die die Zukunftsmaschinerie eines Nationalstaats buchstäblich am Laufen halten, genauer untersucht: Wechselkursschwankungen, Zinsschwankungen, Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und Entwicklung der Inflationsrate. Ob ein Staat nun die DMFAS-Software oder irgendein anderes Informationssystem benutzt, spielt für diesen prinzipiellen Zusammenhang von Marktunsicherheiten und Zukunftsmaschinerie keine Rolle. So erlaubt auch das von anderen Ländern benutzte Alternativsystem CS-DRMS diese Art von Projektionen bzw. die Verarbeitung hypothetischer Veränderungen;13 das gleiche gilt für zwei weitere Software-Applikationen (vgl. World Bank 2008; Debt Pro 2008). Im ersten Abschnitt werden die von Borresen und Cosio-Pascal angesprochenen Wechselkursschwankungen am Beispiel von Krediten des Asiatischen Entwicklungsfonds (AsDF), die u.a. Indonesien aufgenommen hat, thematisiert. Auch wenn hier im speziellen AsDFKredite als Anschauungsmaterial dienen, so gilt doch prinzipiell, dass es sich um eine Länder und Institutionen übergreifende Marktunsicherheit handelt: Schwankende Wechselkurse stellen für jedes Land, das Schulden in Fremdwährung aufgenommen hat, eine permanente Zukunftsunsicherheit dar (vgl. Hain 2003: 42/43). Wechselkurse ändern sich täglich. Passend dazu wird im DMFAS-Benutzerhandbuch empfohlen, offizielle Wechselkursraten „on a daily basis“ einzugeben,

13 Dies zeigt die Präsentation des Commonwealth Secretariat im Internet: In die Software sind „forecasting rules“ für einzelne Kredite und verschiedene Möglichkeiten für die Analyse komplexer „scenarios“ einprogrammiert (CS-DRMS 2008).

174 | ÖKONOMIE SICHTBAR MACHEN

so dass der je nach Wechselkurs unterschiedliche Wert eines ausstehenden Schuldbetrags rekalkuliert werden kann (DMFAS 2004a, Kap. 6: 15). Die Software verfügt außerdem über eine Funktion zum automatischen Herunterladen von Wechselkursen aus dem Internet (DMFAS 2004a, Kap. 6: 16). Auch die von Borresen und Cosio-Pascal erwähnten Zinsschwankungen und die makroökonomischen Variablen haben für die Zukunftsmaschinerie eine große Bedeutung, wie im zweiten Abschnitt anhand der argentinischen Staatsanleihen aufgezeigt wird. Zinsschwankungen verändern bei denjenigen Kreditinstrumenten, die mit einer variablen Zinsrate versehen wurden, immer wieder den Wert des Portfolios. Die makroökonomischen Variablen dienen, wie im Zitat angedeutet, zur gelegentlichen Bildung von Schlüsselzahlen. Als eine solche Schlüsselzahl wird beispielsweise das Verhältnis vom NettoGegenwartswert der Schulden zum Bruttosozialprodukt angesehen („NPV of Debt/GDP“; UNCTAD o.J.: 110).14 Doch makroökonomische Variablen haben auch noch eine andere Bedeutung im nationalen Schuldenmanagement. Häufig sind sie direkt in die Struktur eines Kreditinstruments eingebaut; einige argentinische Staatsanleihen etwa sind an das BIP bzw. die Inflationsrate indexiert. Der zweite Abschnitt konzentriert sich auf diese bei vielen Ländern von vorneherein „eingebauten“ makroökonomischen Marktunsicherheiten und „eingebauten“ Zinsschwankungen (vgl. Hain 2003: 32 ff. zu EU-Staaten).15 Der dritte Abschnitt untersucht den Zusammenhang von Zinsschwankungen und Zukunftsmaschinerie noch einmal von einer anderen Seite her. Hier wird es um die Revisionsarbeit gehen, die hoch verschuldete und zahlungsunfähig gewordene Länder prinzipiell leisten müssen, sofern sie sich in effizienter Weise – d.h. maßgeschneidert auf

14

Dies ist eine der Kennzahlen, die mithilfe der Software-Applikation „DSM“ von hoch verschuldeten Ländern, die verschiedene Umschuldungsszenarien durchspielen wollen, generiert werden können (vgl. UNCTAD o.J.: 9; vgl. Wheeler 2004: 130). Diese Applikation kann u.a. in Verbindung mit der DMFAS-Software und dem o.g. CS-DRMS benutzt werden (UNCTAD o.J.: 31).

15 Auch Wechselkursschwankungen sind bei all denjenigen Kreditinstrumenten, die in Fremdwährung ausgestellt sind, in diese Instrumente quasi „eingebaut“. Im zweiten Abschnitt wird darauf aber nicht näher eingegangen.

N ATIONALÖKONOMIE VORAUSSEHEN | 175

ihre finanzielle Situation, was Zahlungsbilanz und Budget angeht – auf Umschuldungsverhandlungen vorbereiten wollen. Man könnte dies auf den ersten Blick für außeralltägliche Revisionsarbeit halten. Doch da allein im Zeitraum von 1981 bis 1994 mehr als fünfzig Länder ca. 285 multilaterale Abkommen für einen Schuldenerlass bzw. eine Umstrukturierung der Schulden getroffen haben, kann man wohl von einer steten Normalisierung dieser Sonderverfahren sprechen (vgl. Klein 1994: 141). Marktunsicherheit spielt in diesen Fällen in die produzierten Projektionen an einem bestimmten Punkt hinein: Die konzessionellen Kredite dieser Länder, d.h. Kredite, die ursprünglich mit einer relativ niedrigen Zinsrate ausgestattet wurden, werden diskontiert, um ihren Gegenwartswert marktnah zu bestimmen. Daraufhin werden dann Umschuldungsvorschläge konzipiert. Zusammengefasst implizieren Indexierungen, variable Verzinsung und Wechselkursschwankungen eine ständige gegenwärtige und zukünftige Änderung des Werts eines Kreditinstruments. Sofern ein Staat, was häufig der Fall ist, mehrere solcher Kredite aufgenommen hat und immer wieder neu aufnimmt, sieht sich nationalstaatliches Schuldenmanagement im Aggregat mit einer kompliziert aufgefächerten, permanent unsicheren Zukunft konfrontiert. Dies wiederum legt ständige Revisionsarbeit nahe. 4.4.2 Ein paar Dutzend Zukünfte: Rastlose Reprojektionsarbeit infolge schwankender Wechselkurse Um den anhand des Funktionspakets „Amortization Table“ bereits erläuterten Rekalkulationsmechanismus in der DMFAS-Software empirisch konkreter zu fassen, soll hier nun das Management eines Kredits des AsDF näher besprochen werden. Unter den Ländern, die AsDFKredite erhalten, sind auch mehrere, in denen die DMFAS-Software benutzt wird (beispielsweise Vietnam, Philippinen und Indonesien). AsDF-Kredite haben z.B. innerhalb des indonesischen Portfolios einen Anteil von über 25% an den multilateralen Schulden und über 10% am Gesamtschuldenstand (Bank Indonesia 2004: 8). Ein Land, das in der Schuld dieses Fonds steht, ist mit Abschluss des Kreditvertrags in der Folgezeit systematisch Wechselkursschwankungen zu seinem Nachteil ausgesetzt, denn der Gläubiger behält sich an verschiedenen Stellen einer Kreditvereinbarung das Recht auf Be-

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stimmung der Währung für die jeweiligen Ausschüttungen und Rückzahlungen vor (vgl. AsDF 2005: 5, 22). Damit, so lässt sich sagen, schöpft der Gläubiger größtmöglichen Nutzen aus Wechselkursschwankungen. Für den Schuldner entsteht umgekehrt ein entsprechender Nachteil. Da der Gläubiger mehrfach in der Kreditlaufzeit situativ die Währung bestimmt, ist für den Gläubiger über die gesamte Laufzeit die Struktur des Kredits unklar (a.a.O.). Diese systematisch bedingte langfristige Unsicherheit, und wie sie einigermaßen skopisch kontrolliert werden kann, wird nun erläutert.16 Kredite des AsDF haben Laufzeiten von 24, 32 oder sogar 40 Jahren (AsDF 2005: 2). Betrachtet man z.B. einen Kredit mittlerer Laufzeit mit einer „Gnadenfrist“ („grace period“) von acht Jahren und halbjährlichen Rückzahlungsraten, so ergeben sich 48 Rückzahlungstermine (AsDF 2005: 16). Hinzu kommen u.a. noch die Termine für die Ausschüttungen und die Zinszahlungen. Diese Vielzahl an Transaktionsterminen gibt es bei allen möglichen Krediten, nicht nur bei denen des AsDF. Doch kommen in diesem Fall einige Verfahrensbesonderheiten hinzu, die mit den 15 vom AsDF benutzten Währungen und entsprechend 15 schwankenden Wechselkursen zusammenhängen (AsDF 2005: 1, 5). Der AsDF verfährt nach dem sog. „Währungspriorisierungsarbeitsprinzip“ („currency priorization working principle“), d.h. er behält Währungen mit schlechtem Wechselkurs möglichst kurz, schüttet sie also relativ früh aus, und fordert die Rückzahlungen in diesen Währungen relativ spät ein; und er behält Währungen mit gutem Wechselkurs möglichst lang, d.h. schüttet sie möglichst spät aus, und fordert die Rückzahlungen in diesen Währungen möglichst früh wieder ein (AsDF 2005: 3). Für den Gläubiger sind diese Währungspraktiken besonders günstig, da sie sein Investitionseinkommen maximieren (a.a.O.). Doch für den Schuldnerstaat bedeuten sie, dass die Verlaufsstruktur eines AsDFKredits Jahre bis Jahrzehnte unbekannt ist (AsDF 2005: 5). Nimmt

16

Inwiefern genau die Währungspraktiken dieses Gläubigers situative Einwirkungen in nationales Schuldenmanagement darstellen, wird im fünften Kapitel näher erläutert. Da es noch weitere weltweite Einwirkungen auf „kleine“ soziale Situationen des Schuldenmanagements gibt, entwickelt das fünfte Kapitel den Begriff der „hochtechnologischen Weltsituation“ und unterscheidet vier synthetische Dimensionen solcher erweiterter Situationen (vgl. Knorr Cetina 2009).

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man z.B. einen Kredit an, bei dem zu Beginn der Laufzeit die Ausschüttungen in den drei Währungen Yen, Euro und Australischer Dollar erfolgten (vgl. AsDF 2005: 16), so stellen sich für die Rückzahlungsperiode in etwa folgende Fragen: Wie steht der Yen gerade am Währungsmarkt –wenn er schlecht steht, wird er vom Gläubiger entsprechend eher am Ende der Laufzeit eingefordert? Und werden die Zahlungen, die der Schuldner in Australischen Dollars leisten muss, womöglich alle zu Beginn der Rückzahlungsperiode eingefordert, weil sie dem AsDF momentan am meisten wert sind? Oder ändert sich der Wechselkurs des Australischen Dollar die nächsten Jahre derart, dass er z.B. gegenüber dem Euro an Wert verliert und dann – was bei Vertragsschluss nicht zu erwarten war – mehr Euro-Rückzahlungen verlangt werden? Diese auf Marktdynamik und die Entscheidungsmacht des Gläubigers zurückgehende langfristige Zukunftsunsicherheit, mit der die Schuldner konfrontiert sind, ist dem AsDF selbst bekannt. Er räumt die Notwendigkeit einer Reform ein (vgl. AsDF 2005: 9 ff.). Außerdem beschreibt er die Problemlage seiner Kreditnehmer wie folgt („ADB“ steht hier für „Asiatische Entwicklungsbank“): „DMCs [developing member countries] are not given the option of selecting liability currencies. Any of the 15 currencies [...] can be used [...] at ADB’s discretion. It is difficult for DMC’s to anticipate the sequence of currencies that will be recalled by ADB over the repayment period. [...] Without knowing exactly what liability currencies will be disbursed or recalled, borrowers are unable to manage the foreign exchange risks of their debt portfolio effectively” (AsDF 2005: 5; Hervorhebungen BG).

In die DMFAS-Software ist eine Kalkulationsmethode einprogrammiert, die als Reaktion auf diese schwierige Ausgangslage der Schuldner gelesen werden kann („Kalkulationsmethode 71“, DMFAS 2004a, 6: 15). Damit kann die massive, sich über mehrere Währungstranchen erstreckende Zukunftsunsicherheit in ständige Zukunftsreprojektionen umgewandelt werden. Es handelt sich um Reprojektionen, die über die Laufzeit eines Kredits zu folgenden Zeitpunkten angestellt werden können: immer dann, wenn der AsDF über eine Rückzahlung entschieden hat, diese Transaktion erfolgt ist und also entsprechende jüngste Vergangenheitsdaten vorliegen. Die finanzielle Zukunft wird mittels dieser Kalkulationsmethode zwar nicht eindeutig, aber zumin-

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dest deutlicher auf verschiedene wahrscheinliche Zukünfte – immer wieder rekalkulierte Amortisationstabelllen – eingegrenzt, die auf dem wart, d.h. den bisher tatsächliBoden einer „fortschreitenden“ Gegenw chen erfolgten und gespeicherten Transaaktionsdaten, fußen. Die in dieduktion einer ständig „fließensem Sinn methodisch kalkulierte Prod den“ tabellarischen Zukunft kann als teechnologisierte und dynamisierwerden: In Tabellen te Produktion von Appräsentationen begriffen b mit der (neu entworwird die jüngst vollendete Gegenwart zusammen z fenen) Zukunft präsent gemacht (vgl. Scchütz/Luckmann 1994: 178 ff.). Die wiederholt generierten Appräsentatiionen sind wiederholt generierollendete Gegenwart, zur Hälfte te Tabellenbilder, die zur Hälfte die vo die neu gesehene Zukunft auflisten. Diese Zukunftsmaschinerie lässt sich, in Anlehnung an einem einfachen Beispielfall – ein Kredit mit m drei Währungen und einer Rückzahlungsperiode von nur viereinhaalb Jahren (vgl. DMFAS 2004a, h darstellen: Kap. 13: 13-17) – wie folgt schematisch

aschinerie Abbildung 27: Die Schulden-Zukunftsma

on AsDF 2005: 3; DMFAS 2004a, Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage vo Kap. 13: 13-17. Unterschiedliche Zeitpunktee sind mit T1 bis T11 angegeben

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Zählt man bei diesem Fallbeispiel, das mit drei Ausschüttungen in drei verschiedenen Währungen (hier: Schweizer Franken, Japanischen Yen und US-Dollar) und nur zehn Rückzahlungsterminen relativ simpel konstruiert ist, alle projizierten Amortisationstabellen (d.h. einmal erstellten und immer wieder revidierten Zukünfte) zusammen, nebst der beim Gläubiger permanent gespeicherten SDR-Amortisationstabelle, so ergibt sich folgende Rechnung:

+

1 3

+ 3 + (8 x 3) =

31

projizierte „SDR-Zukunft“ bei Vertragsschluss projizierte Zukünfte, sobald die Ausschüttungen je Währung abgeschlossen sind reprojizierte Zukünfte nach erster Rückzahlung reprojizierte Zukünfte nach jeder weiteren tatsächlich erfolgten Rückzahlung (re)projizierte Zukünfte

Diese Zukunftsmaschinerie ist nicht nur eine (tabellarische) Appräsentationsmaschinerie. Sie inkorporiert außerdem diejenigen Funktionen, die im Begriff der ökonomischen Erwartungsmaschine nach Keynes und im „Flow“-Begriff nach Knorr Cetina und Preda angelegt sind (Keynes 1936/1973: 50; Knorr Cetina/Preda 2007). Bei Keynes bilden Investoren und insbesondere Spekulanten maschinenartig ständig neue Zukunftserwartungen auf Erwartungen auf Erwartungen etc. Ob und wie sich solch eine Erwartungsmaschinerie für den ökonomischen Akteur visuell darstellt, ist für Keynes in diesem Zusammenhang aber kein Thema. Demgegenüber behandeln Knorr Cetina und Preda implizit eine solche Erwartungsmaschinerie und ihre Visualisierung in skopischen Systemen, wenn sie etwa untersuchen, wie Devisenhändler gebannt die Entwicklungen ihres Marktes auf den Bildschirmen von Reuters und anderen Finanzdienstleistern verfolgen (vgl. Knorr Cetina 2003, 2005a). Der sich ständig verändernde Marktkurs ist ja nichts anderes als die Erwartungen anderer Marktteilnehmer, was die zukünftige Entwicklung des Marktes angeht. Die Käufe und Verkäufe, die diese Händler aufgrund dieser Beobachtung dann tätigen, sind ihrerseits Positionierungen, die auf erwarteten Marktentwicklungen basieren.

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4.4.3 Dreifache makroökonomische Projektionsarbeit mit Zinsen, Inflation und Bruttoinlandsprodukt Auch für Argentiniens Verschuldung stellen die zuletzt besprochenen schwankenden Wechselkurse eine große Zukunftsunsicherheit dar. Bei den Staatsanleihen beispielsweise, die mit fast 50% einen relativ hohen Anteil am Gesamtportfolio haben, ist wiederum über die Hälfte in ausländischer Währung ausgegeben (Stand 31.12.2005; Mecon 2005). Zusätzlich zu dieser Marktunsicherheit sind in mehreren Anleihen die nachfolgend genannten Unsicherheitsfaktoren „eingebaut“. Genauer gesagt, im Fall von Punkt zwei und Punkt drei handelt es sich schon um Strategien der argentinischen Regierung im Umgang mit krisenhaft erlebten Marktentwicklungen (vgl. interne Dokumentation des Finanzministeriums; Nielsen 2004: 3; Mecon 2005; SEC 2004: 2): • Erstens sind mehr als ein Drittel der argentinischen Anleihen mit

einem variablen Zinssatz ausgestattet (mit dem LIBOR als wichtigstem Referenzzinssatz, vgl. Mecon 2005). • Zweitens wurden nach der Finanzkrise 2002 die in der Eigenwährung (Peso) ausgegeben Anleihen mit einem KonsumentenpreisInflationsindex versehen: sie basieren auf dem sog. CER, dem „Coeficiente de Estabilización de Referencia“ (Referenz-Stabilisierungskoeffizient), der täglich schwankt. Den offiziellen Angaben des Finanzministeriums zufolge liegt etwas weniger als der Hälfte der Anleihen insgesamt der CER zugrunde (Mecon 2005).17 • Drittens entschied man sich, ebenfalls in Reaktion auf die Finanzkrise, für die Ausgabe einiger an das Bruttoinlandsprodukt indexierter Anleihen, um, so der Staatssekretär für Finanzen, die „potentiellen Vergünstigungen, die eine Wiedererstarkung der argentinischen Wirtschaft langfristig bietet“, an die Gläubiger weiterzugeben (Nielsen 2004: 3). Es liegen keine Zahlen zum Anteil dieser BIPindexierten Anleihen am Gesamtportfolio vor, doch der internen Dokumentation des Finanzministeriums ist zu entnehmen, dass es

17 Hinzuzurechnen wären aber auch noch die in der Kategorie der Anleihen („titulos publicos“) nicht enthaltenen „garantierten Kredite“ in Höhe von ca. 14 Mrd. US-Dollar, also fast 10% der Gesamtschulden, die auch an den CER angepasst werden (Stand 31.12.2005; Mecon 2005).

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sich zum Zeitpunkt der Datenerhebung während der Feldforschung (12.04.2006) um fünf verschiedene Anleihen handelte. Die Dokumente zur argentinischen Finanzkrise und der Folgezeit lassen sich als analytische Hilfe zur Sichtbarmachung einer sonst verdeckten komplexen Verschuldungssituation und in diesem Fall speziell zum „Entblackboxen“ der nationalökonomischen, strategisch aufgeladenen Zukunftsmaschinerie nutzen. Wie diese Zukunftsmaschinerie bei Argentinien funktioniert, und wie sie der Annahme nach auch alltäglich bei vielen anderen Nationalstaaten funktioniert, soll nun veranschaulicht werden. Das der Zukunftsmaschinerie innewohnende Prinzip der wiederholten Projektion, das im letzten Abschnitt anhand der beispielhaften Produktion von 31 Zukünften aufgezeigt wurde, tritt in einem im Internet veröffentlichten Vortrag des argentinischen Staatssekretärs für Finanzen zu den „Grundzüge[n] der Umstrukturierung der Staatsschulden“ (Nielsen 2003) in folgender Variante zu Tage: Als zunächst einmalige, jedoch für drei verschiedene makroökonomische Unsicherheiten durchgeführte, also in diesem Sinn dreifache Projektion. Diese dreifache Projektion dürfte die Merkmale der o.g. verschiedenen Typen von Anleihen mitbestimmt haben. Denn bevor die konkreten „Basiselemente“ für die neu zu emittierenden Anleihen vorgestellt werden, wird im ersten Teil dieses Vortrags, dem PowerPoint-Präsentationsfolien beigefügt sind, der „mittelfristige makroökonomische Rahmen“ für den Umstrukturierungsvorschlag dargelegt (Nielsen 2003: 3-10, 33). Hier finden sich in graphischer Form für die Jahre 2003 bis 2006 neben anderen makroökonomischen Projektionen eine Projektion des BIP, des Wechselkurses Peso/US-Dollar und der Inflationsrate (Nielsen 2003: 4, 6-7). Der Vortragstext selbst enthält die zu dieser nationalstaatlichen Projektionsarbeit passende Sprache, die entsprechend „projektive“ Sprache genannt werden könnte.18 Er enthält außerdem einen Hinweis darauf, dass die argentinischen Projektionsergebnisse mit denen des IWF abgestimmt wurden, d.h. es gibt hier erneut einen

18 Zusätzlich scheinen der Inhalt der Rede öffentlichkeitswirksam vereinfacht und die Prognosen besonders zuversichtlich formuliert worden zu sein. Dies ist am nachfolgenden Zitat nur teilweise zu erkennen.

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empirischen Hinweis darauf, dass Projektionsarbeit ein organisationsübergreifendes Phänomen ist:19 „In Bezug auf die Entwicklung des BIP gehen wir von einem Wachstum von 5,5% für das laufende Jahr aus; für den Zeitraum von 2004-2006 rechnen wir mit jährlich 4%. Es muss gesagt werden, dass vom Beginn unserer Bemühungen im Mai 2002 die Wirtschaftsindikatoren sich besser als angenommen entwickelt haben. […] Die genannten Projektionen wurden mit dem IWF für den Zeitraum September 2003 – August 2006 abgestimmt. […] Es ist davon auszugehen, dass die augenblickliche wirtschaftliche Erholung, verbunden mit einer mäßigen Stärkung des Peso, in den nächsten Jahren ein Ansteigen dieser Variable [BIP/Kopf] erlauben und somit das dauerhafte Wachstum Argentiniens wiedergeben wird. […] Wie Sie wissen, ist es für Projektionen dieser Art notwendig, einen voraussichtlichen Wechselkurs anzunehmen, dessen durchschnittliche Entwicklung wir in diesem Schema sehen […]. Lassen Sie uns nun die neuesten Inflationsdaten und die Perspektiven, kalkuliert Dezember gegenüber Dezember, ausgehend vom Index der Verbraucherpreise betrachten“ (Nielsen 2003: 4-7).

Im Anschluss an die o.g. Einzelgraphiken und diesen Begleittext folgt im Vortragspapier eine Übersicht über die verschiedenen, von der argentinischen Regierung angenommenen makroökonomischen Zukünfte (Nielsen 2003: 10). Diese Übersicht hat die Form einer Tabelle, was, wie im Theorieteil ausgeführt wurde, inzwischen ein typisches „Kommunikationsgenre“ an der Spitze komplexer Organisationen ist (Yates 1989: XV):

19

Es wurde ja schon erwähnt, dass Gläubiger gelegentlich zur Abstimmung „ihre“ Amortisationstabellen an die Schuldner schicken. So entsteht eine gemeinsame Appräsentation der Kreditschuldbeziehung. Auch das ist ein Beispiel für organisationsübergreifende Projektionsarbeit.

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Abbildung 28: Makroökonomische Mehrfachprojektionen für argentinische Staatsanleihen

Quelle: Nielsen 2003: 10

Die Abbildung zeigt verschiedene Projektionen nicht nur für mehrere makroökonomische Kennzahlen, sondern auch für mehrere Jahre, von der Gegenwart (2003) bis in die Zukunft (2004-2006). Daher wird hier davon ausgegangen, dass diese Tabelle (oder auch andere ähnliche makroökonomische Tabellen) mit fortschreitender Gegenwart wie ein Teppich immer weiter vorwärts „gerollt“ und so die Zukunft immer wieder neu „ausgerollt“ wird (Knorr Cetina/Preda 2007: 130). Speziell diese makroökonomischen Projektionen von Argentinien stehen in der Dokumentation unmittelbar, nämlich was ihre konkrete Einordnung in die Seiten des Gesamtdokuments angeht, im Kontext des Umschuldungsvorschlags. Daher kann geschlussfolgert werden, dass sie in die neu ausgegebenen Anleihen – hier die BIP-indexierten und auf dem CER basierenden Anleihen, s.o. – strategisch „eingebaut“ wurden. Damit wird in theoretischer Hinsicht die Verbindung zwischen der allgemeinen ökonomischen Erwartungsmaschine nach Keynes und der Zukunftsmaschinerie des nationalen Schuldenmanagements sichtbar. Zudem wird Appräsentationsarbeit offensichtlich in Bezug auf verschiedenste Kennzahlen der Nationalökonomie geleistet, d.h. jüngste Vergangenheit und (andernfalls transzendente, unzugängliche) Zukunft werden in verschiedenen nationalökonomischen Bereichen auf über-

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schaubaren Bildschirmen, PowerPoint-Folien oder Berichtsseiten appräsent gemacht – nicht bloß in demjenigen, der die Verschuldung betrifft. 4.4.4 Die Re-Re-(…)-Projektionsmaschinerie für Umschuldungsverfahren Von 1981 bis 1994 haben mehr als fünfzig hoch verschuldete Länder, die nicht mehr in der Lage waren, ihre Schulden abzubezahlen, in ca. 285 multilateralen Abkommen einen Schuldenerlass bzw. eine Umstrukturierung der Schulden erwirkt (Klein 1994: 141). Ein großer Teil davon hat Umschuldungsverhandlungen durch einen spezifischen Verbund bilateraler Gläubiger, den Paris Club, durchlaufen, und durchläuft solche Verfahren auch gegenwärtig noch (vgl. Club de Paris 2008). Dies gilt z.B. für Indonesien und Burkina Faso. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass ein Land, welches für sich ein optimales Verhandlungsergebnis erzielen will, d.h. Zugeständnisse seiner Gläubiger erreichen will, die zu seiner Budget- und sonstigen makroökonomischen Situation passen, Mehrfach-Projektionsarbeit leisten muss. Wie in den vorher diskutierten Fällen stützt leistungsstarke Informationstechnologie solche Mehrfachprojektion erheblich, und wieder bedeutet zukunftsgerichtete „Projektion“ hier technologisierte und dynamisierte Appräsentationsarbeit mit unterschiedlichen Tabellen, die die transzendente Zukunft einer Nationalökonomie erschließen sollen. Es werden wiederholt unterschiedliche Tabellen über die Zukunft produziert. Es handelt sich erneut um „Anzeichen“ (Schütz/Luckmann: 184-186), die im Zentrum der Zukunftsmaschinerie stehen. Für Umschuldungsverfahren gibt es unterschiedliche Kalkulationsmethoden, die zu unterschiedlichen Projektionen bzw. Tabellenergebnissen führen. Dabei wird der Grad der Konzessionalität eines Kredits, d.h. gewissermaßen das Ausmaß seiner „Entkopplung“ vom Marktzins, in diesen Kalkulationsmethoden berücksichtigt.20 Von der 20

„Konzessionelle“ Kredite, die häufig an die sog. „am geringsten entwikkelten“ Länder vergeben werden, sind entweder gar nicht verzinst oder haben eine im Vergleich zum Marktzins niedrige Zinsrate, die dazu noch über einen sehr langen Zeitraum gezahlt wird (DMFAS 2004a, Kap. 25: 4). Die DMFAS-Software legt, wenn sie die Zinsen von konzessionellen Krediten mit dem „Marktzins“ abgleicht und entsprechend den Wert eines

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Kenntnis dieser Methoden und ihrer Effekte hängt wiederum die Stärke der Verhandlungsposition eines Schuldnerlandes ab, wie ein höherrangiger Mitarbeiter des DMFAS-Programms während eines Trainings für Softwarenutzer in Burkina Faso im September 2004 sagte. Burkina Faso etwa attestierte er einen Mangel an solchen Kenntnissen und entsprechend schlechtere Verhandlungschancen. Insgesamt ist Re-Re(…)-Projektionsarbeit für Umschuldungsverfahren damit ein weiteres Beispiel für die nationalökonomische tabellenbasierte Zukunftsmaschinerie unter „Einbau“ von Marktunsicherheit (hier: Marktzinsen) – aber zusätzlich auch ein Beispiel dafür, dass Reprojektionskompetenz politische Macht implizieren kann. Dieser Zusammenhang wird nun detaillierter ausgeführt. Klein, ein früherer Senior Economist der Debt and International Finance Division der Weltbank, meint, dass ein Land für ein effizientes Schuldenmanagement die Wirkung von „alternativen zukünftigen Schemen“ der Kreditaufnahme auf sein staatliches Budget und auf die Zahlungsbilanz „simulieren“ solle (Klein 1994: viiii, 8). Auffällig ist hierbei, dass er nicht von einem einzigen Schema (z.B. „another possible pattern“) sondern von mehreren Schemata spricht (was wiederholte Projektionen impliziert). An anderer Stelle seines Bands zum DSM, einer Software-Applikation der Weltbank,21 wird diese Grundidee – die Simulation der Wirkung verschiedener Zukunftsszenarien auf ein Schuldenportfolio – wieder aufgegriffen und um zwei weitere Varianten von Mehrfachprojektion ergänzt (Klein 1994: 119 ff.). Eine davon bezieht sich auf Umschuldungsverfahren („Alternative options for restructuring debt“): „The Debt Strategy Module (DSM) is a modelling framework that […] is designed […] to perform a broad range of debt analysis and simulations. […] [I]t can compute the consequences for debt service obligations of:

• New borrowing strategies; • Sensitivity to changes in interest rates and exchange rates; • Alternative options for restructuring debt” (Klein 1994: 130/131).

Kredits diskontiert, diejenigen Zinsraten zugrunde, die OECD-Länder für offiziell unterstützte Exportkredite verlangen – dies seien „the most favorable terms of fixed rates a country can contract on the international financial market“ (DMFAS 2004a, Kap. 25: 3). 21 Inzwischen heißt dieses Modul „DSM+“ (vgl. World Bank 2008a).

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Das DSM ist ein Modul, das nicht nur von der Weltbank propagiert, sondern auch von der DMFAS-Software technisch gestützt wird, und entsprechend auch in Trainings für diese Software rund um die Welt vermittelt wird. Ein ähnliches System ist Debt Pro; auch diese Applikation eines anderen Herstellers erlaubt die angesprochenen mehrfachen Simulationen im Rahmen von Umschuldungsverfahren (vgl. Debt Pro 2008). Die nachfolgenden Ausführungen basieren damit zwar erneut auf empirischem Material zu einer spezifischen Technologie – in diesem Fall dem mit der DMFAS-Software kompatiblen DSM. Doch auch hier gilt wieder, dass die empirischen Beobachtungen zu Mehrfach-Projektionsarbeit nicht an diese beiden „Einzelfall“-Technologien gebunden sind, sondern auf ein allgemeineres Managementprinzip bei Umschuldungsverfahren verweisen. Für die weiterreichende These, dass es sich auch noch um ein organisationsübergreifendes und wirklich globales Prinzip handelt, was schon im letzten Abschnitt mit dem Hinweis auf Projektionsarbeit beim IWF angedeutet wurde, gibt es auch auf Seiten der Weltbank ein kleines Indiz. So konstatiert Klein: „World Bank staff must project development prospects, external borrowing requirements and debt servicing capacity for all countries to which the Bank lends“ (Klein 1994: 121). Dazu würde die Weltbank intern das „Revised Minimum Standard Model extended (RMSM-X)” benutzen (a.a.O.). In den Ausführungen zu diesem Modell wird zwar nicht explizit von wiederholten bzw. revidierten Projektionen gesprochen (a.a.O.: 121-130). Doch die Diskussion des DSM in dem zitierten Band und in einem zweiten, nachfolgend ebenfalls zitierten Dokument legt diesen Sachverhalt nahe. Klein erläutert die Funktionsweise des DSM und damit die Mehrfach-Projektionsarbeit, die dieses System erlaubt, genauer. Diese Erläuterung passt zur bisherigen Argumentation: „The DSM contains preprogrammed standard tables for showing the results of simulations. There is a balance of payments table, one summarizing the country’s financial flows and debt and a cash-flow table that is useful when examining the consequences of debt restructuring” (Klein 1994: 131/132; Hervorhebungen BG).

Auch das DSM operiert also hauptsächlich mit dem Appräsentationstyp „Tabelle“. Die zu generierenden Tabellen sind „preprogrammed“ – also technologisiert, wie die schon vorher im Lauf der Arbeit be-

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sprochenen Tabellen. Dass diese Tabellen auch mehrfach mit immer etwas geänderten Annahmen reproduziert werden können und sollen, veranschaulichen die nachfolgende Abbildung aus dem Benutzerhandbuch und der dazugehörige Begleittext (UNCTAD o.J.). Man beachte nämlich, dass nicht nur in der Abbildung selbst von „alternativen Restrukturierungsszenarien“ (oberstes Kästchen in der Mitte) die Rede ist, sondern auch im Text ständig Formulierungen im Plural auftauchen (hier kursiv hervorgehoben): Abbildung 29: Grundfunktionsweise des DSM der Weltbank

Quelle: UNCTAD o.J.: 9 „[U]sers can analyze the impact of a set of restructuring options […]. Once several debt-restructuring scenarios are run in the DSM+ and their impact on the BOP [balance of payments] and budget is examined, a set of debt strategies emerges to reorganize the debt of a country. […] DSM+ assists you in analyzing the impact of debt relief on the financing gap of a country under a variety of assumptions of projected interest and currency exchange rates. […] [The system] quantifies the consequences of each scenario on the country’s cash flow and on the economy. […] DSM+ simulates the results of various debt relief approaches“ (UNCTAD o.J.: 9, 10, 19; Hervorhebungen BG).

Das DSM ist, wie bereits erwähnt, kompatibel mit der DMFASSoftware, und es ist auch kompatibel mit dem anderen, unter Entwick-

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lungs- und Schwellenländern weit verbreiteten Schuldenmanagementsystem, dem CS-DRMS. Es ist sogar so, dass UNCTAD und das Commonwealth Secretariat, die Betreiberorganisationen dieser beiden Systeme, offiziell gemeinsam mit der Weltbank die Nützlichkeit dieses Moduls propagieren (vgl. World Bank 2008a). Obwohl im Benutzerhandbuch zur DMFAS-Software in zwei Kapiteln, die sich indirekt mit Umschuldungsverfahren beschäftigen (Kap. 25 und 26), das DSM selbst nicht erwähnt wird, lässt sich doch auch hier das Prinzip der Mehrfach-Projektionsarbeit im Rahmen von Umschuldungsverfahren herauslesen. So werden hier zum einen drei grundlegende Kalkulationsmethoden für Zukunftsprojektionen unterschieden: die „full projection method“, die „truncation method“ und die „pro rata method“ (DMFAS 2004, Kap. 25: 5-7). Zum anderen werden noch zwei weitere Kalkulationsmethoden unterschieden, die sog. „standard discounting“- und die sog. „December grouping“-Methode, die mit jeder dieser drei Hauptmethoden kombiniert werden können (a.a.O.). Damit können für einen Kredit, je nachdem für welche Kalkulationsmethode man sich in einem Umschuldungsverfahren entscheidet, insgesamt sechs unterschiedliche Zukünfte entworfen werden. In allen diesen verschiedenen Kalkulationen, die von der DMFAS-Software durchgeführt werden können, ist außerdem eine Diskontierungsfunktion enthalten, d.h. die Software rechnet eine vorher an anderer Stelle gespeicherte Diskontrate mit ein. Auf diese Weise wird, wie eingangs erwähnt, dem Kredit seine Konzessionalität, also „Marktferne“, genommen. Auch können so unterschiedlichste Kredite, die mit unterschiedlichsten marktfernen niedrigen Zinsraten ausgestattet sind, untereinander vergleichbar gemacht werden (a.a.O.). Die letzten Ausführungen zum Zusammenhang von Kalkulationsmethoden, Diskontierung und Zukunftsprojektion speziell bei der DMFAS-Software machen spürbar, dass es sich bei dieser Art der Projektionsarbeit nicht um allzu einfache Rechenoperationen handelt. Die Unterschiede zwischen diesen Methoden bzw. ihren Effekten sind nur nach längerem Nachdenken zu verstehen. Dies musste der oben bereits erwähnte DMFAS-Experte, der im September 2004 im Finanzministerium von Burkina Faso ein Training für die dortigen Softwarenutzer durchführte, erfahren. Er versuchte den Anwesenden, allesamt Angestellte der Abteilung für Schuldenmanagement, die bald feinen, bald größeren Unterschiede zwischen diesen Methoden bzw. ihren Effekten zu erklären, indem er im Plenum anhand eines Beispielkredits ver-

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schiedene Amortisationstabellen durchrechnen ließ. Dabei versuchte er z.B. – das bereits Gesagte geduldig wiederholend – den unvermeidlichen Entscheidungsspielraum bei Projektionen klar zu machen, indem er sagte: „Alors, encore une fois, tout depend de ce que vous voulez faire“. Sinngemäß übersetzt heißt das: „Also noch einmal, es kommt alles darauf an, was [welche Methode aus welchen Gründen bzw. zu welchem Zweck] Ihr machen wollt“. Die meisten Teilnehmer konnten wohl weder den Rechenvorgang selbst noch den Entscheidungsspielraum und die entsprechenden Konsequenzen für die Projektionswerte voll nachvollziehen (einschließlich der anwesenden Ethnographin, leider). Der DMFAS-Mitarbeiter hatte diesen Eindruck offenbar auch, denn im Anschluss an diese Trainingssituation teilte er im Zwiegespräch ungefähr Folgendes mit (Feldnotizen vom 28.9.2004): „Der IWF dominiert den Paris Club. Wenn die [vom IWF] sagen, dass sie ihren Umschuldungsvorschlag auf Grundlage einer „pro rata“-Rechnung machen, dann einigen sich auch andere im Paris Club darauf! […] Der Paris Club ist eine „Black Box“ – es ist schwer, Informationen zu bekommen [über seine innere Funktionsweise]. […] Die Staaten [, die eine Umschuldung beantragen,] verstehen grundsätzlich nicht den Unterschied zwischen diesen beiden Methoden [„pro rata“ und „full projection“], und also auch nicht die genauen Konsequenzen, was das Ausmaß des Schuldenerlasses angeht. Zum Beispiel: Ein Erlass von 60% bezieht sich [wenn man die „pro rata“-Methode wählt] nur auf das, was tatsächlich ausgeschüttet wurde, und nicht auf den ganzen vertraglich vereinbarten Kreditbetrag – auch wenn im Vertrag selbst sogar schon spätere weitere Ausschüttungen fest vorgesehen sind.“

Dieser Kommentar des DMFAS-Experten verweist auf den Zusammenhang von Projektionskompetenz mit politischer Macht – hier: makropolitische Verhandlungen mit dem Gläubiger „auf Augenhöhe“ führen zu können. Der IWF und der Paris Club, welcher dem DMFASMitarbeiter quasi „im Schlepptau“ des IWF agiert, wägen offenbar Kalkulationsmethoden bzw. Projektionsmöglichkeiten strategisch genau gegeneinander ab. Wenn die Vertretung eines Landes, das in Umschuldungsverhandlungen einen Schuldenerlass erwirken will, gar nicht erst ebenbürtig zwischen diesen möglichen Entschuldungsszenarien abwägen kann, so bringt sie sich von vorneherein in eine schlechtere Verhandlungsposition. Projektionsarbeit ist also in diesem Sinn makropolitische Arbeit.

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4.5 Z USAMMENFASSUNG In diesem Kapitel wurde anhand verschiedener Beispiele aus der Praxis des Schuldenmanagements der Begriff der ökonomischen Zukunftsmaschinerie empirisch begründet. Nationalstaaten, die ein finanzstarkes, komplexes, global weitreichendes und dynamisches Schuldenportfolio haben, das mit dem Finanzmarkt verbunden ist (wie etwa im Fall von Indonesien und Argentinien), oder die einmal bzw. mehrmals in ihrer Geschichte Umschuldungsverfahren durchlaufen haben (wie u.a. Burkina Faso und Indonesien), müssen prinzipiell immer wieder revidierte Projektionsarbeit leisten, was die erwartete finanzielle Zukunft anbelangt. So verlangen z.B. unvorhersehbare Wechselkursschwankungen verbunden mit relativ großer Entscheidungsmacht auf Seiten des Gläubigers dem Schuldner zu verschiedenen Zeitpunkten einer Kreditlaufzeit die wiederholte Revidierung der erwarteten Amortisation ab. Dabei sind, je nach Art des Kredits, im Zeitverlauf bald mehr, bald weniger als 31 erwartete Zukünfte zu reproduzieren, wenn der Staat vom Zustand vollständiger Unsicherheit einen Zustand (vermeintlich) begrenzter Unsicherheit erreichen will: begrenzt auf eine kleine Menge von Szenarien, die immer wieder methodisch rekalkuliert werden. Außerdem lässt sich nun konstatieren, dass ein Staat Marktunsicherheiten wie Zinsschwankungen, BIP- und Inflationsentwicklungen nicht bloß passiv „ausgeliefert“ ist, sondern sie in unterschiedlicher Weise durchaus aktiv-strategisch in der Struktur der emittierten Wertpapiere berücksichtigt. Erwartungen über zukünftige Markt- bzw. makroökonomische Entwicklungen werden strategisch „eingebaut“. Auch hier zeichnete sich am untersuchten Material ab, dass Zukunfts-Projektionsarbeit nicht nur einmalig stattfindet, sondern auf dem Boden einer vorwärts schreitenden Gegenwart immer wiederholt wird. Am Beispiel der Re-Re-(…)-Projektionsarbeit im Rahmen von Umschuldungsverfahren wurde zudem deutlich, dass im Grunde viele Länder, die ein- oder mehrmals in ihrer Geschichte hoch verschuldet und zahlungsunfähig geworden sind, für „auf Augenhöhe“ verlaufende Umschuldungsverhandlungen mit ihren Gläubigern Mehrfach-Projektionsarbeit betreiben müssen. Hier sieht man also, dass die Zukunftsmaschinerie des Schuldenmanagements auch makropolitische Bedeutung zwischen Schuldnern und Gläubigern hat. Schließlich wurden einige empirische Hinweise darauf gesammelt, dass Zukunftspro-

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jektionsarbeit organisationsübergreifend und transnational betrieben wird. Um diese empirisch vielfältige rastlose Reprojektionsarbeit im nationalen und transnationalen Schuldenmanagement theoretisch zu fundieren, wurden vier Arbeiten neu gelesen und miteinander verknüpft: der klassische wirtschaftswissenschaftliche Theorieansatz von Keynes zur „ökonomischen Maschine“, der jüngst entwickelte finanzsoziologische Theorieansatz von Knorr Cetina und Preda zum „Flow“ im Finanzmarkt, die Organisationstheorie von Yates zu den in komplexen Organisationen üblichen Kommunikationsgenres und die Appräsentationstheorie von Schütz und Luckmann (Keynes 1936/ 1973; Knorr Cetina 2003 und 2005a; Knorr Cetina und Preda 2007; Yates 1989; Schütz/Luckmann 1994: 178 ff.). Der Theorieansatz von Keynes bezieht sich explizit auf Produzenten, Spekulanten und Investoren, also eher privatwirtschaftliche Akteure, derjenige von Knorr Cetina und Preda explizit auf Trading in Finanzmärkten. Das beide grundsätzlich auf das Management nationaler Schulden anwendbar sind, untermauert das zentrale theoretische Ergebnis dieses Kapitels: Markt und Staat bzw. staatliche Bürokratie stehen einander nicht dichotomisch gegenüber (vgl. Rosa 2009: 88, 122-123; Rosa 2005: 48). Vielmehr werden sie mithilfe spezifischer skopischer Systeme ständig aufeinander bezogen, genauer gesagt, immer wieder zeitlich koordiniert.

5. Hochtechnologische Weltsituationen: Die situative Einfaltung und Entfaltung von Weltkomponenten im täglichen Schuldenmanagement

5.1 E INLEITUNG : W ELTSITUATIONEN ANSTELLE VON G LOBALITÄT UND L OKALITÄT Was zeichnet das Management nationaler Schulden in der täglichen Praxis aus? Nationales Schuldenmanagement besteht, so die zentrale These, in vielen Fällen aus sekündlich oder minütlich aufeinander folgenden hochtechnologischen Weltsituationen. Hochtechnologische Weltsituationen sind soziale Situationen, an denen globale IT-Konzerne wie Microsoft oder Oracle, der globale Währungs- und Geldmarkt, internationale und regionale Finanzinstitutionen wie die Weltbank oder der Asiatische Entwicklungsfonds sowie unzählige Nationalstaaten interaktiv beteiligt sind. Anders gesagt, diese riesigen Korporationen und Kollektive sind sehr eng in kleinste mikrosoziale und mikrotechnische Arbeitsschritte „eingefaltet“. Das ständige sekündliche bis minütliche Wechselspiel zwischen solchen eng eingefalteten Weltkomponenten kann auch zu nicht intendierten, überraschenden Ent-Faltungen führen. Beide Aspekte, Einfaltung und Entfaltung, werden analysiert. In theoretischer Hinsicht wird damit das Konzept der „synthetischen Situation“ weiter ausgebaut (Knorr Cetina 2009). In Anschluss an Goffmans Situationsbegriff stellt dieser neue Situationsbegriff die starke Mediatisierung kontemporärer Lebens- und Arbeitswelten in Rechnung. Da Mediatisierung oft konkret beinhaltet, dass Informatio-

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nen aus verschiedenen, über den Globus verteilten Quellen über technologische Instrumente in eine gegebene Interaktionssituation hineinprojiziert werden und diese mitkonstituieren, spricht Knorr Cetina alternativ auch von „globalen Situationen“ (Knorr Cetina 2009: 61). Dabei weist sie darauf hin, dass es unterschiedliche Typen synthetischer Situationen gebe (Knorr Cetina 2009: 66). Die vorliegende Analyse leistet einen Beitrag zur weiteren Ausdifferenzierung synthetischer Situationen, indem der Begriff der „Weltsituation“ vorgeschlagen wird. „Welt“ soll hier, anders als die Begriffe des Globalen oder auch Lokalen, auf die bei einer mikrosoziologischen Interaktions- und Prozessanalyse zu beobachtenden zahlreichen Nuancen, was die Menge und den Charakter der in einer Situation indirekt mitspielenden Akteure, Akteursgruppen oder Aggregatphänomene angeht, aufmerksam machen. Diese von außen eindringenden Anteile einer Situation können – in einem bunten Spektrum von örtlich-nah bis global-fern – unterschiedlichster Herkunft sein und so eher einem differenzierten Weltbegriff als einer Lokal-Global-Dichotomie zugeordnet werden. Ein solcher Weltbegriff schließt auch ein, dass es im Hintergrund – und das heißt mikrosoziologisch: in anderen Interaktionssituationen – ständig Spannungen zwischen den verschiedenen involvierten Weltparteien geben kann. Dieser Umstand ist im Fall von synthetischen Situationen, die durch global-inklusive skopische Systeme mediatisiert sind, unmittelbar gegeben (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008).1 Hochtechnologische Weltsituationen sind auf den ersten Blick als solche nicht unbedingt zu erkennen. Wie andere soziale Situationen auch sind sie räumlich, zeitlich und personell relativ eng umgrenzte „Kontakte“, in denen wenige Individuen sich zueinander in „AntwortPräsenz“ begeben – laut Goffman typischerweise körperlich unmittelbar, doch immer häufiger auch mit zwischengeschalteten Medien, etwa Brief und Telefon (1982: 2, 3, 4, 6). In den hier untersuchten Situationen ist die DMFAS-Software das hauptsächliche Kontakt-Medium. Dies ist ein derzeit in 82 Zentralbanken und Finanzministerien in 66 Ländern benutztes „skopisches System“, das dem Management nationaler Schulden dient (vgl. World Bank 2008c: 11, 14; Knorr Cetina/

1

Die Unterscheidung von global-inklusiven und -exklusiven skopischen Systemen wurde im dritten Kapitel getroffen.

H OCHTECHNOLOGISCHE W ELTSITUATIONEN | 195

Preda 2007).2 Arbeitsschritte mit der DMFAS-Software dauern oft nur einige Sekunden oder Minuten, erstrecken sich meist räumlich überschaubar über einen oder mehrere Computer-Arbeitsplätze, und es sind oft nur wenige Mitarbeiter einer Schuldenmanagementabteilung involviert. Insofern sehen hochtechnologische Weltsituationen zunächst so aus wie viele andere soziale Situationen, die ein technologisches Medium enthalten. Ein Beispiel für eine solche mediatisierte soziale Situation ist etwa das im argentinischen Finanzministerium beobachtete Ausführen einer Zahlungsanweisung. Dies ist ein ganz häufiger Arbeitsschritt im Schuldenmanagement (Zusammenfassung aus Feldnotizen; 30.3.2006 und 31.3.2006): Eine Sachbearbeiterin, die u.a. für Zahlungsanweisungen bei kommerziellen Schulden zuständig ist, teilt mit, sie erstelle mithilfe der DMFAS-Software monatlich einen Bericht über die aktuell fälligen Zahlungen und streiche darin diejenigen an, für die sie verantwortlich sei. Immer dann, wenn sich die Termine für die Rückzahlungsraten und die Zinszahlungen näherten, öffne sie die Fenster einer speziellen Interface der DMFAS-Software zum Budgetierungssystem des Ministeriums (den sog. „DMFAS Gastos SIDIF Link“),3 bereite dort in einem Bildschirmfenster mit dem Namen „Solicitud“ (Spanisch für „Zahlungsanweisung“) eine einzelne Zahlungsanweisung vor und „generiere“ diese dann. Sie führt mir diesen Arbeitsvorgang an ihrem Computer vor. Zur „Generierung“ der Zahlungsanweisung klickt sie bestimmte Funktionsfelder auf dem DMFAS-Bildschirm an. Wie sie weiter erläutert, rufe ihre Kollegin am anderen Arbeitsplatz, wo die DMFAS-Software auch installiert ist, die erfolgten Eingaben wiederum auf und bearbeite die Zahlungsanweisung weiter (und danach würden die Daten, so der Vorgesetzte später, an die Zentralbank weiter geleitet, die die Zahlung effektiv ausführe). Die Kollegin sitzt, wie die meisten Mitarbeiter der Abteilung, in Gesprächsentfernung nur wenige Meter entfernt von ihr.

2

In den Kapiteln eins bis vier wurde auf die Funktionspalette von sko-

3

Der „DMFAS Gastos SIDIF Link“ ist eine technische Verbindung zwi-

pischen Systemen im Detail eingegangen. schen der DMFAS-Software und dem Budgetierungssystem im argentinischen Finanzministerium („Gastos“: Spanisch für „Ausgaben“). Er ist Bestandteil des dortigen integrierten Finanzmanagementsystems (vgl. zweites Kapitel).

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Diese alltägliche Situation des Schuldenmanagements scheint sich über nicht mehr als zwei Individuen (die zwei argentinischen Kolleginnen), wenige Bildschirmfenster der DMFAS-Software, wenige klar benennbare Handlungen wie z.B. das Einsehen eines ausgedruckten Schuldenberichts oder das Klicken auf ein Bildschirmfeld zu beschränken. Und der Gesamtprozess dauert je Zahlungsanweisung nur ein paar Minuten. Gleichwohl ist diese „einfache“ Situation der Datenverarbeitung bereits eine hochtechnologische Weltsituation. Der eingangs erwähnte Schuldenbericht, der die fällig werdenden Zahlungen anzeigt, setzt eine hinter den Bildschirmen zusammenspielende Technologiewelt mit ihren verschiedenen IT-Expertengruppen voraus. So müssen erstens diverse Programmteile der DMFAS-Software, hier etwa die Komponenten des Statistical Bulletin-Moduls, auf das durch den IT-Konzern Oracle im Silicon Valley konzipierte, vor Ort installierte Datenbanksystem zurückgreifen. Dies setzt zweitens ein auf Workstations installiertes Betriebssystem voraus – in diesem Fall ist es Windows von Microsoft, dem IT-Konzern mit Zentrale in Seattle. Dies alles setzt drittens physische Speicherträger und natürlich diverse andere Rechnerkomponenten verschiedenster Hardwarehersteller bzw. kleiner Zulieferbetriebe weltweit voraus. Ähnliches gilt z.B. für die angesprochene Generierung einer Zahlungsanweisung mithilfe eines der Funktionsfelder auf dem DMFAS-Software-Bildschirm. Hier kann vom Bildschirm ausgehend einer ganzen Technik-Weltgeschichte nachgespürt werden, ohne die das erwähnte „Generieren“ durch die Mitarbeiterin gar nicht möglich wäre. So wurde etwa die „fensterorientierte Bedienoberfläche“ erstmalig in den 1970er Jahren von der Firma Xerox in Palo Alto entwickelt, bevor sie dann ab ca. 1984 auch von Apple für Macintosh-Rechner und später von Microsoft für PCs, welche in den meisten nationalen Schuldenbüros benutzt werden, übernommen wurde (Gumm/Sommer 2006: 64-65). Insgesamt ist bereits ein nicht an das Internet angeschlossener Rechner ein solch technikweltlicher Interaktionszusammenhang, indem vier „Schichten“ mit Programmen von diversen global verstreuten Herstellern – zuoberst die Anwendungsprogramme, dann das grafische Bediensystem, darunter das Betriebssystem und schließlich die Hardware – an die jeweils tiefere Schicht „Anforderungen“ zur Bereitstellung bestimmter „Dienste“ stellen (Gumm/Sommer 2006: 56; vgl. Heintz 1993: 241-242). Durch einen Rechner hindurch interagieren also indirekt zahlreiche verschie-

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dene IT-Expertengruppen weltweit miteinander. Damit lässt sich das techniksoziologische Argument, Hersteller und Verwender eines Artefakts würden eine „anonyme soziale Beziehung“ eingehen, ausdehnen (Heintz 1993: 244): Die indirekten sozialen Beziehungen bestehen auch, und erst recht, dutzendfach zwischen global verstreuten Herstellern untereinander. Außerdem ist der angesprochene „DMFAS Gastos SIDIF Link“, der die DMFAS-Software mit dem Budgetierungssystem des Ministeriums verbindet, eine Spezialfunktion, die extra für diesen Staat in die Software eingebaut wurde. Hier wurde also von Genf aus, wo die Software entwickelt wird, eine spezifische staatliche Organisation – die Details der argentinischen Arbeitsteilung zwischen Schulden- und Budgetierungsabteilung – technisch-konkret beim Design des Systems berücksichtigt. Das Interessante an solchen nationalen Spezialfunktionen ist, dass viele von ihnen im betreffenden Land aktiv, trotzdem aber auch in allen anderen Ländern mit-vorhanden sind. Von Argentinien oder irgendeinem anderen Land aus gesehen sind sie in der Software verdeckt eingebaut, d.h. sie sind „without transparency to the rest of the users“ (IT-Chef des DMFAS-Programms, Interview vom 1.2. 2006). Mit anderen Worten, eine Unmenge von verschiedenen nationalen Spezialfunktionen sind bei jeder Software-Installation kopräsent. Sie sind alle eng miteinander eingefaltet in dieselbe Software. Die nachfolgende Analyse ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden unterschiedliche theoretische Situationsbegriffe vorgestellt, auf die der empirische Teil später zurückgreift. Das zentrale theoretische Anliegen dabei ist die Entwicklung eines differenzierten Weltbegriffs. Dann wird zunächst empirisch untersucht, in welcher Weise genau diverse Weltkomponenten in tägliche Schuldenmanagementsituationen eingefaltet sind. Es werden dabei vier synthetische Dimensionen unterschieden, denen diese Weltkomponenten analytisch zugeordnet werden können: (1) globale IT-Konzerne, (2) der globale Währungsund Geldmarkt, (3) internationale und regionale Finanzinstitutionen sowie (4) Nationalstaaten. Diese Klassifikation ist nicht erschöpfend.4

4

Eine weitere denkbare synthetische Dimension ist die Einfaltung von verschiedenen Sprachen in die DMFAS-Software. Die Benutzeroberflächen des Systems sind in vier der sechs offiziellen UN-Sprachen übersetzt: Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch (die beiden weiteren UNSprachen sind Russisch und Chinesisch). Diese UN-Vielsprachigkeit

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Schließlich wird die Untersuchungsperspektive auf Ent-Faltungserfahrungen gelenkt: Anhand eines Fallbeispiels, das auf teilnehmender Beobachtung im Finanzministerium von Burkina Faso im September 2004 beruht, wird analysiert, inwiefern sich eine konkrete Schuldenmanagementsituation sukzessive als hochtechnologische Weltsituation entfaltet. Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung.

5.2 T HEORETISCHE G RUNDLAGEN : M IKROSOZIOLOGISCHE S ITUATIONSBEGRIFFE 5.2.1 Goffman makroskopisch erweitert: synthetische Situationen nach Knorr Cetina Soziale Situationen sind nach Goffman charakteristischerweise Zusammenkünfte von zwei oder mehr Menschen, die nicht nur miteinander verbal kommunizieren, sondern einander buchstäblich ihre gesamten Körper aussetzen und so, gleichzeitig physisch und psychisch „verwundbar“ wie auch potent, die Körpersprachen der jeweils anderen ständig beobachten und „lesen“ (1964: 133, 135; 1983: 2, 4). Mit dieser verkörperten Kommunikation geht laut Goffman eine permanente volle wechselseitige Aufmerksamkeit einher, die dazu beiträgt, dass eine soziale Situation auch nicht lange aufrechterhalten werden

müsste vermutlich im eigenen Recht kategorisiert werden. Sie lässt sich weder einfach der Kategorie der Nationalstaaten, also der vierten synthetischen Dimension, zuordnen (u.a. weil es viel mehr Staaten und entsprechend in der Software berücksichtigte einzelne Nutzungswünsche als eingebaute Sprachen gibt), noch einer neuen groben Kategorie „globale Sprache“ (dieser Sinn hängt wohl viel mehr dem universal verwendeten Englisch als irgendeiner anderen Sprache auf dem Globus an). Selbst wenn die Kategorisierung noch genau zu überlegen wäre: In jedem Fall gibt es immer wieder synthetische Einstellungsprobleme, die damit zusammenhängen, dass die jeweils vor Ort installierte Softwareversion diese oder jene Sprache „spricht“, d.h. die DMFAS-Experten müssen im Rahmen ihrer technologischen Sorge um ihren weltweit arbeitenden Quasi-Akteur immer auch dessen jeweilige örtliche Sprache mitberücksichtigen, wenn einzelne Funktionen nicht wie erwartet laufen (vgl. sechstes Kapitel).

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kann. Als zeitlich äußersten Fall nennt er eine sich über mehrere Tage erstreckende „feierliche soziale Gelegenheit“, bei der sich verschiedene geladene Gäste um eine „Plattform-Aktivität“ herum zusammenfinden und gemeinsam eine Reihe offizieller kleiner Einzelaktivitäten mit relativ lang aufrecht erhaltener Aufmerksamkeit absolvieren (Goffman 1983: 3, 7).5 Die extreme Verkörperung der Kommunikation und die relativ kurze Dauer, die mit dem hohen Grad an erwarteter Aufmerksamkeit zusammenhängen, verbinden sich Goffman zufolge mit einem weiteren Merkmal sozialer Situationen: ihrer räumlichen Überschaubarkeit (1983: 3). Die Beteiligten teilten typischerweise einen gemeinsamen „Fokus der Aufmerksamkeit“, was zur Koordination ihrer Handlungen führe (a.a.O.). Insgesamt wiesen solche räumlich, zeitlich und personell eng umgrenzten Zusammenkünfte eine ihre eigene mikrosoziale Interaktionsordnung aufweisen, die entsprechend „im eigenen Recht“ mikrosoziologisch zu analysieren sei (Goffman 1983: 2; vgl. Goffman 1964: 134). Genauer gesagt, ein Großteil des Handelns von Menschen sei als im engen Sinn „situationales“ bzw. „sozial situiertes“ Handeln zu analysieren, und nicht etwa als solches, das gerade zufällig in einer Situation liege, aber eigentlich auch durch Sozialstrukturanalysen (z.B. mit Variablen wie dem Geschlecht) erschöpfend erklärt werden könne (Goffman 1983: 2, 3). Mit diesem Grundverständnis einer sozialen Situation scheint zunächst nichts abwegiger, als mit Goffman das Konzept einer hochtechnologischen Weltsituation zu begründen, das, wie eingangs angekündigt, für die empirisch beobachtbare Einfaltung und Entfaltung diverser Weltkomponenten in eine lokale Schuldenmanagementsituation stehen soll. Und doch hat Goffman seiner mikrosoziologischen Argumentation weitere Argumente angefügt, die jede soziale Situation, so sehr sie auch „im eigenen Recht“ zu würdigen sein mag, gleichzeitig für ständige Wechselwirkungen mit Sozialstrukturen bzw. anderen, der Situation zunächst äußerlichen sozialen Ordnungen öffnen. Er vertrete keinen „zügellosen Situationalismus“, wonach die Regeln und Erwartungen innerhalb einer sozialen Situation ausschließlich im dortigen Moment selbst generiert würden, so Goffman selbst (1983: 4). Entsprechend ist der gesamte zweite Teil seines Artikels zur Interaktionsordnung, dem das eben zitierte Grundverständnis einer sozialen Situa-

5

Als mögliches Beispiel für eine solche Plattform-Aktivität kann man sich eine Hochzeitsfeier vorstellen.

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tion entnommen werden kann, diversen Merkmalen der Interaktionsordnung gewidmet, die einen Bezug zu „makroskopischen Welten“ über die unmittelbare Interaktion hinaus aufweisen (Goffman 1983: 8). Hier wird auch der Begriff der „losen Kopplung“ von Situationsordnung und größeren sozialen Umgebungsstrukturen entwickelt: Es gebe nachweislich in verschiedenen Bereichen Effekte von Situationen in Richtung allgemeiner sozialer Strukturen, und auch umgekehrt; gleichwohl seien die sozialen Makro- und Mikrostrukturen nie „eins zu eins“ aneinander gekoppelt (Goffman 1983: 4, 11). Für die vorliegende Analyse sind besonders die in irgendeiner Form auf Kommunikationsmedien bezogenen Einzelargumente bei Goffman interessant, durch die er seinen Begriff der sozialen Situation ebenfalls „makroskopisch“ öffnet (vgl. Goffman 1964: 136; Goffman 1983: 6, 7). Die Art, in der er Medien wie etwa das Telefon, den Brief oder auch implizit Fernsehen und Mikrofone interpretiert, führt allerdings, so ließe sich schlussfolgern, zu einer Schwächung des originären Situationsbegriffs. Er konstatiert z.B., moderne Technologien hätten in der Tat die „Institution der Interaktion gesprengt“, fügt aber auch hinzu, dass sich die solchermaßen zahlreich in eine Interaktionssituation mit hineingezogenen Individuen – etwa bei der technischen Übertragung von Plattform-Aktivitäten – mit indirekter Beteiligung zu begnügen hätten (Goffman 1983: 7). An anderer Stelle argumentiert er noch strenger: Ein Telefongespräch etwa sei ein Beispiel für eine Interaktionssituation, die als „Abweichung von der Norm, die sonst ihre Struktur und ihre Bedeutung verliere“, begriffen werden müsse (Goffman 1964: 136). Knorr Cetinas Ansatz (2009) kommt einem systematischen Ausbau dieser schon bei Goffman selbst festzustellenden vorsichtigen Erweiterungen des Situationsbegriffs gleich. Implizit greift sie eines der o.g. Grundargumente von Goffman, den Bezug von Interaktionssituationen zu „makroskopischen Welten“, auf: In der Gegenwartsgesellschaft sei die Interaktionsordnung, so sehr sie auch weiterhin mikrosozial organisiert sei, gleichzeitig untrennbar mit „globaler Ordnung“ verwoben (Knorr Cetina 2009: 62). Dieser Übergang zwischen Interaktions- und globaler Ordnung werde durch verschiedene elektronische Medien geleistet (Knorr Cetina 2009: 64). Konkret seien etwa die heutigen globalen Finanzmärkte auf der alltäglichen Interaktionsebene mit komplexen „skopischen Systemen“ ausgestattet. Dies seien „Arrangements aus Hardware, Software und menschlichen Dateneingaben,

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die zusammen wie ein Skop funktionieren“ – ein „Beobachtungs- und Projektionsmechanismus“, über den die Realität der Märkte „gesammelt, erweitert und [von einem Handelsplatz zum nächsten] weitervermittelt“ werde (Knorr Cetina 2009: 64). Diese elektronischen Medien statteten die jeweilige einzelne Arbeitssituation mit zusätzlicher „informationaler Tiefe“ aus und stellten neue Anforderungen an die beteiligten Individuen: Diese müssten nun sowohl gegenüber den sie physisch unmittelbar umgebenden Situationskomponenten (z.B. daneben sitzenden Kollegen) als auch – und viel mehr – gegenüber den zahlreichen über ihre Bildschirme hinein projizierten Informationen „antwort-präsent“ sein (Knorr Cetina 2009: 61, 65; vgl. Goffman 1982: 2; Goffman 1964: 134, 135). Die Bedeutung dieser elektronischen Medien unterstreicht Knorr Cetina, indem sie einen neuen Situationsbegriff einführt: den Begriff der „synthetischen“ Situation (Knorr Cetina 2009: 62). Sie schlägt dann vier Typen von synthetischen Situationen vor, um empirisch genau zwischen unterschiedlich stark synthetisierten Situationen unterscheiden zu können. Ein Fernseher etwa, der im Wohnzimmer ununterbrochen im Hintergrund laufe, ohne dass die Anwesenden ihm ständig ihre Aufmerksamkeit schenken, sei „synthetisches Material“, das die unmittelbare Interaktionsordnung nur mäßig beeinflusse. Hingegen seien Handelsräume ein Beispiel für extrem synthetisierte Situationen: Die dortigen skopischen Systeme „absorbierten“ praktisch alle Interaktionen (Knorr Cetina 2009: 66). In der vorliegenden Analyse wird ebenfalls konstatiert, dass die in Schuldenmanagementbüros zu beobachtenden Interaktionen ganz erheblich durch ein spezifisches skopisches System, die DMFAS-Software, und die diese Software umgebenden Hardwareteile und menschlichen Dateneingaben koordiniert werden. Über die DMFAS-Software und ihre vor Ort jeweils installierten konkreten Umgebungstechnologien, so die Annahme, wird eine komplexe Welt des transnationalen Schuldenmanagements in jede Interaktionssituation hineingezogen. Dabei wird die von Knorr Cetina vorgeschlagene Typologie unterschiedlich stark synthetisierter Situationen wie folgt ergänzt: Es wird ein differenzierter Weltbegriff eingeführt. Worin der theoretische Mehrgewinn eines solchen expliziten Weltbegriffs für kontemporäre soziale Situationen besteht, wird im folgenden Abschnitt deutlich.

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5.2.2 Haraway, Suchman und Pickering weitergedacht: Kaleidoskopwissen, verweltlichtes situatives Handeln und die „Welt-Wäschemangel“ der Praxis Was ist das Besondere an Wissen und Praxis in hochtechnologischen Weltsituationen? Die empirischen Ergebnisse zeigen: Um spezifische Schuldenmanagementsituationen zu verstehen, pendeln die Experten ständig zwischen lokalen und globalen Problemorientierungen hin und her. Genauer gesagt, sie erschließen sich jede noch so „lokal“ anmutende Schuldenmanagementsituation immer wieder aktiv neu, indem sie ihre zahlreiche Weltkomponenten durchgehen, um deren situativ immer wieder etwas verschiedenes Zusammenspiel immer wieder neu zu begreifen. Diese empirische Lage drängt dazu, scheinbar widersprüchliche Theorien des Globalen und des Lokalen unter einem differenzierten Weltbegriff neu zusammenzuführen. Zunächst ist festzustellen, dass die Art, wie die DMFAS-Software in den 82 Zentralbanken und Finanzministerien jeweils benutzt wird, durchaus variiert. In diesem Sinne ist nationales Schuldenmanagement immer lokal spezifisch, von lokalem Wissen durchsetzt und für Außenstehende wie etwa die von Genf aus operierenden Softwareentwickler immer wieder eine neue Fremderfahrung. Die Benutzung des Systems und das entsprechende technologische Expertenwissen sind immer lokal situiert: „Die“ DMFAS-Software und ihre Benutzungsweise können nicht gottähnlich alles überschauend, sondern immer nur von perspektivisch eingeschränkten Standpunkten aus, d.h. immer nur im Bezugsrahmen des jeweiligen Schuldenmanagementbüros, verstanden werden, und Erfahrungen des einen Benutzungskontexts vom einen Ende der Welt können nicht eins zu eins auf den anderen Kontext am anderen Ende übertragen werden (vgl. Haraway 1991: 186, 189; Suchman 2002: 139). Anders formuliert, jede einzelne IT-Installation „klebt“ an ihrem örtlichen Kontext (Pollock/Williams 2009: 245). Doch diese faktische lokale „Klebrigkeit“, so die grundlegende Annahme, schließt Folgendes nicht notwendigerweise aus: dass das jeweilige lokale Schuldenmanagement sozusagen „verweltlicht“ ist. Der Begriff des Lokalen allein ist für die hier beobachteten MenschMaschine-Interaktionen viel zu grob. Er wurde zwar von der Soziologie eingeführt, um gerade auf die zahlreichen sozialen bzw. kulturellen Varianten von Technikbenutzung hinzuweisen (vgl. Pollock/Williams 2009: 9, 152). Gleichwohl verdeckt er im vorliegenden empirischen

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Fall auch das facettenreiche, buchstäblich in die Welt ausufernde Spektrum verschiedenster Komponenten der Mensch-Maschine-Interaktionen. Umgekehrt ist auch der Begriff des Globalen empirisch erheblich zu präzisieren. Sind z.B. nationalstaatliche Einwirkungen auf eine mikroskopische Mensch-Maschine-Interaktion dem Lokalen zuzuordnen, oder eher dem Weltgefüge aller Nationalstaaten? Und ist die Beteiligung von regionalen Entwicklungsbanken wie z.B. des Asiatischen Entwicklungsfonds an Mensch-Maschine-Interaktionen in asiatischen Ländern ein lokales, globales oder regionales Phänomen – oder gar möglicherweise alles das zusammen? In Reaktion auf diese theoretischen Zuordnungsprobleme wird in dieser Analyse ein differenzierter Weltbegriff vorgeschlagen, der sich für die mikrosozial beobachtete Praxis (hier: des Schuldenmanagements) öffnet, aber auch den Einfluss von verschiedensten Akteuren, Akteursgruppen und Aggregatphänomenen in mikrosozialen Interaktionen berücksichtigt. Mit der ständigen Beteiligung verschiedenster Weltkomponenten an mikrosozialen Mensch-Maschine-Interaktionen korrespondieren auf Seiten der Schuldenexperten ein entsprechend ausdifferenziertes Fachwissen und entsprechend ausdifferenzierte Arbeitstechniken. Die DMFAS-Experten verfügen über ein multiperspektivisches Wissen, das hier als „Kaleidoskopwissen“ bezeichnet werden soll. Die Kaleidoskopexperten stellen, so paradox es klingen mag, die Situiertheit jeder lokalen Konstellation des Schuldenmanagements ständig in Rechnung (gleichwohl, ohne sie jemals erschöpfend berechnen zu können), aber springen auch derart zwischen den kreuz und quer in die Welt hinaus weisenden Komponenten von MenschMaschine-Interaktionen hin und her, dass ihr situatives Wissen und Handeln als „verweltlicht“ bezeichnet werden kann. Die Wissenstheorie von Haraway und die Handlungstheorie von Suchman müssen also einerseits übernommen, andererseits mithilfe eines differenzierten Weltbegriffs wiederum partiell ins Globale „zurückgedreht“ werden. Das zu den hochtechnologischen Weltsituationen im Schuldenmanagement gehörige Expertenwissen ist ein erkennbar von Genf aus in die Welt hinaus vertriebenes global-standardisiertes Wissen; dieses Wissen ist aber auch perspektivisch in sich aufgefächert, und es ist ein in den konkreten Arbeitserfahrungen von einer „country mission“ zur nächsten immer wieder neu eingestelltes, d.h. situiertes Handlungswissen. Insofern ist es ein insgesamt spektral weit ausgedehntes Handlungswissen.

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Konkret lässt sich das Phänomen des Kaleidoskopwissens z.B. aus einer Stellungnahme des IT-Chefs des DMFAS-Programms herauslesen. Im Interview (1.2.2006) gab er zu verstehen, dass es aus seiner Sicht keine absolute, allübergreifende Expertenperspektive auf die DMFASSoftware und ihren ungeheuer weiten Benutzungsraum (82 Institutionen in 66 Ländern) geben könne. So sei es „schwer, jemanden zu finden, der alle Dinge tun könnte“ (Hervorhebungen im Original): BG:

I’m getting more and more surprised about, how programming

IT-Chef:

Yeah, the level of abstraction is, is sometimes, is – eh – is – eh –

works, you know […] That’s really fascinating. fascinating because – BG:

That’s the one thing – but the second, I think equally important thing is that, you always have, of course have to connect it to the immediate needs of the user, like, you cannot, you can, you have to do it in an abstract way but still you have to connect it to –

IT-Chef:

Yeah, that’s a problem, that’s the problem – that’s why there are different profiles, no? […] [Y]ou, you can have an excellent programmer – but he is not good, or she, is not good, in that contact with the user, and all in that understanding of the user requirement, or the user need so – sooo – that’s why sometimes you need somebody that, that needs to – clarify, graphically at least [?], the user need. Like, for example, [Name] can do, or [Name], or – and others, that are – working from that point, into the development of the core [?] – is difficult to find somebody that can do all the things.

BG:

It’s really a division of labour then.

IT-Chef:

Yeah, yeah, you need both, both eh, profiles in a team, no?

Der IT-Chef unterscheidet in dieser Sequenz vereinfacht zwischen zwei perspektivisch verschiedenen Profilen aus synchroner Sicht. In einem früheren Gespräch hatte er ähnliche Unterscheidungen aus diachroner Sicht anhand einer Berufskarriere aufgemacht: Ein Programmierer habe großes formal-logisches und abstraktes, aber dennoch (gerade so) auch stark begrenztes Wissen. Er müsse sich dann auf dem Weg zu einem Systemspezialisten in Führungsposition über viele Jahre über verschiedene Zwischenstationen „hocharbeiten“, um letztlich sowohl über eher abstrakte Programmier- und Designkenntnisse als auch

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über ein eher alltagsnahes und kontextspezifisches Verständnis der Nutzerbedürfnisse zu verfügen (Feldnotiz vom 19.8.2004). Das Kaleidoskopwissen ist also, wie sich in diesen Aussagen des IT-Chefs andeutet, ein Gruppenprodukt, das aus der internen Arbeitsteilung resultiert. Programmierer, Systemdesigner, „helpdesk“-Mitarbeiter, Projektmanager, Statistikexperte, „user representative“: Dies sind einige wesentliche Funktionsbezeichnungen, die das DMFASProgramm intern auf seine verschiedenen Mitarbeiter anwendet (vgl. DMFAS 2008b). Die Bezeichnungen reflektieren faktisch einerseits verschiedene, andererseits in konkreten temporären Zusammenarbeiten – etwa auf den ein- bis ca. dreiwöchigen „country missions“ – immer wieder neu zusammengebundene Einzelperspektiven auf „dieselbe“ DMFAS-Software im jeweils neuen lokalen Benutzungskontext. In den nächsten vier Abschnitten wird aufgezeigt, welche verschiedenen Weltkomponenten Situationen des Schuldenmanagements aufweisen. Die eben genannte Bündelung von multiperspektivischem Wissen, die nötig ist, um mit dieser synthetischen Mehrdimensionalität fertig zu werden, wird dann im vierten Abschnitt behandelt. Als Beispiel dafür dient eine während einer Country Mission beobachtete Schuldenmanagementsituation in Burkina Faso, bei der ein erfahrener Schuldenexperte (kurz „Senior Expert“) die Funktionen einer kurz zuvor neu installierten DMFAS-Software-Version prüft. Dabei wird er mit irritierenden „Reaktionen“ der Software konfrontiert. Er versucht, der möglichen Ursache für diese Irritation über einige Tage hinweg detektivisch auf den Grund zu gehen und ist dabei auch auf die Expertenperspektiven eines IT-Consultants, eines Schuldenmanagers aus Burkina Faso selbst sowie einer Programmiererin und des IT-Chefs des DMFAS-Programms in Genf angewiesen. Diese diversen, über Ouagadougou, d.h. die burkinische Hauptstadt, und Genf verteilten Schuldenexperten durchlaufen gemeinsam eine „mangle of practice“ (Pickering 1993). Dabei durchsuchen sie verschiedene Welt-„Nischen“ der konkreten Schuldenmanagementsituation auf mögliche Fehlerquellen, um die Irritationen zu erklären. In theoretischer Hinsicht ist insofern eine weitere begriffliche Neubestimmung speziell für prozessorientierte mikrosoziologische Ansätze – wie den von Pickering – möglich: So wie die Begriffe des situierten Wissens nach Haraway und der situierten Handlung nach Suchman zu „verweltlichen“ sind, so kann auch Pickerings Konzept als „world mangle of practice“ neu gedacht werden.

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5.3 E MPIRIE 5.3.1 Erste synthetische Dimension: globale IT-Konzerne Tägliches Schuldenmanagement ist in den derzeit 82 nationalen Institutionen, die die DMFAS-Software benutzen, nicht möglich ohne ständige „Außenhandelsbeziehungen“ zwischen der Software selbst und diversen Umgebungstechnologien, für die andere IT-Hersteller – u.a. Oracle und Microsoft – verantwortlich sind. Zwischen den verschiedenen Systemen finden nämlich ständig explizite Daten„Exporte“ und -„Importe“ statt, die ein paar Sekunden in Anspruch nehmen (Teilnehmerbegriffe der DMFAS-Experten). Außerdem laufen im Hintergrund immer mikroskopisch kleine und extrem schnelle „Kommunikationen“ zwischen den verschiedensten Prozesskomponenten des jeweiligen PCs ab (vgl. Gumm/Sommer 2006: 60). Situativ erzeugt dies in wenigen Sekunden oder höchstens Minuten eine ungeheure Aktionsdichte: Bei scheinbar noch so einfachen Arbeitsschritten geht der User eine mehrstufige komplexe Interaktionsbeziehung nicht nur vordergründig mit seinem vor ihm stehenden, schon in sich komplexen PC, sondern hintergründig mit all den hinter den PC-Komponenten stehenden Produzenten ein (vgl. Heintz 1993: 244). Diese Produzenten interagieren wiederum indirekt miteinander durch die zusammengebundenen technologischen Systeme hindurch. Eine scheinbar überschaubare einzelne Situation der Datenverarbeitung ist also in höchstem Maße soziotechnisch fragil – fällt eine der Komponenten aus, gelingt der gesamte Arbeitsschritt nicht mehr. Der folgende Wortwechsel mit dem IT-Chef des DMFASProgramms veranschaulicht diese drei zusammenhängenden Merkmale: den verdeckten globalen IT-Interaktionszusammenhang, die Aktionsdichte und die soziotechnische Fragilität der Gesamtsituation. Als Beispiel dient die Berechnung des Gegenwartswerts von Schulden („calculation of the present values“; Interview mit dem IT-Chef vom 1.2.2006): BG:

Most of the time […] often, one has to, when a user problem comes in [IT-Chef: mh] – like here, one has to check, all these different levels of where the error could be, I mean, it could be – [IT-Chef: yeah] – could it result from a kind of interaction effect

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of all these different-, of the hardware, software, of network [ITChef: mh], of server bla bla bla – so – I mean that would make the whole thing very complicated because maybe you cannot only say, it is due to, it is just due to Oracle. Full stop. Or it is – it is because – of – eh patch – IT-Chef:

No, it’s true, it’s true, sometimes it is difficult to, to define – eh, the source of the problem, so we, if – for example the user is trying to – generate a set – for theee – calculation of the present values. That’s a complex process. In which from the DMFAS we are calling a routine – that is – driven by a COBOL programme – and then, that is creating a table – that is recorded in an ASCII file – and then – the user has [to] go into user-defined reports – call that table, in order for, to generate that report to see thee, the calculation of the present value, so. This is a normal process of something, and there you can have different factors, of, of problems, because – it can be – if you have an error during the generation of the table that is, that is being created for the present value – it can be – something related with the, with Oracle, it can be something related with the forms of the screens, it can be – the call to the COBOL programme, that is alloc- – that needs to be allocated in a certain directory, in the server – so – it can be a problem of configuration of that directory in the server, it can be – a problem with eh, a hardware problem, because you don’t have enough memory – to allocate all the – records that have been generated to create that ASCII table – if you have, eh, not enough memory – and, eh, [lacht leicht] so – so it’s difficult yeah.

In diesem Zitat ist das mehrstufige Wechselspiel zwischen dem User und verschiedenen technologischen Systemkomponenten bei einer „normalen“ Prozedur wie der Kalkulation des Gegenwartswerts der Verschuldung erkennbar (der IT-Chef: „a normal process of something“). Die Menge und Unterschiedlichkeit von untereinander und mit dem User interagierenden Systemkomponenten sticht ins Auge: Es sind u.a. Oracle-Datenbank, COBOL-Programmteile,6 Server, Spei-

6

„COBOL“ ist eine Programmiersprache (vgl. Gumm/Sommer 2006: 83).

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cherplatz, und ASCII-Datei.7 Es sind verschiedene Aktionen zu erkennen – solche, die als Mit-Handeln von Systemkomponenten angesehen werden können (z.B. „driven by a COBOL programme“, „recorded in an ASCII file“), oder umgekehrt solche, die als Mit-Funktionieren eines bereits stark disziplinierten, maschinenähnlich eingestellten Users eingestuft werden können (z.B. „the user has to go into user-defined reports“). „Mit-Handeln“ und „Mit-Funktionieren“ in soziotechnisch verteilten Interaktionszusammenhängen wurden bereits explizit von Rammert und Schulz-Schaeffer, maschinenähnliches Handeln von Collins und Kusch untersucht (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002: 13, 39 ff.; Collins/Kusch 1998: 31). Allerdings spitzen sich im vorliegenden Fall Mit-Handeln und Mit-Funktionieren bzw. Maschinenähnlichkeit zu: Einerseits verdichten sie sich zeitlich auf wenige Sekunden und räumlich auf ca. einen Quadratmeter Arbeitsplatz. Andererseits dehnt sich die Mensch-Maschine-Interaktion in diesen wenigen Sekunden auf eine ganze Technologiewelt und -geschichte aus. Die konkrete Situation der Datenverarbeitung wäre ohne diese Welt und Geschichte nicht gegeben. Das Ausmaß dieser Kompression von technologischer Globalität in Mensch-Maschine-Interaktionen wird im nächsten Zitat deutlicher. Der IT-Chef erläutert, was alles an Umgebungstechnologien korrekt arbeiten muss, bevor überhaupt die Funktionen der DMFAS-Software im engen Sinn genutzt werden können (Interview vom 1.2.2006): BG:

[My] idea [is]: the smooth functioning of the software does not only depend on the software, but also on the data, and maybe also on the hardware, on the local hardware, and then also on the Oracle, on the well-functioning of the –

IT-Chef:

In all the different – yes. You have a lot – is complex, no? Is complex-

BG:

Could you give an example? What are the dimensions of, or the levels of –

IT-Chef:

Well, the first dimension is probably the – the hardware. […] And in hardware you have to include: the server – the work stations – and the network. All those things have to to be – working correctly

7

„ASCII“ heißt „American Standard Code for Information Interchange“. Das ist ein technischer Standard zur Übersetzung von Text, Zahlen und sonstigen Zeichen in „bits“ (vgl. Gumm/Sommer 2006: 11).

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and and – we need certain – base requirements. And that that is at the level of – eh memory, at the level of disk space – speed – performance of the computers – so that’s one thing. […] Then, the first thing that you install – on the level of software, having the correct hardware, is the operative system. That is, is, like, it can be Windows, it can be UNIX – BG:

It could be UNIX, too?

IT-Chef:

Yeah, yeah. We have several installations with UNIX.

BG:

But you recommend Windows XP for 5.3, right? – I saw, I read it.

IT-Chef:

Yeah, but that’s more at the level of the work stations, no? Because the – again the the ope-, the system is different. The level of the server and the level of the work stations. – You can have Windows – at the level, Windows server and Windows at the work stations, Windows XP – or you can have UNIX at the server, and Windows at the level of the work stations. But that, that has to be there and – and well installed. Okay, then, after that, you need the installation of the Oracle database. The installation of the Oracle database, also you have different aspects. One is – the, the software that is managing the database. – And, eh, and then you have the tools, if you want, of Oracle, in which we include theee Browser, for example. That’s a typical, or the Query Builder.

BG:

Ah, that’s different –

IT-Chef:

It’s the same thing, eh? Browser is an old – we are using Browser in the old version and Query Builder in the new version. […]. [And] what we are providing with the DMFAS is a, Runtime, to run that. Because normally you have – you need – […] [a] tool to – execute […] – that’s the Runtime. […] [And] [f]or example we need to have certain – certain organization of the folders, of the, of the directories – eh – we need to install some macros in Excel – and also, eh, a certain version of Excel. Different things that are also necessary to install. That’s before the DMFAS if you want, eh? […] [So] [y]ou can have a version running smoothly in a notebook, and then when you install the same version in a country – something happens – but – that can be related with the hardware, with the network, with the communication between the workstation and the server, with thee, with Windows, with UNIX, with eh, with the Oracle version of the database […] – But there are several factors, no? […] So, but your idea is correct – I think no? [lacht leicht].

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Der IT-Chef listet zahlreiche Bedingungen auf, die noch alle „vor“ der DMFAS-Software selbst erfüllt sein müssten, damit diese problemlos laufe („That’s before the DMFAS if you want, eh?“): ein Gefüge von Server, Workstations, Network; ausreichend Speicher- und Prozessorleistungen aller darin involvierten Computer; das richtige Betriebssystem („operative system“), je nachdem, ob es um Server oder Client bzw. Workstation geht (Windows oder UNIX für Server sowie immer Windows für Clients); danach das Datenbanksystem von Oracle („Oracle database“), und mit ihm die „tools“ von Oracle, d.h. der (ältere) Browser oder alternativ der (neuere) Query Builder sowie eine Anwendung, die „Runtime“ heißt; dann eine bestimmte Verzeichnisstruktur auf dem Rechner („organization of the folders“ bzw. „directories“); und schließlich eine bestimmte Version von Excel und darin spezifische, extra installierte „Makros“.8 Alle diese Faktoren sind offenbar immer wieder am jeweiligen Installationsort zu prüfen bzw. neu einzustellen, denn der IT-Chef sagt u.a., diverse Komponenten müssten „gut installiert“ sein. Er konstatiert außerdem: „You can have a version running smoothly in a notebook, and then when you install the same version in a country – something happens“. Das heißt, reist die DMFAS-Software von Genf aus mit einem Laptop in ein bestimmtes Land, um dort installiert zu werden, entpuppt sie sich vor Ort gegebenenfalls als „andere“ Version – indem sie in nicht antizipierter Weise mit den zahlreichen dortigen Umgebungstechnologien interagiert. Die Aussagen des IT-Chefs machen deutlich, welchen großen Stellenwert die synthetische Dimension der globalen IT-Produkte in den jeweiligen nationalen Schuldenmanagementsituationen hat. Die Datenverarbeitung muss, sofern sie mit der DMFAS-Software betrieben wird, auf extrem viele fremde Systemkomponenten zurückgreifen. Die zeitliche und räumliche Kompression ist, was diese synthetische Dimension angeht, ungeheuerlich: Die Dimension ist in sich extrem ausdifferenziert. Nur einzeln erscheint jede Umgebungstechnologie –

8

Der „Hilfe-Assistent“ von Excel erklärt ein Makro wie folgt: „Wenn Sie eine Aufgabe in Microsoft Excel wiederholt ausführen, können Sie den Ablauf mit einem Makro automatisieren. Ein Makro besteht aus einer Reihe von Befehlen und Funktionen, die in einem Microsoft Visual BasicModul gespeichert sind und jedes Mal ausgeführt werden können, wenn Sie die Aufgabe durchführen“ (entnommen aus Microsoft Office-Paket 10, Produktversion 10.0.2614).

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z.B. eine bestimmte Excel-Version oder eine bestimmte OracleAnwendung – lokal leicht beherrschbar. Zusammen mit anderen physischen wie ideellen IT-Produkten, die jeweils national unterschiedliche Mischungsverhältnisse eingehen, entstehen aber immer wieder neue Ausgangsbedingungen, die die DMFAS-Software-Entwickler, wollen sie ihr eigenes System vor Ort neu installieren oder auch nur stabil halten, immer wieder neu studieren müssen.9 5.3.2 Zweite synthetische Dimension: der globale Währungs- und Geldmarkt Das Schuldenportfolio eines Staates hat jeden Tag einen anderen Wert. Für diese Feststellung genügt ein Blick auf die Währungs- und Zinskomponenten: In dem Maße, wie die Werte der verschiedenen nationalen Währungen, aus denen einen Portfolio besteht, täglich schwanken, und in dem Maße, wie eine einzelne Zinszahlung fällig wird, schwankt die nationale Verschuldung von Tag zu Tag.10 Dies ist nicht nur eine dem Portfolio von außen zugeschriebene, sondern auch eine in die tägliche Managementpraxis konkret „einbrechende“ Tatsache – obschon nicht bei allen Ländern gleichermaßen. Dies legen eigene Beobachtungen und der nachfolgende Ausschnitt aus dem Interview mit dem IT-Chef des DMFAS-Programms nahe (1.2.2006; Hervorhebungen im Original). In diesem Ausschnitt spricht die Verfasserin (BG) zunächst das Handbuch zur DMFAS-Software an, den „User’s Guide“. Darin findet sich der Hinweis, dass die Kurse für bis zu 40 Währungen mithilfe spezieller Skripte direkt in die DMFAS-Software – und damit auch in konkrete Schuldenmanage-

9

Viele Länder benutzen neben der DMFAS-Software und diversen anderen bereits erwähnten technischen Komponenten weitere Systeme, von denen bisher noch gar nicht die Rede war. In diesem Sinne sind über die Welt verteilt verschiedene Mischungsverhältnisse von IT-Produkten im Schuldenmanagement zu beobachten. Zwei Beispiele illustrieren dies: Im indonesischen Finanzministerium wurde im November 2004 u.a. FoxPro von Microsoft für die Erstellung von Schuldenberichten verwendet; im argentinischen Finanzministerium wurde im März 2006 für die Erstellung der Quartalsberichte ACCESS von Microsoft benutzt.

10 Die wechselhafte Gestalt eines nationalen Schuldenportfolios wurde ausführlicher im zweiten Kapitel besprochen.

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mentsituationen – heruntergeladen werden können, um so täglich den Wert des Portfolios neu zu bestimmen (DMFAS 2004a, Kap. 6: 15, 16, 19). Da die Verfasserin allerdings in Burkina Faso im September 2004 miterlebt hatte, dass diese Skripte nicht genutzt wurden, wirft sie die Frage auf, ob diese tägliche Verbindung zum Weltwährungsmarkt effektiv existiert. Eine ähnliche Frage stellt sie bezüglich der verschiedenen schwankenden Zinsraten des Geldmarkts, die zum jeweils fälligen Zinstermin dem Handbuch zufolge in die DMFAS-Software eingespeist werden können (DMFAS 2004a, Kap. 6: 20-22; Hervorhebungen im Original): BG:

In the User’s Guide it is said that in 5.3 there are scripts to download exchange rates from the Internet. Are there already countries who actually – […] yeah, apply these scripts?

IT-Chef:

A lot.

BG:

And it works?

IT-Chef:

Yes.

BG:

Because in Burkina Faso, I mean, or probably Burkina Faso is

IT-Chef:

Mhm [verneint].

BG:

– for this but – they were –

not one of the candidates –

IT-Chef:

Did they try?

BG:

No. No they didn’t – I think they tried it, they did it manually in the sense that, or [Name eines DMFAS-Experten] told them they should look on the Website and that they should look for actual, eh, update, eh, exchange rates and then copy this into the software –

IT-Chef:

Manually.

BG:

Yes.

IT-Chef:

Well, that’s not the idea, eh?

BG:

No, nonono, probably –

IT-Chef:

No, the idea to – to download automatically thee – the interest and exchange rates from the, from the Web – or from other sources, can be from the Worl-, suppose we have a lot of cases, in which they are doing that but from the central bank – the system is installed in the ministry – but the central bank is eh, is the one that eh, that informs to the market the – official interest rate and and exchange rates. That, that is being automatically downloaded into the DMFAS [software]. That, that’s typical.

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BG:

And automatical download means every day then?

IT-Chef:

[nickt]

BG:

Okay. And then thee, ehm – will this change then – this will change then the amortization table on a daily basis then – […] if interest rates –

IT-Chef:

If interest is downloaded, yes.

Der IT-Chef sagt, die „Idee“ der Designer der DMFAS-Software sei in der Tat, Zinsraten und Wechselkurse aus dem Internet herunterzuladen – auch wenn speziell Burkina Faso dies nicht tun möge. Er fügt hinzu, dass in der Praxis viele Länder sehr wohl diese Funktion nutzten, und meint, es gebe beispielsweise Länder, bei denen die DMFAS-Software im Ministerium installiert sei, während die Information über die Wechselkurse und Zinsraten von der Zentralbank stamme. In diesen Fällen finde dann eine „automatische“ Übernahme in die DMFASSoftware statt. Abgesehen von diesen Aussagen des IT-Chefs liegen keine empirischen Daten über das tatsächliche Ausmaß dieser „automatischen“ Überführung von Währungs- und Zinsdaten in das tägliche Schuldenmanagement aller 66 Länder bzw. 82 Institutionen, die die DMFASSoftware benutzen, vor. Doch eins ist sicher: Die DMFAS-Software ist systematisch darauf eingestellt, diese beiden Weltmärkte in jede nationale Schuldenmanagementsituation zu integrieren, und es scheint zumindest einige Länder zu geben, die diese Funktion effektiv nutzen. Das heißt, über die DMFAS-Software werden zwei Weltmärkte potentiell mit jeder mikrosozialen Schuldenmanagementsituation synthetisiert (vgl. Knorr Cetina 2009). 5.3.3 Dritte synthetische Dimension: internationale und regionale Finanzinstitutionen Auch Finanzinstitutionen wie der IWF, die Weltbank oder verschiedene regionale Entwicklungsbanken wie z.B. der Asiatische Entwicklungsfonds (AsDF) oder die Afrikanische Entwicklungsbank (ADB) sind in Situationen des Schuldenmanagements eingefaltet. Genauer gesagt, ihre Interessen sind eingeschlossen in konkrete Funktionen der DMFAS-Software, mit der ein Schuldenmanager situativ interagiert. An früherer Stelle wurde bereits untersucht, in welcher Weise dies für die Weltbank zutrifft. Jedes Land, das die DMFAS-Software nutzt,

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kann über eine „automatische Brücke“ vom Bildschirm aus per E-mail Schuldenberichte im von der Weltbank geforderten Standardformat nach Washington schicken (UNCTAD 2008c: 14).11 Hier wird nun an einem weiteren, technisch detaillierten Beispiel gezeigt, wie genau die Interessen des AsDF und der ADB ganz eng in die DMFAS-Software eingefaltet sind. Diese Art der Einfaltung hat Ähnlichkeit mit dem von Callon untersuchten technopolitischen „enrolment“ von verschiedenen Interessengruppen in ein Elektroauto (Callon 1986: 22). Auch dort hat sich der Initiator des Projekts, die französische Elektrizitätsgesellschaft, darum bemüht, die konkreten Interessen großer korporativer Akteure bzw. Akteursgruppen, nämlich die Interessen des Autoherstellers Renault, von Konsumenten, sozialen Bewegungen und Ministerien, in den Konstruktionsprozess einzubinden, um so die Relevanz des Produkts zu erhöhen (vgl. Callon 1986: 22-23).12 Hier wird nun Callons Ansatz erweitert, indem zusätzlich eine Prozessperspektive auf die konkrete Mensch-Maschine-Interaktion im Zeitverlauf eingenommen wird: Es wird gezeigt, wie äußere, nämlich vorrangig im Entscheidungsbereich der regionalen Entwicklungsbanken liegende Weltereignisse auf eine einzelne Kreditbeziehung einwirken und so sukzessive

11 Siehe dazu das dritte Kapitel, Abschnitt „Projektion zur Weltbank“. 12 Besonderen Stellenwert hat dieser Theorieansatz für die Soziologie insofern, als explizit auch nicht-menschliche Akteure eingemeindet werden, d.h. Callon betont besonders, dass technische Komponenten wie z.B. Akkumulatoren und Brennstoffzellen politisch „eingewickelt“ werden (Callon 1986: 22). Dies wird in diesem Abschnitt nicht weiter diskutiert. Allerdings könnte im Grunde das fragile Zusammenspiel all der verschiedenen, teils technischen Weltkomponenten und der menschlichen Nutzer, das hier insgesamt anhand der vier synthetische Dimensionen besprochen wird, in diesen Termini der von Callon und anderen vertretenden Actor Network Theory reformuliert werden. Dass Politisches, Soziales und Technisches nicht kategorisch voneinander unterschieden werden können, ist eines der grundlegenden Merkmale des hier untersuchten Feldes, d.h. des transnationalen Schuldenmanagements. Interessanter ist aber wohl zu zeigen, wie genau sich diese Vermischung in der Praxis vollzieht und dass dieser Vermischungsprozess ungeahnte Ausmaße hat, nämlich von einem einzelnen kleinen Situationsdetail „hinauf“ in globale Strukturzusammenhänge. Beides will dieses Kapitel deutlich machen.

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in Monats- oder Jahresabständen neue „kleine“ Situationen des Schuldenmanagements anregen. Dieses periodische Eindringen äußerer Weltereignisse in eine mikrosoziale Mensch-Maschine-Interaktion wird am Beispiel der „Tranche Management Option Two“ ausgeführt (vgl. Abbildung 30). Abbildung 30: Weltentscheidungen in der „Tranche Management Option Two“ der DMFAS-Software

Quelle: DMFAS 2004, Kap. 9: 12

Dies ist ein in sich komplexes Funktionspaket innerhalb der DMFASSoftware, das es erlaubt, ihrerseits komplexe Kredite wie diejenigen vom AsDF oder der ADB zu verwalten. Die große Schwierigkeit bei diesen Krediten besteht darin, dass über die ersten Jahre in der Laufzeit des Kredits nicht bekannt ist, wie viele Tranchen dieser Kredit in welcher Währung insgesamt hat. Denn der Gläubiger entscheidet sukzessive, wie viele Ausschüttungen in welchen Währungen er vornimmt, und erst mit der letzten erfolgten Ausschüttung kann dann ausgerechnet werden, in welcher Währung und in welcher Höhe die späteren Rückzahlungen erfolgen. Im Detail wurde auf dieses Ausschüt-

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tungsverfahren, das sehr viel Zukunftsunsicherheit für den Schuldner bedeutet, schon an anderer Stelle eingegangen.13 Anhand der obigen Abbildung lässt sich erläutern, wie die DMFAS-Software dem jeweiligen Schuldnerland beim Management dieser unsicheren AsDF- und ADB-Kredite konkret helfen kann. Diese Hilfe ist möglich, sofern der User mit der Software in spezifischen Hinsichten kooperiert. Dies sieht man an den viermaligen, durch gepunktete Pfeile markierten Übergängen zwischen User (im Schema oben) und der DMFAS-Software (im Schema unten) sowie an den diversen Anschlusshandlungen, die das System leistet („CREATES“, „CREATES“, „CREATES“, „RECALCULATES“), wenn der User bestimmte Erst- und Folgehandlungen ausführt (z.B. „Enters“, „Records“, „Retrieves“). Grob gesagt funktioniert die Datenverarbeitung wie folgt: Der User muss zunächst einmal eine „Null-Tranche“ („Tranche 0“) anlegen, in der der vertraglich vereinbarte Kreditbetrag abgespeichert wird (vgl. DMFAS 2004a, Kap. 9: 12-13). Solange die Ausschüttungen anhalten und dieser Ausgangsbetrag noch nicht vollständig an den Schuldner ausgezahlt ist, d.h. solange die Zukunftsoffenheit noch vorherrscht, führt die Software alle Berechnungen der Amortisationstabelle innerhalb dieser Null-Tranche durch, legt aber auch bei jeder Ausschüttung schon einmal eine „richtige“ Tranche an (in der Abbildung mittig: „CREATES Tranche 1“ bzw. „ CREATES Tranche 2“). Wenn dann, meist Jahre später, die letzte Ausschüttung erfolgt ist (in der Abbildung rechts oben durch „Drawing 250 EUR“ angezeigt), löscht die DMFAS-Software die Null-Tranche (in der Abbildung rechts unten: „Deletes tranche 0“). Auf diese Weise bleiben dann nur noch die sukzessive bis dahin angelegten Tranchen stehen (hier wären es zwei). Inwiefern genau lässt sich nun auf diesen Funktionszusammenhang der Begriff der hochtechnologischen Weltsituation anwenden? Der gesamte Datenverarbeitungsprozess, so wie er hier von links nach rechts dargestellt ist, ist im Grunde vom Gewinnmaximierungsprinzip international operierender Banken – hier: AsDF und ADB – durchzogen. Das vertragliche Vorrecht, die Währung der jeweiligen Ausschüttung zu bestimmen, ermöglicht es der Bank, die jeweils für sie im

13

Siehe dazu die Ausführungen im vierten Kapitel, speziell im Abschnitt „Ein paar Dutzend Zukünfte“.

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Wechselkurs gerade günstig stehende Währung zu wählen.14 Damit trifft die Bank buchstäblich Weltentscheidungen: Die Entscheidungen basieren auf einem Vergleich der Kurse, die die verschiedenen nationalen Währungen gerade auf dem Weltwährungsmarkt haben (vgl. zweite synthetische Dimension). Diese Weltentscheidungen haben nun situative Konsequenzen an ganz anderer Stelle: Jede „außen“ bei der asiatischen oder afrikanischen Entwicklungsbank liegende Entscheidung für eine bestimme Währung führt beim betreffenden Land auf der alltäglichen Schuldenmanagementebene zu einer neuen „kleinen“ Situation der Datenverarbeitung. Denn nun muss eine neue Tranche angelegt und die noch verbleibende Menge an SDR („Special Drawing Right“) neu ausgerechnet werden. Mit der letzten erfolgten Ausschüttung muss zusätzlich die erste Tranche gelöscht werden. Zählt man das erste „äußere“ Ereignis, die vertragliche Vereinbarung der Gesamtkreditmenge zwischen Regionalbank und jeweiligem Land, die ja auch bestimmte Handlungen auf der alltäglichen örtlichen Schuldenmanagementebene anregt (siehe erste Spalte), noch hinzu, so lässt sich der gesamte Prozess der Verwaltung von AsDF- bzw. -ADB-Krediten im hier abgebildeten Beispielfall als Abfolge von mindestens vier hochtechnologischen Weltsituationen begreifen. 5.3.4 Vierte synthetische Dimension: Nationalstaaten Die Einfaltung von Nationalstaaten in die Schuldenmanagementsituation ist im Vergleich zu allen bisherigen Einfaltungen – globale ITKonzerne, globaler Währungs- und Geldmarkt, internationale und regionale Finanzinstitutionen – die „lokalste“ synthetische Variante. Jeder Installationsort der DMFAS-Software ist durch den jeweiligen nationalen Benutzungskontext geprägt; jede Mensch-Maschine-Interaktion an diesen Orten ist insofern „nationalisiert“. Dieser Umstand wird an folgendem Gespräch mit einem Programmierer deutlich (Feldnotizen vom 31.8.2004). Der Programmierer erläutert, dass es von Land zu Land unterschiedlich lange dauert, eine neue Version der Software einzuführen, da die Länder in unterschiedlichem Maße dazu neigten, eingebaute Systemzwänge zu umgehen und eigene Codes zu verwenden:

14 In Kapitel 4 wurden die Währungspraktiken des AsDF genauer erläutert.

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Programmierer:

Bevor man [nach einer Konvertierung] ein „Okay“ als Endergebnis erhält, werden oft erst noch Fehler gemeldet. Das sind meist Datenprobleme von Ländern, nicht technische Probleme im System. Zum Beispiel, die [lokalen Nutzer] setzen manchmal bestimmte Systemzwänge, die bisher bestanden haben und auch eigentlich wichtig sind, außer Kraft. Sehr häufig: „debtor type“ – wird ausgelassen; „institution type“ – da fügen sie neue hinzu. Dies beides sind übliche Probleme. Oft ist es das: Sie ändern die Codes. […] Auf erfolgreiche Konvertierung folgt [bei uns der Prozess der] Validierung. Das kann schnell gehen, wie z.B. bei Burkina Faso, oder im Fall von Chile etwa zwei, drei Tage dauern. So lange dauert es. Das Problem sind dann neue Codes, die die Länder von allein eingeführt haben.

BG: Programmierer:

[…] [Fragt nach Grund dafür.] Verschiedene Gründe [Programmierer überlegt]. Vielleicht z.B. bei Chile, weil die Regierung so spezifische Angaben wollte. […] Die Dauer [von Konvertierung und Validierung] hängt […] [insgesamt] von folgenden Merkmalen ab: Menge der Schuldvereinbarungen und Kredittranchen; Komplexität der Daten; Kooperationsbereitschaft des Landes; wie viele persönlich eingerichtete Codes es gibt.

Der Programmierer deutet u.a. an, dass ein Nationalstaat in Form der Regierung, die auf bestimmte Begriffe in den Schuldenberichten wert legt, Einfluss auf die konkreten Einstellungen der Schuldenmanagementtechnologie nimmt. Anders gesagt, die DMFAS-SoftwareInstallationen „kleben“ an den örtlichen Regierungen (Pollock/ Williams 2009: 245). Noch interessanter als dieses „Kleben“ jeder Installation an jeweiligen Landesbedingungen ist aber wohl, dass nationalstaatliche Interessen auch die Schuldenmanagementsituationen in anderen Ländern durchziehen. Es ist sogar grundsätzlich so, dass mehrere Länder synthetisch an Schuldenmanagementsituationen in jeweils anderen Ländern beteiligt sind. Was ist damit gemeint? Zahlreiche Funktionen der DMFAS-Software, die Schuldenmanager weltweit benutzen, sind ursprünglich für spezifische Staaten entwickelt und dann in das überallhin vertriebene „gemeinsame“ System übernommen worden. Die

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Anreizstruktur für diese multinationale Technologieentwicklung besteht darin, dass so Softwareteile überhaupt finanziert werden können (Interview mit dem IT-Chef des DMFAS-Programms, 1.2.2006): „[The] local government [function] was financed by Argentina, by the provinces […], Angola financed the revolving credit [function] in version 5.3 […], the bonds module was financed in between Bolivia and Panama – Chile financed the syndicated loan [function].“

Diese Synthetisierung verschiedenster nationaler Schuldenmanagementinteressen in nur einer Software ist im nationalen Einzelfall bisweilen wiederum problematisch. Ein Mitarbeiter des argentinischen Finanzministeriums etwa, der für die Verwaltung der verschiedenen argentinischen Staatsanleihen zuständig ist, charakterisierte die tägliche Arbeit mit dem Bonds-Modul der DMFAS-Software – das ja originär für Bolivien und Chile entwickelt worden war, s.o. – wie folgt: Das Modul sei seiner Erfahrung nach (sinngemäß) „etwas Rundes, in das man mit Gewalt etwas Eckiges hineinpressen will“ (Feldnotizen vom 10.4.2006). Wie sehr fremde Nationalstaaten indirekt in den Schuldenmanagementsituationen eines gegebenen Staates mitspielen, wird im nächsten Abschnitt deutlich. Dort wird ein Fall besprochen, bei dem die Dominikanische Republik vermittelt über eine bestimmte SoftwareFunktion auf die Datenverarbeitung in Burkina Faso Einfluss nimmt. 5.3.5 Die überraschende Ent-Faltung hochtechnologischer Weltsituationen Ob eine Situation eine hochtechnologische Weltsituation ist, wird besonders in zeitlicher Perspektive erkennbar, d.h. wenn man sich einen beliebigen Ausschnitt innerhalb der Datenverarbeitung im Zeitverlauf anschaut. Diese mikrosoziologische Prozessperspektive wurde ansatzweise schon in der Diskussion der ersten und dritten synthetischen Dimension eingenommen: Im ersten Fall wurde deutlich, in welcher Weise bei einem relativ üblichen Arbeitsvorgang, der Berechnung des Gegenwartswerts von Verschuldung, in wenigen Sekunden zahlreiche „kleine“ Handlungen des Menschen zusammenspielen mit IT-Systemkomponenten, die global verteilt entwickelt wurden. Im zweiten Fall wurde ein wesentlich längerer Zeitverlauf betrachtet, nämlich die

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mehrjährige Verwaltung eines Kredits des AsDF oder der ADB. Auch dieser langgestreckte Datenverarbeitungsprozess unterliegt aber, wie gezeigt wurde, situativ dem Einfluss verschiedener, in Monats- bis Jahresabständen immer wieder neu „einbrechender“ Weltentscheidungen. Nun soll ergänzend gezeigt werden, inwiefern sich eine Schuldenmanagementsituation, die zu Beginn noch übersichtlich erscheint, sukzessive unerwartet als eine hochtechnologische Weltsituation entpuppt. Solche Entfaltungserfahrungen sind besonders häufig in Situationen, in denen gerade erst eingeführte, neue IT-Produkte zum Einsatz kommen. Im vorliegenden Fall ist es eine neue Version der DMFASSoftware. Die Konvertierung von alter zu neuer Software ist ein recht gängiger Bestandteil der täglichen Arbeit von IT-Entwicklern. Im Fall eines Systems wie der DMFAS-Software, die in 82 Finanzinstitutionen weltweit benutzt wird, ist es ein mehrmals im Jahr anstehender Arbeitsschritt. Eine solche Konvertierung – hier: von der Version 5.2 zur Version 5.3 – kann aus soziologischer Perspektive analytisch genutzt werden, um im routinierten Arbeitsalltag sonst verborgene, nicht weiter hinterfragte Bestandteile einer Situation aufzudecken (vgl. Heidegger 1927/1963: 68, 72-76; vgl. Star/Bowker 2002: 152). Im Folgenden sind die Erfahrungen eines Schuldenexperten des DMFAS-Programms in Burkina Faso im September 2004 wiedergegeben. Dieser Schuldenexperte konnte im Zuge einer Country Mission teilnehmend beobachtet werden. Abgesehen von der prozessualen Entfaltung einer Situation als Weltsituation wird anhand dieser Beobachtungen noch etwas anderes deutlich: Wie sehr der Schuldenexperte sich gleichzeitig bemühte, die Weltsituation wieder in eine – vorläufig – kontrollierte, scheinbar einfache, kleine Situation zurück zu verwandeln. Konkret ist zu sehen, wie verschiedene „Nischen“ der erlebten Schuldenmanagementsituation ergründet werden, um mögliche Fehlerquellen im Zusammenspiel der zahlreichen Weltkomponenten aufzuspüren und diese mit gewohnten technischen Maßnahmen – hier etwa der Erstellung neuer Programmierskripte – zu beseitigen. Dabei ist der Schuldenexperte auf das Kaleidoskopwissen anderer Experten vor Ort und in Genf angewiesen. Im Wesentlichen ging es an den nachfolgend wiedergegebenen Test-Tagen (20., 22. und 23.9.2004) um dieses zunächst scheinbar klar umrissene Ausgangsproblem: In der Datenbank von Burkina Faso waren zu viele Kredite in der „Null-Tranche“ abgebildet (vgl. dritte syn-

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thetische Dimension). Genauer gesagt, obwohl bei den betreffenden Krediten, die mit der „Tranche Management Option Two“ verwaltet worden waren, die letzte Ausschüttung jeweils längst erfolgt war, d.h. obwohl die entsprechende Null-Tranche schon längst automatisch hätte gelöscht sein müssen, gab es sie de facto noch. Der vom DMFASProgramm aus Genf nach Burkina Faso geschickte Senior Expert bemühte sich nun auf verschiedene Arten, das dahinter liegende Problem zu ermitteln. Dabei geriet er in einen sich über mehrere Tage erstreckenden, vielstufigen Such- und Interpretationsprozess hinein. Dieser Prozess wird wiedergegeben, soweit die Verfasserin ihm folgen konnte (Feldnotizen): 20.9.2004: Der Senior Expert fertigt [mindestens] drei Kontrollberichte über die „Tranche Management Option Two“ an: Er prüft, was die Berichtsfunktion unter dem Menüpunkt „Reports“ innerhalb der DMFAS-Software sowie die Berichtsfunktion außerhalb, d.h. der an die Software angeschlossene Oracle Browser, an Informationen ausgeben. Er erhält [mindestens] drei verschiedene Berichte: Der eine zeigt 16, der andere 23, der dritte 25 Kredite mit Tranche 0 an. [Es müssten, wenn die Verfasserin den Senior Expert richtig verstanden hat, eigentlich überall 16 sein.] Er stellt außerdem fest, dass es in einer der Listen Kredite gibt, bei denen Rückzahlungs- und Zinszahlungsbeträge mit angegeben sind; er erklärt [der Verfasserin] dazu: Eigentlich sollte es technisch gar nicht möglich sein, die hier anzuführen; es gebe dafür eine Systemsperre. Bis hierhin stellt er [mindestens] zwei Interpretationen für die bisherigen Probleme an: Erstens mutmaßt er, zum IT-Consultant gewandt [dieser betreut speziell die afrikanischen Länder, die die DMFAS-Software benutzen]: Es könne ein Browser-Problem sein, und ob man deshalb den Browser vielleicht noch mal neu installieren sollte. Zweitens nimmt er in Bezug auf die Rückzahlungs- und Zinsbeträge an, dass die örtlichen Users [die „Burkinabés“, wie er sie auf Französisch nennt] es wohl irgendwie geschafft hätten, die Systemsperre außer Kraft zu setzen. Einer der örtlichen avancierten Users, ein Burkiner, der kurz darauf dazu kommt, wirft ein: Könnte es nicht auch an dem Funktionspaket für automatische Zahlungen liegen? Der Senior Expert meint dazu: Das könnte sein; dann wäre es ein „bug“ [Programmfehler]. Er fragt den Burkiner: Wurden denn überhaupt automatische Zahlungen durchgeführt? – Der Burkine meint, er müsse dazu seinen Kollegen befragen. – Der Senior Expert fügt hinzu: Aller-

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dings haben wir das Tranche-0-Problem hier auch schon für relativ alte Kredite [vermutlich meint er damit: für Kredite, die zu einer Zeit eingegeben wurden, als es das Funktionspaket für automatische Zahlungen noch nicht gab]. Um nun zu prüfen, ob also das Funktionspaket für automatische Zahlungen vielleicht nicht funktioniert, fertigt er mithilfe eines Kredits aus der Datenbank einen Kontrollbericht an. Anhand dieses Berichts stellt er nun [irgendwie] fest: Ja, es ist ein Programmfehler! Er schickt daraufhin eine entsprechende Email an die Programmierer in Genf; sie sollen ein passendes Programmierskript schicken. 22.9.2004: [Der Verfasserin ist nicht klar, ob das neue Skript nun schon in den Programmtext der DMFAS-Software eingefügt wurde oder nicht – jedenfalls beobachtet sie:] Der Senior Expert testet noch einmal das Funktionspaket für automatische Zahlungen. Nun erhält er allerdings eine andere Fehlermeldung als vorher. Entsprechend schickt er nun erneut eine Nachricht nach Genf, diesmal ein Fax. Hinzu kommt, dass er aus der DMFAS-Software komplett „rausgeschmissen“ wird, als er die Fehlermeldung wegklicken möchte. 23.9.2004: Der Senior Expert testet das Funktionspaket für automatische Zahlungen nun noch einmal, diesmal zusammen mit dem IT-Consultant. Telefonisch erhält er die Empfehlung aus Genf, er solle den Test einmal mit der englischsprachigen DMFAS-Version durchführen, denn, so heißt es aus Genf, dort müsste das Funktionspaket korrekt laufen. Während der IT-Consultant entsprechende Umstellungen in der Software auf dem mitgebrachten Laptop vornimmt, wird der Senior Expert in der französischsprachigen Version auf dem festen Arbeitsplatz ein weiteres Mal aus der DMFAS-Software „rausgeschmissen“.

Viele der hier aufgeführten Punkte zum Such- und Interpretationsprozess des Senior Expert lassen sich als unvorhersehbare Emergenzbzw. Entfaltungserfahrungen bezeichnen (vgl. Knorr Cetina 1997: 12, 13, 15; vgl. Pickering 1993: 559, 561, 564). Es sind die situativen und prozessualen Erfahrungen eines Experten, vor dessen Augen und unter dessen Händen sich ein ihm relativ vertrautes System sukzessive unerwartet entfaltet und eine ganze Welt des Schuldenmanagements offenbart. Dieser Entfaltungsprozess lässt sich wie folgt zusammenfassen und interpretieren:

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Der Senior Expert versucht, die Spezifität des Systemproblems zu klären, indem er von unterschiedlichen Seiten aus, d.h. mit Hilfe verschiedener Berichtsfunktionen innerhalb sowie außerhalb der DMFAS-Software, auf die Kredite mit Null-Tranchen zurückgreift. Er erhält dann allerdings drei verschiedene Werte bei drei Berichten. Das „eine“ Problem von zu vielen Null-Tranche-Krediten in der Datenbank zeigt sich also in drei Gestalten (bzw. zwei, wenn man annimmt, dass die eine Liste mit 16 angegebenen Krediten die eigentlich korrekte ist). Durch einen Hinweis des lokalen Users verschiebt sich seine Problemwahrnehmung in der Mitte des Prozesses jedoch ausschließlich ins Innere der DMFAS-Software. Ein anderes Funktionspaket, nämlich dasjenige zur Generierung automatischer Zahlungen, störe eventuell das Funktionspaket der Null-Tranchen, meint der User. Wie der Senior Expert später erläuterte, wurde dieses Funktionspaket ursprünglich für die Dominikanische Republik konzipiert, die, als sie ihr altes System durch die DMFAS-Software ersetzte, auch sehr alte Kredite darin mit aufnehmen wollte (Feldnotizen vom 23.09.2004). Daher mussten viele schon längst erfolgte Zahlungen im System noch einmal neu verbucht werden, und dabei konnte eine Automatisierungsfunktion den Arbeitsaufwand erheblich minimieren. Heute können außer der Dominikanischen Republik auch andere Länder diese Automatisierungsfunktion nutzen. Man sieht hier also: Ein fremder Nationalstaat scheint im Schuldenmanagement von Burkina Faso „mitzuspielen“ (vgl. vierte synthetische Dimension). Zurück zum konkreten Entfaltungsprozess: Wenn es stimmen sollte, dass es sich um einen Programmfehler handelt, so wäre das Grundproblem viel klarer definiert und die Entfaltungserfahrung könnte bald beendet sein. Einen Programmfehler könnte ein Programmierer ja gewissermaßen handwerklich beheben (mit dem erwähnten Skript). Die Software liefe dann wieder erwartungsgemäß. Nach einem Test des betreffenden Funktionspakets bestätigt sich die Annahme eines Programmfehlers für den Senior Expert zunächst. Die anfängliche Entfaltungserfahrung scheint mit der E-mail nach Genf, in der um ein neues Skript gebeten wird, handhabbar geworden zu sein. An den nächsten beiden Testtagen zeigt sich das Null-TranchenProblem aber noch einmal in zwei anderen Gestalten. Zum einen wird der Senior Expert wiederholt aus der Software „rausgeschmissen“ – eine „Reaktion“ der Software, die er am Tag zuvor nicht erlebt hat.

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Zum anderen scheint es einen Unterschied für das Wohlfunktionieren des Systems zu machen, welche Sprache die DMFAS-Software „spricht“ (d.h. was die vor Ort gewählte Hauptspracheinstellung ist). Denn der Senior Expert erhält die Empfehlung von den Programmierern aus Genf, seine Tests auf der englisch- statt wie bisher auf der französischsprachigen DMFAS-Version durchzuführen. Insgesamt hat sich also der Senior Expert prozessual mit verschiedenen emergierenden Verstehensproblemen auseinandergesetzt. Dabei war er auf perspektivisch anders erfahrene Experten – den ITConsultant, der die Softwarenutzer in Afrika betreut, und einen örtlichen User, d.h. einen Burkiner – angewiesen. Er kam u.a. zu einer konkreten Problemerkennung (Programmierfehler) mit entsprechend klar „technisch“ bzw. handwerklich überschaubarem Lösungshorizont (neues Skript erstellen und einbauen). Im Nachhinein könnte man an dieser Stelle scheinbar selbstverständlich sagen: Es war eben ein Programmfehler. Doch dies ist eine Post-hoc-Rationalisierung (vgl. Pickering 1993: 565). Sie trifft nicht die Natur von Wissen in der Praxis: Im Handlungsvollzug selbst fehlt dieses scheinbar simple Wissen. Und es wird auch immer und immer wieder fehlen, wie der zweite Teil des hier wiedergegebenen Testabschnitts andeutet: Schon im nächsten Arbeitsschritt kann es zu neuen, wiederum gar nicht im Voraus absehbaren Entfaltungserscheinungen kommen, die wie im ersten Teil des Tests sukzessive enger „eingekreist“ werden müssen. Auch diese können nur im Nachhinein als einfache, behebbare Fehler rationalisiert werden. Es ist anzunehmen, dass dieses gleichermaßen unsichere wie komplexe Wissen-im-Handelsvollzug nicht etwa ein singuläres Merkmal des DMFAS-Programms, sondern weiter verbreitet ist – in Zeiten hochtechnologischer Weltsituationen. Software-Expertise der Gegenwart zeichnet sich vermutlich dadurch aus, dass viele mögliche Ursachenstränge, die bei irgendwelchen Problemerfahrungen in einer synthetischen Situation der Datenverarbeitung de facto zusammenfließen, situativ und prozessual wieder und wieder sortiert und prüfend durchgegangen werden müssen, oftmals zusammen mit perspektivisch anders erfahrenen Experten (Kaleidoskopexperten), bevor die „einfache“ Lösung gefunden ist.

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5.4 Z USAMMENFASSUNG Soziale Situationen, die auf den ersten Blick überschaubar wirken, was ihre Begrenzung in Zeit und Raum und die Anzahl an beteiligten Interaktionspartnern angeht, können sich bei genauerer Analyse als hochtechnologische Weltsituationen erweisen. Dies wurde hier anhand empirischer Beispiele aus dem Alltag des Schuldenmanagements aufgezeigt. Es wurden speziell solche sozialen Situationen untersucht, an denen Informations- und Kommunikationsmedien – hier vor allem: die DMFAS-Software – beteiligt sind, was nach Goffman zwar nicht als Regelfall, jedoch immerhin als Grenzfall sozialer Situationen angesehen werden kann. Untersucht man solche mediatisierten sozialen Situationen im Detail, so zeigt sich, dass sie weit über die offensichtlichen „ersten“ Medien hinaus – damit ist hier die DMFAS-Software gemeint – von zahlreichen weiteren technologischen Elementen durchsetzt sind, die tatsächlich in die Welt hinausreichen oder historisch gesehen eine Weltgeschichte verkörpern. Außerdem wurde in der Analyse deutlich, dass verschiedene, teils sehr große Akteure und Aggregatphänomene am Verlauf von noch so kleinen und kurzen sozialen Situationen beteiligt sind. Das heißt dann auch insgesamt, dass solche soziotechnischen Situationen sehr fragil sind, in folgendem Sinn: Wenn nur eine der zahlreichen Weltkomponenten einer Situation „ausfällt“, so wird häufig die gesamte Situation gestört – denn viele der Weltkomponenten hängen miteinander zusammen und werden entsprechend mit-irritiert, wenn eine von ihnen nicht mehr wie gewohnt mitarbeitet. Dieses Grundargument, d.h. die Ein-Faltung und auch unerwartete Ent-Faltung von Weltkomponenten in einer technologisch vermittelten Situation des Schuldenmanagements, wurde im Wesentlichen in zwei Schritten empirisch begründet: Zunächst wurden insgesamt vier sog. „synthetische Dimensionen“ herausgearbeitet, in denen für eine Schuldenmanagementsituation relevante Weltkomponenten liegen. Diese Dimensionen umfassen erstens zahlreiche in eine Situation involvierte IT-Produkte globaler IT-Konzerne (wohlgemerkt zusätzlich zur DMFAS-Software selbst); zweitens vom globalen Währungs- und Geldmarkt ständig wieder ins tägliche Schuldenmanagement „einbrechende“ Finanzwerte; drittens von internationalen und regionalen Finanzinstitutionen getroffene Weltentscheidungen, die die tägliche Verwaltung bestimmter Kredite in neue, nicht vorab planbare Richtungen

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lenken; und viertens nationalstaatliche Politiken und Schuldenmanagementbedürfnisse, die in das jeweilige örtliche Schuldenmanagement, aber auch in das Schuldenmanagement anderer Staaten hineinspielen. Im Anschluss an diese Darstellung der vier synthetischen Dimensionen wurde explizit eine mikrosoziologische Prozessperspektive eingenommen. Gegenstand war der fortschreitende Erkenntnisprozess eines Schuldenexperten im Zuge eines kurzzeitig gestörten Prozesses der Datenverarbeitung. Der Experte versuchte, die Ursache einer plötzlich unerwartet „reagierenden“ Weltkomponente – hier: eines bestimmten Funktionspakets innerhalb der DMFAS-Software – detektivisch zu ergründen. So wurde erst richtig deutlich, wie stark scheinbar einfache Situationen des Schuldenmanagements von miteinander teils verwobenen Weltkomponenten durchsetzt sind. Außerdem zeigte sich dabei die bereits konstatierte Fragilität soziotechnischer Situationen im Detail. Schließlich diente der Fall als Beispiel für die Annahme, dass Expertenwissen in Zeiten hochtechnologischer Weltsituationen Wissen-imHandlungsvollzug ist, das sehr komplex und zugleich sehr unsicher ist. In theoretischer Hinsicht konnten hauptsächlich folgende Erkenntnisse gewonnen werden: Erstens wurden „makroskopische“ Elemente des Situationsbegriffs von Goffman ausfindig gemacht, die seine Überführung in den globalisierten Situationsbegriff von Knorr Cetina erlauben. Zweitens konnte das Konzept des situierten Handelns sowie von immer „lokal“ gedachten Mensch-Maschine-Interaktionen, das Suchman erarbeitet hat, revidiert werden, ohne es ganz aufzugeben: Situierte bzw. lokale Handlungen, die technologisch vermittelt sind, sind nicht vom Rest der Welt abgeschottete Handlungen. Im Gegenteil: Führt man einen differenzierten, gewissermaßen ans Lokale heranreichenden und dennoch auch globale Strukturen aufnehmenden Weltbegriff ein, so lässt sich dieser Theorieansatz der Situativität und Lokalität des Handelns durchaus mit Globalisierungstheorien verbinden. Das verbindende Element zwischen Lokalisierungs- und Globalisierungstheorien ist, so lässt sich zusammenfassen, ein differenzierter, in empirischer Detailanalyse verankerter Weltbegriff. Drittens und viertens konnten mit einer ähnlichen Argumentation der Begriff des situierten Wissens nach Haraway sowie der „mangle of practice“Theorieansatz von Pickering „verweltlicht“ werden, ohne sie aufgeben zu müssen.

6. Technologische Sorge in Weltsituationen

6.1 E INLEITUNG :

EIN SKOPISCHES PHYSIOLOGISCH BETRACHTET

S YSTEM

Ein technologisch und epistemisch dichtes skopisches System wie die DMFAS-Software kann sich in alltäglichen Situationen der Datenverarbeitung plötzlich ganz unerwartet „verhalten“, so dass sogar diejenigen Experten, die das System am besten kennen müssten, da sie es mitkonstruiert haben, es immer wieder neu verstehen müssen. Dieser Sachverhalt wurde zuletzt unter dem Begriff der Entfaltung hochtechnologischer Weltsituationen besprochen.1 Hat sich das eigene System einmal unerwartet „verhalten“, müssen es die Experten im jeweiligen nationalen Benutzungskontext im Zusammenspiel mit den dort zusammenlaufenden Weltkomponenten – z.B. spezifisch konfigurierte Hardwareteile anderer IT-Hersteller – neu testen und dann die Synthetik der nationalen Beobachtungssituation wieder richtig einstellen (Knorr Cetina 2009: 70: „Getting the synthetics right“). Nachfolgend werden diese Bemühungen der Systemexperten – Verstehen, Testen, Neueinstellen – genauer untersucht. Es wird ein breites Spektrum von technologischer Sorge um einen lang herangewachsenen und kosmopolitschen Quasi-Akteur, der einen empfindlichen ökonomischen Stoffwechsel hat, aufgezeigt. Diese Metaphern umreißen die folgenden zusammenhängenden Phänomene im Untersuchungsfeld:

1 Siehe dazu das fünfte Kapitel.

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• Die DMFAS-Software ist als skopisches System ein in sich bedeu-

tungstiefer Träger diverser technologisch-epistemischer Funktionen zur Sichtbarmachung von nationaler Verschuldung, z.B. Klassifikations- und Projektionsleistungen.2 • Diese Sichtbarmachung ist nur durch einen epistemischen Transformationsprozess möglich, der entfernt mit der Physiologie eines Organismus verglichen werden kann (vgl. Knorr Cetina 2002: 193). Das System kann in kürzester Zeit große, bis dahin weit verstreute Datenmengen aufnehmen, „verdauen“ (d.h. verarbeiten) und in neuer Form, nämlich als kompakte Ansichten von Nationalökonomien, wiedergeben. • Das System wurde im Lauf der letzten drei Jahrzehnte immer wieder umgebaut, so dass es inzwischen eine umfangreiche eigene „Lebensgeschichte“ aufweist (vgl. Pollock/Williams 2009: 10 ff., 156; vgl. Appadurai 1986: 13). • Heute ist es unter immer etwas variierenden örtlichen Bedingungen auf der ganzen Welt installiert: in 82 Finanzinstitutionen in 66 Ländern (vgl. World Bank 2008c: 11, 14). Ein Ende der Weiterentwicklung dieses kosmopolitischen Systems ist nicht in Sicht. Derzeit geht die neue Version 6.0 in die weltweite Distribution. Version 6.0 verfügt u.a. über neue sog. „intelligente“ Funktionen für die Erstellung graphischer Schuldenberichte (DMFAS 2009: 23). So kann die Software neuartige Bilder einer Nationalökonomie produzieren.3 Insgesamt hat die DMFAS-Software so eine akteursähnliche Eigendynamik erlangt. Denn ihre Programmstruktur und jeweilige Einbindung in nationale Schuldenbüros sind zwar durch und durch von (zahlreichen) Menschenhänden gemacht. Trotzdem ist sie, was die Summe all der möglichen täglichen Interaktionseffekte in den 82 nati-

2

Es wurden mehrere skopische Grundfunktionen im dritten Kapitel besprochen, und das vierte Kapitel konzentrierte sich auf die Funktion der Zukunftsprojektion.

3

Es heißt, mit dem „Business Intelligence and Reporting Tool“ könnten „graphical, statistical and numeric reports in a variety of formats“ erstellt werden (DMFAS 2009: 23; Hervorhebungen BG). Bisher war das bevorzugte Format der Sichtbarmachung die Tabelle, ein nur schwach bildhaftes Kommunikationsgenre (vgl. viertes Kapitel).

T ECHNOLOGISCHE S ORGE | 229

onalen Schuldenbüros angeht, nicht mehr überschaubar, geschweige denn kontrollierbar.4 Es ist ein System, das im fließenden Prozess der Datenverarbeitung niemals aus konkreten soziotechnisch verteilten Handlungszusammenhängen herausgelöst werden kann (vgl. Rammert/ Schulz-Schaeffer 2002: 39 ff.). Dennoch sprechen die Schulden- und IT-Experten im Feld immer ausgesondert von „der“ DMFAS-Software, „ihren“ Funktionen oder „ihren“ Schwächen. Ihr wird also durchaus individuelle Handlungsträgerschaft zugeschrieben. Diese Merkmale erinnern zusammengenommen an eine Kombination aus Rammerts und Latours Technikbegriffen (Rammert 2007; Latour 2002). Ähnlich dem von Rammert untersuchten Fliegen eines Flugzeugs findet nationales Schuldenmanagement „in einer aus Menschen, Maschinen und Programmen vermischten Konstellation statt, wobei den menschlichen und nichtmenschlichen Instanzen des Handelns unterschiedliche und situativ wechselnde Grade von Handlungsträgerschaft (‚agency‘) […] und […] Technisierung (‚technological fix‘) zukommen“ (Rammert 2007: 86). Die Summe aller SoftwareInstallationen weltweit kann aber auch als übermenschlich großes „Kollektiv“ oder „Hybrid“ bezeichnet werden, das auf die Genfer Zentrale zurückwirkt und immer wieder neu verstanden sowie handlungspraktisch bewältigt werden muss (Latour 1991/2002: 7-16). Neu ist in der vorliegenden Analyse, dass diese bereits existierenden Technik- bzw. Akteurskonzepte mit der Idee des ökonomischen Stoffwechsels verbunden werden: Skopische Systeme wie die DMFAS-Software sind Quasi-Akteure mit einer eigenen technoökonomischen Physiologie, die für menschliche Experten unersetzlich ist. Sobald sie mit lauter zunächst unübersichtlichen Einzeldaten „gefüttert“ werden, können sie Aggregatansichten von komplexen ökonomischen Phänomenen wie z.B. einer Nationalökonomie liefern. So erlauben sie geübten ökonomischen Experten, die charakteristische Gestalt einer Nationalökonomie zu erkennen (vgl. Fleck 1935/1980: 121). Hier werden nun fünf Formen der technologischen Sorge um diesen skopischen Quasi-Akteur näher untersucht. Diese technologische Sorge kann als Pendant zur „familiären Sorge“ nach Hochschild kon-

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Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 5: Es gibt zahlreiche Weltkomponenten, die in mediatisierten sozialen Situationen des Schuldenmanagements zusammenspielen.

230 | ÖKONOMIE SICHTBAR MACHEN

zipiert werden (Hochschild 2003: 214). Es gibt zwar aktuelle Arbeiten zu „maintenance“ und „repair“, die dem eigenen empirischen Feld auf den ersten Blick näher stehen, und im Weiteren auch punktuell zitiert werden (Graham/Thrift 2007; Henke 1999). Gleichwohl erlaubt der Vergleich mit dem Konzept von Hochschild drei weiter gehende Thesen: Erstens kann ein zentrales Argument dieser „maintenance“- und „repair“-Ansätze geschärft werden. Demzufolge wird praktische ITArbeit, die technische Systeme am Laufen hält, in der Soziologie bisher weitestgehend invisibilisiert. Dabei könne an dieser Hintergrundarbeit abgelesen werden, wie Gesellschaften lernen und soziale Ordnung auf Dauer aufrecht erhalten werde (vgl. Graham/Thrift 2007: 5-7, 17; Henke 1999: 5). Der hier anstelle der technizistischen Ausdrücke „maintenance“ und „repair“ gewählte Begriff der Sorge stärkt dieses Argument kultursoziologisch (erste These). Zweitens lässt sich mithilfe von Hochschilds Globalisierungsperspektive ein wichtiges Merkmal heutiger technologischer Sorge benennen, das von Graham, Thrift und Henke nicht diskutiert wird: ihre zunehmende räumliche Ausdifferenzierung (zweite These).5 Drittens ist auf Grundlage der eigenen empirischen Ergebnisse über Graham, Thrift und Henke sowie Hochschild hinaus eine überraschend starke temporale Ausdifferenzierung von technologischer Sorge zu konstatieren (dritte These). Entsprechend werden insgesamt fünf Strategien der technologischen Sorge um die DMFAS-Software besprochen. Diese Strategien sind sowohl räumlich als auch zeitlich auffällig verschieden voneinander. Der weitere Aufbau der Analyse ist wie folgt: Im nächsten Abschnitt werden diese drei Thesen näher erläutert. Der Abschnitt enthält

5

Henke betont, dass Reparatur- und Wartungsarbeit als Netzwerk von Mensch-Ding-Beziehungen verstanden werden müsse. Die von ihm untersuchten Handwerker würden ihre Arbeitsumgebung – hier: die Eigenheiten eines Universitätsgebäudes – buchstäblich verkörpern (Henke 1999: 56, 57, 61, 68). Henke deutet also eine räumliche Ausdehnung von technologischer Sorge an. In seinem Fall bleibt diese jedoch auf das Universitätsgebäude und die Körper einzelner Handwerker beschränkt. Graham und Thrift weisen darauf hin, dass es kaskadenartige, sich über weit verteilte Systeme ausbreitende Folgewirkungen geben kann, wenn z.B. ein Satellit ausfällt (Graham/Thrift 2007: 9). Allerdings gehen sie dann nicht explizit auf ähnlich stark distribuierte Reparatur- und Wartungsarbeit ein.

T ECHNOLOGISCHE S ORGE | 231

auch eine Gegenüberstellung der technologischen Sorge mit zwei Formen der familiären Sorge nach Hochschild. Danach wird der Begriff der technologischen Sorge anhand des Konzepts der „Sorge um sich“, das Knorr Cetina für die Hochenergiephysik entwickelt hat, näher erläutert (Knorr Cetina 2002: 85). Anschließend wird gezeigt, inwiefern die vorliegende Analyse einen bestimmten Theoriestrang innerhalb der IT-Soziologie in Frage stellt: techniksoziologische Ansätze, die sich auf die lokalen und situativen Defizite von global benutzten, standardisierten IT-Systemen konzentrieren (vgl. Funken 2001: 92-96; Andelfinger 1997: 15-20; Leyshon/Thrift 1999: 441, 453-55; Suchman 2002: 140; Pollock/Williams 2009: 7, 9, 152-153; Pollock et al. 2008: 5 ff.). Im anschließenden empirischen Teil werden dann die fünf Raum-Zeit-Strategien der technologischen Sorge im Einzelnen diskutiert. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung.

6.2 T HEORETISCHE G RUNDLAGEN 6.2.1 Technologische Sorge als Pendant zur familiären Sorge nach Hochschild Die vorliegende Analyse geht von drei Thesen aus. Die erste These lautet: Kontemporäre technologische Systeme wie die DMFASSoftware sind inzwischen so komplex, dass sie nicht einfach nur sporadisch technisch unterhalten, sondern ständig aufmerksam beobachtet, d.h. in ihrem wechselhaften, unvorhersehbaren „Verhalten“ immer wieder neu studiert werden müssen. Diese ständige Aufmerksamkeit gegenüber einem eigendynamisch gewordenen System erinnert entfernt an die Aufmerksamkeit, die z.B. Eltern ihren Kindern täglich schenken müssen. Insofern kann Hochschilds Analyse von familiärer Sorge als theoretische Inspiration zum soziologischen Verständnis heutiger IT-Arbeit dienen (Hochschild 2003: 185-197; 213-223). Dazu passt, dass Hochschild selbst argumentiert hat, dass die Aufmerksamkeit eines Menschen, der sich scheinbar selbstverständlich um ein oder mehrere Familienmitglieder sorgt, durchaus aufwändig sei: „we put more than nature into caring; we put time, feeling, acting, and thought in it“ (Hochschild 2003: 215).

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Abbildung 31: Sorgt sich so die Gegenw wartsgesellschaft? Verschiedene Formen der Sorge um Meenschen und Technologie

Quelle: eigene Grafik

Führt man diese beiden Überlegungen zusammen z – IT-Arbeit als ständige Aufmerksamkeit, familiäre Sorge als aufwändige emotionale Arbeit – so lässt sich folgende vorsichtigee Annahme treffen: In der kontemporären Gesellschaft wird immer mehr m Menschen, die ihren Arbeitsalltag in Weltsituationen verbringeen und gleichzeitig ihrer familiären Fürsorge zu Hause nachzukommeen versuchen, eine gesteigerte, im Extremfall verdoppelte Arbeitsaufm merksamkeit abverlangt (siehe Abbildung 31). Diese Menschen mögen n dann im Bereich der familiären Sorge auf externe Hilfe – z.B. Arbeiitsmigrantinnen und öffentliche Institutionen – zurückgreifen, um mit den d gesteigerten Anforderungen in ihrer Erwerbsarbeit fertig zu werdeen (Hochschild 2003: 186-189, 221). Umgekehrt ist anzunehmen, dass diese externen Hilfestellungen erst den nötigen Freiraum schaffen, der erforderlich ist, um sich beruflich ausreichend einem skopischen Quassi-Akteur widmen zu können. Für diese erste These gibt es voreerst nur einige empirische Hinweise aus dem untersuchten Feld, d.h. eine darauf aufbauende einge-

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hende Datenerhebung wäre noch nötig.6 Die nachfolgende zweite und dritte These sind demgegenüber empirisch besser abgesichert. Die zweite These lautet: Kontemporäre IT-Arbeit muss räumlich stark ausdifferenziert sein. Dies legt der Fall der DMFAS-Software

6

Dass die Aufmerksamkeit für komplexe technologische Systeme sogar mit einer starken emotionalen Bindung an das System einhergehen kann, lässt sich von Knorr Cetinas Analyse der „objektzentrierten Solidarität“ von Naturwissenschaftlern mit ihren epistemischen Objekten herleiten (Knorr Cetina 1997: 20). In Bezug auf das DMFAS-Programm steht eine entsprechende ausführliche empirische Untersuchung noch aus. Es gibt allerdings erste empirische Hinweise darauf, dass die Sorge um die DMFASSoftware große Teile des Lebens einzelner Mitarbeiter absorbiert, etwa in der aktuellen Phase der Erstellung der neuen Softwareversion 6.0 (vgl. DMFAS 2009). In kurzen informellen Gesprächen teilten drei DMFASMitarbeiter während der letzten Datenerhebung (3.-5.6.2009) mit, dass die neue Version ihnen überdurchschnittlich viel Arbeitseinsatz abverlange. Alternativ stehen manche Mitarbeiter möglicherweise unter dem Druck, dass ihnen zugeschrieben wird, sie würden sich zu sehr von ihrer Erwerbsarbeit beim DMFAS-Programm vereinnahmen lassen und dafür die eigene Familie vernachlässigen. So gibt es z.B. folgenden Problemfall (Datenerhebung 3.-5.6.2009; anonymisierte Wiedergabe): Ein DMFAS-Mitarbeiter berichtete, er sei hoch motiviert, auch gegenwärtig noch an den mehrwöchigen „country missions“ in die Länder, die er schon jahrelang betreut, teilzunehmen. Er müsse dies aber gegenüber seiner ebenfalls berufstätigen Frau rechtfertigen, die ihn ermahne, seinen Kindern nicht so viel Lebenszeit ohne den Vater zuzumuten. Dieser DMFAS-Mitarbeiter leidet offenbar unter dem Dilemma, sich beruflich eigentlich stark für das DMFASProgramm engagieren zu wollen, dabei aber die familiären „Kosten“ immer so gering wie möglich halten zu müssen. Sehr ähnlich wie von Hochschild beschrieben sind seine Frau und er auf möglichst weit in den Nachmittag reichende Kinderbetreuung durch öffentliche Institutionen (hier: Schule) und externe Arbeitskräfte (hier: ein älteres allein lebendes Ehepaar, das oft die Aufsicht im Anschluss an die Schule übernimmt) angewiesen. Gleichzeitig war bei mehreren Hausbesuchen festzustellen, dass die Kinder von beiden Elternteilen in der verbleibenden Zeit sehr umsorgt werden. Trotzdem äußerte der Mann wiederholt Bedenken, sich vielleicht doch nicht genug zu kümmern. Hier geraten also technologische und familiäre Sorge in individueller Lebensführung in Konflikt.

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nahe. Die automatisierte Sorge etwa ist in jeder einzelnen der über die Welt verteilten Installationen verortet, die laborartige Sorge hingegen zentral in Genf (siehe linke Hälfte von Abbildung 31). Kontemporäre familiäre Sorge ist nach Hochschild inzwischen ebenfalls räumlich ausdifferenziert (siehe rechte Hälfte von Abbildung 31; Hochschild 2003: 186-189). Die starke räumliche Ausdifferenzierung der technologischen Sorge, auf die sich die nachfolgende Analyse konzentriert, hängt der Annahme nach mit Folgendem zusammen: Die skopischen Grundfunktionen der DMFAS-Software sind über die ganze Welt im Prinzip dieselben, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde.7 Doch von Ort zu Ort werden immer ein wenig andere Daten in einer immer etwas verschiedenen Technologieumgebung „eingefüttert“, was gelegentlich zu Störungen im örtlichen ökonomischen Stoffwechselprozess führen kann. Die dritte These lautet: Parallel zur räumlichen Ausdifferenzierung muss kontemporäre technologische Sorge stark temporal aufgefächert sein. Diese These wurde bereits von einer Gruppe von ITSoziologen, die ebenfalls global benutze IT-Systeme untersucht hat, aufgestellt: „technical support has been recast and inserted in a new geographical and temporal regime“ (Pollock et al. 2008: 1; Hervorhebungen BG). Die Gruppe charakterisiert kontemporäre IT-Arbeit als „post local form of practice“, wobei „post local“ für wichtige Verschiebungen in folgenden Bereichen stehe: „how, when and where technical problems are managed and resolved“ (Pollock et al. 2008: 3; Hervorhebungen im Original). Allerdings bevorzugen auch diese Autoren bisher technizistische Begriffe anstelle eines stärker kultursoziologischen Sorgebegriffs (“support” und “repair” in Pollock et al. 2008: 1, 2, 4, 5, 10).8 Die Darstellung der einzelnen Formen technologischer Sorge im Empirieteil ist nicht erschöpfend, sondern beispielhaft. So werden et-

7

Das dritte und vierte Kapitel behandelten: Klassifizieren, Zentralisieren, räumliches Reflektieren bzw. Projizieren sowie in die Zukunft gerichtetes Projizieren.

8

Gleichwohl arbeiten sie auch mit einem vergrößerten Situationsbegriff, der zu den im letzten Kapitel verwendeten Konzepten der hochtechnologischen Weltsituation und synthetischen Situation passt (vgl. Knorr Cetina 2009). Sie untersuchen nämlich „extended situations“ (Pollock et al. 2008: 8-9).

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wa die Sorge durch menschliche „Detektoren“ und die Sorge um eine geregelte Fremdbeobachtung nicht näher erläutert (siehe Abbildung 31, unten links).9 Es gibt außerdem einige konzeptuelle Überlappungen zwischen den fünf dargestellten Formen, die wohl nicht ganz zu vermeiden sind.10 Beides dürfte aber das Ziel, besonders hervorstechende Raum-Zeit-Merkmale von kontemporärer technologischer Sorge herauszuarbeiten, nicht behindern.

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Bei der Sorge durch menschliche „Detektoren“ geht es um die Funktion, welche die DMFAS-Projektmanager während „country missions“ erfüllen: Sie versuchen in der Regel, aktuelle Bedürfnisse und Probleme von Nutzern zu erfassen. Der Teilnehmerbegriff „Detektor“ stammt vom ITChef des DMFAS-Programms (Interview vom 1.2.2006): „That’s also part of the work that äh, that essentially the project managers are doing no? They detect […] that there is a request, a need from a country“. Die Projektmanager stehen in fortwährenden, zwischen den country missions auch per Telefon und E-mail aufrecht erhaltenem Kontakt mit bestimmten Ansprechpartnern in den Ländern, für die sie jeweils verantwortlich sind; oft sprechen die Projektmanager dezidiert von „ihren“ Ländern, und sie kennen viele ihrer Ansprechpartner seit Jahren, d.h. sie pflegen halbpersönliche Arbeitsbeziehungen rund um den Globus. Der andere Typus von Sorge steht für die wiederholte Orientierung verschiedener DMFASMitarbeiter an den Standards von IWF und Weltbank, mit denen die transnationale komparative Fremdbeobachtung von Nationalökonomien auf der Ebene des globalen Finanzsystems am Laufen gehalten wird (vgl. Kapitel 3). Beide Formen der Sorge passen zu zwei der im letzten Kapitel diskutierten synthetischen Dimensionen: die erste Form zur vierten Dimension (Nationalstaaten), die zweite Form zur dritten Dimension (internationale und regionale Finanzinstitutionen).

10 Zum Beispiel ist die biographische Sorge, die mit einem bestimmten Informationssystem betrieben wird („software configuration management system“, kurz „SCMS“), genaugenommen eine der Startkomponenten der bürokratischen Sorge in der langsamen Zeit einer UN-Organisation. Im SCMS werden viele Systemprobleme, die weltweit erlebt werden, formal erfasst. Ein Teil davon wird unter der offiziellen Bezeichnung „user requests“ dann in den stark formalisierten Entwicklungsprozess für neue Softwarefunktionen überführt.

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6.2.2 Der Begriff der „Sorge um sich“ in der Hochenergiephysik nach Knorr Cetina Das Konzept der „Sorge um sich“ nach Knorr Cetina ist neben Hochschilds Sorgebegriff ein weiterer wichtiger Theoriebaustein der vorliegenden Analyse (Knorr Cetina 2002: 85). Knorr Cetina hat mit diesem Konzept die (Selbst-)Beschäftigung von Hochenergiephysikern mit ihren Messinstrumenten und -verfahren charakterisiert: Mit der Sorge um sich ist das Erkenntnisinteresse gemeint, die eigenen experimentellen Komponenten und Prozesse zu beobachten, zu kontrollieren, zu verstehen und zu verbessern“ (Knorr Cetina 2002: 85; Hervorhebungen im Original).

Zu dieser Art von selbstbeobachtender Sorge gehört laut Knorr Cetina eine eigentümliche Art von Expertenwissen. Die Hochenergiephysiker würden vor allem ein Wissen über die Grenzen dessen, was gerade noch über Elementarteilchen gewusst werden kann, pflegen. Dieses Grenzwissen erläutert sie wie folgt: „Die […] Hochenergiephysik schließt liminale Phänomene in ihre Forschung ein, indem sie die Welt der Störungen und Verzerrungen, der Unvollkommenheiten, Fehler, Unsicherheiten und Grenzen des Wissens in ihren Projekten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Sie rückt die Region der Erkenntniswiderstände eines Experiments ins Scheinwerferlicht und untersucht die Charakterisierungen dieser Probleme. Dabei kultiviert sie eine Art negatives Wissen. Negatives Wissen ist nicht Nichtwissen, sondern Wissen über die Grenzen des Wissens, über die Fehler, die bei den verschiedenen Wissensbestrebungen gemacht werden, über die Dinge, die diesem Wissen entgegenstehen und es verhindern […]“ (Knorr Cetina 2002: 94; Hervorhebungen im Original).

Als konkretes Beispiel, mit dem die „Sorge um sich“ sowie dieses Grenzwissen verdeutlicht werden können, nennt Knorr Cetina den Umgang der Hochenergiephysiker mit einem für sie besonders wichtigen Messinstrument, dem mehr als haushohen Detektor (vgl. die Abbildung des „ATLAS-Detektors“ in Knorr Cetina 2002: 166). Dieser ist offenbar in sich extrem komplex gebaut, um Elementarteilchen überhaupt aufspüren und verfolgen zu können. Er ist daher abgesehen von den Elementarteilchen selbst Objekt der Forschung: Seine Mes-

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sungen müssen laut Knorr Cetina ständig aufgrund unterschiedlicher möglicher Verzerrungen neu verstanden und ggf. korrigiert werden (vgl. Knorr Cetina 2002: 86, 96). Auch wenn die DMFAS-Software materiell gesehen gerade nicht übermenschlich groß ist wie ein Detektor, sondern im Gegenteil äußerlich auf wenige Zentimeter Speicherplatz passt, so gilt dennoch, dass die DMFAS-Experten auch Grenzwissen der eben zitierten Art pflegen müssen. Die Gründe dafür sind die extreme innere funktionale Faltung der Software (dies macht sie entfernt ähnlich mit einem in sich ebenfalls komplexen Detektor), ihre ständig neue national-lokale „Klebrigkeit“ (je nachdem, wo sie konkret installiert und benutzt wird), ihre Entgrenzung in Umgebungstechnologien sowie den globalen Geldund Währungsmarkt, und schließlich ihre Kapazität, äußere Entscheidungen von internationalen und regionalen Finanzinstitutionen in die konkrete Datenverarbeitung hinein zu übersetzen.11 Die Experten müssen Grenzwissen zentral in Genf oder auch dezentral an den Installationsorten produzieren sowie immer wieder aktualisieren; denn schließlich ändern sich ihr eigenes Produkt, die örtlichen Nutzungsweisen und die Technologieumgebung fortwährend. 6.2.3 Verarmte starre Symbolwelten? Einwände gegen das „kritische Projekt“ der IT-Soziologie Softwareentwickler „modellieren“ nach Funken eine technische Welt, die soziale Strukturen und Prozesse „mit diskreten Einheiten statisch abbildet“ (Funken 2001: 11). Die „ursprünglich beabsichtigte Nutzerorientierung“ werde dabei „durch die Entwicklungslogik usurpiert“ (a.a.O.). Die Entwickler seien nur ungenügend für die eigentlich immer wichtiger werdende Kundenorientierung ausgebildet (vgl. Funken 2001: 12/13). Sie würden die Spezifität ihrer eigenen „ungewöhnlichen Wissensproduktion“ nicht wahrnehmen und ihre Darstellung der Realität mit einem „Sachverhalt“ verwechseln, „der außersprachlich ist

11 Die starke innere Faltung der DMFAS-Software wurde bereits im dritten Kapitel im Zusammenhang mit dem Begriff des global-inklusiven skopischen Systems behandelt. Auf den Einfluss, den IT-Konzerne, der globale Währungs- und Geldmarkt, regionale und internationale Finanzinstitutionen und Nationalstaaten auf alltägliche Situationen des Schuldenmanagements nehmen, wurde im letzten Kapitel näher eingegangen.

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und ‚nur‘ entdeckt und abgebildet werden muss“ (Funken 2001: 11). Jeglicher Informationsaustausch mit den Kunden diene „unterschwellig (und ausschließlich) den formallogischen Ansprüchen der Entwickler“ (Funken 2001: 13; Hervorhebung im Original). Das „richtungsweisende Kriterium der Modellbildung“ heiße „Wahrheit bzw. Objektivität“; dabei sei das informationstechnisch erzeugte Modell doch gerade keine „Abbildung von Wirklichkeit“, sondern eine „(Neu-)Konstruktion von Gegenstandsbereichen“ (Funken 2001: 15). Diese Neukonstruktion einer „symbolischen Welt“ habe die folgenden defizitären Merkmale: „Entwickler sind […] gezwungen, Realitätsausschnitte ausschließlich unter quantifizierbaren Aspekten zu beobachten […] und all jene Bedingungen auszublenden, die sich diesem Formalismus entziehen […]. Die Bedeutung komplexer Inhalte wird […] ohne Berücksichtigung subjektiver, historischer oder sozialer Kontexte festgeschrieben […]. [Dies] führt nach Andelfinger (1997) zwangsläufig zu systematischen Lücken bei der Systementwicklung: Die pragmatische Lücke erwächst aus dem beschriebenen Reduktionsschritt der Semiotisierung […]. Die Kohärenz- und Korrektheitslücke tritt bei der Formalisierung und Algorithmisierung auf, da nun die formal definierten Anforderungen korrekt umgesetzt werden müssen. […] Die Anwendungslücke ist schließlich ein Indikator für die gelungene bzw. misslungene Implementation in den konkreten Weltausschnitt […]“ (Funken 2001: 92-95).

Funken und Andelfinger identifizieren also folgende Merkmale von Softwareprodukten und IT-Entwicklungsarbeit (vgl. Andelfinger 1997: 16): statische Modellierung; unrechtmäßige Machtübernahme („Usurpation“) durch die Entwicklungslogik; Auslassung subjektiver, historischer und sozialer Benutzungskontexte; flacher Wahrheits- bzw. Objektivitätsglauben auf Seiten der Entwickler; diverse Vermittlungslücken zwischen der originär facettenreichen Lebens- und Arbeitswelt und dem formalen Programm. Angesichts dieser pessimistischen Analyse erstaunt es, dass die beiden Autoren überhaupt noch den Begriff der Symbolwelt aufrecht erhalten. Diesen haben sie offenbar von Krämer (1988) übernommen (vgl. Andelfinger 1997: 16). Krämer hat ihn allerdings eher auf formale mathematische Systeme denn auf konkrete

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Computertechnik angewendet.12 Die in eine Software eingefaltete technische „Welt“ scheint in Funkens und Andelfingers Darstellung jedenfalls nichts mehr vom ursprünglichen Reichtum der Lebenswelten und Arbeitsbedingungen, auf die sie sich bezieht, zu besitzen. An-

12 Für Krämer sind formale mathematische Systeme „symbolische Maschinen“, „symbolische Realitäten“ oder auch „symbolische Welten“ (Krämer 1988: 4, 183). Ihr Maschinenbegriff ist dabei zunächst abstrakt, sie charakterisiert damit spezifische mathematische Denkrichtungen, etwa von Leibniz. Über konkrete Computertechnik äußert sie sich eher zweitrangig. Sie sagt u.a.: „Computer sind nichts anderes als Maschinen, mit deren Hilfe wir mittels der Formation und Transformation von Zeichenreihen symbolische Welten aufbauen. Solche Welten aber sind formal beschreibbar. Formal beschreibbare Welten verfügen über keine Geschichte […]. Die Grenzen der Formalisierbarkeit sind die Grenzen eines mechanisch verfahrenden, phantasielosen Verstandes“ (Krämer 1988: 4, 181). Es ist zu bezweifeln, dass die innere Struktur von konkreten, empirisch untersuchbaren Softwareprogrammen so ohne Weiteres als „geschichtsfrei“ eingestuft werden kann, und dass die Formalität eines Systems ausnahmslos mit einem „mechanisch verfahrenden, phantasielosen Verstand“ z.B. der Programmierer korrespondiert. Immerhin ist die DMFASSoftware ein konkretes Beispiel dafür, dass Technologie in der Praxis sehr wohl über die Jahre sukzessive aus- und umgebaut wird, also in diesem Sinn „geschichtsvoll“ ist (vgl. Pollock/Williams 2009; Appadurai 1986). Die Programmierarbeit selbst wurde im Fall der DMFAS-Software von der Verfasserin zwar nicht genauer untersucht; doch wiederum Funken hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass viele Programmierer ihre Arbeit als kreative Tätigkeit erleben (vgl. Funken 2001: 83-88). Will man diese Selbstwahrnehmung soziologisch ernst nehmen, so steht dies in Widerspruch zu Krämers Annahme, formale Systeme würden „phantasielos“ konstruiert. Allerdings trifft ihre Argumentation sicherlich in anderen Hinsichten empirisch zu. Beispielsweise kann ein aktueller nationaler Schuldenstand nur dank strenger Klassifikationsarbeit eindeutig ausgerechnet werden (vgl. Kapitel 3). Der Überblick über nationale Schulden hängt dann in der Tat von einem – allerdings nur kontextabhängig – „mechanisch verfahrenden, phantasielosen Verstand“ ab. Hier passt also Krämers Argumentation wieder. Insofern knüpft die vorliegende Analyse insgesamt an Krämer an, öffnet ihren Begriff symbolischer Welten aber auch für bestimmte empirische Abweichungen.

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dere Autoren entwerfen ein ähnlich pessimistisches Bild (vgl. Suchman 2002: 40, Leyshon/Thrift 1999: 453).13 Im Gegensatz dazu wird hier nun postuliert, dass skopische Systeme wie die DMFAS-Software sehr wohl reiche Innenwelten aufweisen. Und diese Innenwelten sind durchaus wandelbar. Die untersuchte Software hat wirklich im Verlauf von inzwischen Jahrzehnten der Weiterentwicklung viele Weltaspekte in sich eingefaltet. Sie wurde zunehmend in die Welt des transnationalen Schuldenmanagements eingebunden.14 Diese Softwarewelt ist dank der ständigen technologischen Sorge ihrer Konstrukteure auch gegenüber historischen und sozialen Benutzungskontexten sensibel. Die Entwickler vergegenwärtigen sich durchaus immer wieder die ständig neu auftretenden Probleme, die ihr Quasi-Akteur in der täglichen Praxis des Schuldenmanagements bereiten kann. Jeder neue Entwicklungsschritt ist nur bis zum nächsten (ergänzenden oder revidierenden) Entwicklungsschritt, und dieser wiederum bis zum nächsten Schritt etc. vorläufig gut genug. Folgende Formulierungen des IT-Chefs machen diesen Pragmatismus und Relativismus auf Seiten der Entwickler sowie die buchstäbliche ständige Weltoffenheit, die ihr Produkt aufweist, deutlich (Interview vom 1.2.2006; Hervorhebungen BG):

13 Suchman beispielsweise meint, viele Entwickler würden ein „design from nowhere“ für künstlich dekontextualisierte Systemnutzer betreiben (Suchman 2002: 140). Leyshon und Thrift halten Software, mit der Banken die Informationen über ihre Privatkunden verwalten, für eine „new form of governmentality“, die sie wie folgt charakterisieren: „Software installs relatively unchangeable, taken-for-granted protocols in the day-to-day information practices of organizations, providing unified ways of interpreting events, influencing the ways in which decisions are made and standardizing such decisions over time and space“ (Leyshon/Thrift 1999: 453; Hervorhebungen BG). 14 Siehe dazu die Ausführungen im dritten Kapitel: Die DMFAS-Software muss, schaut man sich die konkrete Praxis ihrer Nutzung an, als ein in sich weit verzweigtes Raumsystem begriffen werden, dass der User im Prozess der Datenverarbeitung in verschiedene Richtungen durchläuft. Außerdem wurden im letzten Kapitel vier synthetischen Dimensionen einer Schuldenmanagementsituation besprochen, und in diesem Zusammenhang wurde der Begriff einer in sich aufgefächerten Weltsituation entwickelt.

T ECHNOLOGISCHE S ORGE | 241

IT-Chef:

We have [...] cycles […] – we can say that normally, we have one year and a half to two years, eh, in the construction of a new version, and then one year and a half, two years in the distribution of the new version. – While construct-, while cre-, while doing another one. […]

BG:

[Zum Stand der Entwicklung bei der aktuellen Version 5.3:] But, as you said in the beginning – sometimes a patch means new features, right?

IT-Chef:

Yes.

BG:

But in this case it means that – a patch means debugging.

IT-Chef:

Yeah.

BG:

Solving bugs.

IT-Chef:

Yeah, bugs, corrections of errors.

BG:

So in that sense it is closed and not closed [lacht leicht].

IT-Chef:

Is – is closed and not freeze-, I don’t know how you say [lacht leicht]. […] It’s not blocked. It’s closed from the – […] if we are discussing with a new, a potential new user of the system something and he says: „well, but I want to have a module to manage short term debt”, our answer will be: „no, but you will have to wait until version 6, is not that we are going to-“ – you see? It’s not that we are going to include a – big new feature –

BG:

a real new –

IT-Chef:

a real new feature. Probably a correction – of that – of something, or adding a new code into a list of values that, yes, that, that is happening in – because they have a need of something, they need a new code, they need a new, new, whatever, parameter, well, that can appear.

Im Prinzip vertreten Pollock und Williams die gleiche Auffassung von Software als komplexer und biographisch wandelbarer Innenwelt (2009: 172 ff.) Die beiden Autoren besprechen das sog. „critical project“ in der IT-Soziologie, und sie meinen damit Soziologen mit Vorliebe für „localisation arguments“ (Pollock/Williams 2009: 1-3, 7, 9, 152). In diese Theorierichtung lassen sich die eben bereits diskutierten Arbeiten einordnen. Pollock und Williams meinen nun, dass das kritische Projekt ein bestimmtes Phänomen nicht ausreichend erklären könne: dass sich einige Standard-Softwareprodukte, etwa von SAP und Oracle, inzwischen trotz anderslautender pessimistischer Prognosen in den 1990er Jahren global durchgesetzt hätten (a.a.O.).

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Pollock und Williams wollen diese aus der Sicht des kritischen Projekts wohl unerwartete Entwicklung erklären können. Sie fragen danach, wie die konkrete Arbeit der Experten in diesen offenbar erfolgreichen Softwareunternehmen aussieht, und wie die vermeintlich simplen Standardprodukte, die weltweit auf Akzeptanz gestoßen seien, eigentlich genau beschaffen sind (vgl. Pollock/Williams 2009: 4). Um diese Fragen zu beantworten, haben sich beide empirisch auf die „inner workings“ solcher IT-Unternehmen konzentriert (a.a.O.). Dabei sind sie u.a. zu folgendem Ergebnis gekommen: Die Entwickler würden in der Praxis „Generifizierungsarbeit“ betreiben, d.h. in diversen Varianten die von verschiedensten Nutzern erwünschten, jeweils relativ partikularen Funktionen in möglichst allgemeine Funktionen transformieren – Detail für Detail, immer und immer wieder, wie sie ethnographisch nachzeichnen (Pollock/Williams 2009: 152; 153 ff.). Diachron betrachtet müsse das Endprodukt entsprechend als Software mit vielstufiger globaler „Biographie“ begriffen werden (Pollock/Williams 2009: 10, 156; vgl. Appadurai 1986: 13). Die vorliegende Analyse folgt diesem Ansatz. Sie nimmt ebenfalls phänomenologisch ernst, wie sehr die DMFAS-Software weltweit verbreitet ist (82-fach in 66 Ländern, vgl. World Bank 2008c: 11, 14). Sie beruht auch auf einem Studium der inneren Funktionsweise des DMFAS-Programms in Genf. Sie zeigt ebenfalls, dass und wie die Entwickler ihr System wie einen innerlich komplexen Organismus gebaut haben und dynamisch immer wieder umbauen. Sie fügt dem Ansatz von Pollock und Williams außerdem das Konzept der raumzeitlich stark ausdifferenzierten Sorge hinzu und ergänzt, dass die Experten ihr Produkt selbst immer wieder als unvorhersehbar erfahren – eben wie einen biographisch jahrelang herangewachsenen QuasiAkteur.15

15

Orr hat am Beispiel von Kopiermaschinen sogar noch eine interessante weitere biographische Unterscheidung zwischen der Maschine „als Typ“ und der Maschine „als Individuum“ getroffen: „The machine as a type has a life span, with different problems known to occur at different points along the span and various modifications mandated or projected in response to known problems. The machine as an individual has a history of known problems, known repairs, and modifications done or not“ (Orr 1997: 159). Man könnte auch in der vorliegenden Analyse noch weiter zwischen den verschiedenen offiziellen DMFAS-Softwareversionen als

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In zwei eng miteinander zusammenhängenden Punkten weicht die Analyse allerdings auch von Pollock und Williams ab. Erstens ist im Falle der DMFAS-Software nicht nur die o.g. Generifizierungsarbeit zu bemerken. Was die beiden Autoren im Wesentlichen der „Geburtsphase“ von global verbreiteter Standardsoftware zuschreiben – nämlich, dass die Entwickler partikulare Nutzerwünsche in der Software „anhäufen“ würden, bevor sie zur gewissermaßen schlankeren Generifizierung übergingen (Pollock/Williams 2009: 156) – hält bis heute in der DMFAS-Software-Entwicklung an. Die Software enthält sowohl relativ generifizierte als auch sehr partikulare, d.h. ausschließlich von einzelnen Ministerien bzw. Zentralbanken benutzte, Funktionen. An anderer Stelle wurde auf dieses doppelte Phänomen unter dem Begriff des global-inklusiven skopischen Systems näher eingegangen (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008).16 Zweitens schließt das mit den Generifizierungsleistungen zusammenhängende lokal entbettete Expertenwissen auf Seiten der DMFAS-Softwareentwickler nicht aus, dass diese Experten über national-partikulares Wissen verfügen (vgl. Pollock/Williams 2009: 246). Sie verfügen eben kaleidoskopartig sowohl über transnational entbettetes als auch über national-partikulares Expertenwissen. Zum Teil verkörpern einzelne Experten dieses Kaleidoskopwissen in einer

Typen differenzieren (Version 5.1, 5.2, 5.3 und nun 6.0 sind alle auf der Welt in Betrieb), und es ließe sich dabei sogar noch weiter unterscheiden, welche Version in welchem Land mit welchen der zahlreichen patches, also kleinen Programmergänzungen, installiert ist (das variiert nämlich ebenfalls stark, fast von Land zu Land!). Dann wäre noch von Installation zu Installation das jeweilige Software-„Individuum“, das ja immer etwas anders in die konkrete Technologieumgebung eines Schuldenbüros eingebaut ist, zu analysieren (vgl. die verschiedenen synthetischen Dimensionen einer Situation, Kapitel 5). Alle diese Unterscheidungen implizieren eigentlich diverse verschiedene Softwarebiographien, je nach nationalem Schuldenbüro. Entsprechend variieren die Anforderungen an die technologische Sorge-Arbeit. 16

Die Unterscheidung von global-exklusiven und -inklusiven skopischen Systemen wurde im dritten Kapitel getroffen und erläutert.

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Person, indem sie jahrelang mit der Biographie der Software „mitgewachsen“ sind.17

6.3 E MPIRIE : F ÜNF R AUM -Z EIT -S TRATEGIEN TECHNOLOGISCHEN S ORGE

DER

6.3.1 Die persönliche Ad-hoc-Sorge in Situationszeit und -raum Eine der unmittelbarsten Formen der technologischen Sorge ist, neben der automatisierten Sorge, die persönliche notfallartige Problembehebung. Sie findet noch im zeitlich engen Rahmen gerade erlebter „Verhaltensauffälligkeiten“ der DMFAS-Software statt. Solche spontane Sorge-Arbeit konnte wiederholt beobachtet werden: während der drei „country missions“ nach Burkina Faso, Argentinien und Indonesien, an denen die Verfasserin teilnahm, sowie in Genf selbst, wo z.B. die Projektmanager gelegentlich die Reisen in ihre Länder an ihren Arbeitsplätzen vorbereiten. Diese Ad-hoc-Sorge kann vorläufige „walk around solutions“ enthalten, wie ein Programmierer mitteilte, der im September 2004 einmal einem Projektmanager bei dessen Verstehensproblemen mit der DMFAS-Software half. So würde einem Softwarenutzer erst einmal auf die Schnelle geholfen, bevor eventuell später eine dauerhafte Lösung gesucht wird (Feldnotiz vom 7.9.2004):18 Ja, speziell bei [der Softwareversion] 5.3 gibt es noch diverse „bugs“ [Programmfehler], [verschiedene] Probleme. Oft machen wir es so, wenn uns die Users ein Problem mitteilen: Wir bieten erstmal eine „walk around solution“ an – zum Beispiel: ‚Benutze diese Spalte eben nicht’. Solange, bis wir eine „fix

17

Auf das Kaleidoskopwissen wurde bereits an anderer Stelle eingegangen: siehe fünftes Kapitel, speziell den zweiten Theorieabschnitt.

18 Orr hat Techniker, die Kopiermaschinen reparieren, teilnehmend beobachtet und konstatiert, dass Improvisieren ein typisches Merkmal ihrer Arbeit sei (1996: 2-3). Er analysiert die Improvisationen explizit im Rahmen kleiner Arbeitssituationen und beruft sich dabei auf Suchmans Ansatz zu situierten Praktiken (Orr 1996: 2-3; Suchman 1987). Der Improvisationsbegriff passt zum hier zitierten Ausdruck „walk around solution“.

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solution“ entwickelt haben. Wir haben das SCMS [software configuration management system]: Dort sind alle Probleme und Anfragen der Users registriert.

Der letzte Satz zeigt an, dass die persönliche Ad-hoc-Sorge manchmal aus der spezifischen lokalen Problemsituation heraus in ein Spezialsystem – das „software configuration management system“ (SCMS) – überführt wird, wenn klar wird: Es handelt sich um ein synthetisches Problem, für das eine längerfristige Lösung zu finden ist („fix solution“). Im nächsten Abschnitt werden drei Aspekte der Sorge, die mit dem SCMS verbunden sind und alle die Biographie der DMFASSoftware betreffen, besprochen. 6.3.2 Die biographische Sorge um das „Leben“ und die „Krankheiten“ einer Software Das SCMS fungiert, wie das Zitat im letzten Abschnitt angedeutet hat, als Raum-Zeit-Klammer zwischen den über die Welt verteilten, unmittelbar erlebten Problemsituationen und der Zentrale, dem Genfer Hauptsitz des DMFAS-Programms, wo längerfristige IT-Entwicklungsmaßnahmen ergriffen werden (siehe dazu später auch die bürokratische Sorge). Wie funktioniert diese Raum-Zeit-Klammer genau? Insgesamt sollen hier drei Aspekte unterschieden werden, die sich alle mit medizinisch-pflegerischen Metaphern charakterisieren lassen. Erstens fungiert das SCMS offensichtlich als System zur „Diagnose“ (Teilnehmerbegriff) einschließlich genauer Klassifikation von Softwareproblemen. Es wird von den Helpdesk-Mitarbeitern, die darin die aus aller Welt eingehenden Anfragen der User eingeben, benutzt. Das folgende Zitat des IT-Chefs des DMFAS-Programms illustriert diese diagnostische Funktion: BG:

And what is this SCMS, for example? [BG zeigt auf ein Icon auf dem Bildschirm des IT-Chefs]

IT-Chef:

That’s the help desk system. […] And that means, for each – eh, message, or bug, or something that we receive from the, or query, we receive from the user, we record a change request, we analyze what is the problem – weee, classify each change request into different categories. You saw that, no?

BG:

[…] This kind of list?

IT-Chef:

[…] [öffnet SCMS und zeigt auf verschiedene Felder und Tabel-

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lenspalten] We can have different types of problems from different sources, if you want, we need to, the description of the problem, who reported it, what are keywords for, for the search, what is the status, is in waiting, is for future versions – is in process, is testing, who is assigned no? Eh, priority – diagnost-, this is a diagnosis – and then we have a- we have a result, no? When we finish.

An der Formulierung „what is the status, is in waiting, is for future versions” ist zu erkennen, dass das SCMS als Diagnosesystem auch folgende Temporalisierungspraxis unterstützt: Die aus ihren jeweiligen lokalen Zeitzwängen heraus in Genf gemeldeten Systemprobleme werden in eine eigene, für das DMFAS-Programm bewältigbare Zeitordnung ausgestreckt. Pollock et al. (2008) haben ähnliche Zeitstreckungstaktiken bei einem anderen, ebenfalls global operierenden ITUnternehmen beobachtet. Dort wird ein automatisches Priorisierungsverfahren, welches auf einer eigens entwickelten Spezialsoftware beruht, angewendet (Pollock et al. 2008: 25). Das SCMS dient zweitens der Selbstbeobachtung der Zentrale, nämlich der Überwachung sämtlicher „Pflegemaßnahmen“, die die Programmierer an der Software im Verlauf des „Lebens“ der Software vornehmen. Sie geben hier an, wann sie bestimmte einzelne Programmteile entnommen haben (wie Organe, könnte man sagen), um an ihnen zu arbeiten. Sie geben auch an, wann sie diese überarbeiteten Programmteile wieder eingefügt haben. Beides zeigt das folgende Zitat mit den technizistischen Ausdrücken „log in“ und „log out“ bzw. „check in“ und „check out“ an (Interview mit einem Programmierer, 4.6.2009; Hervorhebungen im Original): Programmierer:

So once I have now rece-, the, the programmer – has the, the CR [client request] number, now from there it will request some modules from the version manager – okay? – that he needs to modify in order to – this, eh – this – new module, or a modification. So the, the version manager now will use this CR – to log out the components from – SCMS.

BG:

Aah – to log out you say?

Programmierer:

What I mean is to log out – because, you know, the system – composes of thousands of objects. I mean, objects – it means programs. […] you have DMFAS 5.3 – as you can

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see from here – we have a lot of scripts, you see? All of this – they are here. In these components. […] So you see here, we have check-in here, and then we can check out.

Im Zitat wird auch deutlich, dass die DMFAS-Software aus Tausenden von Einzelteilen besteht („thousands of objects“). Sie wurde im Verlauf der letzten Jahrzehnte, d.h. seit ca. 1979, mit immer mehr, teils wiederholt umprogrammierten Funktionen ausgestattet (vgl. DMFAS 1999/2000: 1,2). Drittens funktioniert das SCMS offenbar wie eine digitale Patientenakte für ein langes Softwareleben. In dieser schon sehr umfangreichen Akte können die IT-Entwickler nach bereits früher diagnostizierten und behandelten Problemen suchen, um die damals gefundene Lösung beim wiederholten Auftreten der gleichen „Symptome“ schnell kommunizieren zu können. Der nachfolgend noch einmal zitierte Programmierer spricht in diesem Zusammenhang von „tracking purposes“ (Interview vom 4.6.2009): And then – here – we record also, what has been done. You see, we have this

„action taken“ – so the „date assigned“ is the date when the e-mail [sent by a user] has been opened – and „date completed“ is when the e-mail has been responded to. Then – sometimes we put the e-mail itself here. For, for – tracking purposes. So we could have a – we, we have a record of what has been done, to fix this problem. […] Sometimes what we do, we search the error here [klickt auf ein Feld im SCMS] – to shorten the time to fix it. Because it could have been fixed already. Because, it doesn’t mean that, eh, for example we receive four – or how many e-mails per month. Ah, let's average [...] It's around 120. A month. It doesn't mean that all those 120 is different errors […]. Sometimes they are the same – so in order for us to shorten the time to solve it – once we receive the error and then it’s, we are not familiar with the error – we search the error here, and then […] if we find the solution here, then that’s the same solution we will ask them to apply. If that doesn’t work – then we will go deep. You know. To do more investigation, but – here, we do first, the first level of, eh – first level of support [...] they will send us an error number and then we will, we will search here.

Das SCMS hat als „tracking system“ also auch eine Erinnerungsfunktion für vergangeSeitene Sorge-Aktivitäten der DMFAS-Experten. Es wird durchsucht, um zeitsparend frühere Behelfsmaßnahmen wieder

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zu finden. Erst wenn es solche nicht gibt, steigen die DMFASEntwickler „tief“ in eine neue Untersuchung ein, wie der Programmierer sagt („then we will go deep […] to do more investigation“). „Tracking“ wird ermöglicht durch Fehlernummern („error numbers“), die von den Softwarenutzern erbeten werden. Diese Nummern wiederum sind Bestandteil von Fehlermeldungen, die entweder das der relationalen Datenbank zugrunde liegende Oracle-Programm oder die DMFASSoftware selbst im Verlauf eines lokalen Prozesses der Datenverarbeitung von sich gegeben haben. Die Fehlermeldungen, die die Software selbst von sich gibt, lassen sich als besonders elaborierte Krankmeldungen begreifen. Sie verdienen nun eine eigene Analyse. 6.3.3 Automatisierte Sorge in System-Fluss-Zeit und Speicherplatzgröße Das im DMFAS-Hauptquartier in Genf benutzte SCMS hat, was seine Diagnose- und „tracking“-Funktion angeht, viele kleine Außenposten weltweit: Die „error log files“. Diese Dateien sind vergleichbar mit Implantaten, die in der jeweils örtlich installierten DMFAS-Software eingebaut sind und den dortigen Prozess der Datenverarbeitung mit überwachen. Wie an anderer Stelle ausgeführt wurde, kann in einer eigentlich routinisierten Prozedur wie z.B. der Errechnung des Gegenwartswerts der Verschuldung an vielen verschiedenen Punkten, sofern nicht alle technischen Komponenten gut installiert sind, ein Systemproblem auftreten.19 Dies lässt sich nicht unbedingt von vorneherein vermeiden, kann aber zumindest, so lässt der IT-Chef vernehmen (Interview vom 1.2.2006), zeitnah verfolgt werden – und zwar durch die permanente automatisierte Selbstbeobachtung mittels der „error log files“ bzw. „error log tables“. Wie der IT-Chef erläutert, werden so Fehler im exakten Moment und am exakten Ort seines Auftretens protokolliert (Hervorhebungen im Original):

19 Vgl. Kapitel 5, speziell den Abschnitt zur ersten synthetischen Dimension.

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IT-Chef:

[S]ometimes it is difficult to, to define – eh, the source of the problem […]. But that’s why we, we create[d] in version 5.3 [...] an enhancement in the error handling of the system. And that means that for every error that we have – while the user is running – the system – we create one record in a, an error log table, which indicates exactly the type of problem that we have. That is coming from, aaa, a list of codes that we have […] The exact, the exact moment – well, time and date but also the exact place – in which the error is, is, is, eh – appearing, if it is one instruction in COBOL, is going to say: „that instruction in […]“ [?] – soo – that’s the way in which we try to – eh, facilitate – this finding – the cause of, of each problem.

BG:

And that is partly, or entirely an – automatic, this kind of error detection –

IT-Chef:

Error log, yes, it’s an automatic, it’s an automatic process that we include as one of the enhancements of version 5.3. […] So that every time a user has a problem we ask the user to send us the log – and eh – [Name eines DMFAS-Kollegen] of the help desk, or the help desk officer, find eh – look at that log in order to find from where the error is coming.

BG:

[…]Wasn’t that difficult to develop, for a programmer? This kind

IT-Chef:

Is difficult, is difficult. Because of the complexity of this – be-

of automatic – cause – as as – the problem can appear from different places and in different situations. The, what we want to, to do there is, we want to capture all, all, as much as possible these different situations in a, in a record.

Einen automatisierten Selbstbeobachtungsmechanismus in der Form der „error log tables“ zu bauen, ist für ein situativ immer etwas unterschiedlich eingebundenes und benutztes System wie die DMFASSoftware offenbar nicht leicht („Is difficult […] because […] the problem can appear from different places and in different situations“). Der Mechanismus bleibt vorerst auch noch auf menschliches MitFunktionieren angewiesen (vgl. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002: 13, 39 ff.). Die Help Desk-Mitarbeiter des DMFAS-Programms müssen nämlich darauf warten, dass die lokalen Softwarenutzer die Fehlerberichte nach Genf schicken, so dass sie dort genauer analysiert werden können. Trotzdem ist zu konstatieren: Die „error log files“ sind, be-

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trachtet man ihre ersten Einsatzorte, d.h. die zahlreichen nationalen Installationsorte der DMFAS-Software, eine (dort) automatisierte Form der Sorge. Dabei stellen sie eine ganz spezifisch temporalisierte Art von Sorge dar: Sie sind so eng wie möglich an die Realzeit vor Ort angepasst. Außerdem generieren sie systematisch Grenzwissen (vgl. Knorr Cetina 2002: 94 ff.). Diese beiden letztgenannten Merkmale – Realzeitnähe, Grenzwissen – sind das, was diese Form der Sorge so besonders macht. Auch andere globale Technologiehersteller arbeiten mit solchen kleinen, an die jeweiligen örtlichen Realzeiten angepassten „Implantaten“ in ihren Systemen, z.B. Microsoft. Man kennt dies aus dem eigenen Alltag der PC-Nutzung.20 Graham und Thrift besprechen ebenfalls solche automatisierten Selbstbeobachtungsfunktionen. Sie weisen darauf hin, dass es darüber hinaus in der Informatik inzwischen Bestrebungen gebe, sogar Programme für die, so wörtlich, Selbstheilung zu entwickeln („self-healing systems“, Graham/Thrift 2007: 5). 6.3.4 Laborartige Sorge: Zentralisierte Fernbeobachtung, Fehler-Reproduktion und Simulation (Vorsorge) In der Hauptphase der Feldforschung und noch einmal im späteren Interview mit dem IT-Chef stellte die Verfasserin fest, dass er und mindestens zwei weitere DMFAS-Experten mit anscheinend mehreren Versionen der DMFAS-Software gleichzeitig arbeiten (August 2004 bis März 2005; 1.2.2006). Es waren jedenfalls auf ihren jeweiligen Bildschirmen mehrere Icons für Softwareanwendungen zu sehen, die – für die Verfasserin verwirrend – alle das Kürzel „DMFAS“ oder eine ähnliche Abkürzung trugen. Es musste sich also um grundsätzlich ähnliche, aber trotzdem in irgendeiner Weise verschiedene Systemversionen handeln, mit denen diese drei Personen täglich arbeiteten. Am Arbeitsplatz des IT-Chefs waren am meisten solcher Icons zu sehen, etwa acht oder neun. Bei einer entsprechenden Interviewfrage, warum das so sei, antwortete der IT-Chef: „because of different situa-

20 Unmittelbar nach einem Systemzusammenbruch von z.B. Word erscheint eine kleine Botschaft auf dem Bildschirm, die fragt, ob man denn nicht (mit einem Mausklick) einen Bericht über das eben erlebte Problem – das offenbar intern protokolliert wurde – an Microsoft senden möchte.

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tions, look“. Dann zeigte er auf einige der Icons und erläuterte sie wie folgt: We are looking at different databases at the same time, of different countries. […] [Sometimes] we cannot reproduce the error, because the error is related with – Chile database. With one specific problem that we can have in the data. So in that sense we need – we ask the country to send the data, and, eh, and we test. […] why we are looking sometimes into the database of one country: because what happens is that sometimes they report problems that is rela-, that, that related with their data, not with the, the – our programmes. Suppose that they have invalid data, because the – the – process of entering of information was not correct, or something happen – soo – we can test here. [The icons] can be also different [DMFAS software] versions if, if, suppose that we are testing at the same time patch 14 in Arabic in one country and patch 16 in English in another, that can happen […]. You see? This is patch 14. We create a set of representative loans – so we have bilateral and – well, we have all types of – instruments. […] [T]hey are typical. They are similar to the [real] ones. But that, that’s a work that we start – when I – entered as user rep [user representative] in the Programme. I started to do that. I created standard instruments, and then [Name] continued with that. – And, eh, we are supposed to use that database, for our testings for – every time we deliver a new patch – eh, we, we test the new patch […].

Diese Zitate deuten an: Der IT-Chef und zwei weitere DMFAS-Experten wenden von ihren Bildschirmen aus mithilfe mehrerer Spezialsysteme verschiedene Teilstrategien der Sorge an, die auf unterschiedliche Weise die über den Globus verteilten Problemerfahrungen in die Genfer Zentrale des DMFAS-Programms hineinziehen. Gleichzeitig lässt sich die Zentrale aber auch nicht unkontrolliert räumlich und zeitlich davon absorbieren. Es können zwei Strategiebereiche unterschieden werden: erstens die gebündelte Fernbeobachtung, bei der verschiedene nationale Problemsituationen in Genf auf wenigen Arbeitsplätzen auf Distanz nacherlebt werden. Diese zentralisierte Fernbeobachtung kombiniert sich oftmals mit einer bewussten FehlerReproduktion (vgl. erster Absatz des Zitats). Die Fernbeobachtung mit Reproduktion bildet einen Strategiebereich, der auf gerade eben erst erlebte oder nur mittelfristig zurückliegende Probleme ausgerichtet ist.

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Der zweite Strategiebereich ist die Simulation, die auf die Zukunft ausgerichtet ist und sich über eher längere Zeiträume von IT-Arbeit erstreckt (vgl. zweiter und dritter Absatz des Zitats). Zunächst genauer zum ersten Strategiebereich: Wie der IT-Chef sagt, sehen er und einige seiner Kollegen von Genf aus verschiedene nationale Datenbanken ein, um die das jeweilige Land betreffenden Softwareprobleme besser zu verstehen. Denn viele Probleme würden mit landesspezifischen Daten zusammenhängen, wie er erläutert, sind also praktisch dem „Einbruch“ von Nationalstaaten in hochtechnologische Weltsituationen zuzuschreiben.21 Bei dieser Art technologischer Sorge wird das Verhalten der DMFAS-Software unter den Bedingungen des betreffenden Nationalstaats (hier: dessen Datenbank) studiert. Die DMFAS-Experten vollziehen so verschiedene, über den ganzen Globus verteilte Softwareerfahrungen zentralisiert in Genf nach. Dabei werden berichtete Fehler manchmal absichtlich provoziert (FehlerReproduktion), um sie möglichst echt nachzuerleben. In diesem Fall versuchen die DMFAS-Experten auf Grundlage von Screenshots und dazugehörigen, per Telefon, E-mail oder Fax eingegangenen Erläuterungen des betreffenden Softwarenutzers, noch einmal Schritt für Schritt selbst den originären lokalen Datenverarbeitungsprozess, in dem das Problem auftrat, zu durchlaufen: an anderem Ort – in Genf – und zu anderer Zeit – später. Der zweite Strategiebereich, die Simulation, wird am o.g. Zitat wie folgt deutlich: Die DMFAS-Experten kreieren typische Finanzinstrumente und Einzeldaten, mit denen sie zukünftige „patches“ schon in der Gegenwart ausprobieren können. Zu diesem Strategiebereich gehört auch eine besonders große Einzelsimulation: die neue Softwareversion 6.0, die als Prototyp, bei dem man auch auf die externe Expertise anderer IT-Unternehmen zurückgriff, entwickelt wurde (vgl. DMFAS o.J.). Diese präventiven Maßnahmen sind eine relativ undankbare Form der technologischen Sorge, da sie für die Systemnutzer überhaupt nicht sichtbar sind. Sie können sie nicht bemerken und entsprechend würdigen, da keine offensichtliche Verbindung zu von ihnen erlebten Problemen besteht (vgl. Henke 1999: 73).22

21 Vgl. die vierte synthetische Dimension, die in Kapitel 5 besprochen wird. 22 Henke sagt, dass die soziale Invisibilität von Reparatur- und Wartungsarbeiten variieren kann (Henke 1999: 72). Dazu führt er ein Beispiel an, bei dem ein Handwerker sich vor den Augen der anwesenden Kranken-

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Der Hauptsitz des DMFAS-Programms in Genf kann so insgesamt mit einem Labor verglichen werden. Realzeitliche und realräumliche Probleme der Datenverarbeitung werden unter räumlich, personell und technisch stark kontrollierten Bedingungen in zwei Zeitrichtungen nach- bzw. vorgestellt – rückwärts in Richtung vergangener, vorwärts in Antizipation zukünftiger synthetischer Probleme. Die Labortätigkeit konzentriert sich dabei zwar nicht auf die Behandlung von Lebewesen, einzelnen Zellen oder chemischen Reagenzen, wie in naturwissenschaftlichen Laboren. Sie findet vielmehr ausschließlich auf Rechnern, an denen man unterschiedliche Schuldendaten und Programme miteinander reagieren lässt, statt. Gleichwohl werden auch hier ständig verschiedene Stoffwechselprozesse analysiert – nämlich solche, die ökonomischer Natur sind. 6.3.5 Bürokratische legitime Sorge in der langsamen Zeit einer UN-Organisation Ein großer Teil der Einstellungsprobleme der DMFAS-Software wird in einer ganz spezifischen Zeitstruktur abgearbeitet: der Zeit einer Bürokratie. Eine bürokratische Zeitstruktur impliziert zwar einen relativ lang gestreckten Sorgeprozess. Die Bürokratie gilt aber in der Moderne auch als besonders legitime Organisationsform (vgl. Weber 1921/ 1980: 122 ff.). Für eine UN-Organisation, die sich ständig mit den Interessen verschiedenster Staaten auseinandersetzen und sie im gerechten Verhältnis zueinander verarbeiten muss, ist eine solche bürokratische legitime Form der Sorge, so die hier vertretende Annahme, unabdingbar. Die Arbeit einer bürokratischen Organisation erfolgt laut Weber relativ unpersönlich, unter Abgrenzung verschiedener Zuständigkeiten und auffällig aktenmäßig bzw. verschriftlicht (1921/1980: 124-126). Diese Merkmale treffen auch auf den hier untersuchten Typ technologischer Sorge zu.

schwestern in einem mehrstufigen Suchprozess bemüht, die Ursache für starken Brandgeruch auf einer Krankenstation ausfindig zu machen. In diesem Fall könne Reparaturarbeit besonders leicht sozial anerkannt werden. Henke führt dann weiter aus: „In other instances – especially preventative maintenance work – repair is not nearly as visible“ (Henke 1999: 73).

254 | ÖKONOMIE SICHTBAR MACHEN

Die nachfolgende Abbildung macht den bürokratisch-legitimen ITEntwicklungsprozess im DMFAS-Programm deutlich. Es ist ein Schema, das der IT-Chef zusammen mit einer Kollegin am 6.7.2005 während eines Vortrags an der Universität Konstanz vorstellte: Abbildung 32: IT-Entwicklung in der legitimen bürokratischen Zeit einer UN-Organisation

Phase

Input

1 Definition of user requirements

User needs

2

Definition of system functionality

3 Design

4

Build

Task Define User Requirements

Output User Requirements definition Document

Define System Specifications

System Specification document

Define System Components

System Design Specifications

Build System Components

System Components

Quelle: Vortrag des IT-Chefs des DMFAS-Programms an der Universität Konstanz, 6.7.2005

Auf der rechten Seite dieses Schemas sind drei verschiedene Arten von Dokumenten symbolisiert: Das „user requirements definition (URD) document“, das „system specification document“ und das „system design document“. Dies sind Dokumente, die im Rahmen entsprechender interner Sitzungen – zumindest was die ersten beiden angeht: URD Meeting und System Specification Meeting – ungefähr wöchentlich im DMFAS-Hauptsitz in Genf erstellt, gemeinsam durchgesehen und mit auffälligem Aufwand minutiös korrigiert werden. So ist dieses Schema nicht nur eine formale Repräsentation der Arbeit der Softwareentwickler, wie sie gern in Außendarstellungen von Organisationen – wie hier in einem offiziellen Vortrag an der Universität Konstanz – benutzt werden. Die dargestellte Prozessstruktur gibt durchaus die teilnehmend beobachtete Praxis wieder.23 Ähnlich bürokratisiert verläuft auch die 23 Die Verfasserin nahm im Verlauf der Feldforschung an verschiedenen ITSitzungen teil: URD Meeting, System Specification Meeting, Help Desk

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fortwährende Anpassung des Software-Handbuchs (DMFAS 2004a). Auch diese Dokumentation wird im Zuge entsprechender interner Sitzungen minutiös durchgesprochen und bis in kleinste sprachliche Details korrigiert. Ein Konstanzer Professor der Informatik, der dem Vortrag des IT-Chefs am 6. Juli 2005 beiwohnte, bemerkte, dass der Entwicklungsprozess der DMFAS-Software nicht gerade zügig verlaufe und flexibel sei (vgl. Gumm/Sommer 2006: 800 zur „Software-Bürokratie“). Es gebe inzwischen effizientere Modelle, mit denen viel schneller und unmittelbar auf die veränderlichen Wünsche der von Nutzern bzw. Nutzungsbedingungen reagiert werden könne (vgl. Gumm / Sommer 2006: 797). Auch wenn die Entwicklungsmethode der Genfer in der Tat zeitlich aufwändig ist, erscheint sie doch aus anderen Gründen rational. Das DMFAS-Programm erzeugt durch die starke Sequenzierung und Dokumentation, so die Annahme, ein relativ großes Maß an Transparenz für eine Organisation, die im Prinzip ständig gegenüber allen Staaten dieser Welt Rechenschaft über die Konstruktionsweise des eigenen Systems ablegen muss. Das DMFAS-Programm wird nämlich aus folgenden vier Quellen finanziert: aus Software-Benutzungsgebühren, aus dem Haushalt der Generalversammlung der UN, aus den entwicklungspolitischen Geldern einzelner Geberländer sowie aus den Budgets einzelner Staaten, welche spezielle Schuldenmanagementfunktionen wünschen. Der auf den ersten Blick zeitlich und dokumentarisch schwerfällige IT-Entwicklungsprozess reagiert, so die Annahme, absichtlich langsam und formalisiert auf diese sehr zahlreichen, über die Welt verteilten Interessen, die auf die Genfer und ihre Software eindrängen. Man bedenke dabei, dass das DMFAS-Programm derzeit aus nicht mehr als 26 festen Mitarbeitern besteht (vgl. DMFAS 2008b).

Meeting, General IT Meeting. Diese Sitzungen zusammen mit der damals erkennbaren Arbeitsaufteilung auf einzelne Zuständigkeiten, die grundsätzlich auch eingehalten wurden (Systemdesigner, Programmierer), bilden das praktische Pendant zum obigen Schema.

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6.4 Z USAMMENFASSUNG In diesem Kapitel wurde der Begriff der technologischen Sorge um einen „empfindlichen“ Quasi-Akteur entwickelt. Die Metapher des ökonomischen Stoffwechsels spielt darauf an, dass skopische Systeme wie die DMFAS-Software unersetzliche, organismusähnliche Transformationsleistungen für ökonomische Experten erbringen: vormals gestaltlose Einzeldaten werden in diesen Systemen aufgenommen, verarbeitet („verdaut“) und dann in neuer Form, nämlich als kompakte ökonomische Aggregatgestalten, wiedergegeben. Dieser Stoffwechselprozess muss im Fall der DMFAS-Software aufwändig umsorgt werden. Dazu wurden beispielhaft fünf Strategien der technologischen Sorge diskutiert. Diese Strategien variieren untereinander, was ihre jeweilige zeitliche und räumliche Positionierung angeht: 1. Die Ad-hoc-Sorge in Situationszeit und -raum ist auf den oft nicht mehr als wenige Minuten dauernden Erfahrungsraum einer einzelnen lokalen Schuldenmanagementsituation beschränkt. Solche Sorge findet ständig überall dort auf der Welt statt, wo ein DMFASExperte gerade persönlich die örtlichen Wechselbeziehungen zwischen Software und Umgebung wieder neu einstellen muss (also z.B. während der sog. „country missions“). 2. Die biographische Sorge um die „Lebens- und Krankengeschichte“ der buchstäblich jahrzehntelang gewachsenen DMFASSoftware mithilfe eines Spezialsystems der DMFAS-IT-Abteilung, dem SCMS, ist eine besonders langfristige Form der technologischen Sorge, die zentralisiert in Genf betrieben wird. Das SCMS fungiert als Diagnose- und „tracking“-System sowie als Instrument zur Selbstbeobachtung der Arbeit der IT-Experten. 3. Das Besondere an der automatisierten Sorge ist, dass sie wie keine andere Form der Sorge prozessual an die wechselhafte SystemFluss-Zeit der jeweiligen lokalen Situation der Datenverarbeitung angepasst ist und in ihrer räumlichen Ausdehnung sehr klein ist. Sie nimmt nur Speicherplatzgröße ein. Konkret wurden sog. „error log files“, die in die DMFAS-Software eingebaut sind, besprochen und mit Implantaten verglichen. 4. Unter dem Begriff der laborartigen Sorge wurden drei Aspekte von technologischer Sorge zusammengefasst, die in Genf zentralisiert sind: Die Fernbeobachtung nationaler Schuldensituationen, die Reproduktion von dort erlebten „Verhaltensauffälligkeiten“ der DMFAS-

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Software und die Simulation potentieller Probleme. Der Aspekt der Simulation weist eine neue, bisher nicht behandelte zeitliche Dimension der technologischen Sorge auf: die präventive Voreinstellung der DMFAS-Software auf Nutzerbedürfnisse und -probleme in der Zukunft (Vorsorge). 5. Unter dem Begriff der bürokratisch-legitimen Sorge wurden ebenfalls verschiedene Arbeitsaktivitäten im DMFAS-Programm zusammengefasst, die auch zentral in Genf angesiedelt sind, sich aber wiederum einer eigenen zeitlichen Rhythmik zuordnen lassen: der stark sequenzierten, planvoll festgelegten Zeitstruktur einer bürokratischen Organisation mit mehreren arbeitsteilig arbeitenden Organisationsmitgliedern. Diese Form der Sorge, so die Interpretation, ist eine Folge der disparaten Interessen verschiedener Weltparteien, die alle auf das DMFAS-Programm als einer UN-Organisation eindrängen und ständig ausbalanciert werden müssen. In theoretischer Hinsicht wurden existierende „repair“- und „maintenance“-Ansätze kultursoziologisch übersetzt. So wurde der Begriff der technologischen Sorge gewählt, um die beobachtete ITHintergrundarbeit des DMFAS-Programms aus den Nischen der Techniksoziologie in den größeren Raum soziologischer Bestandsaufnahmen der kontemporären Gesellschaft zu verschieben. In diesem Zusammenhang wurde u.a. ein Vergleich mit Hochschilds Konzept der familiären Sorge angestellt – dieses Konzept spiegelt ja auch weit über die scheinbar engen Grenzen von Familienleben hinaus moderne Phänomene wie die globale Arbeitsmigration. Zusätzlich wurde auf den Begriff der „Sorge um sich“ in der Hochenergiephysik (Knorr Cetina 2002) zurückgegriffen. Schließlich wurden sog. „kritische“ Ansätze der Techniksoziologie, die die innere Komplexität und Wandelbarkeit von Software und entsprechende (Fort-)Entwicklungsbemühungen bei IT-Experten nicht genug würdigen, hinterfragt. So lautet das Hauptergebnis dieser Analyse: Ein derart komplexer, biographisch lang gewachsener und wandelbarer Quasi-Akteur wie die DMFAS-Software muss erheblich umsorgt werden. Der Grund dafür ist, dass dieses System weltweit einen unersetzlichen Dienst leistet und dabei sehr kontextsensibel ist: Es betreibt unermüdlich ökonomischen Stoffwechsel, damit Nationalökonomien differenziert sichtbar werden können. Die DMFAS-Experten versuchen, ihrer Fürsorgepflicht für dieses empfindliche System pragmatisch-bestmöglich nachzukommen.

7. Zusammenfassung

Im Alltag wird oft selbstverständlich von Nationen oder Nationalstaaten gesprochen, so als wären sie natürlich gegebene, klar abgrenzbare Gestalten mit einer eigenen Geschichte und Identität. Anderson hat demgegenüber die These aufgestellt, dass es Nation und Nationalstaat eigentlich nicht gibt: Es seien „kulturelle Artefakte“ (Anderson 1985: 13). Die Grenzen zu anderen Nationen bzw. Nationalstaaten, die Souveränität und die Gemeinschaft der Mitglieder seien durch und durch imaginiert (Anderson 1985: 15-16). Nichtsdestotrotz sei diese Imagination in der Realität folgenreich – etwa in der Weise, dass viele Menschen bereit seien, für diese Gemeinschaft zu sterben (a.a.O.). Wie steht es um Nationalökonomien? Wie werden sie aus der Perspektive derjenigen, die sich mit ihnen professionell tagtäglich beschäftigen, also ökonomischen Experten, wahrgenommen? Können diese in ähnlicher Weise klar abgrenzbare Gestalten identifizieren? Ist Ökonomie überhaupt zu sehen? Es scheint zunächst unmöglich, eine Nationalökonomie in ihrer charakteristischen Gestalt zu erfassen, geschweige denn, einfach darüber zu kommunizieren. Dies merkt man schon an einem einzigen Ausschnitt einer Nationalökonomie, z.B. nationaler Verschuldung. Schnell ist festzustellen, dass die ökonomischen Aktivitäten eines Staates faktisch keine räumlichen und zeitlichen Grenzen haben: Eine Nationalökonomie ufert in die Welt aus, und ökonomische Beziehungen sind häufig zukunftsoffen. So begann die vorliegende Arbeit damit zu zeigen, dass es aus strukturellen Gründen unmöglich ist, nationale Verschuldung zu überblicken. Argentinien und Indonesien dienten als Beispielfälle, um deutlich zu machen: Nationale Schuldenportfolios bestehen effektiv aus so vielen verschiedenen Krediten, deren Laufzeiten oft Jahrzehnte in die Zukunft reichen, es sind so unzählbar viele und auch verschiedene Trans-

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aktionspartner direkt oder mittelbar in die Kreditbeziehungen involviert, und diese Beziehungen reichen so kreuz und quer in die Welt hinaus, dass zunächst einmal überhaupt nicht von der nationalen Verschuldung eines Staates gesprochen werden kann, geschweige denn von der Nationalökonomie. Auch können internationale Finanzkrisen, beispielsweise die historische Schuldenkrise um 1980 oder die jüngste Finanzkrise um 2009, so gedeutet werden, dass weder Nationalökonomien noch die Weltwirtschaft insgesamt in irgendeiner Form überschaut, geschweige denn gesteuert werden können. Dies wurde am Anfang der Arbeit erläutert. Und doch verfügen kontemporäre Ökonomen über komplexe Beobachtungsinstrumente, um nationale Verschuldungssituationen, Nationalökonomien und die Weltwirtschaft tagtäglich immer wieder, so gut es gerade geht, sichtbar zu machen, und sie versuchen zumindest, die zukünftige Entwicklung derartig riesiger Aggregatphänomene mithilfe dieser Instrumente auch vorherzusehen. Diese Beobachtungsinstrumente sind nicht nur in zahlreichen Büros der Welt installiert, sie sind auch noch derart vielfältig miteinander verbunden, dass sie gemeinsam einen komplexen sozioelektronischen Raum zur ständigen Überwachung von Nationalökonomien bilden. Dieser sozioelektronische Beobachtungsraum erstreckt sich buchstäblich über den ganzen Globus. Er ist weitestgehend ein global-inklusiver Beobachtungsraum in folgendem Sinn: Er erzeugt Möglichkeiten der komparativen Fremdbeobachtung von Nationalökonomien entlang übergeordneter internationaler Standards; er enthält aber auch zahlreiche Spuren der Nationalstaaten selbst, die unterhalb internationaler Standards oft noch ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten der Berichterstattung folgen (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008: 177-183). Die vorliegende Arbeit hat diesen weltumspannenden, in sich kompliziert aufgefächerten sozioelektronischen Beobachtungsraum so weit wie möglich auf Basis einer „multi-sited ethnography“ untersucht (Marcus 1998). An vier verschiedenen Orten, nämlich in Genf, Argentinien, Indonesien und Burkina Faso, wurden nationale und transnationale Diskurse und Praktiken des Schuldenmanagements studiert. Im Speziellen wurden dabei die folgenden Beobachtungsinstrumente genauer analysiert: • ein Schuldenmanagementsystem der United Nations Conference on

Trade and Development (UNCTAD), die sog. „DMFAS-Software“,

Z USAMMENFASSUNG

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welche 66 Regierungen – darunter diejenigen Argentiniens, Indonesiens und von Burkina Faso – zur Verwaltung ihrer externen und öffentlichen Schulden benutzen; • eine spezielle Analyse-Software, die u.a. zur Vorbereitung von Umschuldungsverhandlungen von hochverschuldeten Staaten dient, das „Debt Sustainability Modul“ (DSM) der Weltbank; • eine Internetplattform des IWF, das Dissemination Standards Bulletin Board (DSBB), auf dem die Verschuldungssituationen zahlreicher Nationalökonomien abgebildet sind und im o.g. Sinn fremdbeobachtet werden können; • ein vergleichbares Produkt der Weltbank, nämlich die Global Development Finance-Website (GDF), die Statistiken der Schuldnerländer der Weltbank zeigt. Alle diese Systeme können als „skopische Systeme“ bezeichnet werden (Knorr Cetina 2003; Knorr Cetina/Preda 2007). Sie machen die verschiedenen Gestalten von Nationalökonomien sichtbar. Die Theorie skopischer Systeme ist allerdings bisher weitestgehend auf ein bestimmtes empirisches Feld, nämlich Finanzmärkte, beschränkt gewesen (vgl. Knorr Cetina 2005a, 2006, 2009). Ausnahmen stellen etwa eine Studie zur skopischen Koordination im internationalen Terrorismus sowie eine jüngst erschienene Arbeit zu den technologisierten Nachrichtenräumen von Journalisten dar (Knorr Cetina 2005b; Boczkowski 2009). An dieser theoretischen Beschränkung setzte die Arbeit an: Die erste Hauptleistung bestand darin, die Theorie skopischer Systeme auf ein neues empirisches Feld auszudehnen. Dieses Feld ist nicht nur von Marktdynamiken, sondern auch von Staatsräson und internationalen Regulierungsbemühungen durchzogen. Gleichzeitig wurden theoretische Differenzierungen erarbeitet, die mit der globalen Verteilung und Interdependenz der vier eben genannten Beobachtungssysteme zusammenhängen. Diese theoretischen Differenzierungen werden in den nachfolgenden beiden Abschnitten zusammengefasst. Der erste Abschnitt richtet sich an die Wirtschafts- und Wissenssoziologie und stellt die Untrennbarkeit von ökonomischer Realität, ihrer Beobachtung und ökonomischem Handeln heraus. Der zweite Abschnitt zeigt auf, welchen Beitrag diese Arbeit zur Globalisierungsdebatte geleistet hat. Dieser besteht im Wesentlichen darin, dass der

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Begriff des Globalen mikrosozial aufgebrochen und in einen differenzierten Weltbegriff überführt wurde. Die zweite Hauptleistung bestand darin, die Theorie skopischer Systeme für die Techniksoziologie zu erschließen. Speziell ist hier eine auf Informationstechnologien konzentrierte Soziologie gemeint, die auch wissenssoziologisch, kultursoziologisch oder „postsozial“ argumentiert (Knorr Cetina 1997, 2002; Henriksen 2002; Merz 1999). Diese theoretische Verknüpfung und der für die vorliegende Arbeit zentrale Technologiebegriff werden im dritten Abschnitt besprochen. Die Zusammenfassung schließt mit einem kleinen Ausblick, in dem weiterführende Forschungsfragen gestellt werden. Ökonomische Realität, deren Beobachtung und ökonomisches Handeln Was ist nationale Verschuldung? Im untersuchten empirischen Feld ist die ökonomische Realität, mit der sich die nationalen und transnationalen Schuldenexperten täglich beschäftigen, extrem technologisiert und sehr zeichenhaft. Beides hängt eng miteinander zusammen. Zunächst zur Zeichenhaftigkeit: Die Schuldenrealität besteht aus lauter Appräsentationen (Schütz/Luckmann 1994: 178 ff.). Appräsentationen sind nach Schütz und Luckmann menschliche Bewusstseinsleistungen, bei denen ein vordergründig sichtbares Datum kognitiv durch ein zweites Datum ergänzt wird. Das zweite Datum wird zusammen mit dem ersten, das unmittelbar präsent ist, mit-vergegenwärtigt (appräsentiert). Es lässt sich hier noch weiter unterscheiden: Appräsentationsleistungen können zum einen Wahrnehmungsprozesse sein, bei denen etwas, das nur vorübergehend abwesend ist, hinzugefügt wird; zum anderen gibt es solche, bei denen etwas mitvergegenwärtigt wird, das überhaupt niemals anders als nur vermittelt durch das erste anwesende Datum „gesehen“ werden kann. In diesem zweiten Fall fungiert das anwesende Datum als „Anzeichen“ (Schütz/Luckmann 1994: 184-186). Zwei der untersuchten skopischen Systeme, die DMFAS-Software und das DSM, ermöglichen Schuldenexperten beide Arten von Appräsentationen, indem sie konkrete Übersichtstabellen oder auch Schlüsselzahlen (z.B. Netto-Gegenwartswert der Schulden pro Bruttosozialprodukt) produzieren. Diese Appräsentationsleistungen wurden im zweiten Kapitel im Abschnitt zur Monitoringpraxis im Schuldenmanagement angerissen und im vierten Kapitel vertieft. Dabei wurde

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der Theorieansatz von Schütz und Luckmann wie folgt uminterpretiert: Potente Software führt Schuldenexperten tabellarische Appräsentationen vor Augen, bei denen die sonst niemals sichtbare Zukunft (erwartete Schuldenzahlen) neben der Gegenwart (bekannte Schuldenzahlen aus der langfristigen und jüngsten Vergangenheit), die unter verschiedenen Annahmen vorwärts-gerechnet wurden, angeordnet wird. So bauen Computer auf wenigen Zentimetern Bildschirmfläche ganz neue ökonomische Realitäten zusammen. Bei Schlüsselzahlen hingegen werden die an anderen Stellen in Zentralbank oder Finanzministerium generierten makroökonomischen Daten mit den in der Schuldenabteilung generierten zusammengeführt. Dies entspricht auf den ersten Blick eher dem ersten Typ von Appräsentation. Allerdings erbringen die skopischen Systeme letztlich auch hier eher eine Appräsentationsleistung des zweiten Typs (Anzeichen): Mit den makrökonomischen Daten zusammen nehmen die Verschuldungsdaten eines Landes wie z.B. diejenigen Argentiniens oder Indonesiens erst eine spezifische Gestalt an. Nun können die Nationalökonomie Argentiniens und die Nationalökonomie Indonesiens erst von den ökonomischen Experten erkannt und im Vergleich zueinander charakterisiert werden. Die einmal hergestellten charakteristischen Aggregatgestalten können aber bei Bedarf auch relativ schnell revidiert werden. Diejenigen Systeme, die als rastlose Zukunftsmaschinen gebaut sind, erlauben es, immer wieder neue Ansichten der Nationalökonomien zu produzieren. So dynamisieren skopische Systeme das Schuldenmanagement. Auch dies wurde im vierten Kapitel ausgeführt. Im sechsten Kapitel wurde außerdem die Metapher des ökonomischen Stoffwechsels geprägt. Diese Metapher fügt sich in diesen unermüdlichen Produktionsprozess neuer ökonomischer Realitäten: Kein Mensch allein (und vermutlich auch keine Arbeitsgruppe von Menschen allein) könnte diesen Transformationsprozess von ungeheuren Datenmengen, bei dem am Ende neue, extrem kompakte Ansichten einer Nationalökonomie entstehen, in so kurzer Zeit immer und immer wieder leisten. Die vorliegende Untersuchung hat weiterhin gezeigt, dass nicht nur die Schuldenrealität selbst, sondern auch das Beobachten dieser Realität und viele ökonomische Anschlusshandlungen untrennbar mit dieser Potenz skopischer Systeme verbunden sind. Die auf das Finanzmarkt-Trading konzentrierten Analysen im Rahmen der Theorie skopischer Systeme haben diese Verquickung bereits anhand der drei überlappenden Konzepte der „skopischen Koordination“ von Hand-

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lungen, des „Flow“ der Finanzrealität und der „Reflexivität“ der Trader-Aktivitäten aufgezeigt (Knorr Cetina 2003, 2005a, 2009; Knorr Cetina/Preda 2007). Hier wurde nun der Anwendungsbereich dieser Konzepte ausgedehnt. Wie stellt sich die Verquickung aus Technologie, Realität, Beobachtung und Handeln dar? Knorr Cetina und Preda haben bezüglich des internationalen Devisenhandels konstatiert: Die weltweit verstreuten Händler, die alle Nutzer der gleichen skopischen Systeme – hier: elektronische Tradingsysteme – sind, würden an ihren Bildschirmen unabhängig voneinander denselben (hochgradig standardisierten) Markt beobachten, auf Grundlage dieser Beobachtungen dann ihre individuellen Kauf- und Verkaufsentscheidungen treffen und damit im Aggregat eben diesen gemeinsamen Markt verändern. Die neue Marktsituation werde dann sofort wieder durch die Systeme hindurch zu jedem einzelnen Händler zurückprojiziert, welcher wiederum in unmittelbarer Reaktion auf diese neue Realität (reflexiv) neue Handelsentscheidungen treffe, was wieder zu den genannten sekundenschnellen Rückkopplungseffekten führe usw. (vgl. Knorr Cetina/Preda 2007: 126, 129-130). Der Markt, welcher von Moment zu Moment anders aussieht und in diesem Sinn „fließt“, die Marktbeobachtung und das konkrete Handeln der ökonomischen Akteure hängen also alle voneinander ab. Man kann sie nicht voneinander trennen, will man das Wesen der Marktrealität, der Beobachtung und des Handelns im Finanzmarkt verstehen. Diese Verknüpfung von (Bildschirm-)Realität, Beobachtung und Handeln ist im transnationalen Schuldenmanagement zunächst am deutlichsten auf nationaler Ebene und speziell bei integrierten Finanzmanagementsystemen zu finden, wobei hier das Tempo der Rückkopplungsschleifen nicht so hoch ist wie im Finanzmarkt. Dies wurde im dritten Kapitel behandelt. In integrierten Finanzmanagementsystemen (mit der DMFAS-Software als einer Komponente) gibt es elektronische „Reflexe“. Das ist ein Teilnehmerbegriff für Daten, die gerade an einem Ende des integrierten Systems – z.B. der Schuldenmanagementabteilung – eingegeben wurden und im nächsten Moment an einem anderen Arbeitsplatz – z.B. in der Budgetierungsabteilung – am Bildschirm erscheinen und in das Anschlusshandeln des dortigen Sachbearbeiters münden. Dieses Anschlusshandeln beinhaltet nun seinerseits Dateneingaben, welche sofort zu neuen „Reflexen“ an wiederum ande-

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ren skopischen Ausgängen des Gesamtsystems (d.h. an anderen angeschlossenen Bildschirmen) führen. Soziologisch interessant ist, dass solche elektronischen Reflexe als Fortentwicklung früherer natürlich-physischer „Inskriptionen“, die bürokratische Organisationen in den eigenen Papierakten oder auch in ihrer Umwelt vornehmen, gedeutet werden können (vgl. Latour 1995: 147). Natürlich-physische Inskriptionen werden in heutigen nationalen Finanzinstitutionen der Tendenz nach abgelöst durch ständig erneuerte elektronische Reflexe, die in einem in sich kompliziert verschachtelten sozioelektronischen Beobachtungsraum hin und her geschickt werden. Die vorliegende Studie hat auch zeigen können, dass sich der sozioelektronische Beobachtungsraum für Schulden noch weit über die nationalen Grenzen integrierter Finanzsysteme hinaus über verschiedene, in der Welt verteilte Orte ökonomischen Handelns erstreckt und sich dabei noch stärker verschachtelt. So wurden im dritten Kapitel Projektionsleistungen von den jeweiligen nationalen DMFASSoftware-Installationen hin zu den beiden skopischen Weltbank- und IWF-Systemen, d.h. zur GDF-Website und zur DSBB-Internetplattform, untersucht. Solche bereits quer über den Globus projizierten Schuldeninformationen werden wiederum auch von Investoren und politischen Entscheidungsträgern an ihren weltweit verstreuten Bildschirmen, also außerhalb der beiden Bretton Woods-Institutionen, rezipiert. Dieser global verteilte (Re-)Projektionsmechanismus wäre allerdings in Zukunft noch genauer zu untersuchen und noch stärker soziologisch zu theoretisieren. Bisher liegen dazu nur wenige Studien von Weltbank und IWF selbst vor, die die vorliegende Arbeit in einem ersten Untersuchungsschritt erschlossen hat (vgl. IMF 2007; IMF 2008d und 2008e; IMF/World Bank 2005). Das dritte Kapitel zeigte auch, dass dieser global verschachtelte Projektions- und Reprojektionszusammenhang nicht inhaltlich neutral ist: Die Schuldeninformationen werden auf ihrem weit verzweigten Weg um den Globus immer wieder transformiert, etwa in die buchstäblichen Weltsichten von Weltbank und IWF. Zusammengefasst stellt sich die von der Theorie skopischer Systeme bereits bemerkte Verquickung von Technologie, Bildschirmrealität, Beobachtung und Handeln im vorliegenden Untersuchungsfeld noch komplizierter dar als im hochgradig standardisierten Finanzmarkt-Trading. Die Schuldenbeobachtung „windet“ sich in epistemi-

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schen Überformungen durch verschiedene, weltweit verteilte Instanzen hindurch. Globalisierung in der Praxis Es wurde gezeigt, dass Globalisierung ein Prozess sein kann, der sich „unten“ vollzieht, d.h. auf mikrosozialer und mikrotechnischer Ebene – selbst wenn gleichzeitig offenkundig Akteure bzw. Akteursgruppen, die als global oder mindestens national gelten, an diesem Prozess beteiligt sind, in diesem Fall UNCTAD, der IWF, die Weltbank sowie Finanzministerien und Zentralbanken. Damit hat die vorliegende Arbeit die Theorie globaler Mikrostrukturen gestärkt (Knorr Cetina/ Bruegger 2002a). Dies wurde etwa anhand der Analyse von Zeitzeugen-Dokumenten aus der Periode der internationalen Schuldenkrise um 1980 deutlich. So wurden im zweiten Kapitel die von damaligen Schuldenexperten selbst gezogenen diskursiven Verbindungslinien zwischen dem Makroproblem der internationalen Überschuldung und detaillierten (Mikro-)Reformbemühungen im Bereich alltäglicher Schuldenmanagementpraktiken und konkreter Computertechnologie rekonstruiert. Die vorliegende Untersuchung hat die Theorie globaler Mikrostrukturen aber auch noch weiter vorangetrieben. So wurde die Dichotomie des Globalen und des Lokalen fundamental in Frage gestellt und durch die folgenden beiden Begriffe ersetzt: den Begriff des globalinklusiven Systems und den Begriff der hochtechnologischen Weltsituation. Außerdem wurde das bisherige Konzept der transnationalen Expertengemeinschaft modifiziert (vgl. Haas 1992, Ikenberry 1992). Auf diese drei Aspekte ist nun genauer einzugehen. Im zweiten und dritten Kapitel wurde aufgezeigt, wie Schuldenexperten unterschiedlicher Herkunft – hier: UNCTAD, IWF und Weltbank – sich untereinander immer wieder neu über die adäquaten Schuldendefinitionen und -kategorien zu verständigen versuchen, die in die o.g. vier skopischen Systeme eingebaut sind. Dieser Verständigungsprozess, der sich mikrosozial auf offiziellen Konferenzen bis hin zu informellen Zwiegesprächen ethnographisch mitverfolgen ließ, läuft bald harmonisch, bald spannungsreich ab. Ikenberry hat für eine entfernt vergleichbare Situation, nämlich den konfliktgeladenen Umbildungsprozess der Weltwirtschaftsordnung nach dem zweiten Weltkrieg, den Begriff der „primitiven“ transnationalen epistemischen Ge-

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meinschaft gewählt (Ikenberry 1992: 293). Da „primitiv“ allerdings mangelnde Fachkenntnis bei den Experten suggeriert, wurde hier alternativ der Begriff der vielstimmigen, in sich „umstrittenen“ Gemeinschaft transnationaler Schuldenexperten vorgeschlagen („contested epistemic community“). In Anlehnung an Berger und Luckmann (1969/2007: 59) wurde in diesem Zusammenhang ergänzt, dass die Gemeinschaft auf einer derart großen Menge an miteinander kollidierenden „Institutionsballungen“, d.h. Nationalstaaten, aufsitzt, dass die Institutionalisierung eines einfachen, weltweit gültigen Schuldenwissens praktisch unmöglich ist (zweites Kapitel, Abschnitt 2.3.2). Das dritte Kapitel stellte die Unterschiede zwischen global-exklusiven und global-inklusiven skopischen Systemen heraus (vgl. Knorr Cetina/Grimpe 2008: 177-183). Das Begriffspaar steht dafür, wie homogen oder heterogen die Akteursgruppe, die ein skopisches System benutzt, ist: Wer auf der Welt bekommt wie weit Zugang zum jeweiligen System, wer darf es wie weit nutzen und mitgestalten? Die speziellen Trading-Technologien, an denen die Theorie skopischer Systeme ursprünglich entwickelt wurde, sind insofern exklusive Systeme, als sie nur Händlern innerhalb des offiziellen Interbankenhandels, der sich zwischen wenigen großen Finanzstädten weltweit aufspannt, Zugang gewähren. Nationalstaatliche Politiken können auf diesen Handelsprozess kaum Einfluss nehmen. Die Tradingsysteme wurden hier deshalb auch als „global im eigenen Recht“ bezeichnet. Demgegenüber sind die im transnationalen Schuldenmanagement untersuchten vier skopischen Systeme in unterschiedlichem Ausmaß von den Nutzungsinteressen aller möglichen Nationalstaaten „durchwuchert“. Sowohl ihre inneren Kalkulationsfunktionen (wie im Fall der DMFASSoftware) als auch die Informationen, die sie letztlich auf dem Bildschirm anzeigen, weisen sehr viele verschiedene nationalstaatliche Partikularitäten auf. Es wurde darauf hingewiesen, dass es viele Informations- und Klassifikationssysteme gibt, die ähnlich komplex und von zahlreichen Nationalstaatsinteressen durchwuchert sind (vgl. Bowker/Star 1999) – sowohl auf globaler Ebene als auch für bestimmte Regionen, z.B. die EU. Es ist zu vermuten, dass global-inklusive Systeme derzeit (noch) weiter verbreitet sind als global-exklusive. Im fünften Kapitel wurde dann die Untersuchungsperspektive auf kleinteilige alltägliche Situationen der Datenverarbeitung gelenkt. Solche Situationen sind in zahlreichen Hinsichten „synthetisiert“ bzw. „makroskopisch“ erweitert (Knorr Cetina 2009: 61; Goffman 1983: 8).

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Dies meint Folgendes: Die Situationen sind mit verschiedensten soziotechnischen Komponenten, die buchstäblich ständig von der Welt informiert werden und eine Weltgeschichte verkörpern, angereichert. Teils sehr große Akteure wie etwa regionale und internationale Entwicklungsbanken und Aggregatphänomene wie der globale Währungsoder Geldmarkt sind über zahlreiche kleine technische Funktionen, auf die menschliche Systemnutzer von einem Moment zum nächsten zurückgreifen, an lokalen Arbeitssituationen beteiligt. Dabei wurde auch deutlich gemacht, dass solche durch verschiedenste Welteinflüsse verdichteten Situationen der Datenverarbeitung leicht zusammenbrechen können, und dass sogar IT-Experten, die mit den technischen Details der Datenverarbeitung eigentlich am besten vertraut sind, sie als immer wieder unvorhersehbar, als emergent erfahren. Insgesamt wurde folgende theoretische Erkenntnis gewonnen: Situative Handlungen, die technologisch vermittelt sind, sind nicht von dem Rest der Welt abgeschottete Handlungen, im Gegenteil. Um kontemporäre Arbeitssituationen der Datenverarbeitung zutreffend zu theoretisieren, ist ein differenzierter, gewissermaßen ans Lokale heranreichender und dennoch auch National-, Regional- und Globalstrukturen aufnehmender Begriff der Weltsituation nötig. So wurde diskutiert, dass Theorieansätze zur Situativität bzw. Lokalität von Handeln und Wissen mithilfe eines solchen differenzierten Weltbegriffs mit Globalisierungstheorien verbunden werden können (vgl. Suchman 2002; Haraway 1991). Diese „Weltlichkeit“ des täglichen Schuldenmanagements hat Konsequenzen. Technologien, die in Weltsituationen benutzt werden, ja diese mit-konstituieren, setzen bei den Herstellern und Benutzern ein entsprechend umfangreiches und gleichzeitig flexibles Wissen voraus. Dieses wurde in der vorliegenden Arbeit als „Kaleidoskopwissen“ bezeichnet (fünftes Kapitel). Und die Technologien können als Quasi-Akteure mit eigenen „Stoffwechsel“-Funktionen begriffen werden, die entsprechend ihrer inneren Ausdifferenzierung aufwändig betreut werden müssen (sechstes Kapitel). Diese und weitere Besonderheiten der untersuchten Technologien sind nun unter einem allgemeineren Technologiebegriff zusammenzufassen. Technologiebegriff Es wurden vier Bildschirmtechnologien untersucht, die im transnationalen Schuldenmanagement benutzt werden. Zunächst sind die wich-

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tigsten Untersuchungsergebnisse zu rekapitulieren, um dann in Anlehnung an Knorr Cetina (1997) und Henriksen (2002) einen übergeordneten Technologiebegriff zu formulieren. Insgesamt wurde argumentiert, dass die untersuchten Technologien nicht nur Träger, sondern vor allem „Propeller“ verschiedener epistemischer Leistungen sind, die es menschlichen Akteuren erlauben, höhere Ordnungsebenen der ökonomischen Beobachtung zu erreichen (konkret in Verbindung mit Monitoren, vgl. Kap. 2.3.3). Im Einleitungskapitel und im dritten Kapitel wurde aufgezeigt, welche komprimierten Weltübersichten mit skopischen Systemen erzeugt werden können. Die Technologien handeln in diesem Sinn akteursähnlich „mit“ (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002: 13, 39 ff.; vgl. fünftes Kapitel, Abschnitt 5.3.1). Dies führt zur Ausgangsfrage dieser Zusammenfassung zurück: Ja, ökonomische Experten können Nationalökonomien „sehen“ – aber nur dank skopischer Quasi-Akteure, die Unmengen von Einzeldaten und Vorarbeiten in kompakte Visualisierungen in Bildschirmgröße transformieren. Im dritten und vierten Kapitel wurden die epistemischen Leistungen im Einzelnen und im Zusammenspiel näher untersucht. Es handelt sich um: Klassifizieren, Zentralisieren und statistisches Aggregieren; die Darstellung von Daten in Listen, Tabellen oder Grafiken; Kalkulieren; räumliches Projizieren bzw. Reflektieren von Daten kreuz und quer in einem großen (regierungsweiten bis weltumspannenden) elektronischen Datenraum; und zeitliches Projizieren, speziell rastloses ReRe-(…)-Projizieren. Diese in den Technologien materialisierten epistemischen Leistungen sind selbst nicht naturgegeben sondern kulturhistorisch gewachsen, wie argumentiert wurde, und auch in der Gegenwart immer noch kulturell fragil. Beispielsweise ist speziell taxonomisches Klassifizieren wenig selbstverständlich. Nach Handelman ist es eine – bisweilen sogar gewaltsam durchgehaltene – Praxis der westlichen Moderne (Handelman 1981: 5, 8). Auch Kalkulieren schließt empirisch genaugenommen ständige Auseinandersetzungen darum, welches denn die relevanten Kalkulationsmethoden aus wessen Perspektive unter welchen Umständen sind, ein. Ein Beispiel dafür sind „present value“Kalkulationen für Umschuldungsverhandlungen im Paris Club (Kapitel 4.4.4). Anders gesagt, es gibt eine unauflösbare Verbindung zwischen technologisch materialisiertem Wissen einerseits und kulturellhistorisch geformten Weltsichten bzw. politischen Standpunkten ande-

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rerseits. Zum Beispiel ist der Einbau von Projektionsfunktionen, die der Finanzaufsicht der Weltbank dienen, ein solcher recht klarer Fall (siehe Kapitel 3.3.2). Hier ist die technoepistemische Funktion – Ermöglichung einer Weltübersicht – von der politischen Perspektive – die Sicht der Weltbank als Gläubiger – nicht mehr zu trennen. Demnach scheinen sich klassische techniksoziologische Theorieansätze, die sich auf die Politisierung von Technologie konzentriert haben, empirisch zu bestätigen (vgl. Winner 1980; Callon 1986). Allerdings wurde an verschiedenen Stellen der Arbeit auch deutlich, dass Politik keinesfalls sicher oder stabil in Technologie eingeschrieben ist. Dies zeigte etwa das Kapitel 2.3.2 zur ständig umstrittenen Expertengemeinschaft, oder Kapitel 3.3.2 zum Problem, wie die Schuldenmanager in den zahlreichen souveränen Ländern überhaupt dazu gebracht werden können, eine vermeintlich „automatische Brücke“ auch tatsächlich zu benutzen. Es wurde ebenfalls aufgezeigt, dass eine Technologie wie die DMFAS-Software über die Jahrzehnte ihrer Entwicklung in ständigen Rückkopplungsschleifen mit einer außerordentlichen Zahl von direkten und indirekten Nutzern, also mit einer außerordentlichen Zahl an politischen Interessen und Weltsichten, zu einem insgesamt komplexen, in sich „eingefalteten“ System geworden ist, das strenggenommen nicht mehr nur eine Identität hat. So muss auch der erste Eindruck, den Bildschirme erwecken – zweidimensionale Objekte, „auf“ denen Text oder Grafiken abgespielt und verfolgt werden können – für den Fall der in dieser Arbeit untersuchten Technologien korrigiert werden: Bildschirme sind in der empirischen Praxis oftmals tiefe, sehr weit verzweigte elektronische Räume, die von den Technologiebenutzern ganz unterschiedlich „bewohnt“ werden (vgl. Knorr Cetina/Bruegger 2002b; vgl. Kapitel 3.2.1). Es handelt sich zum Teil um Räume, die über globale Entfernungen verteilt und trotzdem sinnhaft aufeinander bezogen sind, und in der Tendenz auch immer stärker zukünftig aufeinander bezogen werden (Kapitel 3.4). Im Untersuchungsfeld sind also eher Bildschirmtiefen denn Bildschirmoberflächen festzustellen, durch die sich verschiedene, in der Welt verteilte Akteure in nicht identischer Weise, aber gleichzeitig sinnhaft hindurch bewegen. Insgesamt lassen sich also nicht eine einfache (starre) Politisierung von Technologie oder gar ein Technikdeterminismus behaupten, wie viele techniksoziologische Ansätze (darunter Winner 1980) nahe legen.

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Ein weiteres wichtiges Merkmal der untersuchten Technologien, das ganz abseits dieser relativ bekannten Theoriedebatte um Politisierung und Determinismus liegt, ist das der zeitlichen Koordination von Markt und Staat. Zum einen ging das vierte Kapitel darauf ein: Hier wurde gezeigt, dass eben nicht nur Spekulanten, Investoren, Produzenten oder Trader immer neue Zukunftserwartungen produzieren (zum Teil rastlos), sondern auch die Manager nationaler Schulden. Sie müssen die nationalökonomische Zukunft prinzipiell andauernd reprojizieren. Zum anderen wurde im fünften Kapitel im Abschnitt zur zweiten synthetischen Dimension der „Einbruch“ vom Währungs- und Geldmarkt in das nationale Schuldenmanagement behandelt. Beide Kapitel machten Folgendes deutlich: Die Zeit des Marktes und die Zeit des Staates stehen einander nicht dichotomisch gegenüber. Oder plakativer formuliert: In der Wirklichkeit gibt es nicht einfach einen galoppierenden globalen Finanzmarktkapitalismus, dem die (zeitlich hoffnungslos abgehängten) Nationalstaaten nur noch machtlos hinterher schauen können. Vielmehr ist der Staat selbst, etwa über die Ausgabe von Anleihen, ein wichtiger Mitspieler in Finanzmärkten. Zudem zeigt ein genauerer Blick auf die alltägliche Schuldenmanagementpraxis, dass Zins- und Währungsschwankungen mithilfe konkreter Soft- und Hardwarefunktionen in die Situationen der Schuldendatenverarbeitung verwickelt werden. Soft- und Hardware erlauben also eine relativ marktnahe Beobachtung des (ständig schwankenden) Gesamtwerts nationaler Schulden, und insofern auch eine entsprechende ständige Neuausrichtung der weiteren Kreditaufnahme. Die innere Komplexität der untersuchten Technologien, ihre ungeheure Funktionsbreite für verschiedenste Akteure weltweit und ihre Vermittlungsrolle zwischen Markt und Staat sind auch für die Hersteller der Systeme selbst eine dauernde Herausforderung. Darauf konzentrierte sich das sechste Kapitel. Dem Alltagsverständnis zufolge handelt es sich bei IT-„maintenance“, „repair“ und „support“ um nicht mehr als bloße technische Maßnahmen, die die eigentlichen inhaltlichen (und eher bedeutungsgeladenen) Aufgaben einer Organisation im Hintergrund absichern. Die vorliegende Arbeit entwickelte am Beispiel der DMFAS-Software, die die UN-Mitarbeiter distribuieren und fortwährend betreuen, eine Gegenposition zu dieser technizistischen Sicht. So komplex, wie die DMFAS-Software im Lauf von Jahrzehnten der ständigen Fortentwicklung gebaut wurde, und so aufmerksam damit heute dynamische, komplizierte nationale Verschuldungssituati-

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onen beobachtet werden können, so anspruchsvoll ist auch die gegenwärtige Betreuung dieser Technologie. Das sechste Kapitel hat deshalb folgende kultursoziologische Deutung vorgeschlagen: Technologische Betreuung wurde als Sorge charakterisiert, die sich im Kontext der gegenwärtigen Hochleistungsgesellschaft wiederum als Pendant zur – ebenfalls arbeitsintensiven – familiären Sorge nach Hochschild (2003: 186-188, 214-215, 221) begreifen lässt. Die DMFAS-Experten pflegen ihre Software, die derzeit in 82 Finanzinstitutionen von 66 Nationalstaaten installiert ist, jeweils lokal sowie zentral von Genf aus. Dies geschieht etwa durch die laborähnliche Simulation von Systemproblemen – oder auch, indem jede Softwareinstallation weltweit mit einer Art Implantat versehen wird, welches die realzeitnahe Mit-Beobachtung der jeweiligen laufenden Datenverarbeitungsprozesse erlaubt und Grenzwissen über aufgetretene Verarbeitungsfehler produziert (vgl. Knorr Cetina 2002: 94). Insgesamt wurden im sechsten Kapitel fünf jeweils räumlich und zeitlich sehr unterschiedlich ausgerichtete Formen der technologischen Sorge um die DMFAS-Software in hochtechnologischen Weltsituationen herausgearbeitet. Lassen sich nun diese Sorge und die zuvor besprochenen Technologiemerkmale unter einem Begriff zusammenführen? Die untersuchten Technologien weisen eine derartige Bedeutungsbreite (für viele Akteure an vielen Orten weltweit) und Bedeutungstiefe (hinsichtlich verschiedenster Wissenspraktiken, Weltsichten, politischer Interessen, Gesellschaftsbereiche wie Markt und Staat) auf, und sie sind dabei auch noch derart im Fluss (die Hersteller reagieren mit Umprogrammierungen immer wieder auf neue Nutzungsansprüche), dass nach jetzigem Kenntnisstand eigentlich nur ein extrem „beweglicher“ Technologiebegriff in Frage kommt. Naheliegend ist hier zunächst Henriksens Ansatz (2002). Sie definiert Technologie als „zerstreutes Objekt“, welches „verschieden ist zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten“ – eine Deutung, die sie anhand eines webbasierten Informationssystems eines international agierenden Pharmazieunternehmen entwickelt hat (Henriksen 2002: 31, 33, 34, 37; Hervorhebungen im Original). Mit diesem System sind laut Henriksen je nach Kontext so viele verschiedene technische Teilkomponenten, Nutzungsweisen und Erwartungen verbunden, dass es insgesamt nicht nur als System, sondern zusätzlich als fortwährende Arbeit („ongoing work“) und noch unerfülltes „Potential“ begriffen werden müsse – also als Objekt, das in Wirklichkeit die Summe von

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drei sehr verschiedenen Objektvarianten ist (Henriksen 2002: 34, 37, 42). Mit Knorr Cetina (1997) lässt sich diese Idee der extremen Objektvarianz, zerstreut in Zeit und Raum, passgenauer für die vorliegende Arbeit zuschneiden. Knorr Cetina macht auf die Gemeinsamkeiten von Technologie und Forschungsprozess aufmerksam. So sagt sie, viele heutige technologische Objekte wie etwa Computer bzw. Computerprogramme seien „kontinuierlich sich entfaltende Strukturen“ und insofern der Kategorie „epistemischer Dinge“ zuzuordnen (Knorr Cetina 1997: 10, 15). Diese Objekte seien bereits zu benutzen, würden aber gleichzeitig ständig verändert; sie seien anwesend genauso wie abwesend, nämlich Gegenstand fortwährender Neuerkundung und Verbesserung (Knorr Cetina 1997: 10). Diese Überlegungen passen gut zu den Begriffen des in sich eingefalteten Systems und des Kaleidoskopwissens, die in dieser Arbeit entwickelt wurden, und zu Entfaltungserfahrungen sowie Such- und Korrekturbewegungen, die auf Seiten der untersuchten IT- und Schuldenexperten zu beobachten waren. Was die vorliegende Arbeit den Technologiebegriffen von Henriksen und Knorr Cetina noch hinzufügen kann, ist eine explizit historische Perspektive, bzw. genauer: eine Perspektive auf das „biographische“ jahrzehntelange Heranwachsen komplexer technoepistemischer Strukturen (vgl. Appadurai 1986: 13; Pollock/Williams 2009: 10, 156; vgl. Kapitel 3.2.1 und 6.2.3). Erst in der Gegenwart können sich diese Strukturen dann unerwartet entfalten. Ausblick Abschließend seien einige weiterführende Forschungsfragen formuliert. Beispielsweise war die vorliegende Arbeit ja auf sog. „Entwicklungs-“ und „Schwellenländer“ beschränkt. Wie funktionieren demgegenüber die vermutlich weitaus komplexeren skopischen Systeme, die von Regierungen wie derjenigen der USA oder Deutschlands benutzt werden? Was sind das für Gestalten, die für diese oft noch viel höher verschuldeten, in der Weltwirtschaft noch viel stärker eingebundenen Staaten produziert werden? Sind sie z.B. viel bildhafter? Und wenn ja, was würde dies implizieren? Yates hat die These aufgestellt, dass Grafiken das effizienteste Kommunikationsgenre für komplexe Organisationen darstellen; Heintz und Huber meinen, dass Bilder gegenüber Zahlenreihen einen „Tempovorteil“ hätten, da die abgebildeten Daten

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nahezu simultan statt sequentiell erfasst werden könnten (vgl. Yates 1989: 84; Heintz/Huber 2001: 13). Sogar die neue Version 6.0 der DMFAS-Software verfügt erstmals über sog. „intelligente“ Funktionen der Bildgebung (DMFAS 2009: 23). Die Verbildlichung mit Tempovorteil könnte wichtige Folgen haben: Steigert sich durch solche potenteren skopischen Systeme dann auch die Rastlosigkeit der Zukunftsmaschinerie in schwindelerregende Geschwindigkeiten? Wenn das der Fall ist, wie gehen ökonomische Experten damit um? Wie sehen die damit einhergehenden (neuen) Bild- oder gar Filmpraktiken und Zeitmanagementpraktiken aus? Allgemeiner gefragt: Wie sieht das soziale kurz- und längerfristige „Responsesystem“ rund um hochentwickelte skopische Systeme aus – unmittelbar interaktiv vor dem einzelnen Bildschirm, aber auch vielfach weitervermittelt im weltweit verzweigten sozioelektronischen Beobachtungsraum globaler Akteure (vgl. Knorr Cetina 2009)? Und werden dann z.B. die unmittelbar interaktiven und die weiter reichenden globalen Erfahrungen innerhalb dieser Responsesysteme, die sich um die skopischen Systeme aufspannen, wiederum zirkulär für die Weiterentwicklung der skopischen Systeme benutzt? Übersetzen sich so vielleicht die beschleunigten, bild- bzw. filmartigen Flussprozesse ökonomischer Beobachtung in ähnlich beschleunigte Flussprozesse der IT-Entwicklung – oder kommt es im Gegenteil zu Synchronisierungsproblemen in der IT-Entwicklung? Mit anderen Worten, welche besondere temporale und räumliche Verbindungen gehen Technologie, ökonomische Realität, ihre Beobachtung und ökonomisches Handeln im Fall äußerst komplexer skopischer Systeme ein? Es wäre spannend, diesen Fragen im Rahmen einer kultursoziologischen Untersuchung, die wie ein Hase querfeldein Haken durch verschiedenste Teildisziplinen hindurch schlägt, auf den Grund zu gehen. Eine solche weiterführende Untersuchung würde wieder in den Übergangsbereichen zwischen Wirtschafts-, Technik- und Wissenssoziologie liegen, sollte aber vielleicht zusätzlich aktuelle Bild- und Filmtheorien sowie ein breites Spektrum an Kommunikations- und Interaktionstheorien berücksichtigen.

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