Die griechische Archaik war eine ausgesprochen dynamische Zeit: Ab dem 8. Jh. v. Chr. entwickelte sich die materielle Ku
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German Pages 468 [470] Year 2020
Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungen der verwendeten Corpora
Konkurrenz und Institutionalisierung. Neue Perspektiven auf die griechische Archaik (Jan B. Meister / Gunnar Seelentag)
Geltungskonkurrenz zwischen Praktiken des Prestigeerwerbs als Problem des archaischen ‚Adels‘ (Jan B. Meister)
Das Kartell. Ein Modell soziopolitischer Organisation in der griechischen Archaik (Gunnar Seelentag)
Die relativ Besten grenzen sich ab. Aristokratisierung durch die Aufhebung des Wettbewerbs im archaischen Griechenland (Christoph Ulf)
Zwischen stasis und eunomia. Banketthäuser und soziale Gruppenbildung im archaischen Griechenland (Erich Kistler)
Schlüsselmonopole oder Governance-Funktionen? Alternative Annäherungen an Staatlichkeit griechischen Archaik (Christoph Lundgreen)
Das mittelalterliche Island und die griechische Archaik. Grenzen und Perspektiven eines diachronen Vergleichs (Peter Zeller)
Die Institutionalisierung elitärer Konkurrenz in der homerischen Volksversammlung (Stefan Frass)
Dorische Wurzeln oder Kennzeichen der Stammesgesellschaft? Das Aufkommen und die Verbreitung von Ältestenräten in der archaischen Zeit (Fabian Schulz)
Intellektuelle Konkurrenz und kanonisierte Weisheit. Konkurrenz-Diskurse im politischen Denken der archaischen Zeit (Tanja Itgenshorst)
Epinikien als pragmatischer Ausdruck institutionalisierter Konkurrenz (Claas Lattmann)
Widerstreitende Kräfte. Zu Konkurrenz und Institutionalisierung im archaischen Griechenland (Winfried Schmitz)
Konkurrenzverhalten und Institutionalisierungsprozesse in den westgriechischen Kolonien (Nadin Burkhardt)
Vom Prachtgefäß zum Riesentempel. Archaische Kolossalwerke als Mittel der Konkurrenz (Klaus Junker)
Von improvisierten Wettbewerben zu institutionalisierten Festspielen. Die Entwicklung sportlicher Agone im archaischen Griechenland (Arlette Neumann-Hartmann)
Kampfplätze der Konkurrenz. Felder und Foren aristokratischer Konkurrenz im archaischen Griechenland (Elke Stein-Hölkeskamp)
Stellenregister
Ortsregister
Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik Alte Geschichte Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von Jan B. Meister und Gunnar Seelentag
Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik Herausgegeben von Jan B. Meister und Gunnar Seelentag
Franz Steiner Verlag
Mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Umschlagabbildung: New Yorker Kouros, ca. 590–580 v. Chr., Attika, 194 cm, Naxischer Marmor © The Metropolitan Museum of Art (Invent.-Nr. 32.11.1), New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12505-5 (Print) ISBN 978-3-515-12510-9 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungen der verwendeten Corpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jan B. Meister / Gunnar Seelentag Konkurrenz und Institutionalisierung Neue Perspektiven auf die griechische Archaik
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Jan B. Meister Geltungskonkurrenz zwischen Praktiken des Prestigeerwerbs als Problem des archaischen ‚Adels‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Gunnar Seelentag Das Kartell Ein Modell soziopolitischer Organisation in der griechischen Archaik
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Christoph Ulf Die relativ Besten grenzen sich ab Aristokratisierung durch die Aufhebung des Wettbewerbs im archaischen Griechenland
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Erich Kistler Zwischen stasis und eunomia Banketthäuser und soziale Gruppenbildung im archaischen Griechenland
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Christoph Lundgreen Schlüsselmonopole oder Governance-Funktionen? Alternative Annäherungen an Staatlichkeit in der griechischen Archaik
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Inhaltsverzeichnis
Peter Zeller Das mittelalterliche Island und die griechische Archaik Grenzen und Perspektiven eines diachronen Vergleichs
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Stefan Fras Die Institutionalisierung elitärer Konkurrenz in der homerischen Volksversammlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Fabian Schulz Dorische Wurzeln oder Kennzeichen der Stammesgesellschaft? Das Aufkommen und die Verbreitung von Ältestenräten in der archaischen Zeit
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Tanja Itgenshorst Intellektuelle Konkurrenz und kanonisierte Weisheit Konkurrenz-Diskurse im politischen Denken der archaischen Zeit
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Claas Lattmann Epinikien als pragmatischer Ausdruck institutionalisierter Konkurrenz . . . . . . . . . . 287 Winfried Schmitz Widerstreitende Kräfte Zu Konkurrenz und Institutionalisierung im archaischen Griechenland
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Nadin Burkhardt Konkurrenzverhalten und Institutionalisierungsprozesse in den westgriechischen Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Klaus Junker Vom Prachtgefäß zum Riesentempel Archaische Kolossalwerke als Mittel der Konkurrenz
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Arlette Neumann-Hartmann Von improvisierten Wettbewerben zu institutionalisierten Festspielen Die Entwicklung sportlicher Agone im archaischen Griechenland
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Elke Stein-Hölkeskamp Kampfplätze der Konkurrenz Felder und Foren aristokratischer Konkurrenz im archaischen Griechenland
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Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines regen wissenschaftlichen Austauschs unter Vertretern der deutschsprachigen Archaikforschung im Rahmen des von der DFG geförderten Wissenschaftlichen Netzwerks „Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik“. Über den Zeitraum von drei Jahren fanden regelmäßig Arbeitstreffen statt, bei denen sowohl die theoretischen Konzepte wie auch die einzelnen Teilprojekte des Netzwerks intensiv diskutiert wurden. Der Dank der Herausgeber geht daher vor allem an die DFG, deren großzügige Förderung diese Kooperation überhaupt erst ermöglichte und die auch einen Druckkostenzuschuss zu dem vorliegenden Band beisteuerte. Neben den festen Mitgliedern des Netzwerks wurden die einzelnen Arbeitstreffen immer wieder durch externe Experten bereichert, von deren Impulsen die Diskussionen erheblich profitierten. Unser Dank gilt hier, neben Winfried Schmitz (Bonn) und Christoph Ulf (Innsbruck), die auch als Beiträger an diesem Band mitgewirkt haben, vor allem Karl-Joachim Hölkeskamp (Köln), Christian Körner (Bern), Michael Sommer (Oldenburg) und Uwe Walter (Bielefeld). Martin Mohr (Zürich) musste das Netzwerk leider vor Projektende verlassen, für seine zahlreichen Impulse während der ersten Arbeitstreffen sei ihm aber an dieser Stelle nochmals explizit gedankt. Die Humboldt-Universität zu Berlin und die Universität Rostock stellten die Räumlichkeiten und die Infrastruktur für die verschiedenen Arbeitstreffen und Tagungen zur Verfügung. Für die mühsame Arbeit des Korrekturlesens und die akribische Hilfe bei der Endredaktion sei Konstantin Krieter (Rostock) und Michael Stadler (Bern) herzlich gedankt. Jan Meister und Gunnar Seelentag Bern und Hannover im Januar 2020
Abkürzungen der verwendeten Corpora Bourguet 1932 CEG CID DGE Diels DK FGrH Gagarin/Perlman 2016 GDI 5653 Gemelli Gentili/Prato HGIÜ ICret IED IG IGA
Bourguet, Émile 1932. Fouilles de Delphes III: Épigraphie, fasc. 5: Les comptes du IVe s., Paris. Hansen, Peter A. 1983. Carmina Epigraphica Graeca Saeculorum VIII–V a.Chr. n., Berlin. Corpus des inscriptions de Delphes 1977–2002. 4 Bde., Paris. Eduard Schwyzer 1923. Dialectum Graecarum exempla epigraphica potiora, Leipzig (3. Aufl.). Diels, Hermann 1901. Poetarum philosophorum fragmenta, Berlin. Diels, Hermann / Walther Kranz 1952–1964. Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1–3, Zürich und Berlin (6. Aufl.). Jacoby, Felix 1923–1958. Die Fragmente der griechischen Historiker, 15 Bde., Berlin. Gagarin, Michael / Paula Perlman 2016. The Laws of Ancient Crete, c. 650–400 BCE, Oxford. Collitz, Hermann / Friedrich Bechtel 1884–1915. Sammlung der griechischen Dialekt-Inschriften. 4 Bde., Göttingen. Gemelli Marciano, M. Laura (2007–2010) Die Vorsokratiker, Bd. 1–3, Düsseldorf. Gentili, Bruno / Carlo Prato 1988/2008. Poetarum elegiacorum testimonia et fragmenta. 2. Bde, Leipzig und Berlin (2. Aufl.). Brodersen, Kai / Wolfgang Günther / Hatto H. Schmitt 1992. Historische griechische Inschriften in Übersetzung, Bd. 1: Die archaische und klassische Zeit, Darmstadt. Guarducci, Margherita 1935–1950. Inscriptiones Creticae, 4 Bde., Rom. Minon, Sophie 2007. Les inscriptions éléennes dialectales (VIe–IIe siècle avant J.-C.), Genf. Inscriptiones Graecae 1873–, Berlin. Röhl, Hermann 1882. Inscriptiones Graecae Antiquissimae, Berlin.
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Abkürzungen der verwendeten Corpora
Dittenberger, Wilhelm / Karl Purgold 1896. Inschriften von Olympia, Berlin. Koerner 1993 Koerner, Reinhard 1993. Inschriftliche Gesetzestexte der frühen griechischen Polis. Aus dem Nachlass herausgegeben von Klaus Hallof, Köln etc. Leão/Rhodes Leão, Delfim F. / Peter J. Rhodes 2015. The Laws of Solon. A New Edition with Introduction, Translation and Commentary, London und New York. Lobel/Page Lobel, Edgar / Denys Lionel Page 1955. Poetarum Lesbiorum fragmenta, Oxford. LSAG Jeffery, Lilian Hamilton 1990. The Local Scripts of Archaic Greece. A Study of the Origin of the Greek Alphabet and its Development from the Eighth to the Fifth Centuries B. C., Oxford (2. Aufl.). LSCG Sokolowski, Franciszek 1969. Lois sacrées des cités grecques, Paris. Mansfeld Mansfeld, Jaap / Oliver Primavesi 2011. Die Vorsokratiker. Erweiterte Neuausgabe, Stuttgart. Meiggs/Lewis 1969 Meiggs, Russell / David Lewis 1969. A Selection of Greek Historical Inscriptions to the End of the Fifth Century BC, Oxford. IMilet 1.3 Rehm, Albert 1914. Die Inschriften, in: Georg Kawerau / Albert Rehm (Hrsg.) Milet. Ergebnisse der Ausgrabungen und Untersuchungen seit dem Jahre 1899. Bd. 1.3: Das Delphinion in Milet, Berlin, 162–406. NIO Siewert, Peter / Hans Taeuber 2013. Neue Inschriften von Olympia. Die ab 1896 veröffentlichten Texte, Wien. Nomima Van Effenterre, Henri / Françoise Ruzé 1994–1995. Nomima. Recueil d’inscriptions politiques et juridiques de l’archaïsme, 2 Bde., Rom. Ruschenbusch Ruschenbusch, Eberhard 1966. ΣΟΛΩΝΟΣ ΝΟΜΟΙ. Die Fragmente des solonischen Gesetzeswerkes mit einer Text- und Überlieferungsgeschichte, Wiesbaden. SEG Supplementum Epigraphicum Graecum 1923–, Leiden und Amsterdam. Syll.3 Dittenberger, Wilhelm (et al.) 1915–1924, Sylloge inscriptionum Graecarum. 4 Bde., Leipzig (3. Aufl.). Voigt Voigt, Eva-Maria 1971. Fragmenta. Sappho et Alcaeus, Amsterdam. West West, Martin L. 1989–1992. Iambi et elegi Graeci. 2 Bde., Oxford (2. Aufl.). Wöhrle Wöhrle, Georg (mit Beiträgen von Oliver Overwien) 2012. Die Milesier: Anaximander und Anaximenes, Berlin.
Konkurrenz und Institutionalisierung Neue Perspektiven auf die griechische Archaik Jan B. Meister / Gunnar Seelentag Zwei zentrale Paradigmen prägten und prägen die Sicht der Forschung auf das archaische Griechenland ganz wesentlich. Das eine ist die Konzeptualisierung der polis als ‚Staat‘ und daraus abgeleitet das große Narrativ einer ‚Staatsentstehung‘ in archaischer Zeit. Das zweite ist die Beschreibung der archaischen Gesellschaft als einer von einem ausgeprägten Wettbewerbsdenken beherrschten Kultur. Jacob Burckhardt prägte hierfür den Begriff des ‚Agonalen‘ – eine den archaischen Griechen, insbesondere dem griechischen ‚Adel‘, eigene Disposition, die in dieser Form weitgehend einzigartig gewesen sei. Die hier versammelten Ausätze sind das Ergebnis einer dreijährigen Kooperation im Rahmen eines von der DFG geförderten wissenschaftlichen Netzwerks. Das Ziel dieses Netzwerks war es, just jene traditionellen Paradigmen zu hinterfragen und neue Perspektiven auf die griechische Archaik zu eröffnen. Denn beide Paradigmen – ‚Staatsentstehung‘ wie auch das ‚Agonale‘ – sind problematisch: Der Fokus auf den Staat birgt nicht nur die Gefahr, unreflektiert anachronistische Vorstellungen auf die Antike zu übertragen,1 er verengt vor allem den Blick, indem nur die polis und dort nur die im modernen Sinne ‚politischen‘ Institutionen betrachtet werden. Weiterfüh1
Sehr skeptisch zur Verwendung des Staatsbegriffs für die Antike ist Winterling 2014. Anders argumentiert Walter 1998, der davor warnt, mit einer exklusiven Reservierung des Staatsbegriffs auf die Moderne die erheblichen Differenzen innerhalb der Vormoderne pauschal einzuebnen. Der Beitrag von Christoph Lundgreen in diesem Band, der unterschiedliche Grade von ‚Staatlichkeit‘ untersucht, trägt diesem Problem Rechnung; vgl. auch Lundgreen 2014. Das Operieren mit ‚Staatlichkeit‘ bedingt jedoch eine erhebliche Neudefinition und Abstraktion des alltäglichen Staatsbegriffs (der zugleich zur ‚Staatlichkeit‘ adjektiviert und damit als Begriff eben doch verabschiedet wird) oder aber eine klare Definition des Begriffs, wie sie etwa Dreher 1983, 9 f. vornimmt, die ihn analytisch operabel macht, dabei aber typisch moderne Konzeptionen wie die, dass „der Staat als eigener Funktionsbereich analytisch von dem der Gesellschaft unterscheidbar ist“ (ebd. 9), auf die Antike überträgt; das kann heuristisch sinnvoll sein (etwa in Bezug auf den in der Archaik zu beobachtenden doch sehr unterschiedlichen Grad an Institutionalisierung, der mit ‚vorstaatlich‘ und ‚staatlich‘ klar kategorisierbar wird), gleichzeitig birgt ein solches Vorgehen aber auch die Ge-
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Jan B. Meister / Gunnar Seelentag
render sind hier neoevolutionistische Modelle von Staatsentstehung, die zwischen big man-Gesellschaften, nach Rang gegliederten chiefdoms und early states mit stratifizierter Adelsgesellschaft unterscheiden. Doch auch diese Modelle sind, trotz ihres unzweifelhaften heuristischen Nutzens, nicht ohne Probleme, wenn sie auf das archaische Griechenland bezogen werden. Denn der ‚Staat‘ erscheint hier primär als ein Herrschaftsinstrument, das notwendig wird, sobald sich eine stratifizierte Adelsgesellschaft ausbildet, um die auf Ungleichheit basierende Gesellschaftsordnung zu stabilisieren und das ‚Oben-Sein‘ des Adels institutionell abzusichern. Das Modell orientiert sich an frühen Hochkulturen mit monarchischen Reichsbildungen – also dem globalgeschichtlichen Regelfall –, lässt sich aber nur bedingt auf die griechischen poleis übertragen, deren Regelungen oft nicht auf Herrschaftssicherung, sondern auf Herrschaftsvermeidung zu zielen scheinen.2 Rezipiert werden diese Modelle daher vor allem für die ‚Dark Ages‘ und die ‚homerische Gesellschaft‘.3 Für die Zeit danach ist dagegen die Versuchung groß, die ‚Staatsentstehung‘ in der Archaik in mehr oder minder expliziter Analogie zur europäischen Neuzeit zu konzeptualisieren, mit der revolutionären Überwindung eines ancien régime und dem demokratischen Athen als telos der Entwicklung. Auch das ‚Agonale‘ – das zweite große Forschungsparadigma – ist nicht ohne Probleme. Die Vorstellung eines zweckfreien Wettbewerbs um seiner selbst willen trägt deutliche Züge antimodernistischer Ideologisierung: Man sah in den archaischen Griechen nicht nur das edle Gegenstück zu den von schnöder Gewinnsucht getriebenen Oligarchen der klassischen Zeit, sondern auch eine eigentliche Antithese zum liberalen Kapitalismus der Moderne. Das ‚Agonale‘ der Griechen war der ‚gute‘, von materieller Gewinnsucht befreite Wettbewerb – das Ideal des ‚Bildungsbürgers‘ in Abgrenzung zum ‚Wirtschaftsbürger‘.4 Gleichzeitig entzieht sich das ‚Agonale‘ durch die behauptete Exzeptionalität jeglicher Vergleichbarkeit und suggeriert, dass es sich dabei um eine den Griechen quasi-natürlich eingegebene Disposition handele, aus der heraus man zwar vieles erklären könne, die selbst aber ein unerklärliches Mysterium bleiben müsse. Durch die vor allem im deutschen Sprachgebrauch geläufige Unterscheidung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ lassen sich die beiden Paradigmen zu einem besonders suggestiven Narrativ verbinden: Die agonale, meist panhellenisch gedachte (Adels-)Gesellschaft und die entstehenden ‚Staaten‘ können als getrennte, ja gar antagonistische Entwicklungen gesehen werden. Überspitzt formuliert ergibt sich daraus das folgende
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fahr, gerade die Singularität antiker politischer Institutionen, wo stark ausdifferenzierte ‚staatliche‘ Ämter mit gesellschaftlicher Ehre einhergingen, zu verunklären (dazu Winterling 2014, 253–255). Vgl. hierzu etwa die Arbeiten von van der Vliet 2005; van der Vliet 2008; van der Vliet 2011. Vgl. u. a. Hall 2007, 119–144; Kistler/Ulf 2005; Rose 2012, 56–92; Ulf 1990. Hierzu v. a. Ulf 2011; vgl. Burckhardt 1999; Ulf 2006 und Weiler 2006.
Konkurrenz und Institutionalisierung
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Schema: Der vorstaatliche, panhellenische Adel mit seiner agonalen Kultur wird von den entstehenden poleis eingehegt und gezähmt, aus den ritterlichen ‚Aristokraten‘ werden ‚Bürger‘ oder nach materiellem Gewinn strebende ‚Oligarchen‘, gleichzeitig wird ‚die‘ griechische Gesellschaft durch die Herausbildung der kleinräumigen Polisstaaten fragmentiert; damit verliert sich eine panhellenische (tendenziell als ‚aristokratisch‘ konzipierte) Offenheit der Frühzeit in lokal begrenzter Kleinstaatlichkeit der beginnenden Klassik.5 Die Phänomene, die diesen Narrativen zugrunde liegen, und ihre Bedeutung sind nicht zu leugnen: Diverse Studien der letzten Jahre haben das kompetitive Verhalten insbesondere der archaischen Eliten erneut deutlich hervorgehoben,6 und dass zwischen dem 8. und dem 5. Jahrhundert etwa mit der bewussten Satzung von Recht, der Etablierung jährlich wechselnder Magistraturen, aber auch der Ausbildung der panhellenischen Agone und der periodos auf vielen Ebenen Institutionalisierungsprozesse zu beobachten sind, steht außer Frage.7 Doch der Blick auf diese Phänomene unter den Paradigmen des ‚Staats‘ und des ‚Agonalen‘ bleibt defizitär und führt zu einer ganzen Reihe von Folgeproblemen, die am schwammigen, teils stark normativ aufgeladenen Charakter der Begriffe liegen. Daher soll im Folgenden mit den analytischen Kategorien Konkurrenz und Institutionalisierung gearbeitet werden. Diese beiden Kategorien bieten mehrere Vorteile: Das soziologische Konzept von Konkurrenz, wie es von Georg Simmel entwickelt wurde, fragt nach Akteuren und den sozialen Bedingungen von kompetitivem Verhalten, versteht also Konkurrenz nicht als eine naturgegebene Disposition, sondern als eine sozial eingebettete und sozial zu erklärende Praxis. Ähnliches gilt für Institutionen, die ebenfalls nicht als abstrakte Entitäten zu denken sind, sondern, wie etwa Peter Berger und Thomas Luckmann argumentierten, als eine Form der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Dabei kommt nicht nur das labile und prozesshafte Moment von Institutionen deutlicher zum Tragen; ein so verstandener Institutionenbegriff ermöglicht es auch, Praktiken in den Blick zu nehmen, die bei dem traditionellen Staatsparadigma außen vor bleiben: Verhaltensregeln bei Banketten, Normierungen von Praktiken bei der Grablege und dem Aufstellen von Weihgeschenken oder aber die Institutionalisierung panhellenischer Agone. Die abstrakten Kategorien Konkurrenz und Institutionalisierung machen es damit möglich, archäolo-
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Wenn auch überspitzt, so ist dieses Narrativ doch zentral für den im doppelten Sinne epochenmachenden Aufsatz von Heuß 1946, der die Archaik als historische Epoche zu definieren suchte, gleichzeitig aber auch mit den hier zugespitzt referierten Denkfiguren die ‚Meistererzählung‘ über diese Epoche nachhaltig prägte. Hierzu demnächst auch Meister (im Druck). So ist die „culture de l’agon“ zentral für den Ansatz von Duplouy 2006, und Fisher/van Wees 2011 heben die generelle Bedeutung von „competition“ als Triebfeder historischer Entwicklungen hervor, wobei Griechenland in dem Sammelband erheblichen Raum einnimmt. Vgl. etwa programmatisch Hölkeskamp 2003 sowie jüngst in einer detaillierten Studie zu Kreta Seelentag 2015.
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gische, epigraphische und literarische Quellen mit einem einheitlichen Analyseraster zu untersuchen, gleichzeitig sind beide Kategorien direkt aufeinander bezogen: Denn Konkurrenz im Sinne Simmels ist ohne Institutionalisierung nicht denkbar – anders als bei der direkten Konfrontation zweier Gegner wetteifern Konkurrenten im Rahmen gemeinsam akzeptierter ‚Spielregeln‘, (re)produzieren also, indem sie konkurrieren, eine institutionelle Ordnung, bestehend aus ebendiesen ‚Spielregeln‘. Damit stellt sich die Frage nach dem Konnex von Konkurrenz und Institutionalisierung in ganz neuer Weise und ermöglicht es, neue Modelle und Fragen an die Archaik und das disparate Quellenmaterial heranzutragen. Im Folgenden sollen daher beide Kategorien vorgestellt werden, um anschließend ein darauf aufbauendes Frageraster für die griechische Archaik zu entwickeln. Abschließend soll dann ein kurzer Überblick geboten werden, wie diese Fragen in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes fruchtbar gemacht werden. Konkurrenz Das Konkurrenzmodell des Soziologen Georg Simmel genießt seit einigen Jahren in den Altertumswissenschaften Konjunktur und hat sich als heuristisch besonders wertvoll erwiesen.8 Simmel definierte Konkurrenz als eine Sonderform des „Kampfes“.9 Konkurrenz sei, so Simmel, ein indirekter Kampf, bei dem die Vernichtung des Gegners nicht das eigentliche Ziel darstelle.10 Ziel sei vielmehr das Erringen der Gunst einer Dritten Instanz, die den Siegespreis vergebe. Das schließe die Vernichtung des Gegners zwar nicht aus, diese sei aber höchstens „Mittel“, nicht „Zweck“.11 Ein lebensweltliches Beispiel aus der Gegenwart mag dies illustrieren: Bei politischen Wahlen kann man einen Rivalen zwar mit einer Schmutzkampagne moralisch vernichten, aber gewonnen hat man damit per se noch nichts – im Gegenteil, einseitige Negativkampagnen können auch zum Bumerang werden und die eigenen Wahlchancen bei der Dritten Instanz, in diesem Fall den Wählern, schmälern. Andererseits gibt es auch Konkur8
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Hervorzuheben sind hier insbesondere die Arbeiten von K.-J. Hölkeskamp, der das Konzept Simmels für die römische Republik fruchtbar machte, vgl. insbesondere Hölkeskamp 2006 (= Hölkeskamp 2017, 123–162) sowie Hölkeskamp 2014; ferner Nebelin 2014 sowie den kritischen Forschungsüberblick bei Künzer 2016, 61–71; Künzer 2016 selbst bietet, mit direkter Bezugnahme auf Hölkeskamp und Simmel, eine Untersuchung zur senatorischen Konkurrenz in der frühen Kaiserzeit. Zur Anwendung des Simmel’schen Konzepts auf das klassische Athen s. Stein-Hölkeskamp 2014. Simmel publizierte die Abhandlung erstmals 1903 (= Simmel 1995) und dann unter Weglassung der einleitenden Passage und der Degradierung des letzten Abschnitts zu einer Fußnote nochmals wortgleich als Teil des Kapitels „Der Streit“ in der 1908 erschienen „Soziologie“ (= Simmel 1992, 323–349). Simmel 1992, 323. Simmel 1992, 324.
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renz, bei welcher der Gegner gar nicht geschädigt wird – etwa bei einem Wettlauf, wo alle auf dasselbe Ziel zusteuern. Hier strebt, so Simmel, „jeder Bewerber für sich auf das Ziel zu(…), ohne eine Kraft auf den Gegner zu verwenden“; kühn zieht Simmel dann den Vergleich zu Kaufleuten und Missionaren, die auf ganz ähnliche Weise ohne sich direkt anzugreifen um Kunden und Gläubige konkurrierten und sich so gegenseitig zu Höchstleistungen antrieben.12 Konkurrenz führe damit zu einer Wertsteigerung. Davon profitiere in erster Linie die Dritte Instanz, aber unter Umständen auch die unterlegenen Konkurrenten, da das gemeinsame Ziel mit der bestmöglichen Leistung zum Nutzen aller erreicht werde.13 Mit dem Gedanken, dass Konkurrenz in Hinblick auf das Gesamtsystem wertsteigernd sei, steht Simmel in einer langen Tradition liberalen Denkens. Die eigentliche Innovation seines Ansatzes liegt denn auch andernorts, nämlich in der Feststellung der soziologischen Dimension von Konkurrenz: Durch die triadische Struktur von Konkurrenz – also die Dreiecksbeziehung zwischen dem einzelnen Konkurrenten zu seinen Mitbewerbern einerseits und der Dritten Instanz andererseits – kommt ihr eine vergesellschaftende Wirkung zu. Simmel spricht von der „ungeheuren synthetischen Kraft“, die Konkurrenz entfalten kann, weil sie – mit Blick auf die Gunst der Dritten Instanz, die es zu erringen gelte – eben primär eine „Konkurrenz um den Menschen ist, ein Ringen um Beifall und Aufwendung, um Einräumungen und Hingebungen jeder Art, ein Ringen der Wenigen um die Vielen wie der Vielen um die Wenigen; kurz, ein Verweben von tausend soziologischen Fäden durch die Konzentrierung des Bewusstseins auf das Wollen und Fühlen und Denken der Mitmenschen, durch die Adaptierung der Anbietenden an die Nachfragenden, durch die raffiniert vervielfältigten Möglichkeiten, Verbindungen und Gunst zu gewinnen.“14 Konkurrenten und Dritte Instanz sind also aufeinander bezogen: Die Erwartungshaltung der Dritten Instanz werde aufgegriffen und bestimme das Handeln der Konkurrenten, welche die Gunst dieser Dritten Instanz gewinnen wollen; gleichzeitig verbinde diese Ausrichtung auf die Dritte Instanz die Konkurrenten untereinander, da sie (anders als im direkten Kampf) nach gemeinsamen Regeln konkurrieren und ihre Leistung den von der Dritten Instanz vorgegebenen Bewertungskriterien unterwerfen. Die Herausbildung solcher Regeln und Bewertungskriterien sei bereits eine Form von Institutionalisierung – Konkurrenz und Institutionalisierung seien also nicht getrennt zu denken.
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Simmel 1992, 324. Simmel 1992, 324 f.; Simmel (ebd. 324) präsentiert das Beispiel der Belagerung Maltas durch die Türken 1565: Dabei konkurrierten die verteidigenden Ritter des Malteserordens darum, wer am tapfersten Widerstand leiste, was Simmel als „echte Konkurrenz“ und als „sehr reines Beispiel“ bezeichnet, da der „Erfolg sich auch auf den Besiegten erstreckt“, da er dem gemeinsamen Ziel dient (ebd. 324 f. – die „Besiegten“ sind freilich die im Tapferkeitswettkampf unterlegenen Malteser, nicht die in der Folge des Wettkampfs getöteten Türken). Simmel 1992, 328.
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Der für Simmels Modell so zentrale Fokus auf die Dritte Instanz ist jedoch nicht ohne Probleme. Denn so überzeugend dieses Modell etwa bei der Konkurrenz von Kandidaten um die Gunst von Wählern oder von Kaufleuten um Kunden ist, so gibt es doch auch Formen der Konkurrenz, bei denen eine Dritte Instanz, in deren Hand der Siegespreis liegt, nicht ohne weiteres zu erkennen ist – weder in Simmels Beispiel des Wettrennens, noch in der Konkurrenz der Ritter des Malteserordens darüber, wer die Insel am tapfersten gegen die Türken verteidigte, ist die triadische Struktur der Konkurrenz unmittelbar ersichtlich. Zwar ist in beiden Fällen die Bedingung des indirekten Kampfes erfüllt – sogar in besonders „reiner Form“, wie Simmel hervorhebt, da in beiden Fällen eine Schädigung des Gegners als Mittel der Konkurrenz ausgeschlossen sei –, doch eine von den Konkurrenten unabhängige Dritte Instanz spielt keine Rolle, denn der Siegespreis liegt in diesem Fall nicht in der Hand einer Dritten Instanz, sondern besteht einzig in der relativen Platzierung des Siegers im Vergleich zu den Mitbewerbern. Theodor Geiger hat – ohne direkt auf Simmel Bezug zu nehmen – in solchen Fällen zwischen „Aneignungs-“ und „Distanzierungskonkurrenz“ unterschieden.15 Während der erste Fall die Konkurrenz um ein knappes Gut beschreibt, geht es bei der Distanzierungskonkurrenz um die Platzierung innerhalb des Felds der Konkurrenten – der Preis, um den konkurriert wird, ist also nicht ein Gut in der Hand Dritter, sondern besteht allein in der relativen Distanzierung der Konkurrenten. Bei Simmel, dessen Modell stark an der Wirtschaftskonkurrenz – dem typischen Fall von Geigers „Aneignungskonkurrenz“ – orientiert ist, bleibt dieser Aspekt unterbelichtet, doch gerade bei den für die Archaik (wie generell für die Vormoderne) besonders interessanten Fällen von Prestigekonkurrenz und demonstrativem Konsum, handelt es sich eher um „Distanzierungskonkurrenz“ im Sinne Geigers. Die Differenz zum Simmel’schen Model ist jedoch nicht absolut. Denn Geiger betont, dass Distanzierungskonkurrenz primär für die Konkurrenten selbst bedeutsam sei – Sammler von Briefmarken, Meerschaumpfeifen und Silberknöpfen, so Geiger, können sich durch die Größe ihrer Sammlung nur unter den Leuten Ansehen erwerben, die dieselben Objekte sammeln, also den unmittelbaren Konkurrenten, die sie distanzieren.16 Von dieser nur auf die Konkurrenten bezogenen Distanzierungskonkurrenz hebt Geiger die „Rang- und Prestigekonkurrenz“ als Sonderform ab. Bei ihr geht es zwar ebenfalls um die relative Distanzierung der Konkurrenz, doch ist hier die „Bewertung durch das soziale Umfeld“ beziehungsweise „die öffentliche Meinung“ ein zentraler Faktor, der bei den Meerschaumpfeifensammlern fehle.17 Geiger spricht daher von einer „Distanzierungskonkurrenz mit öffentlichen Ambitionen“.18 Als „Öffentlichkeit“, die durch ihr Interesse an der Distan15 16 17 18
Geiger 2012, 21–23. Geiger 2012, 29 f. Geiger 2012, 29–32; Zitat: 31. Geiger 2012, 29.
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zierungskonkurrenz anderer dem Sieger Ansehen über den Kreis der Konkurrenten hinaus vermittele, ist Simmels Dritte Instanz also auch in diesem Modell vorhanden, allerdings in einer weitgehend passiven Zuschauerrolle. Die Frage nach einer „Öffentlichkeit“, die aus der idiosynkratrischen Distanzierungskonkurrenz eine sozial relevante Prestigekonkurrenz werden lässt, ist auch von ganz anderer Seite an das Simmel’sche Modell herangetragen worden. Tobias Werron hat – unabhängig von Geigers Überlegungen – unlängst eine Würdigung und Weiterentwicklung des Simmel’schen Konkurrenzmodells unternommen.19 Auch er stellte die Rolle der Dritten Instanz ins Zentrum seiner Überlegungen, denn während diese Dritte Instanz in persönlichen Nahbeziehungen klar zu benennen sei, bleibe sie in den „gröberen, sozusagen öffentlichen Fällen“ diffus – und genau hier setzen Werrons Überlegungen an. Er argumentiert, dass auch in Fällen, wo kein konkretes Publikum auszumachen sei, doch zumindest die Unterstellung eines Publikums für das Funktionieren öffentlicher Konkurrenz eine zwingende Voraussetzung darstelle: Es sei die gemeinsame Vorstellung der Konkurrenten von einer „Öffentlichkeit“, die ihre Leistung beurteile, die den „seelischen Konnex“ zwischen den Konkurrenten herstelle und zur Verständigung über die Regeln und Kriterien der Konkurrenz führe.20 Das Publikum bestehe also nicht aus real anwesenden Menschen, sondern sei eine abstrakt imaginierte Öffentlichkeit und die Konkurrenten verhalten sich so, wie sie erwarten, dass es der Erwartungshaltung dieser Öffentlichkeit entspreche. „In den öffentlichen Formen der Konkurrenz“, so Werron, „erscheint der Dritte daher nicht länger als ein nur Leistungen empfangender, von den Konkurrenten umworbener Teil der Dreiecksbeziehung, sondern als ein Informations- und Evaluationszentrum, ohne das die Konkurrenten buchstäblich nicht wissen könnten, dass und worum sie konkurrieren.“21 Die Denkfigur einer „Öffentlichkeit“ hat jedoch noch eine weitere Implikation, die Werron als „mediensoziologisch“ betitelt: Moderne Massenmedien, die abbilden, was als öffentlichkeitsrelevant angesehen wird, ermöglichen öffentliche Konkurrenz auch unter Abwesenden. Die Vergleichbarkeit ihrer Leistung wird durch Medien in der Öffentlichkeit hergestellt und so können räumliche wie zeitliche Distanzen überbrückt werden: Ein Läufer misst sich in direkter (Distanzierungs-)Konkurrenz mit seinen anwesenden Mitläufern, konkurriert aber gleichzeitig mit abwesenden Läufern vergangener (und zukünftiger) Zeiten um den Bahnrekord.22 Das Konzept einer umfassenden „Öffentlichkeit“ lässt sich zwar nicht ohne weiteres auf die Antike übertragen, von Massenmedien ganz zu schweigen,23 doch dass Konkurrenten ihre Handlungen 19 20 21 22 23
Werron 2011. Werron 2011, spez. 239–246. Werron 2011, 245. Werron 2011, 252–255. Werron stützt sich auf eine systemtheoretische Definition von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung, wie sie konzise bei Luhmann (2000) dargelegt wurde. Luhmann definierte die öffentliche Meinung als „Beobachtung der Beobachtung […] von innergesellschaftlichen Systemgren-
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auf das unterstellte Urteil eines imaginierten „Publikums“ hin ausrichten und dabei die Vergleichbarkeit mit Konkurrenten an anderen Orten und zu anderen Zeiten mitbedenken, ist als Handlungsmodus – etwa beim Aufstellen von Weihgeschenken in Heiligtümern oder dem Errichten prestigeträchtiger Bauten – auch antiken Akteuren keineswegs fremd. Dennoch sind einige grundsätzliche Warnungen angezeigt, wenn man das Simmel’sche Modell der Konkurrenz und die darauf aufbauenden theoretischen Erweiterungen einfach auf die Antike überträgt. Denn Simmel selbst sah Konkurrenz als eine typische Form der Vergesellschaftung in der modernen Welt. Sein Ausgangspunkt ist „die moderne Konkurrenz, die man als Kampf Aller gegen Alle kennzeichnet“, die aber, so Simmel, „zugleich ein Kampf Aller um Alle“ sei.24 Diese gemeinschaftsstiftende Wirkung sieht Simmel als dominierendes Prinzip der Vergesellschaftung seiner eigenen Gegenwart, in der „die enge und naive Solidarität primitiver und sozialer Verfassungen der Dezentralisation gewichen“ sei.25 Es sei das Schwinden „historischer Normen“, die früher diverse Lebensbereiche vorbestimmt hätten, die das Ausbreiten des Liberalismus weit über die Wirtschaftsbeziehungen hinaus in alle Bereiche des Lebens überhaupt erst ermöglicht hätte.26 Dies gilt es im Auge zu behalten: Simmels Konkurrenzmodell beschreibt ein Phänomen der Moderne. Die Frage, was diese ‚Moderne‘ genau auszeichnet, ist jedoch nie gänzlich vom Standpunkt des Betrachters – in diesem Falle Simmels persönlicher Erfahrung27 – zu trennen. Die Dichotomie zwischen
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zen“ (ebd. 284), das heißt autopoietisch geschlossene Systeme wie Wirtschaft oder Politik beobachten aus der Logik ihres eigenen Systems heraus, was andere Systeme an ihnen beobachten, und können folglich ihre (für diese „Öffentlichkeit“ gedachten) Operationen an der Erwartungshaltung des Beobachtetwerdens ausrichten. Diese für die „Öffentlichkeit“ gedachten Operationen orientieren sich also an einer „öffentlichen Meinung“, die nicht aus der Eigenlogik des jeweiligen Systems heraus zu erklären ist, aber auch keine eigene Entität darstellt, sondern als Modus des gegenseitigen Beobachtens und den daraus resultierenden Erwartungshaltungen zu verstehen ist. Für die volle Entfaltung der „öffentlichen Meinung“ ist daher die komplexe moderne Gesellschaftsstruktur mit ausdifferenzierten Funktionssystemen und Massenmedien, die das gegenseitige Beobachten medial ermöglichen, notwendig (und in der Tat fehlt für die Antike ein ähnlich umfassender Begriff wie „öffentliche Meinung“ weitestgehend), dennoch spielt die Orientierung an der Meinung anderer und die Sorge um den eigenen Ruf selbstverständlich zu allen Zeiten eine Rolle, und in kleinräumigeren und tendenziell deutlich stärker personenbezogenen Kontexten lassen sich ähnliche Phänomene auch in der Vormoderne beobachten; dazu knapp auch Luhmann 2000, 274 ff. Simmel 1992, 328 (Hervorhebung JM). Simmel 1992, 328. Simmel 1992, 329. Simmels lebensweltliche Erfahrung in ‚seiner‘ Moderne ist hier mit zu beachten: Der entfesselte Kapitalismus sowie Individualisierung und Rationalisierung sind bei ihm wie bei seinen Zeitgenossen zentrale Momente der Moderne, bei Simmel kommt jedoch hinzu, dass er selbst – anders als etwa Max Weber oder Werner Sombart – akademisch lange Zeit nicht reüssierte und bei Berufungen übergangen wurde. Der Erfolg seines Wirkens beim Publikum, also bei der ‚Dritten Instanz‘, war jedoch enorm. Dies mag sehr wohl erklären, weshalb Simmel einen schärferen analytischen Blick auf das Phänomen Konkurrenz entwickelte als seine Kollegen und gleichzeitig die
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‚Moderne‘ und ‚Vormoderne‘ sollte daher bei der Beschäftigung mit Konkurrenz nicht zu starr gesehen werden. Denn es ist keineswegs auszuschließen, dass sich ähnliche Phänomene auch in der Antike finden, die als das „uns nächste Fremde“ teilweise erstaunlich ‚modern‘ wirkt. Gerade in der überaus dynamischen Archaik, in der wohl auch zahlreiche „historische Normen“ in Frage gestellt wurden, finden sich durchaus Rahmenbedingungen, die das Entstehen von Konkurrenz analog zur Moderne hätten begünstigen können. Doch ein Modell, das zur Beschreibung eines als ‚typisch modern‘ empfundenen Phänomens entwickelt wurde, birgt immer die Gefahr, auf die Antike angewandt, diese moderner zu machen, als sie tatsächlich war. Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, den Blick nicht nur auf Konkurrenz zu richten, sondern auch auf die Mechanismen, die Simmel unter den Stichworten „Verzicht auf Konkurrenz“ und „Einschränkung bestimmter Mittel von Konkurrenz“ behandelt.28 Denn Konkurrenz ist an sich etwas Labiles. Die Konkurrenten schädigen sich tendenziell, während die Dritte Instanz entweder direkt profitiert oder zumindest als Referenzgruppe eine herausgehobene Stellung einnimmt. Es steht daher immer die Option im Raum, dass sich die Konkurrenten untereinander verständigen. Simmel sieht hier drei mögliche Optionen: erstens das Modell der Zunft, bei dem eine „mechanische Gleichheit der Teile“ angestrebt wird – Produktion und Gewinnverteilung sind nach einem strikten Gleichheitsprinzip reglementiert und Konkurrenz wird „durch alle Mittel“ niedergehalten.29 Die zweite Option ist die Verständigung über den Verzicht auf gewisse Praktiken der Konkurrenz, ohne aber die Konkurrenz als solche aufzuheben.30 Die Extremform dieses Verzichts ist – als dritte Option – das Kartell, durch das Konkurrenz gänzlich aufgehoben wird, wobei die Dritte Instanz (aus der wirtschaftlichen Logik des Modells heraus gedacht: die Konsumenten) die Kosten des Konkurrenzverzichts zu tragen haben.31 Die Ähnlichkeit dieses Kartells zur Zunft liegt auf der Hand. Simmel sieht den Unterschied auch weniger in der Sache selbst als vielmehr im „soziologischen Sinn“ begründet, der einmal auf Gleichheit ziele, das andere Mal dagegen rein zweckrational den Konkurrenzverzicht bis zur vollständigen Beherrschung des Marktes und der Aufhebung der Konkurrenz treibe.32 Der Unterschied liegt also primär in der auf ‚ständische‘ Gleichheit zielenden Motivation der
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Exklusionsmechanismen und die Solidarität von Konkurrenten untereinander ausblendete beziehungsweise als ‚nicht moderne‘ Form der Vergemeinschaftung ausklammerte; vgl. Verheyen 2013. Simmel 1992, 336–342. Simmel 1992, 339 f. Simmel 1992, 340–342. Simmel 1992, 342. Simmel 1992, 342. Simmel betont, dass die Zunft den Individuen die Selbständigkeit belässt und sich alle nach dem Prinzip der „mechanischen Gleichheit“ an der Leistung des Schwächsten orientieren, während bei der Kartellierung „nicht die Lage der Subjekte, sondern die objektive Zweckmäßigkeit des Betriebs der Ausgangspunkt“ sei – Simmel sieht dementsprechend (anders als bei der Zunft) beim Kartell die Option, dass die Konkurrenten ihre Selbständigkeit aufgeben und sich zu einem einzigen marktbeherrschenden Betrieb zusammenschließen.
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Zunft gegenüber der organisatorischen Rationalität des Kartells; das Ergebnis jedoch ist in beiden Fällen vergleichbar, weshalb im Folgenden die Simmel’sche Unterscheidungen aufgegeben werden und nur von ‚Kartell‘ gesprochen werden soll, wobei die Möglichkeit einer ständisch bedingten Motivation der Akteure stets zu bedenken ist. Denn anders als beim Terminus ‚Zunft‘, kann beim Kartell auch nach dem Prozess der ‚Kartellierung‘ gefragt werden – als idealtypisches Handlungsmuster birgt der Begriff also ein höheres analytisches Potential. Auf solche Handlungsmuster zu achten, ist zentral, denn dass Reduktion von Konkurrenz und Kartellierung Mechanismen waren, die in der Antike häufiger auftraten als in der von Simmel untersuchten Moderne, ist anzunehmen. Simmels Modell mag hier den Blick dafür schärfen, dass eine solche Reduktion von Konkurrenz nicht zwingend im Sinne der Gesamtgesellschaft sein muss, sondern primär zum Wohl der Konkurrenten und zu Lasten der Dritten Instanz ausfallen mag. Gerade in Hinblick auf Prestigekonkurrenz kann man eine idealtypische Aristokratie sehr gut als Prestige-Kartell imaginieren, bei dem die Konkurrenten auf jegliche Form von Distanzierungskonkurrenz verzichten und allen potentiellen Konkurrenten einen gleichen Anteil an Ehre zugestehen, dieses Ehrkartell aber letztlich auf Kosten des demos errichten, der als ehrende Dritte Instanz nun nicht mehr aktiv von einzelnen Akteuren umworben werden muss. Simmels Unterscheidung von Zunft und Kartell, die primär in der Motivation der Akteure – einem ständischen Gleichheitsgedanken beziehungsweise einer objektiven Zweckrationalität – begründet liegt, führt zu einem weiteren wichtigen Punkt: Konkurrenz als Wettbewerb um die Gunst Dritter hängt bei Simmel auch mit einer spezifisch modernen Einstellung zum Individuum und zur Moral und damit einer typisch ‚modernen‘ Form des Denkens zusammen. Denn das Sich-Messen in einer Konkurrenzsituation erzwinge automatisch eine Objektivierung des Verfahrens. Das führe dazu, dass man die Vernichtung des Konkurrenten als moralisch unbedenklich in Kauf nehme, da er erstens nicht direkt, sondern indirekt geschädigt werde und er zweitens völlig objektiv selbst die Schuld trage, da er nicht dieselbe Leistung wie der Sieger zu erbringen vermocht habe.33 Gleichzeitig zähle allein die individuelle Leistung ohne Rücksicht auf die dahinterstehende Person – moralische, aber auch soziale Kriterien, an denen das Handeln von Akteuren gemessen wird, werden damit außer Kraft gesetzt und zugunsten eines Leistungsprimats objektiviert. Darin sieht Simmel einen der „entscheidenden Züge des modernen Daseins“.34 Auch das gilt es bei der Frage nach Konkurrenz in der Archaik im Auge zu behalten: Inwiefern ist ein reines Leistungsprinzip mit antiken Moralvorstellungen zu vereinbaren, und was passiert, wenn objektive Leistung und zugeschriebenes Prestige im Widerspruch stehen? Denkbar ist auch eine – tendenziell typisch ‚vormoderne‘ – Mischform von Konkurrenz, in der
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Simmel 1992, 342–349. Simmel 1992, 349.
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zwar eine objektivierte Konkurrenz stattfindet, aber das Feld möglicher Konkurrenten eingeschränkt ist, da nur eine beschränkte Zahl an Personen als ‚satisfaktionsfähige‘ Konkurrenten angesehen werden. Wenn man mit Geiger Prestigekonkurrenz als „Distanzierungskonkurrenz mit öffentlichen Ambitionen“ versteht, so ist allerdings auch klar, dass die Frage nach der ‚Satisfaktionsfähigkeit‘ potentieller Konkurrenten – wenn es nicht um gesellschaftlich irrelevante Konkurrenz wie das Sammeln von Meerschaumpfeifen geht – nicht allein von den Konkurrenten bestimmt wird, sondern auch von der sie beobachtenden ‚Öffentlichkeit‘ oder zumindest der dieser ‚Öffentlichkeit‘ unterstellten Erwartungshaltung. Gerade im archaischen Griechenland, wo Öffentlichkeit noch stärker an physische Anwesenheit gekoppelt war als in der Moderne, ist daher auch zu überlegen, inwieweit in verschiedenen Kontexten mit jeweils verschiedenen Öffentlichkeiten (beziehungsweise einem jeweils anders gearteten realen oder imaginierten ‚Publikum‘) zu rechnen ist, sich also die Modi der Konkurrenz, die Frage nach der Satisfaktionsfähigkeit und dem Spannungsverhältnis zwischen Leistung und Ansehen der Person je nach dem, in welchem Forum der Konkurrenz man sich bewegte, ganz anders stellen konnten. Institutionalisierung Da Konkurrenz ein Handlungsmodus ist, bei dem sich die Akteure auf Regeln und objektive Kriterien der Vergleichbarkeit einlassen – sei es durch die direkte Ausrichtung auf eine real anwesende Dritte Instanz, sei es in der gemeinsamen Erwartungshaltung, von einer nicht direkt anwesenden Öffentlichkeit beobachtet zu werden –, weist jede Handlung im Modus der Konkurrenz bereits Elemente von Institutionalisierung auf. Das Konzept von ‚Institutionalisierung‘ kann sehr weit gefasst werden. Peter Berger und Thomas Luckmann etwa sahen Institutionalisierung gegeben, „sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden.“35 Institutionen werden damit als Teil der conditio humana gesehen und aus ihr heraus erklärt. Denn der „ungerichtete Instinktapparat des Menschen“ führe dazu, dass ihm, anders als Tieren, eine schier unendliche Vielzahl an Handlungsoptionen offenstehe. Habitualisierung, das heiße die gewohnheitsmäßige Festlegung auf ein bestimmtes Handlungsmuster, „befreit den Einzelnen von der ‚Bürde der Entscheidung‘ und sorgt 35
Berger/Luckmann 1980, 58. Der Ansatz von Berger und Luckmann, Institutionen anthropologisch herzuleiten aus der Idee, dass beim Menschen Gewohnheit das ersetzt, was bei Tieren die Instinkte sind, steht in einer längeren Forschungstradition, bei der v. a. Gehlen 1986 (erstmals 1956) hervorzuheben wäre, dessen Fokus auf (in einem sehr allgemeinen Sinne verstanden) ‚archaische‘ Institutionen wie Kulte und Mythen ihn gerade auch für die griechische Archaik anschlussfähig erscheinen lassen. Generell zum Institutionenbegriff in der Soziologie s. auch Esser 2000; zur Institutionentheorie in der Geschichtswissenschaft s. Blänkner 1994 mit einem Überblick zur älteren Forschung.
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für psychologische Entlastung“.36 „Institutionalisierung“ sehen Berger und Luckmann freilich erst gegeben, wenn diese habitualisierten Handlungen über den einzelnen Akteur hinaus „typisiert“ werden, das heißt, von einer größeren Gruppe als erwartbare Typen von Handlungen wahrgenommen werden, die mit bestimmten Typen von Handelnden in Verbindung stehen, oder, wie Berger und Luckmann es formulierten: „Institution postuliert, daß Handlungen des Typus X von Handelnden des Typus X ausgeführt werden.“37 Konkurrenz ist damit eindeutig eine Institution: Typisierung ist zwingende Voraussetzung dafür, dass die Konkurrenten als Handelnde eines bestimmten Typs und damit auch ihre Handlungen als vergleichbar angesehen werden – eine Grundvoraussetzung, ohne die objektive Konkurrenz schlicht nicht möglich ist. Diese sehr allgemeine Definition von Institutionen ist hilfreich, um den Fokus auf Institutionalisierungsprozesse zu richten, die mit einem ‚härteren‘ Institutionenbegriff oder gar dem Paradigma des ‚Staates‘ gar nicht erst in den Blick geraten. Das Konzept von Institutionalisierung bietet jedoch noch wesentlich mehr, denn Institution ist nicht gleich Institution. So sehen Berger und Luckmann deutliche Unterschiede im Grad der Objektivierung und Versachlichung von Institutionen: Institutionen, die ad hoc in der Interaktion zwischen zwei oder mehreren Akteuren entstehen, verändern sich in ihrer Qualität, wenn sie an die nächste Generation weitergegeben werden. Denn damit löse sich die Institution von den Akteuren, die sie kreiert haben, und werde „objektiviert“, das heißt, unabhängig von konkreten Akteuren als versachlichte Wirklichkeit mit einer eigenen Geschichte konzeptualisiert: „Institutionen sind nun etwas, das seine eigene Wirklichkeit hat, eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteht.“38 Damit werden Sinnkonstruktionen zur Legitimierung von Institutionen notwendig und dadurch bedingt Typen von Wissen und Wissensvermittlern, die diese Sinnkonstruktionen und die in Institutionen objektivierte Erfahrung als Tradition weitervermitteln können; ferner können bestimmte Rollen im Rahmen von Institutionen versachlicht und damit als losgelöst von den sie bekleidenden Personen gedacht werden.39 Zwar bleiben Institutionen stets an konkrete Akteure rückgebunden, in deren Handlungen sie jeweils aktualisiert werden, doch je stärker Institutionen objektiviert sind, desto stärker werden sie als eine dem menschlichen Handeln entzogene überpersonelle Entität begriffen. Die entscheidende Frage sei, so Berger und Luckmann, ob den Akteuren „bewußt bleibt, daß die gesellschaftliche Welt, wie auch immer objektiviert, von Menschen gemacht ist – und deshalb neu von ihnen gemacht werden kann.“40 „Objektivation“ ist also ein kontinuierlicher Prozess, an dessen Ende die „Verdinglichung“ von Institutionen stehe – sie
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Berger/Luckmann 1980, 57. Berger/Luckmann 1980, 58. Berger/Luckmann 1980, 62. Vgl. allgemein Berger/Luckmann 1980, 56–83. Berger/Luckmann 1980, 95.
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wird als „äußerste[r] Schritt des Prozesses der Objektivation“ verstanden, „durch den die objektivierte Welt ihre Begreifbarkeit als eines menschlichen Unterfangens verliert und als außermenschlich, als nicht humanisierbare, starre Faktizität fixiert wird.“41 Eine „verdinglichte“ Institution zeichne sich also dadurch aus, dass sie als nicht hinterfragund veränderbar angesehen wird: Sie wird als dem menschlichen Handeln entzogen und als unveränderbar gegeben imaginiert. Für die Frage nach Institutionalisierung(en) im archaischen Griechenland scheinen drei Aspekte heuristisch besonders wertvoll. Erstens machen Berger und Luckmann deutlich, dass Institutionalisierung als gradueller Prozess zu sehen ist, der von einfachen Typisierungen von Handlungen und Akteuren bis hin zur Verdinglichung umfassender Wirklichkeitskonstruktionen und Weltdeutungen mit unveränderbaren Regeln und starren Rollenerwartungen reichen kann. Das ermöglicht es, einerseits eine Vielzahl von Institutionen in den Blick zu nehmen (und damit die oben monierte Engführung durch den Staatsbegriff zu überwinden), gleichzeitig ermöglicht es das Modell aber auch, Institutionen untereinander klar zu differenzieren: Zentral ist hierbei neben der Frage, wie stark objektiviert eine Institution ist, auch die Frage, wie weit ihr Geltungsanspruch reicht: Handelt es sich um eine Institution, die für die gesamte Gesellschaft Relevanz besitzt, oder um eine begrenzte „Subsinnwelt“, die keine totale Geltung beansprucht, sondern in Konkurrenz zu anderen „Subsinnwelten“ steht?42 Zweitens können Institutionen, da Wissensvermittlung und Traditionsbildung integraler Bestandteil ihrer Existenz sind, Traditionen bewahren und in Kontexte überführen, in denen ihre ursprüngliche Funktion längst verloren gegangen ist. Institutionen bieten daher Anschlusspotential für Fragen nach Kontinuität und Wandel oder nach der Pfadabhängigkeit von Entwicklungen. Drittens kann das Konzept von Institutionalisierung den Blick für die Labilität von Institutionen schärfen. Denn Institutionalisierung ist keine Einbahnstraße: „Entinstitutionalisierung“43 ist ebenso denkbar wie eine „Entverdinglichung“ von Institutionen – die Umstände, die das begünstigen, umfassen, so Berger und Luckmann, nebst dem gänzlichen Zusammenbruch institutioneller Ordnungen, den Kontakt mit anderen Kulturen (und damit alternativen Weltdeutungen) sowie allgemein das Erfahren gesellschaftlicher Grenzsituationen.44 Für die Archaik als ein von Wandel und Kulturkontakten geprägtes „Age of Experiment“ ist das eine nicht unwichtige Perspektive.
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Berger/Luckmann 1980, 94–98; Zitat: 95. Berger/Luckmann 1980, 84–94. Die Autoren formulieren hierbei ein (idealtypisch überspitzes) Modell, bei dem einfache Gesellschaften zu einer „totalen“ Institution tendieren, bei der alle Probleme und Tätigkeiten gemeinschaftlich und institutionalisiert sind, während komplexere Gesellschaften sich durch eine zunehmende Ausdifferenzierung rollenspezifischer Problemlösungen und rollenspezifischen Wissens auszeichnen (ebd. 84 f.). Berger/Luckmann 1980, 86. Berger/Luckmann 1980, 98.
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Der anthropologisch hergeleitete Institutionenbegriff von Berger und Luckmann führt zu einem entsprechend allgemein gehaltenen Frageraster, was den großen Vorteil hat, dass man sehr viele Formen von Institutionalisierung in den Blick nehmen kann. Für stärker ‚verdinglichte‘ Institutionen empfiehlt es sich jedoch, das Konzept weiter zu verfeinern. Hierzu bietet sich der Ansatz des Soziologen Karl-Siegbert Rehberg an, dessen „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“ auch maßgebend den Dresdener SFB zu „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ prägte. Rehberg definierte Institutionen idealtypisch als „Sozialregulationen“, „in denen die Prinzipien und Geltungsansprüche einer Ordnung symbolisch zum Ausdruck gebracht werden.“45 Institutionen seien dabei als „Handlungsordnungen“ zu verstehen, die Handlungsorientierungen und Sinngebung zu vermitteln und zu stabilisieren suchen und dies unter einem der Institution eigenen Gesamtsinn – Rehberg spricht von der „institutionellen Leitidee“ – vereinigen und durch entsprechende Symbolisierungssysteme zum Ausdruck bringen. Institutionen seien daher nicht mit Handlungen von Akteuren identisch, werden aber erst durch diese Handlungen aktualisiert und wirksam. Eine zentrale Frage ist daher, „wie Motivationspotentiale und Selbstdeutungsangebote tatsächlich in Handlungskonzepte übersetzt werden.“46 Daraus ergibt sich – trotz eines letztlich sehr ähnlichen Ansatzes – ein enger gefasster Institutionenbegriff, als er bei Berger und Luckmann zugrunde liegt, indem nämlich „das Institutionelle an einer Ordnung“ als „die symbolische Verkörperung ihrer Geltungsansprüche“ definiert wird.47 Während bei Berger und Luckmann wechselseitige Typisierungen von Handlungsmustern und Akteuren ausreichen, um „Institutionen“ zu bilden, geht es bei Rehberg also sehr viel konkreter um die Symbolisierung von Geltungsansprüchen. Dieser Ansatz erlaubt es, den generalisierten Begriff der „Verdinglichung“ von Institutionen analytisch präziser zu fassen: Der Grad der Verdinglichung zeigt sich demnach in Geltungsansprüchen von Institutionen und ihrer Symbolisierung; damit eröffnen sich einige weiterführende Perspektiven. So hebt Rehberg hervor, dass Geltungsansprüche sich darin äußern, dass Institutionen ihre „Eigengültigkeit“ durchzusetzen suchen, also eine Autonomie beanspruchen, die sich nicht nur in einer Eigenlogik, sondern auch in einer „Eigenzeitlichkeit“ äußere (so tendieren Institutionen zu einer Enthistorisierung ihrer selbst im Sinne einer Ausblendung der eigenen Geschichte, um so die Illusion von Dauer und Ewigkeit zu erzeugen).48 Symbole, die institutionelle Ordnungen verkörpern, haben daher eine transzendentale Komponente, indem sie auf ein das Alltägliche transzendierendes Prinzip verweisen:49 So ist das
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Rehberg 1994, 56. Rehberg 1994, 56. Rehberg 1994, 57. Rehberg 1994, bes. 74. Rehberg 1994, 57–63 und bes. zur Transzendenz 63–65. Speziell zur Repräsentation institutioneller Ordnungen durch Präsenzsymbole s. auch Rehberg 2001.
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Weiße Haus nicht bloß der Amtssitz des amerikanischen Präsidenten, sondern das gebaute Symbol des Präsidentenamts als solchem, ebenso wie ein König das abstrakte, über seine eigene Lebenszeit hinausreichende Prinzip der Monarchie verkörpert oder die athenische Volksversammlung nicht bloß eine Ansammlung von Bürgern ist, sondern den Anspruch hat, die polis Athen als überzeitliche Institution zu repräsentieren. Symbole können daher nicht nur konkrete Dinge und architektonische Strukturen, sondern auch Personen und Rollen sein. Die Macht von Institutionen, das hebt Rehberg besonders hervor, beruhe dabei ganz wesentlich darauf, dass Geltungsansprüche nicht angefochten werden,50 also auf einem Ausschalten von alternativen Handlungskonzepten und Leitideen. Die Frage nach der (überzeitlichen, „transzendenten“) Symbolisierung und Durchsetzung von Geltungsansprüchen ist daher untrennbar mit der Wirkmächtigkeit von Institutionen verbunden und sollte, wenn immer möglich, mitberücksichtigt werden. Dies ist vor allem deshalb interessant, weil Rehberg „Geltungskonkurrenz“, also oligopolistische oder dualistische Machtstrukturen mit jeweils eigenen Institutionen, Leitideen und Symbolen als „entscheidende Quelle für die Dynamik der in Europa entwickelten Rationalisierungsprozesse“ ansieht.51 Rehberg dachte bei dieser Institutionenkonkurrenz, die durch das wechselseitige Hinterfragen von Geltungsansprüchen zu einer Rationalisierung führe, an den „klassischen“ Dualismus von Papst- und Kaisertum im europäischen Mittelalter – doch in der polyzentrischen Welt der griechischen poleis, die auch schon als „Heterarchie“ bezeichnet wurde,52 lassen sich ähnliche Tendenzen beobachten. Konkurrenz und Institutionalisierung – Fragen und Perspektiven auf das archaische Griechenland Institutionalisierung und Konkurrenz gemeinsam in den Blick zu nehmen, eröffnet drei Fragehorizonte. Diese ließen sich bezeichnen als ‚Institutionalisierung durch Konkurrenz‘, ‚Institutionalisierung gegen Konkurrenz‘ und ‚Institutionenkonkurrenz‘ – alle drei scheinen für die Archaik erhebliches heuristisches Potential zu haben. Viele Detailfragen, die mit den Konzepten Konkurrenz und Institutionalisierung in Verbindung stehen, sind oben bereits erläutert worden und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Im Folgenden sollen lediglich die drei Fragehorizonte umrissen werden, die sich aus der Verbindung der beiden Kategorien ergeben und die vielen Beiträgen in diesem Band zugrunde liegen: 50 51 52
Rehberg 1994, 70–73. Zu Transzendenz und konkurrierenden Geltungsansprüchen s. auch die konzeptionellen Überlegungen bei Dreischer/Lundgreen/Scholz/Schulz 2013. Rehberg 1994, 74–76, Zitat: 76. Vgl. Ehrenreich/Crumley/Levy 1995; van der Vliet 2008, 201–203.
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1. Institutionalisierung durch Konkurrenz: Konkurrenz und Institutionalisierung sind eng verwoben. Konkurrenz im Sinne Simmels (und der entsprechenden Weiterentwicklungen seines Ansatzes) führt zwangsläufig dazu, dass sich Konkurrenten an gemeinsamen Normen orientieren. Sei es, dass diese durch die Interessen einer Dritten Instanz vorgegeben sind, sei es, dass es sich um ein möglicherweise nur imaginiertes ‚Publikum‘ handelt, dessen unterstellte Erwartungshaltung aber für alle Konkurrenten verbindlich und handlungsleitend wird. Die Fragen, wie ausgeprägt diese Normen sind, die die Regeln der Konkurrenz bestimmen, wie sie symbolisiert werden und wie weit ihre Geltung reicht, sind allesamt eine Untersuchung wert. Insbesondere die Orientierung an einer nicht klar zu erkennenden Öffentlichkeit deutet dabei auf einen hohen Grad an Institutionalisierung hin: Anders als bei einer physisch anwesenden Dritten Instanz reicht in diesem Fall die antizipierende Erwartungshaltung, beobachtet und beurteilt zu werden, um sich auf einen bestimmten Modus der Konkurrenz und entsprechende Regeln einzulassen. Wenn man dabei noch eine Vergleichbarkeit mit abwesenden Konkurrenten, etwa aus früheren Zeiten oder bereits in Hinblick auf spätere Generationen anstrebt, so ist auch das Moment der Enthistorisierung gegeben, weil man einen gleichbleibenden Bewertungsmaßstab für vergangene und künftige Leistungen implizit voraussetzt, also eine überzeitliche Dauer des institutionellen Normengefüges, das die Konkurrenz prägt, unterstellt. Dabei wäre zu fragen, wie diese Illusion der Zeitlosigkeit sich zu dem tatsächlichen historischen Wandel verhält; folglich, wie mit Veränderungen umgegangen wird: ob man sich nun gegen Impulse, die von außen an die Institutionen herangetragen werden, verschließt, ob man sie integriert oder ob eine institutionelle Ordnung durch zu abrupten Wandel kollabiert. 2. Institutionalisierung gegen Konkurrenz: Wie bereits angesprochen, ist in der Archaik tendenziell deutlich stärker als in der Moderne mit Mechanismen zur Unterbindung von Konkurrenz zu rechnen. Institutionen können daher auch entstehen, um kompetitives Verhalten zu reduzieren oder im Sinne eines Kartells Kooperation und den Verzicht auf bestimmte – im idealtypischen Fall alle – Praktiken der Konkurrenz sicherzustellen. Simmels Modell hilft dabei, den Blick auf die Akteure und ihre Motivationen zu richten, insbesondere in Hinblick darauf, dass ein Kartell zwar für die Konkurrenten als Gruppe Vorteile bringt, aber nach dem idealtypischen Modell zulasten einer Dritten Instanz geht. Dabei muss der einzelne Konkurrent jedoch bereit sein, zugunsten einer Kooperation mit seinen Mitkonkurrenten auf individuelle Gewinnmaximierung zu verzichten. Hinsichtlich der Institutionen wäre hier zu fragen, durch welche symbolisierten Geltungsansprüche das normkonforme Verhalten der potentiellen Konkurrenten garantiert wird, damit niemand zur eigenen Gewinnmaximierung aus dem Kartell ausschert, aber auch wie die Geltung der Ordnung gegenüber der benachteiligten Dritten Instanz durchgesetzt werden kann. Generell müsste man eine symbolische Absicherung der Gesellschaftsordnung über ‚transzendentale‘ Prinzipien wie Geburt oder göttliche Legitimation beobachten können, während das der
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Konkurrenz eigene Prinzip objektiver Leistung unter Beobachtung eines kritisch vergleichenden Publikums wenig oder keine Bedeutung besitzt. 3. Institutionenkonkurrenz: Wie Institutionen mit konkurrierenden Geltungsansprüchen umgehen, ist eine ganz zentrale Frage. Berger und Luckmann sehen im Kontakt mit alternativen Weltdeutungen einen Faktor, der zur „Entverdinglichung“ von Institutionen (also zum Bewusstmachen der menschlichen Verfügbarkeit über institutionelle Ordnungen und Normen) beitragen kann, und Rehberg sieht institutionelle Geltungskonkurrenz als eine Triebfeder für Rationalisierungsprozesse, die sich aus dem Hinterfragen absolut gesetzter Geltungsbehauptungen ergeben. Die rationalisierenden Argumentationen vorsokratischer Denker, die „anti-aristokratische“ Kritik griechischer Lyriker53 oder schließlich das „Könnensbewusstsein“ des fünften Jahrhunderts54 lassen sich gegebenenfalls unter dieser Perspektive in einen größeren strukturellen Zusammenhang konkurrierender Institutionen und Geltungsansprüche verorten. *** In den einzelnen Beiträgen werden diese Fragenkomplexe unterschiedlich umgesetzt. Der Themenkreis „Institutionenkonkurrenz“ steht im Zentrum von Jan Meisters Beitrag zu „Geltungskonkurrenz zwischen Praktiken des Prestigeerwerbs als Problem des archaischen ‚Adels‘“. Ausgangspunkt ist die häufig konstatierte ‚agonale‘ Disposition griechischer Eliten. Wenn man allerdings von Simmels Konkurrenz-Modell ausgehe, so Meister, werde deutlich, dass die personae der archaischen Dichter keineswegs auf gleicher Ebene miteinander konkurrierten; es handele sich vielmehr um eine Geltungskonkurrenz zwischen verschiedenen Praktiken des Prestigeerwerbs, die verhinderte, dass sich ein einheitlicher ‚adliger‘ Wertehorizont entwickelte. Tatsächlich begegne uns in den zeitgenössischen Zeugnissen eine Vielzahl von Feldern der Konkurrenz, die allesamt geeignet schienen, ‚adelndes‘ Prestige zu vermitteln, und die eine Vielzahl von „Partiell-Besten“ hervorbrachten. Anhand der homerischen Epen sucht Meister zu zeigen, dass diese Situation dazu führte, dass man zu verhindern suchte, dass einzelne Akteure mit Sachfremden Prestige den objektiven Wettbewerb in den einzelnen Feldern hintertrieben. Dieses Tableau ist allerdings nicht statisch: Meister hält fest, dass diese Aktionsfelder und Foren des Wettbewerbs, deren prominenteste die polis und die ‚panhellenischen‘ Spiele waren, zunehmend institutionalisiert wurden und dass diese Prozesse der Institutionalisierung bis zum Ende der archaischen Zeit die Bedingungen der Konkurrenz verändert hatten: Gegenüber den ursprünglich vielgestalten, nicht hierarchisierten Praktiken des Prestigeerwerbs sei nun eine be-
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Donlan 1973. Meier 1980, 435–499.
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schränkte Zahl von relativ autonomen Feldern des Wettbewerbs für den Erwerb sozialer Prominenz etabliert und institutionell verbunden gewesen. Ein homogener adliger Wertehorizont sei damit zwar nicht geschaffen worden, doch habe der institutionelle Rahmen die Handlungsspielräume der einzelnen Akteure zunehmend eingeengt und es schwieriger gemacht, die Logiken anderer Felder von Konkurrenz kategorisch in Frage zu stellen. Gunnar Seelentag fokussiert auf „Institutionalisierung gegen Konkurrenz“. In seinem Beitrag „Das Kartell. Ein Modell soziopolitischer Organisation in der griechischen Archaik“ stellt er die Frage, welche Interessen die aus archaischen Zeugnissen rekonstruierbaren Modellakteure, die prinzipiell in Konkurrenz um begrenzte Güter standen, haben mochten, ihre Ressourcen in Kooperation miteinander ‚in die polis‘ zu investieren. Zur Erklärung entwirft er auf Grundlage der Figur des ‚Kartells‘ nach Georg Simmel und spieltheoretischer Überlegungen ein Modell, in welchem die Akteure auf gewisse Praktiken des Konkurrenzaustrags verzichteten und diese Übereinkunft durch Institutionalisierung abzusichern suchten. Da es den Eliten archaischer Zeit um eine stabile Machtausübung über sozial Unterlegene gegangen sei, hätten die durch Kartellbildung eingesparten Ressourcen die Möglichkeit geboten, die Gruppe der Kartellmitglieder durch diakritische Praktiken gegenüber den Nicht-Teilhabern zu konturieren und diese Trennlinie zu ideologisieren. Seelentag führt allerdings auch aus, dass die Akzeptanz einer solchen Kartellbildung erleichtert wurde, sofern die sozial Unterlegenen unter kontrollierten Bedingungen in den politischen Prozess integriert wurden und damit die Rolle einer Dritten Instanz einnahmen. Gleichzeitig seien Mechanismen ethischer Homogenisierung sowie Exklusion von größter Relevanz gewesen, um mit jenen umzugehen, welche für eine solche stets prekäre Kooperation nicht gewonnen werden konnten. Die institutionelle Eingrenzung von Konkurrenz als Modus der Stabilisierung von Eliten ist auch das Thema von Christoph Ulf in seinem Beitrag „Die relativ Besten grenzen sich ab. Aristokratisierung durch die Aufhebung des Wettbewerbs im archaischen Griechenland“. Ulf beginnt mit der Feststellung, dass das Modell einer Einwanderung ‚der Griechen‘ zugunsten der Vorstellung einer griechischen Ethnogenese längst und zu Recht aufgegeben worden sei. Dieser Wandel der Forschung werde maßgeblich gestützt von der Beobachtung der archäologischen Forschung, dass Siedlungen nach der submykenischen Zeit von völlig anderer Gestalt und Organisation gewesen seien als jene vor dieser Zeit. Für einige Jahrhunderte hätten Compounds, Streusiedlungen und verdichtete Siedlungsgemeinschaften mit oder ohne reservierter Platzanlage Seite an Seite existiert. Vor diesem Hintergrund erhalte das Paradigma einer Deutung der in den homerischen Epen reflektierten soziopolitischen Organisationsformen als big man-Gesellschaften weitere Plausibilität: Ähnlich der frühen Lyrik scheinen auch die Epen zahlreiche Phänomene des Wandels zur Zeit ihrer Entstehung abzubilden. Ulf macht plausibel, dass hier das Konzept der aggrandizers nach Brian Hayden großes Potenzial besitze. Mit ihm lasse sich die Tendenz der big men, der basileis und hegemones,
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im archaischen Griechenland herausstellen, sich von den Angehörigen des demos abzusetzen, indem sie die Intensität der sozialen Bande jenen gegenüber verminderten. Diese Entwicklung, welche die elitären Akteure mit der Perspektive betrieben hätten, eine eigenständige, von sozial Unterlegenen abgesetzte Gruppe zu bilden, sei einhergegangen mit der Beschränkung des zwischen big men eigentlich stark ausgeprägten Wettbewerbs. Diese Prozesse des sozialen Wandels, so hält Ulf fest, ließen sich treffend als ‚Aristokratisierung‘ beschreiben. Der von Ulf nachgezeichnete gesellschaftliche Wandel zeigt sich auch im archäologischen Befund. Dies argumentiert Erich Kistler seinem Beitrag „Zwischen stasis und eunomia. Banketthäuser und soziale Gruppenbildung im archaischen Griechenland“. Aus architektursoziologischer Perspektive untersucht er die Entstehung freistehender Banketthäuser in archaischer Zeit. Dabei sucht Kistler zu zeigen, dass diese Banketthäuser nicht bloß als neuer Gebäudetyp zu sehen seien, der für neuartige Formen der Kommensalität entwickelt wurde, sondern dass sie als permanenter architektonischer Rahmen mit der Formierung neuer sozialer Gruppen im Kontext der sich entwickelnden polis entstanden seien. Dabei sieht er ein Spannungsverhältnis, zwischen Banketthäusern, die als Kristallisationspunkte für segmentäre Hetairie- und Abstammungsgruppen dienten und damit eine Triebfeder für Konkurrenz, stasis und Tyrannen-Gefahr für die sich neu formierenden poleis darstellte, und Banketthäusern, die Zusammenkünfte der Gesamtpolis beherbergten und damit eunomia beförderten. Damit zeigt Kistler, wie die polis als institutioneller Garant der eunomia bemüht war, eine übergeordnete Geltung gegenüber anderen Institutionen wie eben den einzelnen Hetairie-Gruppen zu behaupten. Diese Thematik hängt eng mit dem zusammen, was traditionellerweise unter ‚Staatsentstehung‘ und ‚Staatlichkeit‘ gefasst wurde. Dass diese Kategorien nach wie vor heuristisches Potential besitzen und sich gut in den Kontext des Netzwerks einfügen lassen, zeigt Christoph Lundgreen. In seinem Beitrag „Schlüsselmonopole oder Governance-Funktionen? Alternative Annäherungen an Staatlichkeit in der griechischen Archaik“ analysiert er zwei konzeptionell unterschiedliche Ansätze, das Verhältnis von Wettbewerb, Monopol und Institutionalisierung in der griechischen Archaik näher zu fassen. Einer dieser Ansätze betrachtet „Schlüsselmonopole“ nach Norbert Elias, die ihm geeignet scheinen, sowohl die Prozesse einer Staatsentstehung wie auch die Figur eines „Wettbewerbs um den Monopolapparat“ für die Entstehung und Besetzung von Ämtern zu erklären. Der zweite Ansatz folgt den Spuren von Philipp Genschel und Bernhard Zangl, die den modernen Staat nicht als Monopolisten, sondern vielmehr als „Herrschaftsmanager“ betrachten und Interaktionen zwischen verschiedenen governance-Akteuren untersuchen. Lundgreen konstatiert, dass gerade letztere Herangehensweise für die griechische Archaik lohnend sei. Denn mit ihrer Hilfe ließen sich jene inschriftlichen Regeln der Archaik erklären, die reflektierten, dass jene Entität der polis Regeln zwar zentral beschlossen habe, in zahlreichen Fällen aber auf deren dezentrale Durchsetzung angewiesen gewesen sei; dass sie in gewissen Feldern diese aber
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selbst beansprucht habe, so etwa in Gesetzen zur Landverteilung und den Umständen von Begräbnissen. Lundgreens Analyse der Umstände von Konkurrenz in diesem Zusammenhang zeigt ferner, dass das Zusammenspiel verschiedener governance-Akteure als ein Nullsummenspiel wahrgenommen werden sollte: So sei etwa in inschriftlichen Regeln wie auch in der sophokleischen Antigone reflektiert, dass die Intensivierung der Akteurschaft der polis bei Begräbnisritualen einhergegangen sei mit einer Zurückdrängung der Familien oder Hausgemeinschaften auf diesem Feld. Zusammengenommen offenbarten beide Ansätze das heuristische Potenzial der Kategorien Konkurrenz und Institutionalisierung und böten eine einander ergänzende Annäherung an das Thema Staatlichkeit im archaischen Griechenland. Das Spannungsfeld von Konkurrenz und Institutionalisierung betrifft nicht nur das archaische Griechenland, sondern bietet sich an, um in ähnlich strukturierten Gesellschaften nach Parallelen zu suchen, sei es, um in der quellenarmen Archaik Entwicklungen per Analogieschluss zu plausibilisieren oder aber um gerade das Spezifische dieser Gesellschaft zu unterstreichen. Die mit einem solchen Vergleich verbunden Problematiken sind das Thema von Peter Zeller. In seinem Beitrag „Das mittelalterliche Island und die griechische Archaik. Grenzen und Perspektiven eines diachronen Vergleichs“ konstatiert er, dass eine der wesentlichen Herausforderungen beim Schreiben einer Geschichte des archaischen Griechenlands die relative Armut der Quellen dieser Zeit und der methodisch schwierige Umgang mit den uns zur Verfügung stehenden Zeugnissen sei. Dies sei einer der Gründe, weshalb Forscher seit den 1980er Jahren neue Wege einer Beschreibung und Analyse der Archaik beschritten hätten, etwa durch methodische Anleihen aus Disziplinen wie der Sozial- und Kulturanthropologie und durch den methodisch kontrollierten Blick auf vergleichbare Gesellschaften. In seinem Beitrag diskutiert Zeller zunächst ganz grundsätzlich die Möglichkeiten eines solchen interepochalen Kulturvergleichs, um sich dann den konkreten Perspektiven und Grenzen eines Vergleichs des früharchaischen Griechenlands mit dem mittelalterlichen Island zuzuwenden. Er hält fest, dass bei allen Herausforderungen rund um die wesentliche Quellengattung zur isländischen Freistaatzeit, die sogenannten Isländersagas, es keine andere Gesellschaft im vormodernen Europa gegeben habe, deren formative Phasen der soziopolitischen Organisation besser dokumentiert seien. Und so stellt sein Beitrag im Folgenden vor allem das Potential eines Vergleichs von isländischen Goden und früharchaischen basileis in den Mittelpunkt, wobei der Analyse des jeweiligen Spannungsfeldes von institutioneller und persönlicher Macht und der Art der Konkurrenzfelder und Handlungsräume der Akteure großes Gewicht zukommt. Stefan Fraß widmet sich in seinem Beitrag „Die Institutionalisierung elitärer Konkurrenz in der homerischen Volksversammlung“ ebenfalls der früharchaischen Zeit, wenn er nach dem spezifischen Wesen des politischen Raumes in den homerischen Epen fragt. Er geht von der Beobachtung aus, dass die in den Epen dargestellte homerische Gesellschaft die Funktionsweise und Relevanz ganz unterschiedlicher sozialer Institutionen differenziert darstelle, etwa der Führerrollen der individuellen basileis oder
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der unterschiedlich konturierten Ratstreffen von Gruppen dieser Basileis. Allerdings, so argumentiert Fraß, seien es nicht diese Institutionen der Anführer gewesen, die jene Entscheidungen trafen, welche für die gesamte Gemeinschaft der Griechen vor Troia oder etwa die Ithakesier in der Odyssee verbindlich gewesen seien. Stattdessen sei es die Versammlung der laoi beziehungsweise des demos gewesen, die homerische agora, welche als einzige der in den Epen reflektierten Institutionen als kompetent geschildert wird, solche die Allgemeinheit betreffenden und diese verpflichtenden Entscheidungen zu fällen. Zwar schilderten die Epen durchaus die Dominanz der basileis in den Versammlungen, aber eben nicht über jene. Denn wenn die Gruppe der basileis nicht vermochte, in der agora einen Konsens untereinander zu erzielen, hätten sich diese Anführer in durchaus kompetitiver Manier um die Gunst und Zustimmung des versammelten demos bemühen müssen. Und dies, so hält Fraß fest, lege nahe, dass die Gesamtheit der Teilnehmer der agora als die maßgebliche Institution politisch verbindlicher Entscheidungen in den Epen anzusehen sei. Damit lässt sich genau das beobachten, was wir als ‚Institutionalisierung durch Konkurrenz‘ bezeichnet haben: Indem sich die basileis auf den demos als Dritte Instanz ausrichten, lassen sie sich auf die in der agora geltenden Verhaltensregeln ein und tragen so zur Stabilisierung dieser politischen Institution bei. Fabian Schulz behandelt in seinem Beitrag „Dorische Wurzeln oder Kennzeichen der Stammesgesellschaft? Das Aufkommen und die Verbreitung von Ältestenräten in der archaischen Zeit“ eine andere, bereits in den Epen bezeugte politische Institution. Sein Interesse gilt der Entwicklung von Ratsorganen, in welchen das Überschreiten einer definierten Altersgrenze Voraussetzung für die Mitgliedschaft war. Für zwölf Polisgesellschaften, neben Athen vor allem in dorischen Gegenden, könne ein solcher Ältestenrat mit einiger Plausibilität nachgewiesen werden. In Abgrenzung von traditionellen Erklärungen hebt Schulz eine Reihe von strukturellen Faktoren hervor, welche das Entstehen solcher Institutionen begünstigt haben mögen. Zum einen sei dies die Versklavung eines breiten Segmentes einer Landbevölkerung gewesen, welche auf der Siegerseite selbst älteren Landinhabern wirtschaftliche Unabhängigkeit garantiert und damit auch deren politische Marginalisierung verhindert habe. Zum anderen sei dies die kriegerische Expansion von Polisgemeinschaften gewesen, welche eine Differenzierung der sozialen Rollen jüngerer und älterer Mitglieder der Gesellschaft notwendig gemacht habe. Zum dritten führt Schulz die Durchsetzung der Kampfesweise als Hopliten an, welche eine scharfe Trennlinie etabliert habe zwischen jenen, die hierfür körperlich in der Lage gewesen seien und jenen, auf die dies nicht länger zugetroffen sei. Und schließlich betont er, dass das Vorhandensein eines Systems von hierarchisch aufgebauten Altersklassen die Entstehung von Ältestenräten habe befördern können. In sieben der von ihm untersuchten Fälle beobachte er zumindest einen dieser Faktoren; in den fünf übrigen Fällen sei plausibel, dass die Institution des Ältestenrates von der Mutterstadt auf die Apoikie übertragen worden sei. Tanja Itgenshorst untersucht in ihrem Beitrag „Intellektuelle Konkurrenz und kanonisierte Weisheit. Konkurrenz-Diskurse im politischen Denken der archaischen
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Zeit“ den Wettbewerb zwischen politischen Denkern der archaischen Zeit. Sie stellt die Frage, ob dieser Wettbewerb in institutionalisierter Form ausgetragen worden sei, also die Form von Konkurrenz nach Simmel angenommen habe – was die Verbreitung politischer Ideen in dieser Zeit erklären könnte. Itgenshorst kommt allerdings zu dem Schluss, dass die uns überlieferten Anekdoten solcher ‚Weisheits-agone‘ erst in der kaiserzeitlichen Literatur zu finden seien und es sich bei ihnen um fiktionalisierte Rückprojektionen in die archaische Zeit handele. Autoren wie Plutarch und Diogenes Laertius, so betont Itgenshorst, sei es weniger darum gegangen, verschiedene Denker in einem Wettkampf gegeneinander antreten zu lassen, an dessen Ende ein klarer Sieger feststünde; stattdessen ließen sie eine Gruppe von weisen Männern gemeinsam auftreten, von denen jeder einen eigenen Anteil an der Weisheit (sophia) beanspruchen konnte. Diese in der Kaiserzeit konstruierten Weisheits-agone unterschieden sich, so hält Itgenshorst fest, also grundlegend von dem ‚ungeregelten‘ Wettstreit zwischen den historisch belegten Denkern der Archaik. Denn deren uns überlieferte Äußerungen reflektierten keineswegs die Einsicht, neben anderen einen jeweiligen Anteil an der Weisheit zu haben. Vielmehr hätten diese durchaus klar gegeneinander Position bezogen, um ihre eigenen Ideen durchzusetzen und ihren jeweiligen intellektuellen Primat zu betonen. Diese hochgradig kompetitive, aber nicht formalisierte Austragung der intellektuellen Auseinandersetzung habe zur ungemeinen Dynamik politischen Denkens in der griechischen Archaik beigetragen. Die eingangs formulierte Hypothese, dass konkurrierende Geltungsansprüche eine Rationalisierung des Denkens begünstigen, scheint hier eine Bestätigung zu finden. Die Tendenz von Institutionen zur ‚Enthistorisierung‘, die dazu führen kann, dass sich längst überholte Formen nicht an eine veränderte Umwelt adaptieren, bildet den heuristischen Ausgangspunkt für Claas Lattmanns Beitrag „Epinikien als pragmatischer Ausdruck institutionalisierter Konkurrenz“. Dabei argumentiert er, dass die Oden des Pindar und Bakchylides zu Ehren der Sieger in panhellenischen Agonen, obschon in frühklassischer Zeit entstanden, zentrale Merkmale des dynamischen Miteinanders von Institutionalisierung und Konkurrenz in archaischer Zeit reflektierten. Lattmann betont, dass es durch die saubere Trennung der intra- und der extratextuellen Ebenen dieser Lieder möglich sei, die ursprünglichen Praktiken einer Siegerehrung der früharchaischen Zeit zu rekonstruieren und in einem zweiten Schritt auf Grundlage der Texte die Institutionalisierung solcher Siegerehrungen bis in das 5. Jahrhundert nachzuzeichnen. Vor diesem Hintergrund kann der Beitrag etwa erklären, weshalb die höchst elaborierten Epinikien der frühklassischen Zeit vorgeben konnten, lediglich kunstlose Siegeslieder zu sein: Sie bewahrten in sich die ursprüngliche Ritualsemantik der archaischen Zeit, dies aber in einem nach der Institutionalisierung der panhellenischen Spiele vollkommen veränderten Aufführungskontext dieser Lieder. Zusammenfassend betont Lattmann, dass die Entwicklung der Epinikiendichtung bei der Institutionalisierung der athletischen Agonistik aus Konkurrenzpraktiken der griechischen Eliten heraus eine wesentliche und komplexe Rolle spielte: Gestalt und
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Inhalte der Lieder wurden geformt von den Praktiken der athletischen Wettbewerbe und gaben ihrerseits maßgebliche Impulse für die soziopolitische Anerkennung und Ausdeutung athletischer Erfolge. Winfried Schmitz betont in seinem Beitrag „Widerstreitende Kräfte. Zu Konkurrenz und Institutionalisierung im archaischen Griechenland“, dass es für die Eliten des frühen Griechenlands kennzeichnend gewesen sei, sich fortwährend in ihrer Ehre zu messen, sei es im sportlichen Agon, bei der Übernahme von Ämtern oder auch im Krieg. Doch obschon diesen Wettkampfsituationen durchaus objektive Kriterien zugrunde lagen, hätten die Unterlegenen diese Spielregeln häufig nicht anerkannt und seien bemüht gewesen, den Wettstreit um Vorrang auf andere Felder zu übertragen. In solchen Szenarien einer Geltungskonkurrenz habe eine Dritte Instanz über die Zuerkennung von Ehre entscheiden müssen. Indem etwa auch moralische Kategorien in die Bewertung einbezogen wurden, bestand also die Chance, im Sinne des Modells von Georg Simmel, Konkurrenz und Geltungskonkurrenz zum Nutzen einer größeren Gemeinschaft einzusetzen. Allerdings habe Neid der Unterlegenen das Erreichte immer wieder in Frage gestellt. Des Weiteren führt Schmitz aus, dass Konkurrenz häufig nicht habe kanalisiert werden können und innere Konflikte in einem solchen Maße eskaliert seien, dass Obsiegende die unterlegene Gruppe als befleckt etikettiert und aus der Stadt getrieben hätten, etwa in eine neu anzulegende Kolonie. Gerade Tyrannen hätten die Regeln elitärer Konkurrenzsysteme außer Kraft gesetzt, ihrerseits aber die Stadt verlassen müssen, wenn die Gegenseite übermächtig geworden sei. Schmitz hält fest, dass es vor allem misslungene Konkurrenzkämpfe gewesen seien, die gewisse Institutionen, welche außerhalb der Gruppe der Aristokraten lagen, als unabhängige Dritte Instanzen etabliert hätten. Dies habe letztlich zur Auflösung der aristokratischen Ordnung geführt; und an die Stelle eines adeligen Konkurrenzmodells seien ideologisierte Konzepte einer Vermischung der Bürgerschaft getreten, welche Absonderung und Gegensätzlichkeit zu vermeiden habe. Nadin Burkhardt analysiert in ihrem Beitrag „Konkurrenzverhalten und Institutionalisierungsprozesse in den westgriechischen Kolonien“ Bestattungssitten und Grabmonumente der Magna Graecia. Wegen der nur wenigen literarischen wie epigraphischen Zeugnisse der Zeit komme den Funden und Befunden der materiellen Kultur besondere Relevanz zu, Prozesse der Konkurrenz und Institutionalisierung in archaischer Zeit zu fassen und Dynamiken von Gruppenbildung, Interaktionsformen und soziale Vernetzung innerhalb der archaischen Polisgemeinschaften sichtbar zu machen. Burkhardt konstatiert, dass schon in der ersten Siedlergeneration der Apoikien deutliche Hinweise auf soziale Heterogenität zu finden seien. Die in der materiellen Kultur reflektierte Akkumulation von Besitz, und damit Ansehen, deute zwar darauf hin, dass eine Zugehörigkeit zu den lokalen Eliten im Wesentlichen auf dem Zugang zu Ressourcen basierte. Und doch findet Burkhardt in von ihr näher betrachteten Befunden in Syrakus und auf Pithekoussai auch Hinweise, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten Abstimmungslinien zu betonen innerhalb dieser Gruppen sehr relevant
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gewesen sei. Sie beobachtet, dass in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts der Wettbewerb zwischen Eliteangehörigen in den Nekropolen zum breitesten Spektrum in der Grabgestaltung geführt habe: Grabsteine, Grabstelen, Grabskulpturen, Grabsäulen und Grabbauten dieser Zeit bezeugten ein ausgeprägtes Konkurrenzverhalten der Eliten, sowohl lokal als auch zwischen den Kolonien. Allerdings folgte hierbei offenbar, so stellt Burkhardt fest, der Aufwand für die Repräsentation am Grab etablierten Bewertungskriterien, etwa der Form und Größe des Grabmonuments; und dies sollte als Manifestation einer Institutionalisierung gegen Konkurrenz der griechischen Koloniengemeinschaft gedeutet werden. Klaus Junker geht in seinem Beitrag „Vom Prachtgefäß zum Riesentempel. Archaische Kolossalwerke als Mittel der Konkurrenz“ von der Beobachtung aus, dass verschiedene Objekttypen der griechischen Archaik innerhalb weniger Jahrzehnte eine enorme Größenzunahme erfuhren. So bezeugten etwa gewaltige Gefäße, die als Grabmarker Verwendung fanden, riesige Bronzedreifüße, weit überlebensgroße Kuros-Weihungen und nicht zuletzt monumentale Kultbauten, zuerst und vor allem in Ostionien, die Bedeutung der Kolossalität in dieser Epoche. Sinnstiftend für diese kulturelle Praxis der gesteigerten Größe von Objekten sei es gewesen, eine gewaltige Aufwendung von Ressourcen zu bezeugen und das zeitgenössische Publikum nachhaltig zu beeindrucken. Diese Entwicklung des kolossalen Formats verortet Junker im Spannungsfeld von Konkurrenz und Institutionalisierung. So stellt er etwa die Fragen, wie der Übergang jener Praxis der kolossalen Ausgestaltung von einer Objektklasse zur anderen zu konzeptualisieren sei, wie sich die Zunahme von Dedikantenkollektiven gegenüber individuellen Weihenden im 6. Jahrhundert erklären lasse und weshalb kolossale Formate nach 550 offenbar eine immer geringere Rolle spielten. Junker konstatiert, dass zwei einander ergänzende Motivationen festzustellen seien, die sich mit den Kategorien von Konkurrenz und Institutionalisierung treffend analysieren ließen: Auf der einen Seite reflektierten die Praktiken der Kolossalität, dass Mitglieder der Elite bemüht gewesen seien, ihre soziale Abgrenzung von weniger Reichen durch eine in der materiellen Kultur manifestierte Trennlinie zu etablieren; auf der anderen Seite deute der serielle Charakter gewisser kolossaler Objekte aber auch auf integrative Momente und eine Selbstbeschränkung unter deren Dedikanten hin – auch hier also Reflexionen einer Institutionalisierung gegen Konkurrenz. Arlette Neumann-Hartmann nimmt in ihrem Beitrag „Von improvisierten Wettbewerben zu institutionalisierten Festspielen. Die Entwicklung sportlicher Agone im archaischen Griechenland“ zunächst die ad hoc organisierten Wettkämpfe der homerischen Epen in den Blick und stellt jenen die institutionalisierten Agone um 500 gegenüber, um die Frage zu stellen, wie der in diesen beiden historischen Stadien reflektierte Wandel sich vollzogen haben mag. Zu diesem Zweck wendet sie sich auf der Grundlage archäologischer, epigraphischer und literarischer Zeugnisse zunächst der Entwicklung der Olympischen Spiele bis zum Ende des 7. Jahrhunderts zu, sodann der Phase einer erheblichen Zunahme agonistischer Festspiele während der ersten Hälfte
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des 6. Jahrhunderts und schließlich der zunehmenden Institutionalisierung sportlicher Wettkämpfe in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts. Neumann-Hartmann hält fest, dass die sportlichen Agone der Archaik sich im Sinne des Institutionenmodells von Peter Berger und Thomas Luckmann am ehesten als „objektivierte Institutionen“ beschreiben ließen. Allerdings ließen sich die in diesem Modell als erste Stadien von Institutionalisierungsprozessen beschriebenen Phasen der „Habitualisierung“ und der „Institutionalisierung“ kaum nachzeichnen. Des Weiteren konstatiert sie, dass die lückenhafte Überlieferung kaum ermögliche, die Arten und Ebenen der Konkurrenz, welche zwischen einzelnen historischen Protagonisten herrschen mochte, genauer zu fassen. In jedem Fall aber ließe sich festhalten, dass ein im Kontext von Agonen erzielter Prestigezuwachs auch auf andere Felder habe übertragen und vielgestaltig instrumentalisiert werden können, so etwa im Falle von Tyrannen. Doch auch ganze Polisgemeinschaften hätten den Bereich der Agonistik genutzt, um ihre materielle Potenz zu demonstrieren: ein Fall von Prestigekonkurrenz. Neumann-Hartmann schließt mit der Feststellung, dass sportliche Wettbewerbe, die von der individuellen Konkurrenz um den Sieg lebten, in der griechischen Archaik einen Institutionalisierungsprozess anstießen, der nicht nur eine Vielzahl von Agonen hervorgebracht, sondern auch zur Konkurrenz aufseiten der Veranstalter geführt habe. Elke Stein-Hölkeskamp resümiert in ihrem Beitrag „Kampfplätze der Konkurrenz. Felder und Foren aristokratischer Konkurrenz im archaischen Griechenland“ ebenfalls die Vielgestalt einer so allgegenwärtigen wie intensiven Konkurrenz zwischen den Mitgliedern der Eliten dieser Zeit. Der Ausgangspunkt auch ihrer Überlegungen ist das von Georg Simmel entwickelte Modell von Konkurrenz als eines Modus sozialer Interaktion, mithilfe dessen sie verschiedene Szenarien von Wettbewerb in den Blick nimmt, welche etablierten Regeln folgten und unter der Aufsicht von Schiedsrichtern standen, bei denen ein Publikum anwesend war und Preise für die Gewinner ausgelobt waren. Auf der Grundlage zeitgenössischer literarischer Quellen und des Bildprogramms bemalter Gefäße analysiert Stein-Hölkeskamp die Konstellationen von Wettbewerb vor allem während Symposien und panhellenischer Agone. Hieran anschließend stellt sie die Frage, ob Erfolge, die auf einem Feld des Wettbewerbs errungen worden waren, sich auf andere Felder hätten übertragen lassen, vor allem, ob diese in der Polisgemeinschaft der Akteure in Einfluss hätten konvertiert werden können. Die Analyse dreier Fallstudien aus Athen und Lokroi Epizephyrioi lässt sie zu dem Ergebnis kommen, dass ein solcher Transfer athletischer Erfolge in das Feld der Politik sehr schwierig gewesen sei. Erfolge in Olympia jedenfalls scheinen kaum zu politischen Vorteilen in der Heimatpolis geführt zu haben, hält Stein-Hölkeskamp fest. Es ist nicht das Ziel der hier versammelten Beiträge, eine konzise neue Meistererzählung für die griechische Archaik zu entwerfen. Allerdings weisen die einzelnen Beiträge Gemeinsamkeiten auf, die Spezifika dieser Epoche beleuchten und es erlauben, partikulare Forschungsergebnisse miteinander in Dialog treten zu lassen. So wird die ausgeprägte Konkurrenz archaischer Eliten in mehreren Beiträgen – wie etwa Meis-
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ter, Schmitz oder Stein-Hölkeskamp – mit mangelnder institutioneller Eindämmung erklärt; sei es, weil es sich um Geltungskonkurrenz zwischen verschiedenen Foren der Konkurrenz handelte, sei es, weil die Akteure über genügend alternative Handlungsfelder verfügten, um eine Niederlage nicht akzeptieren zu müssen. Dieser labile gesellschaftliche Hintergrund manifestiert sich auch im archäologischen Befund, wie in den Beiträgen von Burkhardt, Junker und Kistler deutlich wird. Er zeigt sich aber auch in der dynamischen, da ungeregelten Konkurrenz archaischer Denker, die Itgenshorst untersucht und vom Bild einer kanonisierten ‚Weisheit‘ späterer Zeiten absetzt. Anders als in Island, wo, wie Zeller in seinem Beitrag zeigt, ähnliche Verhältnisse herrschten, fand in Griechenland jedoch ein Prozess der Institutionalisierung statt. Dies betraf nicht nur die polis als Garant von ‚Staatlichkeit‘ im Sinne Lundgreens beziehungsweise ihre einzelnen Organe wie die von Fraß thematisierte agora oder die von Schulz behandelten Ältestenräte, sondern auch die sich ausbildenden panhellenischen Agone und die dort zelebrierten Praktiken, die in den Beiträgen von Lattmann und Neumann-Hartmann thematisiert werden. Als Triebfeder für diese Entwicklungen kann der Versuch der Elite postuliert werden, die eigene Position institutionell abzusichern und Konkurrenz durch Formen der Kartellierung einzugrenzen. Wie etwa die Beiträge von Seelentag und Ulf betonen, sind solche Prozesse tatsächlich zu beobachten, sie blieben aber fragil, da die Kooperation stets prekär war und die Ausrichtung auf das Gemeinwohl beziehungsweise den demos als Dritte Instanz nicht gänzlich zu vernachlässigen war. Das ist zwar keine neue Meistererzählung, aber ein gemeinsamer Bezugsrahmen, über den sich verschieden Phänomene und Entwicklungen des archaischen Griechenlands und die Forschungsergebnisse unterschiedlicher altertumswissenschaftlicher Disziplinen in Dialog setzen lassen. Und genau das ist das Ziel dieses Bandes. Literaturverzeichnis Berger, Peter L. / Thomas Luckmann 1980. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. (englische Originalausgabe 1966). Blänkner, Reinhard 1994. Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Theorie politischer Institutionen, in: Gerhard Göhler (Hrsg.) Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden, 85–122. Burckhardt, Leonhard 1999. Vom ‚Agon‘ zur ‚Nullsummenkonkurrenz‘. Bemerkungen zu einigen Versuchen, die kompetitive Mentalität der Griechen zu erfassen, in: Nikephoros 12, 71–93. Donlan, Walter 1973. The Tradition of Anti-Aristocratic Thought in Early Greek Poetry, in: Historia 22, 145–154 (Neudruck in: Walter Donlan 1999. The Aristocratic Ideal and Selected Papers, Wauconda, 237–247). Dreher, Martin 1983. Sophistik und Polisentwicklung. Die sophistischen Staatstheorien des fünften Jahrhunderts v. Chr. und ihr Bezug auf Entstehung und Wesen des griechischen, vorrangig athenischen Staates, Frankfurt a. M. und Bern.
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Geltungskonkurrenz zwischen Praktiken des Prestigeerwerbs als Problem des archaischen ‚Adels‘* Jan B. Meister Abstract: Archaic elites were in constant competition for prestige and social prominence. However, if we apply Georg Simmel’s model of competition, it emerges that the personae we can observe in Archaic texts are not competing on one and the same level. Competition revolves not so much around social prominence per se but rather around the validity of various criteria for social prominence. The historical background of this phenomenon is a plurality of different fields of competition, all of which could potentially enhance the prestige of individual actors. This variety produced a ‘nobility’ for which there was a multitude of ‘ennobling’ criteria. These various fields of competition – most prominently the polis and the ‘Panhellenic’ games – subsequently underwent a process of institutionalisation. By the end of the Archaic period, institutionalisation had changed the nature of elite competition: on the one hand, institutionalisation guarantied the existence of several relatively autonomous, established fields of competition for social prominence; on the other, it made it more difficult to question the validity of these criteria for prominence.
Tyrtaios und das Problem des griechischen ‚Adels‘ Vermutlich in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts verfasste der Dichter Tyrtaios eine Elegie, in der er darüber sinnierte, welche Tugenden als eigentlich lobenswert zu qualifizieren seien:
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Die nachfolgenden Überlegungen basieren stark auf Meister (im Druck) – einem Buch, das auf meiner 2017 von der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen Habilitationsschrift basiert, deren gedankliche Genese eng mit dem im Netzwerk gepflegten Austausch verquickt war.
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Nicht würde ich an einen Mann erinnern noch ihn mit Worten verewigen Weder wegen der Tüchtigkeit seiner Füße, noch seiner Kunstfertigkeit als Ringer, Auch nicht, wenn er die Größe oder die Kraft der Kyklopen hätte, Oder wenn er den thrakischen Nordwind im Rennen besiegen würde, Auch nicht, wenn er von schönerem Wuchs wäre als Tithonos Oder aber reicher als Midas und Kinyras, Auch nicht, wenn er königlicher wäre als der Tantalide Pelops Oder die honigsüße Zunge des Adrestos hätte, Auch nicht, wenn er allen Ruhm hätte, außer kriegerische Kraft. (…) Diese Tugend, dieser Kampfpreis ist unter den Menschen der beste Und schönste für einen jungen Mann zu gewinnen.1
Das Fragment listet eine Fülle prestigeträchtiger Merkmale auf: Athletische Fähigkeiten, Kraft, Schönheit, Redegewandtheit, Reichtum und Abstammung – sie alle können Ruhm (doxa) vermitteln. Doch der Dichter beschreibt nicht einfach, er hat ein normatives Programm: Selbst aller Ruhm würde für ihn nichts zählen, wenn kriegerische Kraft fehle. Die Bewährung in der Schlacht wird also zur maßgeblichen Quelle von Prestige erhoben. Nur wer dort reüssiere, verdiene es, von Tyrtaios besungen zu werden. Eine sozialgeschichtliche Analyse muss zwischen den zwei Aussageebenen des Gedichts unterscheiden: Die normative Forderung, dass der Bewährung in der Schlacht der Vorrang gebühre, ist eine individuelle Ansicht des Dichters, bei der sehr fraglich ist, wie weit sie allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, dass es hingegen eine Fülle potentiell prestigevermittelnder Qualitäten gibt, ist eine allgemeine Aussage, die der Dichter als gegeben voraussetzt. Das Fragment zeigt damit exemplarisch das Dilemma, das sich auftut, wenn man einen archaischen ‚Adel‘ definieren will. Es gibt nicht eine exklusive Qualität, die allgemeinverbindlich ‚adelt‘, sondern einen ganzen Strauß prestigeträchtiger Qualitäten, die alle doxa vermitteln können. Dieser Strauß bildet jedoch nicht ein harmonisches Bouquet, sondern zwischen den einzelnen Qualitäten besteht eine Konkurrenz. Denn Tyrtaios geht es gerade nicht darum, verschiedene Quellen von Ruhm zu benennen, sondern Athletik, Abstammung, Reichtum und so weiter für zweitrangig zu erklären. Das ist keine Konkurrenz im Simmel’schen Sinne, bei der die Konkurrenten nach objektiven Regeln und entsprechenden Kriterien der
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Tyrtaios Frg. 12 West 1–14 (= 9 Gentili/Prato = 9 Diels) (eigene Übersetzung): οὔτ’ ἂν μνησαίμην οὔτ’ ἐν λόγωι ἄνδρα τιθείην / οὔτε ποδῶν ἀρετῆς οὔτε παλαιμοσύνης, / οὐδ’ εἰ Κυκλώπων μὲν ἔχοι μέγ εθός τε βίην τε, / νικώιη δὲ θέων Θρηΐκιον Βορέην, / οὐδ’ εἰ Τιθωνοῖο φυὴν χαριέστερος εἴη, / πλουτοίη δὲ Μίδ καὶ Κινύρ μάλιον, / οὐδ’ εἰ Τανταλίδ Πέλοπος βασιλεύτερος εἴη, / γλῶσσαν δ’ Ἀδρήστου μειλιχόγηρυν ἔχοι, / οὐδ’ εἰ πᾶσαν ἔχοι δόξαν πλὴν θούριδος ἀλκῆς· (…) ἥδ’ ἀρετή, τόδ’ ἄεθλον ἐν ἀνθρώποισιν ἄριστον / κάλλιστόν τε φέρειν γίνεται ἀνδρὶ νέωι.
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Vergleichbarkeit um die Gunst einer Dritten Instanz werben.2 Wie soll ein „objektiver Wettbewerb“ zwischen Reichtum, schnellen Füßen und Tapferkeit aussehen? Was Tyrtaios schildert, ist vielmehr eine Geltungskonkurrenz zwischen unterschiedlichen Prestigeformen, die aus jeweils unterschiedlichen Kontexten stammen.3 Die Forschung löst diese Geltungskonkurrenz in der Regel in einer simplen Dichotomie auf: Tyrtaios sei ein Vertreter eines neuen anti-aristokratischen Denkens oder einer „middling ideology“, der die Polis zum alleinigen Maßstab erkläre und die Geltung eines alten, vermeintlich homogenen, adligen Wertekanons in Frage stelle.4 Man hätte also einen adligen und einen bürgerlichen Wertehorizont, die miteinander im Konflikt liegen; und in dieses Prokrustes-Bett lassen sich dann auch weitere Lyrikerfragmente einpassen: Archilochos, der angibt, einen kleinen und krummbeinigen, aber tapferen Feldherrn einem feigen Schönling vorzuziehen,5 wird dann ebenso zum ‚anti-aristokratischen‘ Kritiker wie Phokylides, der rhetorisch fragt, was denn eugeneia nütze, wenn ihr keine überzeugenden Worte und kein guter Rat folgten.6 Wenn man diesem dichotomen Modell folgt, so finden sich auch die vermeintlich ‚aristokratischen‘ Gegenstimmen: Mimnermos, der empfiehlt, dem eigenen Vergnügen zu folgen und nicht auf das Gerede der Bürger zu achten,7 Sappho, die erklärt, luxuriöse Üppigkeit (habrosyne) zu lieben,8 und natürlich das Corpus Theognideum mit seinen Auslassungen über die „Schlechten“, die nun als „Gute“ gelten, und der Klage darüber, dass Reichtum den genos vermischt habe.9 Doch eine Einteilung in ‚aristokratische‘ und ‚anti-aristokratische‘ Denker ergibt nur dann Sinn, wenn man von einem aristokratischen Wertehorizont ausgeht, gegen den sich ein „Anti“ überhaupt erst formieren kann. Das allerdings ist eine problematische Vorannahme, deren Plausibilität sich mehr aus der Analogie zur europäischen Neuzeit erklärt als aus der griechischen Archaik. Die diesbezüglichen Probleme sind schon länger bekannt: Dass der griechische ‚Adel‘ keinen erblichen Stand bildete und auch sonst kaum eine ständische Geschlossenheit aufwies, hat Elke Stein-Hölkeskamp
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Simmel 1992, 323–349; Simmel 1995; vgl. auch die Einleitung zu diesem Band. Zum Konzept der Geltungskonkurrenz aus der Perspektive der Institutionentheorie s. Rehberg 1994, 74–76 sowie die Ausführungen in der Einleitung zu diesem Band. Zum ‚anti-aristokratischen‘ Denken s. Donlan 1973 und Stein-Hölkeskamp 1989, 123–133; zur „elitist“ und „middling ideology“ s. die diversen Arbeiten von Ian Morris, u. a. Morris 1996, Morris 2000 und Morris 2009; zur Kritik an diesem Ansatz s. etwa Kistler 2004. Die Interpretation solcher Konflikte unter dem Aspekt eines marxistisch verstandenen Klassenkampfs unternahm in neuerer Zeit Rose 2012. Archilochos Frg. 114 West (= 60 Diels). Phokylides Frg. 3 Gentili/Prato (= 3 Diels). Mimnermos Frg. 7 West (= 7 Diels). Sappho Frg. 58.25 Lobel/Page. Thgn. 1.190.
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in ihrer grundlegenden Studie von 1989 gezeigt.10 Alain Duplouy spitzte dies 2006 nochmals zu und plädierte dafür, den Adelsbegriff ganz zu verabschieden und stattdessen von hochkompetitiven Eliten zu sprechen, die in dauernder Konkurrenz gezwungen waren, immer aufs Neue ihr soziales Prestige performativ zu manifestieren.11 Ein geschlossener adliger Wertehorizont, gegen den sich ein anti-aristokratisches Denken hätte formieren können, erscheint unter solchen Umständen wenig plausibel. Die beobachtete Geltungskonkurrenz ist daher anders zu erklären und erfordert ein grundsätzlich anderes Denkmodell. Der Ansatz von Alain Duplouy, auf Praktiken der Prestigemanifestation zu schauen, scheint mir in die richtige Richtung zu gehen, bleibt aber doch unbefriedigend, und zwar aus drei Gründen. Erstens: Ein isolierter Blick auf individuelle Praktiken bleibt defizitär, denn Praxis spielt sich nicht im luftleeren Raum ab – es braucht einen institutionellen Rahmen, der garantiert, dass performative Akte auch tatsächlich jene „performative Magie“ entfaltet, die Performanz zu einer sozialen Wirklichkeit werden lässt. Pierre Bourdieu, auf den sich Duplouy maßgeblich beruft, formulierte das so: „Der Präsident der Republik ist jemand, der sich für den Präsidenten der Republik hält, aber im Unterschied zu dem Irren, der sich für Napoleon hält, als jemand anerkannt wird, der hierzu auch berechtigt ist.“12 Es ist also nicht allein der performative Akt als solcher, der den Präsidenten der Republik zum Staatsoberhaupt werden lässt, sondern ebenso sehr die Logik der Institution, in der er sich bewegt und die er verkörpert. Prestigemanifestationen sind also nicht getrennt von Institutionen und ihren Geltungsansprüchen zu denken. Dies führt zum zweiten Punkt: Die Vorstellung, archaische Eliten befänden sich in dauernder Konkurrenz um Prestige, ist zwar sicherlich in vielen Fällen zutreffend, kann aber das Problem der eingangs geschilderten Geltungskonkurrenz nicht erklären. Denn Konkurrenz im Sinne Georg Simmels würde eine Übereinkunft aller Beteiligten über die Modi der Konkurrenz voraussetzen.13 Doch gerade das ist vielfach nicht der Fall. Wie das eingangs zitierte Tyrtaios-Fragment zeigt, handelt es sich häufig nicht um eine Konkurrenz nach klaren Regeln, sondern eben um eine Geltungskonkurrenz. Die Frage ist nicht, wer der Schnellste, der Schönste oder der Reichste ist, sondern welcher Form von Prestige übergeordnete Geltung zukommen solle. Wir haben also, um es mit Berger und Luckmann zu formulieren, verschiedene institutionelle Subsinnwelten, in denen jeweils Konkurrenz stattfindet, doch keine dieser Subsinnwelten kann
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Stein-Hölkeskamp 1989; vgl. auch Stein-Hölkeskamp 2015, 186–220; Stein-Hölkeskamp 2017 sowie ihren Beitrag in diesem Band. Duplouy 2006. Bourdieu 1998, 114. Simmel 1992, 325–327 betont, wie durch Konkurrenz subjektive Motive auf einen objektiven Zweck ausgerichtet werden und gerade dadurch, d. h. durch die gemeinsame Ausrichtung der Konkurrenten auf eine beiden gemeinsame Dritte Instanz, eine vergesellschaftende Wirkung erzielt wird (vgl. auch die Einleitung in diesem Band).
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gesamtgesellschaftliche Geltung beanspruchen, sondern steht in Konkurrenz zu den Geltungsansprüchen anderer Subsinnwelten.14 Der dritte Punkt meiner Kritik am Duplouy’schen Ansatz bezieht sich auf das für unser Netzwerk zentrale Konzept der Konkurrenz. Dass archaische Eliten höchst kompetitiv waren und gerade deshalb keinen geschlossenen Adelsstand bilden konnten, ist zwar kaum zu bestreiten, doch stellt sich die Frage, was damit eigentlich erklärt wird. Duplouy, der von einer „culture de l’agon“ spricht und eine agonale Mentalität ausmacht, die die gesamte Gesellschaft durchziehe, steht in einer langen Forschungstradition, die das „Agonale“ als besonderen Wesenszug der Griechen hervorhebt und darin den Schlüssel sieht, um die besondere Ausprägung der archaischen Adelskultur zu erklären.15 Wenn man sich aber von der Vorstellung löst, dass die Griechen quasi von Natur aus über eine agonale Disposition verfügten, so wird gerade dieses in der Tat auffallende Konkurrenzverhalten erklärungsbedürftig. Denn Georg Simmel betonte in seiner „Soziologie der Konkurrenz“ den typisch modernen Charakter von Konkurrenz. Vergesellschaftung durch Konkurrenz ersetzt dabei die „enge und naive Solidarität primitiver und sozialer Verfassungen“.16 Der Wettbewerb um die Gunst einer Dritten Instanz hat eben gerade nichts mit „Solidarität“ zu tun, sondern ist ein objektives Verfahren, bei dem allein die individuelle Leistung zählt, ohne Rücksicht auf das Ansehen der Person. Diese moderne Forderung nach Objektivität und individueller Leistung steht bei Simmel in starkem Kontrast zu anderen Formen der Vergesellschaftung, die „älter“ oder eben „primitiver“ sind und bei denen das Ansehen der Person und die Gruppensolidarität mehr ins Gewicht fallen. Eine solche ältere Form der Vergesellschaftung ist der Adel, dem Simmel ebenfalls eine Abhandlung widmete.17 Beim Adel, so die Quintessenz, sei die objektive Leistung des Individuums eben gerade nicht zu trennen von der Gruppenzugehörigkeit: „Jede Persönlichkeit einer Adelsgruppe“, so Simmel, habe „in ihrem Werte teil an dem Glanze, den gerade die hervorragendsten Mitglieder dieser Gruppe erworben haben.“18 Simmels Adel als typisches Phänomen der Vormoder-
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Berger/Luckmann 1980, 84–94. Zu Geltungsansprüchen von Institutionen und der Geltungskonkurrenz s. auch Rehberg 1994, 74–76 sowie die Einleitung zu diesem Band. Duplouy 2006, 271–287. – Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung des „Agonalen“ s. Ulf 2006; Weiler 2006 und Ulf 2011a: Die Vorstellung einer spezifischen Mentalität, die einzig den Griechen eigen sei und die zudem einem „zweckfreien Wettbewerb“ fröne, ist ein hochgradig problematisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts, das wesentlich auf Jacob Burckhardt zurückgeht, der den Neologismus ‚das Agonale‘ prägte, aber gedanklich klare Vorläufer bei Ernst Curtius findet. Dass es gerade die kritische Auseinandersetzung mit der problematischen Genese dieser vermeintlich typisch griechischen Disposition ist, die es erlaubt, das Phänomen der in der Tat auffallenden Kompetitivität unter neuen Gesichtspunkten und Fragen zu beleuchten, zeigen u. a. Burckhardt 1999 und Ulf 2011b. Simmel 1992, 328. Simmel 1992, 816–831. Simmel 1992, 824.
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ne und Simmels Modell der Konkurrenz als typische Form moderner Vergesellschaftung funktionieren also grundsätzlich anders: Die von Simmel fast schon mythisch beschriebene Verschmelzung von Individuum und Gruppe beim Adel, wo sich das Ansehen des Einzelnen ganz wesentlich aus dem Ansehen der Gruppe speist, ist etwas gänzlich anderes als Konkurrenz in einem objektiven Verfahren, wo einzig die individuelle Leistung zählt ohne Rücksicht auf das Ansehen der Person. Natürlich sind das Idealtypen und die Realität ist deutlich komplexer. Dennoch ist der scharfe Kontrast heuristisch wertvoll, weil er zu entsprechenden Fragen anregt: Wenn archaische Griechen sich nach objektiven Verfahren messen und in archaischen Texten gar die Forderung nach objektivem Wettbewerb auftaucht, so erscheint es vor dem Hintergrund der Simmel’schen Überlegungen sehr problematisch, dies einfach auf eine freischwebende agonale Mentalität zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um einen höchst modern anmutenden und gerade deshalb erklärungsbedürftigen Befund. Hier möchte der vorliegende Beitrag ansetzen. Der Fokus soll dabei auf den Punkten liegen, deren mangelnde Berücksichtigung in der bisherigen Forschung eben moniert wurden: Auf den institutionellen Ordnungen, in denen Konkurrenz stattfindet, und auf der Geltungskonkurrenz zwischen diesen Ordnungen. Dadurch lässt sich rekonstruieren, welche Handlungsspielräume den einzelnen Akteuren offenstanden. Individuelle Strategien werden dadurch aus der institutionellen Logik der Rahmenbedingungen heraus erklärbar, ohne dass man eine metaphysische agonale Disposition bemühen muss. Der Blick auf Institutionen schärft dabei auch den Blick auf Veränderungen. Denn wenn man dem Bild von Alain Duplouy folgt, so kann der Eindruck entstehen, dass die eigentliche Konstanz griechischer Eliten ihre Instabilität und Prekarität sei.19 Ich möchte aber zeigen, dass Status zwar in der Tat prekär bleibt, von Konstanz aber keine Rede sein kann. Im Gegenteil: Der institutionelle Rahmen, in dem um Prestige konkurriert wird, verändert sich im Verlauf der Archaik ganz erheblich. Hierzu sollen in einem ersten Schritt institutionelle Handlungsräume und Handlungslogiken bei Homer betrachtet werden, um dann in einem zweiten Schritt institutionelle Veränderungen zwischen dem frühen 7. und dem ausgehenden 6. Jahrhundert zu beleuchten. Abschließend soll gezeigt werden, wie sich dieser veränderte institutionelle Rahmen in einer dem eingangs zitierten Tyrtaiosfragment ganz ähnlichen Klage des Xenophanes widerspiegelt.
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Gegen eine Entwicklung mit großen Brüchen und für das Bild einer sich in stetigem Umbruch befindlichen Elite argumentiert prägnant etwa Duplouy 2006, 264–271. Es ist jedoch vereinfacht, Duplouys Arbeit darauf zu reduzieren (auch wenn der Fokus klar auf dieser Perspektive liegt): Wenn er zum Abschluss seines Buches für eine verschränkte Betrachtung von Elite und cité plädiert (ebd. 289–292), so kommt das einem institutionengeschichtlichen Ansatz, wie er hier verfolgt wird, schon sehr nahe.
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Konkurrenz der Partiell-Besten bei Homer „Immer der Beste zu sein und sich auszuzeichnen vor allen andern“ – der berühmte Vers, der in der Ilias zweimal vorkommt, wird gerne als Motto nicht nur der homerischen Helden, sondern des griechischen ‚Adels‘ überhaupt genommen.20 Dabei ist der Ausspruch bei Homer alles andere als ein Beleg für ein stabiles Adelsethos, sondern formuliert im Gegenteil ein Dilemma: Es gibt viele verschiedene Felder der Konkurrenz, und nur wer überall der Beste ist, kann wirklich gesamtgesellschaftliche Prominenz beanspruchen. Bezeichnenderweise schafft das aber niemand. Christoph Ulf sprach in diesem Kontext von der „Relativität der Besten“21 und in der Tat finden wir keine geschlossene Schicht von aristoi, sondern eine Vielzahl von ‚Partiell-Besten‘. Besonders prägnant bringt Epeios, der im 23. Gesang der Ilias zum Faustkampf antritt, das auf den Punkt, indem er in Hinblick auf das als Preis ausgesetzte Maultier erklärt: Das Maultier aber, sage ich, führt kein anderer der Achaier fort Als Sieger mit der Faust, da ich mich rühme, der Beste zu sein. Oder ist’s nicht genug, dass ich schwächer bin in der Schlacht? Noch niemals War es möglich, in allen Werken ein kundiger Mann zu sein!22
Niemand, dies ist die Quintessenz, ist immer und überall der Beste. Sogar Achill muss zugeben, dass er selbst zwar in der Schlacht der Beste sei, doch in der agora seien andere besser.23 Die agora, die Heeresversammlung, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Wie Karl-Joachim Hölkeskamp gezeigt hat, sind in den Heeresversammlungen bereits klare Indizien von Institutionalisierung erkennbar:24 Es gibt Regeln, auf die man sich beruft und die auch für die basileis gelten, deren Geltung also objektiviert und den einzelnen Akteuren entzogen ist. Gleichzeitig ist die agora aber auch ein Feld der Konkurrenz, bei dem es darum geht, nach den dort herrschenden Regeln der Beste zu sein. So ist etwa bei den Achaiern Thaos in der agora der Beste, wenn die kouroi sich mit
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Hom. Il. 6.208, 11.784: αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων. Als Sinnspruch des agonalen Denkens eines griechischen „Adels“ fungiert der Vers in den Titeln von Flaig 2010 und Stein-Hölkeskamp 2014; prominent Erwähnung findet der Spruch bei Stein-Hölkeskamp 2018, 43 sowie ihrem Beitrag in diesem Band. Bei Greenhalgh 1972, 190 wird der Spruch gar zur Maxime des homerischen „nobleman“, der der egalitären „Ideologie“ späterer Griechen diametral entgegenstehe. Die ideologische Aufladung des Verses als eine weit über den eigentlichen Kontext des Epos hinausgehende Maxime hat eine lange forschungsgeschichtliche Tradition, s. dazu Weiler 1975. Ulf 1990, 29–40; vgl. Ulf 2011c, 260 f. und den Beitrag von Christoph Ulf in diesem Band. Hom. Il. 23.668–671 (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): ἡμίονον δ’ οὔ φημί τιν’ ἀξέμεν ἄλλον Ἀχαιῶν / πυγμῇ νικήσαντ’, ἐπεὶ εὔχομαι εἶναι ἄριστος. / ἦ οὐχ ἅλις ὅττι μάχης ἐπιδεύομαι; οὐδ’ ἄρα πως ἦν / ἐν πάντεσσ’ ἔργοισι δαήμονα φῶτα γενέσθαι. Hom. Il. 18.105 f.; 19.317–319. Hölkeskamp 2003; vgl. auch Hölkeskamp 1997 und Hölkeskamp 2002.
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Worten messen.25 Doch wenn alle Altersklassen versammelt sind, dann ist Nestor der Beste, der dafür von den Achaiern auch mit einem geras geehrt wurde.26 Agamemnon unterstreicht den martialischen Charakter des Redens in der Agora, wenn er erklärt, Nestor würde alle anderen mit Worten „besiegen“ (nikan).27 Die agora ist also eines von vielen Feldern der Konkurrenz, das seine jeweils Partiell-Besten hervorbringt. Nestor ist hier der Beste, genauso wie Achill der Beste in der Schlacht ist und Epeios der Beste im Faustkampf. Das klingt erstaunlich modern, nach funktional ausdifferenzierten Systemen mit jeweils eigenen Institutionen. Ein Blick zu den Troianern zeigt aber, dass dieses harmonische Bild trügerisch ist. Denn bei den Troianern – oder präziser: bei der Jungmannschaft im Feld – funktioniert der objektive Wettbewerb in der agora eben gerade nicht. Mit Polydamas begegnet dort eine Figur, die der Dichter sehr bewusst als Spiegelbild zum Kriegshelden Hektor konstruiert und von der er im 18 Gesang erklärt: Dem Hektor war er ein Gefährte, und in einer Nacht waren sie geboren, Aber er war mit den Reden und der mit der Lanze weit überlegen.28
Wir haben also geradezu idealtypisch zwei Partiell-Beste, die prädestiniert scheinen, der eine in der Schlacht, der andere in der agora zu reüssieren. Allerdings gibt es einen klaren Unterschied: Hektor ist der Sohn des Priamos, Polydamas dagegen ist lediglich sein hetairos29 und bezeichnet sich selbst als Mann des demos 30 Dieser Statusunterschied ist nicht absolut – Polydamas führt auch ein troianisches Heereskontingent31 – doch er ist wesentlich, denn er bewirkt, dass Polydamas sich in der agora nicht durchsetzt, da Hektor den objektiven Wettbewerb zu seinen Gunsten hintertreibt. Der Konflikt beginnt bereits im 12. Gesang, wo Polydamas sich beklagt, dass Hektor ihn immer hart angehe in der Versammlung, auch wenn er Gutes rate, da alle, ob im Rat oder der Schlacht, Hektors Macht (kratos) mehren sollen.32 Erneut klagt er im 13. Gesang: Hektor! Nicht zu bewegen bist du, Ratschlägen zu folgen! Weil dir über die Maßen gab ein Gott die Werke des Krieges, Darum willst du auch im Rat mehr wissen als andere.
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Hom. Il. 15.283 f. Hom. Il. 11.624–627 Hom. Il. 2.370. Hom. Il. 18.251 f. (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): Ἕκτορι δ’ ἦεν ἑταῖρος, ἰῇ δ’ ἐν νυκτὶ γένοντο, / ἀλλ’ ὃ μὲν ἂρ μύθοισιν, ὃ δ’ ἔγχεϊ πολλὸν ἐνίκα. Hom. Il. 18.251. Hom. Il. 12.213. Hom. Il. 12.88–90. – Damit steht Polydamas unter den Troianern auf einer Stufe mit den Söhnen des Priamos und des Antenor sowie Aineias und seinem Schwager Alkathoos – die restlichen Kontingente werden von externen Verbündeten der Troianer geleitet. Hom. Il. 12.210–215.
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Aber nicht alles zugleich kannst du dir selber nehmen! Denn dem einen gab der Gott die Werke des Krieges, Dem anderen Tanz, dem anderen Zitherspiel und Gesang; Einem anderen legt Verstand in die Brust der weitumblickende Zeus, Guten, und davon haben Nutzen viele Menschen, Und viele rettet er, doch am meisten erkennt er es auch selber.33
Das Problem ist also klar: Es gibt verschiedene Bereiche, in denen man der „Beste“ sein kann, die in unterschiedlichen Kontexten zum Tragen kommen. Hektor jedoch erhebt den Anspruch, weil er im Kampf der Beste sei, auch in der agora der Beste zu sein, lässt also eine echte Konkurrenz nicht zu, da er gegen Polydamas verlieren würde. Es geht also nicht einfach zweckrational darum, die beste Lösung zu finden, sondern auch (oder sogar vorab) um das Prestige, in der agora der Beste zu sein. Fatal wird dies im 18. Buch, wo Polydamas zum Rückzug hinter die Mauern rät, Hektor aber den Kampf auf offenem Feld fortführen will. Erneut setzt sich Hektor durch, doch hier verlässt der Dichter die Perspektive des neuralen Erzählers und gibt ein klares Urteil ab: So redete Hektor, und die Troer lärmten ihm zu, Die Kindischen! Denn benommen hatte ihnen die Sinne Pallas Athene: Denn dem Hektor stimmten sie zu, der Schlechtes riet, Dem Polydamas aber keiner, der guten Rat bedachte.34
Bemerkenswert an dieser Szene sind zwei Dinge. Erstens: Die Dritte Instanz ist kein Garant für echte Konkurrenz. Das, was Simmel als typisch modern ansah, nämlich den objektiven Wettbewerb ohne Rücksicht auf das Ansehen der Person, funktioniert hier offenkundig nicht: Die Troianer sind durchaus bereit, das in diesem Kontext sachfremde Prestige Hektors als Königssohn und bester Krieger höher zu gewichten als den guten Rat des Polydamas; das Ansehen der Person hat also mehr Gewicht als die objektive Leistung. Das ist für eine vormoderne Gesellschaft, in der Rangunterschiede grundsätzlich akzeptiert sind, nicht per se überraschend. Überraschend ist hingegen das klare Urteil des Dichters. Dieser hält autoritativ fest, dass dies ein Fehler sei, der nur dadurch zu erklären ist, dass die Götter den Troianern die Sinne vernebelten. Das 33
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Hom. Il. 13.726–734 (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): Ἕκτορ ἀμήχανός ἐσσι παραρρητοῖσι πιθέσθαι. / οὕνεκά τοι περὶ δῶκε θεὸς πολεμήϊα ἔργα / τοὔνεκα καὶ βουλῇ ἐθέλεις περιίδμεναι ἄλλων· / ἀλλ’ οὔ πως ἅμα πάντα δυνήσεαι αὐτὸς ἑλέσθαι. / ἄλλῳ μὲν γὰρ ἔδωκε θεὸς πολεμήϊα ἔργα, / ἄλλῳ δ’ ὀρχηστύν, ἑτέρῳ κίθαριν καὶ ἀοιδήν, / ἄλλῳ δ’ ἐν στήθεσσι τιθεῖ νόον εὐρύοπα Ζεὺς / ἐσθλόν, τοῦ δέ τε πολλοὶ ἐπαυρίσκοντ’ ἄνθρωποι, / καί τε πολέας ἐσάωσε, μάλιστα δὲ καὐτὸς ἀνέγνω. Hom. Il. 18.310–313 (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): Ὣς Ἕκτωρ ἀγόρευ’, ἐπὶ δὲ Τρῶες κελάδησαν / νήπιοι· ἐκ γάρ σφεων φρένας εἵλετο Παλλὰς Ἀθήνη. / Ἕκτορι μὲν γὰρ ἐπῄνησαν κακὰ μητιόωντι, / Πουλυδάμαντι δ’ ἄρ’ οὔ τις ὃς ἐσθλὴν φράζετο βουλήν.
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Epos selbst fordert also auf einer normativen Ebene genau jene objektive Konkurrenz ein, die in der geschilderten Praxis von den handelnden Akteuren hintertrieben wird. Der vom Dichter gegeißelte Fehler der troianischen Heeresversammlung hat fatale Folgen und mündet in einer vernichtenden Niederlage. In dieser Situation fällt der schlechte Rat auf Hektor zurück und sein Prestige ist akut gefährdet. Deutlich wird dies in jener rührenden Szene des 22. Gesangs, in der Hektor vor den Toren Troias auf Achill wartet und über das ihm drohende Schicksal reflektiert: O mir, ich! Wenn ich in Tore und Mauern tauche, Wird Polydamas mich als erster mit Schimpf beladen, Er, der mich mahnte, die Troer zur Stadt zu führen In dieser verderblichen Nacht, als sich erhob der göttliche Achilleus. Aber ich bin nicht gefolgt – freilich, es wäre viel besser gewesen! Jetzt aber, da ich das Volk verdarb durch meine Vermessenheit (atasthalia), Schäme ich mich vor den Troern und schleppgewandeten Troerfrauen, Dass nicht ein anderer einst sage, ein schlechterer als ich: ‚Hektor vertraute auf seine Gewalt (bia) und richtete das Volk zugrunde!‘35
Die Episode macht nochmals deutlich, warum Hektor so handelte, wie er handelte: Es ging ihm nicht um den objektiv besten Rat, sondern die agora war ein Feld der Konkurrenz, auf dem es Ehre zu holen galt, und die Ehre, dort der Beste zu sein, wollte Hektor keinem anderen überlassen. Ehrdenken bleibt für Hektor bis zum Schluss handlungsleitend – ist es doch der drohende Ehrverlust, der ihn nun in den sicheren Tod gehen lässt. Das ist ein in sich stimmiges, aus Hektors Sicht durchaus rationales Verhalten. Die Botschaft des Epos ist jedoch klar: Das Hintertreiben der objektiven Konkurrenz in der agora wird nicht nur durch den Verlauf der Ereignisse als Fehler gebrandmarkt, sondern auch vom Dichter selbst getadelt, der auktorial erklärt, die Troianer seien Narren, dass sie dem Rat Hektors folgten.36 Das Ideal scheint die Situation bei den Achaiern zu sein, wo die Partiell-Besten in ihren jeweiligen Feldern der Konkurrenz zum Wohle aller glänzen können und auch ein Epeios im Faustkampf seine Sternstunde haben darf. Die Bereitwilligkeit der Troianer, Hektor zu folgen, und der normative Apell des Dichters zeigen jedoch, dass eine solche Situation eben gerade nicht selbstverständlich war. Dass eine solche objektive Konkurrenz überhaupt eingefordert werden konnte, ist höchst bemerkenswert. Wie bereits angesprochen ist objektive Konkurrenz ohne Rück-
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Hom. Il. 22.99–107 (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): ὤ μοι ἐγών, εἰ μέν κε πύλας καὶ τείχεα δύω, / Πουλυδάμας μοι πρῶτος ἐλεγχείην ἀναθήσει, / ὅς μ’ ἐκέλευε Τρωσὶ ποτὶ πτόλιν ἡγήσασθαι / νύχθ’ ὕπο τήνδ’ ὀλοὴν ὅτε τ’ ὤρετο δῖος Ἀχιλλεύς. / ἀλλ’ ἐγὼ οὐ πιθόμην· ἦ τ’ ἂν πολὺ κέρδιον ἦεν. / νῦν δ’ ἐπεὶ ὤλεσα λαὸν ἀτασθαλίῃσιν ἐμῇσιν, / αἰδέομαι Τρῶας καὶ Τρῳάδας ἑλκεσιπέπλους, / μή ποτέ τις εἴπῃσι κακώτερος ἄλλος ἐμεῖο / Ἕκτωρ ἧφι βίηφι πιθήσας ὤλεσε λαόν. Hom. Il. 18.310–313.
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sicht auf das Ansehen der Person bei Simmel ein Phänomen, das so vor allem in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft auftritt. Der Normalfall in der Vormoderne, so der Umkehrschluss, müsste daher eher sein, dass Konkurrenten einerseits versuchen, Praktiken der Konkurrenz – etwa im Sinne eines Kartells – zu minimieren,37 und dass, wenn Konkurrenz doch stattfinden sollte, das Ansehen der Person höher gewichtet wird als die objektive Leistung. Der Umstand, dass die Troianer bereit sind, Hektors schlechtem Rat zu folgen, nur weil er hinsichtlich Kriegsruhm und Abstammung über mehr Ansehen verfügt als der objektiv bessere Polydamas, zeigt klar, dass die Dritte Instanz kein Garant ist für ein „objektives Verfahren“ im Sinne Simmels. Entscheidend ist daher, dass es mit Polydamas einen Konkurrenten Hektors gibt, der ebenfalls über ein gewisses Ansehen verfügt und in diesem konkreten Feld der Konkurrenz klar der Bessere wäre. Zwar setzt er sich in der Ilias nicht durch, aber er ist – und das ist das Entscheidende – auch nicht bereit, kampflos das Feld zu räumen, sondern begehrt auf und fordert ein objektives Verfahren ein, bei dem das Ansehen Hektors nicht ins Gewicht fiele. Das führt zurück zu der eingangs angesprochenen Geltungskonkurrenz. Denn die Frage nach der Geltung von, objektiv gesehen, ‚sachfremdem‘ Prestige steht im Zentrum der Auseinandersetzung. Während es für Hektor rational ist, sachfremdes Prestige – also seine ‚königliche‘ Abstammung und seinen Ruhm als bester Krieger – in der agora zur Geltung zu bringen, um so die Spielregeln zu seinen Gunsten zu verändern, ist es für Polydamas rational, auf ein objektives Verfahren zu pochen und Hektors sachfremdem Prestige die Geltung abzusprechen. Das erinnert an eine moderne, funktional differenzierte Gesellschaft, doch dabei handelt es sich um eine ‚Schein-Modernität‘. Denn der Konflikt entsteht nur, weil die institutionellen Subsinnwelten keine autonomen, in sich geschlossenen Systeme darstellen. Wenn ein Sieg in der agora keine Bedeutung über die agora hinaus gehabt hätte, so hätte Hektor kein Problem damit gehabt, Polydamas dort den Vortritt zu lassen. Doch das Prestige, in der agora der Beste zu sein, hatte das Potenzial, gesamtgesellschaftliche Geltung zu haben: Gerade weil es nur Partiell-Beste gab, wäre Polydamas als der Beste in der agora auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ein direkter Konkurrent Hektors gewesen. Hektor ist eben nicht ein frühneuzeitlicher Königssohn, der auf abgesicherte Hierarchien vertrauend einen weisen Berater neben sich dulden kann, sondern nur ein Partiell-Bester in Konkurrenz zu anderen Partiell-Besten. Es ist also gerade das Fehlen eines eindeutigen Kriteriums von Adeligkeit, das homerische Helden dazu treibt, überall die Besten sein zu wollen. Andererseits ist es aber auch das Fehlen eines einheitlichen Konzepts von Adeligkeit, das es einzelnen Akteuren erschwert, die objektive Konkurrenz in den einzelnen Feldern der Konkurrenz zu hintertreiben. Denn das Pochen auf gesamtgesellschaftliches Ansehen und allgemein akzeptierte Hierarchien war durch die Geltungskonkurrenz zwischen verschiedenen
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Zum Kartell und der Minimierung von Konkurrenz s. Simmel 1992, 336–342 sowie die Einleitung zu diesem Band und den Beitrag von Gunnar Seelentag.
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Prestigeformen nur begrenzt möglich. Jeder, der potentiell versuchte, Prestige, das er in anderen Feldern der Konkurrenz nach anderen Regeln erworben hatte, in einen neuen Kontext zu überführen – etwa wie Hektor, der sein Prestige als Krieger nutzte, um die Spielregeln in der agora zu seinen Gunsten zu verändern –, musste potentiell mit Widerstand von Seiten seiner Konkurrenten rechnen. Das förderte die Ausbildung relativ autonomer institutioneller Subsinnwelten, in denen relativ objektive Verfahren der Konkurrenz herrschten oder zumindest normativ eingefordert werden konnten. Das mag teilweise ‚modern‘ anmuten, ist es aber gerade nicht. Dass objektive Konkurrenz keineswegs selbstverständlich ist, zeigt sich deutlich am Verhalten der Dritten Instanz. Denn obschon die Dritte Instanz – im Fall der agora der demos – davon profitiert, dass ein objektives Sich-Messen-mit-Worten stattfindet, bei dem am Ende der beste Rat obsiegt und dieser Punkt auch nicht unwichtig ist, reicht das allein trotzdem nicht aus, um ein objektives Verfahren zu garantieren: Die Troianer folgen letztlich dem schlechten Rat Hektors und bei den Achaiern gibt Thersites einen objektiv durchaus nicht unvernünftigen Rat, wird aber dennoch unter dem kollektiven Gelächter der Versammelten von Odysseus niedergeprügelt.38 Die Bereitschaft des demos, den angesehenen Herren zu folgen, scheint relativ hoch gewesen zu sein, und das ist an sich auch nicht anders zu erwarten. Zentral ist daher die Uneinigkeit innerhalb derjenigen, die potentiell über Ansehen verfügen, darüber, was als legitime Quelle von Prestige und Ansehen zu gelten habe: Erst dieser fehlende Konsens über ein einheitliches Konzept von Adeligkeit lässt Konkurrenz in verschiedenen Feldern überhaupt zu und nur so sind die Postulate nach objektiven Verfahren zu erklären. Das Modell, das ich eben entworfen habe, ist letztlich zirkulär: Weil es verschiedene Felder der Konkurrenz mit jeweils eigenen institutionellen Subsinnwelten gibt, die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene miteinander in Geltungskonkurrenz stehen, gibt es kein gesamtgesellschaftlich anerkanntes Konzept von Adeligkeit, und genau das wiederum stabilisiert die Autonomie der institutionellen Subsinnwelten. Es wäre aber verkehrt, hierin eine gleichbleibende Konstante zu sehen. Gerade in den überschaubaren Verhältnissen archaischer poleis müssen wir wohl mit zunehmenden Abschließungstendenzen der Oberschicht rechnen, die mit den durch Institutionalisierung veränderten Handlungsräumen einhergingen. Institutionalisierung und veränderte Handlungsräume Trotz der schlechten Quellenlage kann man einige Tendenzen ausmachen, die auf veränderte institutionelle Rahmenbedingungen schließen lassen. Bedeutsam ist vor allem die Ausbildung abstrakter Rollen. Homerische Helden scheinen unter dauerndem Druck zu
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Hom. Il. 2.211–270.
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stehen, sich zu bewähren: Man ist der Beste in irgendetwas; institutionalisierte Rollen, die Prestige vermitteln, sind dagegen wenig ausgeprägt. Man ist eben nicht Feldherr und damit qua Funktion für Siege des Gesamtheers verantwortlich, sondern man muss sich als der Beste im Kampf bewähren. Das ist auch dem Genre des Epos geschuldet, aber nicht nur. Denn eine Versachlichung von Amtsrollen im Rahmen der sich ausbildenden polis ist eindeutig feststellbar und markiert eine entscheidende Veränderung.39 Sobald Ämter wechselnd bekleidet werden können, können sie zu einem objektivierten Indikator dafür werden, dass man über das notwendige Prestige verfügt, um als ‚amtsfähig‘ zu gelten. Das zeigt sich deutlich an einer bislang in der Forschung kaum beachteten Veränderung: Bei Homer geht das Ausüben öffentlicher Funktionen noch automatisch einher mit materiellem Gewinn. Es sei eine gute Sache, basileus zu sein, erklärt Telemachos, denn dann fülle sich das Haus mit Gütern.40 Homerische basileis erhalten zudem ein temenos, ein speziell abgetrenntes Stück Land, mit dem sie vom demos geehrt, aber auch ganz konkret materiell für ihre Tätigkeit belohnt werden.41 Im Verlauf der Archaik verschwand diese Praxis weitgehend: Ämter wurden zu Ehrenämtern, die man um der Ehre willen bekleidete. Deutlich zeigt sich dies an den athenischen Zensusklassen, anhand derer die Amtsfähigkeit festgemacht wurde: Gemäß der 39
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Das berühmte Iterationsverbot von Dreros (Meiggs/Lewis 1969, Nr. 2 = Koerner 1993, Nr. 90 = Nomima 1, Nr. 81 = Gagarin/Perlman 2016, Dr1) als älteste erhaltene Inschrift zu Polis-Institutionen setzt bereits eine im Vergleich zu den Epen fortgeschrittene Versachlichung von Amtsrollen voraus. Für ein Modell, wie man diese Inschrift in einem Prozess der Institutionalisierung von „Prominenzrollen“ verorten kann, s. Seelentag 2009 und Seelentag 2015, 139–163. Hom. Od. 1.392 f. Das temenos als von der Gemeinschaft als Ehre vergebenes Land findet Erwähnung bei Hom. Il. 6.194 f. (die Lykier geben Bellerophon ein temenos); 9.574–580 (die Geronten Aitoliens versprechen Meleagros ein temenos); 20.184–186 (Achill verhöhnt Aias, er hoffe, die Troianer würden ihm ein temenos geben); als Teil der verpflichtenden Ehrenstellung des basileus erscheint das temenos bei Hom. Il. 12.313 f.; als Teil des unangetasteten geras von Odysseus gilt bei Hom. Od. 11.184–186, dass Telemachos weiterhin die temenea besitze; die Beschreibung eines explizit als temenos basileion bezeichneten Landes findet sich in der Schildbeschreibung (Il. 18.550–560); der auf troischer Seite kämpfende Iphition hat ein temenos patroion, was auf die Erblichkeit dieses Landes hindeutet, ferner werden ein temenos des Alkinoos (Od. 6.291–294) und des Odysseus (Od. 17.299) erwähnt. Die Debatten rund um dieses ‚Königsland‘ sind beachtlich. Anfänglich drehte sich die Diskussion v. a. um die Frage, wie die Besitzstrukturen zu rekonstruieren seien, ob es sich um enteignetes Privatland handele (Finley 1957, Henning 1980) oder Gemeindeland, das den basileis zur Urbarmachung übertragen worden sei (Donlan 1989). In Anbetracht der Aporien im Detail wurde jedoch generell angezweifelt, ob es sich bei den temena um eine konsistente historische Praxis und nicht viel eher um ein Amalgam handeln könnte (Hahn 1977; Link 1994). Dagegen argumentiert van Wees 1992, 294–298, der gerade in diesem Punkt ein Indiz für Ansätze einer Institutionalisierung der öffentlichen Rolle der basileis sieht. Der Umstand, dass bei der Neuordnung Kyrenes Mitte des 6. Jahrhunderts temena für den basileus Battos festgelegt wurden (Hdt. 4.161.3) und dass Xenophon (Lak. pol. 15.3) von speziellem Land (ἐξαίρετος γῆ) berichtet, das die spartanischen Könige im Periökengebiet zugewiesen erhielten, deutet ganz im Sinne von van Wees darauf hin, dass die in den Epen geschilderte Praxis historische Plausibilität besitzt und sich in einigen Gemeinwesen auch noch in historisch hellerer Zeit erhalten hatte.
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Verfassung der Athener beruhte die Einteilung weitestgehend auf Selbstdeklaration,42 was nur dann einen Sinn ergibt, wenn das Bekleiden von Ämtern mit Kosten verbunden war. Auch das zeigt die Verfassung der Athener deutlich. Denn im 4. Jahrhundert, in dem verschiedene Ämter besoldet waren, gab einfach niemand mehr an, zu den Theten zu gehören43 – womit der Sinn der auf Selbstdeklaration basierenden Zensusklassen hinfällig wurde. In der Archaik jedoch scheint man bereit gewesen zu sein, für die mit Ehre verbundenen Ämter ökonomische Einbußen in Kauf zu nehmen. Das alles sind Indizien, dass Polisämter zunehmend zu einem zentralen Gradmesser für Prestige wurden. Oder präziser formuliert: Die Zugehörigkeit zu der als amtsfähig erachteten Gruppe einer polis wurde zu einem zentralen, objektiv nachvollziehbaren Kriterium, ob man zur Elite gehörte oder nicht. Eigentum an Land und Vieh scheint dabei in den meisten poleis das entscheidende Kriterium gewesen zu sein. Termini wie geomoroi oder hippeis deuten jedenfalls in diese Richtung.44 Landbesitz ist eine sehr sichtbare Form von Reichtum, oft verbunden mit einem bestimmten Lebensstil.45 Gleichzeitig ist damit aber auch klar, dass eben nicht Reichtum per se Ehre vermitteln kann. Denn Personen mit beweglichem Besitz und erst recht Ortsfremde blieben vom Regiment und den prestigevermittelnden Ämtern aus42
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[Aristot.] Ath. pol. 7.3–4. – Die Selbstdeklaration lässt sich aus der Praxis des 4. Jahrhunderts (s. u.) zweifelsfrei erschließen. Der agrarische Charakter der Zensusklassen passt gut zur bäuerlichen Lebenswelt des archaischen Griechenlands, wie sie Schmitz 2004 rekonstruiert hat, in welcher der Besitz eines Ochsengespanns den vollbäuerlichen Status markierte. Die Zeugiten, d. h. die Gespannbesitzer, sind folgerichtig noch Teil der amtsfähigen Schicht, wenn auch nur für die niederen Ämter zugelassen. Ein Problem bei den Zensusklassen stellen die Scheffelzahlen dar, die um ein Vielfaches über dem liegen, was als Ertrag von den 5 ha Land zu erwarten wäre, die als Existenzgrundlage für einen gespannbesitzenden Subsistenzbauern zu veranschlagen sind. Foxhall 1997 und van Wees 2006 argumentieren daher für eine sehr exklusive landbesitzende Oberschicht – ich halte das nicht für notwendig: Die Zahlenangaben dürften auf anachronistischen Analogieschlüssen späterer Zeiten beruhen; dafür, dass der Besitz eines Gespanns einen Haushalt als vollwertig qualifizierte, gibt es viele Parallelen im frühneuzeitlichen Europa, die zudem auch zeigen, dass es sich dabei immer noch um eine – gemessen an der Gesamtbevölkerung – relativ exklusive Gruppe handelte, während deutlich über 50 % der männlichen Mitglieder einer Gemeinde nicht über derartige Ressourcen verfügten. Prägnant sind hier etwa die Untersuchungen von Simon 1981 zum frühneuzeitlichen Baselland, wo der Anteil der Gespannbauern unter der Dorfbevölkerung sich im einstelligen Prozentbereich bewegte. [Aristot.] Ath. pol. 7.4: τοὺς δ’ ἄλλους θητικόν, οὐδεμιᾶς μετέχοντας ἀρχῆς. διὸ καὶ νῦν ἐπειδὰν ἔρηται τὸν μέλλοντα κληροῦσθαί τιν’ ἀρχήν, ποῖον τέλος τελεῖ, οὐδ’ ἂν εἷς εἴποι θητικόν. Geomoroi beziehungsweise gamoroi finden sich im frühen 5. Jahrhundert in Syrakus belegt: Hdt. 7.155.2 und Timaios FGrH 566 F 8. Im Jahre 412 wird eine als geomoroi bezeichnete Oberschicht in Samos gestürzt: Thuk. 8.21. Die Erwähnung samischer geomoroi für das frühe 6. Jahrhundert bei Plut. qu. Gr. 57 (= mor. 303e–304c) ist historisch zweifelhaft. Hippeis begegnen als herrschende Gruppe (also als abgrenzbare Schicht, die allein als amtsfähig gilt) für frühe poleis bei Aristot. pol. 1289b 33–40 sowie in den athenischen Zensusklassen. Hdt. 5.77.2 und 6.100.1 nennt die Bezeichnung hippobatai für die Führungsschicht in Chalkis im frühen 5. Jahrhundert. Die Bedeutung des Lebensstils betont mit Nachdruck Duplouy 2014 in Hinblick auf die solonischen Zensusklassen. Vgl. auch Duplouy 2013 zu den ‚Tausend‘ von Kolophon und allgemein zur Bedeutung von (elitärem) Bürgerstatus und Performanz Duplouy 2018.
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geschlossen. Das gab durchaus Potential für Spannungen. Rechtliche Ausgrenzungen von Fremden und Restriktionen beim Erwerb von Grundbesitz hängen sicherlich damit zusammen. Dass Hesiods Vater im frühen siebten Jahrhundert als Fremder in Askra einen ganz beachtlichen Grundbesitz erwerben konnte,46 ist daher eine Praxis, die in spätarchaischer Zeit in der Form kaum noch ohne weiteres möglich gewesen wäre. Nebst den poleis institutionalisierte sich jedoch mit den panhellenischen Agonen ein weiteres Feld des Prestigeerwerbs, das nach ganz eigenen Regeln funktionierte.47 Bei den Leichenspielen für Patroklos in der Ilias konnte Achill als Spielgeber noch in die Spiele eingreifen und etwa Agamemnon den ersten Preis im Lanzenwurf geben, ohne dass dieser überhaupt antreten musste.48 Das war in den späteren Agonen so nicht mehr möglich. Was in der Ilias als Forderung begegnet, aber in der Praxis nicht immer eingehalten wird, nämlich dass der nach objektiver Leistung bemessene „Beste“ gewinne, wird ab dem sechsten Jahrhundert als Norm durchgesetzt. Katalysator dieser Entwicklung war sicherlich die Konkurrenz der einzelnen Wettkampforte untereinander um die besten Athleten. Dabei bemühte man sich, möglichst faire Wettkampfbedingungen zu garantieren, um attraktiv zu erscheinen. Deutliches Indiz für diese Bemühungen ist eine spätarchaische Bronzetafel aus Olympia, die analog zu den Gesetzen in der polis Regeln für den Wettkampf verbindlich festlegt und sichtbar macht.49 Die Autonomie der Agone als Institution mit einer ihr spezifischen „Eigengültigkeit“ zeigt sich besonders deutlich in einer seltsamen und viel zu wenig beachteten Besonderheit, die auch in dieser Inschrift begegnet: Fehlbare Athleten wurden geschlagen und zwar offenbar ziemlich brutal und öffentlich.50 In Anbetracht der hohen Symbolik, die Körperstrafen sonst in der griechischen Welt zukam, ist es hochgradig bemerkenswert, dass sich gerade auch die angesehensten Personen in ein Feld der Konkurrenz begaben, in dem sie solche Strafen riskierten. Sehr viel deutlicher kann die Eigengültigkeit dieser institutionellen Ordnung und der in ihr ausgetragenen Konkurrenz nicht zum Ausdruck gebracht werden. Zentral ist jedoch vor allem, dass mit den Agonen, ähnlich wie mit den Ämtern in der polis, Prestige objektiviert werden konnte. Ein Sieg in Olympia oder Delphi war eine klar definierte Größe, die, einmal erworben, auch auf Dauer gestellt wurde. Ein
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Hes. erg. 633–640. Zwar klagt Hesiod in der Passage über das elende Askra, doch der Umstand, dass das geteilte Erbe zwei Brüdern vollbäuerlichen Status ermöglichte, deutet darauf hin, dass das ein Klagen auf hohem Niveau ist. Für Hesiod als „gentleman-farmer“ s. van Wees 2013, 226–229. Vgl. dazu den Beitrag von Arlette Neumann-Hartmann in diesem Band. Hom. Il. 23.884–897. Die häufigen Interventionen Achills und der Umstand, dass verschiedene Personen Preise erhalten, ohne ‚objektiv‘ gewonnen zu haben, sieht Papakonstantinou 2002, 52–62 als typisch für die Leichenspiele an, wo die Geschenkezirkulation zwischen einem „ascribed status“ und einem „achieved status“ zu oszillieren scheint. Publiziert bei Ebert/Siewert 1999 als BrU 2 (= NIO 2 = IED 5). BrU 2.2 (= NIO 2 = IED 5): [κολ]άδοι παίον κα ὀ διαιτατὲρ πλὰν κατὰ κεφαλάν [– – –]. Zum Phänomen der Züchtigung von Athleten s. Crowther/Frass 1998 und Weiler 2013, 620–626.
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homerischer Held konnte zwar im Laufen der Beste sein, doch ein Olympiasieger im Laufen blieb Olympiasieger, auch wenn seine physischen Fähigkeiten nachließen. Der durch den institutionellen Rahmen sanktionierte Sieg war zu einer zähl- und vergleichbaren Größe geworden, die als verdinglichtes Prestige unabhängig von der tatsächlichen Bewährung existierte. Der Umstand, dass es mit den panhellenischen Agonen und der polis zwei institutionelle Ordnungen gab, in denen man – nach jeweils eigenen Regeln – objektiviertes Prestige erwerben konnte, eröffnete den Akteuren Handlungsspielräume. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich der ältere Kimon.51 Als Angehöriger der angesehenen Familie der Philaiden und Olympiasieger musste er unter dem Tyrannen Peisistratos ins Exil, war also von der polis und ihren Ämtern ausgeschlossen. Doch offenbar verfügte er noch über genügend Ressourcen, um erneut ein Pferdegespann in Olympia antreten zu lassen und ein zweites Mal zu siegen. Diesen zweiten Sieg (nach der rekonstruierten Chronologie 532) trat er an Peisistratos ab, der ihm nun zum Dank verpflichtet die Rückkehr nach Athen ermöglichte.52 Kimon nutzte also die Möglichkeit, außerhalb der ihm verschlossenen institutionellen Ordnung der polis Athen objektiviertes Prestige in Form eines Olympiasiegs zu erwerben, und setzte dieses verdinglichte Prestige dann als Währung ein, um sich die Rückkehr nach Athen zu erkaufen. Spannungsfrei war das Verhältnis zwischen polis und den außerhalb der polis zu erringenden Formen von Prestige jedoch keineswegs.53 Die Frage, welche Geltung ein Olympiasieg in der polis haben sollte und wie man einen siegreichen Athleten in die institutionelle Ordnung der Heimatpolis einbinden soll, war alles andere als trivial. Das musste auch Kimon erfahren, der nach einem dritten Olympiasieg offenbar als Gefahr für die herrschende Ordnung angesehen und von den Söhnen des Peisistratos ermordet wurde.54 Kylon, der angeblich in vorsolonischer Zeit eine Tyrannis errichten wollte, war bezeichnenderweise ebenfalls ein Olympiasieger und soll seinen Putschversuch am Jahrestag seines Sieges durchgeführt haben.55 Ob die Geschich51 52
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Hdt. 6.103. Zu Kimon s. Stahl 1987, 116–120 und Mann 2001, 82–85; vgl. ferner Papakonstantinou 2013 sowie den Beitrag von Elke Stein-Hölkeskamp in diesem Band. Zur Datierung s. Moretti 1957, Nr. 124; den ersten Sieg datiert Moretti 1957, Nr. 120 auf 536. Die Erinnerung an Kimons Siege scheint ganz wesentlich mit seinem Grab (und dem seiner Pferde) als Erinnerungsort verbunden gewesen zu sein; das Grab erwähnen Hdt. 6.103.3; Plut. Cato maior 5.4 und Ael. NA 12.40. – Dabei ist allerdings fraglich, was davon tatsächlich archaisch und was nachträglich rekonstruiert war: Die von Ael. VH 9.32 erwähnten Bronzepferde dürften den Persersturm kaum überlebt haben. Dazu Mann 2001. Hdt. 6.103.3. Moretti 1957, Nr. 127 datiert den dritten Sieg auf 528. Hdt. 5.71; Thuk. 1.126; vgl. auch Plut. Solon 12.1–3, dazu Mann 2001, 64–67. Die Datierung des Sieges in die 35. Olympiade (Moretti 1957, Nr. 56) ist völlig spekulativ – das Datum ist spätantik und basiert auf Eusebius. Die Erinnerung an die Kylon-Affäre dürfte dennoch einen historischen Kern haben: Sie hängt mit dem daraus abgeleiteten Fluch zusammen, der im 6. und 5. Jahrhundert gegen die Alkmeoniden in Stellung gebracht wurde und dadurch die Geschichte aktuell hielt; bei der von Paus. 1.28.1 erwähnten Statue Kylons auf der Akropolis (die, da sie aus Bronze war,
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te historisch ist, ist sehr fraglich; sie zeigt aber, dass die Vorstellung, Olympiasieger könnten Ambitionen auf eine Tyrannis entwickeln, den Griechen des 5. Jahrhunderts durchaus plausibel erschien. Das Problem dahinter ist struktureller Natur: Zwar konnten sich in den kleinräumigen Verhältnissen der poleis institutionelle Ordnungen ausbilden, die wohl auch über einigermaßen stabile Hierarchien verfügten. Ich möchte auch nicht ausschließen, dass es in einzelnen poleis zu so etwas wie einer Adelsbildung kam – etwa indem sich eine kleine Gruppe amtsfähiger Landbesitzer zu einem ‚Kartell‘ zusammenschloss und Prestigerollen unter sich aufteilte.56 Doch die Möglichkeit einzelner Akteure, außerhalb der polis Prestige und Machtmittel zu erringen und dies dann in die polis zu überführen, bot ein dauerndes Destabilisierungspotential. Sportliche Siege sind dafür nur ein Beispiel. Polisübergreifende Ehen und Freundschaftsbeziehungen sowie die Möglichkeit, außerhalb der Heimat beweglichen Reichtum zu erlangen, trugen ebenfalls nicht zur Stabilität der Ordnung in der polis bei. Athletische Siege sind hier freilich ein besonderer Fall. Die Integration erfolgreicher Athleten in die Prestigeordnung der Heimatpolis war ein Problem. Doch anders als bei externen Heiraten oder Gastfreundschaften handelte es sich bei athletischen Siegen, zumindest ab dem 6. Jahrhundert, um objektiviertes Prestige und das bot Möglichkeiten, in institutionalisierten Formen damit umzugehen. Aus Athen ist ein angeblich solonisches Gesetz überliefert, das festlegt, welche Prämien ein erfolgreicher Olympionike beziehungsweise ein Sieger bei den Isthmien erhalten solle: Er schrieb vor, dass man einem, der bei den Isthmien gesiegt hat, hundert, einem Olympioniken 500 Drachmen gibt.57
Das Gesetz dürfte aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts stammen58 und stellt einen Versuch dar, eine bestehende Konfliktsituation zu regeln. Der Umstand, dass das
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offenbar nach dem Persersturm ersetzt wurde) könnte es sich um eine Sühne-Weihung handeln, die als Erinnerungsort (zumal mit einer Inschrift, die den Olympiasieg erwähnte) ebenfalls dazu beigetragen haben dürfte, dass die Erinnerung an Kylon wachgehalten wurde. Sehr viel mehr, als dass es mit einem Olympiasieger zu einem Konflikt kam, der gesühnt werden musste, lässt sich jedoch kaum sagen: Allein der Umstand, dass Kylon bei Herodot stirbt und bei Thukydides entkommt, zeugt von erheblichen Divergenzen in der Erinnerung des ausgehenden 5. Jahrhunderts. Der Fund eines Massengrabs aus dem späten 7. Jahrhundert 2016 in einer Nekropole bei Phaleron bezeugt die Existenz größerer Stasis-Gruppen von offenbar bis zu 80 Personen, die dort systematisch hingerichtet wurden; das unterstreicht die Plausibilität der Geschichte für das 7. Jahrhundert, mehr aber auch nicht; vgl. https://www.sueddeutsche.de/wissen/archaeologie-antikes-massengrab-in-athen-sind-es-hingerichtete-putschisten-1.2953316 [26.03.2019]. Vgl. dazu den Beitrag von Gunnar Seelentag in diesem Band. Plut. Solon 23.3 (= F 143a Ruschenbusch = F 89/1a Leão/Rhodes) (eigene Übersetzung): τῷ δ’ Ἴσθμια νικήσαντι δραχμὰς ἑκατὸν ἔταξε δίδοσθαι, τῷ δ’ Ὀλυμπιονίκῃ πεντακοσίας. Vgl. Diog. Laert. 1.55; Diod. 9.2.5 (= F 143b–c Ruschenbusch = F 89/1b–c Leão/Rhodes). Ruschenbusch hatte das Gesetz 1966 noch unter den falsa eingeordnet, wobei er primär die hohe Siegesprämie als unplausibel verworfen hatte; doch ein archaisches Siegerepigramm aus Sybaris
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panhellenische Prestige eines athletischen Sieges als solches eine eindeutige Größe ist, erlaubt es, institutionell festzulegen, wie dieses Prestige in die polis überführt werden soll. Das stabilisiert die Verhältnisse nur bedingt. Denn dadurch wird von der polis selbst anerkannt, dass es eine institutionelle Ordnung außerhalb ihrer selbst gibt, die Prestige generieren kann, das in der polis Geltung besitzt. Doch die polis Athen legt die Bedingungen fest, unter denen diese Geltung zum Tragen kommt. Von Tyrtaios zu Xenophanes Über die ‚fehlgeleitete‘ Wertschätzung von athletischem Prestige konnte man sich auch in spätarchaischer Zeit noch trefflich echauffieren. Xenophanes polemisierte Ende des 6. Jahrhunderts in einem Gedichtfragment gegen Athleten und zeigte sich empört über die Ehren, welche die polis Olympiasiegern gewähre, wo doch er, Xenophanes, mit seiner Weisheit der polis viel mehr nütze: Aber wenn irgendeiner mit der Schnelligkeit der Füße einen Sieg erränge Oder den Fünfkampf ausübend, dort beim heiligen Bezirk des Zeus Beim Fluss Pisas in Olympia, oder als Ringer kämpfend Oder die schmerzvolle Kunst des Boxens ausübend Oder den gewaltigen Wettbewerb, den sie Pankration nennen, Den Städtern erschiene er ehrenvoller Und er würde einen sichtbaren Ehrenplatz bei den Agonen erhalten Und Speisungen aus den öffentlichen Besitzungen Von der Polis. Und ein Geschenk, das ihm ein Erbstück wäre – Oder wenn er mit den Pferden siegte: all dies würde er erhalten, Und wäre doch nicht so viel wert wie ich. Denn besser als die Stärke Von Männern oder Pferden ist unsere Weisheit.59
Geltungskonkurrenz ist noch immer da. Vieles bei Xenophanes erinnert an den eingangs zitierten Tyrtaios. Doch Tyrtaios polemisierte gegen die Tüchtigkeit der Füße,
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(Ebert 1972, 251–255 = CEG 394) hat inzwischen gezeigt, dass solche Prämien für Olympioniken im 6. Jahrhundert keineswegs abwegig sind – ferner sprechen der deutliche Vorrang Olympias und die fehlende Nennung der Pythien und Nemeen dafür, dass das Gesetz aus einer Zeit vor der Institutionalisierung der periodos stammen muss. Für ein authentisches Gesetz des 6. Jahrhunderts (wenn auch nicht zwingend ‚solonisch‘) plädieren daher Weiler 1983; Mann 2001, 68–80 sowie Leão/Rhodes 2015, 146. Xenophanes Frg. 2.1–12 West (= 2 Gentili/Prato = 2 Diels) (eigene Übersetzung): ἀλλ’ εἰ μὲν ταχυτῆτι ποδῶν νίκην τις ἄροιτο / ἢ πενταθλεύων, ἔνθα Διὸς τέμενος / πὰρ Πίσαο ῥοῆις ἐν Ὀλυμπίηι, εἴτε παλαίων / ἢ καὶ πυκτοσύνην ἀλγινόεσσαν ἔχων / εἴτε τὸ δεινὸν ἄεθλον ὃ παγκράτιον καλέουσιν, / ἀστοῖσίν κ’ εἴη κυδρότερος προσορᾶν, / καί κε προεδρίην φανερὴν ἐν ἀγῶσιν ἄροιτο, / καί κεν σῖτ’ εἴη δημοσίων κτεάνων / ἐκ πόλεως, καὶ δῶρον ὅ οἱ κειμήλιον εἴη – / εἴτε καὶ ἵπποισιν· ταῦτά κε πάντα λάχοι, / οὐκ ν ἄξιος ὥσπερ ἐγώ· ῥώμης γὰρ ἀμείνων / ἀνδρῶν ἠδ’ ἵππων ἡμετέρη σοφίη.
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die Kunstfertigkeit als Ringer und gegen Kraft und Größe – also gegen physische Qualitäten, die er als nicht bedingungslos lobenswert erachtete. Xenophanes dagegen polemisiert gegen olympische Siege, gegen objektiviertes Prestige, das im Rahmen seiner Heimatpolis zu institutionalisierten Ehrungen berechtigt. Trotz aller Ähnlichkeiten zwischen den beiden Dichtern hat sich der institutionelle Rahmen, in dem sich ihre Kritik bewegt, in den rund hundert Jahren, die sie trennen, grundsätzlich verschoben. Das Problem, dass es kein einheitliches Kriterium gab, das ‚Adel‘ verleihen konnte, blieb weiterhin bestehen oder wurde sogar noch verschärft, indem die polis die Geltung von Prestige anerkannte, das in einer gänzlich anderen institutionellen Ordnung erworben werden konnte. Doch auch wenn ich weiterhin nicht von einem ‚Adel‘ sprechen möchte, so wird dadurch doch, zumindest graduell, die Geltungskonkurrenz zwischen verschiedenen Formen des Prestigeerwerbs entschärft. Die bei Homer noch weitgehend unsystematisch nebeneinander stehenden Praktiken des Prestigeerwerbs mit ihren jeweiligen ‚Partiell-Besten‘ werden zunehmend in einen institutionellen Rahmen gefasst und auf die einzelnen poleis als zentraler Lebens- und Wirkungsraum der um Prestige konkurrierenden Akteure bezogen. Einen homogenen adligen Wertehorizont gibt es auch am Ende der Archaik nur begrenzt, aber es gibt ihn eher als zu Beginn.60 Mit diesem institutionellen Rahmen verengten sich aber auch die Handlungsspielräume der Akteure: Tyrtaios konnte wohl noch hoffen, mit seinen Liedern tatsächlich die Geltung nichtkriegerischen Prestiges in Sparta zu mindern; zumal er selbst seine Lieder zum Medium erhob, durch das die Betroffenen geehrt oder mit Schweigen übergangen wurden. Xenophanes dagegen polemisierte kontrafaktisch gegen eine festgefügte, von seiner Heimatpolis sanktionierte institutionelle Ordnung. So bedeutsam seine intellektuelle Außenseiterperspektive für eine Geschichte des griechischen Denkens ist,61 so gering dürfte ihre tatsächliche gesellschaftliche Wirkung geblieben sein. Wir wissen nicht, wie die Zeitgenossen Xenophanes sahen – mit seiner Empörung gegen festgefügte Institutionen erinnert er aber sehr viel eher an Bourdieus „Irren, der sich für Napoleon hält“ als an den „Präsidenten der Republik“.
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Nebst der Institutionalisierung ist hier auch der Umstand hervorzuheben, dass die erga, in denen man sich auszeichnen kann, reduziert werden: In den homerischen Epen gibt es nicht nur Werke des Krieges und des ‚Sports‘, sondern ‚Könige‘ und ‚Prinzen‘ arbeiten auch sehr konkret auf dem Feld, versorgen ihre Tiere und hüten Vieh; Helden wie Paris oder Odysseus bauen ihr eigenes Haus (Il. 6.313–315) beziehungsweise zimmern ihr eigenes Bett (Od. 23.189–201), und der Priamos-Sohn Lykaion baut sich seinen Wagen selbst (Il. 21.35–38) – das heißt, es fehlt die für einen auf Distinktion bedachten Adel typische Abwertung manueller Arbeit. So kann Phereklos, als geschickter Handwerker gelobt (Il. 5.59–68), auf einer Ebene erscheinen mit Skamandrios, der sich als Jäger auszeichnet (Il. 5.49–58), oder dem Helden Pedaios und Hypsenor, die über ihre prominenten Väter charakterisiert werden (Il. 5.69–78). Davon ist in späteren Quellen nichts mehr zu erfahren, dafür wird manuelle Arbeit zunehmend abgewertet und im 5. Jahrhundert taucht der pejorative Begriff banausos auf, vgl. Meier 2003 48–65 und 73 f. sowie Morawetz 2000, bes. 41–47. Dazu allgemein Itgenshorst 2014 sowie in ihren Beitrag in diesem Band, 261 f. mit einer kurzen Besprechung der Xenophanes-Stelle.
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Das Kartell Ein Modell soziopolitischer Organisation in der griechischen Archaik Gunnar Seelentag Abstract: The model actors that we can reconstruct from Archaic sources were essentially in competition with one another for limited goods. What incentives did they have for pooling their resources in cooperation with one another and investing them ‘in the polis’? To answer this question, this chapter develops a model on the basis of Georg Simmel’s concept of the ‘cartel’ and game theory, whereby actors forego certain competitive practices and attempt to guarantee this collective arrangement by means of institutionalisation: Elites in the Archaic period sought the stable exercise of power over social inferiors; the resources they saved by forming cartels made it possible for them to define the group of cartel members by means of diacritical practices toward non-members and to ideologize this dividing line. Acceptance of the creation of such cartels was facilitated by the fact that social inferiors were integrated in the political process under controlled conditions, thus occupying the role of a ‘third instance’ according to Simmel. It also becomes clear that mechanisms of ethical homogenisation and exclusion were extremely important for interacting with those who resisted joining in such – constantly precarious – cooperation.
Bislang hat die Forschung nur wenig konkrete Vorstellungen entwickelt, unter welchen Umständen im archaischen Griechenland, zwischen 700 und 500 v. Chr., politische Institutionen entstanden – also Ämter, Gremien und Verfahren. Viele Erklärungsversuche sind geprägt von evolutionären Modellen, die ausgehend von Verhältnissen des 5. und 4. Jahrhunderts betonen, dass Gemeinschaften sich unter den Dynamiken von demographischem, ökonomischem wie sozialem Wandel mit gewisser Zwangsläufigkeit zu einem höheren Maß innerer Stratifizierung, Differenzierung und Hierarchisierung entwickelten. Hierbei wird Institutionalisierung häufig als ein rationaler Vorgang beschrieben: Und so habe die Schaffung von abstrakten Ämtern und politischen Entscheidungsorganen in der Archaik eine erhebliche Effizienzsteigerung bei
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der Findung und Durchführung allgemein verbindlicher Entscheidungen bewirkt – ja: bewirken sollen.1 Verregelung wird hier also als ein so zwingender wie rationaler Vorgang beschrieben. Demgegenüber bin ich bemüht, die potenzielle Ergebnisoffenheit, Pfadabhängigkeit und die historische Vielfalt jener vermeintlich zwingenden Entwicklungen zu betonen. Denn von den Versammlungsplätzen der homerischen Epen führten die Wege eben nicht allein zur athenischen Demokratie, sondern auch zu so unterschiedlichen Gesellschaften wie Sparta und Syrakus, zu den zahlreichen polis-Gemeinschaften Kretas und den Ebenen Thessaliens.2 Sofern wir uns nicht damit zufriedengeben wollen, Geschichte als Resultat supraindividueller Kräfte mit eigenem Willen zu sehen, etwa ‚der polis‘, müssen wir nach menschlichen Triebkräften fragen. Deshalb versuche ich den Blick auf die möglichen Akteure von Institutionalisierung zu lenken und ihre Handlungsmotive zu identifizieren. Denn – und ich gebe zu, das Folgende allzu schlicht auszudrücken – wurde der Wandel ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ durchgesetzt? Schreiben wir eher den Eliten die Initiative zu, müssen wir erklären, warum jene die Verregelung und Beschränkung ihres Wettbewerbs nicht nur akzeptierten, sondern aktiv vorantrieben. Und wir müssen beantworten, wie unter ihnen jene Kooperation entstehen konnte, welche etwa bereits die frühesten Gesetze reflektieren; immerhin galten die archaischen aristoi der Forschung lange Zeit als hochgradig agonal, und dies auf allen möglichen gesellschaftlichen Feldern.3 Doch sehen wir eine breitere Menge des Volkes jenseits eines engeren Kreises von Eliten als die maßgebliche gesellschaftliche Kraft hinter Gesetzgebung und Institutionalisierung, so müssen wir erklären, unter welchen Umständen und zu welchem Ziel diese in den archaischen Quellen kaum differenzierte Menge aktiv werden konnte. Das Ende unserer Vorstellung einer Hoplitenpoliteia aus selbstbewussten Akteuren einer ‚Mittelschicht‘ mit eigenem Standesbewusstsein gegenüber ‚den Eliten‘ stellt uns jedenfalls vor die Frage, wie jene vermeintlich unterelitären Schichten hätten selbstorganisiert handeln können.4 Überhaupt sind wir mit dieser Herangehensweise nach wie vor nur bei Akteurskollektiven und gesellschaftlichen Großgruppen.
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Dieser Ansatz findet sich prominent etwa in Ober 2015. Diese Vielfalt betonen etwa Gehrke 1986 und Walter 1993. Einen Überblick über die dominierenden Erklärungsmodelle, welche gesellschaftlichen Dynamiken Institutionalisierung – vor allem inschriftliche Gesetzgebung – hervorgebracht haben mögen, bietet Hawke 2011, 3–18. – Eine kritische Betrachtung der Relevanz des ‚Agonalen‘ der Griechen bietet Ulf 2013. Zum Ende des Modells der Hoplitenpoliteia als Teilnarrativs unserer Meistererzählung und zu Alternativen s. etwa van Wees 2013a und van Wees/Fisher 2015. – Schmitz 2004 sieht in zahlreichen frühen Gesetzen – und sein besonderer Blick gilt den Solon zugeschriebenen Regeln – die Lebenswelt der Gruppe der Voll- beziehungsweise Gespannbauern reflektiert. Deren von ihm mit komparativem Blick rekonstruierte Wirtschaftsweise und Wertewelt sowie die hierin wirkenden Maßnahmen sozialer Sanktionierung gegen Devianz sind geeignet, ein gemeinschaftliches, nicht von irgendeiner Obrigkeit angestoßenes oder zentral organisiertes Handeln zu erklären. Aller-
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Mein Bemühen ist es nun also, die Entstehung und Entwicklung von Institutionen aus der Perspektive individueller Akteure nachzuvollziehen. Immerhin waren es Individuen, die ihre Ressourcen bewusst in der polis oder sogar: in die polis investierten – seien es materielle Güter oder Zeit, Kampfkraft oder die Aktivierung sozialer Beziehungen.5 Vorausgeschickt sei allerdings, dass wir in der archaischen Zeit nicht wirklich Individuen betrachten können, sondern allein Typen von Individuen, also Modellakteure. Diese, ihre Interessen und Handlungsspielräumen sowie die Dynamiken ihrer Gruppenbildung lassen sich freilich unter anderem aus subjektivierten Zeugnissen verschiedener lyrischer ‚Ichs‘ ableiten.6 Zu diesem Zweck möchte ich in diesem Beitrag ein Modell entwerfen, welches auf den Konzepten der ‚Konkurrenz‘ und des ‚Kartells‘ nach Georg Simmel sowie Ansätzen der Spieltheorie aufbaut. Hiermit werden wir über ein Instrumentarium verfügen, (1) um die menschlichen Triebkräfte von Institutionalisierung differenzierter zu betrachten, (2) um Wettbewerb und Kooperation in ein gemeinsames Modell zu integrieren und (3) um die Existenz von Institutionen sowie die immer wieder zu beobachtende Verletzung ihrer Regeln zusammen in den Blick zu nehmen. Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass eine Reihe von Phänomenen, die als charakteristisch für das archaische und frühklassische Griechenland gelten, gemeinsam beschrieben und analysiert werden können: als Reflexionen eines Spannungsfeldes zwischen Wettbewerb und Kooperation – besonders als die bewusste und strategische Einhegung von Wettbewerb durch Institutionen. Hinter dieser Dynamik, die sich als ‚Kartell-Bildung‘ beschreiben lässt, steht, dass die maßgeblichen Akteure einen Teil ihres Wettbewerbsverhaltens beschränkten, um als ein Kollektiv unter kontrollierten Bedingungen Macht auszuüben über sozial Unterlegene und um ihren eigenen soziopolitischen Primat in der Gesellschaft als Gruppe zu sichern.
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dings überbetont sein Modell die Andersartigkeit von ‚Vollbauern‘ einerseits und ‚Adel‘ andererseits; hierzu s. unten. ‚Die Polis‘ war hierbei selbstverständlich keine abstrakte Entität, es standen nicht etwa Akteure einer Institution gegenüber. Vielmehr sehe ich die Polis im obigen Sinn als ein Bündel von Spielregeln und Handlungsweisen erst von den ‚Investitionen‘ der Akteure konstituiert. – Im Resultat wird es häufig durchaus zutreffend sein, dass bei einem Bevölkerungsanstieg auch die institutionelle Komplexität einer Gesellschaft zunimmt. Dies steht aber nicht in direktem kausalen Zusammenhang. Bezeichnend ist die Aussage von Carneiro 1967, 239 f.: „Thus the thesis advanced here is not that societies become more complex only by growing larger, or that as they grow larger they invariably become more complex. Rather the contention is that if a society does increase significantly in size and if at the same time it remains unified and integrated, it must elaborate its organization. (…) Cultural evolution (…) shows itself to be an interplay between quantitative change and qualitative change, between growth and development.“ (meine Unterstreichungen). Notwendig sind also Akteure, die ihre Ressourcen in das Gemeinwesen investieren und dieses dadurch stabil halten – im Wesentlichen, weil sie darin die Perspektive eines Vorteils für sich selbst sehen; ihr Verhalten hat nichts mit einem ‚Altruismus‘ zu tun; s. Ulf 2013, 90–91 zum Spektrum von Typen des Handelns zwischen reinem Egoismus und reinem Altruismus. Zur ‚Stimme‘ der archaischen Dichter s. etwa Rösler 1980 und Itgenshorst 2014.
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Konkurrenz, Kartell und spieltheoretische Grundlagen Wie die Einleitung dieses Bandes betont, zeigt die Konkurrenz nach Simmel eine vergesellschaftende Wirkung, da die Wettbewerber in ihrem Bemühen, die Gunst einer oder vieler außenstehender Personen, der sogenannten Dritten Instanz, zu erlangen, ihr Verhalten auf deren Wohl und Wünsche ausrichten mögen. In diesem Rahmen behandelt Simmel nun aber auch das ‚Kartell‘, welches für ihn eine Extremform einer Koalition ist, deren Mitglieder übereinkamen, sämtliche Wettbewerbspraktiken untereinander auszuschließen.7 Diese Form eines Kartells dürfte freilich ein Idealtyp sein, der in der Realität kaum einmal existiert. Demgegenüber möchte ich von ‚Prozessen der Kartellbildung‘ sprechen, vom Kartell als einem Handlungsmuster. Denn ‚Kartellbildung‘ ist für mich nichts Essentialistisches, sondern eine soziologische Kategorie, ein heuristisches Werkzeug mit dem Potenzial, Muster der Konkurrenz und Kooperation zu ganz unterschiedlichen Zeiten in ganz unterschiedlichen Gesellschaften zu beschreiben und zu analysieren. ‚Kartellbildung‘ lässt sich definieren als „ein Bündnis von Rivalen in sozialen Systemen, in welchen Konkurrenz um begrenzte Güter herrscht“.8 Wichtig ist für mich in Weiterentwicklung des Simmelschen Modells, dass im Kartell nicht auf die Konkurrenz als solche verzichtet wird. Vielmehr kommt eine Anzahl von Konkurrenten dahin überein, auf bestimmte Wettbewerbspraktiken zu verzichten, mit denen der eine den anderen übertrumpfen könnte, beziehungsweise sich auf bestimmte Praktiken zu konzentrieren, um diese zur Konturierung der Gruppenidentität gemeinsam zu inszenieren. Indem sie dies tun, können sie jene Ressourcen einsparen, die sie ansonsten in ihren eigentlichen Wettbewerb investieren müssten. Da nun die Mittel der Konkurrenz nach
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Simmel 1992, 336–342, bes. 340–342, und s. die Einleitung dieses Bandes. Diese Definition folgt Leonhardt 2013, 65. – Bedauerlicherweise wurde nie eine ‚Soziologie des Kartells‘ formuliert. Obschon der Begriff ‚Kartell‘ im 19. Jahrhundert in einem weiten, wenn auch unkonkreten Sinn Verwendung fand, wird er seit etwa 1900 fast ausschließlich in volkswirtschaftlichen Zusammenhängen benutzt und ist dort negativ belegt. Einige ältere wirtschaftsgeschichtliche Studien, wie etwa Mickwitz 1936 und Eckel 1968, nehmen durchaus die Motivation der Akteure in den Blick. Leonhardt 2013 weist allerdings darauf hin, dass der obige, wiewohl allgemein definierte Kartell-Begriff in allen Gesellschaftswissenschaften mit Gewinn eingesetzt werden könne, da seine Voraussetzung, nämlich die Konkurrenzsituation, in zahlreichen sozialen Konfigurationen zu beobachten sei. Leonhardt selbst ist bemüht, die Figur des Kartells für Dynamiken gemeinschaftlichen Handelns auf der Ebene der internationalen Staatenwelt brauchbar zu machen. Noch mehr Potenzial scheint mir diese Figuration zur Modellierung des Handelns individueller Akteure verschiedener historischer Gemeinschaften zu haben. Tatsächlich untersuchen zahlreiche historische Studien gewisse Dynamiken des Gruppenhandelns, die sich mit der hier zu skizzierenden Kartellbildung modellieren ließen, zum Teil ohne hierfür ein treffendes Vokabular der Beschreibung und Analyse zu haben. Als Beispiele seien so unterschiedliche Studien genannt wie von Ogilvie 2014 zum mittelalterlichen Gildenwesen; Gambetta 1996, bes. 100–126 („The Cartel“), zum organisierten Verbrechen; Leeson 2009 zur karibischen Piraterie und van Bavel/Ansink/van Besouw 2017 generell zu „Limited Access Orders“.
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Simmel größtenteils in Vorteilen zugunsten von Dritten bestehen, werden im Falle einer Kartellbildung eben diese Dritten die Kosten der Verständigung über den Verzicht auf Konkurrenzpraktiken zu tragen haben. Wir beobachten mit dem Kartell also eine Institutionalisierung gegen Konkurrenz, eine Institutionalisierung von Kooperation.9 Mit ‚Konkurrenz‘ und ‚Kartell‘ hatte Simmel Gedanken formuliert, die später und unabhängig von seinen Arbeiten zu Bestandteilen der Spieltheorie werden sollten. Mit jener lässt sich das Verhalten von strategisch denkenden und handelnden Akteuren im Kontext von Gruppen ebensolcher Akteure modellhaft beschreiben. Die Spieltheorie behandelt also Entscheidungssituationen, in denen sich mehrere Beteiligte mit ihren Entscheidungen gegenseitig beeinflussen. Was das für unsere Zwecke bedeutet, lässt sich etwa mit dem sogenannten ‚Gefangenendilemma‘ vorführen – zunächst jenem mit nur zwei Parteien. Dieses Szenario bildet ab, dass es unter entsprechenden Bedingungen für Akteure strategisch sinnvoll sein kann, sich auf Handlungen und damit potenzielle Ergebnisse einzulassen, die in ihrer eigenen Wahrnehmung weniger gut sind als andere. Denn das für den individuellen Akteur beste Ergebnis wäre, wenn das Gegenüber nach gewissen einhegenden Regeln spielte, er selbst aber dagegen verstieße, ohne sanktioniert zu werden. Das schlechteste Ergebnis wäre, wenn er selbst kooperierte, der andere aber gegen die Regen verstieße und sich damit durchsetzte. Dazwischen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder verstoßen beide gegen die Regeln, dann droht ein Konflikt mit kostspieligen Folgen für beide. Oder beide halten sich an die Regeln – kooperieren also unter kontrollierten Bedingungen – und erringen damit ein Ergebnis, welches zwar schlechter ist als das für sie jeweils optimale, aber besser als das für sie jeweils schlechteste. In diesem Szenario sind Reputationseffekte einer Kooperation zuträglich: Der Ruf eines Akteurs, verlässlich zu sein, unterstützt sein Gegenüber bei dessen Entscheidung, eher zu kooperieren. Diese Reputationseffekte können sich freilich erst bei wiederholten und zeitlich nicht begrenzten Szenarien auswirken. Erst dann entwickeln die Akteure Interesse daran, als kooperationsbereite Partner zu gelten, und sind um ein entsprechendes Handeln bemüht.10 Das Szenario des gemeinschaftlichen Lebens in der polis bot ebendiese Bedingungen, vor allem, weil es zeitlich unbegrenzt war und damit eine potenziell unbeschränkte Anzahl von Entscheidungssituationen bot. Und so standen den Akteuren in der polis die Optionen vor Augen, dass situativ kompromisslose Nicht-Kooperation individuell bessere Ergebnisse liefern konnte. Denn mit ihr konnte ein Akteur gegebenenfalls, allerdings wenig kalkulierbar, einen großen Gewinn im regelfreien Wettbewerb aller gegen alle erstreiten; ein Scheitern hierin aber bedeutete, womöglich dauerhaft zu den Verlierern zu gehören.11 Demgegenüber versprach kompromissbereite Kooperation 9 10 11
Hierzu s. die Einleitung dieses Bandes. Zu Grundlagen der Spieltheorie s. etwa Axelrod 2009. Die Elegie Solon Frg. 33.5–7 West imaginiert die Stimme eines Widersachers, der sich, hätte er die Machtmittel Solons gehabt, ganz anders als jener verhalten hätte. Diese Zeilen reflektieren
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prinzipiell kollektiv bessere Ergebnisse, und zwar langfristig. Denn sie bot den Akteuren die Perspektive, unter durch Institutionen eingehegten Bedingungen als miteinander Konkurrierende kalkulierbar einen begrenzten Gewinn einzustreichen. Dies gilt vor allem für jene Akteure, welche nicht eine derartige persönliche Macht besaßen, sich auch gegen den Willen mehrerer kooperierender Peers durchzusetzen.12 Bei einem Gefangenendilemma mit mehr als zwei Parteien, wie es die polis bot mit ihren zahlreichen Akteuren, die wiederum in einer Vielzahl von partikularen Gemeinschaften organisiert waren, bestehen allerdings selbst bei einem zeitlich offenen Spielende Anreize zur Kooperationsverweigerung: sofern nämlich ein Akteur davon ausgehen könnte, dass die Erstellung des Kollektivguts nicht wesentlich beeinträchtigt würde dadurch, dass er als einzelner Trittbrett führe oder sich gar offen gegen die Regeln stellte, er nichtdestotrotz aber auch an jenem Kollektivgut Anteil hätte.13 Doch auch in einem solchen Szenario lässt sich Kooperation befördern: Dies geschieht etwa durch Regeln, die das Kollektivgut aufteilen und individuelle ‚Besitzrechte‘ festlegen, außerhalb welcher das Individuum nicht handeln darf – und die das Prinzip des ‚Regelverstoßes‘ überhaupt erst definieren. Darüber hinaus lässt sich die Autorität zur Sanktionierung von Regelverstößen delegieren, vorzugsweise auf aus der Gruppe der maßgeblichen Entscheider ausgelagerte Instanzen. Und schließlich werden Selbstorganisation und Selbstsanktionierung innerhalb jener Gruppe zunehmend möglich bei einer stärkeren
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nicht allein das große Sehnen, die eigenen Peers zu überflügeln, sondern formulieren auch die Ahnung, dass eine solche Position wohl recht kurzlebig wäre, wie schließlich auch die Gewissheit, welche Konsequenzen einem Sturz folgten: „Denn ich wollte wohl, hätt’ ich die Herrschaft ergriffen, Reichtum unermesslich mir geholt und die Tyrannis über Athen gehabt nur für einen einzigen Tag, zum Weinschlauch später gehäutet und aufgerieben sein mit meinem Geschlecht.“ – οὐκ ἔφυ Σόλων βαθύφρων οὐδὲ βουλήεις ἀνήρ: / ἐσθλὰ γὰρ θεοῦ διδόντος αὐτὸς οὐκ ἐδέξατο: / περιβαλὼν δ᾽ ἄγραν ἀγασθεὶς οὐκ ἐπέσπασεν μέγα / δίκτυον, θυμοῦ θ᾽ ἁμαρτῇ καὶ φρενῶν ἀποσφαλείς: / ἤθελον γάρ κεν κρατήσας, πλοῦτον ἄφθονον λαβὼν / καὶ τυραννεύσας Ἀθηνῶν μοῦνον ἡμέραν μίαν, / ἀσκὸς ὕστερον δεδάρθαι κἀπιτετρῖφθαι γένος. (Übersetzung nach Christoph Mülke). Eine solche Kooperation stellte den Mitgliedern des Kartells ‚Monopolrenten‘ in Aussicht; das heißt, Gewinne, die allein aus der Koalitionsbildung resultierten und die über jene hinausgingen, welche sie unter offenen Wettbewerbsbedingungen hätten erzielen können. Grundlegend für dieses Konzept ist Krueger 1974, auf die Archaik angewandt etwa von van Wees 2000 und Karachalios 2013. – In jenen Akteuren der zweiten Reihe, welche gemeinsam gegen die Träger großer persönlicher Macht auftraten, da sie sich im freien Kräftespiel um Prominenz in der Gemeinschaft nicht allein durchsetzen konnten, sind wohl die wesentlichen Antriebskräfte einer Kooperation und Kartellbildung zu sehen. Präfiguriert ist dies schon in den Narrativen rund um die Etablierung der Götterordnung in der Ilias, wie Ulf 2017 zeigt. Eine Gefahr hierbei lässt sich durch das Modellszenario der sogenannten ‚Tragik der Allmende‘ illustrieren: Obschon ein bestimmtes Vorgehen der Gemeinschaft insgesamt Vorteile bringen wird (und damit einem jedem Individuum einen kleinen Vorteil), mag ein (jedes?) konkretes Individuum Nachteile von ebenjenem Vorgehen haben: Da etwa durch die Zunahme von Teilhabern an einem Kollektivgut der Anteil jedes Individuums sich verringert, wird die Exklusion von Teilhabern die verbleibenden Teilhaber umso stärker vom nämlichen Kollektivgut profitieren lassen. Mit diesem Modell erklären etwa Ober/Weingast 2018 die Oliganthropie der spartanischen Vollbürger. Zur ‚Tragik der Allmende‘ allgemein s. Ostrom 1990.
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Ausbildung von Gruppenzusammenhalt. Letzterer wird befördert etwa durch die Ausprägung einer Ideologie der Gleichheit, Regelobservanz und Moderation nach innen, durch das Bemühen um ethische Homogenisierung der maßgeblichen Akteure sowie die damit einhergehende Abgrenzung nach außen, die Exklusion anderer Statusgruppen und von Teilen der Bevölkerung. Dies alles verursacht hohe soziopolitische Kosten. Kartellbildung in der Archaik Kommen wir nun zu den Spezifika jenes Handlungsmodus der Kartellbildung in der Archaik. Für alles Folgende gehe ich aus von strategisch denkenden und handelnden Akteuren, deren zentrales Interesse darin besteht, die eigene Teilhabe in verschiedenen Kontexten unter gegebenen Umständen zu möglichst guten Bedingungen zu sichern.14 Und dies war nicht einfach, denn für das 7. und 6. Jahrhundert sollten wir wohl am ehesten von einem Modell gesellschaftlicher Organisation ausgehen, in welchem die Gruppe derjenigen, welche beanspruchten, die institutionalisierten Prominenzrollen ihrer Gemeinschaften zu bekleiden, recht groß war.15 Sie umfasste wohl die Oberhäupter aller vollbäuerlichen Haushalte, die mindestens ein Ochsengespann besaßen und zusätzliche Arbeitskräfte, freie wie unfreie, beschäftigten und die in solchem Maß materiellen Überschuss erwirtschafteten, dass sie selbst für andere Tätigkeiten abkömmlich waren und diese Abkömmlichkeit auch inszenieren konnten.16 Komparative 14
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Bewusst wähle ich hierbei das Konzept der ‚strategischen‘ Akteure gegenüber den ‚rationalen‘. Dieser Zugriff erklärt Fälle, in welchen etwa eine Handlung sogar vom Akteur selbst als ihn ultimativ beschädigend erkannt wird, diese Handlung aber durchaus zum Erreichen eines womöglich kurzfristigen und prestigereichen Gewinns nötig ist oder seiner Überzeugung nach scheint. Als Beispiele ließen sich nennen die in Anm. 11 zitierte solonische Elegie Frg. 33.5–7 West und der Wunsch des Alkaios Frg. 70 Lobel/Page, eine vergleichsweise ja friedliche Konstellation, in welcher ein Pittakos an der Spitze der polis steht, durch die disruptive Entladung einer Stasis aufzubrechen, um selbst den Primat im Gemeinwesen einzunehmen – womöglich um den Preis der eigenen dauerhaften Niederlage und des eigenen Todes wie jenes zahlreicher Mitstreiter. Insgesamt überlegen ‚strategische‘ Akteure, was sie wollen und wie sie zu diesem Ziel kommen mögen; sie ziehen die Kosten ihres Handelns in Betracht, vor allem indem sie bedenken, was andere Akteure tun mögen. Allerdings sind ihr Denken und Handeln keineswegs auf reines Selbstinteresse beschränkt, um allein ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Vielmehr handeln sie pfadabhängig und entlang erprobter Muster, also Institutionen, welche ihren Kosteneinsatz senken, indem sie Optionen beschränken und Zeit sparen. Akteure denken und handeln ohnehin nur ‚begrenzt strategisch‘; das heißt, sie ergreifen – aufgrund ihrer beschränkten Kapazitäten – sehr wahrscheinlich nicht die für sie optimale Option. Die wiederholte Interaktion mit anderen Akteuren und Institutionen formt Präferenzen, und Sozialisation lenkt strategisches Verhalten. Insgesamt vergrößern kommunikative Akte die Wahrscheinlichkeit von Kooperation und beiderseitigem Gewinn. Hierzu s. Ostrom 1998 und, mit Blick auf die römische Republik, Timmer 2017. Hierzu s. die unterschiedlichen Entwürfe eines Modells archaischer Gemeinschaften etwa von Schmitz 2004, van Wees 2013a und Meister (im Druck). Die Angehörigen der gespannbäuerlichen Oikos-Vorstände bildeten wohl die von van Wees, etwa 2013, als „leisure class“ skizzierte Gruppe. Ihre Lebenswelt und Ideologie scheinen in den hesiode-
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Evidenz legt nahe, dass wir diese Gruppe mit höchstens 25 % aller Haushalte der Gemeinschaft beziffern sollten17 und dass Kern dieser Gruppe jene wenigen wirtschaftlich besonders erfolgreichen Individuen waren, welche etwa in der Welt eines Hesiod „basileis“ genannt werden. Zu dieser Gruppe von Gespannbauern kam eine größere Zahl von Haushalten, die zwar eigenes Land, nicht aber ein eigenes Gespann mit Zugtieren hatten. Dies versetzte sie in eine Position struktureller Abhängigkeit, da sie dauerhaft darauf angewiesen waren, bei ihren reicheren Nachbarn ein solches Gespann auszuleihen, um damit ihren eigenen Besitz zu bestellen. Zusammen machten diese beiden Gruppen wohl jene Menge aus, welche unsere Quellen den „demos“ nennen. In archaischen Gemeinwesen, so scheint mir plausibel, gab es also eine ‚breitere‘ Elite aus vollbäuerlichen Oikoi, deren Oberhäupter sich sämtlich als prinzipiell regimentsfähig empfinden durften.18 Dieser gesellschaftliche Aufbau mit seiner relativ einheitlichen Lebensweise und Weltsicht innerhalb der Gruppe der führenden Akteure, erleichterte zum einen die Ausbildung einer Ideologie der Gleichheit unter ihnen. Zum anderen resultierte er in einer Instabilität der führenden Schicht, denn soziale Mobilität war stets möglich: nach unten, etwa durch die Realerbteilung der Güter oder gewaltsame Vertreibung; wie auch nach oben, etwa durch strategisch günstige Heirat, Handel und Gewaltausübung.19 Durch Auf- oder Abstieg waren jederzeit eine Teilhabe an der in Institutionen verdichteten Macht in der polis oder deren Verlust möglich. Deshalb wurden die Eliten von ihren eigenen Mitgliedern wie auch den sozial Unterlegenen nicht als unumstößlich exklusiv wahrgenommen. Und nicht zuletzt impliziert diese Vorstellung der Existenz einer relativ breiten Schicht von potenziell regimentsfähigen Akteuren, dass ein Gutteil jener Öffentlichkeit beziehungsweise Dritten Instanz, welche über die soziale Anerkennung der ‚Eliten‘ befand, sich von eben jenen nicht kategorial unterschied, denn aus ihr stammten die Anführer der Gemeinwesen.20 Das erste und wesentliche Merkmal einer Kartellbildung in der Archaik ist also die soziopolitische Mobilität der Zeit und die daraus resultierende Fluidität der Gruppen-
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ischen Werken und Tagen reflektiert. Zur wichtigen soziopolitischen Trennlinie des Gespannbauern-Status s. Hes. erg. 404–408 sowie 450–452; s. auch unten Anm. 36 sowie den Beitrag von Jan Meister in diesem Band; zur Vielgestalt des demos im frühen Griechenland s. Donlan 1970 und Werlings 2010. Diese Zahlen sind lediglich grobe – doch mir plausibel scheinende – Schätzwerte; belastbare Zahlen sind uns erst infolge von Steuererfassungen frühneuzeitlicher Staaten überliefert. Zu konkreten Zahlen und der Frage ihrer Anwendung auf die Archaik s. Meister (im Druck). Hierfür s. die Einschätzung des Oikos des Hesiods durch van Wees 2013a, 226–229; Meister (im Druck) und den Aufsatz von Jan Meister in diesem Band. – Bemühungen, den demos archaischer Zeit näher zu fassen bieten die Beiträge in Duplouy/Brock 2018. Zur Seefahrt s. etwa Thgn. 1197–1202; Solon 13.43–46 West = Gentili/Prato 1; Hes. erg. 617–693, bes. 630–644; zur Marginalisierung durch politische Gegner s. etwa Alkaios Frg. 129 und 130b Lobel/Page; Thgn. 667–672; zur Realteilung s. etwa Hes. erg. 375–381; s. auch das Narrativ sozialer Mobilität in Hom. Od. 14, bes. 199–251. Dies korrespondiert besser mit dem jeweiligen Wesen der ‚Dritten Instanz‘ in den Typologien von Konkurrenz nach Geiger 2012 und Werron 2011; hierzu s. die Einleitung dieses Bandes.
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bildung. Sie verhinderten irgendwelche ‚harten‘ Kriterien, wie etwa ‚adliges Geblüt‘, welche ein Individuum klar und von Vornherein als ein Mitglied der Gruppe maßgeblicher Entscheider identifiziert hätten. So gab es in der Archaik nicht den Typus des verarmten Adligen der europäischen Neuzeit, der selbst nach dem Verlust seiner Güter aufgrund seiner Abkunft immer noch eine Art von Exklusivität und gesellschaftlichem Primat für sich beanspruchen mochte, was ihn etwa für die Töchter reicher Bürger durchaus zu einer attraktiven Partie machte.21 Vielmehr funktionierte der Zugang zu den archaischen Eliten über die Akzeptanz sowohl der eigenen Statusgenossen wie auch der sozial Unterlegenen, dieser Gruppe anzugehören. Und diese Anerkennung resultierte aus einer erfolgreichen Performanz spezifischer Aristie-Praktiken, der Inszenierung eines bestimmten Lebensstils, dessen Voraussetzung stets Reichtum war. Daher war die durch Kartellbildung angestrebte Grenzziehung, die Ein- und Ausgliederung von Akteuren, fluide und immer umstritten.22 Diese konfliktreiche Fluidität ist gespiegelt in den Klagen des Theognis über soziale Mobilität, neue Mitglieder der Elite und seine eigene Marginalisierung durch Verrat oder das, was er ‚Armut‘ nennt.23 Diesen Veränderungen versucht der Sprecher die Ideologisierung der privilegierten Geburt und des Gut-Seins, der Teilhabe an einer verabsolutierten arete, gegenüberzustellen: Widder und Esel wollen wir, Kyrnos, und Pferde von guter Abstammung (eugeneas) haben, und gute (ex agathon) wählt man für die Zucht; aber die schlechte Tochter eines schlechten Mannes (kaken kakou) zu heiraten macht einem edlen Mann (esthlos) nichts aus, sobald sie ihm Güter (chremata) einbringt. (…) Reichtum (ploutos) mischt die Gattung, Polypaïde. So wundere Dich nicht, dass die Gattung der Bürger (genos aston) schwach wird. Edles mischt sich nämlich mit Schlechtem. Güter (chremata) gibt ein Daimon auch einem gänzlich schlechten (pankakoi) Mann, Kyrnos, aber an der Tugend (arete) erlangen nur wenige Männer Anteil.24
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Zur neuerlichen, reflektierten Verwendung des Begriffs ‚Adel‘ für die Archaik s. Nebelin 2016, hier 12–15; und Meister (im Druck). Dies betonen Stein-Hölkeskamp 1989 und Duplouy 2006. Allerdings überbetont Letzterer die Fluidität sozialer Zugehörigkeit, wenn er zum einen ganz wesentlich individuelle Performanz zum Maßstab von Partizipation macht und überindividuelle Merkmale wie etwa rechtliche Kategorien oder familiales, generationenübergreifendes Prestige demgegenüber vernachlässigt und zum anderen den Bedingungen einer gelungenen Aufnahme solcher individueller Performanz durch unterschiedliche Rezipienten zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Hierzu s. den Beitrag von Jan Meister in diesem Band. Zu Deutungen des Corpus Theognideum und der Bemühung, mit ihm soziopolitische Dynamiken der Archaik zu analysieren, s. etwa Stein-Hölkeskamp 1997; van Wees 1999 und 2000 sowie Selle 2008. Thgn. 183–192 (Übersetzung nach Dirk Uwe Hansen): κριοὺς μὲν καὶ ὄνους διζήμεθα, Κύρνε, καὶ ἵππους / εὐγενέας, καὶ τις βούλεται ἐξ ἀγαθῶν / πάσασθαι: γῆμαι δὲ κακὴν κακοῦ οὐ μελεδαίνει / ἐσθλὸς ἀνήρ, ἤν τις χρήματα πολλὰ διδῷ: / (…) πλοῦτος ἔμειξε γένος. / οὕτω μὴ θαύμαζε γένος, Πολυπαΐδη, ἀστῶν / μαυροῦσθαι: σὺν γὰρ μίσγεται ἐσθλὰ κακοῖς; und 149–150: χρήματα μὲν δαίμων καὶ παγκάκῳ ἀνδρὶ δίδωσιν, / Κύρν᾽: ἀρετῆς δ᾽ ὀλίγοις ἀνδράσι μοῖρ᾽ ἕπεται; vgl. die Verse 315–318 sowie 319–322,
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Hierin sehen wir Beispiele für Geltungskonkurrenz: das Bemühen, andere, ‚harte‘ und vermeintlich unverlierbare Kriterien als maßgeblich für die Zugehörigkeit zur Gruppe maßgeblicher Entscheider zu definieren. In ähnlicher Weise ist die Klage des Alkaios zu verstehen, der auf seine generationenübergreifende familiäre Tradition politischer Partizipation verweist, die ihm nun im Exil genommen sei: Nur eines sehne ich herbei: zu hören wie der Herold ruft zur agora und zur boule (…), in deren Besitz mein Vater und meines Vaters Vater alt wurden im Kreis dieser Bürger (politai), die stets nur Böses einander sinnen. Hiervon wurde ich vertrieben (…).25
Tatsächlich sind Phänomene wie etwa die Manifestationen jenes nur schwer fassbaren Genos der attischen Eupatriden, welche ihre vermeintlich edle Herkunft zur Legitimation politischer Vorrechte machten, oder jene – in ihrem Kontext höchst ungewöhnliche – Grabanlage des Megas in der Nordnekropole von Samos, wo dieser inschriftlich drei oder sogar vier Generationen seiner Vorfahren aufführt, eher Zeugnisse einer intentionalen Geschichte als tatsächliche Belege für die unbedingte Relevanz einer generationenübergreifenden Abkunft bei der Zusammensetzung der archaischen Aristokratie.26 Wegen der recht breiten Basis relevanter soziopolitischer Akteure und ihrer sozialen Mobilität sowie der fehlenden ‚harten‘ Kriterien für privilegierte Partizipation konnte eine Kartellformation weder alle potenziellen Teilhaber aufnehmen, noch überhaupt klare Grenzen einer Mitgliedschaft ziehen.27 Das zweite Merkmal einer Kartellbildung ist also, dass ein agathos in erster Linie darauf bedacht sein musste, die eigene Position in der Gruppe jener Akteure zu sichern, die von den Monopolrenten profitierten. Und dies hieß, dass er sich einerseits bemühte, dem Kreis der Kartellteilnehmer einigermaßen souverän anzugehören ohne ständig drohende Gefahr des Hinausfallens; diesen
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welche Reichtum und Tugend einander gegenüberstellen und die Unverstand und niedriges Wesen mit einer nicht näher definierten gnome, welche wohl am ehesten als die Summe kulturellen Kapitals eines agathos zu verstehen ist, kontrastieren; vgl. auch die Verse 667–670. – In sehr ähnlichem Sinn äußert sich Solon Frg. 15 West: Da der Reichtum bald diesem, bald jenem gehöre, die Tugend dagegen doch unverrückbar sei, wolle man sie nicht gegen jenen eintauschen. Alkaios Frg. 130b.3–9 Lobel/Page (Übersetzung nach Max Treu): ἰμέρρων ἀγόρας ἄκουσαι / καρυ[ζο]μένας ὦγεσιλαίδα / καὶ β[ό]λλας· τὰ πάτηρ καὶ πάτερος πάτηρ / κα··[·]·ηρας ἔχοντες πεδὰ τωνδέων / τὼν [ἀ]λλαλοκάκων πολίταν / ἔ·[··ἀ]πὺ τούτων ἀπελήλαμαι. – Manifestationen der Geltungskonkurrenz erörtert der Beitrag von Jan Meister in diesem Band. Duplouy 2015 und Meister (im Druck). Vgl. Mariaud 2015, bes. 266, zu IG 12.6.2.626: „Megas, Sohn des E[//.. c.4], Sohn des Exakos, Sohn des Xenos, Sohn des Pyrrhaithos“. – Familiäre Abkunft war von wesentlicher Bedeutung, sie ebnete einem jungen Mann durch materielle Ressourcen und Erziehung den Weg zu jener kulturellen Kompetenz, welche für die Akzeptanz unter den maßgeblichen Entscheidern notwendig war. Aber familiäre Abkunft allein – ohne Reichtum etwa und ohne spezifische Inszenierung des Lebensstils – ebnete den Weg nicht. S. hierzu auch den Beitrag von Erich Kistler in diesem Band. Landbesitz dürfte allerdings das vergleichsweise ‚härteste‘ Kriterium gewesen sein, welches über Akzeptanz im Kreis der maßgeblichen Akteure entschied.
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Kreis aber auch recht bald nach sich selbst abzuschließen, damit die eigenen Anteile am Kollektivgut nicht unnötig klein würden.28 Hierbei ging es aber nicht um die klare Dichotomie, ‚dem Kreis‘ zuzugehören oder nicht. Vielmehr sollten wir von mehreren, gewissermaßen konzentrischen Kreisen abgestufter Partizipation ausgehen, wofür die in der Verfassung der Athener reflektierten Zensusklassen ein Beispiel wären. Anderseits ging es auch darum, den Kreis der Kartellteilhaber derart groß zu konturieren, dass diese Übergriffen von außen, von Nichtteilhabern, gemeinsam begegnen könnten; und dass sich in der Kartellformation so viele der maßgeblichen Akteure versammelten, dass diese in der Beobachtung ihrer Peers standen, um keine konkurrierenden Kartellformationen neben jenem oder aus jenem heraus entstehen zu lassen. Bei unserem Versuch einer akteurszentrierten Modellierung soziopolitischer Dynamiken, die strategisch handelnde Individuen in den Blick nimmt, erscheinen derlei Überlegungen als wesentliche Faktoren von Gruppen- und Gesellschaftsbildung sowie deren Fluidität und Konfliktpotenzial. Als Beispiel für diese Dynamiken sei die Marginalisierung eines Großteils der Basileis vor Troja genannt. Sie alle sind Anführer von eigenen Kontingenten und sitzen in ihrer jeweiligen Heimat recht fest im Sattel. In der neuen Gemeinschaft der ‚polis bei den Schiffen‘ aber gehören nur acht oder neun Basileis dem Rat der ständig maßgeblichen Entscheider an. Ein Nireus von Syme etwa, auch er der Anführer eines eigenständigen Kontingents, ist selbstverständlich nicht dabei: Nireus kam aus Syme mit drei gleichschwebenden Schiffen, Nireus, der Sohn des Fürsten (anax) Charopos, und der Herrin Aglaia, Nireus, der schönste von allen Danaern, die zogen vor die Mauern Trojas – nach dem herrlichen Sohn des Peleus (i. e. Achilles). Aber er war schwach, nur von wenigen Männern begleitet.29
Im erzählerischen Entwurf der ‚polis bei den Schiffen‘ in der Ilias scheint mir das – ins Epische vergrößerte – Szenario soziopolitischer Zentralisierung im Zuge der po-
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In diesem Bemühen, aus der Gruppe maßgeblicher Entscheider nicht hinauszufallen, mag ein Baustein von Kooperation liegen, sofern man den Modellen der ‚Verlustaversion‘ und des ‚Besitztumseffektes‘ auch für die Archaik Plausibilität zubilligt: dass Akteure nämlich einen Verlust in stärkerem Maße gering schätzen als sie einen äquivalenten Gewinn hochschätzen; in den Worten von Brennan/Pettit 2004, 156: „Note that, other things equal, esteem means more to those who have less of it. That is a result of the diminishing marginal utility property of all goods, which property we take to apply no less to esteem than to other things. So other things being equal, agents will work harder to avoid disesteem than to gain positive esteem: shame is the stronger force for anyone who cares about esteem.“ Auf die Archaik wurde dies angewendet etwa von Cairns 2017. Hom. Il. 2.671–675 (Übersetzung nach Hans Rupé): Νιρεὺς αὖ Σύμηθεν ἄγε τρεῖς νῆας ἐΐσας / Νιρεὺς Ἀγλαΐης υἱὸς Χαρόποιό τ᾽ ἄνακτος / Νιρεύς, ὃς κάλλιστος ἀνὴρ ὑπὸ Ἴλιον ἦλθε / τῶν ἄλλων Δαναῶν μετ᾽ ἀμύμονα Πηλεΐωνα: / ἀλλ᾽ ἀλαπαδνὸς ἔην, παῦρος δέ οἱ εἵπετο λαός. – Neben Agamemnon und Menelaos umfasst jener Rat der maßgeblichen basileis Odysseus und Diomedes, Nestor und Idomeneus, den großen und den kleinen Ajax sowie, bis zu seinem Rückzug, Achilles. Zum Szenario der ‚polis bei den Schiffen‘ s. Seelentag 2015, bes. 77–81.
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lis-Bildung reflektiert, als mehrere lokale Siedlungsgemeinschaften zusammenkamen, wodurch die lokal etablierten Strukturen von Führerschaft und Partizipation neuen Herausforderungen ausgesetzt waren und deren jeweils einflussreichste Männer die Hierarchien untereinander neu ordneten: Die Mächtigsten kollaborierten miteinander und drängten weniger einflussreiche Anführer in die zweite oder gar dritte Reihe. Vor dem Hintergrund solcher Dynamiken betrachtet, mag denn etwa auch der Typus der archaischen Tyrannis aus der Zuspitzung von Kartellbildung verstanden werden. Ein ‚Tyrann‘ ist zunächst einmal nur ein Mann, der von einem anderen in zumeist diffamierender Manier als ein solcher etikettiert wird.30 Und dies, weil er es schaffte, sich soziopolitisch gegen die meisten oder alle anderen elitären Anführer seiner polis durchzusetzen, und diese nicht derart kooperierten, dass sie gemeinsam jenen Einen wieder loswurden. Dementsprechend sind die Grenzen des ‚Tyrannen‘ zum ‚mounarchos‘ und ‚basileus‘ auf funktionaler Ebene nicht klar: Alle diese Begriffe bezeichnen einen Mann, der sich aus dem Kontext seiner Statusgenossen herausheben konnte.31 Dass der nichtgriechische Begriff ‚Tyrann‘ zur Etikettierung einer solchen Form der Herrschaft gewählt wurde, ist demnach in erster Linie eine Fremdzuschreibung, die ein auf Gewalt und Willkür gegründetes Verhalten konnotierte, welches den soziopolitischen Bedingungen der von elitärer Kooperation geprägten polis zuwider gelaufen sei. Wichtig ist es allerdings festzuhalten, dass auch ein Tyrann nicht unbedingt ein ‚Alleinherrscher‘ war; diese pointierende Bezeichnung vermittelt einen falschen Eindruck. Dies zeigen etwa die Narrative der großen Tyranneis in Samos, Korinth und Athen: Stets konnte sich der Tyrann auf zahlreiche Unterstützer verlassen, ob nun auf eine eigene Hetairie, an deren Spitze er stand, auf durchaus wechselnde Koalitionäre aus dem Kreis seiner, auch von außerhalb der polis kommenden, Statusgenossen bei seinem Bemühen, die Verhältnisse zu seinen Gunsten zu wenden, und schließlich auch auf eine Gruppe von Peers in der eigenen Gemeinschaft, die aus verschiedenen Gründen zur Kooperation bereit waren, sei es aus Sorge vor Exilierung oder Ermordung bei Nichtkooperation, sei es wegen der Vorteile, die daraus resultierten, dass sie in die Lenkung des Gemeinwesens miteingebunden waren: Stets gab es zahlreiche andere elitäre Individuen, die, ihrerseits in Gruppen organisiert, in einer ‚Alleinherrschaft‘ nicht allein ihr Auskommen fanden, sondern jene durch ihre Kooperation maßgeblich stabilisierten.32
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Schon in den frühesten Zeugnissen überwiegen die diffamierenden Aussagen bei weitem die neutralen oder gar positiven, s. etwa Archilochos Frg. 19 West; Semonides Frg. 7 Diels; Alkaios Frg. 348 Lobel/Page und Solon Frg. 32 West. Beispiel für einen nicht-negativen Gebrauch des Begriffs mag etwa Archilochos Frg. 23.17–21 West sein. Wichtige Neubewertungen des Typus ‚Tyrann‘ bieten Anderson 2005; Rose 2012, 201–266 sowie Kõiv 2016. Zum Verhältnis der Begriffe und zur Typologie dieser Formen von Machtausübung und Herrschaft s. Mitchell 2013 und vgl. etwa Deiokes in Hdt. 1.98.3–99.1, der „zum König gemacht“ worden sei, dann aber die Merkmale eines Tyrannen gezeigt habe. Sehr deutlich wird dies im Narrativ des Aufstiegs des Peisistratos und der wechselnden Koalitionen der drei Protagonisten dieser Jahre sowie in der Einbindung ihrer Statusgenossen, Philaiden
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Wenn wir nun also die soziopolitischen Dynamiken des frühen Griechenlands aus der Perspektive von Individuen modellieren wollen, die wesentlich daran interessiert waren, die eigene Teilhabe in verschiedenen Kontexten zu möglichst guten Bedingungen unter den gegebenen Umständen zu sichern, müssen wir fragen, welche Faktoren eine Kooperation dieser Individuen befördert haben mögen. Und so sehe ich das dritte Merkmal einer Kartellbildung in der Archaik im Interesse der Akteure begründet, einem Druck von außerhalb, der alle gleichermaßen betraf, gemeinsam zu begegnen. Dies machte es aus individueller Sicht strategisch plausibel zu kooperieren. Abermals sei betont: Die polis war ein zeitlich unbegrenztes Szenario und ein jeder Akteur hatte eigene Ressourcen in der polis investiert und damit wohl auch in die polis. Dass ein solcher Druck die Vergesellschaftung befördern und Institutionen konturieren konnte, sehen wir etwa in der Ilias. Denn erst unter dem Druck der nach dem Rückzug Achills nun erfolgreich anstürmenden Trojaner werden mit den phyla und phretrai Neuordnungen der griechischen Mannschaften vorgenommen, man baut Mauern und entwickelt Verfahren der öffentlich gemachten Entscheidungsfindung weiter.33 Ein anderes Beispiel für einen solchen äußeren, allen gemeinsamen Druck ist das Szenario rund um Deiokes bei Herodot: Dieser sei wegen seiner guten Konfliktlösung zunächst nur in seiner eigenen Gemeinschaft hochgeehrt gewesen. Doch dann seien auch die Bewohner anderer Siedlungen zu ihm geströmt, die „in Zeiten der Rechtlosigkeit“ „unter ungerechten Sprüchen“ (adikoisi gnomesi) ihrer eigenen Anführer zu leiden hatten, da „Deiokes der einzige war, der gerade Sprüche gab“. Jene Anführer waren nun durch den allseits begehrten auswärtigen Wettbewerber marginalisiert.34 Eng damit verbunden ist ein viertes Merkmal von Kartellbildung: die Beruhigung innerer Konflikte. Denn die Position des Individuums wie auch die Position der Gruppe in der erweiterten Gemeinschaft insgesamt werden destabilisiert durch fortwährende Umverteilungen der kollektiven Gewinne. Solche Störungen des Kooperationsgleichgewichts sorgen für Unruhe und Gewalt im Kreis der Teilhaber und schwächen deren Möglichkeiten Monopolrenten zu erwirtschaften. Die Ilias zeigt deutlich, dass
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wie Alkmeoniden, in die Führung der polis durch die Peisistratiden, wie sie etwa anhand der Archontenliste der Jahre von 527/6–522/1 aufscheint; s. Fornara 1983 Nr. 23 C. Und Peisistratos wurde eben auch von Lygdamis von Naxos unterstützt, der seine Unterstützung daneben auch Polykrates von Samos zukommen ließ: Fälle von ‚tyrannischer‘ Kooperation und Kartellbildung oberhalb der Polisebene. – Vgl. auch den Beitrag von Nadin Burkhardt in diesem Band zu den Grabbefunden in Unteritalien, die auf ein ähnliches Miteinander von vermeintlich ‚alleinherrschendem Tyrannen‘ und dessen Peers schließen lassen. – Skizzen, welche das vielfältige Miteinander von Tyrannen mit den sie umgebenden Statusgenossen beschreiben, bieten etwa Stahl 1987 sowie Stein-Hölkeskamp 2015, 221–255, die freilich in der Tyrannis des Polykrates das Beispiel eines „protopolitischen Regimes“ sieht, welches sich „angesichts der fortschreitenden Konsolidierung staatlicher Strukturen … als nicht mehr akzeptabel“ erwies (237). Seelentag 2015, 335–341 und vgl. Grote 2016, 226–237. Hdt. 1.96. Hierzu s. Gagarin 2008; Papakonstantinou 2008; Hawke 2011 und Karachalios 2013, 119–136.
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intraelitäre Konflikte wie zwischen Agamemnon und Achilles die gesamte Gemeinschaft schwächen. Das Thersites-Szenario zeigt denn auch, dass die zunächst von Achilles innerhalb der Gruppe der Anführer – freilich vor den laoi – vorgebrachte Kritik an Agamemnon von jenen laoi aufgegriffen und zu einer kollektiven Gefolgschaftsverweigerung führen kann. Im Angesicht dieser Gefahr warnt Odysseus denn auch vor der ‚Vielherrschaft‘, der polykoiranie, und rettet die Situation für einen Agamemnon, dessen Unzulänglichkeit als Anführer zu diesem Zeitpunkt offensichtlich ist. Aber es sei notwendig, einem Anführer zu folgen – auch wenn dies nun Agamemnon sei: für einen von steten Verteilungskämpfen verschonten Zusammenhalt der Anführer sowie der Truppen und damit den Erfolg des gesamten Feldzugs. Und deshalb ist auch die körperliche Züchtigung des Thersites als Manifestation des Gruppenzusammenhalts der Basileis zu verstehen, dass jene einer Kritik unmissverständlich begegneten, welche zwar das Wohl aller Achaier durchaus voranbrächte, aber ihre eigene Gruppe insgesamt schwächte.35 Solche Herausforderungen mochten die konkurrierenden Eliten der Archaik bewegen, Strukturen zur Organisation ihrer Gruppe zu schaffen, gewissermaßen einen Verteilungsschlüssel für die von ihnen erwirtschafteten Gewinne zu definieren und Mechanismen zu ersinnen zur Abwehr oder Sanktionierung von abweichendem Verhalten – kurzum: ihr Verhältnis zu institutionalisieren. Die Etablierung der solonischen Klassen, die eine Binnengliederung und nach wirtschaftlicher Potenz gestaffelte Teilhabe der maßgeblichen Akteure Attikas schuf, mag ein Beispiel für einen Versuch sein, interne Konflikte einzudämmen durch die Schaffung konzentrischer Kreise beziehungsweise Grade von Kartell-Teilhabe. Ohne solche Maßnahmen konnte aus dem unkontrollierten Umgang mit jenem attraktiven Kollektivgut ‚stabile Machtausübung über sozial Unterlegene‘ womöglich eine zu starke soziale Verwerfungslinie auftreten – ein ‚Klassenkonflikt‘ nach Peter Rose. Reflexion des Umgangs mit einem solchen inneren Druck mögen Solons Maßnahmen gegen Schuldsklaverei sein.36 Und damit sind wir beim fünften und vielleicht wichtigsten Merkmal der Kartellbildung angelangt: der Kontrolle von sozial Unterlegenen.37 Es scheint mir plausibel, die Eliten der Archaik als eine ‚Ausbeutungskoalition‘ zu betrachten, die bemüht war, ma-
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Hom. Il. 2.203–206 und 211–278. – Ulf 1990 betont diesen Aspekt des Epos. Die solonische Schichtung scheint nur zwei soziopolitische Großgruppierungen umfasst zu haben: die Reichen, im Wesentlichen Grundbesitzer mit Gespannbauern-Status, welche aufgrund ihrer materiellen Potenz die Möglichkeit besaßen, als Funktionsträger politisch aktiv zu sein, und die arbeitende Menge des Volkes. Allein jene Reichen scheint die solonische Ordnung binnengegliedert zu haben. – Rose 2013, bes. 336–341, und konzis 2009. Zur wichtigen Differenzierung von abgeschaffter Schuldsklaverei und beibehaltener Schuldknechtschaft s. Harris 2002. Mit dieser Bezeichnung möchte ich keinesfalls implizieren, dass jene eine undifferenzierte Masse waren. Vielmehr bildeten sie ein Spektrum von verschiedenen Statusgruppen ab, und die Vorstellung, dass es aus Sicht der Akteure (fast) immer noch einen ‚darunter‘ gab, war wesentlich zur Stabilisierung jener Ordnungen, die wir hier in den Blick nehmen.
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teriellen Vorsprung zu erlangen durch verschiedene Praktiken des Erwerbs und konkrete wie strukturelle Gewalt.38 Allerdings mochte eine solche Ausbeutungskoalition den sozial Unterlegenen unter Umständen durchaus legitim scheinen: sofern nämlich die Ausbeutungsrate kontrolliert war und willkürliche Enteignungen eingehegt waren. Hierbei musste eine zu intensive Ausbeutung durch Einzelne oder Kleingruppen durch Gruppendruck der Statusgenossen unterbunden werden, da ansonsten das gesamte Ausbeutungsunternehmen seine Akzeptanz verlieren konnte. Was in solchen Fällen drohte, reflektieren schon die Epen mit ihren zahlreichen Hinweisen auf das Handlungspotenzial eines unzufriedenen demos. So tadelt etwa Penelope den Rädelsführer ihrer Freier, Antinoos, für seine Undankbarkeit gegenüber dem Haus des Odysseus, weil er offenbar die einstige Rettung seines Vaters vergisst: Weißt du wohl nicht mehr, wie einst Dein Vater schutzflehend hierherkam? Fürchten musste er seinen Demos, denn dieser war über die Maße erzürnt, weil er sich taphischen Seeräubern zugesellt hatte und den Thesproten Schaden getan hatte, die doch mit uns verbündet waren. Vernichten wollten sie ihn und ihm das Herz herausreißen und sein Haus ausfressen, das in Fülle ihm stand und das Wünsche erregte. Doch Odysseus hielt sie zurück und gebot ihnen Einhalt, so sehr sie es begehrten.39
Bemerkenswert ist hier zum einen, dass der demos von gemeinsamen Vorstellungen durchdrungen scheint, welches Verhalten eines Mitgliedes der Eliten dem Frieden und Wohl der gesamten Gemeinschaft abträglich sei und wie diese Devianz sanktioniert werden müsse – und zwar selbstorganisiert, ohne dass ein Basileus sie anführen müsste. Zum anderen nimmt Odysseus hier einen ‚schlechten‘ Basileus gegen das vom
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Sollte dies nach mafiosen Praktiken klingen, wäre dies durchaus intendiert; in diesem Sinne s. etwa van Wees 1999 und 2000 sowie Karachalios 2013. – Zur Figur der Ausbeutungskoalition s. etwa Schmid 1994; North/Wallis/Weingast 2009, bes. Kap. 2 zum „Natural State“ und die Weiterentwicklung des ebd. formulierten Konzeptes der „Limited Access Orders“ durch van Bavel/Ansink/ van Besouw 2017; sowie Winters 2010, 67–72 und Simonton 2017 mit ihrem jeweiligen Blick auf Oligarchien. Hom. Od. 16.424–430 (Übersetzung Anton Weiher): ἦ οὐκ οἶσθ᾽ ὅτε δεῦρο πατὴρ τεὸς ἵκετο φεύ γων, / δῆμον ὑποδείσας; δὴ γὰρ κεχολώατο λίην, / οὕνεκα ληϊστῆρσιν ἐπισπόμενος Ταφίοισιν / ἤκαχε Θεσπρωτούς: οἱ δ᾽ ἡμῖν ἄρθμιοι ἦσαν: / τόν ῥ᾽ ἔθελον φθῖσαι καὶ ἀπορραῖσαι φίλον ἦτορ / ἠδὲ κατὰ ζωὴν φαγέειν μενοεικέα πολλήν: / ἀλλ᾽ Ὀδυσεὺς κατέρυκε καὶ ἔσχεθεν ἱεμένους περ·Zuvor, in Od. 16. 376–384, hatte jener Antinoos bereits die Sorge der Freier vor der Reaktion des demos formuliert, sollte ihr Mordkomplott gegen Telemachos aufgedeckt werden. – Zu Mobilisierung und Gewaltpotential des demos s. etwa die Vertreibung der Pacheis von Naxos um 500 (Hdt. 5.30), die Vertreibung der Gamoroi aus Syrakus um 485 durch demos und Unfreie (Hdt. 7.155) sowie ähnliche Fälle aus Milet, Megara und Erythrai, auf die van Wees 2008 hinweist. – Schmitz 2004, bes. 26–104, und Seelentag 2014a betonen, dass die von ihnen betrachtete Gruppe der Vollbauern einen geteilten ethischen Horizont besaß, der sie gemeinsam handeln ließ; und dies häufig in Form von Rügebräuchen, deren einer das in der obigen Passage erwähnte Ausfressen des Oikos war (hierzu Schmitz 2004, 320–329).
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Epos ja als berechtigt gekennzeichnete Anliegen seiner Leute in Schutz. Er stellt also ‚Standes-‘ bzw. ‚Kartellsolidarität‘ über das Wohl des demos.40 Dieses Potenzial für Unruhe mag einer der Gründe dafür gewesen zu sein, weshalb zumindest ausgewählte Segmente dieser sozial Unterlegenen unter kontrollierten Bedingungen in den politischen Prozess integriert wurden. Und dies sehe ich als das sechste Merkmal von Kartellbildung. Denn ein weiterer Faktor, weshalb eine Ausbeutungskoalition den sozial Unterlegenen durchaus legitim scheinen mag, ist, wenn ihnen Zugeständnisse gemacht werden; wenn ihnen etwa eine abgestufte Teilhabe am Kollektivgut gewährt wird. Und diesen letzten Punkt sehen wir bereits in den frühesten Gesetzen in der Rolle des demos, also von Kreisen, die über die wenigen maßgeblichen Entscheider hinausgehen: In Dreros etwa „hat es der polis gefallen nach Versammlung der Phylen“. In Kyzikos fasste „die polis“ den verzeichneten Beschluss und „der demos“ legte einen Eid darauf ab. In Tiryns galt, „wie der Damos es beschließt“, und in Sparta sollten „Ältergeborene und archagetai“, die Vorläufer der Ältesten und Könige der klassischen Zeit, den damos nur im Falle „krummer Äußerungen“ abtreten lassen. In Chios gab es die bola demosia, den „den demos betreffenden Rat, der Strafgewalt hat und gewählt ist, nämlich 50 Männer je Phyle“. Und im kretischen Datala beschlossen „die Dataleis und wir, die polis, nämlich fünf von jeder Phyle“.41 Häufig war also ausdrücklich eine breitere Basis von politischen Akteuren in den Prozess der Gesetzgebung involviert. Und in vielen poleis war die Überwachung von Funktionsträgern nicht allein anderen Funktionsträgern oder göttlichem Zorn überantwortet, sondern Institutionen, die größere Teile der Gemeinschaft inkorporierten. Hinzu kommt ein wichtiger Faktor. Schon in den Epen finden die Beratungen und Entscheidungen der Basileis in der und vor der Öffentlichkeit statt. Der demos ist stets notwendiger Zeuge, die gemeinschaftsrelevanten Entscheidungen abzusegnen.42 Von hier scheint es mir kein allzu großer Schritt gewesen zu sein, die Zeugenschaft – und
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Andere Szenarien einer solchen Kartellsolidarität in den Epen sind etwa die oben erwähnte Bestrafung des Thersites nicht etwa trotz, sondern wegen seiner berechtigten Kritik an Agamemnon, aufgrund welcher er zum Wohle eines Zusammenhalts der Anführer gegenüber möglichem Aufruhr und kollektiven Ansehensverlustes abgestraft wird (Il. 2.211–278); sowie Nestors Worte der Beruhigung, mit denen er der berechtigten Kritik des Diomedes an Agamemnon begegnet, zugleich aber auf die Gefahr einer Spaltung des inneren Führungskreises hinweist: deutliche Worte der Warnung gegenüber dem Jüngeren, durch seine öffentliche massive Kritik am Oberbasileus ein Gefährder der Ordnung zu sein (Il. 9.53–78, bes. 63 f.). Dreros, 7. Jahrhundert: Koerner 1993, Nr. 91 = Gagarin/Perlman 2016, Dr 5. – Kyzikos, 6. Jahrhundert: Syll.3 4 = Nomima 1, Nr. 32 = HGIÜ 1.18. – Tiryns, 7. Jahrhundert: AE 1975, 150–205 (SEG 30.380) = Koerner 1993, Nr. 31.– Sparta, 7. Jahrhundert: Große Rhetra ap. Plut. Lykurg 6.8. – Elis, um 525–500: IvO 7.3–5 = Koerner 1993, Nr. 43 und Elis, um 500–475: IvO 11 = Nomima 1, Nr. 21. – Chios, um 575–550: Koerner 1993, Nr. 61 = Meiggs/Lewis 1969, Nr. 8. – Datala, um 500: Jeffery/ Morpurgo-Davies, Kadmos 9 (1970) 118–154 = SEG 27.631 = Gagarin/Perlman 2016, Da 1 B.6–11. Hölkeskamp 1994.
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dann auch Zustimmung – des demos im politischen Prozess zu institutionalisieren; sie als einen weiteren Verfahrensbestandteil neben die wohl konsensuale Beschlussfassung der Eliten zu stellen, um die Gemeinschaft betreffende Entscheidungen verbindlicher zu machen.43 Denn es bestand das Risiko, dass Anführer, denen eine bestimmte Entscheidung oder gewisse Regeln nicht passten, diese letztlich doch nicht mittrugen. Hier diente der demos als eine aus der Gruppe der unmittelbar Beteiligten ‚ausgelagerte Instanz‘: Die soziale Kontrolle der Entscheidung war auf breitere Basis gestellt, ihre Nachhaltigkeit in stärkerer Weise gewährleistet.44 Das siebte Merkmal von Kartellbildung in der Archaik war deren Instabilität. Immer wieder bieten die Quellen Szenarien, in denen eine Kartellierung keineswegs zu einem stabilen Bündnis führte. Als Beispiele seien hier nur die wechselnden Koalitionen verschiedener Hetairien in den Stasisliedern des Alkaios genannt, etwa dessen Klage über den Eidbruch des Pittakos: Den Sohn des Hyrrhas (i. e. Pittakos) aber erreiche bald der Rachegeist, wie wir es dereinst gelobten am Altar beim Opfer: „Nie zu verlassen einen der Freunde; entweder tot in Erde eingehüllt zu liegen – Opfer jener Männer, die damals gegen uns standen – oder sie zum Hades zu schicken und so unser Volk von seinem Kummer erlösen!“ Um all das schert sich freilich der Dickbauch nicht: Mit Füßen tritt er, was er einst selbst gelobte, ein Würger unsrer Stadt; uns aber droht er sogar noch und schmäht uns höhnisch.45
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Hinweise auf eine solche Relevanz des demos als eine den innerelitären Zwist einhegende Instanz bietet schon Hom. Il. 19.172–183, wo die versammelten Achaier als Zeugen des Eides zur Aussöhnung Agamemnons mit Achill dienen. – Elmer 2013 zeigt anhand der epischen Formeln rund um epainein, wie institutionalisiert – oder idealisiert? – die Zustimmung der Gemeinschaft zu den Vorschlägen bzw. Beschlüssen der Anführer war. Allerdings ist der demos vergleichsweise ‚wankelmütig‘, entscheidet sich um und gibt seine emphatische Zustimmung nun auch anderen Meinungsäußerungen. Dies deutet darauf hin, dass diese Art der Zustimmung eher eine Bekräftigung und Absegnung war, nicht aber ein nach einmaligem Beschluss verbindliches Entscheidungsverfahren. – Hierzu s. Karachalios 2013 und mit anderer Einschätzung den Beitrag von Stefan Fraß in diesem Band. Völlig unklar ist allerdings, wie exklusiv auch diese erweiterten Kreise im Kontext der gesamten Gemeinschaft womöglich waren. Einfacher gefragt: Wer konstituierte jenen ‚demos‘ auf der agora? War es lediglich die schmale Statusgruppe der Gespannbauern und damit ohnehin eine Art der Elite im Gemeinwesen, obschon nicht alle ihrer Mitglieder als gleichermaßen regimentsfähig akzeptiert waren? Die Exklusivität einer Gruppe der vollumfänglich partizipierenden ‚Bürger‘ in der polis betonen etwa Duplouy 2018 und Giangiulio 2018. Alkaios Frg. 129.13–24 Lobel/Page (Übersetzung Max Treu): τὸν ῎Υρραον δὲ πα[ῖδ]α πεδελθέτω / κήνων Ἐ[ρίννυ]ς ὤς ποτ’ ἀπώμνυμεν / τόμοντες ἄ··[’·]ν·· / μηδάμα μηδ’ ἔνα τὼν ἐταίρ ων / ἀλλ’ ἢ θάνοντες γᾶν ἐπιέμμενοι / κείσεσθ’ ὐπ’ ἄνδρων οἲ τότ’ ἐπικ· ´Ην / ἤπειτα κακκτάνοντες αὔτοις / δᾶμον ὐπὲξ ἀχέων ρύεσθαι. / κήνων ὀ φύσγων οὐ διελέξατο / πρὸς θῦμον ἀλλὰ βραιδίως πόσιν / ἔ]μβαις ἐπ’ ὀρκίοισι δάπτει / τὰν πόλιν ἄμμι δέδ[·]··[·]·ί·αις; s. auch Strab. 13.2.617 zu den Tyrannis-Ambitionen aller Faktionen in Mytilene, explizit auch jener des Alkaios. – S. natürlich auch die wechselnden Koalitionen des Peisistratos, Lykourgos und Megakles, die letztlich Ersteren an die Macht brachten; Hdt. 1.59–64; [Aristot.] Ath. pol. 13–15.
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Sehr ähnliche Gedanken bietet Theognis, der Klage anstimmt über die mangelnde Verlässlichkeit und Undurchsichtigkeit des Gegenübers. Freilich gibt er auch den Rat, sich grundsätzlich und vorbeugend ebenso treulos zu verhalten: (…) und die, die früher Edle waren, sind jetzt die Niedrigen. Wer könnte das ruhig mitansehen? Sie betrügen einander, sie lachen dabei übereinander und kennen nicht die Merkmale von Gut und Schlecht. Mit keinem dieser Mitbürger, Polypaïde, freunde dich von Herzen an um irgendeines Vorteiles willen. Vielmehr erwecke im Reden den Anschein, allen ein Freund zu sein, und lass Dich nicht ernsthaft mit einem von ihnen ein. Dann wirst du durchschauen, dass auf ihre Handlungen überhaupt kein Verlass ist, sondern wie sehr sie Listen, Betrug und Intrigen lieben (…).46
Als ein weiteres Beispiel für die Instabilität von Kartellen sehe ich die Verstöße von Funktionsträgern gegen ihre institutionalisierten Pflichten, in gewissen von den frühen Gesetzen definierten Szenarien tätig zu werden. Als lediglich eines von zahlreichen Beispielen hierfür sei eine Regel aus dem Gortyn des frühen 6. Jahrhunderts angeführt: (…) – – – 50 Lebetes soll er in jedem Fall entrichten. Falls der damit beauftragte Kosmos (kosmos epistas) nicht bezahlen lässt, soll er selbst Schuldner sein; und der Titas, falls er nicht bezahlen lässt – – – (…).47
In dem hier antizipierten Nicht-Eintreiben der Strafsumme durch den Kosmos liegt ein Kartellbruch vor, nämlich ein Trittbrettfahren – wahrscheinlich motiviert vom Unwillen des nämlichen Amtsträgers, gegen ihm Nahestehende und Verbundene vorzugehen; vom Bemühen, anders als andere Amtsträger nicht von der institutionellen Macht veranlasst zu werden, seine persönliche Macht, sein Ansehen durch einen unbeliebten Akt zu beschädigen.
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Thgn. 57–67 (Übersetzung nach Dirk Uwe Hansen): καὶ νῦν εἰσ᾽ ἀγαθοί, πολυπαΐδη: οἱ δὲ πρὶν ἐσθλοὶ / νῦν δειλοί. τίς κεν ταῦτ᾽ ἀνεχοιτ᾽ ἐσορῶν; / ἀλλήλους δ᾽ ἀπατῶσιν ἐπ᾽ ἀλλήλοισι γελῶντες, / οὔτε κακῶν γνώμας εἰδότες οὔτ᾽ ἀγαθῶν. / μηδένα τῶνδε φίλον ποιεῦ, Πολυπαΐδη, ἀστῶν / ἐκ θυμοῦ χρείης εἵνεκα μηδεμιῆς: / ἀλλὰ δόκει μὲν πᾶσιν ἀπὸ γλώσσης φίλος εἶναι, / χρῆμα δὲ συμμείξῃς μηδενὶ μηδ᾽ ὁτιοῦν / σπουδαῖον: γνώσῃ γὰρ ὀϊζυρῶν φρένας ἀνδρῶν, / ὥς σφιν ἐπ᾽ ἔργοισιν πίστις ἔπ᾽ οὐδεμία, / ἀλλὰ δόλους τ᾽ ἀπάτας τε πολυπλοκίας τ᾽ ἐφίλησαν (…). – Gerade diese Passage zeigt das Potenzial einer spiel- und signaltheoretischen Modellierung dieses Genres archaischer Dichtung. Zu Grundlagen der Signaltheorie s. Gambetta 2009, bes. 3–29. ICret 4.14 g–p.1 und p–g.2 = Koerner 1993, Nr. 121 = Gagarin/Perlman 2016, G 14: Gortyn, um 600–575 (Übersetzung nach Reinhard Koerner): [– –] π¢ε¢ντήκοντα λέβη¢[τας ϝ]εκάστο καταστᾶσαι. ϙόσμος ὀ ἐπιστάς | αἰ μὴ ἐστείσαιτο, ἀϝτ¢ ¢ [ὸνὀ]π¢ήλεν | καὶ τὸν¢ τ¢ίταν | αἰ μὴ ’σ¢τείσαιτο τ[– –]; zum Titas s. Seelentag 2015, 187–189; s. daneben etwa Elis, um 525–500 = IvO 7.3–5 = Koerner 1993, Nr. 43. – s. auch Nikolaos von Damaskos FGrH 90 F 57.4 f. zur Amtsführung des Kypselos als polemarchos, als welcher er ‚milder‘ gehandelt habe als andere Amtsträger und sich dadurch beliebt gemacht und seine Tyrannis vorbereitet habe.
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Diese tatsächlich ja strukturelle Instabilität von konkreten Kartellformationen spricht nun aber nicht gegen Existenz und Relevanz eines soziopolitischen Handlungsmusters der ‚Kartellbildung‘ in der Archaik, welches – trotz aller evidenten Schwäche auch für die Zeitgenossen – immer wieder als Mechanismus soziopolitischer Organisation bemüht wurde. Denn die inschriftlichen Regeln des 7. bis 5. Jahrhunderts reflektieren gewissermaßen die normative Seite der Kartellbildung. In ihnen beobachten wir eine immerhin über Jahrhunderte verfolgte Vorstellung beziehungsweise das formulierte Ideal, dass die Schaffung, Nachbesserung und Absicherung von institutioneller Macht und damit Kooperation funktionieren könne; freilich auch das Bewusstsein, dass es immer wieder zu Verstößen kommen werde.48 Bei dieser Gelegenheit sollten wir fragen, ob die Perspektiven und Anliegen der erhaltenen Quellen uns das Disruptive und Dysfunktionale der Zeit womöglich stärker wahrnehmen und in unseren eigenen Narrativen eben auch überbetonen lassen. Bei allen Unterschieden untereinander nehmen die Epen, die Klagen eines Alkaios und Theognis sowie die Gesetzesinschriften ja das Krisenhafte beziehungsweise womöglich auch die Perspektive der Krise in den Blick, die soziopolitischen Problemfälle. Waren demgegenüber die kooperative Übereinkunft und das Zusammengehen im Kartell der ‚normale‘ Handlungsmodus? Immerhin stehen hinter den Gesetzen erfolgreiche Beschlussverfahren, elitäre Pakte, die zu nämlichen Inschriften führten; hinter dem Lamentieren eines Alkaios steht eben auch der Sieg der vom demos getragenen Faktion eines Pittakos; wie hinter der Klage eines Theognis die Beobachtung steht, dass andere Teile der Eliten mit jenen von ihm als ‚schlecht‘ Verschrienen kooperierten, speisten und Heiratsallianzen eingingen.49 Überdies blicken narrative Quellen wie die Historien des Herodot vorwiegend auf jene Individuen, die Veränderungen des Bestehenden betreiben und so die Handlung voranbringen. Diesen Typus sollten wir aber nicht zum Normalfall eines archaischen aristos erklären. Denn ungenannt und unbeschrieben bleiben die zahlreichen agathoi gerade der zweiten Reihe, die zu solchen Akten beeindruckender und aufzeichnungswürdiger Disruption aufgrund fehlender persönlicher Macht nicht in der Lage waren und die deshalb den Modus der Kooperation vorzuziehen hatten.
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Ein Vergleichsbeispiel sei genannt: Auch der Diskurs der metrios-Ideologie wurde von den Zeitgenossen immer wieder bemüht – trotz allen offensichtlichen Herausforderungen, gegen spezifische, ostentative Formen der Lebensführung und des Wettbewerbs effizient normativ einzuwirken. Zu Motiven und Sinn dieses Diskurses s. unten. Auch die zahlreichen Narrative rund um Exil und ‚Kolonisation‘ zeigen letztlich, dass es Mechanismen der Expulsion von Kooperationsunwilligen gab. Anders als Winfried Schmitz in diesem Band betont, sehe ich in den von ihm skizzierten Fällen einer „Lösung von Konflikten durch räumliche Separierung“ kein Scheitern des Konkurrenzsystems, sondern einen von dessen zentralen Bestandteilen zum Funktionieren. Hierzu s. unten.
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Ethische Homogenisierung: Diskurse, Soziale Räume und Praktiken Es dürfte einer der wichtigsten Mechanismen zum Erhalt von Kartellformationen sein, die Ausbeutungsrate der sozial Unterlegenen durch eine intragruppale Kontrolle der Ausbeutenden zu regulieren. Und so möchte ich im Folgenden weitere Merkmale einer Kooperation als Kartell in der Archaik kurz diskutieren; zunächst sei hingewiesen auf verschiedene soziale Räume und Praktiken, die der Einübung von Kooperation dienten, dann auf Anzeichen für eine ethische Homogenisierung der Eliten, welche die Voraussetzung für institutionalisierte Konkurrenz war, und deren normative Diskurse. Wie bei den eben präsentierten Spezifika gilt auch hier, dass die einzelnen Punkte nicht trennscharf auseinanderzuhalten sind. Vielmehr bieten sie unterschiedliche Perspektiven auf ähnliche Sachverhalte. Von großer Relevanz für das Einüben von Kooperation scheinen mir die zahlreichen kleineren Einheiten innerhalb und neben der polis gewesen zu sein. Ihre Existenz mildert die Vorstellung ab, dass Kooperation und Kartell sofort auf der großen Ebene der polis hätten funktionieren müssen. Beispiele für die Vielfalt soziopolitischer Integrationskreise, in welche jedes Individuum eingebunden war, bietet etwa das Solon zugeschriebene Gesetz über die Gemeinschaften: Was ein Demos oder Mitglieder einer Phratrie (phratores) oder eine Vereinigung für kultische Feste (orgeones) oder gennetai (vel. naukrariai) oder Mahlgenossen (syssitoi) oder ein Begräbnisverein (homotaphoi) oder Mitglieder von religiösen Vereinigungen (thiasotai) oder Leute, die auf Beute oder Handel ausgehen, untereinander abmachen, das soll rechtens (kyrion) sein – sofern es nicht durch öffentliche/allgemeine Gesetze (demosia grammata) untersagt ist.50
An diesem Beispiel sehen wir allerdings auch, welcher Art die Gemeinschaften waren, die – aus Sicht des Individuums – dessen Identität konturierten, womöglich auch in Abgrenzung von und geradezu gegen die polis-Gemeinschaft oder aber auch gegen eine Kartellformation auf Ebene der polis. Als integrativer Faktor auf dieser Ebene sind dagegen sicherlich die Ratsorgane der frühen poleis zu nennen, deren Zusammensetzung die Zugehörigkeiten ihrer Mitglieder zu anderen Teilgemeinschaften transzendierte.51 In allen diesen Zirkeln wurden Kooperation und Konsens im kleineren Kreis 50
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Solon F 76a Ruschenbusch 2010 ap. Gaius Dig. 47.22.4; s. Leão/Rhodes 2016, 133 f. zu F 76a mit einer Diskussion. – Zu diesen soziopolitischen Integrationskreisen s. Seelentag 2014b und 2015, bes. 274–333, sowie Ismard 2018. Papakonstantinou 2008, bes. 51–63, weist darauf hin, dass archaische Inschriften eine Reihe solcher partikularen Gemeinschaften nennen, welche für ihre eigenen Mitglieder regelhafte Übereinkünfte beschlossen. Diese unterscheiden sich in ihren Formeln und den Kontexten ihrer Aufstellung nicht von jenen Regeln, welche „die polis“ beschloss, waren also ebensolche ‚Gesetze‘ wie die Letzteren. Zu Ratsorganen s. etwa Schulz 2011 und den Beitrag von Fabian Schulz in diesem Band.
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eingeübt, hier wurde auch die für das spieltheoretische Modell der Kooperation so wichtige Reputation aufgebaut. Ein wesentliches Indiz für eine spieltheoretisch modellierbare Kooperation der archaischen Eliten – und die zeitgenössische Reflexion darüber – bieten die vielen Szenarien der ‚vertagten äquivalenten Gegenleistung‘, denen wir in unseren Quellen begegnen.52 In ihnen wird ein gemeinsamer Zugewinn der Akteure erzielt, freilich erst im Laufe der Zeit bei wiederholter Kooperation, anstelle einer einmaligen einseitigen Vorteilsnahme ohne entsprechenden Akt der Reziprozität. Deutlich wird dies etwa in der Konsensentscheidung zu Beginn des 4. Gesangs der Ilias. Hier gibt Zeus der situativ starken Präferenz Heras nach, Troja zu zerstören. Er formuliert aber klar die von ihr erwartete Gegenleistung in der Zukunft: Sie müsse dereinst auch Siedlungen zur Zerstörung freigeben, die ihr besonders lieb seien. Hera stimmt dem zu und betont, nun hätten sie beide nachgegeben. Wichtig hierbei – wie in ähnlichen Szenen des Epos – ist, dass Nachgeben auch ohne Statusverlust möglich ist.53 Und selbstverständlich funktionierten auch Gastfreundschaft und Gabentausch nach dem Prinzip der ‚vertagten äquivalenten Gegenleistung‘.54 Solche soziopolitischen Räume und ihre Mechanismen der Kooperation waren die Keimzellen einer ‚ethischen Homogenisierung‘ archaischer Eliten. Mit diesem Begriff bezeichne ich die inszenierte und – im besten Falle – verinnerlichte Vereinheitlichung der Lebensführung innerhalb eines Kreises von Statusgenossen auf Kosten der Pluralität von Lebensweisen und der Freiheit des Individuums. Dies kann geschehen etwa durch die Minimierung der Zurschaustellung ökonomischer und sozialer Differenzen innerhalb der Gruppe maßgeblicher Entscheider und deren gemeinsame Inszenierung gegenüber Außenstehenden. Dies kann aber genauso gut geschehen durch strategisch-ostentativen Konsum von ‚Luxusgütern‘. In jedem Fall geht es um die Demonstration von Egalität nach innen und Exklusivität nach außen. Eine solche ethische Homogenisierung erfordert ungeheure kulturelle Kosten. So macht etwa eine Ideologisierung der ‚Gleichheit‘ von eigentlich ja Ungleichen eine demonstrative Abgrenzung dieser ‚Gleichen‘ von ihnen gemeinsam ‚Anderen‘ nötig. Von großer Relevanz für den Zusammenhalt einer solchen Gruppe sind also die Etablierung oder Verstärkung einer soziopolitischen Trennlinie von Lebensstil und kulturellen Praktiken sowie die Ideologisierung einer auf dieser Grundlage beanspruchten sozialen und politischen
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Konzis hierzu s. Sartori 1984, 94. Hom. Il. 4. 1–72; zu diesem Szenario s. Flaig 1994 und Elmer 2013. – In Hom. Il. 8.363 f. klagt Athene, dass Zeus ihre Präferenzen nicht akzeptiere, obwohl sie ihm oft zu Diensten war; konsequent handelt sie in der Folge entgegen ihrer zuvor erklärten Zustimmung zum Kampfverbot. In Il. 9.628–632 lenkt Achill nicht ein und Ajax kritisiert ihn dafür; schließlich hätte man ihn früher bevorzugt. Und Il. 19.181–183 zeichnet ein Szenario des erfolgreichen Einlenkens, als Agamemnon um eine Versöhnung mit Achilles bemüht ist. Hierzu s. Tracy 2014 und differenzierend van Wees 1998.
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Überlegenheit. Dies kann durchaus auch mithilfe der Festschreibung rechtlicher Statusunterschiede geleistet werden.55 Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die in der Mitte des 5. Jahrhunderts verinschriftlichte Übersicht der Strafzahlungen für die Delikte des Ehebruchs und der Vergewaltigung im kretischen Gortyn, in welcher die Strafen nach Tätern und Opfern verschiedener Statusgruppen gegliedert wurden. Hierin wird der gewaltige Abstand der eleutheroi, als welche sich die Bürger selbstbezeichnen, von den apetairoi, den freien Nichtbürgen, sowie schließlich den doloi und woikeis, den Unfreien, deutlich. Denn sofern der Täter ein eleutheros war, hatte er die Vergewaltigung einer eleuthera mit 1200 Obolen zu büßen, die einer Angehörigen eines apetairos lediglich mit 120 und die einer Unfreien allein mit 30. Dieses Zeugnis zeigt, dass die wesentliche soziale Trennlinie zwischen den ‚Bürgern‘ – die mit ihrer Eigen-Etikettierung eine spezifische ‚wahre‘ Freiheit ideologisierten, welche allein sie besäßen – und allen anderen gezogen war, ob jene nun frei oder unfrei waren.56 Eine in unseren literarischen Zeugnissen weitverbreitete Reflexion ethischer Homogenisierung ist die ‚middling ideology‘. Dieser Begriff wurde von Ian Morris mit Rekurs auf moderne Demokratietheorie geprägt, dabei freilich in anachronistischen Kategorien gedacht. So machte etwa Erich Kistler plausibel, dass den Diskursen dieser ‚Ideologie‘ nicht eine arithmetische Gleichheit zugrunde liege: also „allen soll alles in gleicher Weise und gleichem Umfang zuteilwerden“; sondern vielmehr geometrische Gleichheit: und das bedeute, dass alle darin gleich seien, dass jeder direkt abhängig vom eigenen Wert und Ansehen in der Gemeinschaft proportional am Kollektivgut teilhaben solle. Hiernach komme dem Besseren mehr zu, dem Geringeren weniger. Das wichtigste Gebot dieser geometrischen Gleichheit sei also, nicht der hybris zu verfallen und mehr haben zu wollen, als einem zustehe. Und so verdamme der Diskurs der metrios-Ideologie etwa das Mehr- oder Zuviel-Haben-Wollen sowie den nicht der dike entsprechenden Erwerb, fordere die Mäßigung innerhalb der Gruppe und konturiere ein eunomia-Ideal.57 Kurzum, es sind Ermahnungen von agathoi an ihre Statusgenossen, den demos nicht über die Maße auszubeuten und den Konflikt in der eigenen
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Hier könnte eine Mittlerposition ansetzen zwischen Alain Duplouy (z. B. 2006), der die Relevanz fortwährender Inszenierung des sozialen Status betont, und Julien Zurbach (z. B. 2013/14), der demgegenüber die Relevanz des rechtlichen Status hervorhebt. – Zum Miteinander der Zurschaustellung von Gleichheit und Ungleichheit in kretischen poleis s. Seelentag 2013. ICret 4.72.2.2–45 = Koerner 1993, Nr. 164 = Nomima 2, Nr. 81 = Gagarin/Perlman 2016, G 72.2.2– 45: Gortyn, aus dem sogenannten ‚Großen Gesetz‘, um 450; hierzu Seelentag 2015, 286–291 und Lewis 2018, 147–165. Morris 2000 und vgl. Kurke 1999; dagegen Kistler 2004, hier 156–167, und Anderson 2005. – S. etwa Solon Frg. 36.15–20, bes. 18–20, West = 24 Gentili/Prato: „Gesetze (thesmous) schrieb ich gleichermaßen (homoiōs) für kakoi und agathoi, gerade dike auf jeden anpassend“ und vgl. 5 West = 7 Gentili/Prato. Zum Diskurs des ‚rechten Erwerbs‘ s. etwa Solon 13.7 f. West = 1 Gentili/Prato; zum rechten Maß s. etwa Solon 4c West = Gentili/Prato 5 und Thgn. 693 f.
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Gruppe zu begrenzen. Es geht darum, als Mitglied eines Kreises von untereinander ‚Gleichen‘ und ‚Gleich-Guten‘ – eben von agathoi – deren kollektiven sozialen Primat in der Gemeinschaft behaupten zu können.58 Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang auch der soziale Raum der sogenannten ‚diakritischen Feste‘ nach der Typologie des Sozialanthropologen und Altertumswissenschaftlers Michael Dietler. Diesem Festtypus ist eigen, dass seine Teilnehmer ihre Zusammengehörigkeit als Gruppe betonen und ihre relative Gleichheit untereinander. Sie bedienen sich dazu eines elaborierten Zeichensystems, das von materiellen Ressourcen ermöglicht und im Zuge eines spezifischen Lebensstils eingeübt wird. Dies alles dient dem Zweck, soziale Grenzen zu erzeugen, um den Kreis der Mitglieder dieser Gruppe klein und exklusiv zu halten. Leicht sind in dieser abstrahierenden Typisierung auch Ideologie und Praktiken dessen zu erkennen, was wir als ‚Symposion‘ etikettieren.59 Und ein wichtiger – nun tatsächlicher – Raum der ethischen Homogenisierung waren die Bauten, in denen ein Gutteil jener diakritischen Feste stattfand: die Banketthäuser in Heiligtümern.60 Unter vielen Beispielen ließen sich nennen die ‚Tempel‘ im kretischen Dreros und Prinias sowie die ‚Schatzhäuser‘ der überregionalen Heiligtümer, seien es nun die Naïskoi des 7. Jahrhunderts im samischen Heraion oder der Oikos der Naxier auf Delos. Letzterer, zusammen mit dem Koloss der Naxier, ließe sich zudem etwa deuten als die regional wirkende Außendarstellung eines lokalen Kartells, dessen Mitglieder in Anspruch nahmen, sie seien „die Naxier“.61
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Hierzu s. auch Rabinowitz 2013. Dietler 1996. Auf die Archaik wurde dies angewandt unter anderen von Rabinowitz 2009 und 2013 sowie Węcowski 2014. Hierzu s. den Beitrag von Erich Kistler in diesem Band. Unter „den Naxiern“ sollten wir eben nicht die gesamte Gemeinschaft der polis Naxos verstehen. Vielmehr scheinen mir Bauwerke wie dieser oikos auf die Initiative jener partikularen Gemeinschaften aus einer polis bzw. aus einem Gebiet zurückzugehen, welche überhaupt nur dafür infrage kamen, im regionalen Heiligtum von Delos ein solches monumentales Ensemble zu errichten – und dieses eben auch zu nutzen, wodurch Art und Umfang der Gruppe zumindest den Zeitgenossen regelmäßig deutlich wurden. Die plausibelsten Kandidaten für eine solche Gruppe, die ja die Mittel für diesen Komplex zusammengebracht hatten, scheinen mir auch nicht die Mitglieder allein einer der Hetairien der Insel gewesen zu sein, sondern jener Zirkel der als regimentsfähig akzeptierten, als ein Kartell handelnden Anführer der Gemeinschaft, welche sich dann eben auch selbst als „die Naxier“ darstellten. Als solche mögen sie sogar über Ressourcen verfügt haben, welche demosia waren, also ‚aus öffentlichen Einkünften‘ stammten, zum Einsatz für die Gemeinschaft vorgesehen waren und deren Einsatz zum Bau jenes Oikos durchaus akzeptiert war. Überdies dürften eben nicht alle Naxier gleichermaßen vom Bau des repräsentativen Oikos auf der Nachbarinsel profitiert haben, sondern im Wesentlichen die wegen ihrer materiellen Potenz abkömmlichen Mitglieder der Eliten, die sich anlässlich der Kultfeste auf die Insel begaben und dort von jenem kulturellen Kapital profitierten, welches Oikos und Kouros den dort präsenten „Naxiern“ spendeten. – Zum ‚Koloss der Naxier‘ s. Giuliani 2005; Queyrel 2014 und den Beitrag von Klaus Junker in diesem Band; zu Bankettbauten s. Leypold 2008; zu Fragen der ‚öffentlichen‘ Einnahmen und Ausgaben im archaischen Griechenland s. van Wees 2013b.
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Besonders hervorgehoben seien in diesem Kontext die von Martin Mohr vorgetragenen Ideen zur Funktion überlokaler Heiligtümer während des 7. Jhs.62 Diese Heiligtümer waren bis mindestens 600 in erster Linie Treffpunkte für Gruppen von elitären Zechern aus ganz unterschiedlichen Siedlungsgemeinschaften. Sie manifestierten an diesen intergruppalen Kultorten die unter ihnen existierende Konkurrenz durch Aufwand bei Bauten, Opfergaben und Weihegeschenken. Doch durch die gemeinsamen Opferakte und Kultmahle waren diese Orte auch bedeutsame Interaktionszentren für eine Koordination der überlokalen Eliten. Und hier stellten diese Gruppen auch ihre kollektive Überlegenheit gegenüber allen anderen zur Schau, die an jenen gemeinschaftlichen Praktiken nicht teilhatten. Auf diese Weise wurden Kooperation und Kartellbildung auf überlokaler Ebene vorangetrieben. Erst im 6. Jahrhundert, im Zuge der Herausbildung einer polis-Identität, die den Anspruch erhob, die Identitäten dieser partikularen Gemeinschaften zu überspannen,63 wurden durch die bauliche Monumentalisierung und spezifische Streckenführung der ‚Heiligen Straßen‘ eine Reihe dieser partikular-gemeinschaftlichen Kultorte in eine umfassendere Kulttopographie der polis-Gemeinschaft integriert: Tatsächlich, so betont Mohr, habe erst diese Strukturierung und Erschließung von Siedlungs- und Binnenräumen eine in baulichen Befunden reflektierte polis-Gemeinschaft hervorgebracht.64 In der materiellen Kultur der Archaik ist eine ethische Homogenisierung, die eine erfolgreiche Kartellbildung widerzuspiegeln scheint, etwa in den zahllosen Manifestationen von Standardisierung und Austerisierung reflektiert, die wir in der Weihegabenpraxis, Begräbnispraxis und Lebensführung beobachten. Diese inszenierte Austerisierung konnte so weit gehen wie etwa in den kretischen poleis vom späten 7. bis zur zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, als bei aller in den zeitgenössischen Inschriften deutlichen sozialen Stratifikation auf der Insel die für uns archäologisch fassbaren typisch elitären Praktiken verschwunden scheinen: kaum nachweisbare Gräber, kaum wertvolle Weihegaben, kaum Anzeichen für Symposion oder individuellen Schriftgebrauch, kaum Importe von bemalten Gefäßen aus korinthischer oder attischer Produktion. Dies alles deutet auf eine bewusste Reduktion bestimmter Praktiken des
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Ausführlich hierzu s. Mohr 2013 mit Fallstudien vorwiegend aus Samos und Ephesos, Milet und Attika. – Renner 2009 betont, dass zahlreiche, traditionell als ‚Tempel‘ charakterisierte Bauten des 8.–6. Jahrhunderts eine zentrale Säulenstellung entlang ihrer Längsachse aufwiesen und somit für die Präsentation eines Kultbildes ungeeignet gewesen seien. Vielmehr hätten diese Bauten, in denen durchaus umlaufende Sitzgelegenheiten nachzuweisen seien, den Gemeinschaften überlokaler Eliten als Treffpunkte gedient. Als charakteristisch hierfür nennt Mohr 2013, 107 die „Stärkung der sozialen Kohäsion zwischen den teils gegnerischen Hetairien – genauso wie zwischen Eliten und Nicht-Eliten“. Für Milet ist diese, verschiedene gemeinschaftliche Heiligtümer integrierende Kulttopographie neben den archäologischen Befunden in der sogenannten Molpoi-Satzung (IMilet 1.3.133) reflektiert, welche sich im Kern auf das 6. Jahrhundert zurückführen lässt; hierzu s. umfassend Herda 2006.
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Wettbewerbs hin – der dann freilich auf andere, von den Akteuren kontrollierte Weise ausgelebt wurde.65 Und schließlich bieten auch die Gesetze aus zahlreichen poleis Anzeichen für eine solche ethische Homogenisierung und Vereinheitlichung des Handelns, die im Rahmen unseres Modells einer Kartellbildung Sinn ergeben.66 An erster Stelle sind jene ‚politischen‘ Regeln zu nennen, die zunächst und vor allem darum bemüht waren, die in ihnen erwähnten Funktionsträger an den Möglichkeiten ihres Handelns zu hindern. Dies geschah durch die Konturierung des Prinzips der institutionellen Macht gegen die beziehungsweise im Einklang mit der persönlichen Macht der Funktionsträger: den Aufbau eines Gefüges von Institutionen, um mehr Männern die Teilhabe zu ermöglichen; dann durch die Schaffung der Konzepte von Kollegialität und Amtsdauer; und schließlich die Etablierung der Pflicht für Amtsträger zu handeln und zugleich des Rechts, ein Monopol auf bestimmtes mit dem Amt verbundenes Handeln zu haben.67 Überhaupt scheinen mir Ämter eine Schlüsselinstitution von Kartellbildungen gewesen zu sein. Schließlich war ein Amt lediglich eine der möglichen Prominenzrollen eines politischen Akteurs, allerdings eine solche, die besonders deutlich zeigte, dass ihr Inhaber sich unter seinen Statusgenossen hatte durchsetzen können. Natürlich hängt einiges davon ab, wie die frühen Ämter besetzt wurden, aber das wahrscheinlichste Modell scheint mir Kooptation zu sein, also eine konsensuale Übereinkunft der maßgeblichen Akteure, welche jene dann gegebenenfalls einer breiteren Basis von Akteuren zur Bestätigung vorlegten. Ein Amt zu bekleiden hätte somit einen stärkeren Signalcharakter für die Akzeptanz eines Mannes im Kreis der Anführer gehabt als bloßer Reichtum oder die Inszenierung eines spezifischen Lebensstils, die weit mehr in seiner eigenen Hand lagen. Die Akzeptanz in einem Amt der polis konnte also die Zugehörigkeit zu einem Kartell deutlicher reflektieren als die Performanz anderer Aristiepraktiken. Neben Regeln für die Bekleidung von Ämtern dienten auch zahlreiche andere Gesetze der ethischen Homogenisierung der maßgeblichen Akteure: Gesetze, welche 65
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Erickson 2006 und 2010; Seelentag 2013 und 2015, bes. 34–57, sowie Small 2016. Von großer Relevanz waren hier die oben skizzierte Abgrenzung der eleutheroi von den minderprivilegierten Mitbewohnern ihrer poleis sowie die Ableitung innerer Spannungen nach außen, in die Auseinandersetzung mit anderen poleis. Hierzu s. Viviers 1994 und 1999 sowie Perlman 1996. Osborne 2009, 174–177 betont zu Recht, dass die Gesetze des 7. und 6. Jahrhunderts nicht damit befasst gewesen seien, das Verhältnis verschiedener Gruppen zueinander zu klären, weder Statusgruppen noch sozialer Klassen. Auch schienen sie nicht vornehmlich mit der Bestrafung von Delikten befasst. Selbst wenn konkrete Taten angesprochen gewesen seien, etwa in CPh 38 (1943) 191–199 = Koerner 1993, Nr. 35: Arkadien 6./5. Jahrhundert, legten die Gesetze in erster Linie fest, welchen Institutionen die Strafmaßnahme oblag und was geschehen sollte, wenn jene nicht handelten, wie es vorgeschrieben war. Diese beiden Charakteristika sprächen dafür, dass die Gesetze nicht etwa um eine Einschränkung elitärer Macht durch den demos bemüht gewesen seien. Und ebenso wenig versuchten sie elitäre Privilegien zu entwickeln. Tatsächlich scheinen mir diese Privilegien der unhinterfragte Ausgangszustand jener Regeln; stets geht es in ihnen um eine geordnete Machtverteilung innerhalb der Elite durch deren Mitglieder selbst. Koerner 1987; Harris 2006; Seelentag 2015, bes. 129–203.
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etwa die Vermögensweitergabe sowie die Nutzung von Ressourcen und Begräbnispraktiken zu steuern versuchten. Sie sollten die Inhaber größerer persönlicher Macht in ihren potentiellen Übergriffen gegenüber Schwächeren beschränken, etwa indem man ihrer Besetzung und Aneignung von polis-Land Grenzen zu setzen, ihren Zugriff auf Wasser und andere Allmendegüter zu beschränken, die Kumulation von Vermögen auf dem Weg über Eheschließung und Adoption sowie über Verkauf und Verpfändung zu regulieren und die Etablierung langfristiger Schuldknechtsverhältnisse zu verhindern bemüht war.68 Alle diese Gesetze formulierten Regeln, die in erster Linie einem geordneten Miteinander innerhalb der Führungsgruppe dienten. Sie alle ergeben primär Sinn im Rahmen des Modells der Kartellbildung als eines Handlungsmusters, mit welchem die maßgeblichen soziopolitischen Akteure um die Absicherung ihrer Machtpositionen als ein Kollektiv bemüht waren. Sanktionen für Regelverstöße, die ebenfalls einer ethischen Homogenisierung der agathoi dienten, sehen wir etwa in den zahlreichen Zeugnissen von Ostrakismos-Ritualen, von Flucht oder Verbannung gespiegelt. Inschriftlich greifen wir einen solchen Vorgang etwa in Form eines Dekretes aus Milet aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts über den Umgang mit Verbannten oder Geflohenen. Hier wird deutlich, um welche Maßnahmen die polis bemüht war, eine Verfolgung auch tatsächlich effizient umzusetzen, etwa Kopfgelder und abermals die Verpflichtung der Amtsträger zum Handeln. Wir lesen: – – – die (Söhne) des Nympharetos, sowie Alkimos [und] Kresphontes, [die] (Söhne) des Stratonax, sollen verbannt werden, und zwar wegen {öffentlicher} Blutschuld, sie selbst und ihre Nachfahren. Und wer einen von diesen tötet, soll 100 Statere erhalten aus dem Vermögen des Nympharetos. Das Geld auszahlen sollen jene Epimenioi, in deren (Amtszeit) [diejenigen] vorstellig werden, welche die Tötung ausgeführt haben. Wenn sie es nicht (auszahlen), sollen sie (es) selbst schulden (… usw. …).69
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Hier seien nur einige repräsentative Zeugnisse dieser Regelungsbereiche genannt: Vermögensweitergabe: ICret 4.72.7.15–9.24 = Koerner 1993, Nr. 174 = Gagarin/Perlman 2016, G 72.7.15–9.24 (Gortyn, Mitte des 5. Jahrhunderts); Zurschaustellung von ‚Luxus‘ im Kontext der Bestattung: IG 12.5.593 = Koerner 1993, Nr. 60 (Ioulis auf Keos, Ende des 5. Jahrhunderts); Landnutzung und Bewässerung: BCH 109, 157–188 (Seite B) = Koerner 1993, Nr. 88 = Gagarin/Perlman 2016, L 1B (Lyttos, um 550–525, Weiderecht) und ICret 4.43 Ba und Bb = Koerner 1993, Nr. 132 und 133 = Gagarin/ Perlman 2016, G 43 (Gortyn, Anfang 5. Jahrhundert, Nutzung von polis-Land und Wasserrecht); Solon F. 60–64 Ruschenbusch und s. Leão/Rhodes 2016, 103–106. – Zu diesen Regeln als Zeugnissen innerelitärer Konfliktregulierung s. Hawke 2011, bes. 162–173 zu gortynischen Gesetzen rund um verschiedene Möglichkeiten der Vermögensweitergabe. Syll.3 58, hier 1–7 = Koerner 1993, Nr. 81 = Nomima 1, Nr. 103 (Übersetzung von Reinhard Koerner): [․․․․․․15․․․․․․․]σ[․․5․․ τ]ὸ¢[ς Ν]υμφα¢ρήτο καὶ Ἄ¢λκ¢ ιμ¢[ον] | [καὶ Κ]ρεσφόντην τ¢[ὸ] Στρατώνα¢κτος φεύγεν τὴν ἐπ’ αἴμ¢[ατ|ι] [φυγὴν] καὶ αὐτὸς¢ [κα]ὶ ἐκγόνος, καὶ ὄς ἄν τινα τούτωγ κατ¢[α]| [κτείν]ε¢ι, ἐκατὸν [στ]α¢τῆρας αὐτῶι γενέσθαι ἀπὸ τῶν | [χρημά]τ¢ων τῶν Ṇυμ¢[φαρ]ή¢το. τὸς δ¢’ ἐ¢πιμη¢νίος, ἐπ’ ὦν ἂν ἔλθωσ¢|ι ν¢ [οἱ κατ]α¢κτείναντ¢ε¢ [¢ ς], ἀ¢ποδοναι τὸ ἀργύριον. ἢν δὲ μή, αὐτὸ|[ς] [ὀφε]ί λ¢ εν (…); hierzu Gorman 2001, 230–234 und Slawisch 2011. – Forsdyke 2005, 285–288 bietet einen konzisen
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Neben solchen Zeugnissen von Ausweisung und Exil stehen die zahlreichen Geschichten von sogenannten ‚Kolonisationsunternehmen‘, welche von prominenten Männern angeführt wurden, die in ihrer Heimat aber marginalisiert waren – vom älteren Miltiades aus Athen etwa, welchen die thrakischen Dolonker um Hilfe baten: Miltiades war sofort bereit, denn die Herrschaft des Peisistratos war ihm sehr zuwider, und er war froh, ihr entfliehen zu können. (…) Und so machte sich Miltiades auf, Sohn des Kypselos, der schon in Olympia mit dem Viergespann den Sieg davongetragen hatte, mit allen Athenern, die ihm folgen wollten, und mit den Dolonkern und nahm von der Chersonesos Besitz.70
Geschichten wie diese reflektieren, dass aristoi mit Ansprüchen, die in ihrer eigenen Heimat nicht befriedigt wurden, durchaus den Weg des Abenteurers gehen konnten, an dessen Ende Prominenz und Führerschaft in anderen Gemeinschaften standen. Offenbar gab es also mögliche Auswege für jene, denen institutionalisierte Konkurrenz und Kooperation, Konsens und Kartell nicht lagen oder denen sie versperrt waren. ‚Kartell‘ und ‚Oligarchie‘ Es mag scheinen, dass die voranstehende Skizze im Wesentlichen soziopolitische Mechanismen beschreibt, welche zu einer Oligarchie führten – sei also ‚Kartellbildung‘ nicht das gleiche wie ‚Oligarchie‘? Tatsächlich hat das hier entworfene Modell ein sehr viel größeres Potenzial. Zum einen nimmt ‚Kartellbildung‘ ausdrücklich das Prozesshafte soziopolitischer Entwicklung und die Handlungsmöglichkeiten der Akteure in den Blick, geht also nicht von einer bereits vorhandenen, vergleichsweise statischen Konfiguration der Machtausübung aus, wie jüngere Arbeiten zur ‚Oligarchie‘ dies tun.71 Im Übrigen können und müssen wir uns durch die Bildung eigener Kategorien von den Schemata antiker Verfassungstypologien lösen, die zu starr und redundant
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Überblick über die außerhalb Athens bezeugten Ostrakismos-Rituale, bei denen die Frage bleibt, ob sie auf ein athenisches Vorbild zurückgingen oder voneinander unabhängig entstanden. S. auch die Deutung des athenischen Ostrakismos als die Erzwingung eines wiederholten Gefangenendilemmas durch Węcowski 2018. Hdt. 6.34–36 (Übersetzung von August Horneffer): Μιλτιάδεα (…) ἀχθόμενόν τε τῇ Πεισιστράτου ἀρχῇ καὶ βουλόμενον ἐκποδὼν εἶναι. (…) οὕτω δὴ Μιλτιάδης ὁ Κυψέλου, Ὀλύμπια ἀναραιρηκὼς πρότερον τούτων τεθρίππῳ, τότε παραλαβὼν Ἀθηναίων πάντα τὸν βουλόμενον μετέχειν τοῦ στόλου ἔπλεε ἅμα τοῖσι Δολόγκοισι, καὶ ἔσχε τὴν χώρην: καί μιν οἱ ἐπαγαγόμενοι τύραννον κατεστήσαντο. – Zu diesen Hintergründen solcher Unternehmen s. etwa Osborne 1998 und 2016; Bernstein 2004. So beschreiben etwa Winters 2011 und auch Simonton 2017 unterschiedliche Idealtypen von Oligarchie eher als bereits etablierte Konstellationen, weniger in Hinblick auf ihre Entwicklung. – ‚Oligarchie‘ in der antiken Selbstbeschreibung erscheint als ein politologischer Phänotyp von Kartellbildung.
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für unsere Zwecke sind.72 Das Modell der Kartellbildung macht auch Arten der Gruppenbildung und deren Dynamiken vergleichbar, die traditionell als unterschiedliche Konfigurationen etikettiert und konzeptualisiert werden: die Herrschaft einer ‚Oligarchie‘ wie etwa der samischen Geomoren, eines ‚Familienverbandes‘ wie etwa der korinthischen Bakchiaden und eines ‚Tyrannen und seiner Unterstützer‘ wie etwa im Falle der zweiten Machtübernahme des Peisistratos. Tatsächlich nimmt dieses Modell sowohl Typen von Alleinherrschaft in den Blick, ob antike Zeugnisse – und wir in ihren Spuren – diese nun als ‚Monarchie‘ oder ‚Tyrannis‘ oder ‚Amtszeit eines Gesetzgebers‘ bezeichnen. Es lässt uns aber auch die Dynamiken in Gruppen von politischen Akteuren in den Blick nehmen, deren Zahl weit über das hinausgeht, was wir üblicherweise als ‚Eliten‘ konzeptualisieren, etwa die ‚Demokratie‘. Denn auch die restriktive Handhabe des ‚Bürgerrechts‘ in der Archaik und Frühklassik lässt sich als ein Kartellierungsprozess beschreiben. Mithilfe des Modells der Kartellbildung zeigt sich, dass allen diesen Konfigurationen im Wesentlichen die gleiche Dynamik der Gruppenbildung zugrunde lag und dass die Akteure von sehr vergleichbaren Motiven angetrieben waren, die eigene Teilhabe in verschiedenen Kontexten unter gegebenen Umständen zu möglichst guten Bedingungen zu sichern. Darüber hinaus liegt eine der Stärken dieses Modells darin, dass es nicht allein Phänomene des ‚politischen‘ Feldes im strengeren Sinne betrachtet, sondern eine Vielzahl von Praktiken, die in literarischen, epigraphischen und materiellen Zeugnissen reflektiert sind und ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern entstammen – Wirtschaft und Religion, Kultur, Sport und Kriegsführung –, gemeinsam in den Blick nimmt. Unser Ziel sollte es sein, ein Deutungsparadigma für zahlreiche Phänomene der griechischen Archaik und Frühklassik zu etablieren: von der Entstehung von Ämtern über die Institutionalisierung athletischer Agone bis hin zur Genese des Konzeptes eines Bürgerrechts, von den Ursachen für Staseis und Apoikie-Gründungen bis hin zu Phänomenen des Luxus und der Austerität, in Form von Votiven in Heiligtümern, Beigaben im Grabkontext und in der Lebensführung. Jüngst forderte John K. Davies, dass ein Modell soziopolitischen Wandels in der Archaik, welche alle Manifestationen von Konflikt und Integration erklären wolle, nicht allein für die griechische Welt formuliert sein dürfe; immerhin existierten der griechischen polis ähnliche Systeme auch an anderen Orten des Mittelmeerraumes, etwa an der Levante, in Etrurien und Latium. Außerdem dürfe ein solches Modell sich innerhalb der griechischen Welt nicht allein auf den Handlungsrahmen der polis
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Entgegen den für die Archaik zu beobachtenden beziehungsweise zu plausibilisierenden Befunden, trennen die antiken Verfassungsschemata zwischen verschiedenen Formen der Alleinherrschaft, wie etwa Monarchie und Tyrannis, und sehen in Oligarchie und Tyrannis kategorial völlig unterschiedliche Konfigurationen. Dagegen s. etwa Parker 2009; Wallace 2009; Mitchell 2013 und Kõiv 2016 zu unterschiedlich etikettierten – und konnotierten – Typen des ‚charismatischen Individuums‘ sowie Timmer 2013 zur Unzulänglichkeit der antiken Schemata.
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beschränken, sondern in der Lage sein, auch andere Arten von gesellschaftlicher Organisation zu erklären, etwa die Monarchie und die ethne.73 Das Modell der ‚Kartellbildung‘ scheint mir diese Voraussetzungen zu erfüllen und das Potenzial zu haben, als ein Baustein für ein solches Modell zu dienen. Literatur Anderson, Greg 2005. Before turannoi were Tyrants. Rethinking a Chapter of Early Greek History, in: Classical Antiquity 24, 173–222. Axelrod, Robert 2009. Die Evolution der Kooperation. München (englische Originalausgabe 1984). Bernstein, Frank 2004. Konflikt und Migration. Studien zu griechischen Fluchtbewegungen im Zeitalter der sogenannten Großen Kolonisation. St. Katharinen. Brennan, Geoffrey / Philip Pettit 2004. The Economy of Esteem. An Essay on Civil and Political Society, Oxford. Cairns, Douglas 2017. Homeric Values and the Virtues of Kingship, in: Fritz-Heiner Mutschler (Hrsg.) The Homeric Epics and the Chinese Book of Songs. Foundation Texts Compared, Newcastle, 381–409. Carneiro, Robert 1967. On the Relationship between Size of Population and Complexity of Social Organization, in: Southwestern Journal of Anthropology 23, 234–243. Davies, John Kenyon 2018. State Formation in Early Iron Age Greece. The Operative Forces, in: Alain Duplouy / Roger Brock (Hrsg.) Defining Citizenship in Archaic Greece, Oxford, 51–78. Dietler, Michael 1996. Feasts and Commensal Politics in the Political Economy. Food, Power and Status in Prehistoric Europe, in: Polly Wiessner / Wulf Schiefenhövel (Hrsg.) Food and the Status Quest. An Interdisciplinary Perspective, Providence, 87–126. Donlan, Walter 1970. Changes and Shifts in the Meaning of demos in the Literature of the Archaic Period, in: PP 135, 381–395. Duplouy, Alain 2006. Le prestige des élites. Recherches sur les modes de reconnaissance sociale en Grèce entre les Xe et Ve siècles avant J.-C., Paris. Duplouy, Alain 2015. Genealogical and Dynastic Behaviour in Archaic and Classical Greece. Two Gentilician Strategies, in: Nick Fisher / Hans van Wees (Hrsg.) ‚Aristocracy‘ in Antiquity. Redefining Greek and Roman Elites, Swansea, 59–84. Duplouy, Alain 2018. Citizenship as Performance, in: Alain Duplouy / Roger Brock (Hrsg.) Defining Citizenship in Archaic Greece, Oxford, 249–274. Eckel, Dieter 1968. Das Kartell. Ein Modell zur Verhaltenskoordination. Berlin. Elmer, David 2013. The Poetics of Consent. Collective Decision Making and the Iliad, Baltimore. 73
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Die relativ Besten grenzen sich ab Aristokratisierung durch die Aufhebung des Wettbewerbs im archaischen Griechenland Christoph Ulf Abstract: The very notion of the immigration of ‘the Greeks’ to the southern Balkans from the north has been called into question for good reason. In tandem with this debate on ‘becoming Greek’ as opposed to the ‘coming of the Greeks’, archaeological findings have demonstrated that settlement design after the Sub-Mycenaean period was totally different from what went before. Compounds, scattered settlements and dense settlements with or without an agora emerged and coexisted over centuries. Against this backdrop, interpretations of the Homeric epics as reflexions of big man-societies appear even more convincing. Like the lyric poets, the epics also seem to be commenting on changes in contemporary society. Taking the concept of the aggrandiser as proposed by Brian Hayden as starting point, this paper highlights the tendency of the big men in Archaic Greece, i. e. basileis and hegemones, to distance themselves from the demos by loosening their social bonds and commitments. This effort to establish a segregated social group of big men goes hand in hand with the ongoing reduction of the formerly intense competition between them. These processes are best understood as the emergence of an aristocracy (‘aristocratisation’).
Es ist nicht einfach über die griechische Archaik zu reden. Dies vor allem deshalb, weil der Begriff ‚Griechische Archaik‘ nicht allein als eine Bezeichnung für einen nur vage zu erfassenden Zeitraum verwendet wird, sondern mit ihm auch die Vorstellung von einer Epoche mit für sie signifikanten Merkmalen transportiert wird. Doch es wurde erst im ausgehenden 19. Jahrhundert üblich, die Zeit vor den Perserkriegen als eine Epoche aufzufassen und diese als ‚archaisch‘, als eine Phase der Ursprünglichkeit zu charakterisieren – und gleichzeitig als eine Zeit der Herrschaft des Adels.1 Lässt sich
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Most 1989.
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das erste Merkmal als Fortführung der weit zurückführenden Theorie der Kulturentstehung in organologischem Vokabular ansehen, so steht die Charakterisierung der Archaik als Zeit der Adelsherrschaft offenkundig in der Traditionslinie des Konzepts einer mehr oder weniger linearen Entwicklung von einer den ‚Anfang‘ darstellenden Phase der Monarchie zu einer sich gegen die Auswüchse der Monarchie empörenden Aristokratie und von hier aus zur Demokratie: Das Königthum ist der Mittelpunkt der Welt und im Felde musste seine Macht eine gesteigerte und unbedingte sein. Aber der homerische Agamemnon entspricht nicht dem Bilde heroischer Fürstengröße, wie es Angesichts der Denkmäler von Mykenai uns entgegentritt … Die Centralmacht der heroischen Welt ist erschüttert; es hat sich neben der königlichen Gewalt eine andere Macht erhoben, die Macht des Adels, dessen schon der König beim Regieren und Richten nicht mehr entbehren kann …“2 Wie sich anderswo [scil. nicht in Sparta] aus der frühern adlichen Umgebung der Könige oder aus Solchen die reich genug geworden, um Rosse zu halten, oder aus den besonders Kriegsfähigen, ja aus einer einzigen ehemals königlichen Familie (Korinth) der alleinherrschende Adel gebildet, … dieß Alles mag als bekannt vorausgesetzt werden.3
Von einer in dieser Weise evolutiv vorgestellten historischen Entwicklung auszugehen, bestimmte auch den Blick auf die neu entdeckte mykenische Welt. Sie wurde als monarchischer Anfang in die so verlängerte griechische Geschichte integriert. Die Verbindung zu der bisher als griechisch bekannten Welt stellte die Ilias Homers dar und die Behauptung, dass die als Achaier oder Danaer oder Argeier genannten, als ‚Könige‘ betrachteten ‚Helden‘ auf Seite der Belagerer Troias historische Persönlichkeiten gewesen seien oder zumindest solche widerspiegeln würden, die in Mykene und den anderen im Epos aufscheinenden Orten gelebt hätten. Diese Vorstellung wurde in ihrem Grundzug – ungeachtet aller Einwände – rasch zum Handbuchwissen in den sogenannten ‚Staatskunden‘ von Georg Busolt oder später von Ernst Meyer.4 Auf den Übergang der Staatsgewalt vom souveränen Königtum an die Oligarchie des Blutsadels bereitet schon die Odyssee vor. Er begann sich seit der Mitte des 8. Jahrhunderts zu vollziehen. Über die Vorgänge, die den Wandel in den einzelnen Staaten herbeiführten, liegen keine zuverlässigen Nachrichten vor. Die spätere, unter dem Einflusse der Oligarchie oder Demokratie ausgebildete Überlieferung bezeichnet Entartung und Verweichlichung oder Übergriffe der tyrannischen Herrschaft … als Ursachen der Beschränkung oder Beseitigung des „heroischen Königtums“ … entscheidend war jedoch im allgemeinen der Umstand, daß die Macht des Adels, der in der Staatsgemeinde gegenüber
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Curtius 1857, 123. Burckhardt 2002, 135. Meyer 1980, 58–66.
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dem Volke eine große wirtschaftliche, soziale und militärische Überlegenheit besaß, im gewöhnlichen Lauf der Dinge immer weiter erstarken und schließlich dem Könige über den Kopf wachsen mußte.5
Mit dem Titel ‚Staatskunde‘ wurde nicht einfach der ältere Begriff der ‚Staatsaltertümer‘ modernisiert, sondern bewusst der Anspruch erhoben, dass die als Staaten aufzufassenden Welten – im Gegensatz zur anonymen und staatenlosen Vorgeschichte der Primitiven – erst Geschichte im eigentlichen Sinn darstellen würden.6 Noch in den 1990er Jahren vertrat Fritz Gschnitzer diese Sicht für Mykene und die griechische Archaik mit Vehemenz.7 Der in den 1950er Jahren durch Michael Ventris und John Chadwick erfolgten Entzifferung des Linear B als einem frühen Griechisch war also die Interpretation der mykenischen Welt als ‚griechisch‘ schon lange vorausgegangen. Diese verstärkte jedoch alle Überlegungen, die – über die wegen ihrer Schriftlosigkeit als Dark Ages bezeichneten Jahrhunderte hinweg – auf den Nachweis einer direkten Verbindung zwischen der mykenischen Welt und der griechischen ab dem Wiederauftreten der Schrift im 8. Jahrhundert zielten. Wie selbstverständlich galt in diesen Argumentationen die Prämisse, dass es sich – ungeachtet ihrer Vielfalt – um eine ‚griechische‘ Welt handle.8 Es sei nur auf eine der auf dieser Grundlage einer ethnischen Einheitlichkeit9 postulierten Verbindungen zwischen der ausgehenden Bronzezeit und dem Beginn der Eisenzeit kurz hingewiesen, die für das Folgende von Bedeutung ist. Mit dem Ende der mykenischen Paläste habe sich die durch die mykenische Monarchie beziehungsweise die Paläste nur verdeckte, aber in der Vorpalastzeit, das heißt im Mittelhelladikum schon vorhandene Organisationsform der polis zunehmend etablieren können. In der Darstellung von Sigrid Deger-Jalkotzy heißt das zum Beispiel, dass sich nach dem Zusammenbruch der Paläste Gemeinden als Verband unabhängiger Haushalte (oikoi) ausgebildet hätten. In diesen hätten sich die bisher nur lokalen Führer (qa-si-re-u) in
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Busolt 1920, 346. Hielt Busolt die „Funde von Mykenai“ in der ersten Auflage seiner Griechischen Geschichte aus dem Jahr 1885, 13 noch für „erheblich älter als die Ilias“, so modifizierte er sein Urteil in der zweiten Auflage aus dem Jahr 1893, 60 dahingehend, dass die „durch die syrisch-ägyptische Kultur“ stark beeinflusste mykenische Kultur „vielfache Berührungspunkte mit der homerischen Zeit“ aufweise. In der Griechischen Staatskunde aus dem Jahr 1920 ist dann von einer Kontinuität die Rede. Ulf 2000; Ulf 2001. Gschnitzer 1981, 15–23, 41–47; Gschnitzer 1991. Jüngst so beispielsweise Bringmann 2016, 45–49; vgl. dagegen den Überblick und die Besprechung der Diskontinuitäten und möglichen Kontinuitäten von Crielaard 2011. Zum Problem vgl. Patzek 1992, 73–77; die Prämisse eines ‚gemeinsamen Volkstums‘, besonders ihre Herkunft aus dem romantischen Denken kann nicht einfach (mit Blick auf das Konzept der ‚oral poetry‘) als eine „sweeping generalization“ entsorgt werden (Bierl 2015, 181); sie findet sich unter anderem auch in der weithin wie selbstverständlich behandelten Gleichsetzung von Sprache und Volk in der historischen Sprachwissenschaft.
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basileis verwandelt und die militärische Führerschaft in den jetzt unruhigen Zeiten übernommen.10 Wenn auch keine direkte Verbindung zu dieser Art der Argumentation besteht, so hat diese doch die Suche nach Indizien für die polis in den frühesten griechischen Texten, das heißt insbesondere den homerischen Epen, mit angestoßen. Auf Victor Ehrenbergs Frage aus dem Jahr 1937 „When did the polis rise“ wurde wiederholt und bis in jüngste Zeit die Antwort gegeben, dass die ersten Indizien dafür schon in Ilias und Odyssee erkennbar wären.11 Und Thukydides’ Feststellung (1.5), dass im Westen der südlichen Balkanhalbinsel befestigte poleis fehlen würden, wird dann dem Historiographen folgend als ein ‚Zurückbleiben‘ hinter der, wie es häufig hieß, ‚gemeingriechischen‘ Entwicklung interpretiert. Gegenüber einer solchen Einbettung historischer Phänomene in eine auf problematischer Grundlage vereinfachende lineare Abfolge hat jüngst Elke Stein-Hölkeskamp gefordert, „die Vielfältigkeit der Entwicklungslinien und das Nebeneinander von Kulturbrüchen und Kulturkontinuität“ ernst zu nehmen und die vielfältigen dynamischen Prozesse zu beachten.12 Und sie nimmt damit eine Position ein, welche jener von Jürgen von Ungern-Sternbergs Feststellung einer polyzentrischen griechischen Welt und der Ausweitung des Blicks von Hans-Joachim Gehrke auf ein „Jenseits von Athen und Sparta“ nahe steht.13 Zudem ist ihr weiterer Hinweis aufzugreifen, dass wegen des enormen Zuwachses an archäologischem Material eine neue Grundlage für die Rekonstruktion der historischen Realität entstanden sei. Komplexe archäologische Befunde „Die frühen griechischen Städte haben, je deutlicher sie durch Ausgrabungen erkennbar wurden, bei vielen eine gewisse Ernüchterung hervorgerufen“.14
Mit dieser Feststellung machte Tonio Hölscher schon 1998 auf die Diskrepanz aufmerksam, die zwischen den zu Typisierungen tendierenden Vorstellungen, was eine griechische polis ausmache, und der archäologischen Evidenz existiert. Die Archäologie deckte keine ‚Städte‘ auf, sondern Dörfer und Streusiedlungen, konnte aber Prozesse der Strukturierung dieser Lebensräume erkennbar machen. Zu deren genauerer Klärung, so Hölscher damals, seien weitere Feldforschungen vonnöten. Diese werden bis in die Gegenwart durchgeführt und haben zu der von Hölscher geforderten Prä-
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Deger-Jalkotzy 1991. Ehrenberg 1937; Überblick bei Raaflaub 1997, 629–633; Hölkeskamp 1997. Stein-Hölkeskamp 2015, 9, 11 f. Ungern-Sternberg 1988, 249; Gehrke 1986. Hölscher 1998, 11.
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zisierung der von ihm schon dargestellten Grundzüge geführt. Dazu nur einige kurze Bemerkungen, die zudem nur vorläufigen Charakter haben können, fehlt doch nach wie vor eine – auch einem Historiker zugängliche – ausführliche Zusammenfassung der vielfältigen und komplexen Befunde.15 Am Beispiel von Tiryns hat besonders Josef Maran gezeigt, dass die Ursachen für den Ausbau der Außensiedlung im 12. Jahrhundert nicht „allein in einem Bevölkerungswachstum, sondern eher in einer tiefgreifenden Veränderung der Siedlungsstruktur zu suchen sind“. Denn es gibt nicht nur keine Hinweise auf eine Siedlungskontinuität zwischen SH IIIC und der frühen Eisenzeit, sondern es traten „verstreute Gruppen von Häusern jeweils mit eigenen Bestattungsplätzen … an die Stelle der SH IIIC-zeitlichen Bebauung.“16 Diese Art zu siedeln, war kein Einzelfall. Schon 1983 hatte Robin Hägg das Zusammenwachsen von Argos und Korinth aus kleinen Weilern zu Siedlungen nachgezeichnet, die erst im 6. Jahrhundert urban strukturierte Züge annahmen.17 In seinem Überblick über die Siedlungen in der griechischen Archaik hält Jan Paul Crielaard die weite Verbreitung dieser Siedlungsweise fest.18 Und er benützt einen Begriff, der in den jüngeren Einzeluntersuchungen zur Charakterisierung der Siedlungsbefunde im gesamten griechischen Siedlungsraum immer mehr in den Vordergrund tritt, den des Compound.19 Als Typ gefasst, bestehen Compound genannte Wohnstrukturen aus mehreren Rund- und auch Rechteckbauten, die oft „miteinander konstruktiv verbunden und um einen Binnenhof zu einem Konglomerat gruppiert (sind).“20 Nicht nur auf der Grundlage der Architektur, sondern auch der Verteilung der Fundstücke werden die Compounds nach dem Konzept der Hausgesellschaften21 als die Wohnorte von Familiengruppen unterschiedlichen Ansehens interpretiert, ein architektonisch hervorgehobener Rundbau als das Haus des Familienoberhauptes und ein anderer Rundbau mit umlaufenden Bänken und Herd als der Ort für Versammlungen und die Verehrung des beziehungsweise der Ahnen. Hier trafen sich die Bewohner des Compounds zur Beratung beim gemeinsamen Mahl. Hier befanden sich aber auch die für die kleine Gemeinschaft wichtigen göttlichen Mächte, die an dem sozialen Akt durch Opfer, Gebete und andere rituelle Handlungen beteiligt wurden beziehungsweise über ihn wachten.
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Die griffige und viel benutzte Typisierung von Thomas und Conant 1999 generalisiert zu rasch. Ein knapper aktueller Überblick von Crielaard 2009; die Komplexität der Situation wird in ihrer Vielfalt für die Zeit bis ins 7. Jahrhundert in Ulf/Kistler 2019 dargestellt. Maran 2014, 181. Hägg 1983. Crielaard 2009. Vgl. zum Folgenden auch den Beitrag von Erich Kistler in diesem Band. Kistler 2011, 132. Zum Konzept der Hausgesellschaften vgl. Joyce/Gillespie 2000; González-Ruibal 2006.
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Innerhalb eines Siedlungsareals fügten sich ab dem 8. Jahrhundert mehrere nebeneinander oder weit verstreut, unabhängig voneinander bestehende Compounds zu einer mehr oder weniger deutlich erkennbaren Streusiedlung zusammen. Als ein weithin anzutreffendes Signal für die veränderte Dimension des Zusammenhalts der größer gewordenen, dorfartigen Siedlungen wurden neue ‚moderne‘ Gebäude, häufig rechteckige Bauten mit Ziegeldach und einer kleinen Vorhalle, nicht selten auch mit bemalten Gebälkzonen, Akroteren und Antefixen errichtet. An einigen Orten finden sich Hinweise dafür, dass die bisherigen meist apsidialen Begegnungshäuser als Memorialstätten mit kultischem Charakter erhalten wurden. Beides zusammen, die Erhaltung der familiären Erinnerungsstätten bei gleichzeitiger Etablierung eines neuen Versammlungsortes, lässt sich als die Installierung einer übergeordneten inter-familiären, damit siedlungsgemeinschaftlichen Ebene deuten und gleichzeitig als ein „religiöser Verdichtungsprozess“.22 Dieses Phänomen von Weilern und daraus gebildeten Streusiedlungen betrifft gerade auch Orte, die gerne als Paradebeispiele für eine polis angeführt wurden, wie Milet, Ephesos, Samos oder Eretria, Argos, Korinth und Athen, trifft aber auch zum Beispiel auf das bekannte Zagora auf Andros zu oder – wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen – auf Sizilien für Naxos, Syrakus sowie das in seinen Anfängen eben keine geplante Siedlung darstellende Megara Hyblaia.23 Mit der Verfestigung der Streusiedlungen wurde auch der besiedelte Raum samt seinem Umland neu organisiert. Ab der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts wurden die Friedhöfe an den Rand der Siedlung verlegt und veränderten gleichzeitig ihr Aussehen. Unterschiedliche Bestattungsrituale stellen Indizien dafür dar, dass die hier bestattenden Familien beziehungsweise Gruppen in einem kompetitiven Verhältnis zueinander standen. In den neu entstandenen Siedlungen wurde auch ein Platz freigehalten oder neu geschaffen – zum Teil über älteren Grabbezirken24 – für kommerzielle Zwecke und um hier öffentliche Angelegenheiten verhandeln zu können. Darüber hinaus wurde mit der Errichtung eines zentralen Kultplatzes ein zweiter für die gesamte Siedlung geltender gemeinsamer Bezugspunkt geschaffen. In hier errichteten polyfunktionalen Oikoi wurden immer monumentalere Votive wie Dreifußkessel oder Statuen deponiert.25 Die Kultgeräte und Votive wurden anlässlich von Festen und Festmahlen im Heiligtum vor den Gebäuden zur Schau gestellt, in denen man gemeinsame Mahle der einzelnen Gruppen der sich formierenden Siedlung abhielt.26 Die weitere Verfestigung der Gemeinschaft signalisiert ab dem 7. Jahrhundert 22 23 24 25 26
Beispiele bei Mazarakis Ainian 2007, 159, 166 f.; Öhlinger 2015, 312 f. Ulf/Kistler 2019; Kistler 2015. Hölscher 1998, 32–34. Morgan 2002. Mohr 2013, 27 führt als Beispiele dafür an: den Oikos der Naxier in Delos, den Dionysostempel III in Yria, den Breitraum im Heraklesheiligtum von Thasos sowie den Tempel des Apollon Daphnephoros in Eretria.
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ein neues Bauwerk, der Peripteraltempel mit Kultbild und Altar. Diese Tempel waren nicht einfach die vergrößerte Form der älteren Oikoi mit kultischer Funktion, sondern mit dem Bauwerk ausschließlich für eine Gottheit, wurde ein so bisher nicht vorhandener Bezugspunkt für die neue umfassende Gemeinschaft geschaffen – auf einer gemeinschaftlichen Ebene oberhalb der nach wie vor verehrten Gottheiten der lokalen Gruppen.27 Big Man Gesellschaften: ein Modell zur Beschreibung des Wandels Der Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigte, dass es zumindest problematisch ist, von einer einheitlichen griechischen Welt beziehungsweise Entwicklung auszugehen und die polis als etwas in ihr Angelegtes anzusehen und sich deshalb, wie das Kurt Raaflaub annahm,28 schon in den frühesten Texten mehr als nur embryonal ausgebildet finde. Die Ergebnisse der archäologischen Forschungen verweisen entgegen einer solchen Auffassung auf eine parallel zueinander vorhandene Vielfalt von kleinen und kleinsten Siedlungen als den Normalfall. Für einen Einblick in die sozio-politische Struktur der Streusiedlungen bietet sich das Konzept von Big Man Gesellschaften als Deutungsmuster an. Das allerdings nur dann, wenn man den Terminus Big Man nicht einfach nur als ein vages Synonym für einen nicht näher definierten Anführer oder Häuptling nimmt, sondern mit ihm Merkmale einer konkret beschreibbaren gesellschaftlichen Formation verbindet. Big Man Gesellschaften erscheinen in zwei Grundformen: als kleinere Dorfgesellschaften und größere regionale Gruppen, die sich zwar nicht kategorial, aber doch in der Ausprägung der sie verbindenden Grundzüge unterscheiden.29 Der Zusammenhalt dieser Gesellschaften beruht auf der Notwendigkeit, die Nahrungsmittel organisiert nach sozialen Verbänden, nach erweiterten Familien und Clans, zu produzieren. Die dafür nötige Kooperation wird durch ambitionierte und als fähig erachtete Personen organisiert. Von diesen werden auch Angebote zu inneren Problemlösungen geliefert und die Organisation der Sicherheit nach außen gelenkt. 27
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Zu deren vergesellschaftender Wirkung s. Kistler 2011. Hölkeskamp 1994 und Hölkeskamp 2004 haben ihre Bedeutung als zentrale Identifikationsorte dadurch herausgearbeitet, dass an ihnen die Normen für die aufgrund der Vergemeinschaftung nötig gewordenen ‚Ämter‘ anlassbezogen in Inschriften sichtbar gemacht wurden. Zur sich (auch) darin dokumentierenden Verschmelzung von sakralem und sozialem Ort vgl. den Überblick über die Diskussion bei Schweizer 2015, 926 f. Das heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass die Errichtung derartiger Tempel eine Gemeinschaftsleistung gewesen sein muss. Karl Reber 2009, 109 hat die Möglichkeit erwogen, dass einzelne Führer von Hetairien – angeregt durch den zwischen den Hetairien herrschenden Wettbewerb – versuchten, sich innerhalb der neu entstandenen Elite dadurch abzugrenzen, dass sie im kultischen Zentrum auf eigene Kosten solche Kultbild-Tempel errichteten. Raaflaub 1993, 59. Typologische Zusammenfassung in Ulf 2015 (mit Literaturhinweisen).
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Diese Big Men stehen im Wettbewerb mit anderen Personen mit denselben Ambitionen und tendieren dazu, den eigenen labilen Status abzusichern. Dafür bedienen sie sich verschiedener Mittel. Sie versuchen den Kreis ihrer Unterstützer zu vergrößern, um so das Surplus steigern zu können. Dieses setzen sie dazu ein, um über Festmahle soziale Verpflichtungen herzustellen oder durch seine Verwandlung in symbolisches Kapital, das heißt im Wesentlichen in Prestigegüter, Gegenstände zu besitzen, die wiederum als Geschenke zur Herstellung sozialer Bindungen innerhalb und außerhalb der eigenen Gruppe eingesetzt werden können. Mit zunehmender Größe dieser Gruppen ist parallel zu einer Intensivierung des beschriebenen Verhaltens eine Verfestigung der sozialen Beziehungen zu beobachten. Solche häufig als regionale Gruppen bezeichneten sozio-politischen Gebilde kennen strukturiertere Siedlungen und können in Siedlungsverbünden zusammengeschlossen sein. Clans sind auch als untergliederte Einheiten präsent. Die Mittel zur Herstellung sozialer Bindungen werden weiter verfeinert. Deutlich wird das am Einsatz unterschiedlicher Formen von Festmahlen, zur Aktivierung des Arbeitseinsatzes von Unterstützern für die Big Men (work feasts), zur expliziten Herstellung sozialer Bindungen (promotional feasts), und zur Signalisierung unterschiedlicher sozialer Verhältnisse und damit von unterschiedlichem sozialem Status (diacritical feasts).30 Durch die Erhöhung der Zahl an Unterstützern und deren intensivere Ausrichtung auf die ökonomischen Interessen des Big Man steigt das diesem zur Verfügung stehende Surplus deutlich an. Es kommt hinzu, dass die Big Men über die für die Steigerung der Produktion nötigen speziellen Arbeitsgeräte und Technologien verfügen. Auch daraus ergibt sich, dass ihre Position mit einigen Privilegien verknüpft ist, nicht zuletzt mit einer verstärkten Verfügungsgewalt über manche externe Güter von symbolischem Wert. Im Gegenzug müssen sie sich in internen und externen Konfliktsituationen durch Überzeugungskraft und Rhetorik bewähren, auch durch die Herstellung von Allianzen, um die Sicherheit der eigenen Gruppe zu erhöhen. Scheitert die durch die Big Men zu gewährleistende sozio-politische Kommunikation, drohen gewaltsame Konflikte. Solche brechen tatsächlich auch immer wieder aus – auch das ein Feld der Bewährung im Wettbewerb zwischen den Big Men. Die Big Men als ‚Aggrandizers‘ Beleuchtet man das Verhalten der Big Men in ihrem Umfeld näher, führt das direkt zu der im Titel dieses Beitrags genannten Fragestellung. Denn deren Bestreben, ihre nicht ‚institutionell‘ verankerte Position zu behaupten, trägt unverkennbar die Züge einer sozialen Abgrenzung. In seiner Analyse, mit welchen Mitteln soziale Ungleich-
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Hayden 2001a; dazu Ulf 2006.
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heit in solchen Kontexten angestrebt wird, unterscheidet der Archäologe und Ethnologe Brian Hayden eine Reihe von Strategien, mit denen die von ihm ‚Aggrandizers‘ genannten ehrgeizigen Personen dieses Ziel zu erreichen versuchen.31 Die von ihm voneinander abgehobenen, sich auch überschneidenden Strategien können als eine Folie benützt werden, um vor ihr die aus der griechischen Archaik stammenden Texte und Befunde bis zu einem gewissen Grad neu zu lesen. Die dreizehn Strategien lassen sich in zwei Gruppen teilen. Die Strategien der ersten Gruppe zielen auf die Vergrößerung des Surplus: Ownership – Contractual Debts – Feasting – Bride Prices – Investment in Children – Prestige Items – Trade and Profit – Taboo, Fines, Control in Dispute Resolution – Warfare and Other Calamities – Pay Offs. Die wesentlich kleinere zweite Gruppe setzt sich aus Strategien zusammen, mit denen eine soziale Distanz auch zu denjenigen erzeugt wird, die den Aggrandizers durch ihren Beitrag zum Surplus zur Absicherung ihrer Positionen verhelfen: Access to the Supernatural – Manipulation of Cultural Values – Separation from Others. Mit diesen wird angestrebt, die Verknüpfung von persönlicher Leistung und Anspruch auf die Führungsposition aufzuheben. Diese Veränderung der Begründung des Anspruchs wird in der anthropologischen Literatur bei der Klassifizierung einer Führungsposition als der Übergang von ‚achieved‘ zu ‚ascribed‘ beschrieben. Das Konzept des Big Man wurde schon mehrfach zum besseren Verständnis der archaischen, insbesondere der in den homerischen Epen und denen Hesiods dargestellten Gesellschaft(en) herangezogen.32 Es ist flexibel genug, um einerseits Einwänden wie dem Fehlen beziehungsweise den nur in Ansätzen vorhandenen Clans zu begegnen33 und andererseits Einklang mit den bisher noch nicht ausreichend berücksichtigten jüngeren archäologischen Befunden herzustellen. Denn die archäologischen Befunde weisen in der Zeit vom ausgehenden 8. bis ins 6. Jahrhundert an vielen Stellen auf eine Verdichtung der Siedlungen. Und das ist der Zeitraum, aus dem die uns erhaltenen Texte – einschließlich der Epen – stammen. In den Texten stoßen wir auf Namen, welche eine überraschende Übereinstimmung mit dem Erscheinungsbild eines ‚Big Man‘ aufweisen. Wenn Alkaios (Frg. 129.21 Lobel/Page = 24A Diehl) von Pittakos als einem physkon, einem Dickbauch, spricht, der die geschworenen Eide mit Füßen tritt und die heilige polis zugrunde richtet, dann ist das eine direkte Entsprechung zum Big Man, in dem ganz konkret auch das physische Bild eines dicken Mannes steckt. Die in der Mehrzahl auftretenden Big Men finden sich im Plural pachees (die Dicken), der später von Herodot (6.91) für die Reichen 31 32 33
Hayden 2001b. So zum Beispiel Hall 2014, 120–127. Aus der notwendigen Distanz zu der im 19. Jahrhundert entwickelten Vorstellung einer ‚Geschlechterpolis‘, die durch die Arbeiten von Bourriot 1976 und Roussel 1976 Bestätigung fand, werden manchmal die Hinweise auf Deszendenzgruppen in den Epen (Ulf 1990, 245–250) und auf die Bedeutung von (auch konstruierten) Genealogien und Verwandtschaftsgruppen in der Archaik (Duplouy 2006, 37–77; Duplouy 2015) übersehen beziehungsweise unterschätzt.
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in Aigina verwendeten Bezeichnung.34 Die große Schwankungsbreite von denjenigen, die zum Kreis der Big Men zu zählen sind, scheint durch die Formulierung des Xenophanes (Frg. 3 West = 3 Gentili/Prato = 3 Diels = 5 Gemelli = DK 21 B3) belegt zu sein, dass sich chilioi (wie viele das auch immer sein mögen) auf der agora von Kolophon zeigen in Purpurgewändern, mit gegelten Haaren und parfümiert. In der Klage des Alkaios und der Kritik des Xenophanes steckten schon erste Hinweise darauf, dass das Verhalten der Dickbäuche wie das der von Hayden beschriebenen Aggrandizers empfunden werden konnte. Dass beide Urteile mehr als nur persönliche Unmutsäußerungen waren, kommt zum Vorschein, wenn man die Aussagen der Texte aus archaischer Zeit auf weitere Hinweise auf die von Hayden unterschiedenen Strategien hin überprüft. Das soll im Folgenden in der notwendigen exemplarischen Kürze geschehen. Unter die Strategie Ownership, also besondere Ansprüche auf Eigentum zu erheben, ist das in den Texten oft vermerkte Bemühen der basileis einzureihen, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu vermehren. In den Epen erhalten sie mit dem Hinweis auf ihre Leistungen für den demos von diesem ein besonderes Stück Land, ein Temenos, zugewiesen; die basileis selbst klagen über die dafür nötigen Mühen.35 Ein anderes Indiz für bewusste Eigentumsvermehrung ist in den Epen der mehrfach erwähnte Sachverhalt, dass Gaben gerne angenommen, weniger gerne jedoch gegeben werden, wenn nicht dafür eine offensichtliche Notwendigkeit besteht. Diesen Blick auf den eigenen Vorteil hält Alkinoos seinem Gastfreund Odysseus ganz offen vor. Umgekehrt beschwichtig Alkinoos selbst die anderen zwölf basileis in Scheria damit, dass sie ihre Gaben an Odysseus vom demos wieder einfordern könnten (Od. 13.7–15). Odysseus wiederum freut sich darüber, dass Penelope ihre Freier hinters Licht geführt hat, um Gaben zu erhalten (Od. 18.281–283). Ähnlich äußert sich Penelope, die ihren Sohn Telemach tadelt, nicht den eigenen Vorteil zu bedenken (Od. 18.215 f.). Das scheinen die Gefährten (hetairoi) des Odysseus zu befürchten, wenn sie in dem Sack, den Odysseus von Aiolos erhalten hat, ihm nicht zustehende reiche Gaben vermuten. Die hier zum Ausdruck kommende Spannung zwischen dem berechtigten Erhalt und dem Raffen von Gaben liegt auch der Vorsicht des Odysseus zugrunde, die ihn nach seiner Ankunft in Ithaka die reichen Gaben der Phäaken in einer Höhle verstecken lässt. Von solchen Situationen ist es kein weiter Weg zur Feststellung in Solons Eunomie-Gedicht (Frg. 4 West, 12–14 = 3 Gentili/Prato = 3 Diehl), dass die hegemones in ihrer Gier weder ein hieron noch ein demosion verschonen, sondern stehlen, was sie nur erreichen können. Gleichsam als Ergebnis dieses Verhaltens ist natürlich an die über ihren Besitz definierten geomoroi von Samos (Thuk. 8.21) oder die gamoroi in Syrakus
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Weitere pachees finden sich etwa bei Hdt. 5.30.1 (Naxos), 5.77.2 (Chalkis) und 7.156.2 (Megara Hyblaia). Belege in Ulf 2011, 271 f.
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(Hdt. 7.155) zu denken, ebenso wie an die hippeis von Eretria ([Aristot.] Ath. Pol. 15.2) oder die hippobatai von Chalkis (Hdt. 5.77.2). Als Beleg für Trade and Profit sei nur die monopolartige Verfügungsgewalt Agamemnons über den von Euneos von der Insel Lemnos nach Troia gelieferten Wein angeführt. Diesen Wein können die Achaier im Austausch gegen Kriegsbeute: Bronze, Eisen, Häute und Sklaven von ihm erwerben (Il. 7.466–475). Mit ihrem Surplus erwerben die basileis Prestige Items, um mit diesen und anderen durch Geschenkaustausch erhaltenen Gütern als symbolischem Kapital ihre Position in unterschiedlichen Situationen abzusichern beziehungsweise in der Konkurrenz mit anderen basileis zu stärken. Ein Beispiel dafür ist das berühmte, mit einem Stammbaum versehende Zepter des Agamemnon (Il. 2.100–109), das seine zu diesem Zeitpunkt der Handlung herausragende Stellung signalisieren soll, ein anderes die schon erwähnten Purpurgewänder der chilioi in Kolophon, von denen Xenophanes spricht. Neben vielem anderen sind hier auch die Wertgegenstände zu nennen, die Achill als Preise in den Spielen nach Patroklos’ Tod aussetzt. Damit will er die sozialen Bindungen, die er früher aufgekündigt hatte, wiederherstellen.36 Mit diesem Hinweis ist die Funktion der Prestigegüter zur Herstellung von Contractual Debts schon benannt. Nestor macht Agamemnon darauf aufmerksam, dass er über genügend Ressourcen verfüge, um den erfahrenen Männern (gerontes) ein gebührendes Mahl zu geben, um im Gegenzug von diesen die für ihn nötigen Ratschläge zu erhalten (Il. 9.69–72). In den Göttermahlen der Epen ist es von besonderer Bedeutung, wer als erster oder erste einen Becher Wein zur Begrüßung erhält, weil dadurch die soziale Position der Akteure zum Ausdruck gebracht wird. Als die Götter in der Ilias zu ihrer neuen Ordnung gefunden haben, nimmt Thetis zum ersten Mal an einer Götterversammlung teil und erhält von Hera den Becher überreicht (Il. 24.100–101).37 In der Rolle des erfundenen Aithon erzählt Odysseus, dass er den (wirklichen) Odysseus und seine hetairoi großzügig bewirtet habe – seine Ausgaben (Mehl und Wein) hatte er sich vom demos ersetzen lassen (Od. 19.185–202). Dass es in solchen Fällen um die Erzeugung von Abhängigkeit geht, zeigt sich im Kompensationsangebot Agamemnons an Achill zur Beilegung ihres Konflikts. Achill lehnt das Angebot einer ungemein großen Anzahl an Gaben samt der Heirat mit einer der Töchter Agamemnons ab, weil er diese Gaben als weiteren Betrug (exapataein) ansieht, dem er sich nicht aussetzen will (Il. 9.369–429). Es besteht kein Zweifel daran, dass Feasting ein Mittel ist, um soziale Bindungen herzustellen, zu stabilisieren und zu erweitern. Der eben erwähnte fiktive Odysseus/ Aithon bewirtet seine für den Kriegszug gewonnenen hetairoi. Nestor gibt gerade ein Opfermahl für seine Söhne und hetairoi, als Telemach in Pylos ankommt (Od. 3.31–33).
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Ulf 2004, 80–83. Zur Entwicklung des Verhältnisses unter den Göttern vgl. Ulf 2017, 223–227.
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Alkaios spielt auf das Opfermahl mit den hetairoi in Lesbos (Frg. 129.14–16 Lobel/Page = 24a Diehl) und Gelage mit ihnen (Frg. 72 Lobel/Page = 45 Diehl) an. Pindar (Pind. Ol. 4.14–16) lobt Psaumis von Kamarina, dass er sich an Gastmählern freut, die für alle gegeben werden (xeniais pandokois). Denn das hat Frieden in der Stadt zur Folge. In den Zitaten werden unterschiedliche Personengruppen erkennbar, die mit demselben Mittel aneinandergebunden werden. Ein Hinweis auf die Unterschiede zwischen diesen Gruppen könnte in den vier in den homerischen Epen beschriebenen Typen von Hetairien liegen. In den Epen erscheinen hetairoi als eine kleine Gruppe von Unterstützern, die einem Anführer folgen, als eine Gruppierung, die mehrere Anführer samt den ihnen folgenden Männern (laoi) umfasst, als eine Ethnos genannte Großgruppe um einen Anführer und als eine Gruppe aus Anführern.38 Darin wird die Komplexität an möglichen sozialen Beziehungen erkennbar, die über das Mittel des Festmahls kreiert werden können – jenseits der gängigen sozialen Kategorisierungen, aber jedes Mal im Umfeld der Absicherung der eigenen ‚politischen‘ Position angesiedelt. Möglichst viele Ressourcen zu besitzen, um Bride Prices bezahlen zu können, ist eine weitere bekannte Strategie der Aggrandizers. In den Epen ist vielfach von reichen Brautgaben (eëdna) die Rede, die für eine erfolgreiche Brautwerbung notwendig sind.39 Die dahinter stehende Absicht, über Heiraten ein verwandtschaftliches Netzwerk herzustellen, lässt sich an den Verwandtschaftsverhältnissen in Troia gut nachweisen. Die Familie des Priamos ist mit der seines wichtigsten Widerparts, Antenor, durch eine Heirat der Kinder verbunden. Antenor selbst ist mit der Tochter des basileus der Thraker verheiratet, sein Sohn mit einer jüngeren Schwester seiner Mutter. Über die aus einer solcher Verbindung hervorgehende Macht beklagt sich Alkaios (Frg. 70.6 Lobel/ Page = 43 Diehl), wenn er Pittakos unterstellt, es wegen seiner Verwandtschaft mit einer Atridin zu wagen, die Stadt zu quälen (daptein). Hier zeigt sich, wie wichtig das Investment in Children ist, sollen diese als attraktives soziales Bindungsmittel und damit für die Absicherung der eigenen Position einsetzbar sein. Denn die Qualität von Kindern ist nicht einfach durch die Geburt gesichert, was z. B. Phokylides (Frg. 3 Gentili/Prato = 3 Diels) festhält:40 „Was bringt es denen für Vorteile, aus einer vornehmen Familie (genos eugenes) zu kommen, deren Worten und Rat kein Wohlwollen folgt“ (Übersetzung Tanja Itgenshorst). Das erklärt denn auch Athene in der Gestalt des weisen Mentor dem jungen Telemach: „Wenige Kinder werden dem Vater gleich, die meisten werden schlechter, nur wenige besser als der 38 39 40
Ulf 1990, 127–138. Wickert-Micknat 1982, 90–92; Wagner-Hasel 1988. Vgl. Archilochos (Frg. 114 West = 60 Diehl): „Mag den großen Feldherrn gar nicht, nicht den mit breitem Gang, | nicht den, der mit Locken angibt, nicht den, der sich fein rasiert! | Vielmehr soll mir einer klein sein, an den Waden anzusehn | O-Bein-mäßig, sicher stehend auf den Füßen, Mutes voll!“ (Übersetzung: J. Latacz). Dieses Urteil entspricht der positiven Bewertung des ‚kleinen‘ Aias oder des Tydeus in der Ilias (Il. 2.527–530; 5.800–808), die beide klein sind, aber besonders gute Kämpfer.
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Vater“ (Od. 2.276 f.). Hesiod projiziert das Problem auf eine allgemeinere Ebene, wenn nach ihm nur in der gerechten polis Frauen den Erzeugern gleichende Kinder gebären (erg. 234). Vor diesem Hintergrund wird die Klage des Priamos nach dem Tod Hektors über seine noch lebenden Söhne verständlich, die er als Lügner (pseustai), Tänzer (orchestai) und die Besten im Reigentanz (chorotypieisin aristoi) beschimpft, als Räuber im demos (epidemioi harpakteres) von Lämmern und Ziegen (Il. 24.253–262). Andrerseits deuten sich in dieser negativ konnotierten Auflistung Verhaltensfelder wie die Rhetorik oder der Reigentanz an, in welche die Kinder von Reichen wohl allgemein eingeführt werden sollten.41 Als eine andere Art von Investment lässt sich hier auch die viel besprochene lydische Mitra anfügen, die sich die Tochter der Sappho so sehr wünscht, und die Sappho (Frg. 98 Lobel/Page) selbst als ein Merkmal der Zugehörigkeit zu den Angesehenen in Mytilene ansieht. Die unter den Begriffen Taboos, Fines, and Control in Dispute Resolution zusammengefassten Strategien zielen auf die Inanspruchnahme eines möglichst breiten Handlungsspielraums. Die Epen bieten vor allem Beispiele für den Anspruch, Entscheidungen ohne Rücksicht auf Einwände und Widerspruch fällen zu können. Dieser Anspruch prägt den Disput zwischen Agamemnon und Achill, von ihm geht auch Priamos aus, wenn er die Rückgabe Helenas an die Achaier entgegen dem Vorschlag der anderen Geronten ablehnt. Ein solches Verhalten kann auch positiv konnotiert sein, etwa dann, wenn Achill auf seine eigene Entscheidung hin Agone nach Patroklos’ Tod veranstaltet. In diesen bestimmt er die Sieger in den einzelnen Wettbewerben zwar mit Rücksichtnahme auf die Wünsche der Achaier, aber doch immer wieder nach seinen eigenen Intentionen.42 Aus der Perspektive eines Mannes, der Entscheidungen von Anführern nicht beeinspruchen kann, klagt Hesiod, dass Perses einen Teil des Erbes zu den basileis getragen habe – wohl um einen für ihn vorteilhaften Entscheid gegenüber seinem Bruder Hesiod zu erhalten. Von hier weitet er die Kritik an den basilees auf ein generelles Fehlverhalten aus. Er bezeichnet die basileis in Askra allesamt als „Gabenfresser“ (dorophagoi) und erklärt sie damit zu Anführern, die gegen das Recht (dike) handeln, aber dennoch für ihre Entscheidungen Gaben entgegennehmen – ein Vorwurf, der im Bild der wegen des Verhaltens der Anführer schlechten polis bis ins Extrem gesteigert wird.43 Die Verbindung zu der von Solon in der Eunomie-Elegie (4
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So urteilt Nestor über Diomedes, dass er für einen neos gut gesprochen habe, er dennoch nicht der Beste im Rat sei (Il. 9.34–62). Diomedes ‚revanchiert‘ sich später für diese Einschätzung mit einer Attacke auf Agamemnon, der den an ihn gerichteten Erwartungen nicht gerecht wurde (Il. 14.110–134). Ulf 2004. Damit lässt sich die gewaltsame Behandlung des Thersites durch Odysseus in der agora assoziieren, die nur im Augenblick richtig erscheint, sich vom Ende der Ilias her gelesen jedoch als ein grober Missgriff darstellt. Von der anderen Seite der sozialen Hierarchie her fügt sich hierzu der Schutz, den Odysseus Eupeithes angedeihen lässt, als dieser zum Nachteil für den demos mit den Taphiern einen Handel eingegangen war.
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West = 3 Gentili/Prato = 3 Diehl) erwähnten Knechtschaft (dolosyne) als Folge des Fehlverhaltens der hegemones, das internen Konflikt herbeiführt, und von deren materieller Gier, die sich im Setzen von Markierungssteinen (horoi) dokumentiert (36.3–7 West = 30 Gentili/Prato = 24 Diehl), ist leicht erkennbar.44 Von hier ist es wiederum nicht weit zur Kategorie von Warfare and Other Calamities. Natürlich denkt man in diesem Zusammenhang sofort wieder an den Vorteil, den Agamemnon am Beginn des Konflikts mit Achill aus jenem ziehen will. Er gibt sich nicht nur als alleiniger, nur hier koiranos genannter Anführer, sondern beansprucht auch die als Anerkennung für die Leistung im Kampf gegebene Beutegabe für sich, das geras des Achill. Man kann ebenso an Odysseus denken, der die Freier und die Mägde ermordet, daraufhin jedoch nicht wie erwartet flieht. Er wird im gerade beginnenden internen Krieg der Ithakesier von Zeus nicht nur vor der Niederlage gerettet, sondern dieser zwingt die Ithakesier sogar noch zu einer durch einen Schwur abgesicherten Anerkennung von Odysseus als basileus. In der realen Welt des Alkaios in Lesbos fehlt solch göttliche Hilfe. Pittakos wendet sich – entgegen dem geleisteten Schwur – gegen Alkaios, worauf dieser ins Exil gehen muss. Unter calamities lässt sich etwa die Art des Raubzugs einreihen, den Nestor gegen die Epeier führte, aus dessen Beute sich der basileus Neleus „unermesslich viel“ auswählte (Il. 11.670–707, bes. 696–705). Solches Verhalten findet sein Pendant in der erwähnten Versicherung des Alkinoos an die anderen basileis, dass sie sich für ihre Gaben an Odysseus beim demos schadlos halten können. Von ‚Aggrandizers‘ zu Aristokraten Die bisher skizzierten Strategien erweitern die Handlungsspielräume der Aggrandizers dadurch, dass diese bewusst geltende Normen dehnen und überschreiten. Die restlichen drei Strategien gehen darüber dadurch noch hinaus, dass mit ihnen die Beanspruchung der Handlungsspielräume zum eigenen Vorteil der Diskussion in der Öffentlichkeit gänzlich entzogen werden sollen. Wenn die basileis der Beurteilung durch die beziehungsweise in der Öffentlichkeit entgehen, entfällt auch die Notwendigkeit der Präsentation der eigenen Qualitäten im Wettbewerb der basileis untereinander. Stoßen die darauf zielenden Strategien auf Akzeptanz, können sich die basileis in eine vom Rest der Bevölkerung abgehobene Gruppe verwandeln. Eine erste Strategie, die in diese Richtung weist, ist die Manipulation of Cultural Values. Darunter kann die willkürliche Umdeutung geltender Normen und Verhal-
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Von hektemoroi ist erst in der Verfassung der Athener Kap. 2 die Rede; zur Diskussion, ob und wie sich beides verbinden lässt, vgl. die Beiträge von L. Foxhall, H. van Wees und J. Ober in Blok/ Lardinois 2006. Eine ernsthaft zu bedenkende neue Möglichkeit, dass nämlich der Terminus hektemoroi nachträglich, unverstanden und fälschlich ins 6. Jahrhundert projiziert wurde, zeigt Meier 2012.
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tensregeln oder sogar deren – nicht geahndeter oder nicht zu ahndender – Bruch verstanden werden. So handeln die andres kakoi, die Hesiod so sehr kritisiert. Unter solchen „schlechten Männern“ hat man sich Anführer vorzustellen, die Gewalt androhen oder einsetzen, um ihre Position gegenüber dem demos zu behaupten. In der Odyssee droht Antinoos, der basileus genannte Wortführer der Freier der Penelope, dem ‚Bettler‘ (ptochos) Iros an, ihn aufs Festland zum basileus Echetos zu schicken, der alle verdirbt, ihnen Nasen und Ohren abschneidet und das Geschlechtsteil ausreißt (Od. 18.85–87, 115 f.). Ebenso grausam verfährt Odysseus mit dem ihm ungetreuen Ziegenhirten Melanthios, nur dass er ihm zusätzlich noch Hände und Füße abschlagen lässt (Od. 22.474–477). Und Laomedon, ein Vorgänger des Priamos in Troia, betrog die für ihn (unerkannt) als Tagelöhner (thetes) arbeitenden Poseidon und Apoll um ihren Lohn und drohte ihnen körperliche Züchtigung und den Verkauf in die Sklaverei an (Il 21.441–457; 7.452 f.). Meist bleibt in diesen Beispielen die in Familien- und einfachen Big Man Gesellschaften undenkbare Gleichgültigkeit gegenüber Armut und eine soziale Verachtung unbeachtet, die in abgestufter Weise im Verhalten gegenüber dem vagierenden Arbeiter (ptochos), dem Tagelöhner (thes) und dem Sklaven durchscheint. Bekannt ist die ausführlich gestaltete Szene, in der sich die Freier darüber belustigen, wie die beiden ptochoi, der verkleidete Odysseus und Arnaios/Iros, zu Konkurrenten um deren Gunst werden und Odysseus den anderen unbarmherzig verprügelt (Od. 18.1–116) – hier die schon zitierte Drohung angeschlossen, dass Iros im Fall einer Niederlage aufs Festland zu Echetos geschickt werde. Daraus erklärt sich, dass die geradezu vernichtende Klage über gewaltsam-rücksichtlose basileis Hesiods Werke und Tage durchzieht und auch im Hintergrund seiner Theogonie steht,45 die in Solons Urteil über die hegemones reflektiert ist. Hier findet sich die direkte Parallele zu der Beobachtung von Brian Hayden, dass lokale Eliten in Krisenzeiten keine Hilfe anbieten, das heißt Nahrungsmittel mit anderen teilen, sondern im Gegenteil vom Unglück anderer zu profitieren suchen. Er führt
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Gegen mit Gewalt durchgesetzte Machtansprüche solcher „schlechten Männer“ sind alle Epen intentional ausgerichtet, auch dann, wenn ihre Taten nicht von solcher Grausamkeit gekennzeichnet sind. Agamemnon ist nicht in der Lage, den durch sein gewaltsames Auftreten veranlassten Rückzug Achills durch eigene Leistungen zu kompensieren. Solange sich das nicht konkret auswirkt, kann Odysseus Thersites, der die Argumente Achills in der Versammlung wiederholt, mit dem Zepter zum Vergnügen der Achaier verprügeln und so Agamemnon vor Kritik noch abschirmen. Als dessen Führungsschwäche (kakotes) für alle sichtbar wird, warnt ihn Odysseus davor, dass ihm die Männer (laoi) nicht mehr folgen werden. Die jungen Männer haben die von Achill gegen Agamemnon erhobenen Vorwürfe übernommen, die darauf hinauslaufen, dass Agamemnon volkvernichtend (demoboros) sei. Deswegen üben sie passive Resistenz im Kampf, die ins Desaster für die Achaier münden könnte. Agamemnon rettet die Situation, indem er sich den anderen unterordnet. Aus ähnlichem Grund treten die ‚Gefährten‘ (hetairoi) auf der Heimfahrt von Ithaka in offene Opposition zu Odysseus, der diese Gefahr nur mit Mühe abwehren kann. Er ändert sein Verhalten jedoch nicht – mit der Folge, dass alle Gefährten umkommen.
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hierfür den markanten Unterschied in der Verteilung des Vermögens in den Big Man Gesellschaften des Hochlands und den von einer zahlenmäßig kleinen Elite dominierten Gesellschaften im Tiefland von Thailand an. Graphisch dargestellt ist Armut im Hochland in der Spitze einer auf den Kopf gestellten Pyramide zu finden, während im Tiefland in der äußersten Spitze einer aufrechten Pyramide die Elite anzusiedeln ist, die Armen jedoch in deren breiten Basis. Dieses Beispiel ist deswegen von Bedeutung, weil es in Zahlen den verhältnismäßig breiten Spielraum ausdrückt, innerhalb dessen sich eine Aristokratie ausbilden kann. Die Vielen (chilioi) des Xenophanes in Kolophon lassen sich mit den 50 % der „Well-to-do“ im Hochland an einem Ende des Spektrums ansiedeln, die nur dreizehn basileis in Scheria in der Odyssee mit dem ganz geringen Prozentsatz an „Nobles“ im Tiefland – auch in den pentakosiomedimnoi, wenn die Reform Solon dazu diente, die ‚Aggrandizers‘ vom Rest noch einmal abzuheben.46 Als eine Strategie zur Stärkung in der Konkurrenz und zur Absicherung vor Einwänden gegen das eigene Verhalten dient schon der Anspruch auf eine besondere Genealogie, ganz besonders dann, wenn an deren Anfang ein Gott steht.47 Von hier ist der Schritt zur Behauptung nicht weit, einen exklusiven Access to the Supernatural zu besitzen. Eine solche Verbindung taucht in den Epen in Form der Herleitung der basileis von Zeus (diogeneis basileis) auf, mit der sie offenkundig menschlicher Kritik entzogen werden sollen. Auch Hesiod kennt diesen Anspruch. Er schränkt ihn jedoch auf die idealen basileis ein (Hes. theog. 75–97) und verweist damit auf den konstruktiv-intendierten Charakter dieser Verbindung. Die dadurch angezeigte Doppeldeutigkeit der Verbindung zu Zeus ist auch der Ilias und der Theogonie nicht fremd. In beiden Texten muss sich Zeus erst von einem Gewaltherrscher zu einem die Normen respektierenden Führer innerhalb einer Konsensgemeinschaft wandeln, um in seiner Position bestätigt zu werden. Neben dieser direkten Beziehung zu Zeus kann der Anspruch auf einen besonderen Zugang zu den Göttern auch subtiler signalisiert werden. Das deutet sich dort an, wo Hektor seine Mutter Hekabe auffordert, Athena ihr schönstes Gewand zu weihen. Hekabe geht, begleitet von den vornehmen Frauen (geraiai) zum Tempel (neos), wo ihr Theano, die Tochter des Antenor, eines Konkurrenten von Priamos in Troia, die Tür öffnet. Diese war von den Troern zur Priesterin (hiereia) der Athena gemacht worden (Il 6.264–311). Keiner derartigen Konkurrenz im besonderen Zugang zu den Göttern war Odysseus ausgesetzt. Denn Zeus stellte sich offen auf seine Seite, wenn er die Itha-
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Dafür argumentiert Foxhall 1997. Um sich gegenüber dem anderen in Szene zu setzen, präsentieren sowohl Diomedes (Il. 14.115– 125) als auch Glaukos (Il. 6.144–206) ihre Genealogie bis zum Urgroßvater. Die weiter reichende Genealogie der Troer beziehungsweise von Hektor und Aineias (Il. 20.208–241) ist eine Ausnahme. Sie setzt sich aus der Geschichte zweier aufeinanderfolgender Städte zusammen. Auf die Stadt Dardania folgte Troia. Von Tros, ihrem namengebenden Heros, sind es wiederum vier Generationen bis zu Hektor und Aineias.
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kesier zu einem durch einen Schwur abgesicherten Frieden mit dem basileus Odysseus zwang (Od. 24.482–486). Vor solchem Hintergrund erhält die von Karl Reber angestellte Überlegung Brisanz, dass die Errichtung der Tempel mit Kultbild keine Gemeinschaftsleistung gewesen sein muss, sondern dass einzelne Führer von Hetairien – angeregt durch den zwischen den Hetairien herrschenden Wettbewerb – versuchten, sich innerhalb der neu entstandenen Aristokratie dadurch abzugrenzen, dass sie im kultischen Zentrum auf eigene Kosten solche Kultbild-Tempel errichteten – und sich damit in einen besonderen Bezug zur gemeinsamen Gottheit stellten.48 Von hier kann der kursorische Überblick leicht und rasch zur letzten der Strategien zur festen sozialen Abgrenzung und damit der Aufhebung von Wettbewerb überleiten, der absichtsvollen Separation from the Others. Die angestrebte Distanzierung findet in der Doppeldeutigkeit des Begriffs demos ihren ersten Niederschlag. Demos kann sowohl die Gesamtheit der Gemeinschaft als auch diejenigen bedeuten, welche den Herausragenden (exochoi andres) gegenüberstehen, seien diese nun Anführer (basileis), angesehene und erfahrene Männer (gerontes) oder einfach nur allgemein (nicht übertreffbar) ‚Gute‘ (agathoi) oder ‚Beste‘ (aristoi) genannt. Die Bedeutung demos als ‚Gesamtheit‘ wurde davon jedoch nie verdrängt, sondern blieb dort, wo es um die Verantwortlichkeit der Anführenden (hegemones) und damit um die Gemeinschaft als ganze ging, immer lebendig. Diese Gruppe, die sich vom demos abgrenzen will,49 demonstrierte ihre Besonderheit durch einen eigenen Lebensstil. Das sind die Verhaltensformen, in denen häufig Merkmale eines „Adels“ gesehen werden, die manchmal mit einer „leisure class“ in Zusammenhang gesetzt werden. Die Hilfestellung der basileis beziehungsweise der Begüterten für einander gegenüber dem demos und auf der anderen Seite die Begehrlichkeiten, welche die Güter der basileis und der anderen Begüterten wecken können, signalisierten erkennbar soziale Distanz. Diese Distanz wurde über die Präsentation von Prestigegütern in der Öffentlichkeit augenfällig gemacht, beim Grabritual, durch die Präsentation von Prestigegütern als Weihegaben in Heiligtümern oder auch durch die Abgrenzung in eigenen Festgelagen, dem Symposion, das sich von den anderen Festtypen (wie dais, eilapine und syssition) durch die Verwendung von exklusivem Trinkgeschirr und dann auch der Benützung von Klinen abhob. All das lässt sich archäologisch in seiner Entwicklung vom 10. bis ins 6. Jahrhundert sehr gut verfolgen.50 48 49 50
Reber 2009. – Linke 2006 verweist darauf, dass Zeus nicht als Gott einer politischen Gemeinschaft fungierte, wohl aber Tempel von Tyrannen erhielt. Hall 2014, 127–131 spricht von der „emergence of aristocracy“. Vgl. Murray 2013, 513 f. Dagegen setzt Węcowski 2014 seine „retrospective method“, in der – die Konstanz und Besonderheit des griechischen Symposions voraussetzend – vom „well-documented archaic and classical material“ (ebd. 7) die essentiellen Charakteristika abgeleitet und als Grundlage für die ‚Rekonstruktion‘ des spezifisch griechischen Symposions in ‚geometrischer‘ Zeit benützt werden.
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Zu diesem abgehobenen Lebensstil gehören all die Merkmale, welche mit guten Gründen als ‚aristokratische‘ Verhaltensweisen eingeschätzt werden: die Teilnahme an Krieg und Jagd, an Wettbewerben, besonders an Wagenrennen, auch an musischen Wettbewerben, sowie in zentraler Rolle an Kulten, Festen, Begräbnissen. Die Kenntnis und Einhaltung des richtigen Verhaltens bei solchen Gelegenheiten verfestigte sich gegen Ende der archaischen Zeit zu einem regelrechten Code und damit zu einem benennbaren Zugehörigkeitskriterium51 – dessen Übertretung jedoch nicht zum Ausschluss aus der Gruppe der Mächtigen und Einflussreichen führte.52 Vor diesem Hintergrund sind die Klagen bei Theognis (1.53–60, 145–150, 173–182) zu beurteilen, dass Leute ohne Kenntnis und Achtung von Recht (dikai) und Normen (nomoi) nun zu den agathoi werden, während diejenigen, die ehemals agathoi waren, wegen ihrer wirtschaftlichen Schwäche zu kakoi werden. Gleichzeitig ist diese Feststellung jedoch auch ein Zeichen dafür, dass die durch die Codierung dieses Lebensstils beabsichtigte Abgrenzung nicht fest etabliert werden konnte und dass dieser gegenüber anderen, die erst später zu dem für den aufwändigen Lebensstil nötigen Surplus gelangt waren, als Zugehörigkeitsmerkmal verteidigt werden musste. Reflexion als ein Gegenmittel? In der doppelten Klage des Theognis (53–58, 149–154) – über die kakoi, die zu agathoi werden, und über das Auseinanderklaffen von Vermögen (chremata) und individueller Qualität (arete) – zeigt sich das Problem der Bestimmung, wer den Wertadjektiven aristos oder agathos genügt. Der exklusive Anspruch darauf wird zwar erhoben, und die substantivierten Adjektiva erscheinen in den Texten auch immer wieder als Bezeichnung für eine soziale Kategorie. Daneben bleibt aber das Bewusstsein einer differenzierenden Skala zur Bewertung einer Person wie auch die Relativität der Bewertung mit Bezug zu den verschiedenen Konkurrenzfeldern bestehen. Als solche erscheinen kriegerische und sportlich-körperliche Aktivitätsfelder oder geistige wie Überlegen, Planen einschließlich der rhetorischen Überzeugungskraft, aber auch Aktivitäten des ‚Alltags‘, des Bauern oder das Handwerk. Der Sachverhalt lässt sich mit der Formulierung der ‚Relativität des Besten‘ gut umschreiben.53 Daraus wird ersichtlich, dass es keinen festen Kanon an Verhaltensregeln gibt, dessen Einhaltung direkt die Verleihung des Prädikats ‚gut‘ – ausgedrückt mit den
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Stein-Hölkeskamp 1992. Van Wees 1999 und van Wees 2002 macht zu Recht deutlich, dass die Erwartung auf Reziprozität mit dem Streben nach dem eigenen (materiellen) Vorteil kollidiert, konkret durch die bewusste Übertretung der Verhaltensregeln im kompetitiven Geschenkaustausch, die in ethnologischer Terminologie als negative Reziprozität bezeichnet wird; dazu Ulf/Kistler 2019. Ulf 1990, 29–40.
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Adjektiva aristos, esthlos, eys oder dem als nicht überbietbar verstandenen agathos – an eine Person zur Folge hat. In den Epen stehen gut erkennbar verschiedene Felder der Bewährung mit unterschiedlicher Bewertung nebeneinander. Das Urteil über die Qualität einer Person hängt nicht nur davon ab, in welchem der Handlungsfelder sich eine Person bewährt, sondern auch von dem zum Vergleich herangezogenen Personenkreis (wie beispielsweise Alt oder Jung) und damit auch davon, ob dieser stabil bleibt oder durch neu hinzukommende oder ausscheidende Personen verändert wird. So bleibt die Bewertung als die Besten, als aristoi oder agathoi, an den immer wieder zu erbringenden Nachweis von konkreten individuellen Qualitäten und Leistungen gebunden. Kinder schlagen eben nicht automatisch den Eltern nach (Od. 2.276 f.), ‚geringere‘ Herkunft (genos) verhindert nicht arete, und Kinder können auch besser als ihre Vorfahren sein.54 Was eine Person ‚wert‘ ist, wird an den Folgen ihrer Taten für den demos insgesamt bemessen. So ist zum Beispiel Thoas Anführer der Ätoler, weil er unter diesen aristos im Kampf und im Redewettstreit ist (Il. 15.279–305, 282). Die Gebundenheit der Bewertung an ein konkretes Vergleichsfeld zeigt sich bei dessen Veränderung. Diomedes ist nur so lange der beste Krieger, als Achilles nicht mitkämpft; und er ist der Beste im Ratschlag, aber nur unter seinen Altersgenossen, nicht unter den Alten. Dieses Prinzip ist nicht auf die Epen beschränkt, sondern liegt auch den kritischen Äußerungen in den anderen Texten aus archaischer Zeit zugrunde. Ins Abstrakte transferiert folgen daraus die vielen ins Diskursinventar eingegangenen Überlegungen, wie Tanja Itgenshorst formuliert, worin arete besteht, und ebenso über die Bedeutung, die dike und dikaiosyne für das Funktionieren der Gemeinschaft zugeschrieben wird.55 Die verschiedenen Strategien, denen diejenigen folgen, die aristoi sein wollen, lassen sich auf drei Grundmuster reduzieren. Das erste ist das Bemühen, eine möglichst breite Basis an Unterstützern zu gewinnen. Von den verschiedenen Gruppen von hetairoi nach ihrer Zusammensetzung und ihrer Größe war oben die Rede. Die mit der wohl größten Reichweite wird in Herodots Erzählung (Hdt. 1.59) über die Versuche des Peisistratos sichtbar, die Tyrannis in Athen zu erlangen. Im ersten Versuch agiert er anders als die beiden Konkurrenten Megakles und Lykurg. Er sammelt aktiv Unterstützer (stasiotas) und kann zudem den demos gewinnen, ihm eine Leibwache zu stellen. Das zweite Grundmuster besteht darin, die soziale Distanz durch die Beugung der Normen und wenn nötig mit Gewalt abzusichern. Für das erste steht als Beispiel die Klage Hesiods in den Werken und Tagen, für das zweite das eindrucksvolle Bild, in dem Odysseus in der agora Thersites unter dem Beifall der Achaier verprügelt. Das dritte Grundmuster der Separierung ist die Zeichnung einer idealen Welt, in der die sozialen Positionen bezogen sind und als solche anerkannt werden. Die Pat-
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Ulf 1990, 23, 114 f. Itgenshorst 2014, bes. 71–78.
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roklos-Spiele finden ihren Höhepunkt darin, dass Agamemnon, ohne im Wettbewerb antreten zu müssen, von Achill zum Sieger erklärt wird. Korrelate dazu finden sich in der Welt der Götter. In der Ilias wandelt sich Zeus zu einem basileus, der die timai der anderen Götter anerkennt; die gleiche Entwicklung zeichnet Hesiods Theogonie. Der Beifall der Achaier für den mit dem Zeichen für soziale Distanz, dem Zepter prügelnden Odysseus leitet schließlich zur Frage, warum es so wenig Widerstand gegen die auf Separierung ausgerichteten Strategien zu geben scheint. Die Antwort führt zur Archäologie zurück. Mit den Synoikismen wurde, wie das Tonio Hölscher formulierte, der „Bereich der Öffentlichkeit, des ‚koinon‘ und des ‚demion‘“ immer weiter ausgedehnt „und dem Bereich des ‚oikos‘ gegenübergestellt“.56 Durch den Synoikismos war eine über den alten Kleingruppen stehende neue sozio-politische Ebene entstanden, welche zwar den (bisherigen) Big Men zugänglich war, nicht aber deren Unterstützern. Diese verloren mehr und mehr die alten Bindungen zu ihren ehemaligen Anführern und wurden in diesem Vorgang der Stratifizierung in den neuen sich zu Städten entwickelnden Siedlungen zu einer gegenüber der entstehenden Aristokratie ins Anonyme abgleitenden Bevölkerung. Es gehört zur Besonderheit des in Griechenland entwickelten Denkens, dass auch dieser Sachverhalt reflektiert und kritisiert wurde. Dennoch war das durch die verschiedenen Strategien angestrebte Hinwegsetzen über geltende Normen von Erfolg gekrönt. Das geht einerseits daraus hervor, dass die Klagen über derartiges Verhalten seit den Epen nicht abreißen, und andererseits daraus, dass auch die Ursachen für diesen zweifelhaften Erfolg ausgemacht werden. Für beides können Äußerungen Solons als beispielhaft hervorgehoben werden. Er hat nicht nur die Begriffe zur Charakterisierung des Fehlverhaltens parat, nämlich hybris und ate, sondern macht auch die Bewohner der Siedlung (astoi) selbst als Schuldige für den Erfolg der Aggrandizers aus: Die astoi gehorchten (peithomenoi) den materiellen Mitteln (chremasi). Das lässt sich sehr gut so verstehen, dass sie wegen der Gaben der Aggrandizers, die hier hegemones heißen, blind seien für deren ungerechten Sinn (adikos noos): Eigene kakotes habe diese Leute stark gemacht (Solon Frg. 11 West = 15 Gentili/Prato = 8 Diehl). Das sind die Leid verursachenden Politen, von denen Mimnermos (Frg. 7 West = 12 Gentili/ Prato = 7 Diehl) sagt, dass die einen schlecht, die anderen besser über dich redeten. Sie folgten Leuten, die Archilochos (Frg. 115 West = 70 Diehl) ‚Leutelieb‘ (leophilos) nennt. Das ist dann der „schlechte Mann“ beziehungsweise basileus in einer Siedlung, der nach Hesiod (erg. 235) dafür ausreiche, dass Zeus die ganze polis strafe. Die Abgrenzung der sich selbst zu aristoi Erklärenden und das daraus entstehende Dilemma wird so auf den Punkt gebracht – und man kann sich der bleibenden Aktualität dieser Feststellungen kaum entziehen.
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Hölscher 1998, 29.
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Zwischen stasis und eunomia Banketthäuser und soziale Gruppenbildung im archaischen Griechenland* Erich Kistler Abstract: Even in Archaic Greece, architecture was a constitutive medium that served to give structure to new concepts of societal coexistence and implemented them in everyday live. This is true especially for free-standing banquet houses, which came more and more into fashion between the 7th and the early 5th centuries BC. Such houses were erected in the public and sacred centres of Greek poleis and at cult sites in the chora for groups that claimed descent from a hero. This article examines the emergence of banquet houses during the Archaic period from the perspective of architectural sociology. Accordingly, the following questions are addressed: Did such free-standing banquet houses merely represent a new building type that accommodated new modes of commensal gatherings like the symposion? Or did they also constitute permanent facilities and architectural settings for emergent social groups in the context of the genesis of the Archaic polis? And if so, did they serve to reinforce eunomia? Or might the opposite be the case: could such banquet houses be evidence of competition and stasis between powerful ancestral groups, thus structurally reinforcing the emergence of fragmentary social groups and reflecting the permanent danger of stasis and tyranny in the newly constituted poleis?
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Dieser Beitrag resultiert aus verschiedenen Stadien und Versionen eines Manuskripts zu Banketthäusern in archaischer Zeit, das auf der Tagung „Konsum in den Gesellschaften der Klassischen Antike“ (24.–25.11.2011), an der Zweigstelle Athen des Österreichischen Archäologischen Institutes (20.5.2016), an der Tagung des DFG-Netzwerks „Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik“ (2.–4.11.2017) und am Arbeitsbereich Alte Geschichte der Universität Hamburg (13.11.2018) vorgetragen werden durfte. Für alle Hinweise und weiterführende Kritiken, die jeweils im Anschluss an die Vorträge erfolgten, sei hier ganz herzlich gedankt. Insbesondere Christoph Ulf hat die Entstehung dieses Beitrags von Beginn an mit seinen vielfältigen kritischen Überlegungen und fruchtbaren Kommentaren wesentlich gefördert. Für eine kritische Lektüre und Kommentierung der nun vorliegenden Version möchte ich auch Birgit Öhlinger ganz herzlich danken.
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Einführung Architektur ist baulicher Ausdruck von Gesellschaft. Sie ist ein ordnungsstiftender Entwurf und zugleich ein zur Verfestigung führender Vorgang – eine raumkörperliche Setzung, mit der eine Gesellschaft ihre Lebenswelt baulich formt, in ihren Abläufen und Zusammenhängen des alltäglichen Zusammenlebens verdinglicht und verstetigt.1 Zweifellos bildete Architektur bereits im archaischen Griechenland ein solches konstitutives Medium: Straßen und Platzanlagen wurden als Ordnungsmittel der Begegnung und Kommunikation im Freien eingesetzt und unterschiedliche Gebäudeund Haustypen antworteten auf das Bedürfnis nach sozialer Differenzierung.2 Paradigmatisch für Letzteres steht die bauliche Umsetzung des hestiatorion sowohl in Gestalt freistehender Banketthäuser als auch eingebaut als Banketthallen3 in stoai,4 welche einst die öffentlichen und sakralen Zentren archaischer poleis säumten (s. Appendix 1). Identifizieren lassen sich solche Banketträume im archäologischen Befund aufgrund ihrer spezifischen Ausstattung mit wasserdichten Fußbodenbelägen, umlaufenden Sitzbänken oder erhöhten Sockelbändern für Klinen zusammen mit entsprechenden symposialen Kleinfunden.5 Auf diese Weise können für die archaische Zeit immerhin noch 38 freistehende Banketthäuser belegt werden,6 die im Typ des oikos oder in jenem des Breitraumhauses7 errichtet worden waren (s. Appendix 1). Das ist angesichts der relativ wenigen architektonischen Überreste, die aus archaischer Zeit erhalten sind,8 eine signifikant hohe Anzahl, die aus der zu Beginn eröffneten, architektursoziologischen Sicht zwangsläufig zu Fragen führt. So etwa, inwieweit diese Banketthäuser nicht nur einen neuen Bautyp für kommensale Geselligkeitstreffen verkörperten, sondern zugleich auch die dauerhafte Einrichtung und physische Verräumlichung neuer Formen sozialer Gruppenbildung? In welchem Ausmaß standen solche Banketthäuser und die mit ihnen einhergehenden Gruppenbildungen in Zusammenhang mit den sich her1 2 3 4 5 6 7
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Delitz 2010; exemplarisch angewendet auf die Archäologie s. die Beiträge in Trebsche/Müller-Scheeßel/Reinhold 2010. Hölscher 1998; Mertens 2006; Nevett 2010; Robinson 2016. Zum Begriff des hestiatorion als „banqueting hall“ mit entsprechenden Quellenbelegen: Tomlinson 1969, 172. Etwa die Nordhalle an der Agora von Megara Hyblaia: Rabinowitz 2009, 146; oder die sogenannte u-förmige Stoa im extraurbanen Heiligtum von Lokri: Belli Pasqua 2011, 20–23. Leypold 2008, 6–10. Dazu s. die tabellarische Synopsis zu den Banketthäusern des späten 7. bis mittleren 5. Jahrhunderts im Appendix 1. Zur Nutzung sogenannter oikoi als Banketthäuser s. Hölscher 2000 und Rabinowitz 2009, 138 f. Bezeichnenderweise wird auch der oikos A aus dem mittleren 4. Jahrhundert im Zeusheiligtum von Labraunda auf der Stifterinschrift auf dem Architraven über dem Eingang als andron bezeichnet; dazu s. Leypold 2008, 93 f.; 96. Die Benennung von Banketträumen in Heiligtümern als oikoi lässt sich für das Archegesion auf Delos noch für das mittlere 3. Jahrhundert inschriftlich nachweisen (IG XI.2.87 A 107–109). Lang 1996.
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ausbildenden poleis während des 7. bis frühen 5. Jahrhunderts?9 Dienten sie dabei der Konsolidierung der ‚Wohlverfasstheit‘, also der eunomia von poleis? Oder verankerten sie als Bauten segmentärer Gruppenbildungen vielmehr Konkurrenz und stasis zwischen mächtigen Abstammungsgruppen und damit die permanente Umsturzgefahr zur Alleinherrschaft in der sozialen Grundstruktur der sich neu formierenden poleis? Natürlich ist die Thematik und Forschungsproblematik, die mit all diesen Fragen aufgegriffen wird, viel zu weit gefasst und zu komplex, um sie in einem kurzen Essay umfassend behandeln zu können. Daher sind die nachfolgenden Ausführungen und Überlegungen eher als Vorschläge zu einem alternativen Weg zur griechischen Archaik gedacht, der seinen Ausgang nicht vom Denken der Geschichtsschreiber und Staatstheoretiker klassischer Zeit nimmt, sondern von materiellen und textlichen Zeugnissen der Archaik selbst.10 Das ausgehende 8. Jahrhundert als Vorgeschichte Herdraumhäuser und Festgeber in großfamilialen Compounds Das Aussehen griechischer Siedlungen war während des 8. und frühen 7. Jahrhunderts noch ganz von einem Wohnen in zerstreuten, großfamilialen Weilergemeinschaften bestimmt. Im sozialen Zentrum solcher großfamilialer Gemeinschaften standen Herdraumhäuser, wie es etwa der Apsidialbau Θ für den Weiler beim Central Quarter in Oropos (Nordattika) bezeugt (Abb. 1). So besitzt Bau Θ in seinem hinteren Gebäudeteil eine umlaufende Sitzbank. Zudem fanden sich in seinem Benutzungshorizont der letzten Phase zahlreiche Scherben von Bankettgeschirr und eine Vielzahl teils verbrannter Tierknochen. Zusammen mit der Sitzbank indizieren diese Kleinfunde das Versammlungs- und Festhaus einer lokalen Großfamilie, in dem unter der Obhut des Familienoberhauptes opulente Bankette ausgerichtet sowie auf diesem Weg vielseitige Verpflichtungen zu Gegenleistungen und Abhängigkeiten geschaffen wurden. Im späteren 8. Jahrhundert war schließlich das apsidiale Herdraumhaus Θ zusammen mit dem Ovalhaus Ι, dem Rundbau ΣΤ sowie dem Rechteckanbau Ζ durch den Bau einer Umfassungsmauer als ein großfamiliales Gehöft nach außen abgeschirmt worden.11 9 10
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Alle nachfolgenden Zeitangaben sind vor Christi Geburt. So bereits Stein-Hölkeskamp 2015, 15 f. Zu den „conventional master narratives“, zu denen die antiken Texte in den Altertumswissenschaften geführt haben, siehe Ma 2016. Einen solchen alternativen Zugang durch die Zugrundelegung einer anthropologischen Folie bietet Christoph Ulf seitens der Alten Geschichte an, zuletzt wieder in seinem Beitrag in diesem Band; exemplarisch in diese Richtung auch Seelentag 2014. Einen Versuch, die Meistererzählungen mit solchen neuen alternativen Modellen zu verbinden, unternahm jüngst Stein-Hölkeskamp 2017, vgl. dort auch die jüngere Forschung resümierende Anm. 1 auf S. 43. Mazarakis Ainian 2012, 122–128.
Abb. 1 Oropos; Gesamtplan der Phasen von 750 bis Anfang des 7. Jahrhunderts.
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Zwei weitere solche ummauerte Compounds in naher Nachbarschaft zum Gehöft mit dem Herdraumhaus Θ geben schließlich das geometrische Oropos als eine Streusiedlung zu erkennen, die einstmals aus mehreren solchen großfamilialen Weilern bestand.12 Überreste weiterer entsprechender Compounds mit apsidialen oder ovalen Herdraumhäusern als Sitze großfamilialer Oberhäupter und Festgeber kamen im Einflussbereich euböischer Siedler, zu dem Oropos während des 8. und frühen 7. Jahrhundert gehörte, ebenfalls in Eretria, Viglatouri und Pithekoussai zum Vorschein.13 Auf das Feste-Geben als zentrale Einrichtung zur Gewinnung sozialen Ansehens und (über) lokalen Einflusses verweist zudem der Ritus, mit großen Krateren die Gräber großfamilialer Oberhäupter oberirdisch zu markieren.14 Selbst im spätgeometrischen Zagora auf Andros, das aufgrund der agglutierenden Bauweise von Rechteckräumen zu Häuserkonglomeraten und dem daraus resultierenden rechtwinkligen Gassensystem proto-urban anmutet, war die Siedlung trotzdem noch immer in unterschiedlich große Compounds gegliedert (Abb. 2). Dabei stellte der Häuserkomplex im Areal D-H mit seinen mehr als 30, um vier ‚Höfe‘ angeordneten Räumen sicherlich einen überaus großen Haushalt dar – zumindest im Vergleich mit dem ‚nur‘ 17 Räume und zwei ‚Höfe‘ umfassenden Haushalt im Areal J. Für die Prominenz des Häuserkomplexes D-H spricht auch seine Situierung am zentralen Fest- und Opferplatz unter freiem Himmel. Über den Hof 21 öffnete sich zu diesem hin der Raum H 19, der aufgrund der umlaufenden Sitzbank, der zentralen Herdstelle zwischen zwei Säulen und der Funde von Bankettgeschirr als das soziale Zentrum einer angesehenen, örtlich herausragenden Großfamilie angesprochen werden kann (Abb. 3.1).15
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Mazarakis Ainian 2012, 122–128. Mazarakis Ainian 2007, 161–167. Kistler 1998, 55–60, 149–161; Léderrey 2016, 222 und 267–271. Mazarakis Ainian 2012, 128–131 und Mann 2015.
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Abb. 2 Zagora, Gesamtplan.
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Abb. 3 Schematische Darstellung der Transformation sozialer Gruppenbildungen vom 8. bis zum 6. Jahrhundert.
Synoikismos in Eretria und zu 100-Füßlern monumentalisierte Herdraumhäuser Von den soeben besprochenen Herdraumhäusern, die einstmals siedlungsmorphologisch oder gar architektonisch in die Compounds von großfamilialen Wohnverbänden eingebunden waren, gilt es jene großen Herdraumhäuser als Versammlungs- und Festhäuser zu unterscheiden, die ab der Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert als freistehende Bauwerke errichtet worden waren. Solche monumental dimensionierten Herdraumhäuser kamen bisher in Ano Mazaraki (nahe Rakita), Eretria, Kalapodi, Isthmia, Samos, Thermos und Yria zutage und wurden aufgrund ihrer Länge von mehr als 100 Fuß hekatompedoi genannt (Abb. 4).16
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Mazarakis Ainian 2017, 177–183.
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Abb. 4 Eretria; Quartier mit Daphnephoreion.
Solche hekatompedoi waren allerdings noch keine Tempel im eigentlichen Sinn. Zwar dienten sie bereits wie die späteren Tempel der Thesaurierung von Weihgeschenken. Aber zumeist verdeckte noch eine innere Säulenstellung den Blick auf ein allfälliges Kultbild. Anstelle eines solchen bildete eine Herdstelle das Zentrum des Innenraumes, umgeben von umlaufenden Sitzbänken. Wenngleich sich diese hekatompedoi bautypologisch mit den Herdraum- und Festhäusern großfamilialer Oberhäupter parallelisieren lassen, so verlieh ihnen ihre Größe, die für Zusammenkünfte von 60 bis 80 Personen Platz bot, zweifellos eine übergeordnete, die großfamilialen Strukturen übergreifende Funktion.17 Aus diesem Grund bringt Karl Reber den Bau des 100 Fuß langen Apsidialbaus Ed2 in Eretria mit einem synoikismos um 700 in Zusammenhang. Einen zeitgenössischen Reflex darauf erkennt er im homerischen Bild der hegetores, die als Oberhäupter ihrer großfamilialen Abstammungs- und Gefolgschaftsgruppen, von ihrem basileus als gerontes in das große Kult- und Versammlungshaus geladen werden, um Dinge zu besprechen, die das Wohl der gesamten Siedlungsgemeinschaft betreffen.18 Dementsprechend konstituierte wohl auch der hekatompedos Ed2 einen neuen Baukörper, der offenbar die Oberhäupter der zerstreuten Compounds in Eretria zu einer eigenen sozialen Gruppe vereint hatte (Abb. 4).19 17 18 19
Drerup 1969, 123–128; Leypold 2008, 204; Reber 2009; Mazarakis Ainian 2017, 182 f. Von Ulf 1990, 134 definiert als hetairoi-Typus 3. Reber 2009, 100 f. und Mazarakis Ainian 2017, 179 f.
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Abb. 5 Eretria; Gesamtplan.
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Fortan überwand dieser Zusammenschluss von Oberhäuptern die sozialen Grenzen zwischen den einzelnen, großfamilialen Weiler- und Gefolgschaftsgruppen. Zugleich wurden mit ihm ein Gesamtverband und dadurch eine neue Architektur des Sozialen in der Siedlungsgemeinschaft des spätgeometrischen Eretria geschaffen. Letzteres geht auch aus einer zweiten, zeitgleichen architektonischen Setzung hervor. Vor der Eingangsfront des hekatompedos Ed2 kam es nämlich zur dauerhaften Setzung eines fest gebauten, viereckigen Altars (Abb. 4). Damit war der zentrale Schauplatz der Umverteilung von Fleisch und sozialer Anerkennung aus dem Inneren der ummauerten Weilerverbände Eretrias auf den offenen Platz vor dem Eingangsportal des hekatompedos Ed2 verlagert worden.20 Der neuen sozialen Gruppe und Gemeinschaft der Oberhäupter im hekatompedos Ed2 standen auf diese Weise bei der Umverteilung des Fleisches via Altar alle jene gegenüber, die zwar keinen Zutritt zum Versammlungsund Kulthaus Ed 2 hatten, dafür aber Zugang zum Altarplatz unter freiem Himmel. Und genau diese Leute formten neu eine Art ‚dritter Instanz‘,21 die weilerübergreifend und damit siedlungsgemeinschaftlich das Geschehen am Altar überwachte. Religion und Redistribution waren gewissermaßen zur ‚öffentlichen‘ Sache geworden und der Bereich um den hekatompedos Ed2 zum heiligen Bezirk (Abb. 3.2).22 Banketthäuser als Zentren segmentärer Gruppenbildung im 7. und 6. Jahrhundert Banketthäuser als Fest- und Clubhäuser heroisierter Abstammungsgruppen Der synoikismos-Prozess, wie er in Gestalt des monumentalen Kult- und Versammlungsgebäudes Ed2 im späteren Zentralheiligtum der Polis Eretria greifbar wird, war keineswegs eingleisig. Vielmehr wirkte er vom neuen sozio-religiösen Zentrum unmittelbar zurück auf die bestehenden, umliegenden Weiler- und Gefolgschaftsverbände (Abb. 5). So wurden etwa sowohl im Gräberfeld des Weilers beim späteren klassischen Westtor als auch in jenem beim Hygeionomeion ab 700 keine weiteren Bestattungen mehr vorgenommen. Anstelle dessen erfuhren dort einzelne herausragende Gräber von Verstorbenen der Väter- und Vorväter-Generation eine totenkul20 21 22
Verdan 2012, 185 f. Zur Anwendung des Modells der ‚dritten Instanz‘ nach Georg Simmel auf die Bildung öffentlicher Gesellschaftskörper im Rom und Griechenland archaischer Zeit s. zuletzt wieder Hölkeskamp 2017, bes. 37 f. Siehe aber auch die Einleitung zu diesem Band von Meister und Seelentag. Reber 2009, 108 f. und Mazarakis Ainian 2016, 22. Erst rund 150 Jahre später fungierte in diesem heiligen Bezirk auch ein späterer Nachfolgebau von Ed 2 mit Ringhalle als Haupttempel der Polis. Offenbar hatte im Fall von Eretria der sozio-religiöse synoikismos von 700 auch erst im mittleren 6. Jahrhundert zu einer eigentlichen urbanen Siedlungsweise geführt. Aus Sicht der literarischen Quellen s. dazu auch Stein-Hölkeskamp 2015, 140 f.
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Abb.6 Eretria, Schemaplan der heroisierten Gräber unter dem dreieckigen sema und der Phase des 7. Jahrhunderts beim späteren Westtor.
tische Verehrung.23 Über diesen ‚Heroengräbern‘ wurde beim späteren Westtor sogar ein Steindreieck aus Quaderblöcken als monumentales sema errichtet. Offenkundig sollte mit diesem dauerhaft an den Begründungsakt einer mächtigen Abstammungslinie erinnert werden, die sich in Reaktion auf den synoikismos um 700 beim späteren Westtor zu formieren begonnen hatte. War also der dort siedelnde Bestattungs- und Weilerverband vor 700 noch großfamilial organisiert gewesen, wurde dieser im Verlauf des ersten Viertels des 7. Jahrhunderts zu einer ahnenkult-gemeinschaftlichen Abstammungsgruppe transformiert (Abb. 6).24 In deren Mittelpunkt stand nicht mehr das Herdraumhaus des großfamilialen Oberhauptes, das von weiteren Zweigen und Haushalten der Großfamilie und nicht-verwandter Gefolgsleute umgeben war. Neu im Zentrum der Gruppe befanden sich nämlich die Vorfahren und Ahnen, auf deren Gräber man sich gemeinsam berief. Diese ‚Heroengräber‘ und das dreieckige sema umschloss man schließlich im Laufe des 7. Jahrhunderts mit einem peribolos aus Stein.25 Die Angehörigen dieser heroisierten Abstammungsgruppe erhielten so ihren eigenen, fest gebauten Begegnungsraum und Sitz in der Kult- und Siedlungstopographie des früharchaischen Eretria. Diese Ahnenkult-Gemeinschaft bildete fortan das dauerhafte Zentrum einer segmentären Gruppe, die auf die Formierung eines eretrischen Gesamtverbandes reagierte, wie sie seit 700 durch die Zusammenkünfte am Altar vor
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Dies bezeugen vor allem Gruben, die zwischen 675 und 625 angelegt und mit großen Mengen von Tierknochen sowie Scherben von Krateren und Trinkgeschirr verfüllt worden waren; dazu Crielaard 1998, 44–46. Crielaard 1998; Mazarakis Ainian 2012, 131–135; Verdan 2012, 186 f.; Léderrey 2012, bes. 213–217 und 337 f. Bérard 1970, 56; Crielaard 1998, 45; Léderrey 2012, 215.
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dem hekatompedos Ed2 auf einer kultgemeinschaftlichen Ebene immer stärker vorangetrieben worden war. Diese zum eretrischen synoikismos gegenläufige Gruppenbildung wurde schließlich im letzten Viertel des 7. Jahrhunderts durch den Bau eines eigenen Club- und Festhauses in Gestalt eines oikos mit Vor- und Hauptraum (6 × 10 m) noch zusätzlich verfestigt und verstetigt (Abb. 6).26 Die Begründung einer entsprechenden familienübergreifenden Abstammungslinie wie beim späteren Westtor in Eretria bezeugt auch das Archegesion im östlichen Binnenland der Insel Delos (Abb. 7). Unmittelbar südöstlich einer Gruppe von sieben Gräbern aus dem späteren 7. Jahrhundert wurde nach der Jahrhundertwende ein stattliches Vierraum-Gebäude (6,35 × 20 m) errichtet. Diesem war ein ummauerter, quadratischer temenos vorgelagert, in dessen Zentrum sich ein Aschealtar befand, der über spätere Inschriften als eschara ausgewiesen wird. In diesem Brandopferaltar fanden sich etliche Scherben archaischer und klassischer Zeit mit Graffiti, die an Anios als mythischen Gründerheros unter Anrufung seiner Epitheta archegetes, basileus und theos adressiert sind.27 Weitere Raum-Anbauten in der Nordsüd-Achse des Vierraumgebäudes während des 5. Jahrhunderts sowie deren inschriftlich bezeugte Nutzung als Banketträume28 machen es höchst wahrscheinlich, dass dieses monumentale Gebäude bereits in seiner ersten Phase nach 600 als Banketthaus fungiert hatte.29 Im Archegesion auf Delos gibt sich demnach ein weiteres Fallbeispiel zu erkennen, anhand dessen sich die Transformation einer (wohl) großfamilialen Gräbergruppe zum (toten-)kultischen Zentrum einer segmentären Abstammungslinie mit eigenem Club- und Festhaus beobachten lässt. Jene erfolgte erneut als Reaktion auf die Formierung einer übergreifenden polis-Gemeinschaft, wie unzweifelhaft aus dem inschriftlich gesicherten Kult für Zeus Polieus und für Athena Polias hervorgeht, der gleichzeitig im Apollonheiligtum von Delos eingerichtet worden war.30 Mit dem Archegesion wurde folglich durch Architektur ein Ort lokaler Gruppenbildung verstetigt, in dem die dort versammelte Kultgemeinschaft einem eigenen gruppeninternen Festkalender, Gründerkult sowie Zugehörigkeitskodex folgte.31 Auf diese Weise konnten selbst bei einer Einbettung in den festkalendarischen Rhythmus der polis sowohl die soziale Bedeutung des Gründerheros Anios als auch der sich daraus ableitende Führungsanspruch der sich auf ihn berufenden Abstammungsgruppe nicht verloren gehen.
26 27 28 29 30 31
Bérard 1969, 74–76. Prost 2002. IG XI 2.87 A 107–109; vgl. Robert 1953, 20. Robert 1953; Antonaccio 1995, 263 f. Zu diesem im Schatten des später großen panhellenischen Apollonheiligtums wenig beachteten Poliskult auf Delos s. Vallois 1944, 25, 119–121, 249. Dies dokumentieren insbesondere zwei Inschriften des späten 5. oder frühen 4. Jahrhunderts (Inscriptions de Délos 68), die sich auf zwei Architravblöcken in ihrem Wortlaut wiederholen und dem Archegesion zuzuweisen sind. In großen Lettern wird mit diesen verlautbart, dass (fremden?) Nicht-Zugehörigen der Zugang zum Archegesion untersagt ist; dazu s. Butz 1994, 86–9.
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Abb. 7 Delos, Steinplan des Archegesion.
Zu einer entsprechenden Indienstnahme eines älteren Gräberfeldes zur Begründung einer heroisierten Abstammungslinie mit einem eigenen Kultbezirk und Banketthaus scheint es auch im späten 6. Jahrhunderts auf dem Kolonna-Hügel auf Aigina gekommen zu sein (Abb. 8). Dieser Hügel wurde im Verlauf des 7. bis 6. Jahrhunderts Schritt für Schritt zum Hauptheiligtum und zur Akropolis der polis Aigina um- und ausgebaut. Zu diesem Zweck wurde die Akropolis am Ende des 6. Jahrhundert an ihrer Nordkante von einer nördlichen Befestigungsmauer eingefasst, mit einer monumentalen Treppe als eindrucksvollem Aufgang versehen und auf ihrer westlichen sowie südlichen Flanke mit stattlichen Gebäudekomplexen bebaut. Dabei besteht der westliche Komplex aus mehreren Höfen und kleineren Räumen für Bankette. Insbesondere der sogenannte Südbau ist hier von besonderem Interesse. Bothroi in seinem Hof mit Symposionsgeschirr des späten 6. bis späten 5. Jahrhunderts – in erster Linie skyphoi, kantharoi und Mischgefäße sowie Vorratsbehälter und Küchenware – bezeugen eine Nutzung des zugehörigen West- und Ostraumes als Banketträume. Beim Bau des Ostraumes hatte man offensichtlich noch auf die pfeilerartigen Steinstelen zweier Kinderbestattungen des späten 10. Jahrhunderts Rücksicht genommen und in die Fundamentlage eingebaut. Eine totenkultische Verehrung dieses protogeometrischen Gräberfeldes scheint jedoch erst im 7. Jahrhundert eingesetzt zu haben.32 Allem Anschein nach wur-
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Dazu Felten u. a. 2006, 9–20 und 2007, 89–93 sowie Felten 2007, 20–22; für diesen wichtigen Hinweis möchte ich mich ganz herzlich bei Gudrun Klebinder-Gauß bedanken.
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Abb. 8 Aignia, Kolonna-Hügel, Westkomplex. Gesamtplan.
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de dieses Bestattungsareal einer prähistorischen Siedlergruppe als ‚archäologisches‘ Requisit in Dienst genommen. Es verlieh nämlich der Abstammungslinie, die dort in Reaktion auf die Formierung der Aigineten zu einer polis-Gemeinschaft während des 7. Jahrhunderts begründet worden war, eine scheinbare geschichtliche Tiefe, die bis zu den Gräbern einer heroischen Frühzeit zurückreichte. Rückblickend lässt sich schließlich auf Basis der Fallbeispiele des ‚Heroons‘ in Eretria, des Archegesion auf Delos und des ‚Südbaus‘ in Aigina festhalten, dass Banketthäusern an Örtlichkeiten einer älteren Toten- und Ahnenverehrung im ‚langen‘ 7. Jahrhundert eine ganz besondere Rolle zukam: Sie begründeten fest gebaute Zentren segmentärer Gruppenbildungen, die in Rückwirkung auf die sich formierenden poleis die neu entstandenen politischen Gesamtverbände einer Region wieder in lokale Abstammungsgruppen mit eigenen kultischen Stätten und Festkalendern segmentierten. Banketthäuser als Architekturen der stasis im Spiegel historiographischer Überlieferung Der unmittelbare Bezug von frühen Banketthäusern auf ältere Gräberfelder, die schon zuvor zu kultischen Zentren heroisierter Abstammungsgruppen transformiert worden waren, verleiht dem schriftlich überlieferten Narrativ der Exhumierung der Gebeine der Vorfahren und der Schleifung der oikias von Tyrannen(-aspiranten) einen ganz neuen geschichtlichen Hintergrund. Ersteres Schicksal ereilte laut antiken Quellen die berühmte athenische Abstammungslinie der Alkmenoidai gleich zweimal: einmal um 600 zur Entsühnung der Blutschuld, zu der es durch den Alkmeoniden Megakles und seine Männer gekommen war, als diese den Tyrannenaspiranten Kylon und dessen hetairoi am Altar und im Heiligtum der Athena auf der Akropolis niedergeschlagen hatten.33 Ein zweites Mal erlitten die Alkmeonidai dasselbe Schicksal der Exilierung und Exhumierung um 511, als Isagoras mithilfe seines spartanischen Gastfreundes, König Kleomenes I, in der stasis, die nach dem Sturz der Peisistratiden ausgebrochenen war, für einen Moment die Oberhand gewinnen konnte.34 Offenbar versuchten die Gegner der Alkmenoidai mittels der drastischen Maßnahme des Ausgrabens und des Über-dieGrenzen-Werfens der Knochen der Vorfahren und Begründer dieser Abstammungslinie deren kultisches Zentrum auszumerzen – wohl in der Absicht, dadurch ein erneutes Wiedererstarken dieser segmentären hetairoi und -idai-Gruppierung zu unterbinden.35 33 34 35
[Aristot.] Ath. pol. 1; Plut. Solon 12.5. Thuk. 1.126.12. Glotz 1904, 461 und Williams 1951, 39–42. Dass die auf -idai und -adai endenden Gruppennamen keineswegs auf Verwandtschaft im Sinne eines Geschlechterverbandes, sondern auf genealogische Konstrukte verweisen, die eine Abkunft von einer berühmten und langen Ahnenreihe ausweisen sollen, haben jüngst auch Donlan 2007 und Duplouy 2015 auf Basis entsprechender schriftlicher Überlieferungen herausgearbeitet; dazu auch bereits Snodgrass 1982.
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Gleichfalls Entdinglichung und Ausmerzung impliziert die Zerstörung und Schleifung von Gebautem. Folglich haben die Peisistratiden laut Isokrates aus Hass auf die Alkmeonidai nicht nur die Gebeine von deren Verstorbenen exhumieren, sondern auch deren ‚Häuser‘ bzw. oikias niederreißen lassen.36 Eine entsprechend doppelte Bestrafungsmaßnahme hatte man anscheinend auch zur Auslöschung der korinthischen Abstammungslinie der Kypseliden ergriffen. So heißt es nämlich bei Nikolaos von Damaskus, dass die Korinther die oikias der Tyrannen geschleift, deren Besitz konfisziert, Kypselos unbestattet über die Grenze geworfen und die Knochen seiner Vorfahren ausgegraben hätten.37 Zweifellos wird von Isokrates und Nikolaos mehr Tyrannen- und stasis-Topik als geschichtliche Wirklichkeit überliefert. Dass jedoch dahinter dennoch eine gewisse historische Wirklichkeit hervortritt,38 bezeugt ein Gesetzestext aus Lokris aus dem letzten Viertel des 6. Jahrhunderts. An dessen Ende wird nämlich verlautbart, dass unter bestimmten Umständen – namentlich beim Anzetteln einer stasis – als Strafe die Zerstörung der oikia angedroht werden könne, wie dies im Falle von Mördern und Blutschuldträgern üblich sei.39 Was aber hat man sich unter dieser Bestrafungsmaßnahme der kataskaphe bzw. des Schleifens der oikia konkret vorzustellen? Ist darunter die Zerstörung der (Wohn-) Häuser von Tyrannen oder Tyrannenaspiranten zu verstehen, von denen bisher jedoch noch kein einziges archäologisch nachgewiesen werden konnte? Oder handelt es sich bei der kataskaphe um die Schleifung der Club- und Festhäuser40 in den totenkultischen Zentren von segmentären, nach der Tyrannis strebenden Abstammungsgruppen? Dann wären Schleifung und Exhumierung zwei überaus wirksame Maßnahmen, um die kultischen Zentren solcher Abstammungsgruppen als Brandherde zur stasis aus der soziopolitischen Geographie des Gesamtverbandes der polis auszulöschen. Denn mit dem Ausgraben und über die Grenze-Werfen der Gebeine wird der konstitutive Kern einer sich heroisierenden Abstammungsgruppe, nämlich das Reliquiar der heroischen Vorfahren, aus dem ‚heimatlichen‘ Boden entwurzelt und gewaltsam in die Fremde verbannt. Mit dem Niederreißen des zugehörigen Club- und Festhauses vernichtete man dagegen das fest gebaute ‚Haus‘, das dauerhaft zur sozialen Reproduktion befähigen sollte.41 Reflexe auf solche doppelten Bestrafungsmaßnahmen zur Ächtung segmentärer, polis-gefährdender Abstammungsgruppen finden sich bezeichnenderweise auch in
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Isokr. or. 16.26 (Vom Pferdegespann). Nikolaos v. Damaskus FGrH 90 F 60. So bereits Connor 1985, mit Diskussion aller einschlägigen Quellentexte. IG IX 12.3.609.9–13 = Koerner 1993, Nr. 47 = Meiggs/Lewis 13; dazu Hölkeskamp 1999, 177 f.; Link 1991 und Zurbach 2015. Noch im mittleren 4. Jahrhundert werden die beiden oikoi A und B im Zeusheiligtum von Labraunda auf dem Architrav des jeweiligen Gebäudes als andron betitelt (IvLabraunda II 14 und 15); dazu Leypold 2008, 92–96. Dazu s. auch Schmitz 2004, 362–370 mit weiteren Quellenbelegen für die Fortführung dieses doppelten Strafverfahrens in klassischer Zeit.
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attischen Tragödien des 5. Jahrhunderts. Nur wird in diesen, wenn von Schleifung als Strafmaßnahme die Rede ist, für ‚Haus‘ infolge eines auf Überhöhung und epische Distanz abzielenden Sprachgebrauchs nicht oikia, sondern domos verwendet.42 Und domos erinnert in diesem Zusammenhang natürlich nicht nur begrifflich, sondern auch bedeutungsmäßig unmittelbar an die stasis-Dichtung des Alkaios. Megas domos und Myrsileion in den stasiotika des Alkaios Paradigmatisch für eine Architektur der stasis und segmentären Gruppenbildung steht das dichterische Bild über den megas domos des Mytileners Alkaios, der im Glanz der darin aufgehängten Waffen erstrahlt.43 Die indirekte Kampfparänese, die mit diesem Bild des schwerbewaffneten ‚Hauses‘ an die Zuhörergruppe des Alkaios adressiert wird, entfaltete ihre größtmögliche Wirkungskraft sicherlich dann, wenn sie auch in einer gewissen Weise mit der Alltagsrealität übereinstimmte44 – wenn sich also tatsächlich schwerbewaffnete Männergruppen zum gemeinsamen Opfermahl, Weinumtrunk und anderen symposialen Vergnügungen in fest gebauten megaloi domoi einfanden.45 Ohne solche Fest- und Clubhäuser hätten sich wohl kaum jene Hetairien als eingeschworene promachoi-46 und Symposions-Gruppen bilden können, die im späten 7. und frühen 6. Jahrhundert miteinander um die Alleinherrschaft über Mytilene wetteiferten und dabei auch vor bewaffneten Konflikten nicht zurückscheuten.47 Zweifellos war Alkaios Anführer und lyrischer Sprecher einer solchen Hetairie. Als solcher richtet er auch ganz gezielt in einem seiner Gedichtfragmente die Frage an seine schwerbewaffnete hetairoi-Gruppe, ob die Waffen des Dinnomenos, ein Mann des Pittakos, noch immer im Myrsileion hingen?48 So beiläufig diese Frage auch klingen mag, die Antwort auf sie war für Alkaios und seine hetairoi von entscheidender politischer Bedeutung. So muss es sich nämlich bei diesem Myrsileion um ein ‚Haus‘ handeln, das zur totenkultischen Verehrung des verstorbenen Myrsilos und als Clubhaus seiner auf ihn eingeschworenen hetairoi errichtet worden war. Myrsilos hatte sich zum Alleinherrscher über Mytilene aufgeschwungen, nachdem Pittakos und der Bruder des Alkaios den vorgängigen Tyrannen Melanchros gestürzt hatten. Dabei gelang es ihm, sich mit Pittakos zu verbünden, obwohl dieser einst im megas domos des Alkaios 42 43 44 45 46 47 48
Siehe Eur. Herc. 565–568, 861–866, 1279 f.; Aischyl. Choeph. 48–53; Timoth. Persae fr. 15.178–181; dazu ausführlich Connor 1985, 88–96; siehe auch Rabinowitz 2009, 139–142. Alkaios Frg. 140 Lobel/Page; dazu zuletzt mit weiteren wichtigen Literaturhinweisen: Clay 2013 und Strauss Clay 2016, 204–207. Rösler 1980, 149; Spelmann 2015; Strauss Clay 2016, 207. Tsomis 2001, 20 f.; Rabinowitz 2009, 138 f. Zur Definition des promachos auf Basis der homerischen Epen siehe Ulf 1990, 139–141. Kõiv 2016, 28–33 mit älteren Literaturhinweisen und Stein-Hölkeskamp 2015, 216 f. Alkaios Frg. 383 Lobel/Page; dazu Burnett 1983, 156 f.; kritisch dagegen Dale 2011, 19–21.
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beim gemeinsamen Opfermahl geschworen hatte, mit seinem Leben für die alkaische Hetairie einzustehen.49 Nach dem Tod des Myrsilos hatte Pittakos zum Ausbau seines Machtvorsprungs in die prominente Abstammungslinie der Pentheliden eingeheiratet, die ursprünglich über Mytilene geherrscht hatte. Außerdem gelang es Pittakos, auch noch den mytilenischen damos für sich zu gewinnen, worauf ihn dieser zum aisymentes ernannt und somit zum alleinigen Herrscher über Mytilene gemacht hatte.50 Erst vor diesem historischen Hintergrund wird der politische Zweck der Frage des Alkaios nach dem Standort der Waffen des Dinnomenos deutlich. Mit der Frage, wo die Waffen des Dinnomenos, der eigentlich ein hetairos des Pittakos war, hängen würden, erkundigt sich Alkaios nämlich danach, ob sich die Hetairie des verstorbenen Myrsilos beziehungsweise jene der Kleanaktiden, noch immer unter Kontrolle des Pittakos befinde. Dies zu wissen, war für Alkaios deshalb so wichtig, weil die Fusion der Hetairie des Pittakos mit jener des Myrsilos und die Heiratsallianz mit den Pentheliden zu einem Überlegenheitsmoment an schwerbewaffneten hetairoi geführt hatte, das Alkaios und seine Abstammungslinie ins Exil gezwungen hatte.51 Das erneute Ergreifen der Waffen an den Wänden des nur noch dichterisch gegenwärtigen megas domos der in der Fremde befindlichen Hetairie des Alkaios52 konnte folglich erst dann wieder zum Erfolg führen, wenn die Kleanaktiden respektive deren promachoi im Myrsileion nicht mehr unter dem Einfluss von Männern des Pittakos standen und so möglicherweise als neue Verbündete gewonnen werden konnten – mit dem Ziel, gemeinsam das nötige Mehr an schwerbewaffneten hetairoi aufzubringen, um so eine siegreiche Heimkehr nach Mytilene zu ermöglichen.53 Ausgehend von der Dichtung des Alkaios kann man wohl annehmen, dass nicht nur in Mytilene am Beginn des 6. Jahrhunderts die megaloi domoi oder oikia mächtiger Abstammungslinien im Mittelpunkt des Kampfes um zentrale Machtgewalt standen.54 Leider haben sich auf Lesbos bisher keine architektonischen Überreste von solchen hetairischen Club- und Festhäusern aus archaischer Zeit gefunden. Immerhin lassen sich aber für das 7. Jahrhundert in Antissa und Klopedi Durchführungen von Banketten an Örtlichkeiten einer älteren Toten- und Ahnenverehrung nachweisen, die wohl auf kultische Zentralorte von lesbischen -idai-Gruppierungen zurückzuführen sind.55 Erst um die Mitte des 6. Jahrhunderts wurde in Klopedi, das sich mitten im Binnenland der Insel Lesbos befindet, ein monumentaler oikos-Bau mit bemalten Dach49 50 51 52 53 54 55
Alkaios Frg. 129 Lobel/Page; dazu s. den Kommentar von Tsomis 2001, 174–176. Zu dieser Rekonstruktion des historischen Geschehens s. Kõiv 2016, 28–33 mit den entsprechenden Quellen- und Literaturhinweisen. Alkaios Frg. 70 Lobel/Page; dazu Gagné 2009 sowie Kõiv 2016, 29 und 31. Spelmann 2015. So wohl insinuiert in Alkaios Frg. 70.8 f. Lobel/Page; dazu Clay 2013, 21–24. Umschrieben bei Ulf 1990, 129–133 auf Basis der ‚Homerischen Gesellschaft‘ als Typus 1 von hetairoi-Verbänden. Antissa: Spencer 1995; Klopedi: Roungou/Douloumpekes/Kossyphidou 2017, 116–118.
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ziegeln, figürlich verzierten Akroteren und Tonplatten zum Schutz des hölzernen Gebälks errichtet.56 Seine Fundamente überbauten unmittelbar die aufgelassenen Überreste der zuvor erwähnten, älterarchaischen Toten- und Ahnenkultstätte.57 Ein Fragment der tönernen Gebälkverkleidung des archaischen oikos-Baus zeigt noch Reste einer Klinengelage-Darstellung,58 was gut zu seiner Nutzung als Club- und Festhaus einer symposialen promachoi- und hetairoi-Gruppe im totenkultischen Zentrum einer lesbischen Abstammungslinie passen würde. Insofern könnte der archaische oikos-Bau in Klopedi durchaus das gebaute Pendant zum megas domos und zum Myrsileion in der Dichtung des Alkaios darstellen.59 Banketthäuser als prytaneia im 6. Jahrhundert – Zentren der Konsolidierung Um Architekturen der stasis und festgebauter Zentren segmentärer -idai- und -adai-Gruppierungen handelt es sich zweifellos auch bei den Bauten und Banketthäusern in den archaischen Kultbezirken auf der Anhöhe von Akron60 (Abb. 9) und auf dem Çatallar Tepe61 (Abb. 10) im Umland von Milet. Beide wurden in den mittleren Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts als kultische Zentren zweier mächtiger lokaler Abstammungslinien eingerichtet. Im ummauerten kultischen Geviert von Akron befand sich zwischen zwei Versammlungs- und Festhäusern eine 23 m lange Halbkreisbasis, auf der einst mindestens 15 marmorne Sitzstatuen von Männern und Frauen standen. 56
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Die den oikos umgebende Ringhalle wurde wohl erst (bei einem Wiederaufbau?) in hellenistischer Zeit angebaut. So erinnern zum einen die gedrängten Grundrissproportionen des Peripteros um den Naos A an hellenistische Ringhallentempel (Scully 2013, xcix). Zum anderen lässt sich ein solcher Anbau einer Ringhalle an einen älteren naos auf Lesbos im 4. Jahrhundert noch inschriftlich belegen (IG XII 2.11), wenngleich das Heiligtum, in dem diese bauliche Maßnahme vorgenommen wurde, nicht mehr genauer bestimmbar ist; dazu Heisserer 1988, bes. 123 f. Roungou/Douloumpekes/Kossyphidou 2014, 41–50; Roungou/Douloumpekes/Kossyphidou 2017, 118–120. Roungou/Douloumpekes/Kossyphidou 2014, 47. So gesehen muss der Rest einer männlichen Namensinschrift auf einer unverzierten Tonplatte aus dem Bereich des oikos, die auf den Genitiv -λωνος endet, nicht zwangsläufig eine Dedikation an Apollon indizieren (so Roungou/Douloumpekes/Kossyphidou 2014, 50). Genauso kann sich darin eine Weihung an den Begründer einer lesbischen Abstammungslinie zu erkennen geben, der einen männlichen Eigennamen mit entsprechender Genitiv-Endung trug (wie etwa jene von Solon oder Gelon). Eine solche Nutzung des oikos als gebautes Heroon sowie als Club- und Festhaus einer symposialen promachoi- und hetairoi-Gruppe im Herzen einer lesbischen Abstammungslinie könnte auch eine Erklärung dafür liefern, weshalb am Ende des 6. Jahrhunderts wenige Meter nordöstlich des oikos ein monumentaler Ringhallentempel äolischer Ordnung gebaut worden war (Roungou/Douloumpekes/Kossyphidou 2014, 51–56). Offenbar diente der oikos eben nicht als reine repräsentative Umhüllung der Epiphanie einer Gottheit im Innern des Hauptraumes. Zum diesem Zweck hatte man allem Anschein nach den zweiten Monumentalbau B mit Kultbildbasis als ausschließlichem Bauwerk für die Gottheit an der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert errichtet. Zuletzt dazu mit Diskussion der älteren Forschung s. Slawisch und Wilkinson 2018. Lohmann/Kalaitzoglou/Lüdorf 2010.
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Abb. 9 Archaischer Kultbezirk auf dem Höhenrücken des Akron im südlichen Umland Milets.
Ihr Ausgräber, Kurt Tuchelt, interpretiert sie als Darstellungen von verstorbenen Angehörigen eines mächtigen genos.62 Irgendwann im 5. Jahrhundert wurden schließlich die Bauten und Terrassenmauern dieses Kultbezirks niedergerissen, die thronenden Sitzfiguren zu Kleinstfragmenten und somit das kultische und soziale Zentrum dieser segmentären Abstammungslinie zerschlagen.63 Den Sitz einer anderen kultgemeinschaftlichen Abstammungsgruppe, diesmal im nördlichen Umland Milets,64 bezeugt die Kultstätte auf dem Çatallar Tepe. Diese wurde über den Ruinen eines sakralen Vorgängerbaus und innerhalb einer mit einem Wall umgebenen älteren ‚karischen‘ Siedlung eingerichtet. Das eigentliche Zentrum dieses Kultkomplexes bestand aus einer lesche, die ohne eine interne Verbindung an einen monumentalen oikos-Bau angebaut war. Entlang der erhaltenen Mauersockel der lesche fanden sich Überreste von Waffen, die einstmals an den Wänden aufgehängt waren, 62 63 64
Tuchelt/Schneider/Schattner/Baldus 1989, 211. Tuchelt/Schneider/Schattner/Baldus 1989, 216. Greaves 2010, 105 f.; siehe auch im sogen. homerischen Schiffskatalog Hom. Il. 2.867–869; dazu Herda 2013a, 429; anders Lohmann 2012a.
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Abb. 10 Archaischer Kultbezirk auf dem Catallar Tepe im Zentrum der Mykale.
darunter mindestens elf Lanzen- und Speerspitzen, ein Lanzenschuh aus Eisen und ein bronzenes Schildzeichen. Angesichts dieser Waffenfunde in der lesche fühlt man sich unmittelbar an das von Alkaios besungene megas domos erinnert, an dessen Wänden die Schilde, Helme, Panzer, Schwerter und Speere seiner Hetairie hingen.65 Genauso wie das alkaische Club- und Festhaus war auch die lesche auf dem Çatallar Tepe nicht nur der sichere Aufbewahrungsort der Waffen einer schwerbewaffneten hetairoi-Gruppe, sondern zugleich auch ihr fest gebautes Lokal zum gemeinsamen Opfermahl und Weinumtrunk. Dies bezeugen zahlreiche Scherbenfunde von Bankettgeschirr, die auf dem Lehmestrich der lesche gemacht werden konnten. Hinzu kommen Elfenbeinapplikationen kostbarer Speisesofas.66 Wenige Jahre nach seiner Begründung um 560 wurde dieser Kultkomplex bereits wieder nach 10 bis 20 Jahren durch Brand zerstört.67 Eine ganz und gar gegenteilige Funktion zu den segmentären Club- und Banketthäusern auf dem Akron und Çatallar Tepe besaß schließlich das sogenannte Delphinion an der Nordost-Ecke der agora Milets (Abb. 11). Diese Kultanlage konnte jüngst als das prytaneion der Molpoi identifiziert werden.68 Sie bestand aus zwei antithetisch angeordneten Hallen, die mit ihren ca. 60 cm breiten Sitzbänken als Versammlungsund Banketträume dienten. Im Schutt dieses Kultkomplexes kam eine 2,54 m hohe Marmorplatte zum Vorschein, auf der eine hellenistische Kopie der Molpoi-Satzung in ihrer Abfassung von 450/49 eingemeißelt war. Diese dürfte in ihrem Kern auf ein 65 66 67 68
So bereits Lohmann 2012b, 96. Lohmann 2012b, 104–108. Lohmann u. a. 2007, 137 f. Herda 2005.
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Reglement von 525/24 oder sogar von 540/39 zurückgehen, in dem der Ablauf der Amtsübergabe des alten aisymnetes mit seinen drei proshetairoi anlässlich des milesischen Neujahrsfestes an den neuen aisymnetes mit seinen neuen proshetaroi schriftlich festgehalten worden war.69 Dabei wurden auch symposiale Riten vollführt: „(Am 8. Tag) trinken der Aisymnetes und die Proshetairoi (zusammen), wenn die Kratere alle dargebracht sind und sie den Paian gesungen haben.“70
In Zeile 16 heisst es dann wörtlich bei der Wiederholung dieses Ritus am 10. Tag, dass die Prytanen im Molpon „oinon pinousi“, also gemeinsam Wein trinken, sprich ein Symposion im Delphinion veranstalten. Die beiden Wörter proshetairos und Symposion evozieren dabei klarerweise die Vorstellung einer archaischen Hetairie. Nur setzte sich dieser symposiale Männerbund nicht mehr wie im Fall der lesche auf dem Çatallar Tepe aus den Schwerbewaffneten einer Abstammungslinie zusammen. Vielmehr wurde er besetzt mit den Anführern solcher heroisierter, segmentärer Abstammungsgruppen wie auf dem Çatallar Tepe oder Akron. Auf diese Weise wurden die mächtigsten Männer innerhalb des milesischen Territoriums im Versammlungslokal der molpoi an der agora zu einer polis- und chora- übergreifenden Hetairie zusammengeführt, allerdings zeitlich beschränkt als Prytanie auf ein Jahr.71 Als Zwischenbilanz kann folglich Folgendes festgehalten werden: Das Basisprinzip der sozialen Organisation bildeten in der archaischen Polis von Milet ahnenkult-gemeinschaftlich begründete Abstammungslinien. Der Wunsch zu ihrer Verstetigung und Verdinglichung als relativ eigenständige Segmente im Gesamtverband der milesischen polis-Gemeinschaft hatte im 6. Jahrhundert zur Einrichtung ‚ländlicher‘ Kultbezirke wie auf dem Çatallar-Tepe und Akron geführt. Zudem dürfen im Um- und Hinterland zum archaischen Milet weitere solche Kultstätten segmentärer Abstammungslinien angenommen werden: a) unmittelbar vor dem späteren Stadttor Milets, mit der Grabstätte des Neileos im Zentrum,72 b) das sogenannte Nymphenheiligtum 69 70 71 72
So Herda 2006b; kritisch dazu mit Vorschlägen der Herabdatierung in hellenistische Zeit s. Slawisch und Wilkenson 2018, 130–132. IMilet 1.3.133 Z 7 f.: ὁ δὲ αἰσυμνήτης καὶ {ο} προσέταιρος προσαιρεται, ὅταν οἱ κρητῆρες πάντες σπεσθέωσι καὶ παιωνίσωσιν· (Übersetzung Alexander Herda). Zu den molpoi als einem politisch austarierenden, höchsten Gremium der archaischen Polis von Milet, dem auch kultische Funktionen zukam, s. auch Grote 2016, 180–196. Paus. 7.2.6; dazu Herda 1998, 5–7. Aus der kurzen Erwähnung des Pausanias ergibt sich das literarische Zeugnis zu einer Grabstätte im Zentrum des abstammungsgemeinschaftlichen Kultes der Neilidai, der vor dem Heiligen Tor auf der linken Seite zur Heiligen Straße in einem Bereich eingerichtet worden war, wo sich in großer Tiefe Reste von geometrischen und archaischen Gräbern fanden. Die Parallele zum Heroon am späteren Westtor von Eretria und zum Archegesion auf Delos ist damit augenfällig. Gegen die Annahme, es habe sich dabei von Anbeginn an um den Heroenkult des Begründers von Milet gehandelt, spricht die dafür letztlich doch dezentrale Lage der Kultstätte. Im Fall von Kyrene, Poseidonia (Paestum), Megara Hyblaia, Selinunt und Sikyon wurden zur Verehrung der Gründerheroen entsprechende Heroa und Kenotaphe an oder gar auf der Agora eingerichtet (Herda 2013b, 87–90). Infolge entsprechender Inschriften ist erst für die
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auf dem Akron, rund 2 km südlich des archaischen Kultbezirkes mit den Sitzstatuen auf der Halbkreisbasis,73 c) bei Assesos, 9 km südöstlich von Milet im Nordosten des Stefaniaplateaus,74 sowie d) das kultische Geviert, in dem einstmals die thronenden Marmor-Bildnisse aus dem genos des archos von Teichoussa, Chares, Sohn des Kleisos, errichtet waren, und wo gemäß der molpoi-Satzung bei der großen Prozession ein Päan zu singen war (Abb. 11).75 Im Zentrum all dieser Kultstätten standen wohl einst Banketthäuser, die als Clubhäuser der schwerbewaffneten Männergruppen der heroisierten Abstammungsgruppen fungierten. Unter Rückgriff auf und in Anlehnung an die kontemporäre Dichtung können diese symposialen promachoi-Gruppen als Hetairien angesprochen werden. Wie gleichfalls die Lyrik des Alkaios lehrt, konnten solche bewaffneten Männergruppen im Kampf um die zentrale Machtgewalt unterliegen und geächtet werden. Ein solches Schicksal hatte offenbar jene milesische Abstammungslinie erlitten, die ihren ahnenkult-gemeinschaftlichen Kultbezirk auf dem Çatallar Tepe hatte. Anders lässt sich die jähe Brandzerstörung dieses Kultbaukomplexes wenige Jahre nach seiner Fertigstellung in den 550/40er Jahren kaum erklären. Einem entsprechenden Schicksal scheint dagegen die Abstammungsgruppe auf dem Akron bis in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts dadurch entronnen zu sein, dass sie es wohl durch Sitz und Einfluss im prytaneion – bzw. im Delphinion an der agora – zuwege gebracht hatte, dass ihr ahnenkult-gemeinschaftliches Zentrum eine Einbindung in die Sakral- und Kulttopographie der polis Milet erfahren hatte. Denn an jenem führte jene Heilige Straße vorbei, die das kultische polis-Zentrum, das Delphinion, mit dem südlichsten Grenzheiligtum der polis in Didyma verbunden hatte (Abb. 11). Nicht nur bildlich, sondern auch praktisch war damit der Weg des Anführers dieser heroisierten Abstammungsgruppe auf dem Akron ins molpoi-prytaneion an der agora Milets vorgeebnet. Genauso war aber mit seinem Einzug in die prytanische Hetairie im Delphinion zugleich auch sein Auszug aufgrund der molpoi-Satzung zeitlich festge-
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hellenistische und römische Zeit gesichert, dass sich die Milesier auch selbst als Neilidai bezeichneten und somit als Abkömmlinge ihres heroischen Stadtgründers Neileos betitelten (Herda 1998, 19 Anm. 137 und 2013, 92 Anm. 127 und 128). Bestehend aus mit Stützmauern angelegten Terrassierungen und Gebäuderesten entlang der ‚Heiligen Straße‘ von Milet nach Didyma, mit keramischen Oberflächenfunden archaischer, hellenistischer und byzantinischer Zeit. Es ist aber vor allem das Fragment einer marmornen Sitzfigur mit dem erhaltenen Rest einer Weihinschrift („Sohn des Euagoras, [dies] den Nymph[en]“), die an ein kultisches Geviert nach dem Vorbild des archaischen Kultbezirkes auf dem Akron denken lässt; dazu zuletzt: Slawisch und Wilkinson 2018, 110 f., 118 sowie 120 Abb. 9. Ein paar architektonische Überreste zusammen mit Architektur-Terrakotten des 6. Jahrhunderts sowie eine Ascheschicht auf dem Mengereb Tepe beim antiken Assesos, in welcher vor allem Bankettkeramik, Ziegelbruchstücke und Waffenfragmente gefunden wurden und die infolge eines Brandereignisses am Ende des 6. Jahrhunderts entstanden war, erinnern an den Befund auf dem Çatallar Tepe; dazu Kalaitzoglou 2008. Zuletzt dazu Slawisch und Wilkinson 2018, 121–127; siehe aber auch Duplouy 2006, 203–214 und 223–236.
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setzt und damit seine Rückkehr nach einem Jahr auf der Heiligen Strasse ins Heroon und Clubhaus seiner Abstammungslinie auf dem Akron gewiss.76 Insofern fungierte die Heilige Strasse Milets, wie es Martin Mohr ausdrückt, als ein Weg der ausgleichenden politischen Mitte.77 Milet stellte nun mit seinem Delphinion als Banketthaus und Amtssitz der Prytanen im 6. Jahrhundert keineswegs eine Ausnahme dar. Eine entsprechende Organisation der Prytanie als Hetairie überliefert Pindar in seiner 11. Nemeischen Ode auch für Tenedos: „Tochter Rheas, die du Ratshäuser innehast, Hestia, / Zeus’ edles Höchsten Schwester und der mitthronenden Hera, / nimm Aristagoras gut auf in Deinem Gemach, / gut auch die Gefährten (hetairoi) beim glanzvollen Szepter, / die, dich verehrend, aufrecht erhalten Tenedos, / viel mit Trankopfern huldigend dir zuerst unter den Göttern, / viel mit Opferdampf; und Lyra rauscht bei ihnen und Lied, / und das Recht des Gastherrn Zeus wird auf immerströmenden / Tischen geübt; so lass mit Ansehen das Amt, / das zwölfmonatige, ihn vollenden mit unverwundetem Herz.“78
Auch das prytaneion in Mytilene beherbergte eine symposiale Versammlungshalle, in welcher Sapphos Bruder Larichas schon als Jüngling den gewählten Vorstehern der polis den Wein auszuschenken hatte.79 Des Weiteren fungierte ebenfalls das archaische prytaneion in Kyzikos als Banketthaus. Dies geht aus dem Exklusivrecht der Speisung und damit des festen Sitzes in der prytanischen Hetairie von Kyzikos hervor, das auf Beschluss des demos für die Kinder und Nachkommen zweier mächtiger Männer namens Medikes und Aisepos auf einer Stele des ausgehenden 6. Jahrhunderts inschriftlich festgehalten worden war.80 76
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Auf ein derartiges Wechselspiel zwischen stasis und eunomia scheinen auch die historiographischen Überlieferungen zum archaischen Milet bei Herodot, Herakleides und Plutarch zu verweisen. Wenngleich sie durch die Brille nacharchaischer stasis-Theorien vor allem über Kämpfe zwischen Reichen und Armen als gegnerischen Klassen berichten, so fällt doch auf, dass dabei auch die Rede von Hetairien und deren Ausmerzung die Rede ist. In Zusammenhang mit Letzterem steht auch die sogenannte Ächtungsinschrift aus Milet, die heute wieder heraufdatiert und einem Erlass des späten 6. oder frühesten 5. Jahrhunderts und damit dem Umfeld der Bestrafung von mit Blutschuld beladenen Hetairien zugeordnet wird; siehe dazu: Hölkeskamp 1999, 211–217; Gorman 2001, 101–128; Slawisch 2009; Guth 2017. Mohr 2013. Pind. N. 11.1–10 (Übersetzung Reinhold Merkelbach 1980, 83): Α’ Παῖ Ῥέας, ἅ τε π’ ρυτανεῖα λέλογχας, Ἑστία, / Ζηνὸς ὑψίστου κασιγ’ νήτα καὶ ὁμοθ’ ρόνου Ἥρας, / εὖ μὲν Ἀρισταγόραν δέξαι τεὸν ἐς θάλαμον, / εὖ δ’ ἑταίρους ἀγ’ λαῷ σκάπτῳ πέλας / οἵ σε γεραίροντες ὀρθὰν φυλάσσοισιν Τέ νεδον, / πολλὰ μὲν λοιβαῖσιν ἀγαζόμενοι πρώταν θεῶν, / πολλὰ δὲ κ’ νίσᾳ· λύρα δέ σφι β’ ρέμεται καὶ ἀοιδά· / καὶ ξενίου Διὸς ἀσκεῖται θέμις αἰενάοις / ἐν τραπέζαις· ἀλλὰ σὺν δόξᾳ τέλος / δωδεκάμηνον πε ρᾶσαί νιν ἀτ’ ρώτῳ κραδίᾳ. Siehe dazu vor allem auch Fearn 2009. Sappho Frg. 203a Voigt. Mordtmann 1880; dazu s. auch Hölkeskamp 1999, 172 f. Auf diese Funktion als Banketthaus des Prytaneions von Kyzikos verweist auch noch eine spätere Überlieferung bei Liv. 31.20 und Plin. nat. 36.99, nach der noch Antiochos Epiphanes goldenes Bankettgeschirr für das kyzikenische Prytaneion gestiftet haben soll.
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Abb. 11 Kulttopografie im südlichen Umland Milets mit Kennzeichnung der Kultbezirke heroisierter Abstammungsgruppen.
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Angesichts dieser schriftlich überlieferten Ausgangslage sind wohl all jene freistehenden Banketthäuser, die sich auf oder am Rand einer agora befinden, höchstwahrscheinlich als prytaneia zu identifizieren.81 Insgesamt wurde so im 6. Jahrhundert in einer Reihe von poleis durch die Errichtung und Nutzung freistehender Banketthäuser als prytaneia ein Typ von Baukörper geschaffen, der in Stein gebaut die Versammlung der Anführer mächtiger Abstammungslinien (gene, phylai, phratriai etc.) einer polis über die Amts- und Lebenszeit von bestimmten Personen hinaus verdauerte und diese Einrichtung dadurch gewissermaßen enthistorisierte. Die Prytanie wurde so zu einer festen Institution, die die Interessenskonflikte und Konkurrenz zwischen den mächtigsten Männern einer archaischen Polis ausgleichen konnte. Denn durch zeitliche Beschränkung und Eingliederung in die prytanische Hetairie konnte unterbunden werden, dass ein Mann so viel Einfluss erlangte, dass er die vereinte Macht der anderen Hetairie-Mitglieder im prytaneion hätte übertreffen und so Tyrann werden können. Damit ist die Hierarchie, wie sich noch im Fall des hekatompedos Ed2 in Eretria durch einen Einberufer und zentralen Umverteiler gegeben war, in eine Heterarchie zwischen den Anführern von segmentären Abstammungslinien überführt worden. Versammelt als Prytanen waren sie gleichrangig, bildeten aber zusammen die mächtigste Hetairie im Sozialgefüge der archaischen Polis. Als solche agierte die Prytanie als eine höchste ‚dritte Instanz‘, die das kompetitive Verhalten und Machtstreben unter ihresgleichen reglementierte (Abb. 3.3).82
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So etwa: das hestiatorion (um 550) am Ostrand der Agora von Selinunt (Mertens 2006, 182); das isodome Breitraumgebäude (6. Jahrhundert) mit vorgelagertem Querraum und möglicher eschara an der Südost-Ecke der Agora von Kyrene (Purcaro 2001, 49–56); das Dreiraumgebäude (2. Hälfte des 6. Jahrhunderts) an der Südost-Ecke der Agora von Megara Hyblaia (Mertens 2006, 69 f.); die sogenannte ‚casa arcaica‘ (530) mit andron und entsprechenden symposialen Beifunden an der Nordwest-Ecke der Agora von Poseidonia (Ficuciello 2017, 231–234); Gebäude C (Breitraumhaus mit zwei Räumen und entsprechenden symposialen Beifunden in der Brunnenverfüllung im zugehörigen Hof, 1. Viertel des 6. Jahrhunderts) an der Westseite der Agora von Athen, dazu Thompson 1940, 8–14 (als privates Wohnhaus interpretiert bei Kenzler 1999, 273 und Shear 1994, 229 f.; Schmalz 2006 lokalisiert dagegen das archaische Prytaneion von Athen an der sogenannten ‚Alten Agora‘ am Ostfuß der Akropolis; gegen die Existenz einer solchen ‚Alten Agora‘ argumentieren Kistler 1998, 162–168 und Doronzio 2011). Versammlungsräume für prytanische Hetairien konnten aber auch ganz einfach wie im Fall des Delphinion in Milet in für symposiale Zusammenkünfte ausgestatteten Rückräumen von stoai untergebracht gewesen sein, welche die agorai der neu entstandenen polis-Gemeinschaften umsäumten; so etwa die Stoa basileios an der Agora in Athen, die zur Aufstellung der Gesetze und für weitere öffentliche Zwecke genutzt wurde; dazu Shear 2011, 92–96 und Robinson 2016, 247. ‚Vorformen‘ zu diesem komplexen wechselwirksamen Verhältnis auch als Reibungsflächen zwischen den hetaroi-Typen 1 und 3 von Christoph Ulf finden sich bereits im Denken des homerischen Dichters (Ulf 1990, 154–157).
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Conclusio – Banketthäuser: Architekturen des Machtwettbewerbes und des Machtausgleichs Neben der Prytanie bildete sich ab dem späten 8. Jahrhundert eine weitere ‚dritte Instanz‘ heraus: die agora als zustimmende oder nichtzustimmende Versammlung des demos.83 Auch diese ‚dritte Instanz‘ erhielt – wie die Prytanie mit dem prytaneion – ab dem mittleren 7. Jahrhundert im zunehmend monumentalen Erscheinungsbild der poleis eine architektonische Ausformung in Gestalt eines fest eingerichteten freien Platzes. Als offene Versammlungsplätze überdauerten solche agorai oftmals Generationen und avancierten so zu jener zweiten politischen Instanz, welche ihrerseits die erste ‚dritte Instanz‘, die prytanische Hetairie, im Einhalten der gemeinsam ausgehandelten Regeln kontrollierte. Zu diesem Zweck begann man auch diese Regeln ab der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts immer häufiger als Gesetze schriftlich zu fixieren84 und im Umfeld der agora als Gesetzestafeln aufzustellen oder auf Außenwänden zentraler Kult- und/oder Versammlungsbauten einzumeißeln (Abb. 3.3).85 Dem prytaneion und der agora als die polis einenden und konsolidierenden Einrichtungen und Baukörpern standen all die Banketthäuser in den heiligen Bezirken von Ahnenkult-Gemeinschaften gegenüber, die als Clubhäuser schwerbewaffneter Hetairien dienten. Damit verstetigten sie in Stein, ja: institutionalisierten sie gewissermaßen die politische Agenda solcher Hetairien, nämlich das heterarchische Prinzip prytanisch (bzw. oligarchisch) verfasster poleis hierarchisch zu durchbrechen und ihren Anführer zum Tyrannen zu machen. Es ist also genau dieses wechselwirksame Spannungs- und Konkurrenzverhältnis zwischen den abstammungsgemeinschaftlichen Heroenkulten und den synoikistischen hekatompedoi, das ab dem zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts immer konkretere bauliche Formen als Setzungen neuer gesellschaftlicher Gruppenbildungen angenommen hatte.86 Denn auf der einen Seite entwickelten sich die hekatompedoi im nachfolgenden Jahrhundert zu noch monumentaleren Bauten, ja zu eigentlichen Ringhallentempeln, die immer stärker auf die prunk- und prachtvolle bauliche Inszenierung der Epiphanie der polis schützenden Gottheit(en) abgezweckt worden waren. Auf der anderen Seite antworteten auf diese Entwicklung die heroisierten Abstammungsgruppen dadurch, dass sie ihren promachoi als (symposialen) hetairoi auch ein Zuhause im wahrsten Sinne des Wortes schufen, in dem sie nämlich für diese in ihren Kultstätten einen domos oder oikos aus beständigen Baumaterialien errichteten. Diese Idee des Club- und Festhauses, in dem das Equipment für das gesellige Beisammensein beim Bankett wie auch die Rüstung und Bewaffnung für den
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Zum früharchaischen demos als Forum, von dem jenes Normensystem ausgeht, welchem jede Bewertung von Aktionen und Sachverhalten zugrunde liegt, siehe Ulf 1990, 164–171. Stein-Hölkeskamp 2015, 158. Dazu Hölscher 1998; Kenzler 2000; Ampolo 2012; Ulf und Kistler 2019. Zu Samos im 7. und 6. Jahrhundert als einem weiteren diesbezüglichen Fallbeispiel s. Mohr 2013.
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Einsatz als Schwerbewaffnete thesauriert werden konnte, war natürlich an keine feste Grundrisstypologie gebunden, sondern konnte je nach lokalem Bedürfnis in Gestalt megaron-artiger Bauten oder mehrräumiger Breitraumhäuser umgesetzt werden. Als fest gebaute Club- und Festhäuser verankerten sie diese neue Form elitärer Gruppenbildung im sozialen Gefüge archaischer poleis. Zugleich lieferten sie aber auch die soziale und bauliche Vorlage zur Umsetzung der Idee einer übergeordneten Prytanie als einer neuen politischen und architektonischen Einrichtung an der agora, die als eine ausgehandelte, symposiale Hetairie unter den Mächtigsten organisiert und zeitlich durch Rotation auf das Maß gemeinsamer Wohlfahrt (eunomia) beschränkt war.87 Die politische Funktion eines freistehenden Banketthauses war infolgedessen ganz und gar durch seine kult- und sozialtopographische Verankerung in der architektonischen Landschaft einer Polis vorgegeben: An der agora wurde mit ihm als baulicher Umsetzung und Verstetigung der Prytanie auf Stabilisierung abgezielt, wohingegen mit seiner Errichtung in der Kultstätte ahnengemeinschaftlicher Abstammungslinien die Verstetigung des Clubhauses segmentärer Hetairien bezweckt wurde. Als stabilisierende und destabilisierende Momente zwischen eunomia und stasis wurden jedoch diese freistehenden Banketthäuser ab 600 immer häufiger durch austarierende Heilige Straßen miteinander verbunden und damit in einem gemeinsamen religionspolitischen Kosmos der sich (trans-)formierenden Polisgemeinschaften dauerhaft eingebunden.88 Mit einem kurzen Ausblick ins 5. Jahrhundert soll dieser Beitrag zu Banketthäusern und sozialer Gruppenbildung im archaischen Griechenland schließlich enden: Ab dem späten 6. Jahrhundert verstetigte und verfestigte sich das heterarchische Basisprinzip oligarchischer Herrschaft immer mehr. An einzelnen Orten wie in Athen oder auch Samos ist es sogar kurz- oder längerfristig zu einer isonomia radikalisiert worden.89 Parallel dazu wurde der Klinengelage-Raum aus den Banketthäusern immer mehr entkoppelt und als neuer sozialer Raum, als andron, in den Wohnhäusern reicher und mächtiger Männer eingebaut.90 Auf diese Weise wurde der gesellige Weinumtrunk vom opfergemeinschaftlichen Fleischgenuss losgelöst und somit zum reinen Symposion.91 Zugleich hatten sich so die hetairoi im andron ihres Gastgebers der früheren ‚dritten Instanz‘ der Ahnenkult-Gemeinschaft entzogen. Symposiale Zusammenkünfte
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Dazu Stein-Hölkeskamp 2015, 143 f. Mohr 2013. Generell zu diesem Prozess zwischen Konkurrenz und Institutionalisierung – gerade in Hinblick auf die Herausbildung öffentlicher, hervorragender Positionen – im Gesellschaftsgefüge der sich politisch immer stärker verdichtenden poleis archaischer Zeit s. Stein-Hölkeskamp 2017, bes. 54–59, und die Einleitung dieses Bandes. Hierzu nach wie vor grundlegend: Frei 1981; s. auch jüngst Dmitriev 2015. Dazu Rabinowitz 2009, 138–140 und Nevett 2010, bes. 55. Die frühesten, in Wohnhäusern untergebrachten andrones finden sich in Selinunt (Mertens 2006, 328), Himera (Vassallo 1997, 82–85 und Vassallo 2005, 38 f., sowie 110 Abb. 41 f., 193 und 198), Halieis (Ault 2005, 69 f.) und Olynth (Hoepfner-Schwandner 1994, 98 f.). Nevett 2010, 58 f.
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von hetairoi waren sozusagen zu einem allgemeinen Habitus des polis-Bürgers geworden.92 Symposien wurden daher im Verlauf des 5. Jahrhunderts immer mehr zu einem hinter Hausmauern verborgenen Ort, wo mit der gegebenen Ordnung gebrochen und Kulte pervertiert werden konnten.93 Im komos wurde dieses Devianzverhalten wieder in die polis hinausgetragen. Rowdytum, Prügeleien und Schändungen kultischer wie öffentlicher Einrichtungen durch aristokratische Hetairien avancierten so immer mehr zu einer Nagelprobe der Macht: Wie weit und wie lange konnten sich solche symposiale Hetairien neben dem Gesetz – paranomia94 – bewegen, ohne dass dies von der polis-Gemeinschaft geahndet wurde?95
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Nevett 2010, 61 f.; Baughan 2011, 41; Corner 2015, 237 f. Murray 1990 und Bowie 1997. Hdt. 3.80.5; vgl. Fisher 2000, 103–106, bes. 103 f. Davidson 1997; Hobden 2013, 117–156; Corner 2015, 238–242.
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Appendix 1 Lage/Ort Ägina, Aphaiaheiligtum: sogen. Südosthäuser II–IV Ägina, Apollonheiligtum: Thearion Ägina, Kolonna-Hügel, Westkomplex: Südbau
Banketthaustyp Breitraumhaus mit drei Klinenräumen
Datierung spätarchaisch
Literatur Leypold 2008, 18–22
Breitraumhaus mit wohl ehemals zwei Klinenräumen
spätarchaisch
Walter-Karydi und K Hoffelner 1994
Breitraumhaus mit Hof und zwei Rückräumen
spätarchaisch
Aphrati, Kreta, sogen. bâtiment quadrangulaire Argos, Heraion: Westgebäude Athen, Westseite Agora, Gebäude C Delos, Archegesion: sogen. oikoi Delphi, Athenaheiligtum: sog. Priesterhaus Despotikos, Heiligtum: Gebäude A Eleutherna, Kreta, sogen. megaron Eretria, Heroon beim Westtor Korinth, Heiligtum der Demeter und Kore: M–N:20–26, N–O:24– 25, N–O:25–26, L:16– 17, M:17–18, L–M:14–15 und N:12–13 Kyme, bei der Porta Mediana Kyrene, Agora, Südostecke: Sogen. Prytaneion
Breitraumhaus mit mindestens einem Bankettraum
3. Viertel des 6. Jhs.
Felten u. a. 2006, 9–20 und 2007, 89–93 Viviers 1994, 245–247
Breitraumhaus mit drei Klinenräumen Breitraumhaus mit zwei Räumen Breitraumhaus mit vier Banketträumen Breitraumhaus mit zwei Klinenräumen Breitraumhaus mit zwei Banketträumen Oikos-Bau
spätes 6. Jh.
Kyrene, nordöstlich der Agora
Oikos mit Vor- und Hauptraum Einzelne und aneinandergereihte Klinenräume (15)
Breitraumhaus (?) mit mindestens zwei Banketträumen Breitraumgebäude mit vorgelagertem Querraum und möglicher eschara an der Südost-Ecke der Agora Breitraum-Gebäude mit dezentralem Eingang und Klinensockelrand
1. Viertel des 6. Jhs. 1. Hälfte des 6. Jhs. Ende 6. Jh. um 550 geometrischarchaisch letztes Viertel des 7. Jhs. Ende 6. Jh.
um 450 Ende 6. Jh.
3. Viertel des 6. Jhs.
Leypold 2008, 28–33 Thompson 1940, 8–14 Robert 1953 Leypold 2008, 54–57 Kourayos u. a. 2012, 99–105 Themelis 2003, 25–29 Bérard 1969, 74–76 Leypold 2008, 84–89, bes. 88
Revue archéologique 51, 2011/1, 152–154 Purcaro 2001, 49–56 Bacchielli 1981, 43–50
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Lage/Ort Marseille, Collège Vieux-Port Megara, Heiligtum des Zeus Aphesios Megara Hyblaia Messina, Palazzo Colapesce: oikos A Milet, Akron, Archaischer Temenos, Anten- und Ostbau Milet, Agora, Delphinion Milet, Catallar Tepe Naxos (Sizilien), Stadtplateau: ‚casa a pasta‘ Oropos, Westbezirk: ‚rectangular building‘ Paros, Delion: Nordraum des Südgebäudes Paestum, an der Nord-Westecke der Agora: sogen. casa arcaica Perachora, Heraion: sog. hestiatorion Prinias; Patela, sogen. Tempel A Selinunt, Akropolisheiligtum: Oikos A Selinunt, Agora: sog. hestiatorion Thasos, Herakleion: Theben, Kabirenheiligtum: mittlerer Rundbau 18 Yria auf Naxos, Dionysosheiligtum: Propyläen
Banketthaustyp Breitraumhaus mit zwei Banketträumen Zwei aneinandergereihte Klinenräume Breitraumhaus mit drei Klinenräumen Oikos mit Haupt- und Vorraum Oikos und einräumiges Breitraumhaus
Datierung um 540/30
zwei antithetisch angeordnete Hallen mit Sitzbänken Oikos mit angebauter lesche als Klinengelageraum Breitraumhaus mit drei Räumen
drittes Viertel des 6. Jh. mittleres 6. Jh.
Breitraumhaus mit drei Räumen Klinenraum mit Vorhalle in Gebäudekomplex
um 600
Bisher nur der Bankettraum als vollständiger Raum ergraben
um 530
Ficuciello 2017, 231–234
Breitraumhaus mit zwei Klinenräumen Oikos-Bau
spätes 6. Jh.
Breitraumhaus mit zwei Klinenräumen
um 550
Leypold 2008, 117–119 Palermo, Pautasso & Rizza 2007, 267–278 Mertens 2006, 186
Einraumhaus mit Klinenraum Oikos mit Klinenraum und Breitraumhaus mit Sitzbank Rundbau mit Sitzbank
um 550
Mertens 2006, 182
erste Hälfte 6. Jh. um 500
Bergquist 1999
Zwei Klinen-EinraumGebäude
spätes 6. Jh.
Leypold 2008, 156 mit Anm. 787
Ende 6. Jh. 2. Viertel des 6. Jh. um 600 drittes Viertel des 6. Jh.
2. Hälfte des 7. Jhs.
spätarchaisch
7. Jh.
Literatur Gantès & Mellinand 2006 Leypold 2008, 100–103 Mertens 2006, 69 f. Bacci u. a. 2012 Tuchelt, Schneider, Schattner & Baldus 1989 Herda 2006b Lohmann 2012a und b Cordsen 1995, 105–109 Charalambidou 2017, 131 f. Leypold 2008, 114–117
Leypold 2008, 128–130
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Abbildungsnachweise Abb. 1: Abb. 2:
Nach Mazarakis Ainian, 2017, Abb. 17.1 (Phase des 7.–6. Jhs. wurde gelöscht). S. A. Paspalas, M. C. Miller & L. A. Beaumont, Zagora Archaeological Project: 2014 Season, Bulletin. The Australian Archaeological Institute at Athens 11, 2015, 12–15 Abb.1. Abb. 3: © Ch. Ulf und E. Kistler. Abb. 4: Verdan 2012, Abb. 3. Abb. 5: Verdan 2012, Abb. 1. Abb. 6: © Schweizerische archäologische Schule in Griechenland: Beischriften und abgeänderte Legende von E. Kistler. Abb. 7: Nach Robert 1953, Abb. 1. Abb. 8: Nach Feltens u. a. 2007, Abb. 1. Abb. 9: Nach Tuchelt u. a. 1989, Abb. 88. Abb. 10: Nach Lohmann 2012a, Abb. 4.1. Abb. 11: Nach Herda 1996, Abb. 2.
Schlüsselmonopole oder Governance-Funktionen? Alternative Annäherungen an Staatlichkeit in der griechischen Archaik* Christoph Lundgreen Abstract: This essay analyses two conceptually different approaches to understanding the intricate relationship between competition, monopoly and institutionalisation in Archaic Greece. The first one, adopting Norbert Elias’ concept of ‘key monopolies’, elucidates both the processes of state-formation and the concept of ‘competition for the monopoly apparatus’ to explain the emergence of offices and appointments to them. The second one follows P. Genschel and B. Zangl, who view the state not as monopolist, but rather as a ‘manager of political authority’ and investigate the interaction of various governance actors: this approach enables us to interpret the majority of (epigraphically preserved) regulations from the early Greek world, which illustrate how the polis made decisions centrally yet continued to rely on decentralised enforcement. We can, however, identify other areas, such as land allocation and burial regulations, in which the polis also took charge of the implementation of such measures. The aspect of competition further highlights that we should envision the interplay of governance actors as a zero-sum game. For example, the involvement of the polis in funerals was accompanied by a diminishing role of families or oikoi, as reflected both in inscriptions and, inter alia, in Sophocles’ Antigone. Both approaches thus reveal the heuristic potential of competition and institutionalisation and offer a complementary approach to the topic of Staatlichkeit in Archaic Greece.
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Der vorliegende Artikel hat stark von den angeregten Diskussionen innerhalb des DFG-Netzwerks profitiert. Für kritische Lektüre, Kommentare, Nachfragen und Hinweise ist darüber hinaus speziell Dank zu sagen an Uwe Walter, Gunnar Folke Schuppert, Philipp Genschel, Florian Meinel, John K. Davies, Gunnar Seelentag und Alain Duplouy. Das Argument beruht auf meiner 2019 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden angenommenen Habilitationsschrift „Staatlichkeit in der frühen griechischen Antike“, mit der auch manche Passagen dieses Textes identisch sind.
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Christoph Lundgreen
Einleitung Fragen nach Schlüsselmonopolen oder Governance-Funktionen, vor allem Annäherungen an ‚Staatlichkeit‘ scheinen auf den ersten Blick zur allgemeinen Ausrichtung des Netzwerks etwas versetzt zu liegen. Dies gilt zumal, da sich erstens die konzeptionelle Einleitung dieses Bandes gerade (und zu Recht) vom Paradigma der Staatsentstehung für die griechische Archaik absetzt und ich mich zweitens dem Phänomen der Konkurrenz gleichsam von der anderen Seite, nämlich vom Gegenbegriff des Monopols her annähere. Konzeptionell steht damit auch nicht Georg Simmel im Mittelpunkt, sondern es soll um die alternativen Ansätze von Norbert Elias einerseits und neuerer Governance-Forschung andererseits gehen. Beide Annäherungen zeigen dann aber, wie einschlägig die vielfältig ersichtlichen Formen von Konkurrenz für Institutionalisierungsprozesse in der Archaik sind, worunter unzweifelhaft auch die von mir diskutierten Dimensionen von Staatlichkeit zu fassen sind. Was unter Staatlichkeit sowie der vor allem untersuchten Dimension von stateness im Sinne des variierenden Anteils von Governance-Akteuren an Governance-Funktionen (was man zusammen als Governance-Konstellation fassen kann) verstanden werden soll, wird in den folgenden beiden Punkten erläutert beziehungsweise zunächst in Abgrenzung zum Ansatz von Nobert Elias und seiner Vorstellung von Staatsbildung durch die Kontrolle von Schlüsselmonopolen konturiert (1.1). Auch wenn es mir hauptsächlich um anderes geht, ich nicht den entstehenden ‚Staat‘, sondern die Durchdringung einer Gemeinschaft durch den ‚Staat‘ in den Fokus nehmen möchte, lohnt eine kurze Wiedergabe der Gedanken von Elias. Nicht nur im Sinne einer Schärfung durch Differenz, sondern auch, weil bestimmte Denkfiguren und Begrifflichkeiten von Elias an anderen Stellen, wie bei der Konkurrenz um Ämter in der Archaik, sehr wohl anwendbar und anschlussfähig sind. Gleichwohl soll der wirkmächtigen Rede von Schlüsselmonopolen im dann folgenden Punkt die von Philipp Genschel und Bernhard Zangl vorgeschlagene Figur des Staates als „Herrschaftsmanagers“ gegenübergestellt werden (1.2). Dies schlägt weiter den Bogen zur modernen Governance-Forschung und Vorstellungen von Staatlichkeit als einem wertneutralen Prozessbegriff; vor allem aber bietet die Differenzierung von Entscheidungskompetenz, Organisationsmacht und Legitimationsfähigkeit für meine Vorstellung von stateness eine differenzierte Beschreibungsmöglichkeit, welche Governance-Akteure welchen Anteil an diesen Governance-Funktionen haben.1 Gerade unter dem Rubrum der Konkurrenz 1
Der Begriff ‚Governance‘ bedarf einer kurzen Erläuterung. In der (halbwegs) konsensfähigen Definition von Mayntz 2006, 15 wird darunter das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte“ verstanden, „von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure.“ Dieser Aspekt der „kollektiven“ Regelung ist zu betonen, um Governance-Leistungen von rein individuellen (oder familiären) Handlungen abzugrenzen; so beispielsweise auch Risse 2011b, 9. Wenn weiter
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lässt sich dies durch die Figur eines Nullsummenspiel weiter zuspitzen, was den stets variierenden Charakter der Governance-Konstellation ebenso unterstreicht wie auf mögliche Konflikte verweist. Inwieweit diese vorgeschlagene Perspektive moderner Ansätze beziehungsweise ihre Wendung auf die Antike fruchtbar ist, muss sich dann im zweiten Teil anhand der Analyse ausgesuchter Quellen zeigen. Im Mittelpunkt stehen dabei zunächst epigraphische Zeugnisse (2), die sich dafür gleich doppelt anbieten. Zum einen geben nur Inschriften einen Einblick in Alltagsregelungen der frühen poleis, zum anderen passen sie paradigmatisch zum Thema des Netzwerks, stellen sie doch durch den Zusammenfall von Materialität und Normativität Geltungsansprüche dar, die Produkte wie Voraussetzungen einer sich institutionalisierenden Öffentlichkeit sind und als solche ab 650 v. Chr. in der ganzen griechischen Welt als „publications officielles des pouvoirs […] ou actes privés reflétant la pratique du droit“2 auftauchen. Während die meisten Inschriften dabei zentral gesetzte Normen aufweisen, die auf dezentrale Umsetzung angewiesen bleiben, lassen sich mit Landvergabe und Begräbnisrecht zwei Bereiche benennen, in denen auch eine zentrale Umsetzung der Normen nachgezeichnet werden kann, da die polis in diesen Bereichen einen höheren Anteil an den Governance-Funktionen hatte. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wird dann erneut das Phänomen der Konkurrenz betrachtet, wobei exemplarisch weitere Quellen in den Blick kommen. Zunächst wird die „Konkurrenz der Governance-Akteure“ als struktu-
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im Folgenden von „Governance-Akteuren“ gesprochen wird, soll dies ebenso mitbedacht werden wie die Tatsache, dass es nicht primär um Individuen, sondern um Institutionen geht. Die Begrifflichkeiten von Governance-Funktionen, -Konstellationen und -Akteuren übernehme ich von Beisheim et al. 2011b, 15, die bei den letzteren noch zwischen gouvernementalen, zivilgesellschaftlichen, privatwirtschaftlichen sowie charismatischen oder traditionalen differenzieren, was gut die Spannbreite des Zusammenwirkens staatlicher und nicht-staatlicher Akteure zeigt, die gleichwohl für die Antike aber zu voraussetzungsreich beziehungsweise erst zu überprüfen ist (vgl. 3.1). Van Effenterre/Ruzé 1994, V; der Absatz folgt weiter den kondensierten Bemerkungen von Hölkeskamp 2003, 85–87 zur spezifischen „Stadtstaatlichkeit“ der polis, dort 88 mit dem Zitat von Ruzé 1997, 47. Im Hintergrund steht bei beiden Detienne 1990, 81–99, der unterstrichen hat, wie mit Beuteverteilung, Begräbnis-Wettkämpfen und Reden alles Wichtige und die Gemeinschaft Betreffende ἐς μέσον stattfand: „le centre est à la fois ‚ce qui est commun‘ et ‚ce qui est public‘“ (89). Für die Interaktion von Inschriften in und mit dem Raum, s. weiter Ma 2012, bes. 148 f., der nicht nur auf die physische Verbindung von Inschriften mit Tempeln und ihren inhaltlichen Rekurs auf die Gemeinschaft hinweist, sondern auch die diskursive Verschränkung ihrer Geltungsbehauptung mit dem Raum verdeutlicht, einmal als Geltungsbehauptung für den Raum, in dem sie stehen, und dann durch die Sichtbarkeit im Raum, welche die Macht ihrer Weltdeutung erhöht: „The capacity of inscriptions in making us accept a particular version of facts, and hence a truth, is perhaps the most important way in which their ‚authority‘ works.“ Dieses Konzept der Inschrift als Geltungsbehauptung wird an mehreren Stellen im Text wieder aufgenommen; Inschriften sind damit paradigmatische Beispiele dessen, was bei Berger/Luckmann 1969, 49–98, bes. 63 f., Institutionen sind, die uns als eigene, gleichsam objektive Wirklichkeit gegenübertreten, „durch die die biologische Offenheit des Menschen in eine relative Weltgeschlossenheit umtransponiert wird, ja werden muß“ (55). Für das Konzept der Geltungsansprüche von Institutionen s. exemplarisch Rehberg 1994 und 2001 sowie Dreischer et al. 2014.
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relles Spannungsverhältnis von familiären Verbindungen einerseits und der polis andererseits diskutiert (3); abschließend dann der Bogen zu Nobert Elias zurückgeschlagen (4), dessen „Konkurrenz um die Monopolapparatur“ für manche im Netzwerk diskutierte Entwicklungen der Archaik ein gutes Modell bietet und solcherart die – von seinem Ansatz klar divergierende – Perspektive der stateness sinnvoll ergänzen kann. Alternative Annäherungen an Staatlichkeit Norbert Elias und die Konkurrenz um Schlüsselmonopole Monopol ist zunächst einmal ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften und bezeichnet nur einen Anbieter eines Gutes. Analytisch lässt sich Monopol damit als ‚Gegenbegriff ‘ zur Konkurrenz auffassen.3 Der Begriff hat aber längst nicht nur in der Ökonomie Verwendung gefunden, sondern in übertragener Form, klassisch und wirkmächtig bei Max Weber, auch für den Staat und dessen Monopol der (legitimen!) Gewalt.4 Kombiniert man dieses noch mit dem Monopol auf Steuern und Abgaben, hat man die Figuration, die Norbert Elias in seiner „Soziogenese des Staates“ als entscheidende „Schlüsselmonopole“ herausstellt; über sie heißt es: „wenn sie verfallen, verfallen alle anderen, verfällt der ‚Staat‘.“5 In der zitierten Passage, Teil seiner großen Studie 3
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‚Gegenbegriff ‘ statt ‚Gegenteil‘ folgt Geiger 2012, 123–148, der davon ausgeht, dass reine Monopole in der Realität kaum vorkommen, relative Monopole aber immer nur in Vermischung mit Konkurrenz zu sehen sind. In solchen Mischungsverhältnissen liegt auch ein Anknüpfungspunkt zu Simmel 1992, 337–344, der unter dem Rubrum von Beschränkungen der Konkurrenz neben über-individuellen, wie Recht und Moral, auch auf inter-individuelle, wie die Zunft, als Schutz des Schwächsten, und das Kartell, als Reduzierung des Aufwandes auf Kosten der Konsumenten, hinweist, vgl. weiter Hölkeskamp 2014, 43, der Simmels Idealtyp auf der theoretischen Mitte einer Möglichkeitsskala verortet. – Konkurrenz ist bei Simmel definiert als ganz spezifische Form des Streits, als „indirekter Kampf um ein knappes Gut in Händen einer dritten Partei“, und Hauptaugenmerk bleibt ihre vergesellschaftende Wirkung, was trennschärfer, aber eben auch enger ist als die eher allgemeine Sicht von „Rivalry in History“ als Triebfeder für Veränderungen bei van Wees 2011 oder die Distanzierungskonkurrenz innerhalb einer Gruppe bei Geiger 2012, 21–23. Einen guten Überblick zu verschiedenen Definitionen von Konkurrenz bieten die einleitenden Bemerkungen von Jessen 2014b, die im Ergebnis auf ein „heuristische Modell historisch wandelbarer, je zeit- und gesellschaftsspezifisch ausgeprägter Konkurrenzkulturen“ hinauslaufen, „die sich hinsichtlich konkreter Wettbewerbspraktiken, regulierender Werthaltungen und stabilisierender Institutionalisierungen untersuchen lassen“ (19 f.). Zur praktischen Umsetzung der heuristischen Potentiale, gerade auch von Simmel, s. weiter Hölkeskamp 2014, bes. 42 f. Auch der von Jan Meister angedachte und von Gunnar Seelentag ausgeführte „Prozess der Kartellierung“ zeigt, dass eine modifizierte Form von Simmel für die Antike fruchtbar sein kann, seiner dezidierten Konzentration auf die Moderne zum Trotz (s. dazu unten auch Anm. 83). Weber 1972, 29. Für die Übernahme des Monopolbegriffs bietet Scheidel 2013, 5 f. und 20 f. weitere Beispiele. Auch Konkurrenz ist längst nicht mehr nur ein Zentralbegriff der Wirtschaftswissenschaften, vgl. nur Jessen 2014b. Elias 1997, 152.
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„Über den Prozess der Zivilisation“, geht es Elias um reale und praktische Bedingungen der Staatsbildung, das heißt, um Erweiterung des Territoriums und Vergrößerung der Macht eines Herrschers durch Zugriff auf mehr Soldaten und mehr finanzielle Ressourcen. In diesem Zusammenhang spricht er von Gewaltmonopol einerseits und Abgabenmonopol andererseits als zwei Seiten der „gleichen Monopolstellung.“6 Es geht damit um tatsächliche Kapazitäten: um ‚state-power‘ oder ‚state-capacity‘, könnte man sagen.7 In dieser Perspektive werden somit die Stärke des französischen Königs mit der der englischen Krone oder der des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu verschiedenen Zeiten vergleichbar.8 Soweit der Hintergrund für den gleich zu beschreibenden „Monopolmechanismus“, wobei schon die Wortwahl zeigt, dass die Ausführungen als idealtypische Skizze zu verstehen sind – dass die historischen Abläufe komplizierter und voller Varianten sind, an denen sich ein solches Schema dann bewähren muss, wird von Elias selbst betont,9 der sich selbst exemplarisch vor allem auf die Entwicklung im 11. Jahrhundert unter Louis le Gros stützt. Ausgangspunkt ist der freie gesellschaftliche Wettbewerb um Chancen (womit die Aneignung und folgende Redistribution von Gütern gemeint ist), bei dem noch kein Monopol ersichtlich ist. Wettbewerb und Konkurrenz um gesellschaftliche Chancen sind hier gleichwohl im Kontext unseres Netzwerks etwas missverständliche Begriffe,
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Elias 1997, 151. Signifikant ist eine Fußnote, in der sich Elias für den Aufbau von Staaten auf Max Weber und die Bedeutung des Monopols der physischen Gewaltausübung beruft (Elias 1997, 481 [Anm. 80 mit Bezug auf S. 151]) – was nicht unproblematisch ist, spricht doch Weber zwar für den politischen Verband von der „Anwendung und Androhung physischen Zwangs seitens des Verwaltungsstabes“ als Kennzeichen, lässt den Staat aber gerade „das Monopol legitimen physischen Zwangs“ für sich in Anspruch nehmen (Weber 1972, 29 [Hervorhebung im Original]): ein fundamentales Spezifikum, das gleichwohl manchmal übersehen wird (vgl. generell Scheidel 2013, 5 f. sowie hier kritisch zu Elias auch Bourdieu 2014, 231) und dem die im Anschluss diskutierte analytische Variante von Genschel/Zangl 2008 besser Rechnung trägt. Die Sichtweise von Elias ergibt sich dadurch, dass die Vergrößerung der tatsächlichen staatlichen Gewaltmittel eng verflochten ist mit seiner These zum – ihn eigentlich interessierenden – Zivilisationsprozess, in welchem ‚private‘ Gewaltanwendung durch Scham und Affektregulierung einerseits und funktionale Differenzierung anderseits eingeschränkt wird, vgl. Jentkes 2017b, 42–44; Imbusch 2017, 64–68 oder Schwerhoff 1998, 569 f. und 593, der allerdings sowohl diese Koppelung in Frage stellt als auch generell die sachlichen und methodischen Mängel von Elias’ Behauptungen herausgearbeitet hat. Auch das Ausblenden staatlicher Gewalt in dieser zivilisatorischen Perspektive ist kritisiert worden, vgl. zuletzt Imbusch 2017, 81 f., wobei die Behauptung einer generellen Abnahme von Gewalt (so auch Elias 1982, 25) von Morris 2014 wiederum untermauert wird; dort verstanden als statistisch sinkende Wahrscheinlichkeit, einen gewaltsamen Tod zu erleiden. Problematischer ist die ‚Staatszentriertheit‘ von Elias’ Ansatz für die These der Sozialdisziplinierung, denn hier müsste die Rolle von Familien, Städten, Kirchen (also der alternativen Governance-Akteure) betont werden, vgl. dazu Marx 1996, 296, der u. a. gerade auf die griechische Antike – beziehungsweise Athen in der Lesart Christian Meiers – als Beispiel für „die Ausbildung hoher Verhaltensstandards ohne den Staat im modernen Sinn“ verweist (298). Vgl. dafür etwa Elias 1997, 138–150. Elias 1997, 154 f. und 167.
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geht es doch nicht, wie bei Simmel, um den Wettbewerb zweier Konkurrenten um den Preis einer dritten Instanz, sondern gerade um, wenn man so will, direkte Konkurrenz, also um das, was bei Simmel „Streit“ heißt. Es meint bei Ludwig VI ganz konkret die Vorherrschaft rings um die Île-de-France, die Kontrolle von Flüssen und Brücken, von Schlössern und Territorien, um die mehrere Herrscher konkurrieren beziehungsweise eben kämpfen. Da ein Patt dabei nur selten eintritt, sieht Elias in solchen Auseinandersetzungen die Tendenz zur Monopolbildung angelegt, kommt es doch in dieser sogenannten ersten Phase zu einer „Akkumulation des jeweils wichtigsten Produktionsmittels oder wenigstens […] der Verfügungsgewalt“ über Boden und Geld, was wiederum dazu führt, dass der Sieger mehr Ressourcen redistribuieren, mehr Gefolgsleute anwerben und damit in die nächste Phase einer Konkurrenz mit neuen Nachbarn eintreten kann.10 Klingt dies zunächst nach einer rein äußeren Perspektive, folgt dieser Konkurrenz zwischen Einheiten in der sogenannten zweiten Phase auch eine Konkurrenz in einer Einheit, wenn nämlich das erlangte Monopol dazu tendiert, aus den Händen des Einzelnen in ein öffentliches Monopol überzugehen. Gemeint ist ein Institutionalisierungsprozess: Der Monopolist wird bei steigenden Herrschaftsressourcen immer abhängiger von seinen Leuten (Beamten, Soldaten usw.), deren „Eigengewicht“ und „Eigengesetzlichkeit“ sein Herrschaftsfeld verengen. Der Monopolist bleibt mächtiger als andere Funktionäre, ist aber kaum weniger abhängig und gebunden als diese.11 Ab einem „optimalen Punkt der Besitzgröße“ schließlich entgleitet das Monopol dem Monopolisten: „Das Privatmonopol Einzelner vergesellschaftet sich; es wird zu einem Monopol ganzer Gesellschaftsschichten, zu einem öffentlichen Monopol, zum Zentralorgan eines Staates.“12 Klassisches Beispiel für eine solche Entwicklung ist für Elias 10
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Elias 1997, 153. Es bleibt die Frage der Übertragbarkeit dieser sehr auf Frankreich fokussierten Perspektive, vgl. Marx 1996, 286 f. und bes. 297: „Dieser Monopolmechanismus mußte in England nicht die Rolle spielen wie in Frankreich, während er sie in Deutschland nicht spielen konnte“ [Hervorhebung im Original]. Auch diese Differenz bleibt gleichwohl der vielfach eingenommenen westeuropäischen Perspektive verhaftet, vgl. Scheidel 2013, 8. Man müsste weiter vielleicht eher von parallel, aber nicht gleichartig verlaufenden Konzentrationsprozessen als von einem Monopolmechanismus ausgehen, so treffend Uwe Walter (per litteras); und in der Tat spricht Tilly 1990, 1 (statt von Monopol) von „priority“, die der Staat „in some respects over all other organizations“ habe. Vgl. Elias 1997, 156 f.; für Bourdieu 2014, 234 war dies der „originellste Punkt bei Elias“. Interessanterweise ergibt sich hier auch eine Parallele zu Simmel 1992, der am Beispiel von Fürstenberatern im 13. Jahrhundert für die Entstehung von Institutionen allgemein festhält: „Solange es sich überhaupt erst um das Herausarbeiten von Institutionen handelt, die das immer vielgliedrigere und verwickeltere Problem des inneren Gleichgewichts der Gruppe zu lösen haben – solange wird es häufig unentschieden sein, ob sich ihre Zusammenwirksamkeit zum Heil des Ganzen in der Form der Opposition, Konkurrenz, Kritik, oder in der unmittelbaren Einheit und Harmonie vollziehen soll“ (294). – Für diese strukturelle Problematik indirekter Herrschaft siehe jetzt die Ausführungen von Abbot et al. 2018, die im „competence-control tradeoff “ zwischen dem „principal“ und seinen „agents“ ein „governor’s dilemma“ ausmachen. Elias 1997, 157.
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das Entstehen eines vom jeweiligen Herrscher unabhängigen Haushaltes, aus welchem dieser dann eine Summe für ‚private‘ Ausgaben zugeteilt bekommt. Mag dieser Aspekt von der griechischen Archaik etwas entfernt sein, ist der nächste Schritt bei Elias, nämlich die Übernahme der Herrschaftsmonopole durch das Bürgertum, erneut anschlussfähig. Es bedeutet nämlich eine Verschiebung der Konflikte, wenn es nicht mehr um die Zerstörung des Monopols als solchem, sondern um die Verteilung von „Lasten und Erträgen“13 beziehungsweise abstrakter wie auch pointierter formuliert um die Frage geht, „wer über die Monopolapparatur verfügen soll.“14 Während es offen bleibt, inwieweit man die von Elias in Bezug auf europäische Monarchien entwickelte Figur des Übergangs vom privaten zum öffentlichen Monopol auch für die Archaik fruchtbar machen kann, führt die Frage nach der Verfügung über die Monopolapparatur zu Kernthemen des Netzwerks zurück und wird daher am Ende dieses Artikels wieder aufgenommen. Für die spezielle Frage nach der ‚staatlichen Durchdringung‘ einer Einheit allerdings bleibt Elias’ Ansatz dagegen ohne größeres Analysepotential. Dies liegt vor allem am Fokus auf Gebieten und Ressourcen, was eher Herrschaftsausweitung als Staatsentstehung, eher Gebietsvergrößerung als Verdichtung von staatlicher Herrschaft in den Blick nimmt, dabei mit den sich (zumindest potentiell) ständig steigernden Machtmitteln für den Monopolisten stark dem Narrativ kontinuierlicher Staatsentwicklung verpflichtet bleibt und sich zudem auf die Felder Steuern und Militär beschränkt.15 Anteile an Governance-Funktionen: Herrschaft zwischen Monopol und Management Fruchtbarer ist für mich ein Ansatz der beiden Politikwissenschaftler Philipp Genschel und Bernhard Zangl, die den „Metamorphosen des Staates vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager“ nachgehen.16 Sie tun dies, indem sie eine vergleichende Staatstätigkeitsperspektive, die sich darauf richtet, wie sich die Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren verändert, mit der Perspektive der Internationalen
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Vgl. Elias 1997, 164 f. Elias 1997, 152; vgl. auch 1982, 22: „Besitz und Verwaltung dieser Zentralmonopole […] können von jenen, die regiert werden, unkontrolliert sein, oder sie können unter Kontrolle jener sein, die regiert werden.“ Zu der – in sich natürlich auch interessanten – Frage der „Staatsentstehung“ ist für die Archaik jetzt auf die differenzierte Darstellung verschiedener „operative forces“ von Davies 2018 hinzuweisen, die innerhalb seines nuancierten Modells die historisch fassbaren ‚Varianten griechischer Staatlichkeit‘ erklären sollen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Ausführungen von Genschel/Zangl 2008 (Hervorhebungen im Original); weitere Versionen des Arguments mit teilweise aktuelleren oder ausführlicheren Beispielen bei Genschel/Zangl 2014 und 2017.
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Beziehungen kombinieren, welche Wandlungen in der territorialen Zuständigkeitsteilung zwischen Nationalstaat und internationalen beziehungsweise transnationalen Institutionen in den Blick nimmt. Zentral ist dabei ihre Definition von Herrschaft als Zusammenspiel der Governance-Funktionen Entscheidungskompetenz, Organisationsmacht und Legitimationsfähigkeit.17 Unter diesem Blickwinkel zeichnen sie dann mit Bezug auf Charles Tilly, Wolfgang Reinhard und andere den graduellen (und durchaus nicht immer linearen) Prozess der modernen Staatswerdung in Europa nach. Kernelemente sind demnach Übernahme der Entscheidungskompetenz von Kirchen, Adel, Zünften und Städten, Ersatz der Söldnerarmee durch stehende Heere, Ausbau der Steuereintreibung und schließlich öffentliche Wohlfahrt (wie Gesundheit und Rente, aber auch Bildung) bis zu einem Höhepunkt ungefähr um 1970.18 Danach komplementieren Genschel und Zangl dieses Bild mit der umgekehrten Bewegung von Dezentralisierung durch internationale und transnationale Akteure (wie EU oder UNO), private Akteure (Privatisierung von Wasser, Telefon etc.) und transnationale Akteure (NGOs, CAS).19 Diese Entwicklungen hätten nun aber nicht dazu geführt, dass der Staat kein Staat mehr sei: „Der Verlust des (weitgehenden) staatlichen Herrschaftsmonopols nimmt dem Staat weder seine Staatlichkeit noch macht er ihn überflüssig […] Der Staat bleibt der Angelpunkt politischer Herrschaft, aber seine Rolle ändert sich: Er wird vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager.“20 Der Herrschaftsmanager trägt nicht mehr wie singulär in den 1970er Jahren als Herrschaftsmonopolist die Alleinverantwortung, sondern arbeitet in einzelnen Bereichen mit anderen Akteuren zusammen, die ihn auch weiterhin brauchen: als Entscheider, Umsetzer und fast immer auch als Stifter von Legitimität. Die Voraussetzungen nicht-staatlicher Herrschaft werden damit weiterhin vom Staat garantiert; „Governance by Government“ wird nicht ersetzt, sondern nur ergänzt durch „Governance without Government“.21
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Genschel/Zangl 2008, 432. Genschel/Zangl 2008, 432–435. Diese analytische Skizze legt den Fokus auf die Konzentration (bis hin zur tatsächlichen Monopolisierung) der Governance-Funktionen; auf der Ebene historischer Ereignisgeschichte müsste sie um so wichtige Faktoren wie den technischen Fortschritt und auch um die Dimension des Herrschaftswissens erweitert werden, s. für letzteres exemplarisch die Beiträge in Collin/Horstmann 2004 oder in Schuppert/Voßkuhle 2008 sowie (kritisch) Scott 1999. – In dem graduellen Prozess liegt weiter durchaus eine Verbindung zum Ansatz von Norbert Elias, dem es ja auch um ein allmähliches Durchsetzen geht, wenn er davon spricht, dass der „Träger der Königskrone“ zunächst „nichts anderes, als ein großer Feudalherr“ sei, dessen „Monopolstellung innerhalb des angestammten Territoriums […] höchst zweifelhaft“ sei (Elias 1997, 133). Auch Elias’ Interviewäußerungen über mittelalterliche Stadtstaaten (Elias 1982, 23) lassen eine im Vergleich zu seinen Gesprächspartnern höhere Einsicht in variierende Governance-Akteure erkennen. Genschel/Zangl 2008, 435–445. Genschel/Zangl 2008, 446. Genschel/Zangl 2008, 451. Besonders wird dies diskutiert für die Frage einer Entkoppelung von Recht und Staat, so etwa bei Schuppert 2011 und 2014 oder Hadfield/Weingast 2012 und 2013.
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Einmal abgesehen davon, dass hier meines Erachtens eine einleuchtende Analyse der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart vorliegt, bietet diese nachgezeichnete Bewegung von – in meiner Diktion – mehr und weniger stateness, abhängig von der jeweils historisch spezifischen Governance-Konstellation, einen guten analytischen Ausgangspunkt auch für die Antike beziehungsweise die ganze Vormoderne. Erstens verlassen wir mit Hilfe eines solchen Ansatzes die Welt der klaren Entwicklungsstufen oder -kästchen, die wie auch immer semantisch verschleiert auf eine Dichotomie ‚Staat/nicht-Staat‘ beziehungsweise ‚Staat/noch-nicht-Staat‘ hinauslaufen.22 Der Ansatz passt damit gut zu Arbeiten von Gunnar Folke Schuppert, in denen ‚Staat‘ als Prozesskategorie konzipiert wird und zu Ansätzen aus der neueren (deutschsprachigen) Governanceforschung, die ermitteln wollen, wer welche Governance-Leistung erbringt, sei es Trinkwasser, sei es Streitschlichtung.23 Zweitens, eng damit zusammenhängend, bietet speziell die Dreiteilung von Entscheidungskompetenz, Organisationsmacht und Legitimationsfähigkeit ein hohes analytisches Potential, weil es die unterschiedliche Ausprägung von Governance-Funktionen präziser beschreibbar und damit vergleichbar macht. Anders als beispielsweise mit Rekurs auf bloße Normsetzung kann so differenziert werden, inwieweit etwa zentral entschieden, aber dezentral umgesetzt, oder dezentral entschieden, aber zentral legitimiert wird – Aspekte, die gleich bei den inschriftlich fassbaren Regelungen frühgriechischer poleis interessant werden, auch und gerade wenn man damit die Blickrichtung ändert und ‚Staat‘ weder historisch noch konzeptionell vorausgesetzt werden kann, sich also nicht andere Governance-Akteure am ‚Staat‘ ausrichten, sondern Governance-Akteure überhaupt erst entstehen und sich dann im Zusammenspiel mit anderen entfalten, verändern oder auch behaupten.
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Die Entwicklungsstufen der älteren anthropologischen Forschung von Sahlins 1963 „big man – chief “ oder Service 1962 „band – tribe – chiefdom – state“ bleiben genau wie die moderne Debatte um „strong states – weak states – failing states – failed states“ einer ‚boxology-Logik‘ verhaftet. Dies gilt außerdem auch für solche Studien der Governance-Forschung, die eher mit einer Dichotomie von konsolidierter und begrenzter Staatlichkeit als mit „Graden von Staatlichkeit“ arbeiten, vgl. Risse/Leibfried 2011, 268. In der althistorischen Debatte trifft dieses Problem selbst für Runciman 1982 zu, dessen innovativer Unterschied zwischen „pre-state“ und „proto-state“ das konzeptionelle Dilemma auch nicht löst; für diese Problematik siehe weiter Ando 2017, 1. Für den „Staat als Prozess“ s. Schuppert 2010, für die (weitestgehend) nicht normative Frage nach allen möglichen Erbringern von Governance-Leistungen, was den Begriff für die Antike besonders anschlussfähig macht, s. Draude 2012 und erneut Schuppert 2014, der ein Bild „verflochtener Staatlichkeit“ entwirft. – Auch Elias „denkt Staat und Staatsgesellschaft immer als Prozesse“, so richtig Jentges 2017b, 58; vgl. weiter Majastre/Delmotte 2017, 100, die gerade hierin eine Differenz zu Carl Schmitt ausmachen und anhand seiner Schrift „Der Fischer im Mahlstrom“ aufzeigen, wie sehr Elias ein mögliches Gewaltmonopol zwischen den Staaten und damit die Perspektive eines globalen Weltstaates interessiert hat (Delmotte/Majastre 2017, 114–119). Gerade der letzte Aspekt verdeutlicht aber, dass in Elias’ Vorstellungen dieser Prozess doch eine klare Richtung hat, was die hier vorgeschlagene analytische Figur eines steten Mehr-und-Weniger gerade vermeiden will.
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Will man bestimmten inhaltlichen Komponenten – wie dem Gewalt- und Abgabenmonopol bei Nobert Elias (oder auch Max Weber)24 – gesondert nachgehen, kann man die analytischen Anteile der Governance-Akteure an den Governance-Funktionen von Genschel und Zangel, die sich ja konzeptionell auf die OECD-Welt konzentrieren und empirisch (West-)Deutschland in den Mittelpunkt stellen, noch mit allen möglichen Feldern kombinieren beziehungsweise in solche unterteilen, wie eben in Steuern, Militärdienst, aber auch viele andere, und so – abhängig von der jeweiligen Quellenlage – einer historischen Analyse die nötige Tiefenschärfe verleihen. Erst diese Kombination der Governance-Funktionen mit empirischen Feldern kann ergeben, ob ein Governance-Akteur eine zentrale Rolle spielte, welche Funktion er in welchem Feld ausübte, welchen Anteil er damit beanspruchte beziehungsweise ob er tatsächlich in bestimmten Bereichen als Monopolist anzusehen war – wobei jedes Monopol nur eine Momentaufnahme ist beziehungsweise strukturellen Schwankungen unterworfen ist, die Rede vom generellen Herrschaftsmonopolisten also auf einen historischen Sonderfall bezogen bleibt.25 Für die griechische Welt bedeutet dies, dass nicht nur poleis insgesamt vergleichbar werden, sondern auch die spezifische Konfiguration der Governance-Funktionen in einzelnen Feldern einer polis sowohl mit anderen Feldern der gleichen polis als auch mit gleichen Feldern anderer poleis kontrastierbar wird. Völlig unabhängig von der Frage nach ‚Staat‘ in einem essentialistischen Sinn lassen sich so die unterschiedlichen Ausprägungen von Entscheidungskompetenz, Organisationsmacht und Legitimationsfähigkeit in so unterschiedlichen Feldern nachzeichnen wie beispielsweise gleich im Folgenden (Punkt 2) Umweltschutz/Gemeingut, Landvergabe und Begräbnissen. Ein Begriff, der bei Genschel und Zangl nur ganz am Rande, im Zusammenhang mit der Organisationsmacht privater Akteure, auftritt, gleichwohl meines Erachtens in ihrem Konzept und den beschriebenen Entwicklungen zentral angelegt ist, lautet: Konkurrenz. Denn die Governance-Konstellation lässt sich – und damit genau anders als absolut steigende (oder sinkende) Machtmittel wie Geld und Soldaten – nur als Nullsummenspiel konzipieren: Alles, was die Familie entscheiden kann, entscheidet nicht die Kirche; was ein Unternehmen organisiert, braucht der Staat nicht durchzusetzen.26 Dies schließt ein Zusammenwirken überhaupt nicht aus, im Gegenteil;
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Vgl. mit Rekurs auf Elias nur Schuppert 2010, 34; mit Bezug zu Weber etwa Anter 2016, 160–171; für den Unterschied zu Elias ebd. 163 f. So Philipp Genschel per litteras. Bezüglich des Gewaltmonopols s. weiter Osterhammel 2011, 822 oder North/Wallis/Weingast 2009, 268, die gerade „dispersed control of violence“ als ein Kennzeichen ihres „natural state“ ansehen. Diese Zuspitzung ist auf den ersten Blick nicht unproblematisch, wollen sich Genschel/Zangl 2014 und 2017, 63 doch gerade von der „zero-sum logic of political authority“ absetzen und stattdessen von „unbundling and reconfiguration“ sprechen. Dies meint aber zunächst ja nur das von ihnen ausgemachte Zusammenspiel verschiedener Governance-Akteure hinsichtlich der drei genannten Governance-Funktionen. Ist der jeweilige Anteil eines Governance-Akteurs damit aber abhängig
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dennoch stehen alle Governance-Akteure in struktureller Konkurrenz zueinander, wenngleich gerade nicht im Sinne von Simmel oder Geiger.27 Diese konkrete Governance-Konstellation bildet die Dimension von Staatlichkeit, die ich als stateness bezeichnen möchte – in Abgrenzung zu anderen Dimensionen, wie der außenpolitisch-juristischen Anerkennung (statehood), den Fragen von Staats- oder Regierungsform (state-organisation) und, was am ehesten zu Elias’ Ausführungen passte, Aspekten realer Machtressourcen (state-power oder state-capacity). Nimmt man die Perspektive der jeweiligen Instanz mit dem relativ höchsten Anteil – nicht notwendigerweise einem Monopol – an Governance-Funktionen ein, die theoretisch genauso gut Mafia oder Kirche wie eben Regierung/‚Staat‘ sein kann,28 ergibt sich der Grad an stateness als Grad der Durchdringung einer Einheit (der ‚Gesellschaft‘?). Dieser Grad an stateness variiert in Abhängigkeit von der Relation der Governance-Akteure untereinander und damit auch im Laufe der Zeit. Auf diese Weise kann man damit für eine politische Entität von ‚mehr oder weniger stateness‘ sprechen, ohne damit Aussagen über ihre juristische Qualität oder tatsächliche Macht zu treffen.29 Governance-Konstellationen in (ausgewählten) Inschriften Wirft man nun einen Blick in archaische Inschriften, ließen sich unter dem Rubrum ‚Umgang mit Gemeingütern und -Ressourcen‘ eine ganze Reihe von Vorschriften anbringen, in denen es um die Markierung von Wegen, die Menge erlaubter Wasserentnahme aus einem Fluss, verbotenen Holzschlag in einem Hain sowie Hygiene in Brun-
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von der konkreten Governance-Konstellation, da er in Relation zu allen anderen Governance-Akteuren im untersuchten Feld steht, ist hierfür die Figur des Nullsummenspiels sehr wohl einschlägig – ohne dass damit ihr Zusammenwirken in Frage gestellt wäre (siehe die nächste Anm.) beziehungsweise diese Variation nur positiv oder nur negativ sein müsste. Beisheim/Börzel/Genschel/Zangl 2011c, 258 unterscheiden drei Konfliktmodi: hierarchisch, kooperativ und kompetitiv. Passt dies zu Elias’ Ausführungen bezüglich der Konkurrenz um die Monopolapparatur (vgl. Jentges 2017b, 51 f.), so unterscheidet sich die analytisch-universale Konkurrenz der Governance-Akteure doch klar von der historisch-spezifischen Konkurrenz der Akteure im feudalistischen Frankreich wie oben beschrieben. Für das moderne Afrika diskutiert Schuppert 2017, 138 f. ethnische, religiöse und kriminelle Governance-Kollektive; die Testfrage ist dabei immer, wem im Krisenfall Loyalität entgegengebracht wird. Dies erlaubt meines Erachtens auch eine noch differenziertere Beschreibungsmöglichkeit als die Unterscheidung von Michael Mann zwischen „infrastructural power“ und „despotic power“: „Despotic power“ bezeichnet dabei „the range of actions which the state elite is empowered to undertake without routine, institutionalized negotiation with civil society groups“, wohingegen „infrastructural power“ die Fähigkeit sein soll „to actually penetrate civil society, and to implement logistically political decisions throughout the realm“ (Mann 1984, 188 f.). Für eine fruchtbare Anwendung auf die Antike s. gleichwohl die Beiträge in Ando 2017, bes. Mackil 2017, auf deren Ausführungen noch mehrfach eingegangen wird (u. a. Anm. 89).
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nen, Heiligtümern und auf Wegen geht.30 Diese Vorschriften sollen aber weniger ihres Inhalts wegen als vielmehr auf Grund ihrer prozeduralen Bestimmungen Erwähnung finden – als Beispiel dienen zwei Inschriften von der Insel Paros. Die erste (ca. 475/450) besagt schlicht: „Wer den Kehricht oberhalb des Weges hinwirft, soll 51 Drachmen schuldig sein (jedem), der sie eintreiben will – – –.“31 In der zweiten (Ende 5. Jh.) geht es darum, dass, von gewissen Ausnahmen abgesehen, der Holzschlag, wohl in einem heiligen Hain, verboten war. Es folgt die an dieser Stelle relevante Passage (Z.4–6): „[Wenn aber] irgendeiner irgendetwas von diesen (Vorschriften) übertritt, [soll ihn anzeigen] jeder, der will, bei den Theoroi [und] die Hälfte (der Strafe) haben.“32
Auch wenn in beiden Inschriften eine explizite Formulierung fehlt, dass die polis entschieden beziehungsweise, wie in kretischen Inschriften, dass es ihr gefallen habe,33 wird man, so die allgemeine Annahme, von zentralen Regelungen ausgehen dürfen, die dann allerdings auf dezentrale Umsetzung setzen. Jeder kann auf einen Verstoß hinweisen und wird durch einen Anteil an der Strafe beziehungsweise die Geldsumme von 51 Drachmen auch entsprechend motiviert, solches zu tun. Koerner hat für beide Inschriften das Verfahren auf die knappe Formel „Popularklage mit Delatorenprämie“ gebracht.34 Ist dies bei der zweiten Inschrift sofort einleuchtend, muss bei der ersten wohl noch ein Gerichtsverfahren hinzu gedacht werden.35 So spannend es wäre, eine
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Klingt der moderne Begriff ‚Umweltschutz‘ für die untersuchten Sachverhalten nicht angemessen, so ist es doch interessant, dass gerade Normen des Umweltrechts bei Schuppert 2016, 204 f. das Beispiel sind für „Rechtsgewährleistung als Bürgerrecht und Bürgerpflicht“. IG 12.5.107 = GDI IV p. 856 Nr. 23 = LSCG 108 = Koerner 1993, Nr. 57 (Übersetzung nach Reinhard Koerner). IG 12.5.108 = Syll.2 569 = GDI 5434 = LSCG 111 = Koerner 1993, Nr. 58 (Übersetzung nach Reinhard Koerner). Vgl. für die Formulierung ἔϝαδε πόλι etwa Koerner 1993, Nr. 90 = Nomima 1, Nr. 82 = Gagarin/Perlman 2016, Dr 1 oder Koerner 1993, Nr. 87 = Nomima 1, Nr. 12 = Gagarin/Perlman 2016, Lyktos 1A. Koerner 1993, 217 und 219. Rubensohn 1901, 205 f. spricht von „einer sehr rigorosen Form der Popularklage“, da der „Privatkläger auch zugleich der Strafvollstrecker“ sein solle. Dies muss gleichwohl nicht bedeuten, ein zwischengeschaltetes Verfahren auszuschließen, so zu Recht auch Koerner 1993, 216. Es bleibt das Problem der Strafsumme. Nimmt man mit Rubensohn 1901, 206 an, die 51 Drachmen beinhalteten ein Drittel für den Kläger, bedeutet dies doch eher eine teilweise Auszahlung beziehungsweise Weiterreichung der Summe durch die polis, was für ein Verfahren, aber gegen die explizit erwähnte private Vollstreckung spräche. Nimmt man mit Latte 1931/1968, 265 f. dagegen an, die Belohnung sei „als private Schuld gefaßt, die er [der Anzeiger] in dem dafür üblichen Verfahren eintreibt“, müssten entweder polis und Ankläger jeweils getrennt Strafen eintreiben oder der Kläger solches für die polis tun, was dann gegen ein vorgeschaltetes Verfahren spräche. – Die Inschrift ist ein gutes Beispiel für den uns fehlenden Kontext, der Probleme aufwirft, die sich damals sicher nicht stellten, vgl. Ma 2012, Harris 2015, 59 f. und weiter im Text; dies gilt übrigens schon für die (wahrscheinliche) Annahme, dass es sich um zentral getroffene Regelungen handelt.
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noch direktere Form der Um- und Durchsetzung einer Strafgebühr ganz ohne Verfahren zu haben – selbst mit einem vorgeschalteten Verfahren wird deutlich, dass die Governance-Funktionen von Genschel und Zangl eine Beschreibung ermöglichen, die eine höhere Entscheidungskompetenz bei geringer Organisationsmacht lediglich nebeneinander stellen, ohne damit einem Narrativ von Rückständigkeit („noch keine Organisationsmacht“) oder Fortschritt („schon Entscheidungskompetenz“) zu folgen. In der Perspektive des historischen Längsschnitts mag man anmerken, dass die spezifische Konfiguration von höherer Entscheidungskompetenz bei geringerer Organisationsmacht, für die es viele weitere Beispiele gäbe, für die Vormoderne mit dem Fehlen etwa von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichtsvollzieher eher die Grundannahme und damit wenig überraschend ist.36 Allerdings ist die erfolgreiche dezentrale Normdurchsetzung, für welche die Popularklage sicher ein Instrument bildet,37 auch erst in jüngerer Zeit nicht mehr als defizitär beschrieben, sondern als genuin eigenes Modell gewürdigt worden – und zwar sowohl (spiel-)theoretisch für das antike Athen als auch empirisch hinsichtlich des steigenden Steueraufkommens in einigen modernen afrikanischen Staaten auf Grund einer bewussten Rückkehr zu dezentraler, quasi vormoderner Geldeintreibung.38 Dennoch sind vor allem jene Fälle interessant, in denen die polis nicht nur Normen setzt, sondern auch deren Durchsetzung organisiert. Ein Durchgang durch die von Koerner respektive van Effenterre und Ruzé edierten
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Vgl. allgemein Crone 2015, 51–54 und für die römische Republik die Bemerkungen von Liebs 2014. Gleichwohl haben die Beiträge in Ando/Richardson 2017 unterstrichen, wie viele Entscheidungen der vormoderne Staat auch effektiv umsetzten konnte, und umgekehrt hat Novak 2008, 769 auf die Rolle von „private enforcement of public law“ in den USA hingewiesen. Zur Entwicklung der Popularklage aus der Unterstützung (wie durch Eid oder Zeugenschaft) einer kleineren, engeren Gruppe, ob Familie oder Hetairie, s. Latte 1931/1968, 251–267. Nach ihm bleibt der Popularkläger somit auch „Vertreter des Geschädigten“ (266), wobei in diesen Inschriften mit Bezug zu Gemeingut der Geschädigte eben die Allgemeinheit ist, was dann doch in der hier vorgeschlagenen Perspektive den Kläger vielleicht nicht als „Stellvertreter des Staates“ oder „Stellvertreter des Volkes“ (so Ziebarth 1897, 625), aber dennoch als Erbringer von Governance-Leistungen erscheinen lässt – einmal ganz unabhängig von der Frage, wann seine Prämie fällig wurde, schon nach der Anzeige oder erst nach einer Verurteilung des Angezeigten, und ob er seinen Anteil von der polis bekam oder selber eintreiben musste. Zum Phänomen s. weiter die Ausführungen von Rubinstein 2003, die überzeugend argumentiert, dass Bürgerbeteiligung im Prozesswesen weder eine athenische Besonderheit noch notwendig eine demokratische Einrichtung war. Dass sich die jeweiligen Ausprägungen der verschiedenen poleis gegenseitig etwa durch die panhellenischen Feste und Kontakte beeinflussten, aber auf gemeinsamen prozeduralen Strukturen basierten (111 f.), kann sein; die Gemeinsamkeit dürfte aber vor allem darin liegen, dass überall in der griechischen Welt die Governance-Konstellation ausgehandelt wurde. Es ist damit eher eine Frage der stateness als der state-organisation; und der Anteil der politischen Zentralinstanz an den Governance-Funktionen bei Beschränkung der Klagefähigkeit auf Staatsanwaltschaft beziehungsweise Magistrate ist höher als in Systemen mit Popularklage. Für Athen s. Carugati/Hadfield/Weingast 2015; für die Steuererhebung gegenwärtiger afrikanischer Staaten Kiser/Levy 2015, 558. Allgemein unterstreichen Risse/Leibfried 2011, 276 f. zumindest die Möglichkeit einer zum westlichen Zivilisationsmodell alternativen Governance-Konstellation ohne ‚Staat‘.
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Rechtsinschriften der Archaik lenkt den Blick dabei besonders auf zwei Bereiche: Landvergabe und Begräbnisrecht. Beginnen wir mit der Landvergabe und blicken dafür nach Chios, auf eine Inschrift Ende des 5. Jahrhunderts, von deren vier Seiten noch drei lesbar sind.39 Seite A kann man entnehmen, dass ein von insgesamt 75 Horoi markiertes Gebiet, die sog. Lophitis, ausgewiesen worden ist. Wer auch immer diese Grenzsteine zum Schaden der Stadt (ἐπ’ ἀδικί|ηι τῆς πόλεως) versetzt, entfernt oder unlesbar macht, soll 100 Statere bezahlen und bürgerlich rechtlos sein (ἐκατὸν σ|τρατῆρας ὀφειλέτω κἄτι|μος ἔστω). Eintreiben sollen die Strafe die Horophylakes, wenn sie dies nicht tun, sollen die Fünfzehn es von ihnen eintreiben; wenn diese die Strafe auch nicht eintreiben, sollen sie mit Fluch beladen sein. Seite B führt aus, dass die Fünfzehn etwas binnen fünf Tagen beim Rat (βολὴ) einbringen und Herolde in ländliche Gebiete aussenden sollen (κή|ρυκας διαπέ|μψαντεσ ἐς τ|ὰς χώρας), um den Tag und den Gegenstand des Verfahrens bekannt zu machen. Entscheiden sollen nicht weniger als 300 unbestochene (ἀνηρίθευτοι) Männer. Von Seite C schließlich kann der Beginn wörtlich zitiert werden: „ – – – [Wenn einer die Käufer aussperrt] oder einen Prozeß anstrengt, dann soll die Stadt sich [der Ausgesperrten] annehmen und den Prozeß führen, und wenn sie ihn verliert, soll sie für ihn die Strafe zahlen. Dem Käufer soll kein Prozeß (möglich) sein. Wer die Käufe ungültig macht, gegen den soll der Basileus einen Fluch aussprechen, wenn er die gesetzlich festgelegten Flüche ausspricht.“ Ab Z.10 folgt die Liste der einzelnen Käufe.
Mit Koerner, der – trotz der Unterschiede in Schrift und Datierung der Seiten B und C im Verhältnis zur älteren Seite A – alles als eine Inschrift oder besser eine Vorschrift auffasst, lässt sich die Gesamtsituation plausibel rekonstruieren. Es geht demnach um die Ausweisung eines bestimmten Gebietes als neues Siedlungsland mit der Möglichkeit, dort Parzellen zu erwerben. Allerdings gab es offensichtlich das Problem, dass in der betreffenden Gegend bereits Personen lebten und dort, wenn auch vielleicht kein Eigentum, so doch Besitz hatten, man daher mit Konflikten zwischen Neu- und Altbesitzern rechnete.40 Deutlich wird dabei, dass ohne Erlaubnis der polis kein Eigentum bestehen sollte – eine klassische Geltungsbehauptung entstehender Staatlichkeit.41 Dies
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Vgl. DGE 688 = GDI 5653 = IGA 381 = Koerner 1993, Nr. 62 (die Übersetzung nach Reinhard Koerner). Dies gilt unabhängig davon, wer genau das Land verkauft – die polis direkt oder, wie Koerner 1993, 236 f. wohl treffend annimmt, die Vorbesitzer, die von der polis zum Verkauf gezwungen wurden, wofür die Liste der Verkäufe am Ende der Inschrift durchaus spricht (abgedruckt in DGE 688 und IGA 381). Es bleibt juristisch interessant, einen Verkauf ohne Eigentum anzunehmen; sachlich ist wohl eher von einer gewissen Summe zur Befriedung der solcherart vom Land Vertriebenen auszugehen. Siehe dazu jetzt Mackil 2017, auf deren Argumentation ich in Anm. 89 genauer eingehe. Wichtig ist dabei, dass die bloße Behauptung einer Zuständigkeit oder Kapazität des Staates die Entstehung
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dürfte mit der Grund dafür sein, dass die polis nicht nur die Entscheidung trifft, sondern auch die Umsetzung übernimmt, wozu neben der Markierung des Gebiets vor allem gehört, dass sie im Fall des Falles als Prozesspartei für beklagte Neubesitzer einspringt und diesen damit Zeit, Aufwand und Risiko eines Rechtsstreits erspart. Werden tatsächlich berechtigte Ansprüche festgestellt, haftet die polis entsprechend und schuldet eine Strafe beziehungsweise Entschädigung, auch wenn – beziehungsweise weil – dies nichts an der neuen Landaufteilung ändert, welche unberührt von einem Urteil in jedem Fall bestehen bleibt.42 Die neue Landverteilung wird auch durch die offiziellen Grenzsteine garantiert; die hohe Strafe unterstreicht, dass deren Versetzen nicht bloß als Angriff auf die Rechte einzelner Bürger wahrgenommen wurde, worauf man mit Rückversetzung und/oder Schadensersatz hätte reagieren können, sondern als ein Infragestellen der Autorität der polis insgesamt.43 Auch die Durchführung der Strafe wird zentral organisiert, denn mögen die Horophylakes, die Wächter des Hügellandes, ursprünglich auch eine Art lokaler Gruppe gewesen sein, werden sie durch ihre Verantwortung gegenüber den Fünfzehn gleichsam unter die Amtsträger aufgenommen beziehungsweise deren Verantwortungskette eingegliedert und erscheinen somit als Organe der polis.44 Nimmt man an, dass letzteres eine Neuerung war, so hätte man nicht nur die spezifische Governance-Konstellation beschrieben, sondern könnte auch eine Steigerung der Organisationsmacht beziehungsweise den Ersatz von dezentraler durch zentrale Durchsetzungsmacht plausibel nachzeichnen.
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tatsächlicher, anerkannter Kompetenzen erleichtert, so (zwar vor allem mit Bezug auf die Arbeiten von Seth Richardson, aber gleichwohl als generelles Ergebnis der Beiträge in der Einleitung des entsprechenden Bandes) Ando 2017, 7–9. Ein Aspekt, der in einem gewissen Spannungsverhältnis zur hier immer wieder angeführten Skepsis von John Ma gegenüber den Geltungsansprüchen der Inschriften steht. Modern gesprochen war der polis hier Rechtssicherheit wichtiger als Einzelfallgerechtigkeit – anders also als etwa im demokratischen Athen, für das Allen 2000, 179–183 bezüglich der Möglichkeiten der Jurys, sich auch über Gesetze hinwegzusetzen, von einer „rule of judgement“ anstelle einer „rule of law“ gesprochen hat. Koerner 1993, 232 diskutiert, wie diese Kombination von Geldstrafe und Atimie rechtshistorisch einzuordnen ist. Mit Verweis auf die generell von Ruschenbusch 1968, 16–21 skizzierte Entwicklung der Atimie soll die Reihenfolge belegen, wie sehr die Atimie bereits von Tötung beziehungsweise Fluch „auf den Stand bürgerlicher Zurücksetzung herabgesunken“ sei. Dies mag auch hier zutreffen, dennoch gibt es mindestens noch eine weitere (und einfachere) Erklärung: Ohne Land als Grundlage eigener Ernährung und Existenz war ein Verbleib im Gebiet der polis wenig wahrscheinlich, insofern die hohe Geldstrafe abschreckender war als das im Konfliktfall ohnehin bestehende Risiko, das Land verlassen und es den neuen Eigentümern überlassen zu müssen. Vgl. Koerner 1993, 233, Robert/Robert 1983, 104–109 folgend, welche, wenngleich für Karien und Milet, generell unterstrichen haben: „Il ne s’agit pas d’ὁροφυλάκες, gardes des bornes ou des frontières, mais d’ὀροφυλάκες, gardes des montagnes“ (101). Ob das dabei entworfene Bild von Sicherheitskräften für die bergigen Grenzregionen einer kleinasiatischen Polis, welches auf hellenistischen und noch späteren Inschriften beruht, direkt auf die Archaik übertragen werden kann, bleibt unsicher. Es ist in jedem Fall weniger an eine vom Zentrum für die Peripherie speziell aufgestellte Einheit zu denken als an eine Eingliederung lokaler Eliten; siehe für solche „chains of responsibility“ Rubinstein 2003, 95–100 (zu dieser Inschrift dort 99).
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Anstatt weitere Details der Inschrift zu diskutieren, soll das Feld der Landvergabe durch einen Blick nach Lokris (c. 500) erweitert werden.45 Die beidseitig beschriebene Platte lässt sich wie folgt zusammenfassen: Seite A unterstreicht die Gültigkeit eines Gesetzes bezüglich der Aufteilung der Gebiete Plax, Hylia und Liskaria und zwar „sowohl was die (privat) herausgeschnittenen als auch die öffentlichen (Landstücke) betrifft“. Diese Garantie des Eigentums betrifft zum einen die Vererbbarkeit, zum anderen den landwirtschaftlichen Ertrag und wird einige Zeilen weiter noch verstärkt durch die große Strafandrohung, dass jeder Antrag auf Neuverteilung im Rat oder beim Damos zu Konfiskation des Vermögens, Verbannung für den Antragsteller und seine Nachkommen sowie Zerstörung seines Hauses führt, „gemäß dem Gesetz über den Mord“. Dazwischen allerdings kommt die entscheidende Ausnahme (Z. 7–8): „wenn nicht, durch Krieg gezwungen, 101 nach Tüchtigkeit (ausgewählte) Männer durch die Mehrzahl beschlossen, mindestens 200 kriegstüchtige Männer als Zusiedler (ins Land) zu bringen.“ Ganz am Ende erfolgt die Weihung des Gesetzes an Apollon Pythios. Seite B kann wörtlich wiedergegeben werden: „Das Land soll [zu der einen Hälfte] den früheren (Besitzern), zu der anderen Hälfte den Zusiedlern gehören. Sie sollen die Landstriche im Tal verteilen. Umtausch soll gültig sein, es muß aber vor dem Archos umgetauscht werden.“
Auch ohne genaue Kenntnis der Hintergründe stellt sich die Situation erneut in den Grundzügen durchaus nachvollziehbar dar. In agrarischen Gesellschaften ist das Eigentum einschließlich der Vererbbarkeit von Grund und Boden für das wirtschaftliche Überleben der Einzelnen und damit für die Wehrfähigkeit der Gemeinschaft ganz zentral und wird entsprechend von der polis erstens geregelt und zweitens unter anderem mit Hilfe drastischer Strafen garantiert.46 In diesem Fall betrifft es Gebiete, die wohl als Teil „bisher unkultivierten Polisterritoriums“ angesehen werden können.47 Der Hinweis auf private wie öffentliche Grundstücke innerhalb der Gebiete, die mitverteilt worden waren (Z. 2–3: καὶ τõν ἀ|πότομον καὶ τõν δαμόσίoν), wird von Koerner parallel zur oben besprochenen Inschrift von Chios dahingehend gedeutet, dass in bestimmten Gebieten bereits Personen siedelten, wenngleich ohne gültigen Rechtstitel.48 ‚Of-
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IG 9.12 3.609 = LSAG 403 Pl. 14 Nr. 2 = Meiggs/Lewis 1969, Nr. 13 = Koerner 1993, Nr. 47 = Nomima 1, Nr. 44 (Übersetzung nach Reinhard Koerner). Die Datierung schwankt zwischen 525–500 (so Jeffery 1990, 105) und 460–450 (Vatin 1963, 16); Koerner folgt Klaffenbachs Datierung (IG). Vgl. nur Asheri 1966, 23. So Koerner 1993, 158; vgl. erneut Asheri 1966, 27, für den die Verteilung bisher „allgemein“ genutzter Fläche „il metodo più semplice e più naturale“ zur Ansiedlung neuer Bürger ist. Eine genaue Lokalisierung scheitert dagegen, vgl. Klaffenbach (IG): „nomina locorum obscura“. So, in der Folge besonders von Vatin 1963, 7 und dann Klaffenbach (IG), Koerner 1993, 158 f., der den Unterschied zu Chios darin sieht, dass dort ein Zwangsverkauf stattgefunden habe (siehe dazu oben Anm. 40), während hier Rechtstitel annulliert worden seien. Abgesehen von der Tatsache,
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fizielle (Neu-)Siedler‘ kommen dagegen genau in den Genuss der Legitimität der und Garantie durch die polis. Gleichzeitig wird ein möglicher zukünftiger Ausnahmefall vorhergesehen und geregelt, wenn in einer militärischen Notlage erfahrene Männer mit entsprechender Expertise, die ἀριστίνδην bestimmt werden, welche die Aufnahme einer großen Anzahl weiterer waffenfähiger Personen beschließen können. Neue kriegstüchtige Männer brauchen für ihre wirtschaftliche Existenz das gleiche wie alle anderen: Land – und in diesem Fall steht der (als notwendig erachtete) faktische Schutz des Gemeinwesens insgesamt hinter der Garantie des Landes zurück. Denn dann, so wird Seite B zu deuten sein, soll das Land der drei erwähnten Fluren sowie ein weiterer Landstrich im Tal neu verteilt werden.49 Auch wenn dieser neue Bereich die Maßnahme insgesamt wohl lindern soll, bleibt für die in der Inschrift behandelten Neubesitzer generell ein größeres Risiko als für andere (Altbesitzer), eventuell Teile des Landes irgendwann wieder herausgeben zu müssen. Während die Organisationsmacht der polis in dieser Inschrift nicht so explizit ausgeprägt erscheint, allein schon,
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dass die polis dann hier – anders als in Chios – ohne Entschädigungen auskam, was Koerner 1987, 445 mit der dringend nötigen Stärkung der Verteidigungskraft erklärt, leuchtet diese Lesart mehr ein als die Annahme, das neue Land sei noch einmal unterteilt worden für private und öffentliche Nutzung, so etwa Mackil 2017, 76. Das Ganze hängt vor allem an der Doppelbedeutung von ἐπινομία, was Weiderecht wie auch Eigentum bedeuten kann; für eine Übersicht der Interpretationen s. van Effenterre/Ruzé 1994, 188. Hier scheint die ganze Inschrift aber eher auf Landwirtschaft und Urbarmachung der Gegend abzustellen, sind doch zum einen gerade die landwirtschaftlichen Produkte in Z. 6–7 geschützt (hότι δέ κα φυτεύσεται, | ἄσουλος ἔ{ι}στο) und gilt zum anderen für Weideland mit Nilsson 1955, 270: „Die Aufteilung des Weidelandes in individuelle Lose widerstreitet allem, was wir sonst wissen. Das Weideland war im Altertum gemeinsamer Besitz.“ Vgl. schon Wilamowitz 1927/1971, 471, der von der Hoffnung der polis auf eine langsame Umwandlung des Weidelands hin zum Anbau von Oliven und Wein ausgeht. Aus dem Kontext der detaillierten Erbregeln scheint mir Eigentum also wahrscheinlicher zu sein; die dafür ebenfalls mitaufgeteilten „öffentlichen Bereiche“ unterstreichen nur, dass das Gebiet als Ganzes schon vorher von der polis als eigenes Gebiet angesehen worden war. In dieser Linie wäre es auch ein Fall, bei dem, mittels des schon vorher deutlich gemachten Anspruchs der polis, das bisher unkultivierte Land tatsächlich eher mehreren Kleinbauern als nur wenigen in der Elite zugute kam; siehe für den anders ablaufenden Normalfall Link 1991, 163. – Mackils These, dass durch die Legitimation des Eigentums durch die polis (meine Diktion) auch die Macht des Staates durch größere Territorialität und mehr Siedler mit militärischem Potential steigt (ihre Diktion), bleibt also unberührt beziehungsweise wird allenfalls etwas vorverlagert: „There is no sign that these settlers will constitute a new state; their citizenship does not change, but they are agents in the expansion of the state’s territoriality“ (Mackil 2017, 77). Dieser weitere Landstrich (Z. 20: Κοῖλοι Μόροι) wird von Koerner 1993, 167 f. als Amendement verstanden, da das Land für 200 weitere Siedler wohl nicht ausgereicht habe. Auch wenn die Regelung hypothetisch bleibt, könnte es sich um eine Garantie von letztlich etwas ‚mehr‘ Eigentum für die aktuellen Neusiedler handeln, die somit insgesamt weniger hätten abgeben müssen. Um dann dennoch zusammenhängende Gebiete zu behalten oder Formen der Mischkultur zu ermöglichen (so Koerner 1987, 448), bedurfte es der Möglichkeit des Tausches. All das bezieht sich dabei immer nur auf die in der Inschrift genannten neuen Fluren, nicht gemeint ist eine komplett neue Verteilung des Landes; solche Versuche bleiben nach Z. 10–13 ja gerade ausgeschlossen, vgl. Asheri 1966, 21 und 36 f. Dafür spricht auch, dass tatsächliche Neuverteilungen selbst unter den Tyrannen zwar zur Rhetorik gehörten, aber gerade nicht in die Tat umgesetzt wurden, so Brandt 1989, 214–219.
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da die Landverteilung bereits geschehen ist, also den Hintergrund der Regelung bildet,50 treten Entscheidungskompetenz und Legitimationsfähigkeit stärker hervor. Dies gilt natürlich und zuvorderst für die eben beschriebene prinzipielle Geltung der Neuverteilung. Dafür spricht weiter auch, dass hier, anders als in Chios, offensichtlich keine Entschädigung oder Befriedung für vorher geduldete Siedler nötig war. Und schließlich passt es zum Schluss der Inschrift mit der Regelung, dass ein Tausch von Grundstücken möglich sei, aber vor dem Archos, wohl einem Jahresbeamten der polis, vorgenommen werden müsse – ähnlich einem Grundbucheintrag beim Notar, der einem privaten Vertrag erst die öffentlich-juristisch-staatliche Legitimität verleiht. Diese Legitimität geht allerdings gleichsam in zwei Richtungen, stehen neben den Garantien doch auch Einschränkungen. Zum einen ist an das festgelegte Erbrecht zu denken,51 zum anderen an das Zusammenfallen der Eigentumsgarantie mit dem Vorbehalt der spezifischen Ausnahme.52 Letzteres schlägt den Bogen zurück nach Chios, wo Klagen der ‚Neubesitzer‘ von vornherein durch die polis ausgeschlossen wurden. Nimmt man also als Feld die Rechtsprechung oder noch präziser den Bereich von Grundeigentum und Landvergabe in den Blick, kann hinsichtlich dieser Zulassungen oder Verweigerungen von Klagen durchaus von einem Monopol beziehungsweise zumindest einem Monopolanspruch gesprochen werden. Ob die Maßnahmen inhaltlich deswegen auch als legitim empfunden wurden, ist eine ganz andere Frage – gar nicht einmal wegen der Konflikte um die Sache, welche von beiden Inschriften ja gerade gesehen werden; auch nicht wegen der Fluchandrohungen und des göttlichen Schutzes am Ende, für den man nicht genau zwischen kultisch-kulturellen Traditionen und faktisch mangelnder Durchsetzungsmacht (entweder der Amtsträger selbst oder der polis gegenüber den Amtsträgern) differenzieren kann. Es liegt vielmehr daran, dass wir bei Inschriften nicht zwischen Geltung und bloßer Geltungsbehauptung unterscheiden können, jedenfalls nicht ohne weitere Quellen zur Praxis der Umsetzung.53
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Dies erklärt auch das Fehlen der von Wilamowitz 1927/1971, 470 vermissten Regelungen; diese können auf einer nicht erhaltenen Bronzeplatte als erster Teil des Gesetzes gestanden haben oder aber die hier erhaltene Vorschrift setzt unabhängig danach ein. Siehe weiter Jeffery 1990, 105 f.: „The law defines the inheritance of pasture-rights for the families settled in an area which has already been divided up […] which suggests that these are not new settlers from another area, but members of an existing settlement who are assimilating some adjoining newly acquired stretch of agricultural land.“ Vgl. weiter erneut Mackil 2017, 77 (zitiert oben in Anm. 48). Auch wenn, was betont worden ist, die Testierfreiheit am Ende „nach Ort und Zeit schon sehr auffällig“ ist, so tritt dieser Fall ja nur beim Fehlen der festgelegten Erbberechtigten ein, also Eltern, Sohn, Tochter, Bruder und Verwandte; vgl. Koerner 1993, 159–161 (Zitat 161), der auf die rechtshistorischen Besonderheiten wie die Erbrechte der Eltern oder der Tochter hinweist. Treffend dazu Asheri 1966, 21: „La legge quindi garantiva, da un lato, i diritti degli assegnatari nei riguardi di propositi sovversivi, ma riserva, dall’ altro alle autorità governative la potestà suprema di alterare la spartizione attuale in predeterminate condizioni.“ Vgl. Ma 2012, 152: „Yet precisely because its production and implementation were dependent on human action, the rules, decrees, edicts expressed in epigraphy were in fact closely linked to neg-
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Diese offene Frage nach der tatsächlichen Durchsetzung von Einschränkungen – im Gegensatz zum analytischen Aspekt der Organisationsmacht – begegnet uns auch im zweiten zu betrachtenden Feld, bei den Begräbnissen. Bekannt sind in diesem Kontext vor allem die Regelungen, die meist, wenngleich nicht immer treffend, als Aufwandsbeschränkungen oder Luxusgesetze gefasst werden, wie die angeblich solonischen, nach denen Aufwendungen auf drei Kleider oder Schleier, ein Purpurstirnband und zehn Flötenspieler begrenzt waren, Frauen sich nicht die Wangen zerkratzen sollten, kein Rind geopfert werden durfte.54 Es ist dabei nicht ganz einfach, diese und vergleichbare Einschränkungen in den historischen Kontext stellen, bleibt dafür doch vieles im Detail der meist nur aus späteren Zeiten bekannten Regelungen verschwommen, überdies die Frage nach der Motivation und Zielsetzung unklar.55 Auf Solon wird später (3.1) noch zurückzukommen sein; für die Begräbnisvorschriften soll dagegen der Fokus wieder auf die epigraphische Überlieferung gelegt werden.
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otiation, conflict, fluctuation – something which the authoritative aspect of epigraphy tries to dissimulate.“ Vgl. Solon F 76a–c Ruschenbusch = F 76a–c Leão/Rhodes = Cic. leg. 2.63–66 beziehungsweise Cic. leg. 2.59 beziehungsweise Plut. Sol. 21.5. Bernhardt 2003, 73–76 hat ausgeführt, dass bestimmte Elemente, wie der verbotene nächtliche Ausgang von Frauen, eher zu „sittenreformerischen Bestrebungen […] des 4. Jhdt. v. Chr.“ passen (73) und Plutarch insgesamt ein Luxusgesetz mit einem Sepulkralgesetz vermischt, welches (wohl von Demetrios von Phaleron) Solon zugeschrieben worden sein soll (76). Siehe weiter ausführlich Blok 2006, 214–222 zur Frage, welche Elemente von Cicero und Plutarch hinzugefügt oder verändert wurden und was als solonischer Kern wahrscheinlich ist; demnach sind bis auf die mit zu begrabenden Gewänder und eventuell den Ochsen keinerlei Aufwandsbeschränkungen authentisch, und es geht generell eher um die Relation von Toten und Lebenden, siehe weiter im Text. Was Bernhardt 2003, 11 für die Luxusgesetze allgemein formuliert, gilt auch hier: „Die Überlieferung der Gesetze ist in vielen Fällen unklar und zweifelhaft. Außerdem wird ein verhältnismäßig großer Teil der archaischen Epoche zugewiesen, was besondere Schwierigkeiten bereitet, weil die meisten Belege nicht zeitgenössisch sind, sondern aus der Zeit zwischen dem späten 5. Jhdt. und dem Hellenismus stammen.“ So mag es sein, dass im Laufe des 6. Jahrhunderts der persönlich angestrebte Grabluxus abnahm (vgl. Bernhardt 2003, 88–91 für die Einschränkungen); gleichwohl hat aus archäologischer Sicht Morris 1992/1993, 37 f. gerade für Athen aufgrund der großen und reich ausgestatteten Gräber gegen einen Zusammenhang von Grabgesetzen und konkreter Grabgestaltung im 6. Jahrhundert argumentiert. Unklar bleibt weiter die Stoßrichtung der Regelungen: Die beiden klassischen Alternativen entweder eines ‚demokratischen‘ Drucks von unten oder aber einer inter-aristokratischen Vermeidung von Konkurrenz – ob zur Verhinderung wirtschaftlicher Verausgabung im Sinne von Veblens „conspicuous consumption“ oder als Teil einer „middling ideology“ (vgl. dafür Morris 2000, bes. 109–191 beziehungsweise Kistler 2004, 156–167, der darunter keine arithmetische sondern geometrische Vorstellungen von Gleichheit versteht) – werden noch ergänzt von den Varianten einer speziellen Einschränkung von Frauen oder schlicht einem Wandel von Einstellungen gegenüber dem Tod und dem Grabritus, einschließlich der Tatsache, dass sich Hierarchie vor allem durch Differenz ausdrückt, also weniger auch mehr sein konnte, so Cannon 1989, 446 f. Bernhardt 2003, 90 f. schließlich stellt darauf ab, dass die Teilnahme von Nicht-Angehörigen am Trauerzug ein Zeichen, wenn nicht von Knechtschaft, so doch von Gefolgschaft war, was nicht zum Charakter einer Gemeinschaft von Freien passte und daher von der polis unterbunden wurde, die dafür zunächst Begräbnisse und erst später dann auch Grabbauten reglementierte; eine These, die zum Beitrag von Nadin Burkhardt in diesem Band zu passen scheint.
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Zu nennen ist eine detaillierte Vorschrift aus Ioulis von der Insel Keos (Ende 5. Jahrhundert):56 Festgelegt werden die maximale Anzahl von drei weißen Hüllen (Unterbett, Laken, Decke) in einem Gesamtwert von nicht mehr als 100 Drachmen. Ebenfalls vorgeschrieben sind die Höchstmengen von drei Kannen Wein und einer Kanne Öl für die Libation am Grab. Dorthin soll der Tote schweigend getragen, die Bahre sowie Gefäße für Wein und Öl danach zum Haus zurückgebracht werden. Es folgen Reinigungsvorschriften: „Am folgenden Tag soll ein Freigeborener das Haus zuerst mit Meerwasser (kultisch) reinigen, dann mit Wasser waschen, nachdem er es (vorher) mit Erde bestrichen hat. Wenn es aber gereinigt ist, sollen das Haus (kultisch) rein sein und Brandopfer am Herd geopfert werden.“ Es folgen weitere Vorschriften, vor allem für Frauen, die eher als die Männer das Grab wieder verlassen sollen und generell nicht zum Haus von Verstorbenen gehen sollen, sofern sie nicht zur engeren Verwandtschaft gehören. Aber auch die Erinnerungszeremonien an den Toten werden auf 30 Tage begrenzt.
Dann findet sich eine ähnliche Vorschrift im sogenannten Großen Gesetz von Gortyn (450), die sich um die Eigentumsverhältnisse nach dem Tod eines Ehepartners dreht.57 Geregelt wird dort die (maximale) Grabbeigabe des Ehepartners von entweder einem Gewand oder 12 Stateren oder etwas im Wert von 12 Stateren.
Und auch eine Vorschrift aus der (allerdings allgemein erst auf 400 datierten) Labyadeninschrift aus Delphi wäre anzuführen:58 Vorgeschrieben wird die maximale Ausgabe von nur 35 Drachmen für ein Begräbnis, hinzu kommt die genaue Auflistung von einer lichtgrauen Decke, nur einem Totenlager, nur einem Kissen, das Verbot von Klagegeschrei außerhalb des Hauses sowie das Gebot, ohne Pause einen vorgeschriebenen Weg zum Grab zu nehmen. Interessant ist vor allem der Zusatz eines Reinigungseids bezüglich der Ausgaben, inklusive einer angedrohten Strafzahlung von 50 Drachmen. 56
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IG 12.5.593 = LSCG 97 = Koerner 1993, Nr. 60 (meine Paraphrase folgt der Übersetzung von Reinhard Koerner). Es handelt sich um eine Zusammenstellung verschiedener Einzelvorschriften, die sich wohl auch auf den Seiten B und C fortsetzten. Ob dies dafür spricht, dass einige Teile älter als das Datum der Niederschrift sind, bleibt unsicher, vgl. Koerner 1993, 222. Zur Frage eines (meines Erachtens unwahrscheinlichen) athenischen Einflusses siehe mit weiteren Verweisen Blok 2006, 212. Vgl. ICret 4.72.3.37–40 = Willetts 1967 = Koerner 1993, Nr. 167 = Nomima 2, Nr. 33 = Gagarin/Perlman 2016, G 72. Meine Interpretation einer Beschränkung von Grabausgaben folgt van Effenterre/ Ruzé, die diese auf Bücheler und Zitelmann zurückgehende Lesart erneut bestätigt haben; für eine Übersicht weiterer Interpretationen s. Gagarin/Perlman 2016, 355 f. CID I 9 = LSCG 76 = LSAG 403 Pl. 13 Nr. 17 = Koerner 1993, Nr. 46 (hier Seite C, Z. 19–39), dem meine Paraphrase folgt. Die Inschrift findet hier Erwähnung zum einen wegen der Sanktionsandrohung, zum anderen da bestimmte Teile der Opfervorschriften auf Seite D älter sein sollen, wenngleich sich daraus nichts unmittelbar für eine Hochdatierung der auf Seite C ausgeführten Sepulkralbestimmungen ergibt.
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In der Perspektive der Governance-Funktionen sind besonders die Reinigungsvorschriften interessant. Wiedergegeben wurde schon der Wortlaut aus Ioulis bezüglich der Reinigung des Hauses durch Meerwasser, Erde, Wasser und Brandopfer. Eine solche Regelung ist gleichwohl nicht leicht zu interpretieren – man stößt auf ein spezifisches Problem weniger von Inschriften als vielmehr von normativen Texten generell. Auf der einen Seite deutet die Festlegung darauf hin, dass solches Vorgehen nicht klar, eventuell sogar umstritten war, aber dennoch für wichtig erachtet wurde. Dies ist bei der Materie, die wie kaum eine andere von religiösen Überzeugungen, rituellen Traditionen und damit sozialen Konventionen reguliert gewesen sein muss, schon an sich überraschend. Auf der anderen Seite fehlt uns gerade dafür aber jeder Kontext – wie auch für die Konsequenz bei Nichtbeachtung der Vorschrift.59 Eine Ausnahme bildet die folgende Inschrift aus Gortyn (5. Jahrhundert), da sie nicht nur die Reinigung anordnet, sondern eben auch die Konsequenz bei Nicht-Befolgung festhält (B 4–7):60 αἰ δέ κα μὲ καθαίρει ἆι ἔγρατται αὐτὸν καθα | ίρεν κ’ ὄ–] [τι κ’ἀν] αισιμόσει [ὀ]μόσαντα διπλεῖ πρ[άδ]δεθαι. „Wenn sie aber die (sakrale) Reinigung nicht vornehmen, wie es (vor)geschrieben ist, dann soll er (der Richter) selbst die (sakrale) Reinigung vornehmen; [was auch immer] er benötigt, das soll er unter Eidesleistung in doppelter Höhe (von den Erben) eintreiben.“
Koerner kommentiert dies nur relativ kurz, weist einerseits auf die offensichtlich nötige Reinigung und andererseits auf die nur geringfügige Bestrafung nachlässiger oder widerspenstiger Erben hin.61 Die Höhe der Strafe ist aber meines Erachtens nicht relevant; wichtiger ist, dass die polis hier verschiedene Governance-Funktionen kombiniert beziehungsweise vereinigt: bezüglich der Entscheidung wie auch der Umsetzung, der Reinigung wie auch der folgenden Rechnungsstellung. Damit geht die Inschrift weit über den allgemein als Vergleich zitierten, von (Ps.-)Demosthenes in der Rede Gegen Makartatus überlieferten, solonischen (?) Passus hinaus, dass wenn jemand in der Deme starb und sich niemand um das Begräbnis kümmerte, der Demarch die Verwandten entsprechend instruieren sollte, die Leiche wegzutragen, zu begraben und die
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Zu Recht hat Harris 2015, 58–60 betont, dass auch bei sogenannten „warning signs“ ohne explizite Sanktion eine solche sehr wohl mitzudenken sei und sich für Zeitgenossen aus dem Kontext ergeben hätte, wie für uns bei Verkehrsschildern mit Geschwindigkeitsbegrenzungen. Dieses Argument könnte man auf das Gesetz übertragen; nur bleibt unklar, worin eine mögliche Sanktion überhaupt hätte bestehen können beziehungsweise ob eine Strafzahlung (wie in der Labyadeninschrift aus Delphi, s. o.) eine fehlende Reinigung des Hauses im religiös-sakralen Sinn hätte wettmachen können. ICret 4.76 = Koerner 1993, Nr. 150 (oben deutsch wiedergegeben) = Nomima 2, Nr. 86 = Gagarin/ Perlman 2016, G 76 (oben griechisch abgedruckt). Koerner 1993, 428.
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Reinigung zu vollziehen.62 Auch hier bleibt es merkwürdig, dass sozialer Druck, Konvention und Sitte nicht als ausreichend empfunden wurden und der Redner solches als (verabschiedetes) Gesetz zitiert.63 Akzeptiert man aber erst einmal, dass solche Regelungen vielleicht nötig waren, jedenfalls existierten, verliert eine weitere Inschrift aus Gortyn (600–525) ihren enigmatischen Charakter mit der Pflicht einer „prothesis, welche man weder durch Gerichtsurteil noch Eid umgehen soll“:64 πρόθεσιν | μήτ’ ἀ[πο]δικάζαι | μήτ ἀπομ[όσαι]
Gagarin und Perlman fassen die Problematik treffend zusammen: „The meaning of these lines depends entirely on the sense of the first word, prothesin.“65 Ihre eigene Deutung, unter Verweis auf das attische prothesmia von einer ‚Frist‘ auszugehen, halte ich dabei für ebensowenig überzeugend wie Koerners Vorschlag, prothesis mit ‚Regel‘ oder ‚Gesetz‘ zu übersetzen; dies gilt, zumal Argumente gegen die übliche Wiedergabe von „Aufbahrung“ inhaltlich nur mit der Undenkbarkeit einer solchen Regelung begründet werden.66 Erneut stößt man aber an die Grenzen dieser Quellen, womit weniger die eine unklare Inschrift aus Gortyn gemeint ist als vielmehr die mehrfach aufscheinende Frage des Regelungsbedarfs. Vor allem aber, setzt man Dissens bezüglich der Begräbnisriten voraus, wie steht es dann mit der Akzeptanz dieser überlieferten Regelungen? Rein methodisch lassen sich wieder Autorität und Legitimität der inschriftlichen Vorschriften von einer bloßen Geltungsbehauptung nicht unterscheiden. Es fehlt die nötige diskursive Dimension, um zu sehen, ob Einschränkungen als legitim beziehungsweise
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Demosth. 43.57: Τοὺς δ’ἀπογιγνομένους ἐν τοῖς δήμοις, οὓς ἂν μηδεὶς ἀναιρῆται, ἐπαγγελλέτω ὁ δήμαρχος τοῖς προσήκουσιν ἀναιρεῖν καὶ θάπτειν καὶ καθαίρειν τὸν δῆμον, τῇ ἡμέρᾳ ᾗ ἂν ἀπογένηται ἕκαστος αὐτῶν. Blok 2006, 213 schreibt zumindest dem in Demosth. 43.62 überlieferten Gesetz bezüglich der prothesis im Haus, ekphora am folgenden Tag und Einschränkung der Besuchsrechte für nahe Verwandte einen solonischen Kern zu; in den Gesetzessammlungen erscheint auch die oben zitierte Passage als solonisch, s. F 109 Ruschenbusch = F 72d Leão/Rhodes. Nach Radin 1910, 45 haben wir hier den seltenen Fall einer „burial association“, die dann, so muss man den Gedanken wohl zu Ende denken, in diesem Fall ihrer Aufgabe nicht nachkommt, so dass die Pflicht an die Verwandten gleichsam zurückfällt. Vgl. ICret 4.22 B = Koerner 1993, Nr. 124 = Nomima 2, Nr. 84 = Gagarin/Perlman 2016, G 22. Koerner übersetzt: „Die (gesetzliche) Vorschrift soll man nicht durch richterliche Entscheidung noch durch Eid abwenden“, siehe dazu aber weiter im Text. Vgl. Gagarin/Perlman 2016, 285; identisch van Effenterre/Ruzé 1995, 308 (zu Nomima 2, Nr. 84): „tout dépend en effet du sense qu’on donne à prothesis.“ Vgl. Gagarin/Perlman 2016, 286. Ähnlich bereits Guarducci 1950, 77 (ICret 4.22 B) und Koerner 1993, 374, dessen Deutung rechtshistorisch beziehungsweise rechtstheoretisch die interessanteste – und gerade deswegen unwahrscheinlichste – Variante bietet, bedeutete es doch, dass Gerichtsurteile beziehungsweise ein Eid ohne eine solche Vorschrift Gesetze hätten aufheben oder außer Kraft setzen können. Von prothesis als Pflicht zur Aufbahrung gehen aus van Effenterre/Ruzé 1995, 309 (2.84); Engels 1998, 51; Garland 2001, 26. Die größte Schwierigkeit liegt meines Erachtens in der Funktion des Eides; ansonsten könnte man hier, wie auch bei der eben diskutierten Reinigung des Hauses durch den Richter, vielleicht weit entfernt lebende Erben annehmen?
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als der polis zukommende Entscheidungskompetenz wahrgenommen wurden oder nicht.67 Die einzige Quelle, die solches ausführlich diskutiert und diskursiviert, deutet nur bedingt auf eine allgemeine Akzeptanz – zu denken ist an die Antigone des Sophokles. Ohne dieses so vielfach (und vielfältig) behandelte Stück hier ausführlich zu würdigen, sei nur darauf hingewiesen, dass letztlich (besonders in den Versen 443– 462) zwei Geltungsbehauptungen aufeinanderprallen, die sich erstens nicht auflösen lassen und zweitens zwar mit Rekursen auf Transzendenz und ewiger Geltung operieren, aber in der Sache nichts mit Religion zu tun haben (auf die sich im übrigen beide Protagonisten, Antigone wie Kreon, berufen und berufen können).68 Man kann es sogar zuspitzen und behaupten, dass es in dem Stück nicht einmal wirklich um das Begraben des Polyneikes geht, sondern schlicht um die Frage der Normsetzung und damit um die Frage, wer das – und hier passt der Begriff – Monopol einer legitimen Entscheidung für sich beanspruchen kann oder ob mehrere Governance-Akteure darum konkurrierten. Dies zeigt sich daran, dass die Tragödie auch spiegelverkehrt verlaufen könnte: Kreon ordnet nach dem Bürgerkrieg die allgemeine Versöhnung und das Begräbnis des Polyneikes an, was Antigone mit Hinweis auf dessen Totschlag des geliebten Bruders Eteokles verweigert und den – von Ismene zwar ungern, aber eben pflichtbewusst beigesetzten und auch beim Volk verhassten – Polyneikes zweimal wieder ausgräbt, sich dabei durchaus erwischen lässt, die Strafe hinnimmt, obwohl das Volk sie insgeheim für die Tat rühmt und die Götter am Ende Kreon dafür zürnen, dass er Antigone zwingen wollte, den Brudermörder zu bestatten. Die ‚Familie‘ und der ‚Staat‘ – Konkurrenz der Governance-Akteure Lässt man sich für einen Augenblick darauf ein, dass die eben vorgestellte Lesart der Antigone zumindest eine mögliche ist, kann man mit dieser Konkurrenz der Governance-Akteure Familie einerseits und politischer Zentralgewalt andererseits gleich mehrfach den Bogen in die Archaik zurückschlagen. Nun mag man diesen strukturellen Konflikt in universalhistorischer Perspektive wiederum für nicht sehr überraschend halten.69 Allerdings konnte dieser hier mit Hilfe der analytischen Kategorien für his-
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Vgl. erneut Ma 2012 139: „The point is not to fall for any notion that epigraphy ‚simply‘ displays authority“ (siehe auch oben Anm. 2 und 53). Ich fasse hier ohne weitere Verweise meine Thesen zusammen, die ich unter dem Titel „L’Antigone di Sofocle. Conflitto di regole o di valori? Una rilettura per un discorso sulla statualità“ im Rahmen der Konferenz „La polis, lo Stato, il teatro“ im Januar 2017 an der Università degli Studi Roma Tre zur Diskussion gestellt habe. Vgl. dazu etwa (knapp und allgemein) Crone 2015, 60 f. oder (ausführlich und exemplarisch) Fox 1993; konzise zusammengefasst wird letzterer von Koschorke 2000, 113–124. Zentral sind u. a. die Forschungen von Jack Goody 1983 und 2000, der auf die Rolle der christlichen Kirche verwiesen hat, in Westeuropa größere Verwandtschaftseinheiten auseinanderzubrechen und eher Kleinfami-
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torisch konkrete Situationen und in verschiedenen Feldern wie Eigentumsrechte und Landvergabe oder auch Begräbnisse nachgezeichnet werden. Solcherart können sich auch an diese, wenn man so will, Betrachtung mittlerer Reichweite noch die bereits kurz angerissenen Fragen nach der Motivationslage anschließen, warum und wann genau, für wen und von wem etwas eingeschränkt werden sollte. Für die schwierig zu deutenden solonischen Vorschriften hat Josine Blok überzeugend dafür plädiert, anstelle von Luxusvorschriften eher die Regulierung des Verhältnisses von Lebenden und Toten zu sehen. Während die Ausgaben für die Beerdigung insgesamt zwar gesunken seien, sei dies kaum geregelt worden. Anders habe es für die direkten Grabbeigaben ausgesehen; hier sollte einerseits die Intensität gemindert werden, mit der ein geehrter Toter noch weiterhin für die ihn Ehrenden ‚agierte‘, und andererseits die Anzahl der durch den Umgang mit dem Toten Verunreinigten minimiert werden. Solcherart wurde der Tod „both a more private and a compellingly public affair“; „responsibility for burials shifted from subgroups of society (genê, phratries, larger kin groups and followers) to smaller family-units on the one hand and to the polis on the other.“70 Gerade die letzte Beschreibung, die ich für zutreffend halte, lässt sich mit dem hier vorgeschlagenen Modell gut fassen; wird doch deutlich, wie sehr ‚familiäre‘ Organisation und Umsetzung von der polis nicht nur reguliert, sondern gleichermaßen auch legitimiert beziehungsweise umgekehrt nicht nur gefördert und erlaubt, sondern auch gerahmt und eingehegt wird.71 Wie bei der Landvergabe auch, erscheint die Legitimation dabei als zweischneidiges Instrument. Man kann in dieser Linie wie Ian Morris den Umgang mit den Toten mit „The rise of the Greek city-state“ koppeln. Aber auch wenn Morris bei diesem Prozess von einer (im welthistorischen Vergleich) geringen Differenz zwischen „the plurality of the citizen society and the unity of the state“ ausgeht und sich der Maxime „the citizens were the state“ verschreibt,72 so wird dieser Prozess nicht ohne Konflikte und konkurrierende Ansprüche vonstatten gegangen sein – und zwar weder historisch-praktisch im Sinne der handelnden Individuen noch analytisch-abstrakt als Governance-Konstellation. Dies ist
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lien und damit sowohl Feudalismus als auch Individualismus den Weg geöffnet zu haben, siehe weiter Fukuyama 2011, 229–241. Für das Spannungsverhältnis von ‚Staat‘ und ‚Familie‘ ist auch auf die historischen Längsschnitte von Emmanuel Todd (zuletzt Todd 2018) oder die Studien von Koschorke et al. 2010 zu verweisen, dazu auf Thelen/Alber 2018, welche die strikte Dichotomie zwischen „kinship and state“ wissenschaftshistorisch erklären und nicht als sinnvolle Untersuchungsprämisse betrachten: „The juxtaposition of kinship and the (modern) state as mutually exclusive is thus so deeply ingrained in the Western worldview and in processes of knowledge production that decoding their coproducation poses a considerable challenge“ (1). Vgl. Blok 2006, bes. 236–240, das Zitat 239. Familie kann dabei durchaus als Großfamilie aufgefasst werden; dagegen gibt es keinerlei genügende Evidenz, von Clan oder „Tribe“ zu sprechen, vgl. dazu empirisch (mit Bezug auf die klassischen Studien von Bourriot und Roussel) Duplouy 2017, 29–32 sowie methodisch Crone 1986, die sich gegen eine solche a priori Annahme verwahrt. Morris 1987, 3. Für das Konzept der ‚Bürgerstaatlichkeit‘ ist weiter auf Walter 1993 zu verweisen.
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besonders augenfällig, wenn man den Fokus über das Feld der Begräbnisse hinaus erweitert und etwa an das Verbot der Aufnahme von Seeräubern in Teos um 470 denkt, was kaum anders erklärt werden kann, als dass es sich dabei um Freunde oder um Verwandte gehandelt haben muss, Loyalitäten zur Person oder Familie aber vom Anspruch der politischen Gemeinschaft zurückgedrängt wurden.73 Für diese Bestimmungen gilt, wie auch für Landvergabe und Begräbnisse, mit John Ma: „The repeated pronouncements are about the definitions of justice and injustice, in relation to the community: a statement of legitimacy and power, again in its Arendtian meaning; the creation of the condition within which action such as selfhelp, takes place within order and meaning.“74 Weiter kann in diesem Kontext auch an das Gesetz von Drakon gedacht werden.75 Auf der einen Seite werden dort die Rechte bestimmter Familienmitglieder gestärkt, die autoritativ über die Möglichkeit von Versöhnung und Entschädigung (anstelle des Exils) entscheiden konnten. Dies geht so weit, dass im Falle von fehlenden Verwandten 10 Mitglieder der Phratrie diese Funktion stellvertretend ausüben sollten (Z.18). Auf der anderen Seite wurde die Blutrache eingehegt, musste öffentlich angekündigt werden und fand ihre Grenze im Exil, wo Blutrache ihrerseits wie eine Tötung bestraft wurde. Man kann hier sowohl von einer Einschränkung der Familie sprechen als auch anmerken, dass die griechische polis ‚noch nicht soweit war‘, Blutrache gänzlich zu unterbinden.76 Beide Deutungen operieren aber argumentativ mit einem klaren Normalfall. Neutraler ist es, zunächst von einem Zusammenspiel zweier Governance-Akteure zu sprechen: Entscheidungskompetenz wird aufgeteilt, liegt gleichwohl eher bei der polis; die Organisationsmacht verbleibt den Familien. Hierdurch, sowie auch durch die öffentliche Ankündigung einer ‚privaten‘ Rache, agieren beide Governance-Akteure – gerade wegen ihrer strukturellen Konkurrenz – als Ko-Produzenten von Legitimität.77
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Vgl. DGE 710 = Meiggs/Lewis 1969, Nr. 30 = Koerner 1993, Nr. 78. Man könnte noch die Bestimmung aus Milet (DGE 727 = Meiggs/Lewis 1969, Nr. 43 = Koerner 1993, Nr. 81 = Nomima 1, Nr. 103) um 470/440 hinzunehmen, wo die Prämie von 100 St. für die Ermordung Verbannter, was deren Anwesenheit in der polis und damit wohl auch die Unterstützung von Freunden vorauszusetzen scheint. Eventuell deutet auch die Bestimmung aus Lyktos (Koerner 1993, Nr. 87 = Nomima 1, Nr. 12 = Gagarin/Perlman 2016, Lyktos 1A), keine Fremden aufzunehmen, in die gleiche Richtung; allein sind sowohl die Inschrift als auch ihr Kontext so lückenhaft, dass Interpretationen schwierig bleiben. Die relativ späten Inschriften passen dazu, dass die These von Morris 1987, die archaischen Gräber spiegelten eine große Rolle der Familienverbünde wider, von Duplouy 2017 bestritten beziehungsweise erst ab dem 6. Jahrhundert für nachweisbar gehalten wird. Aber ob das heißt, die Familien hätten vorher keine Rolle als Governance-Akteur gehabt? Ma 2012, 152. Vgl. IG I2 115 = I3 104 = Koerner 1993, Nr. 11; zum Text siehe Stroud 1968 und Gagarin 1981. Vgl. für das letzte Argument Schmitz 2001, 29, für das erste Phillips 2008, 53: „In effect, by bringing all homicides under the jurisdiction of the State, Draco outlawed retaliatory killing.“ Vgl. zum großen und lang anhaltenden Erfolg (durch die solonische Übernahme) des Gesetzes Phillips 2008, 57. – Der Ausdruck „Ko-Produzenten von Legitimität“ ist eine Anleihe bei den „Ko-Produzenten von Staatlichkeit“ von Schuppert 2014, 78; mein Argument folgt weiter den Konfliktmodi der Governance-Akteure von Beisheim et al. 2011c (vgl. oben Anm. 27).
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Mag das Zusammenwirken von ‚Familie‘ und ‚Staat‘ wiederum nicht überraschen, ist doch die spezifische Governance-Konstellation von Interesse, die in jedem Feld in jeder polis anders sein konnte und vor allem auch historisch variierte. In Lokris etwa dürfte um 500 der Anteil der Familien zumindest an der Governance-Funktion Entscheidungskompetenz beim Blutrecht geringer gewesen sein, war doch in der diskutierten Inschrift zur Landaufteilung der Hinweis zu lesen, dass die Strafandrohungen für einen Antrag auf Neuverteilung den (feststehenden) Strafen für Mord entsprachen, ohne dass dabei irgendeine Rolle der Familien ersichtlich war. Koerner kommentiert dies so, dass das Blutrecht „bereits vollständig der privaten Rache entzogen und seine Ausübung vom Staat in die Hand genommen worden“ sei.78 Die sich abbildende Linie einer Konzentration von Governance-Funktionen bei der polis wird allenfalls durch die Begrifflichkeit von ‚Staat‘ geschmälert – man kann gut auch ohne diesen Begriff und die damit verbundene Vorstellung auskommen; umgekehrt kann die Begrifflichkeit von stateness genauer auf den Prozesscharakter der stetig variierenden Governance-Konstellation hinweisen, Konzentrationsprozesse nachzeichnen und dabei die Frage nach ‚Staat‘ dabei ebenso beiseitelassen wie die von stateness zu differenzierende Frage nach ‚Fortschritt‘: Die Institutionalisierung eines sicheren Exils mag pazifizierend gewirkt haben, einen garantierten Erbteil für Töchter mag man für gut und richtig halten, beide sind aber analytisch zunächst Einschränkungen des Governance-Akteurs Familie in den Feldern Blutrecht beziehungsweise Testierfreiheit. Die Balance der Governance-Akteure bleibt eben ein Nullsummenspiel. Will man diese Perspektive weiter entwickeln, kommt als nächster Schritt die Suche nach weiteren Governance-Akteuren in der Archaik. Edward Harris hat für religiöse Normen Regelungen von panhellenischen Heiligtümern, von der polis, von Untereinheiten der polis, dann von privaten Vereinigungen und schließlich von Individuen ausgemacht und solcherart fünf „levels of authority“ differenziert; ein Bild, das an Schupperts „World of Rules“ erinnert.79 Unter den Stichworten von Konkurrenz und Monopol einerseits, von Staatlichkeit anderseits wären dann etwa die panhellenischen Entscheidungen als ‚supra-polis-level‘ unter der Frage zu untersuchen, ob diese, ähnlich wie diejenigen internationaler Organisationen heutzutage, auf die Organisationsmacht von Staaten/poleis angewiesen bleiben. Ein anderer Aspekt betrifft das Verhältnis der polis zu ihren Untereinheiten. Einen Ansatzpunkt dafür geben bereits solonische Regelungen; in der Überlieferung durch die Digesten heißt es:
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Koerner 1993, 165. Vgl. Harris 2015, 60–77 (ähnlich angedacht schon von Davies 1994, 64 f.; ausformuliert und mit Beispielen versehen von Papakonstantinou 2008, 55–63) beziehungsweise Schuppert 2016. Die Rolle von Orakeln hat John Davies (per litteras, document 734, Punkt 5) betont: „Oracles were therefore an immanent challenge to the sovereignty of any polity or person, and remained so until C5 rationalism largely broke their hold.“
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ἐὰν δὲ δῆμος ἢ φράτορες ᾒ †ἱερῶν ὀργιῶν ἢ ναῦται† ἢ σύσσιτοι ἢ ὁμόταφοι ἢ θιασῶται ἢ ἐπὶ λείαν οἰχόμενοι ἢ εἰς ἐμπορίαν, ὃτι ἂν διαθῶνται πρὸς ἀλλήλους κύριον εἶναι, ἐὰν μὴ ἀπαγορεύσῃ δημόσια γράμματα. „Was eine Gemeinde oder Phratrienmitglieder oder Orgeonen oder Gennetai oder Gastmahlbrüder oder ein Begräbnisverein oder Thiasotai oder Leute, die auf Beute oder Handel ausgehen, untereinander abmachen, das soll rechtens sein, wenn es nicht durch staatliche Verordnung untersagt ist.“80
Es ist dabei nicht davon auszugehen, dass hiermit die genannten Einheiten erst geschaffen werden; dennoch werden sie durch die Regelung als „portions of the state“ anerkannt, was ihnen eine andere rechtliche Qualität verleiht.81 Wie schon in anderen Beispielen wird aber die Zweischneidigkeit der Legitimationsfähigkeit deutlich, setzt doch die hier garantierte „Vereinsautonomie“ (Bringmann) die Fähigkeit – das Monopol? – der polis voraus, eben jene im Sinne einer Art Rahmenerlaubnis zu ermöglichen und zu garantieren, wozu umgekehrt auch gehört, dass im Konfliktfall eine klare Hierarchie und Kompetenz zur Letztentscheidung zu Gunsten der polis deutlich wird; die Einheiten werden also gleichzeitig anerkannt und eingeschränkt.82 80
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Vgl. Dig. 47.22.4 (Gaius) = F 76a Ruschenbusch = F 76a Leão/Rhodes (danach wiedergegeben); die Übersetzung folgt Bringmann 2010 (der hierfür den Terminus „Vereinsautonomie“ verwendet). Siehe weiter Radin 1910, 40–51; Jones 1999, 33–37 sowie (zur Übersetzung) 311–320 (= Appendix II) und Arnautoglou 2003, 44–57. Problematisch ist – wie üblich, möchte man ergänzen – die Frage, ob alle Teile der Vorschrift tatsächlich Solon zuzuschreiben sind beziehungsweise welche Aspekte einer aus den Digesten überlieferten Vorschrift für das Jahr 594 als historisch anzunehmen sind. Im Lichte der hier vorgetragenen Überlegungen spricht aber meines Erachtens nicht sehr viel für übergroße Skepsis (wie bei Arnautoglou), vgl. weiter Ismard 2007, bes. 13, und Kierstead 2013, 83–85. Meines Erachtens gilt dies auch wenn die Terminologie („δημόσια γράμματα“) erst in späterer Zeit auftaucht. So Radin 1910, 51. Radin diskutiert generell (33–35) für corporations die moderne Theorie, „by which a corporation is a creature of the state“, um demgegenüber für die Antike die gegenteilige Reihenfolge festzuhalten und die Einheiten als vorgängig anzusehen. Überzeugend heißt es weiter: „The corporation may have existed for centuries before it was realized that it presented a problem for the law or the government, and the realization may have been the outgrowth of purely accidental circumstances“ (33 f.). – Ob Normen von der polis neu gesetzt wurden, oder ‚nur‘ bereits bestehende Normen nun mit Verfahren der Durchsetzung versehen wurden (worauf Harris 2015, 66 für religiöse Normen Wert legt), ist historisch interessant (dazu die nächste Anm.), für die Frage nach stateness dagegen nicht relevant. Die Frage, ob hier zum ersten Mal die (eingeschränkte) Autonomie der erwähnten Gruppen anerkannt oder aber deren Autonomie nun offiziell eingeschränkt wurde, fällt in der doppelten Rolle der Legitimationsfähigkeit charmanter Weise zusammen. So auch bei Jones 1999, der von „both validating and regulatory“ spricht (37). Die Formulierung vom Nutzen der Vereinigungen für eine „statewide administration“ (37 und weiter 291) bleibt dagegen einer Top-Down-Perspektive verhaftet, welche meine hier vorgeschlagene Begrifflichkeit von Governance-Akteuren vermeidet; ähnlich in dieser Hinsicht Ismard 2007, 15 der von „les relais de cette citoyenneté en formation“ spricht sowie Walter 1993, 218, der die Rolle sozialer Verbände im Staat beziehungsweise bei dessen Entstehung unterstreicht. Dies gilt für ganz unterschiedliche verfassungsrechtliche Entwicklungen: Vgl. etwa Kierstead 2013 für den Konnex zwischen „associations and democracy“ in Athen
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Konkurrenz um die Monopolapparatur Governance-Akteure sind (oder brauchen) immer auch real handelnde Personen. Und damit kommt am Ende auch Norbert Elias wieder ins Spiel – unter dem Schlagwort der Kontrolle der Monopolapparatur, auch wenn dies den Fokus von der Durchdringung einer Einheit auf die Frage nach der Macht innerhalb der Einheit verschiebt, sowohl hinsichtlich seiner Vorstellung der ‚Staatsentstehung‘ als auch – mit der Frage, ab wann „private Monopole öffentlich“ werden – der ‚Organisation von Staat‘. Und ist der von ihm beschriebene Monopolmechanismus auch nicht für die Antike erdacht worden, bleibt er auf Grund der stark idealtypischen Beschreibung doch anschlussfähig.83 Dies gilt u. a. gerade für die letzte Phase, den Kampf um die Monopolapparatur. Hatte Elias das entstehende europäische Bürgertum vor Augen, entspricht dies abstrakt zunächst einmal genau dem, was im Netzwerk unter „Konkurrenz von Institutionen“ verstanden wird. Zu denken wäre im Sinne einer intra-institutionellen Konkurrenz von Amtsträgern etwa an das Iterationsverbot der Kosmen aus Dreros. Folgt man Elias, müsste sich vor der Konkurrenz um die Monopolapparatur ja zunächst das Monopol gebildet haben, also vor der Zeit, die wir mit unseren frühesten Inschriften fassen.84 Sieht man die Aufgabe der Kosmen im dikazein, passt dies durchaus zum Bild der Forschung, die gera-
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oder Seelentag 2013, 339–347 und 2014, der die Rolle von Phlyen und Andreia als soziale Integrationskreise unterhalb der Ebene der polis für die starke gesellschaftliche Homogenität in Kreta herausgearbeitet hat. Elias 1997, 77–84 gibt in einem Abschnitt „Über einige Elemente im Aufbau der mittelalterlichen Gesellschaft verglichen mit der antiken“ vor allem die stärkere „gesellschaftliche Verflechtung“ als Kennzeichen für erstere an und weist als Strukturunterschiede zur Antike auf die fehlende Arbeitskraft von Sklaven und Kriegsgefangenen einerseits und die Ansiedlung in einem Binnenland anderseits hin. Auf welche „Antike“ sich Elias hier bezieht und inwieweit die Unterschiede gerechtfertigt sind, soll hier nicht weiterverfolgt werden. Immerhin sind die Ausführungen von Elias, trotz einer notwendigen Monetarisierung (vgl. Majastre/Delmotte 2017, 91), generell durchaus für die Vormoderne gedacht – anders als bei Simmel 1992, der seine Ausführungen zur Konkurrenz und vor allem ihrer synthetischen Kraft ja dezidiert als für die Moderne entworfen kennzeichnet, eben als Element der Vergesellschaftung der modernen Menschen, die weniger ‚solidarisch, verschmolzen und unbefangen‘ (349) seien als frühere: „Seit die enge und naive Solidarität primitiver und sozialer Verfassungen der Dezentralisation gewichen ist, die der unmittelbare Erfolg der quantitativen Erweiterung der Kreise sein mußte, scheint das Sich-Bemühen des Menschen um den Menschen, das Sich-Anpassen des einen an den anderen eben nur um den Preis der Konkurrenz möglich, also des gleichzeitigen Kampfes gegen einen Nebenmann um den Dritten – gegen welch’ letzteren man übrigens vielleicht in irgend einer anderen Beziehung um jenen konkurriert“ (328 f.). Während der moderne Staat solche Kämpfe der politischen Parteien nicht nur aushält, sondern davon profitiert, wird gerade „der antike und mittelalterliche Stadtstaat, der durch innere Parteikämpfe oft bis zur Vernichtung entkräftet wurde“, als Gegenbild genannt, da hier durch die organische Solidarität eben „das Ganze für die Schädigung durch partielle Konflikte eintritt“ (332). Sieht man einmal von Objektinschriften wie etwa dem auf 720–700 datierten sogenannten Nestorbecher aus Pithekussai (Mus. Ischia Inv. 166788) ab, haben wir mit der Iterationsvorschrift aus Dreros (Koerner 1993, Nr. 90 = Nomima 1, Nr. 81 = Gagarin/Perlman 2016, Dr1) von ca. 650 wohl die älteste erhaltene griechische Inschrift.
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de in diesem Feld den „institutionellen Sprung“ im Vergleich zur Streitschlichtung in den homerischen Epen betont.85 Streitschlichtung erscheint somit in zeitlicher Abfolge auch in allen drei Varianten von Jan Meister und Gunnar Seelentag beschreibbar: Zunächst, seien es die Geronten auf dem Schild des Achilles oder Hesiods dorophagoi, die „gabenfressenden“ Richter, führt die Suche nach der „geradesten Dike“ (δίκην ἰθύντατα) zu einer Institutionalisierung durch Konkurrenz.86 Ist dann ein Monopol etabliert, folgen Institutionalisierung gegen Konkurrenz einerseits und Institutionenkonkurrenz andererseits. Institutionalisierung gegen Konkurrenz passt gut zur Deutung von Gunnar Seelentag, in der verbotenen Eventualität, erneut Kosmos zu sein, nicht das ‚Bekleiden des Amtes Kosmos‘ sondern das ‚Handeln wie ein Kosmos‘ zu verstehen. In dieser Deutung ginge es darum, ‚Privatpersonen‘ davon abzuhalten, eine Konfliktlösung anzubieten, welche eben den amtierenden Kosmen vorbehalten sein soll, die hierfür ein Kartell bilden.87 Eine andere Form von (produktiver) Institutionenkonkurrenz liegt der Deutung von Emily Mackil zugrunde, die für das oben diskutierte Gesetz zu Landvergabe in Lokris festhält, dass der entstehende Staat in seiner Gesetzgebung gerade durch Landverteilung und Garantie von Eigentum die Interessen derjenigen Elite vertrat, die gleichzeitig als seine Magistrate fungierten und als Kämpfer seine Macht erhöhten.88 In beiden Fällen könnte man mit Elias von „Monopoleliten“ sprechen, und beide Beispiele zeigen, wie sehr einerseits die Frage nach ‚Macht in der Einheit‘ von der Frage nach ‚Macht der Einheit‘ divergiert – und andererseits gleichwohl mit ihr zusammen85 86 87
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Vgl. nur Hölkeskamp 2003, bes. 98 f. Vgl. Hom. Il. 18.508 beziehungsweise Hes. erg. 38 f., 219 f., 261–263. Für die drei Varianten vgl. die Einleitung dieses Bandes. Vgl. Seelentag 2009 sowie 2015, 139–155, was Vorstellungen der Limitierung des Amtes im Rahmen von Selbstregulierungen der Elite (so bei Osborne 2009, 174–176) oder zur Vermeidung persönlicher Monopole und gleichmäßigen Verteilung der Gewinne (bei Karachalios 2013, 205–209) noch einmal pointiert. In diesem Netzwerk ist diese Linie von Seelentag durch seine Figur des Kartells beziehungsweise eines Prozesses der Kartellierung ausgebaut worden; diese Deutung ist gleichwohl umstritten, s. nur Gagarin/Perlman 2016, 203 f. oder Maffi 2015, 168–171. Ich halte sie dennoch für überzeugend, vor allem wenn man sie als Monopolisierungsversuch wahrnimmt. Der „institutionelle Sprung“ aus Sicht der Homerischen Epen wäre in jedem Fall weniger in der Rechtsetzung als vielmehr in der Konfliktlösungskompetenz zu sehen. Vgl. Mackil 2017, 70: „The emergent state thus presents itself as an autonomous entity that paternalistically protects the interests of the most privileged members of society, who will be further empowered as its magistrates.“ und weiter: „The Greeks, by creating a convergence between landowners, decisionmakers, and warriors, were able both to create a stable military force and a basis for revenues that would support the state“ (71). Im Hintergrund steht die (plausible) These, dass die Garantie von Eigentum eben nicht nur private, sondern auch öffentliche Macht erst konstituiert – und nicht etwa entweder schon voraussetzt (so bei Stilz 2009, die sich aber auf die legitimen Rechte des modernen Staates im Sinne I. Kants konzentriert) oder aber als davon völlig unabhängig als „innocent, natural condition“ betrachtet wie bei J. Locke (72). Dass damit die „state’s interests“ nach mehr Bürgern und Kriegern erfüllt werden (so 77 mit Bezug auf die oben diskutierte Bestimmung aus Lokris) ist möglich; es berührt das begrifflich wie tatsächlich intrikate Verhältnis von Staat im Verhältnis zu Gesellschaft, Allgemeinheit oder polis.
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hängt.89 So könnte man erwägen, ob etwa mächtige Familienoberhäupter Macht als Governance-Akteure bei steigender stateness verlieren, gleichwohl durch Übernahme von Ämtern im Staat ihre persönliche Macht steigern. Um solches zu überprüfen, müssen die verschiedenen Dimensionen von Staatlichkeit zusammen betrachtet werden – was wiederum leichter und besser geht, wenn man sie vorher analytisch trennt. Hierin liegt der Wert der vorgestellten alternativen, nur konzeptionell konkurrierenden Annäherungen an Staatlichkeit. Zusammenfassung Ausgehend von der übergeordneten Frage nach Konkurrenz und Institutionalisierung einerseits und der Thematik von Staatlichkeit andererseits hat dieser Aufsatz zwei verschiedene Annäherungen vorgestellt und diskutiert. Der erste Ansatz mit Schlüsselmonopolen im Sinne von Nobert Elias richtet sich dabei eher auf Prozesse von Staatsentstehung beziehungsweise Konzentration von state-power/-capacity in Konkurrenz zu anderen Einheiten, kann gleichwohl aber für Fragen einer „Konkurrenz um die Monopolapparatur“ bei der Entstehung und Besetzung von Ämtern in der Archaik in Anschlag gebracht werden. Mit dem zweiten Ansatz von Genschel und Zangl und anderen kann dagegen die jeweilige Governance-Konstellation (also der Anteil von Governance-Akteuren an Governance-Funktionen) untersucht werden sowie, aus Sicht der polis als zentralem Akteur, der Grad der Durchdringung einer Einheit als stateness abgebildet werden. Dies hat sich als fruchtbar erwiesen, um anhand von Inschriften bestimmten Governance-Funktionen der frühen griechischen poleis nachzugehen, dabei teilweise noch differenziert nach Feldern. Während generell wohl davon auszugehen ist, dass eher die Entscheidungskompetenz als die Organisationsmacht bei der polis liegt, gibt es Bereiche, wie Landvergabe und Begräbnisvorschriften, für die bei allen Schwierigkeiten der Quellenlage plausibel gemacht werden konnte, dass die polis auch die Umsetzung übernahm. Hier ist also von steigender stateness zu sprechen. Kombiniert man diese empirische Beobachtung mit der konzeptionellen Annahme, dass der Anteil der Governance-Akteure an den Governance-Funktionen innerhalb einer Governance-Konstellation in einer Balance liegt beziehungsweise – ökonomisch formuliert – ein Spiel mit konstanter Summe ist, schließen sich zwei Fragen an: erstens, welche anderen Governance-Akteure überhaupt ersichtlich sind; zweitens, wer von diesen seine Governance-Funktionen abgeben musste. Im Bereich der Begräbnisvorschriften konnte auf die geringer wer89
Vgl. auch Mann 1986, 125, der für diesen Prozess der Zivilisationsentstehung die Rolle der Schrift zur Festlegung von Eigentum betont und seinen Satz: „The state […] became permanently useful to social life and to dominant groups, in a way that departed from the patterns of pre-history“ direkt fortsetzt: „Possession of the state became an exploitable power resource, as it had not been hitherto.“
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dende Rolle der Familie hingewiesen werden, deren Rolle zumindest in diesem Feld mit dem ‚Aufstieg der polis‘ wohl umgekehrt proportional zusammenhing. Hier, wie auch bei der Landvergabe, ist weiter deutlich geworden, dass die polis ein hohes Maß (ein Monopol?) an Legitimationsfähigkeit erfolgreich in Anspruch nehmen konnte und solcherart sowohl einzelne Entscheidungen treffen als auch ihre Entscheidungskompetenz festigen konnte. Literaturverzeichnis Abbot, Kenneth W. et al. 2018. The Governor’s Dilemma: Competence versus Control in Indirect Governance, WZB Discussion Paper SP IV 2018–101, Berlin. Allen, Danielle 2000. The World of Prometheus. The Politics of Punishing in Democratic Athens, Princeton. Ando, Clifford 2017. Introduction: States and State Power in Antiquity, in: Clifford Ando / Seth Richardson (Hrsg.) Ancient States and Infrastructural Power. Europe, Asia, and America, Philadelphia, 1–16. Arnautoglou, Ilias 2003. Thusias heneka kai sunousias. Private Religious Associations in Hellenistic Athens, Athen. Asheri, David 1966. Distribuzioni di terre nell’antica Grecia, Turin. Beisheim, Marianne et al. 2011a (Hrsg.). Wozu Staat? Governance in Räumen begrenzter und konsolidierter Staatlichkeit, Baden-Baden. Beisheim, Marianne et al. 2011b. Einleitung: Der staatliche Beitrag zu Governance in Räumen konsolidierter und begrenzter Staatlichkeit, in: Marianne Beisheim et al. 2011a, 11–34. Beisheim, Marianne et al. 2011c. Governance jenseits des Staates. Das Zusammenspiel staatlicher und nicht-staatlicher Governance, in: Marianne Beisheim et al. 2011a, 251–266. Berger, Peter, L. / Thomas Luckmann 1969. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. (englische Originalausgabe 1966). Bernhardt, Rainer 2003. Luxuskritik und Aufwandsbeschränkungen in der griechischen Welt, Stuttgart. Blok, Josine H. 2006. Solon’s Funerary Laws: Questions of Authenticity and Function, in: André Lardinois / Josine Blok (Hrsg.) Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden etc., 197–247. Bourdieu, Pierre 2014. Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992, Frankfurt a. M. (französische Originalausgabe 2012). Brandt, Hartwin 1989. Γῆϛ ἀναδασμός und ältere Tyrannis, in: Chiron 19, 207–220. Cannon, Aubrey 1989. The Historical Dimension in Mortuary Expressions of Status and Sentiment, in: Current Anthropology 30, 437–458. Carugati, Federica et al. 2015. Building Legal Order in Ancient Athens, in: Journal of Legal Analysis 7 (2), 291–324. Collin, Peter / Thomas Horstmann 2004 (Hrsg.) Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden. Crone, Patricia 1986. The Tribe and the State, in: John A. Hall (Hrsg.) States in History, Oxford, 48–77. Crone, Patricia 2015. Pre-Industrial Societies. Anatomy of the Pre-Modern World, London.
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Das mittelalterliche Island und die griechische Archaik Grenzen und Perspektiven eines diachronen Vergleichs* Peter Zeller Abstract: The primary challenge of studying the history of Archaic Greece is the lack of written sources or, to be more precise, the difficulty of approaching the contemporary texts known to us as historical sources. Since the 1980s, therefore, scholars have attempted to find new methodological approaches – for example, by adopting analytical tools from other disciplines like social and cultural anthropology – and comparable societies. This paper discusses the possibilities and limitations of a comparative study of medieval Iceland and early Archaic Greece. Despite all methodological problems associated with the Sagas of Icelanders, the early stages of development of medieval Iceland are better documented than all other pre-modern European societies. But because of difficulties inherent in both the written sources and the comparison itself, there we can really compare only some aspects of these societies – albeit important ones. After a brief introduction to the concept behind this comparative approach, this chapter focuses on medieval Iceland as an object of comparison and on the similarities and differences between the Icelandic gothi and early Archaic basileis.
Wie schreibt man eine Geschichte der griechischen Archaik? In den zeitgenössischen Quellen finden sich diffuse Informationen zu verschiedenen Aspekten einer solchen Erzählung: Der archäologische Befund lässt für das 8. und 7. Jahrhundert Veränderungen in der Wohnhausarchitektur1 und den Siedlungsstrukturen2 erkennen, die auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel zumindest hindeuten. Darüber
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Der vorliegende Text basiert auf meiner Tübinger Dissertation mit dem Titel „Zwischen Konkurrenz und Gemeinschaftsbezug. Gesellschaftliche Organisation und Entwicklung im früharchaischen Griechenland und der isländischen Freistaatzeit“; vgl. Zeller 2020. Lang 2005; Lang 2007; Lang 2010; Kistler 2011. Hölscher 1998; Mohr 2013; Sielhorst 2015.
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hinaus finden sich Hinweise auf eine Sublimierung des Handwerks3, eine wachsende Bedeutung überregionaler Heiligtümer4 sowie erste Belege für die griechische Alphabetschrift5. In den literarischen Quellen wiederum lesen wir – bei aller methodischen Vorsicht – von Rats- und Volksversammlungen, von Ämtern, Schiedsinstanzen und gesellschaftlichen Normen sowie von unterschiedlichen sozialen Gruppen.6 Die Epigraphik schließlich gewährt uns – wenn auch zumeist fragmentarisch – Einblicke in frühe Formen schriftlichen Rechts.7 Das ist erheblich mehr Quellenmaterial als uns etwa zur Frühphase der römischen Geschichte zur Verfügung steht. Doch die einzelnen Informationen sind für sich genommen nur schwer zu interpretieren und stehen zunächst in keinem direkten Zusammenhang. Sie finden sich vielmehr über verschiedene Quellengattungen, Siedlungsgemeinschaften und Zeithorizonte verstreut oder sind – wie die meisten Schriftquellen – weitgehend dekontextualisiert überliefert. Wir verfügen also durchaus über vielfältige Informationen zum archaischen Griechenland, können diese aber weder unmittelbar zu einem Gesamtbild verknüpfen noch wissen wir im Einzelfall, was sich beispielsweise hinter den erwähnten Ämtern und Institutionen verbirgt oder wie die verschiedenen sozialen Gruppen angemessen beschrieben werden können. Auch die Literatur der Klassik kann hier nicht als Referenzmaterial herangezogen werden: Sie konzeptualisiert die Zeit vor 500 primär als lineare Vorgeschichte ihrer eigenen Gegenwart und hat zudem einen engen regionalen Fokus, vor allem auf Athen und Sparta.8 Daher muss das Quellenmaterial zunächst in einen interpretatorischen Zusammenhang gebracht und so überhaupt erst für eine historische Analyse zugänglich gemacht werden. Sowohl die kritische Einordnung der Quellen als auch die Auswahl des analytischen Instrumentariums haben erheblichen Einfluss auf das moderne Bild der Archaik. Die altertumswissenschaftliche Forschung ist hier konstitutiv auf Vorentscheidungen und Prämissen angewiesen, die sich nicht direkt aus den Quellen ergeben. Dies ist ein heuristisches Grundprinzip der Geschichtswissenschaft und gilt letztlich für alle historischen Darstellungen. Es tritt jedoch vor allem dann als methodisches Problem zutage, wenn nur wenig Quellenmaterial zur Verfügung steht oder dieses – wie in unserem Fall – in hohem Maße interpretationsbedürftig ist. Vor diesem Hintergrund sind im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Interpretationsansätze entstanden, die sich aus verschiedenen Perspektiven – und mit durchaus konträren Ergebnissen – auf dasselbe
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Duplouy 2006; Meyer/Brüggemann 2007; Seidl 2017. Reber 2009; Mohr 2013. Risch 1987; Powell 1988; Latacz 2007, 682–684.; Binek 2017. Ulf 1990; Schmitz 2014. Hölkeskamp 1999; Gagarin 2008; Seelentag 2015. Walter 1993, 23–27.
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Quellenmaterial beziehen.9 Seit den 1980er Jahren hat sich dann sukzessive ein an der Typologie der Kultur- und Sozialanthropologie orientiertes Analyseinstrumentarium durchgesetzt, das auf dem Vergleich mit anderen Gesellschaften basiert und zunächst vor allem die Akteure – insbesondere die ‚homerischen‘ basileis – und deren Konkurrenz in den Blick genommen hat. Durch das Konzept der Institutionalisierung wurde dieser Ansatz schließlich um eine dezidiert strukturelle Perspektive erweitert.10 Der hier skizzierte Vergleich zwischen dem mittelalterlichen Island und der Früharchaik knüpft an diese Entwicklung an. Im Folgenden werden zunächst das methodische Konzept und dessen konkrete Umsetzung erläutert sowie das mittelalterliche Island als Vergleichsobjekt vorgestellt, bevor dann anhand einiger ausgewählter Beispiele die Grenzen und Perspektiven dieses Ansatzes aufgezeigt werden sollen. Konzeption und Umsetzung des Vergleichs Der Vergleich zweier zeitlich und räumlich weit auseinanderliegender Gesellschaften bedarf einer inhaltlichen Begründung. Um vorschnelle Analogien und Zirkelschlüsse möglichst vermeiden zu können, müssen außerdem klar umgrenzte Ziele und Fragen formuliert und mit einer reflektierten Methodik verknüpft werden. Auch ein Vergleich kann fehlende Informationen in den Quellen nicht ersetzen, es geht vielmehr darum, Faktoren und Zusammenhänge herauszuarbeiten, die wir in den archaischen Quellen zwar abgebildet sehen, die sich aufgrund fehlenden Referenzmaterials aber nicht direkt erkennen oder verifizieren lassen.11 Darüber hinaus können sich aus den Unterschieden zwischen den Vergleichsgesellschaften Erklärungsansätze für die Besonderheiten der griechischen Entwicklung gewinnen lassen. Dahinter steht das methodische Konzept, eine andere, vergleichbare, aber besser dokumentierte Gesellschaft als Vergleichsobjekt heranzuziehen, um erstens auf eine erweiterte Materialbasis und damit zweitens auf ein empirisch besser fundiertes heuristisches Instrumentarium zugreifen zu können. Drittens schließlich sollte der wissenschaftliche Zugriff auf diese historische Formation konzeptionell möglichst unabhängig von der Forschungstradition zum archaischen Griechenland sein. Den heuristischen Kern des hier vorgestellten Vergleichs bildet ein empirisch fundiertes Modell gesellschaftlicher Organisation und Entwicklung, das weniger auf theoretischen Leitsätzen als vielmehr auf dem empirischen Befund zur Gesellschaft des mittelalterlichen Island basiert.
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Zur Konzeption der Archaik als Epoche und zur Forschungsgeschichte s. Heuss 1946; Most 1989; Walter 1998; Hölkeskamp 2000; Davies 2009; Walter 2013. Vgl. zu dieser Entwicklung exemplarisch: Ulf 1990; Gschnitzer 1991; Hölkeskamp 1999; Schmitz 2004; Ulf 2008; Hölkeskamp 2014; Seelentag 2015. Vgl. dazu: Schmitz 2004, 9–25.
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Anhand der folgenden sieben Kriterien wurde überprüft, inwieweit die Gesellschaften des mittelalterlichen Island und der griechischen Archaik sich aus einer historischen Perspektive für einen Vergleich eignen; dies kann hier jedoch nur angedeutet werden: Erstens muss die (Entstehungs-)Geschichte der Vergleichsgesellschaft deutlich besser dokumentiert sein oder zumindest für eine historische Modellbildung strukturell nachvollzogen werden können; zweitens muss die historische Entwicklung dieser Gesellschaft jenseits einer reinen Institutionen- oder Verfassungsgeschichte erzählbar sein, um über einen solchen Interpretationsansatz hinaus auf die soziale Praxis zugreifen zu können; sie muss drittens eine vergleichbare Siedlungsstruktur, einen ähnlichen Institutionalisierungsgrad, eine analoge Sozialstruktur sowie entsprechende ökonomische Bedingungen aufweisen, um von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit ausgehen zu können; sie muss viertens über ähnliche Quellengattungen verfügen, um kongruente Forschungsfragen und Vergleichskategorien formulieren zu können; sie sollte sich fünftens möglichst ohne äußeren Institutionalisierungsdruck entwickelt haben, um exemplarisch auf Entwicklungslinien gesellschaftlicher Selbstorganisation zugreifen zu können; sechstens muss sie sich weitestgehend unabhängig von der griechisch-römischen Tradition entwickelt und eine entsprechend eigenständige Überlieferung ausgebildet haben, um zu vermeiden, dass es auf der Überlieferungsebene mögliche Zirkelschlüsse gibt; siebtens schließlich ist darauf zu achten, dass sich der wissenschaftliche Zugriff auf die Vergleichsgesellschaft nicht konzeptionell aus der Forschung zum archaischen Griechenland entwickelt hat. An dieser Stelle sei noch auf ein theoretisches Problem verwiesen, dass hier nur kurz angesprochen werden kann: Mit der Annahme der grundsätzlichen Vergleichbarkeit dieser Gesellschaften soll nicht mehr gesagt sein, als dass unter ähnlichen strukturellen Bedingungen die Möglichkeit für ähnliche historische Verläufe gegeben ist und dass unter ähnlichen gesellschaftlichen Bedingungen mit strukturell ähnlichen Reaktionsmustern gerechnet werden kann. Damit werden weder die Offenheit historischer Prozesse noch die potenzielle Differenz verschiedener kultureller Räume bestritten. Das mittelalterliche Island als Vergleichsgesellschaft Warum gerade Island? Trotz erheblicher methodischer Probleme im Umgang mit den Schriftquellen sind die Anfänge – und die weitere Geschichte – keiner anderen Gesellschaft der europäischen Vormoderne in vergleichbarer Weise dokumentiert. Ähnlich wie zum archaischen Griechenland gibt es jedoch auch zum mittelalterlichen Island sehr unterschiedliche methodische und inhaltliche Positionen. Die Forschungsdiskussion ist – vereinfacht gesagt – durch zwei gegensätzliche Ansätze geprägt, die sich vor allem darin unterscheiden, auf welche Quellen sie sich stützen. Während die eine Forschungsrichtung eine historische Auswertbarkeit der Sagaliteratur (s. u.) verneint und sich stattdessen auf die rechtsgeschichtlichen und historiographischen Quellen
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stützt, sieht die andere gerade in den Isländersagas ein erhebliches analytisches Potential. Daraus resultieren zwei gegensätzliche Bilder des mittelalterlichen Island: Aus den rechtsgeschichtlichen und historiographischen Quellen wird eine vergleichsweise statische Ordnung mit festen Institutionen bereits in der Frühphase der isländischen Geschichte rekonstruiert, wohingegen sich aus der Sagaliteratur das Bild einer dynamischen Gesellschaft mit fluiden Strukturen ergibt. Die Entscheidung, welchen Quellen der Vorzug zu geben ist, hat erheblichen Einfluss nicht nur auf das jeweilige Bild des mittelalterlichen Island, sondern auch auf die Erzählkonzepte und das heuristische Instrumentarium. Der hier vorgestellte Vergleich knüpft an die zweite Forschungsposition an, da diese meines Erachtens zum einen auf einer besser reflektierten Methodik basiert und zum anderen empirisch plausibler zu sein scheint (s. u.). Nichtsdestotrotz ist sie in der Skandinavistik stark umstritten. Quellenlage12 Neben einer sehr umfangreichen Dichtung13 sowie den historiographischen14 und rechtsgeschichtlichen Texten,15 zeichnet sich der Quellenbestand zur isländischen Landnahme- und Freistaatzeit vor allem durch die etwa 40 Isländersagas sowie die rund 20 Gegenwartssagas aus. Diese Prosaerzählungen finden sich in unterschiedlicher Dichte über die gesamte Insel verteilt und bilden rein quantitativ den Hauptteil der Überlieferung. Die Isländersagas sind biographisch angelegt und schildern das Alltagsleben in der frühen isländischen Gesellschaft. Ihre Plots sind Fehden und andere Konflikte auf Island, die ihre Protagonisten immer wieder auch nach Norwegen und in andere Gebiete des nördlichen Europas führen. In modernen Druckausgaben reicht ihr Umfang von etwa 25 bis zu mehreren hundert Seiten. Auch die Gegenwartssagas sind biographisch organisiert, ihre Plots sind die eskalierenden Auseinandersetzungen innerhalb der sich ausdifferenzierenden und verfestigenden isländischen Oberschicht des 12. und 13. Jahrhunderts. Anders als die Isländersagas zeichnen sie sich durch eine zeitnahe Entstehung aus, sie werden auf das 13. und 14. Jahrhundert datiert. Der größte Teil der Gegenwartssagas ist in einer mittelalterlichen Kompilation überliefert, die in heutiger Drucklegung mehrere hundert Seiten umfasst.
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Dieser Überblick zu den Isländer- und Gegenwartssagas basiert vor allem auf Andersson 1967, Schier 1970; Baetke 1976, Sigurðsson 1999, Würth 2000. Zur isländischen Dichtung s. See 1981; Poole 2005; Würth 2005. Zur historiographischen Literatur s. Wamhoff 2016. Zu den Rechtstexten s. Sigurðsson/Pedersen/Berge 2008; Andersen/Tamm/Vogt 2011; Strauch 2011; Hoff 2012.
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Da eine nachweisbare schriftliche Überlieferung auf Island erst im 13. Jahrhundert einsetzt, wird der Quellenwert der verschiedenen Textgattungen für die Frühzeit der isländischen Geschichte bis heute kontrovers diskutiert. Grundsätzlich gilt, dass sämtliche Texte letztlich nach der Unterwerfung unter die norwegische Krone entstanden und sich – freilich in sehr unterschiedlicher Weise – auf eine wohl bereits im 12. Jahrhundert entstandene Ursprungserzählung beziehen, welche die isländische Geschichte als Abfolge rechtlich-rationaler Entscheidungen darstellt. Wir wollen uns im Folgenden auf die Isländersagas konzentrieren, da ihr Quellenwert besonders umstritten ist, sie aber zugleich die zentrale Quelle der hier vertretenen Forschungsposition sind. Man kann davon ausgehen, dass sich die isländische Überlieferung, ungeachtet der verschiedenen Kontakte in den Mittelmeerraum und bis nach Byzanz, weitestgehend unabhängig von der griechisch-römischen Tradition entwickelte. Dies gilt trotz der bewussten Anknüpfung an das römisch-byzantinische Recht und die sogenannten Antikensagas des 12. und 13. Jahrhunderts, die auf Übersetzungen kontinentaler mittellateinischer Texte antiker Erzählstoffe zurückgehen. Auch für die verschiedenen Pilgerrouten von Island und Skandinavien in den antiken Mittelmeerraum während des Hoch- und Spätmittelalters – nachgewiesen etwa durch Runensteine – kann ein hier relevanter Kulturtransfer ausgeschlossen werden.16 Die Isländersagas als historische Quellen17 Die Isländersagas sind ausschließlich anonym überliefert und sowohl ihre absolute als auch ihre relative Chronologie lassen sich nur unter Vorbehalt bestimmen. Während ihre erzählte Zeit, die Sagazeit, in etwa den Zeitraum von 930–1030 umfasst, datieren die ersten erhaltenen Handschriften sowie die vermutete Entstehungszeit der meisten Texte erst auf das 13. und 14. Jahrhundert; hinzu kommt eine große Varianz in der Überlieferung, die ihrerseits für viele Handschriften erst auf die Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert zurückgeht.18 Dennoch galten die Isländersagas bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein als zuverlässige Quelle für die frühe Geschichte des mittelalterlichen Island. Erst mit dem Streit der sogenannten Freiprosa- und Buchprosatheorie innerhalb der nordischen Philologie begann eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Historizität. Während die Vertreter der Freiprosatheorie eine stabile mündliche Tradition zumindest für möglich hielten, betonte die Gegenseite die literarische Fiktionalität der Sagas; in der historischen Forschung setzte sich gegen Ende der ersten Hälfte des
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Würth 1998; Hoff 2012; Scheel 2015. Die folgende Argumentation basiert primär auf Sigurðsson 1999. S. dazu die Literatur unter Anm. 24 sowie Sigurðsson/Ólason 2004.
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20. Jahrhunderts die Buchprosatheorie durch.19 In den letzten Jahren konnten jedoch aus philologischer, historischer und archäologischer Perspektive gewichtige Argumente für eine strukturell orientierte Auswertbarkeit der Sagas vorgebracht werden. Ausgangspunkt dieser vielschichtigen Argumentation ist die Zielrichtung der historischen Auswertung des Sagamaterials: Es geht nicht um konkrete Ereignisgeschichte oder eine feste Chronologie, sondern um die Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse; aus dieser Perspektive verlieren sowohl der möglicherweise fiktive Handlungsgang als auch dessen Protagonisten weitgehend an Bedeutung. Im Zentrum dieses Argumentationsgangs steht vor allem ein Strukturvergleich mit den Gegenwartssagas: Trotz der gleichzeitigen Entstehung und einer weitreichenden strukturellen Übereinstimmung weisen beide Gattungen auch signifikante Unterschiede bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie der materiellen Kultur auf; ein Umstand, der nur durch eine teilweise Historizität des Sagamaterials oder die bewusste Konstruktion einer vergangenen sozialen Wirklichkeit erklärt werden kann. Letzteres erscheint aufgrund der hohen strukturellen Kohärenz der Isländersagas – auch mit den über 100 älteren ‚Kurzgeschichten‘ (Þáttir) zu den Sagastoffen20 – und der Vielfalt ihrer Plots äußerst unwahrscheinlich, auch wenn es – vor dem Hintergrund des oben skizzierten Entstehungskontextes – nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Parallel dazu haben sich kulturgeschichtlich orientierte Argumentationsmuster etabliert, die im Einzelnen zwar schwer zu belegen sind, in ihrer Gesamtheit den philologisch-historischen Befund aber stützen: Erstens lässt das spezifische Verhältnis von Fiktion und Realität in der Literatur des isländischen Mittelalters weniger auf eine genuine Erfindung der Sagas als vielmehr auf die Verwendung tradierter Erzählstränge schließen. Zweitens ist von einer hohen gesellschaftlichen Relevanz der Tradierung von Genealogien sowie von Besitz- und Machtverhältnissen auszugehen, da die soziale Ordnung der Freistaatzeit strukturell an das Handeln und die Anerkennung ihrer Akteure gebunden war. Drittens schließlich lassen es die strukturelle Konsistenz und die hohe gesellschaftliche Relevanz der Erzählstoffe sowie die zumindest für den rechtlichen Kontext nachgewiesene ars memoriae, durchaus möglich erscheinen, dass die heute erhaltenen Versionen der Isländersagas auf einer einigermaßen stabilen Überlieferung basieren. Komplettiert wird die Argumentation für eine historische Auswertbarkeit der Isländersagas durch die in Island noch vergleichsweise junge Archäologie: Zahlreiche Grabfunde – Hinweise auf Raubgrabungen gibt es bislang keine – bezeugen ihre Schilderungen der materiellen Kultur, die sich in den folgenden Jahrhunderten nachweislich verändert hat.21
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Vgl. dazu (mit weiterer Literatur und einem gelungenen Überblick zur älteren Forschung): Sigurðsson 1999, 9–83. Kritisch zu einer solchen Interpretation der Þáttir ist Jakobsson 2013. Zu dieser Argumentation sowie allgemein zur Mittelalterarchäologie auf Island s. Byock 2001, 5–62, 142–169, 252–291; Byock/Walker/Erlandson et al. 2005; Callow 2006; Vésteinsson 2007a; Walker 2012; Zori/Byock/Erlendsson et al. 2013; Byock/Zori 2014; Zori 2016.
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Und dennoch: Die Isländersagas sind – wie alle anderen Quellen zur frühen Geschichte des isländischen Mittelalters auch – letztlich ein Produkt der Vorstellungswelt des 13. und 14. Jahrhunderts.22 Ihre Interpretation bringt aber meines Erachtens nicht mehr methodische Probleme mit sich als der Umgang mit den historiographischen und rechtsgeschichtlichen Texten. Anders als zur archaischen Überlieferung kennen wir für die isländischen Quellen nicht nur den Entstehungskontext, sondern wir verfügen auch über ausreichend Referenzmaterial. Vor diesem Hintergrund ermöglicht eine strukturelle Auswertung der Isländersagas eine modellhafte Rekonstruktion der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zusammenhänge der Freistaatzeit, die sich – bezogen auf die oben formulierten Kriterien – grundsätzlich als Vergleichsfolie für das früharchaische Griechenland eignet, letztlich aber an ihrer empirischen Plausibilität messen lassen muss. Historischer Überblick23 Island wurde seit etwa 870 n. Chr. vorwiegend von Norwegen sowie von anderen skandinavischen Regionen und dem angelsächsisch-keltischen Raum aus besiedelt. Die Beweggründe der Auswanderer lassen sich heute nur noch bedingt rekonstruieren; neben demographischen, mögen auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle gespielt haben. In den Quellen wird jedoch vor allem eine Ursache betont. So heißt es zu Beginn der Eyrbyggja saga, einer um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Biographie des Goden Snorri goði Þorgrímsson (963–1031):24 Das war zu der Zeit, als König Harald Harfagri in Norwegen an die Macht kam. Wegen des Unfriedens, der dadurch entstand, gaben viele vornehme Männer ihre angestammten Güter in Norwegen auf. Einige von ihnen zogen über das Gebirge Kjöl nach Osten, andere fuhren westwärts über das Meer. Es gab auch einige, die den Winter auf den Hebriden oder auf den Orkneys verbrachten, im Sommer aber in Norwegen Raubzüge unternahmen und großen Schaden anrichteten im Reich König Haralds.
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Kristinsson 2002; Wamhoff 2016. Dieser Überblick basiert (mit weiterer Literatur) im Wesentlichen auf Sigurðsson 1999 und Byock 2001. In diesem Beitrag werden die Standardeditionen der Reihe Íslenzk fornrit zitiert. Die Stellenangaben beziehen sich, den Gepflogenheiten der Skandinavistik entsprechend, auf die jeweiligen Kapitel (kap.) oder Seitenzahlen. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden ältere Schreibweisen in Anlehnung an jüngere Textausgaben normalisiert: Der Buchstabe „ǫ“ wurde durch „ö“ ersetzt, überkommene Doppelungen durch einfache Vokale oder Konsonanten ersetzt. Íf IV, 3 f. (Übersetzung Klaus Böldl): Þetta var í þann tíma er Haraldur konungur hinn hárfagri gekk til ríkis í Noregi. Fyrir þeim ófriði flýðu margir göfgir menn óðul sín af Noregi, sumir austur um Kjölu, sumir um haf vestur. Þeir voru sumir er héldu sig á vetrum í Suðureyjum eða Orkneyjum en um sumrum herjuðu þeir í Noreg og gerðu mikinn skaða í ríki Haralds konungs.
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Da andere Quellen diese Erzählung stützen,25 kann durchaus angenommen werden, dass der Versuch des norwegischen Königs Harald Harfagri (Harald Schönhaar), seine Macht auf die Einflussbereiche der lokalen ‚Kleinkönige‘ ( Jarle) auszuweiten, ein entscheidender Faktor für die Auswanderung aus Norwegen war.26 Bei ihrer Ankunft trafen die Siedler auf irische Eremiten, die sehr schnell vertrieben, versklavt oder getötet wurden. Während der sogenannten Landnahmezeit (etwa 870 bis 930) wurde der Großteil der Insel – soweit das Land agrarisch nutzbar war – unter den nachströmenden Siedlern verteilt. Der archäologische Befund zeigt eine einfache Siedlungsstruktur von schlichten Torfhäusern – Holz stand als Baumaterial nur bedingt zur Verfügung – und Einzelgehöften. Daher wurde das mittelalterliche Island in der modernen Forschung wiederholt als ‚große Dorfgemeinschaft‘ betrachtet. Hinweise auf eine (ökonomisch) klar abgrenzbare Oberschicht als Träger der Besiedlung gibt es nicht. Die Einwanderer stammten aus mehr oder weniger differenzierten Gesellschaften und verfügten insofern über einschlägige Erfahrungen hinsichtlich der Organisation ihres Zusammenlebens. In der abgeschiedenen Lage der Insel (etwa 1000 km westlich von Norwegen) konnte sich die isländische Gesellschaft weitgehend ohne äußeren Institutionalisierungsdruck entwickeln und entsprechend eigenständige Strukturen und Identitäten ausbilden. Hieran änderte sich auch durch die Christianisierung zu Beginn des 11. Jahrhunderts zunächst nur wenig. Die neue Religion scheint in den ersten Jahrzehnten nur wenig Einfluss auf die gesellschaftliche Ordnung und Organisation gehabt zu haben. Das erste Bistum (Skálholt) wurde 1056 geschaffen, doch die Bischöfe traten erst ab etwa 1100 als einflussreiche gesellschaftliche Akteure in Erscheinung. Zunächst profitierten offenbar vor allem die etablierten Anführer (Goden; s. u.) ökonomisch von der zunehmenden Institutionalisierung durch die neue Religion, da die kirchlichen Abgaben an sie zu entrichten waren. Die ökonomische Grundlage des mittelalterlichen Island war eine durch Viehhaltung, Fischerei und Ackerbau geprägte Subsistenzwirtschaft, die durch einen zunehmenden Handel vor allem mit Norwegen ergänzt wurde. Die frühesten Anfänge gesellschaftlicher Organisation liegen auch auf Island weitgehend im Dunkeln. Es ist jedoch davon auszugehen, dass bereits während der Besiedlung gegen Ende des 9. Jahrhunderts ein Bedarf an gesellschaftlichen Regelungsmechanismen bestand. Ab etwa der Mitte des 10. Jahrhunderts werden die gesellschaftlichen Strukturen dann unter anderem durch die Isländersagas historisch greifbar. In der Gesellschaft der Freistaatzeit (ca. 930–1262/4 n. Chr.) gab es keine systematische Rechtsordnung, keine Zentralgewalt und damit keine entsprechenden institutionellen
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Entsprechende Belege finden sich in: Íf V, Kap. 2; Íf VIII, Kap. 10; Íf XXVI, Kap. 19 sowie in mehreren Passagen der Landnámabók (Íf I). Die häufig negative Darstellung der norwegischen Könige in der isländischen Überlieferung kann jedoch auch mit der Unterwerfung Islands im Jahr 1262/4 n. Chr. erklärt werden, da – von einigen Fragmenten abgesehen – sämtliche Texte erst nach dieser Zeit entstanden sind.
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Einrichtungen wie eine zentralisierte Verwaltung oder einen Erzwingungsstab.27 Stattdessen entstanden bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts in einem ungeregelten Prozess fluide, kleinräumige Einflussbereiche (Godentümer; goðorð), die sowohl territorial als auch personal definiert waren. Kontrolliert wurden sie von den Goden (goðar; Sg. goði)28, das heißt von lokalen Eliten mit agrarischem, vornehmlich pastoralem Hintergrund, die von wohlhabenden Bauern ökonomisch anfangs – wenn überhaupt – kaum zu unterscheiden waren.29 Diese personalen Einflusssphären waren in ein Geflecht von überwiegend mündlich tradierten Normen, Konfliktlösungsstrategien und regelmäßigen (über)regionalen Versammlungen – alþingi, várþing, leið sowie situative lokale Zusammenkünfte – eingebunden, deren Zusammensetzung, Ablauf und Funktion hier jedoch nicht näher ausgeführt werden sollen. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts kam die Schaffung neuer Godentümer allmählich zum Erliegen und es gelang besonders erfolgreichen Akteuren, ihren Einflussbereich zu stabilisieren oder auf Kosten anderer Anführer auszuweiten. In der Folgezeit entstand eine klar abgrenzbare Machtelite, die sich so weit verdichtete, bis für das 13. Jahrhundert schließlich nur noch fünf mächtige Godenfamilien greifbar sind, die die Insel untereinander aufteilten. Erstmals eskalierten die Konflikte innerhalb der Elite derart, dass es großflächig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Am Ende der Sturlungenzeit (ca. 1180–1262/4 n. Chr.) mussten sich die Isländer der norwegischen Krone unterwerfen. Es entstanden feste Territorien und Personenverbände, die an die Gefolgschaftsbildung des kontinentaleuropäischen Mittelalters angelegt waren und die seit der Landnahmezeit gewachsene gesellschaftliche Ordnung aufbrachen. Bis zu diesem Zeitpunkt eignet sich die isländische Gesellschaft als Vergleichsobjekt für das archaische Griechenland.
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S. dazu exemplarisch: Sigurðsson 1999, 39–83. Allgemein zu den Goden s. Seggewiß 1978; Aðalsteinsson 1985; Schroeter 1994; Sigurðsson 1999; Byock 2001. Das Wort goði (pl. goðar) ist etymologisch eng mit dem gotischen Wort für Priester (gudja) verwandt und bedeutet wörtlich wohl ‚der zu Gott gehörende‘. Die Herkunft dieses Begriffs ist jedoch ebenso unklar, wie die Ursprünge des ‚Godentums‘. Die Goden des mittelalterlichen Island jedenfalls waren – zumal in christlicher Zeit – nicht alle Priester. In den Quellen tritt diese Aufgabe gegenüber den anderen gesellschaftlichen Funktionen der Goden deutlich in den Hintergrund. Die ältere These eines ‚Tempelpriestertums‘ gilt heute als überholt. Weitere Bezeichnungen dieser Akteure wie etwa goðorðsmaðr oder hofgoði werden in den Schriftquellen weitgehend synonym gebraucht; vgl. dazu Sigurðsson 1999 48 f. Sigurðsson 1999, 84–150. Gegen eine weitgehende ökonomische Gleichsetzung von Goden und Bauern argumentiert Vésteinsson 2007b.
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Gesellschaftliche Stellung und Funktion der Goden30 Wer waren die Goden? Folgt man der eher rechtsgeschichtlich orientierten Forschung, so ergibt sich folgendes Bild: Die Grágas – eine Sammlung isländischer Rechtssätze – nannte bereits für die Frühzeit der isländischen Geschichte ab etwa 930 n. Chr. eine festgelegte Anzahl von zunächst 36 und später 48 Goden, deren Einflussbereiche klar definiert und formell abgesichert gewesen seien. Dem widerspricht jedoch – bei aller methodischen Vorsicht – der Befund aus den Isländersagas. Dort finden sich zahlreiche Berichte über (feindliche) Übernahmen bereits bestehender oder die Schaffung neuer Godentümer durch andere Goden und wohlhabende Bauern.31 Aus diesem Widerspruch heraus untersuchte Jón Viðar Sigurðsson die Isländersagas systematisch auf die Frage hin, wie viele Goden in ihnen genannt werden und worauf sich deren gesellschaftliche Vorrangstellung stützte. Konzeptionell knüpft er dabei – ohne dies näher auszuführen – an die Typologie der sozial- und kulturanthropologischen Forschung an und beschreibt die Goden als eine Art big men.32 Bereits eine zahlenmäßige Bestimmung zeigt, wie fluide und instabil die Position der Goden in den ersten etwa zwei Jahrhunderten der isländischen Geschichte gewesen zu sein scheint: Für die Sagazeit (ca. 930–1030 n. Chr.) lassen sich in den Isländersagas nach vorsichtiger Zählung etwa 50–60 Akteure zeitgleich als Goden identifizieren. Diese Zahl sank bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts auf etwa 30 und im 13. Jahrhundert verblieben – wie erwähnt – lediglich fünf mächtige Familien. Sigurðsson zählt alle jene Personen als Goden, welche in den Isländersagas direkt als solche bezeichnet werden, über eine ‚Anhängerschaft‘ verfügten und bei der zentralen politischen und rechtlichen Versammlung, dem alþingi, eine eigene zeitweilige Unterkunft besaßen (buð; dt. Bude, Zelt); die Zahlen für das 12. und 13. Jahrhundert ergeben sich aus der historiographischen Literatur und den Gegenwartssagas. Wie wenig institutionalisiert das frühe Godentum war, zeigt sich außerdem daran, dass ein Bauer die Möglichkeit hatte, seine Zugehörigkeit zu einem Goden selbst zu bestimmen und diesen im Konfliktfall sogar zu einem Zweikampf um dessen Einflusssphäre herauszufordern konnte.33 In der Ban-
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Diese Darstellung basiert vor allem auf der von Jón Viðar Sigurðsson formulierten Forschungsposition: Sigurðsson 1999. Beispiele zur Übernahme oder Schaffung eines Godentums finden sich in: Íf IX 99, 116–130, 132 f., Íf VII, 295, 300 f. Dies ist insofern von Bedeutung, als auch die jüngere Archaikforschung in hohem Maße durch diesen Deutungsrahmen beeinflusst ist; zu dem methodischen Problem, das sich daraus ergibt s. u. Byock 2001, 63–80; 99–117; Sigurðsson 1999, 39–62, 179; entsprechende Zweikämpfe sind u. a. belegt in Íf III, 93–95; Íf IX 246. Beispiele für den Wechsel eines Bauern zu einem anderen Goden finden sich etwa in Íf III, 37, 162, 227 f.; Íf V, 71, 169; Íf VI, 34, 60, 63 f., 117 f., 125 f., 132, 142, 248, 354, 357 f.; Íf X, 70; Íf XI, 46; Íf XII, 436 f.
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damanna saga (Mitte des 13. Jahrhunderts) wird der Aufstieg des einfachen Bauern Odd zum Goden wie folgt geschildert:34 Allen kommt es beachtlich vor, wie sich dieser Mann entwickelt. Auch Freunde hatte er inzwischen gewonnen. Der Hof steht nun in großer Blüte, und kein anderer Haushalt kann sich an Pracht noch mit dem von Odd messen. Nur eines noch, so schien es den Leuten, fehlte Odd zum größten Ansehen, nämlich ein Godentum. Damals [Mitte des 11. Jahrhunderts; Anm. P. Z.] war es häufiger Brauch, ein neues Godentum zu errichten oder sich eines zu kaufen, und dies tat er nun. Binnen kurzem hatte er eine Schar von Thingleuten beisammen. Sie rissen sich regelrecht darum. Es blieb jetzt eine Weile lang ruhig.
Dies ist eine der wenigen ausführlichen Aufstiegserzählungen der Sagaliteratur. Sie spielt um 1055 im nördlichen Island und erzählt die Geschichte zweier rivalisierender Goden und des Bauern Odd. Ihre Interpretation ist umstritten, da sich der Text in erster Linie ironisch mit der isländischen Oberschicht des 13. Jahrhunderts auseinandersetzt. Auf einer strukturellen Ebene scheint die Bandamanna saga jedoch zugleich die zentralen Elemente gesellschaftlicher Vorrangstellung im ersten Jahrhundert der Freistaatzeit zu spiegeln: ökonomisches Kapital (ein ertragreicher Bauernhof) sowie soziale Ressourcen (‚Anhänger‘ und die Fähigkeit, Gemeinschaftsaufgaben erfolgreich zu erfüllen). Trotz ihrer individuell instabilen Position bildeten die Goden das soziopolitische Zentrum der isländischen Gesellschaft. Sie organisierten und leiteten die verschiedenen Formen politischer und juristischer Versammlungen, bestellten Schlichter und Gesetzessprecher35 (Lögsögumaður) und waren für die Verbreitung und Umsetzung der jeweils gefassten Beschlüsse innerhalb ihrer ‚Anhängerschaft‘ verantwortlich. Darüber hinaus vertraten sie ihre Þingmenn in rechtlichen Angelegenheiten und fungierten als Vermittler, Berater oder Schlichter bei Konflikten innerhalb ihres Godentums. Waren sie dabei besonders erfolgreich, wurden sie auch von ‚Anhängern‘ anderer Goden konsultiert, wodurch sie ihren Einflussbereich vergrößern konnten. Schlichtungsverfahren und andere Konfliktlösungsstrategien waren ein konstitutives Element der gesellschaftlichen Ordnung. Die ökonomischen Grundlagen der Goden waren ihr Ertrag aus der eigenen Landwirtschaft, die Einkünfte aus ihrer Patronage-Funktion und der Vermittlung bei (auch überregionalen) Konflikten sowie Beutegut aus Raubzügen und, ab dem späten 11. Jahrhundert, kirchliche Abgaben. Darüber hinaus organisierten sie den Kontakt und 34
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Íf VII, 300 f. (Übersetzung Mathias Kruse): Þykir mönnum mikils um vert hversu þessi maður gefst. Hann er og vinsæll sjálfur og stendur nú búið með miklum blóma og þykir engis manns ráð virðulegra vera en Odds. Einn hlut þykir mönnum að skorta, að eigi sé ráð hans með allri sæmd, að hann er maður goðorðslaus. Var það þá mikill siður að taka upp ný goðorð eða kaupa og nú gerði hann svo. Söfnuðust honum skjótt þingmenn. Voru allir til hans fúsir. Og er nú kyrrt um hríð. Die Gesetzessprecher waren dafür verantwortlich, die Rechtssätze der Isländer zu memorieren und – nicht nur im Bedarfsfall – regelmäßig zu rezitieren; vgl. dazu die Literatur unter Anm. 21.
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den Handel mit Norwegen und anderen Regionen Nordeuropas. Trotz der zumeist sehr gewalttätigen Plots der Isländersagas, werden gute und erfolgreiche Goden in diesen Texten vor allem als klug, geduldig, entschlossen und eloquent dargestellt. Neben diesen geistigen Fähigkeiten schienen Großzügigkeit und ein charismatisches Auftreten einen Goden auszuzeichnen. Körperliche Kraft und der geschickte Umgang mit Waffen sind in der Handlungslogik der Sagas zwar wichtige Eigenschaften, bei der Bewertung eines Goden spielen sie jedoch eine untergeordnete Rolle. Dies gilt auch für die Abstammung: So war es zwar grundsätzlich möglich, ein Godentum zu vererben oder zu verkaufen, doch der Nachfolger musste seine Eignung selbst unter Beweis stellen und konnte sich nicht dauerhaft auf seinen Vorgänger berufen. Negative Eigenschaften werden in der Sagaliteratur weniger durch eine direkte Benennung als vielmehr durch Taten oder den Gang der Handlung zum Ausdruck gebracht. Hatte ein Gode länger keinen Erfolg oder handelte er gegen die Interessen seiner ‚Anhänger‘, konnte es passieren, dass diese sich von ihm abwandten. Am Beispiel der Hrafnkells saga Freysgoða36 lässt sich zeigen, wie es einem Goden ergehen konnte, der gegen die soziale Ordnung und damit gegen die Interessen der Gemeinschaft verstieß. Die Saga spielt in vorchristlicher Zeit, wurde aber vermutlich erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfasst. Die Handlung ist schnell umrissen: Als Kind kommt Hrafnkell mit seinen Eltern von Norwegen nach Island und steigt dort zu einem erfolgreichen Bauern und schließlich zum Goden auf. Als er den Sohn eines Nachbarn aus einem nichtigen Grund tötet, wird er auf Betreiben von dessen Familie und zwei anderen Goden geächtet. Dadurch verliert er nicht nur sein Ansehen und seine ‚Anhänger‘, sondern auch sein Godentum und seinen Hof; die Familie des Getöteten übernimmt beides gewaltsam. Hrafnkell muss sich in einer anderen Region Islands niederlassen, wo er erneut zu einem wohlhabenden Bauern und Goden aufsteigt. Er holt sich seinen ehemaligen Besitz und Einflussbereich mit Gewalt zurück und dieses Mal findet die Familie des Ermordeten keine Unterstützung bei anderen einflussreichen Akteuren. Schließlich stirbt Hrafnkell in mittlerem Alter an einer Krankheit. Es ist freilich umstritten, wie die Hrafnkells saga Freysgoða zu interpretieren ist. Der Text scheint in erster Linie ein moralisches Lehrstück zu sein, das vor dem Hintergrund der Sagazeit die christlichen Wertvorstellungen des 13. Jahrhunderts reflektiert. Eine strukturell ausgerichtete Analyse der Erzählung lässt jedoch den Schluss zu, dass die frühe isländische Gesellschaft zwar in Ansätzen über soziale und rechtliche Kontrollmechanismen verfügte, letztlich aber keine langfristig wirksamen Instrumente zur Eindämmung der Konkurrenz um ökonomisches Kapital (Hof) und gesellschaftliche Einflusssphären (‚Anhänger‘) ausgebildet hat. Dieses Problem tritt in den eskalierenden Konflikten der Sturlungenzeit offen zutage.
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Allgemein zur Hrafnkell saga vgl. Andersson 1967. Zu der skizzierten Interpretation vgl. Sigurðsson 1999, 53, 56–58, 60, 84, 94, 121, 160 und 179.
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Die Goden stiegen von der Landnahmezeit bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts von einfachen Anführern zu einer Machtelite auf, die sich den etablierten Regelsystemen vollständig entziehen konnte. Dabei stützten sie sich auf ein komplexes Geflecht verschiedener Kapitalien, die sich in Anlehnung an das begriffliche Instrumentarium der Kapital-Theorie Pierre Bourdieus wie folgt strukturieren lassen: ökonomisches, kulturelles, körperliches – d. h. auf die Kampfkraft bezogenes – und soziales Kapital.37 Konkrete Eigenschaften und Fertigkeiten können polyvalent und transformierbar sein, so dass sie sich nicht immer präzise einer dieser Kapitalsorten zuordnen lassen. Die Relation der einzelnen Kapitalien ist schwer zu beurteilen, der weitere Verlauf der historischen Entwicklung lässt jedoch folgendes Modell plausibel erscheinen: Da die Goden ökonomisch zunächst kaum von wohlhabenden Bauern zu unterscheiden waren, scheint ihre gesellschaftliche Vorrangstellung zumindest bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts primär an ihre persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten – etwa bei der Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben – gebunden gewesen zu sein. Aus ihrer gesellschaftlichen Funktion heraus konnten sie zusätzliche ökonomische Ressourcen generieren und damit ihre Vorrangstellung weiter stabilisieren. Die Leitung und Organisation des Zusammenlebens waren wiederum an spezifische kulturelle Ressourcen wie Eloquenz, Rechtskundigkeit und politisches Wissen gebunden, die nur sehr bedingt kurzfristig erworben werden konnten. Mit der zunehmenden Komplexität der Regelsysteme gewann daher wohl das kulturelle Kapital an Bedeutung, was den Zugang zu gesellschaftlichen Einflusssphären weiter verknappt haben dürfte. Bis etwa zur Mitte des 11. Jahrhunderts scheinen jedoch die Akzeptanz und das Vertrauen der eigenen ‚Anhänger‘ und anderer gesellschaftlicher Akteure das zentrale Kapital eines Goden gewesen zu sein. Da soziales Kapital – und auch die ökonomischen Ressourcen um einen eigenen Hof betreiben zu können – nur begrenzt verfügbar, zugleich aber die Grundlage für die individuelle Stellung eines Anführers waren, standen die Goden untereinander – und mit anderen wohlhabenden Bauern – in stetiger Konkurrenz um Einnahmequellen und die Gunst potentieller ‚Anhänger‘. Dieses Kapital war jedoch nicht nur die zentrale Ressource, sondern auch das limitierende Moment des Wettbewerbs um gesellschaftliche Einflusssphären. Aus diesem Bedingungsgefüge heraus unterlagen Goden und potentielle Aufsteiger einer strikten Kontrolle durch die übrigen gesellschaftlichen Akteure: Wer in der Frühphase der isländischen Gesellschaft (bis etwa zur Mitte des 11. Jahrhunderts n. Chr.) dauerhaft gegen die Interessen der eigenen ‚Anhängerschaft‘ oder die Regeln der Gemeinschaft handelte – dies zeigt das Beispiel der Hrafnkells saga Freysgoða –, lief Gefahr, nicht nur sein soziales Kapi-
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Die körperliche Kraft wird bei Bourdieu unter dem symbolischen Kapital subsumiert und spielt in seinem Konzept des sozialen Raumes nur eine untergeordnete Rolle, da er seine Theorie an modernen Gesellschaften formuliert hat. Für die Stellung eines Goden – oder basileus – war sie jedoch durchaus von Bedeutung. Daher wird sie hier – aus einer historischen Perspektive – als eigenständige Kapitalform aufgeführt; vgl. dazu: Bourdieu 1998, 173 f.
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tal und seine gesellschaftliche Position, sondern auch seine ökonomische Basis – den eigenen Hof – zu verlieren. Die Konkurrenz der Goden war zunächst in die bestehenden Regelsysteme eingebunden und zielte nicht darauf ab, den Kontrahenten dauerhaft zu schädigen. Geschickte Akteure konnten die lokalen und (über)regionalen Zusammenkünfte als Foren nutzen, um sich – etwa durch kluge politische Lösungen, eine erfolgreiche Vertretung der eigenen ‚Anhänger‘ oder die Schlichtung schwieriger Konflikte – soziales Kapital zu erarbeiten und damit selbst zum Goden aufzusteigen oder als Gode den eigenen Einflussbereich zu vergrößern. Goden und wohlhabende Bauern, die über die erforderlichen Ressourcen verfügten, hatten Zugang zu diesem Wettbewerb. Das Publikum, um dessen Gunst konkurriert wurde, waren die übrigen Bauern und weniger einflussreiche Goden. Wer selbst nicht aufsteigen konnte, schloss sich besonders erfolgreichen Akteuren an, die dadurch ihr soziales und ökonomisches Kapital weiter vermehren konnten. Im Verlauf des 11. Jahrhunderts gelang es einzelnen Goden – auch durch die Anwendung von Gewalt –, ihre Einflussbereiche erheblich auszuweiten und sich so sukzessive diesen Kontrollmechanismen zu entziehen. Das soziale Kapital verlor an Bedeutung, gleichzeitig stieg der Bedarf an ökonomischen Ressourcen, um die wachsende ‚Anhängerschaft‘ zu binden. Durch diese Entwicklung wurde der Zugang zu gesellschaftlichen Einflussbereichen weiter verknappt und es kam seit dem Ende des 12. Jahrhunderts vermehrt zu Konflikten zwischen besonders mächtigen Goden, die aufgrund ihrer Machtposition nicht mehr in die gesellschaftlichen Regelsysteme eingebunden waren. Dies führte dazu, dass regellose Konflikte aufbrachen, die letztlich auf die Unterwerfung oder Vernichtung des Kontrahenten abzielten. Wie bereits angedeutet, verfügte die Gesellschaft des mittelalterlichen Island offenbar nicht über die geeigneten Instrumente, eine solche Eskalation dauerhaft zu verhindern. Fassen wir noch einmal zusammen: Die Funktion der Goden war potenziell auf Dauer gestellt und in ein System von sozialen Normen und Verfahren eingebunden. Insofern trug sie durchaus Züge eines institutionalisierten Amtes. Da die einzelnen Akteure jedoch weder über eine rechtlich-abstrakte Legitimation noch über andere Formen absoluten Prestiges – wie die Zugehörigkeit zu einer geburtsständisch definierten Gruppe – verfügten, basierte ihre individuelle Position letztlich auf der Akzeptanz ihrer ‚Anhängerschaft‘ und war insofern instabil. Dies gilt – freilich unter anderen Bedingungen – letztlich auch für die Machtelite des 13. Jahrhunderts. Die Stellung des einzelnen Goden blieb bis gegen Ende des 11. Jahrhunderts an das skizzierte Geflecht unterschiedlicher Leistungen und Fähigkeiten gebunden. Als Gruppe waren sie hingegen von Beginn an fest im soziopolitischen Gefüge der isländischen Gesellschaft des Mittelalters verankert. Über ihre gesellschaftliche Funktion hinaus, sind die Goden in den Isländersagas nicht als Gruppe greifbar. Dies änderte sich erst im 12. und 13. Jahrhundert.
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Goden und basileis – ein exemplarischer Vergleich Aus der isländischen Überlieferung und der zugehörigen Sekundärliteratur lässt sich ein historisches Modell gesellschaftlicher Organisation und Entwicklung formulieren, das an die aktuellen Debatten innerhalb der Archaikforschung anknüpft. Dazu wurde die oben skizzierte Geschichte Islands bis zur Unterwerfung unter die norwegische Krone zu drei inkrementellen Analysefeldern verdichtet: 1. Zwischen Institution und personalem Einfluss – Die Grundstruktur gesellschaftlicher Organisation: Theoretisch basiert dieser Teil des Modells auf einem komplexen soziologischen und historischen Konzept von Ordnung38 sowie auf einem erweiterten Institutionenbegriff, wie er u. a. von Peter L. Berger und Thomas Luckmann formuliert wurde.39 2. Zwischen Konkurrenz und Gemeinschaftsbezug – Gesellschaftlicher Einfluss in früharchaischen Siedlungsgemeinschaften: Die Grundlage bilden hier Bourdieus Kapital-Theorie und ein an Georg Simmel angelehnter Konkurrenz-Begriff. 3. Zwischen Konkurrenz und Kontrolle – Das Bedingungsgefüge der gesellschaftlichen Entwicklung: Vor diesem theoretischen Hintergrund wurde schließlich ein empirisch fundiertes Modell sozialen Wandels formuliert. Anhand dieses Modells – und in weitgehender Übereinstimmung mit der aktuellen Forschung – lassen sich die gesellschaftlichen Strukturen früharchaischer Siedlungsgemeinschaften durch zwei zunächst widersprüchliche Beobachtungen charakterisieren. Bei Homer und Hesiod werden verschiedene Versammlungen, Ämter und Verfahren zur Lösung von Konflikten erwähnt. Es finden sich jedoch keine Hinweise auf eine abstrakte Legitimation – etwa in Form einer systematischen Rechtsordnung oder entpersonalisierter Ämter –, einen Erzwingungsstab oder andere administrative Strukturen, so dass die Funktionalität, Durchsetzungsfähigkeit und Reichweite dieser Institutionen letztlich an das Ansehen und den Einfluss einzelner Personen oder kleiner Gruppen – namentlich der basileis und der sogenannten Geronten – gebunden waren. In den Epen werden deren Funktion und Bestand als Gruppe nicht infrage gestellt, zugleich jedoch findet sich bei den Achaiern kein einziger Anführer, dessen Position nicht als zumindest potentiell instabil dargestellt würde; dies gilt auch für die zentralen Figuren Agamemnon, Odysseus, Achilles und Telemachos.40 Daraus resultierte eine strukturelle Schwäche der gesellschaftlichen Regelsysteme, die Konkurrenzfelder und Handlungsräume eröffnete, in denen sich potentielle Kandidaten für eine Anführerschaft beweisen konnten – und mussten: Ein zentrales Thema der Epen sind Konflikte um Ansehen und Einflusssphären sowie deren Auswirkungen auf die jeweilige Siedlungsgemeinschaft. Wird 38 39 40
S. dazu exemplarisch Giddens 1984; Burns/Dietz 1995; Frie/Meier 2014. Vgl. Berger/Luckmann 1980 sowie die Einleitung zu diesem Band. Ulf 1990.
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eine statische Unterscheidung zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Organisation als Analyseraster zugrunde gelegt, erscheinen die skizzierten Quellenbefunde als widersprüchlich. Aus der Perspektive des isländischen Modells hingegen lassen sie sich als Elemente einer spezifischen Ordnungskonfiguration beschreiben. Wechseln wir die Perspektive: Im früharchaischen Griechenland gab es keinen Adel und auch sonst kein absolutes Kriterium gesellschaftlicher Vorrangstellung.41 Doch worauf basierten dann das Ansehen und der Einfluss eines basileus? Der soziale Status jedes Akteurs war an verschiedene persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Leistungen in unterschiedlichen Prestigefeldern gebunden. Innerhalb dieser Felder gab es einen Wettbewerb um die zu verteilenden Ressourcen, der jeweils spezifischen Regeln unterworfen war. Dies kann nicht als anthropologische Konstante vorausgesetzt werden, sondern ist aus der konkreten historischen Situation zu erklären. Ökonomische Güter, Anhänger, soziales Ansehen oder auch der Sieg in einem auf die Körperkraft oder kulturelle Fertigkeiten ausgerichteten Wettbewerb waren nur begrenzt verfügbar und wurden in der Regel im Modus einer triadisch strukturierten Konkurrenz durch Dritte vergeben.42 Dennoch war die archaische Zeit kein ‚agonales Zeitalter‘ mit einer aristokratischen Wettkampf-Ideologie, wie sie in der älteren Forschung paradigmatisch unter dem Begriff des ‚Aristie-Ideals‘ zusammengefasst wurde. Das Urteil, ‚gut‘, ‚schlecht‘ oder auch ‚der Beste‘ zu sein, bezieht sich in den Epen zumeist auf konkrete Fähigkeiten oder eine spezifische soziale Gruppe und bringt daher in der Regel eine relative Qualität zum Ausdruck.43 Übertragen wir dieses Modell auf die Position des Anführers, so ergibt sich zunächst folgendes Bild: Die basileis der Epen verfügen gegenüber den übrigen Bauern über einen relativen Wohlstand, sie sind bewährte Kämpfer und messen ihre Kräfte bei sportlichen Wettkämpfen, sie organisieren und leiten das Zusammenleben und schlichten in Konfliktsituationen. Ihre Vorrangstellung lässt sich als ein komplexes Geflecht ökonomischer, körperlicher, kultureller und sozialer Kapitalien beschreiben; die Leistung innerhalb der einzelnen Felder wird in der epischen Dichtung unterschiedlich bewertet: Agamemnon ist nicht der stärkste Kämpfer der Achaier und dennoch ihr Anführer vor Troia;44 Hector gilt als der beste Krieger der Troianer, nicht aber als der Klügste im Rat;45 Telemachos hat ein Anrecht auf das ökonomische Erbe seines Vaters, nicht jedoch auf dessen Position als basileus;46 der kretische Pirat in einer der Lügengeschichten des Odysseus kann durch Gewalt zum Anführer aufsteigen, seine 41 42 43 44 45 46
Cobet 1981; Stein-Hölkeskamp 1989, 7–56; Ulf 2010b. Zu der Grundlage gesellschaftlicher Vorrangstellung in den homerischen Epen s. Ulf 1990, 1–49 sowie allgemein zu diesem Konkurrenz-Konzept: Ulf 2006; Weiler 2006; Ulf 2008; Ulf 2010a; Ulf 2013; Hölkeskamp 2014. S. dazu Ulf 1990, 29–49 sowie exemplarisch Hom. Il. 11.783–793; 13.726–734. Hom. Il. 9.38 f. Hom. Il. 13.726–735. Hom. Od. 1.389–398.
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Stellung dann aber nicht behaupten;47 Achilles ist unbestritten der beste Kämpfer im Lager der Achaier, doch durch sein Verhalten gegenüber der Gemeinschaft droht er seine time zu verlieren.48 Diese Beispiele zeigen, dass ein langfristig erfolgreicher Anführer mehr benötigte als ökonomische Potenz, Körperkraft und eine (konstruierte) ‚gute‘ Herkunft. Hesiod beschreibt den idealen basileus als gerechten Streitschlichter49 und auch in den homerischen Epen wird von einem guten Anführer vor allem erwartet, dass er – zum Wohle der gesamten Gruppe – klug und vorausschauend handelt. Die entscheidenden Kriterien zur Beurteilung eines basileus – das zeigt sich auch in der Kritik an schlechten Anführern – bezogen sich weniger auf dessen Person als auf die Siedlungsgemeinschaft:50 Wer dauerhaft gegen die Interessen der Gruppe verstieß, lief nicht nur Gefahr, sein gesellschaftliches Ansehen zu verlieren, sondern konnte in letzter Konsequenz sogar ausgeschlossen werden. Diesen normativen Rahmen fassen die folgenden Worte Nestors prägnant zusammen:51 „Ohne Geschlecht, ohne Gesetz, ohne Herd muss der sein, / Der sich sehnt nach dem Krieg, dem schaudervollen, im eigenen Volk!“
Der konkrete soziale Ort dieser Normen war die bäuerliche Dorfgemeinschaft: Unter den Bedingungen der subsistenzorientierten Wirtschaftsweise früharchaischer Gemeinwesen entstand ein auf Kooperation und Kontrolle ausgelegtes Sozialgefüge, dem sich offenbar kein Akteur – auch die basileis nicht – grundsätzlich entziehen konnte.52 Früharchaische Anführer – und ihre potentiellen Rivalen – standen in ständiger Konkurrenz um ökonomische Mittel und gesellschaftliches Ansehen. Da ihr soziales Kapital – in Form von Anhängern (laoi), Verbündeten (hetairoi), Ansehen (time) und vor allem dem Vertrauen der anderen Gruppenmitglieder in die Fähigkeiten zur Leitung und Organisation des Zusammenlebens – jedoch die zentrale Ressource für eine dauerhafte Vorrangstellung war, mussten sie ein Gleichgeweicht zwischen dieser Konkurrenz und den Interessen der Gemeinschaft finden. Der Zugang zum Wettbewerb um gesellschaftlichen Einfluss scheint – zumindest in dem von unseren Quellen erfassten Zeitraum – schwieriger gewesen zu sein als in der Frühphase der isländischen Geschichte. Den basileis war es in Ansätzen gelungen, sich ökonomisch von anderen Bauern abzusetzen und einen gruppenspezifischen Lebensstil auszubilden. Dennoch sind sie weder in der epischen Dichtung noch an anderer Stelle als stabile, klar abgrenzbare Gruppe greifbar. Dieses Modell schließt an die aktuelle Archaikforschung an, kann das Verhältnis der verschiedenen Prestigefelder – insbesondere was das soziale Kapital betrifft – aber konkreter bestimmen. 47 48 49 50 51 52
Hom. Od. 14.191–359. Hom. Il. 9.648. Hes. theog. 80–92. Ulf 2010b. Hom. Il. 9.63 f. (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): ἀφρήτωρ ἀθέμιστοσ ἀνέστιός ἐστιν ἐκεῖνοσ / ὃς πολέμου ἒραται ἐπιδημίου ὀκρυόεντος. Zu den bäuerlichen Dorfgemeinschaften im archaischen Griechenland s. Schmitz 2004, 9–104.
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Trotz der normativen Verpflichtung aller Akteure auf das Wohl und die Interessen der Gemeinschaft versuchten auch im früharchaischen Griechenland Einzelne oder kleine Gruppen immer wieder, sich der sozialen Ordnung entgegen zu stemmen, und der kontrollierte Wettbewerb um gesellschaftliche Einflusssphären eskalierte – ähnlich wie auf Island – wiederholt zu regellosen Konflikten. Dennoch konnte sich keine Machtelite ausbilden, die sich den gesellschaftlichen Regelsystemen dauerhaft hätte entziehen können. Vielmehr gelang es den Siedlungsgemeinschaften des 8. und 7. Jahrhunderts, rechtliche und politische Instrumente auszubilden, welche die Gesellschaften langfristig stabilisierten. Diese Entwicklung wurde in der älteren Forschung als Krise einer vermeintlich aristokratischen Ordnung konzeptualisiert und mit einer sozialen Dialektik zwischen den vermeintlichen Großgruppen ‚Adel‘ und ‚Volk‘ erklärt.53 Die quellenkritischen und historischen Vorannahmen, auf denen diese Sichtweise basiert, haben sich seit den 1980er Jahren sukzessive als zumindest problematisch erwiesen, sind in der Forschungspraxis aber noch immer fest etabliert.54 Aus dem hier vorgestellten Vergleich ergibt sich ein alternativer Deutungsansatz: Das soziale Kapital war nicht nur die zentrale Ressource für eine langfristig erfolgreiche Anführerschaft, sondern – durch seine strukturelle Bindung an die Gemeinschaft – zugleich auch ein wesentliches Element gesellschaftlicher Kontrolle. In einem ungeregelten Prozess wurde dieses Bedingungsgefüge aus der sozialen Praxis der bäuerlichen Dorfgemeinschaft in entpersonalisierte Strukturen überführt. So führten der Bau befestigter agorai, die Verschriftlichung von Normen, die Einrichtung fester Gremien und formalisierter Verfahren sowie die Schaffung entpersonalisierter Ämter nicht nur zu einer stärkeren Institutionalisierung der rechtlichen und politischen Handlungsräume, sondern trugen auch dazu bei, dass die Konkurrenz innerhalb der Oberschicht kanalisiert und entzerrt werden konnte.55 Getragen wurde diese Entwicklung von dem skizzierten Gefüge aus Konkurrenz und Kontrolle, in das letztlich alle gesellschaftlichen Akteure eingebunden waren. Die unterschiedliche Entwicklung der Vergleichsgesellschaften kann hier nur andeutungsweise diskutiert werden. Während sich auf Island für die fragliche Zeit vor allem Einzelgehöfte und Weilersiedlungen nachweisen lassen, gab es im früharchaischen Griechenland darüber hinaus – und in zunehmendem Maße – größere Siedlungseinheiten. Möglicherweise verhinderte die isolierte Siedlungsstruktur, dass langfristig resiliente Ordnungsvorstellungen und Regelungsmechanismen entstehen konnten. Zumindest ist in der isländischen Überlieferung kein der früharchaischen Dichtung vergleichbarer normativer Diskurs greifbar. Dies könnte allerdings auch mit der grundsätzlich unterschiedlichen Perspektive der Quellen erklärt werden: Während die 53 54 55
S. dazu beispielhaft Gschnitzer 1991, Gschnitzer 2013. Zur Kritik an der älteren Forschung s. etwa Ulf 1990; Kistler 2004; Anderson 2005; Rabinowitz 2009. S. exemplarisch zu dieser Entwicklung Hölkeskamp 1999; Hölkeskamp 2003; Gagarin 2008; Seelentag 2009; Seelentag 2015; Sielhorst 2015.
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früharchaische Überlieferung einen zeitgenössischen politischen Diskurs abbildet,56 wurden die isländischen Texte aus einem Abstand mehrerer Jahrhunderte verfasst. Schlussbetrachtung Der hier skizzierte Vergleich geht auf ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziertes Projekt zurück, das zunächst sehr viel breiter angelegt war. So sollte die isländische Überlieferung als Vergleichsmaterial für den gesamten Zeit- und Siedlungsraum der griechischen Archaik herangezogen werden. Es hat sich jedoch schnell gezeigt, dass dieser Vergleich auf verschiedenen Ebenen mit erheblichen inhaltlichen und methodischen Problemen verbunden ist: Erstens haben sich die isländischen Quellen aufgrund der Überlieferungssituation nicht als so ergiebig erwiesen wie zunächst erwartet. Zweitens hat sich gezeigt, dass sich das mittelalterliche Island aufgrund der divergenten historischen Entwicklungen nur für die Frühphase der archaischen Zeit bis etwa zur zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts als unmittelbares Vergleichsobjekt eignet. Auf Island kam es zur Ausbildung einer Machtelite und zur Unterwerfung unter die norwegische Krone, während sich im griechischen Raum rechtliche und politische Handlungsräume etablieren konnten, die der gesellschaftlichen Desintegration erfolgreich entgegenwirkten. Drittens ist das griechische Material in verschiedenen Bereichen – zumindest was die früharchaische Zeit betrifft – so lückenhaft beziehungsweise interpretationsoffen, dass Zirkelschlüsse in Detailfragen letztlich kaum zu vermeiden sind; daher konzentriert sich der Vergleich auf die grundlegenden gesellschaftlichen Zusammenhänge. Viertens schließlich weisen die altertumswissenschaftliche und die skandinavistische Forschung konzeptionelle Gemeinsamkeiten auf, die einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie die jeweiligen Gesellschaften dargestellt werden. Sowohl das Island der Freistaatzeit als auch das archaische Griechenland gelten als eine Art big man society. Das analytische Instrumentarium beider Disziplinen geht auf allgemeine Entwicklungen der Kultur- und Geisteswissenschaften seit den 1970er und 80er Jahren zurück. Eine direkte Abhängigkeit der Forschungsansätze ist zwar nicht erkennbar, es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die beobachtete Ähnlichkeit der Vergleichsgesellschaften zum Teil auch auf diesen Deutungsrahmen zurückzuführen ist. Dieser Einwand lässt sich nicht vollständig auflösen, er wird jedoch dadurch erheblich relativiert, dass das skizzierte Bild der isländischen Freistaatzeit weniger auf einer festen Typologie als vielmehr auf dem konkreten empirischen Befund aus dem vielfältigen Quellenmaterial basiert. Zudem bewegt sich jede Forschung notwendigerweise in ihrem jeweiligen Zeithorizont und ist insofern – ob dies reflektiert wird oder nicht – an dessen Rahmenbedingungen gebunden.
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Trotz dieser Einschränkungen hat sich der Vergleich insgesamt durchaus als fruchtbar erwiesen. Insbesondere konnte ein historisches Modell gesellschaftlicher Organisation und Entwicklung formuliert werden, das es – gerade auch aus den Unterschieden zwischen den Vergleichsgesellschaften – ermöglicht, bestehende Positionen zum archaischen Griechenland zu überprüfen und neue beziehungsweise anders akzentuierte Überlegungen in die Forschungsdiskussion einzubringen. Der methodische Mehrwert dieses Modells besteht vor allem darin, dass es weder auf einer statischen Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Strukturen noch auf der Annahme einer sozialen Dialektik zwischen den gesellschaftlichen Großgruppen ‚Adel‘ und ‚Volk‘ basiert. Es beschreibt vielmehr ein komplexes Bedingungsgefüge aus Konkurrenz und Kontrolle, das es ermöglicht, sozialen Wandel anhand verschiedener Parameter differenziert zu beschreiben. Dieser Zusammenhang zwischen dem Wettbewerb um gesellschaftliche Einflusssphären und der sozialen Kontrolle lässt sich unmittelbar an den früharchaischen Quellen belegen. Literaturverzeichnis Aðalsteinsson, Jón Hnefill 1985. Blót and þing. The Function of the Tenth Century goði, in: Temenos 21, 23–38. Andersen, Per / Ditlev Tamm / Helle Vogt (Hrsg.) 2011. How Nordic are the Nordic Medieval Laws? Proceedings from the First Carlsberg Conference on Medieval Legal History, Copenhagen. Anderson, Greg 2005. Before Turannoi Were Tyrants. Rethinking a Chapter of Early Greek History, in: CA 24, 173–222. Andersson, Theodore M. 1967. The Icelandic Family Saga. An Analytic Reading, Cambridge/ Mass. Baetke, Walter 1976 (Hrsg.) Die Isländersaga, Darmstadt (2. Aufl.). Berger, Peter L. / Thomas Luckmann 1980. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. (englische Originalausgabe 1966). Binek, Natasha M. 2017. The Dipylon Oinochoe Graffito. Text or Decoration?, in: Hesperia 86, 423–442. Bourdieu, Pierre 1998. Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. (französische Originalaushabe 1994). Burns, Tom R. / Thomas Dietz 1995. Kulturelle Evolution. Institutionen, Selektion und menschliches Handeln, in: Hans-Peter Müller / Michael Schmidt (Hrsg.) Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt a. M., 340–383. Byock, Jesse L. 2001. Viking Age Iceland, London. Byock, Jesse L. / Philip Walker / Jon Erlandson et al. 2005. A Viking-Age Valley in Iceland. The Mosfell Archaeological Project, in: Medieval Archaeology 49, 195–218. Byock, Jesse L. / Davide Zori (Hrsg.) 2014. Viking Archaeology in Iceland. Mosfell Archaeological Project, Turnhout. Callow, Chris 2006. Geography, Communities and Socio-Political Organization in Medieval Northern Iceland, in: Wendy Davis / Guy Halsall / Andrew Reynolds (Hrsg.) People and Space in the Middle Ages, 300–1300, Turnhout, 65–86.
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Die Institutionalisierung elitärer Konkurrenz in der homerischen Volksversammlung Stefan Frass Abstract: Homeric society knew of various social institutions, such as the individual leadership position of the basileus and various deliberative councils of groups of such basileis. Yet these institutions could not make binding resolutions that affected the community as a whole. This chapter demonstrates that the Homeric popular assembly (of laoi or the demos) was the only genuine political institution that was competent to make such decisions. Although basileis normally can dominate such assemblies, the moment they fail to reach a consensus, they must compete to win approval of the assembled demos. In such cases, all members of the assembly collectively become the deciding political instance.
Vorbemerkungen Die homerischen Texte geben bekanntlich einen Einblick in die früharchaische Gesellschaftsordnung. Dies ist auch unabhängig davon der Fall, dass die Entstehungszeit der Epen nicht präzise zu verorten ist und es sich bei diesen um ‚Heldendichtung‘ handelt. Dieses Genre unterlag eigenen Gattungsgesetzen, welche sich in den homerischen Texten widerspiegeln und bei der historischen Auswertung berücksichtigt werden müssen.1 Das verschwommene Bild der früharchaischen Gesellschaftsordnung lässt sich freilich etwas schärfen, indem man die Texte des Hesiod mit heranzieht, welche in derselben Phase der griechischen Geschichte entstanden. Die soziopolitische Ordnung, welche man dadurch konstruieren kann, war – im evolutionären Sinn – eine vorstaatliche Ordnung. Diese stellt sich aber nicht als statisch dar, sondern sie war in Bewegung und die Dynamik der Epoche lässt sich zumindest erahnen. Ob man diese fassbaren gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nun Staatsentstehung, Entstehung von Staatlichkeit oder auch politische Institutionalisierung nennen will,
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Hierzu s. Ulf 2001 und Foley 2004.
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ist zumindest in Bezug auf das Politische selbst von geringerer Relevanz.2 Es ist aber zweifellos zutreffend, dass man mit dem prinzipiell offeneren Institutionalisierungsbegriff Phänomene wie die Entstehung panhellenischer Agone oder der Symposien als primär soziale Institutionen besser miteinbeziehen kann; und gerade im Rahmen eines Forschungsnetzwerkes, in welchem verschiedene Phänomene des archaischen Griechenlands untersucht werden, ist der Institutionalisierungsbegriff vorzuziehen.3 Im Folgenden soll aber eine genuin politische Institution betrachtet werden, nämlich die homerische Volksversammlung, die agora. Dabei soll es das Ziel sein zu zeigen, dass die Volksversammlung die einzige genuin politische Institution ist, welche die homerische Gesellschaftsordnung kennt. Zumindest ist dies dann der Fall, wenn man als politische Institutionen nur solche anerkennen will, welche verbindliche Entscheidungen für ein Gemeinwesen als Ganzes treffen können.4 Außerdem soll dargelegt werden, dass die Institution der Volksversammlung über das größte Potenzial verfügt, ihrerseits als Katalysator eines verstärkten politischen Institutionalisierungsprozesses zu dienen. Dies galt gerade auch für die Institutionalisierung politischer Konkurrenzkämpfe innerhalb der archaischen Elite.5 Die Kompetenzen der homerischen Institutionen Neben der homerischen Volksversammlung als genuin politischer Institution existieren selbstverständlich soziale Institutionen. So gibt es in den einzelnen homerischen Gemeinwesen, wie etwa dem Schiffslager der Griechen vor Troia oder auch dem homerischen Ithaka, Anführerpositionen. Mit dem Terminus ‚basileus‘ gibt es für eine solche Position auch eine klare Bezeichnung. Auch sind gewisse Vorrechte mit der Bekleidung dieser Positionen verbunden. So scheinen etwa in der Volksversammlung zentral gelegene Sitzplätze für die homerischen basileis reserviert zu sein, und diese scheinen in der Regel auch als die Wortführer in der Volksversammlung zu fungieren und so die politische Agenda zu setzen. Politisch institutionalisiert ist die Vorrangstellung dieser Akteure aber nicht, da sie selbstständig keine verbindlichen Entscheidungen für ihre Gemeinwesen treffen können. Vielmehr basiert ihre Stellung primär auf individueller wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sekundär auf körperlicher und geistiger Fähigkeit. Die basileis bilden, zusammen mit ihren Familienangehörigen, die gesellschaftliche Elite. Diese Elite ist bekanntlich zum einen noch
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Das ‚Politische‘ soll im Sinne der konzisen Definition von ‚Politik‘ durch Fuchs/Roller 2009, 205, verstanden werden: „Politik besteht in der Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch allgemein verbindliche Entscheidungen“. Siehe dazu die Einleitung dieses Bandes. Siehe Anm. 2. Zum Problem der institutionalisierten Konkurrenz s. Hölkeskamp 2014, besonders 44–48.
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fest verwurzelt in der bäuerlichen Alltagswelt.6 Der ökonomische Abstand zwischen ihr und den unterelitären Schichten, vor allem der Schicht der Vollbauern, ist nicht unüberwindlich groß.7 Zum anderen fehlt es der homerischen Elite aber an Gemeinsinn,8 auch wenn dieser vom homerischen Dichter – ebenso wie von Hesiod – immer wieder eingefordert wird. Der ideale, von Zeus selbst legitimierte basileus aus der Theogonie des Hesiod ist eben genau das: ein Ideal, welches nur in der idealen Welt existieren konnte: Wenn die Töchter des großen Zeus einen der zeusgehegten Könige begünstigen und bei seiner Geburt huldvoll anblicken, träufeln sie ihm süßen Tau auf die Zunge, und gewinnende Worte entströmen seinem Mund; alle Leute schauen auf ihn, wie er Urteile fällt in gerechter Entscheidung. Er spricht mit Festigkeit und beendet rasch und klug sogar gewaltigen Streit. Dazu nämlich gibt es kluge Könige, daß sie für Menschen, die Schaden
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Siehe dazu grundlegend Strasburger 1953; außerdem Ulf 1990, 175–212. Am eindrücklichsten ist hier immer noch die Beschreibung des oikos des Odysseus, der eben nicht als ein Palast, sondern als ein großer Bauernhof beschrieben wird (Hom. Od. 17.265–299). Bei den archäologisch identifizierbaren Haustypen ist hier am wahrscheinlichsten an ein Hofhaus zu denken (vgl. Lang 1996, 95–97). Solche Häuser standen einzeln oder in einer Häusergruppe und besaßen mehrere Räume, welche auf drei Seiten um einen Hof gruppiert waren. Der Hof wurde auf der Seite ohne Gebäudeteile durch eine Mauer samt Hoftor begrenzt, durch welches der zentrale Zugang zu Hof und Häusern erfolgte. Vgl. dagegen aber Mylonas Shear 2000, 1–28, welche den oikos des Odysseus als spätbronzezeitlichen mykenischen Palast identifiziert. Ulf 1990, 177–187 gibt einen umfangreichen Überblick über die von Mitgliedern der Elite eigenhändig durchgeführten bäuerlichen und handwerklichen Arbeiten. Zu ergänzen wäre, dass Nausikaa, die Tochter des obersten basileus der Phaiaken, ihre Kleider selbstverständlich selber waschen muss, wenn auch mit der Hilfe von Dienerinnen (Hom. Od. 6.57–84). Auch sind es ihre Brüder, und nicht etwa Diener, die ihren Wagen später ausspannen, sich um die Tiere kümmern und die Wäsche ins Haus tragen müssen (Hom. Od. 7.4–6). Von einer stärkeren sozialen Differenzierung der homerischen Gesellschaft geht etwa Schmitz 2004, 29–33 und 105–147 aus. Die Belege dafür sind vielfältig, hier sei exemplarisch auf den Streit zwischen Agamemnon und Achill zu Beginn der Ilias verwiesen (Hom. Il. 1.101–194, 223–303), außerdem auf das Massaker, welches Odysseus unter den Freiern anrichtet (Hom. Od. 22.1–389) und die Episode, wie er seine eigenen Dienerinnen, welche sich mit den Freiern eingelassen hatten, ‚abschlachten‘ lässt (Hom. Od. 22.417–479). Vor allem die Handlungen des Odysseus sind bezeichnend, denn wenn er an seinen Sohn und dessen bereits geschmälertes Erbe dächte, nähme er die Wiedergutmachungsangebote der Freier an und ließe nicht seine eigenen, wohl unfreien Dienerinnen töten. Doch seine eigene Ehre, die er als verletzt empfindet, ist ihm wichtiger, als das Wohl seines oikos. Auch die Worte des Achilles, mit denen er das Wiedergutmachungsangebot des Agamemnon ablehnt, verdeutlichen seinen fehlenden Gemeinsinn (vgl. Hom. Il. 9.346–429). Er weiß, dass er nicht nur Agamemnon bestraft, indem er der Schlacht fernbleibt, sondern die gesamte Gemeinschaft, also auch all jene Achaier, welche seine Ehre in keiner Weise verletzt haben. Die Alleinschuld des Agamemnon erkennt er auch anderswo an (vgl. Hom. Il. 1.334 f.), dennoch nimmt er die Gemeinschaft gleichsam als Geisel, um seinen Zorn auf Agamemnon abzureagieren. Deshalb trägt er Odysseus auch auf, allen Achaiern seine Antwort mitzuteilen; s. Hom. Il. 9.269 f. (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): „Der Atreus-Sohn! Dem sage alles, wie ich es auftrage, / Öffentlich, daß auch die anderen Achaier darüber erbittert sind“ – Ἀτρεΐδης· τῷ πάντ’ ἀγορευέμεν ὡς ἐπιτέλλω / ἀμφαδόν, ὄφρα καὶ ἄλλοι ἐπισκύζωνται Ἀχαιοὶ.
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erlitten, auf dem Markt mit leichter Mühe alles zum Guten wenden und ihnen mit freundlichem Wort Genugtuung schaffen.9
Der Anspruch des Dichters, als ein Vertreter der unterelitären Vollbauern, an die Elite wird sehr deutlich: Diese habe gefälligst gemeinsinnig zu handeln und damit dem Gemeinwohl zu dienen – ansonsten bräuchte die Gemeinschaft sie nicht. Für elitäre Konkurrenzkämpfe hat die ideale Ordnung des Hesiod keinen Platz. Doch die Realität stellt sich anders dar, zumindest wenn man die sonstigen Darstellungen elitärer Handlungsmuster aus den homerischen Texten und den Werken und Tagen des Hesiod berücksichtigt. In jedem Fall ist die Elite nicht in dem Maße in die dörflichen und nachbarschaftlichen Gemeindestrukturen eingebunden, wie dies für die unterelitären Schichten der homerischen und hesiodeischen Gemeinwesen konstitutiv scheint.10 Das Fehlen jeder politischen Institutionalisierung der Vorrangstellung dieser Elite bedeutet aber auch, dass es sich nicht um einen ‚Adel‘ oder eine vergleichbare Gruppe handeln kann.11 Die basileis sind dann auch nur in Ausnahmesituationen – etwa bei Rechtsstreitigkeiten12 oder bei kriegerischen Bedrohungen13 – die Ansprechpartner für die unterelitären Gemeinschaftsmitglieder. Dieser Umstand gilt trotz des fehlenden Gemeinsinns der basileis. Ansonsten scheint deren Vorrangstellung doch eine eher passive zu sein. Die basileis haben damit durchaus Macht,14 üben aber keine Herrschaft aus.15 Will man nun als eine genuin politische Institution tatsächlich nur solche Instanzen akzeptieren, die 9
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Hes. theog. 81–90 (Übersetzung Otto Schönberger): ὅντινα τιμήσουσι Διὸς κοῦραι μεγάλοιο / γεινόμενόν τε ἴδωσι διοτρεφέων βασιλήων, / τῷ μὲν ἐπὶ γλώσσῃ γλυκερὴν χείουσιν ἐέρσ ην, / τοῦ δ’ ἔπε’ ἐκ στόματος ῥεῖ μείλιχα· οἱ δέ νυ λαοὶ / πάντες ἐς αὐτὸν ὁρῶσι διακρίνοντα θέμιστας / ἰ θείῃσι δίκῃσιν· ὁ δ’ ἀσφαλέως ἀγορεύων / αἶψά τι καὶ μέγα νεῖκος ἐπισταμένως κατέπαυσε· / τούνε κα γὰρ βασιλῆες ἐχέφρονες, οὕνεκα λαοῖς / βλαπτομένοις ἀγορῆφι μετάτροπα ἔργα τελεῦσι / ῥηιδίως, μαλακοῖσι παραιφάμενοι ἐπέεσσιν. S. Schmitz 2004, 27–104 zur Stellung der unterelitären Schichten, vor allem der Vollbauern, und 105–147 zur Stellung der Elite in und zu der Dorfgemeinschaft. In der gesamten archaischen und klassischen Zeit konnte sich in Griechenland niemals ein ‚Adel‘ bilden und dies hat sicherlich auch mit der hohen Bedeutung der Volksversammlung als einer eher auf politische Egalität zielenden Institution zu tun, wie sie bereits in den homerischen Texten fassbar wird. Hierzu s. auch Schmitz 2008. Hier waren die unterelitären Schichten, wenn keine gütliche Einigung möglich war, auf die Schlichtung beziehungsweise die Entscheidung der elitären basileis angewiesen, auch wenn eine der Streitparteien dann möglicherweise mit der getroffenen Entscheidung unzufrieden war. Dies scheint etwa im Fall des Hesiod in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder Perses so gewesen zu sein; dazu Schmitz 2004, 31–33. Allerdings wäre ohne die Masse der unterelitären Kämpfer auch ein ‚epischer‘ Kampf nicht zu gewinnen; vgl. Latacz 1977, besonders 68–95. Macht im Sinne von Max Weber (Weber 51972, 28): „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Herrschaft im Sinne von Max Weber (Weber 51972, 28): „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.
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verbindliche Entscheidungen für ein Gemeinwesen als Ganzes treffen können, dann ist die ‚Anführerposition der basileis‘ keine politische Institution. Auch für die exklusive Ratsversammlung der basileis, also die boule, lässt sich Ähnliches postulieren. Die Ratsversammlung ist sicherlich eine soziale Institution der Elite, welche zur politischen Konsensfindung innerhalb der Elite und damit zur Einhegung von Konkurrenz beitragen kann. Der Entscheidungsfindungsprozess in der Ratsversammlung ist aber nicht öffentlich. Die Beratungen finden in der Regel daher auch nicht im Freien statt, sondern in einem geschlossenen Raum. Wenn Entscheidungen getroffen werden, dann sind diese für das Gemeinwesen nicht verbindlich. Die einzige Ausnahme von dieser Regel scheint die Entscheidung der Ratsversammlung im 7. Gesang der Ilias zu sein, in welcher Nestor die Art und Weise der Bestattung der Gefallenen des Kampftages sowie den Bau einer Mauer und eines Grabens um das Schiffslager vorschlägt.16 Die versammelten basileis stimmen diesen Vorschlägen zu. Allerdings folgt unmittelbar nach der Ratsversammlung der erzählerische Sprung zu einer Volksversammlung der Troianer, in welcher diese beschließen, ein Friedensgesuch an die Griechen zu schicken. Beide Versammlungen finden am Abend statt und unmittelbar am nächsten Morgen bricht der troianische Herold Idaios ins Schiffslager der Griechen auf, um dort das Friedensangebot zu überbringen. Er trifft nun dabei die Griechen in einer gerade stattfindenden Volksversammlung an und wendet sich direkt an den versammelten laos, um die Vorschläge der Troianer zu unterbreiten. Es kommt nicht zu einem Friedensschluss und man verständigt sich nur darauf, dass beide Parteien in Frieden ihre Gefallenen bestatten können. Allerdings wird im Text nicht genannt, warum sich die Volksversammlung der Griechen am frühen Morgen überhaupt getroffen hat. Doch ist der Dichter auch nicht gezwungen, dies explizit auszuführen. Denn worüber, wenn nicht über die Vorschläge des Nestor, welche durch den Beschluss der Ratsversammlung zu konsensualen Vorschlägen der Elite wurden, hätte denn der laos am frühen Morgen entscheiden müssen? Jedenfalls werden sowohl die Bestattungen als auch die Befestigungsmaßnahmen erst nach dieser Volksversammlung durchgeführt. So liegt die Vermutung nahe, dass – zumindest innerhalb der imaginierten Ordnung – die Volksversammlung den elitären Vorschlägen zugestimmt haben muss, bevor der Herold Idaios die Bühne betritt. Die Letztentscheidungsbefugnis scheint also auch in diesem Fall bei der homerischen Volksversammlung zu liegen. Dass in den Fällen eines innerelitären Konsenses die Entscheidungen faktisch in der Ratsversammlung getroffen werden und damit dort die politische Agenda gesetzt wird und nicht in oder durch die Volksversammlung, ändert nichts an der Letztentscheidungsbefugnis der agora. Doch ist in konsensualen Entscheidungsfällen kein Werben um die Zustimmung der Volksversammlung notwendig, da keine konkurrierenden Alternativen geboten werden. Zwar existiert in solchen Fällen weiterhin eine ‚Dritte
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Hom. Il. 7.323–442.
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Instanz‘ im Sinne von Georg Simmel, doch verzichten die Akteure auf einen Konkurrenzkampf, sodass es für die Dritte Instanz nichts auszuwählen gibt.17 Die homerische Volksversammlung, trotz ihrer Entscheidungsbefugnis, erscheint daher als eine schwache politische Institution. Die agora als Letztentscheidungsinstanz Dessen ungeachtet kann nur die homerische Volksversammlung für das gesamte Gemeinwesen verbindliche Entscheidungen treffen. Sie bleibt damit die einzige politische Institution, welche man bereits in den früharchaischen Quellen fassen kann.18 Sie ist die Institution, durch welche ein Gemeinwesen als Ganzes zum Handeln bewegt beziehungsweise ein Gemeinwesen als Ganzes seinen politischen Willen zum Ausdruck bringen kann.19 Die Volksversammlungen in der Odyssee, also jene auf Ithaka und in Scheria, scheinen daher auch allen freien, männlichen Mitgliedern der jeweiligen Gemeinwesen zugänglich zu sein. In der Ilias können an den Volksversammlungen als Heeresversammlungen alle kämpfenden Griechen respektive Troianer teilnehmen. Zumindest im griechischen Heer können auch leichtbewaffnete Kämpfer als Versammlungsteilnehmer identifiziert werden, was auf ihren niedrigen sozioökonomischen Status hindeutet.20 Es gibt jedenfalls keine Anzeichen dafür, dass diese von der Versammlung ausgeschlossen wären oder irgendwelche Zensusschranken bestünden.21 Darüber hinaus beruft im 19. Gesang der Ilias, nach der Ermordung des Patroklos, Achill selbst eine Volksversammlung ein. An dieser nehmen nun auch die Steuermänner der Schiffe (kybernetai) und die ‚Essensverteiler‘ (tamiai) teil, welche bisher stets bei den Schiffen geblieben waren und daher anscheinend auch nicht mitgekämpft hatten.22 Dieser Umstand wird als eine Neuerung zu den bisherigen Volksversammlungen herausgestellt und ist wohl der Irregularität der Einberufung geschuldet. An der grundsätzlichen Ak-
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Dazu s. Simmel 1908, 282–306 und die Einleitung zu diesem Band. Dazu s. grundlegend Hölkeskamp 2002, besonders 304–318. Eine Aufstellung aller 17 geschilderten Volksversammlungen in Ilias und Odyssee bietet Hölkeskamp 1997, 2 Anm. 5. Van Wees 1994, 131–137. Allerdings wird an dem niedrigen sozialen Status derjenigen freien Gemeindemitglieder, die über gar keinen Landbesitz verfügen, kein Zweifel gelassen (vgl. Finley 2002, 52–54); deren Gruppenbezeichnung ist thetes (θη̂τες) (Hom. Od. 4.642; Hes. erg. 602). Zumeist werden sie aber nach ihrer Tätigkeit, also für einen Lohn eine gewisse Arbeit zu verrichten, mit dem Verb theteuein (θητεύειν) beschrieben (vgl. Hom. Il. 21.444; Od. 11.489, 18.357). Ob solche Personen von der Teilnahme an der Volksversammlung ausgeschlossen waren, ist nicht zu belegen. In zwei der oben aufgeführten Fälle (Hom. Il. 21.444; Od. 18.357) sind die so bezeichneten Personen jedenfalls nicht Mitglieder in den Gemeinwesen, in welchen sie Lohnarbeit geleistet haben beziehungsweise leisten sollen. Sie sind also als Fremde sowieso nicht Teil der Gemeinwesen. Hom. Il. 19.40–46.
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zeptanz der Steuermänner und ‚Essensverteiler‘ unter den Teilnehmern der Volksversammlung scheint aber kein Zweifel zu bestehen. Die homerische Volksversammlung tagt nun nicht regelmäßig, sondern nur im Bedarfsfall. Die Einberufung einer Volksversammlung wird in der Regel von einem Vertreter der Elite initiiert. Es sind dann aber Herolde (kerykes),23 welche tatsächlich die Arbeit des Zusammenrufens des demos übernehmen und später in der Volksversammlung selbst für Ordnung sorgen.24 Nachdem der demos zusammengekommen ist, treten in der Regel Vertreter der Elite auf, um der Versammlung Vorschläge zu unterbreiten. Diese haben anscheinend – wie bereits erwähnt – feste Sitzplätze, welche umso näher der Mitte des Versammlungsplatzes liegen, je höher ihr sozialer Rang ist.25 Die Vertreter der Elite können – wie auch bereits erwähnt – vor Beginn der Volksversammlung in einer Ratsversammlung konsensuale Vorschläge für den demos beschlossen haben.26 Aber auch offener Streit unter den elitären Sprechern ist in der Volksversammlung möglich. In beiden Fällen muss aber um die Zustimmung in der Volksversammlung gerungen werden; gegebenenfalls sind die Vorschläge anzupassen, um eine offene Ablehnung seitens der Versammlungsteilnehmer zu vermeiden.27 Also auch in Fällen ohne elitäre Konkurrenzsituation, ohne dass die Mitglieder der Volksversammlung zu Simmels’ ‚Dritter Instanz‘ werden, besitzt die Volksversammlung als Institution offensichtlich eine Entscheidungsfreiheit. Dass diese einen Vorschlag der elitären Anführer auch ablehnen kann, geht ja aus dem Plan des Agamemnon hervor. Denn dieser will bekanntlich die Achaier auf die Probe stellen und schlägt dazu den Abbruch des Krieges und die Rückkehr in die Heimat vor.28 Agamemnon erwartet eindeutig, dass sein Antrag durch
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Diese können vielleicht im Ansatz einen Verwaltungsstab der basileis darstellen. Die Herolde sind, wie die basileis selbst, zeptertragend und stehen unter dem Schutz des Zeus (Hom. Il. 1.334). Sie unterstützen die basileis nicht nur bei Versammlungen, sondern dienen ihnen auch als Boten (Hom. Il. 1.320–326), als Helfer bei Opferhandlungen (Hom. Il 3.245–248) und auch den Kampf oder den Waffenstillstand verkünden sie (Hom. Il. 7.274–282). Die Herolde sind meist eng mit einem Vertreter der Elite verbunden, so Talthybios etwa mit Agamemnon (Hom. Il 1.320 f.) und Eurybates mit Odysseus (Hom. Il 2.184). Sie scheinen aber mitunter auch nur die Funktionen einfacher Diener auszuüben (Hom. Od. 1.143), und so erscheint ihre offizielle Stellung doch wieder eingeschränkt. Auch Achilles verbindet Talthybios und Eurybates nicht ‚qua Amt‘ mit ihrem Herren Agamemnon; s. Hom. Il. 1.334 f. (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): „Freut euch, Herolde! Ihr Boten des Zeus wie auch der Männer / Kommt näher! Nicht ihr seid mir schuld, sondern Agamemnon“ – χαίρετε κήρυκες Διὸς ἄγγελοι ἠδὲ καὶ ἀνδρῶν, / ἆσσον ἴτ’· οὔ τί μοι ὔμμες ἐπαίτιοι ἀλλ’ Ἀγαμέμνων. Die Herolde sind zwar mit einem basileus verbunden, sie führen dessen Befehle aus und unterstützen ihn in seinen Tätigkeiten. Aber sie werden wohl nicht primär als Teil eines Herrschaftsapparates betrachtet, sondern als Teil der göttlichen Ordnung. Ihre Position und persönliche Unverletzlichkeit ergibt sich nicht primär aufgrund der Stellung ihres Herren, sondern weil sie „Boten des Zeus“ sind und damit unter göttlichem Schutz stehen. – Zu ihnen s. Tietz 2011. S. etwa Hom. Il. 2.50–52, 96–98. Hölkeskamp 1997, 11 und Anm. 51 listet alle relevanten Stellen auf. Zum Verhältnis von Versammlung und Rat s. Schulz 2011, 35–69. S. dazu etwa Ulf 1990, 167–169 und Hölkeskamp 1997, besonders 12–14. Hom. Il. 2.55–154.
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die Volksversammlung abgelehnt wird und erlebt eine böse Überraschung, als diese in einer tumultartigen Konsensentscheidung den Antrag annimmt.29 Die Volksversammlung ist der Ort, an dem überhaupt politischer Dissens in einer institutionellen Weise ausgetragen werden kann.30 Die Versammlungsteilnehmer stimmen zwar nicht formal ab, kommunizieren ihre Entscheidungspräferenzen aber formalisiert. So konnte David Elmer in einer Studie zur konsensualen Entscheidungsfindung in den Rats- und Volksversammlungen der Ilias zeigen, dass es fünf verschiedene, lexikalisch klar definierte, kollektive Reaktionen der Versammlungen auf elitäre Vorschläge gibt. Dieses Reaktionsspektrum reicht vom Schweigen der Versammlungsteilnehmer, was einer faktischen Ablehnung eines Vorschlags gleichkommt, bis zur vollkommenen Zustimmung, welche durch den Begriff epainein (ἐπαινεῖν) signalisiert wird. Nur diese vollkommene Zustimmung führt zur sofortigen und nachhaltigen Umsetzung eines Vorschlages.31 Der institutionelle Charakter der Volksversammlung wird durch diese Form der Entscheidungsfindung nicht grundsätzlich negiert32 und die Volksversammlung bleibt ebenso die Institution, von welcher zumindest situativ Herrschaft ausgeht. Von den beiden rein elitären Institutionen der Entscheidungsfindung, also den individuellen basileis und den Ratsversammlungen, geht – auch wenn diese durchaus ‚Macht‘ haben – keine ‚Herrschaft‘ aus. Die basileis können – wie bereits erwähnt – weder als Einzelne noch als Kollektiv, also etwa innerhalb einer Ratsversammlung, Entscheidungen treffen und erwarten, dass diese von der Gemeinschaft akzeptiert werden.33 Auf der anderen Seite sind auch einzelne basileis an die konsensuale Entscheidung der Volksversammlung gebunden. Dies gilt auch, wenn sie in der Volksversammlung öffentlich Widerspruch gegen eine Entscheidung bekunden.34 Dieser Umstand trifft selbst im Fall des Achill zu, der sich nicht mit der von Agamemnon initiierten Neuverteilung der Beute abfinden will. Gegen die konsensuale Entscheidung der Volksversammlung selbst, denn eine solche war zur Beuteneuverteilung notwendig, kann auch Achill nichts ausrichten und gibt Briseis kampflos auf. Die einzige Konsequenz, welche er zu ziehen bereit ist, ist die Kampfgemeinschaft der Achaier zu verlassen. Da er nicht mehr mit seiner Gemeinschaft kämpft, kann er selbstverständlich auch nicht mehr politisch in ihr aktiv sein, also an den Volksversammlungen 29 30 31 32 33 34
Allerdings hatte Agamemnon die Mitglieder seiner boule vorher angewiesen, in der Volksversammlung gegen seinen Vorschlag zu sprechen (Hom. Il. 2.75). Barker 2009, 52–66. Elmer 2013, besonders 23–47 und 108–125. Hölkeskamp 1997, 14: „Denn hier, in der Agora, gewinnt die Gemeinschaft – über ihren Charakter als Siedlungs-, Kult- und Rechtsgemeinschaft hinaus – auch bereits eine zumindest rudimentäre Identität als ‚politische‘ Institution der Beratung und Entscheidung“. Von einer „Souveränität des Königs“ (so Schulz 2011, 63–69), die gegebenenfalls im Spannungsverhältnis mit den Wünschen der Versammlung und dem Streben nach einem Konsens steht, kann also keine Rede sein. Anders etwa Ulf 1990, 168: „Wer allerdings seinen Widerspruch öffentlich kundtut, der kann auch nicht zur Einhaltung von Vereinbarungen gezwungen werden, die andere hier treffen“.
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teilnehmen. Achill begibt sich faktisch ins Exil.35 Der Ausschluss als Deviant aus der Gemeinschaft ist dann auch immer die Konsequenz, welche die potenziell devianten Eliten am meisten fürchten. Die Volksversammlung kennt in ihren institutionellen Verfahren zwar noch keine Mehrheitsentscheidung,36 wohl aber eine offene Diskussion und ein allgemeines Rederecht.37 So kann eben auch Thersites als Vertreter der unterelitären Kämpfer das Wort ergreifen und sich damit in eine Konkurrenzsituation zu den Vertretern der homerischen Elite begeben.38 Dieser Umstand verstößt nicht gegen die formalisierte Ordnung der Volksversammlung. Es ist die Art der Wortmeldung des Thersites, welche einen Regelverstoß darstellt.39 Was er zu sagen hat, ist ἄκοσμος, wie er mit den basileis streitet, ist οὐ κατὰ κόσμον – nicht dass er das Wort ergreift. Er hält sich nicht an das institutionelle Verfahren der Volksversammlung,40 beachtet also auch die gesetzte Agenda nicht und weicht vom Thema ab. Er hat noch nicht einmal das Zepter an sich genommen, was ihn zu reden berechtigen würde, denn dies hält noch Odysseus in den Händen.41 Die Validität seiner Anschuldigungen gegen Agamemnon kann jedenfalls
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So etwa Hammer 2002, 93–113. Flaig 2013, 178–180. Hölkeskamp 2002, 313: „In the world of the poets, the agore can and should be a forum of controversial, but constructive debate on concrete issues; in this forum, realistic assessments of actual situations, careful considerations of future plans, even rational argumentation play a prominent role […]. And it is in such contexts that even the nucleus of community values – solidarity and the priority of collective security of people and polis – is already formulated, even if still cautious and, as it were, on the defensive vis-à-vis the individualistic heroic ethos“. Anders etwa Schulz 2011, 60: „[…] die Versammlung hat kein Rede- und kein differenziertes Widerspruchsrecht. Das Volk äußerst sich kollektiv und stimmt den Vorschlägen der Ratsmitglieder durch Zuruf zu oder lehnt sie durch Schweigen ab“. Thersites ist der einzige Sprecher in einer homerischen Versammlung, welchen man den unterelitären Bevölkerungsschichten zurechnen kann (Fraß 2012, 104–106). Er wird erst in der späteren Tradition zu einem Vertreter der Elite und etwa im 5. Jahrhundert durch den athenischen Geschichtsschreiber und Genealogen Pherekydes zum Sohn des Agrius, des Königs des aitolischen Kalydon, gemacht (vgl. FGrH 333 F 123). Es ist daher verfehlt, aufgrund der späteren Überlieferung in Thersites einen Vertreter der Elite sehen zu wollen (so etwa Ebert 1969). Auch die These von Marks 2005, 28 Thersites sei als „blame persona“ ein literarisches Konstrukt „who threatens to undermine heroic categories, but in the event helps to define them“ und müsse daher notwendigerweise der Elite zuzurechnen sein, da sonst das literarische Konstrukt nicht funktionieren könne, ist als Zirkelschluss abzulehnen. Möglicherweise ist aber noch Polydamas auf troianischer Seite den unterelitären Schichten zuzurechnen (vgl. Welskopf 1981, 180). Hom. Il. 2.212–215 (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): „Thersites allein, der in Worten Maßlose, kreischte noch weiter. / Der wußte Worte in seinem Sinn, ungeordnete und viele, / Um drauflos und nicht nach der Ordnung mit den Königen zu streiten, / Sondern alles, was er nur meinte, daß es zum Lachen den Argeiern wäre.“ – Θερσίτης δ’ ἔτι μοῦνος ἀμετροεπὴς ἐκολῴα, / ὃς ἔπεα φρεσὶν ᾗσιν ἄκοσμά τε πολλά τε ᾔδη / μάψ, ἀτὰρ οὐ κατὰ κόσμον, ἐριζέμεναι βασιλεῦσιν, / ἀλλ’ ὅ τι οἱ εἴσαιτο γελοίϊον Ἀργείοισιν. Anders noch Fraß 2012, 107, wo davon ausgegangen wird, dass die prinzipiell zulässige Wortmeldung des Thersites auch formal korrekt erfolgte. Hom. Il. 2.265.
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niemand leugnen,42 auch der listenreiche Odysseus nicht, welcher sonst als Redner fast allen anderen überlegen ist.43 Odysseus bleibt daher seinerseits nur übrig, die Regeln der Versammlung zu brechen, nach welchen er den Konkurrenten ausreden lassen müsste.44 Daher beendet er die Rede des Thersites mittels Gewaltanwendung und benutzt dazu auch noch das Zepter.45 Odysseus kann dies nur ungestraft tun, da Thersites zuerst gegen die formale Ordnung der Volksversammlung verstoßen hat, indem er sich ohne das Zepter zu Wort gemeldet hat. Durch ein institutionell vorgesehenes Verfahren, zu dessen Durchführung Odysseus aufgrund seiner Stellung als basileus berechtigt wäre, kann er die Volksversammlung nicht kontrollieren. Die Macht des Odysseus – auch im Rahmen der Volksversammlung – besteht allein in seiner physischen Überlegenheit gegenüber Thersites. Noch deutlicher wird die Funktionsweise der homerischen Volksversammlungen, wenn man diese innerhalb der imaginierten bäuerlichen Ordnung des homerischen Ithaka betrachtet.46 Diese bäuerliche Ordnung scheint sich nun nicht groß von der Ordnung des hesiodeischen Askra zu unterscheiden.47 Das dörfliche Gemeinwesen, wie Hesiod es uns darstellt, besitzt bekanntlich eine sozial institutionalisierte nachbarschaftliche Solidarität,48 die ausreichend ist, um viele Gemeinschaftsaufgaben auch ohne die Hilfe der basileis zu lösen.49 Das Gemeinwesen von Ithaka nun, wie der Dichter es darstellt, scheint dann ebenfalls nur in Ausnahmesituationen auf seine Elite angewiesen zu sein. Als Telemachos jedenfalls die Volksversammlung im 2. Gesang der Odyssee einberuft, wird der Ausnahmecharakter einer solchen Einberufung deutlich. Allein eine höchste persönliche Notlage oder die Bedrohung des Gemeinwesens als Ganzes rechtfertigen diese Maßnahme. Auch scheint es schon seit etwa zwanzig Jahren keine Volksversammlung mehr gegeben zu haben: 42 43 44 45 46 47 48 49
Fraß 2012, 106–108. S. etwa Hom. Il. 3.221–223. Hom. Il. 19.79 f. (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): „Wenn einer aufsteht, ist es recht, auf ihn zu hören, und nicht gehört sich’s, / Ihm ins Wort zu fallen.“ – ἑσταότος μὲν καλὸν ἀκούειν, οὐδὲ ἔοικεν / ὑββάλλειν. Vgl. dazu auch Schulz 2011, 51. Hom. Il. 2.265–269. Zur bäuerlichen Ordnung s. etwa Ulf 1990, 175–212; dagegen sieht Andreev 1988, 22–27 bereits einen fortgeschrittenen Übergang von der dörflichen zur urbanen Siedlungs- und Lebensweise auch für das imaginierte Gemeinwesen auf Ithaka als gegeben an. Hierzu s. Schmitz 2004, 27–104 und Osborne 2009, 133–40. Schmitz 2004, 78–82. Edwards 2004, 80–126 betont zu Recht den egalitären Charakter der hesiodeischen Ordnung, unterschätzt aber den integrativen und Gemeinsinn erzeugenden Charakter der solidarischen Dorfgemeinschaft. Auch seine Einschätzung, dass „Hesiod gives us a glimpse of a community that is less complex, less stratified, and less integrated than what we observe even in Homer“ (ebd., 124) ist sicherlich nicht zutreffend. Vielmehr sind die Perspektiven verschieden, aus welchen die Gemeinwesen geschildert werden. Außerdem treten die institutionellen Elemente der homerischen und hesiodeischen Gesellschaftsordnung eben noch nicht regelmäßig, sondern nur in Ausnahmesituationen in Erscheinung, weshalb sie in den homerischen Texten weitaus besser zu erkennen sind, da diese von Ausnahmesituationen erzählen.
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Niemals ist eine Versammlung von uns noch eine Ratssitzung gewesen / seitdem der göttliche Odysseus hinwegging in den hohlen Schiffen. / Wer hat jetzt so das Volk versammelt? Über wen ist eine so große Not gekommen, / sei es von den jungen Männern oder denen, die früher geboren wurden? / Hat er eine Botschaft gehört von einem Heere, das herankommt, / die er uns genau ansagen will, nachdem er sie als erster vernommen? / Oder will er irgendeine andere gemeinsame Sache vorbringen und darüber reden.50
Es gab also für das imaginierte Gemeinwesen von Ithaka in dieser ganzen Zeit keine Notwendigkeit, eine Volksversammlung einzuberufen. Die Krisensituationen scheinen sich in Grenzen gehalten zu haben, wohl gerade auch deswegen, da der oberste basileus des Gemeinwesens von Ithaka, also Odysseus, in diesem ganzen Zeitraum nicht zu Hause war. Das sich im inneren wie äußeren Frieden befindende dörfliche Gemeinwesen scheint also ohne die politische Institution der agora recht gut funktioniert zu haben. Damit stellt sie das genaue Gegenteil der Heeresgemeinschaft der Griechen vor Troia dar, welche sich in einer permanenten Ausnahmesituation befindet und deswegen auch immer wieder auf die Durchführung von Volksversammlungen angewiesen ist. Prinzipiell scheint auch die Volksversammlung von Ithaka von allen Mitgliedern des Gemeinwesens einberufen werden zu können.51 Zwar war die Erwartungshaltung, dass sich diese mit etwas beschäftigt, was das Gemeinwesen als Ganzes betrifft. Doch wer in großer Not ist, kann sich immer an die Volksversammlung wenden. Damit scheint diese prinzipiell für alle schwerwiegenden privaten Probleme der Mitglieder des Gemeinwesens offen zu stehen. Daher ist Telemachos also durchaus berechtigt, seine private Notlage vor die Volksversammlung zu bringen. Er macht denn aus dem privaten Charakter seines Anliegens auch keinen Hehl, denn was er vorbringen will, ist in seinen eigenen Worten: ἐμὸν αὐτοῦ χρεῖος, also: „meine eigene Angelegenheit“. Doch Telemachos will sein privates Problem zu einer öffentlichen Angelegenheit machen. Dazu erinnert er zuerst an die ehemalige Position seines Vaters als der oberste basileus in Ithaka.52 Danach postuliert er einen Normverstoß seitens der Freier seiner mutmaßlich verwitweten Mutter, dessen Ahndung er offensichtlich als die Aufgabe des Gemeinwesens als Ganzem ansieht.53 Dem Vorwurf widerspricht der Freier Antinoos entschieden und weist seinerseits auf den Normverstoß der Penelope hin, das 50
51 52 53
Hom. Od. 2.26–32 (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): οὔτε ποθ’ ἡμετέρη ἀγορὴ γένετ’ οὔτε θ όωκος / ἐξ οὗ Ὀδυσσεὺς δῖος ἔβη κοίλῃσ’ ἐνὶ νηυσί / νῦν δὲ τίς ὧδ’ ἤγειρε; τίνα χρειὼ τόσον ἵκει / ἠὲ νέων ἀνδρῶν ἢ οἳ προγενέστεροί εἰσιν; / ἠέ τιν’ ἀγγελίην στρατοῦ ἔκλυεν ἐρχομένοιο, / ἥν χ’ ἥμιν σάφα εἴποι, ὅτε πρότερός γε πύθοιτο; / ἦέ τι δήμιον ἄλλο πιφαύσκεται ἠδ’ ἀγορεύει. Zumindest wird bei der Frage, wer die Volksversammlung einberufen hat, nur die soziale Hierarchisierung nach Altersklassen erwähnt (Hom. Od. 2.29: ἠὲ νέων ἀνδρῶν ἢ οἳ προγενέστεροί εἰσιν; zu dieser sozialen Einteilung s. Ulf 1990, 51–83), alle scheinen aber zur Einberufung berechtigt. Hom. Od. 2.42–47. Hom. Od. 2.64–71.
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Werben der Freier angenommen zu haben, ohne sich nun aber für einen von ihnen zu entscheiden.54 Der Verweis des Telemachos auf die ehemalige Stellung des Vaters fruchtet dann auch nicht und der Verweis auf den Normverstoß der Freier kann von Antinoos erfolgreich zurückgewiesen werden. Dieser Umstand bedeutet aber nicht, dass der demos von Ithaka passiv reagieren und sich „von den Freiern auseinanderjagen und nach Hause schicken“55 lassen würde. Die Versammlung beschließt vielmehr im Konsens – dem sich am Ende auch Telemachos und sein Unterstützer Mentor fügen müssen – dass der Normverstoß der Penelope der entscheidende ist. Die Freier ahnden diesen lediglich, indem sie sich in den oikos der Penelope einnisten und die Vorräte verzehren.56 Telemachos tritt also mit den Freiern vor der Volksversammlung in einen politischen Konkurrenzkampf, sodass der versammelte demos zur entscheidenden Dritten Instanz wird. Die Freier schaffen es durch ihre Argumente, sich in den Augen dieser Dritten Instanz vor Telemachos zu platzieren. Denn würde sich die Volksversammlung konsensual zum kollektiven Handeln entschließen, könnte dagegen kein einzelner Vertreter der Elite und auch keine elitäre Gruppe, wie etwa die Freier der Penelope, bestehen. Dies ist zumindest die Einschätzung des Antinoos.57 Denn er geht davon aus, dass der demos von Ithaka nicht zögern würde, gegen die Freier vorzugehen, sollte er von den Mordplänen an Telemachos erfahren, welche die Freier im weiteren Verlauf des Epos schmieden. Denn wenn die Freier durch ihr Mordkomplott tatsächlich gegen die Ordnung des Gemeinwesens verstoßen werden, könnte sich Telemachos erneut an die Volksversammlung wenden. In diesem erneuten politischen Konkurrenzkampf, so die Einschätzung des Antinoos, würden die Freier unterliegen. Die Vorbereitungen eines Mordanschlages auf Telemachos würden eindeutig die stärkere Normverletzung bedeuten, aufgrund welcher sich die versammelte Gemeinschaft nun gegen die Freier entscheiden würde: Darum auf, bevor er die Achaier zur agora versammelt – / denn ich denke, er wird nicht nachlassen, sondern / wird fortzürnen und unter allen aufstehen und sagen, / daß wir ihm den jähen Mord gewoben haben, konnten ihn aber nicht ereilen, / und diese werden es nicht billigen, wenn sie von den schlimmen Werken hören; / daß sie uns nicht Übles tun und uns aus unserem Lande stoßen / und wir in das Land von anderen gelangen müssen!58 54 55 56 57 58
Hom. Od. 2.86–126. Walter 1993, 43. Schmitz 2004, 320–329 identifiziert das Verhalten der Freier als „Rügebrauch des Heimsuchens und Ausfressens“. Hom. Od. 16.373–384. Hom. Od. 16.376–382 (Übersetzung nach Wolfgang Schadewaldt): ἀλλ᾽ ἄγετε, πρὶν κεῖνον ὁμηγυρίσασθαι Ἀχαιοὺς / εἰς ἀγορήν – οὐ γάρ τι μεθησέμεναί μιν ὀΐω, / ἀλλ᾽ ἀπομηνίσει, ἐρέει δ᾽ ἐν πᾶσιν ἀναστὰς / οὕνεκά οἱ φόνον αἰπὺν ἐράπτομεν οὐδ᾽ ἐκίχημεν: / οἱ δ᾽ οὐκ αἰνήσουσιν ἀκούοντες κακὰ ἔργα: / μή τι κακὸν ῥέξωσι καὶ ἡμέας ἐξελάσωσι / γαίης ἡμετέρης, ἄλλων δ᾽ ἀφικώμεθα δῆμον.
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Eine solche Entscheidung des demos gegen die Freier wäre dann also mit einer kollektiven Gewaltanwendung gegen diese verbunden. Einer solchen hätten die Freier, obschon sie die leistungsfähigste Gruppe des Gemeinwesens sind, nichts entgegenzusetzen. Die unausweichliche Folge wäre ihr Ausschluss aus der Gemeinschaft. Doch dazu wird es im Verlauf der Odyssee bekanntlich nicht kommen. Die Volksversammlung trifft lediglich im 2. Gesang des Epos die Entscheidung, die Freier gewähren zu lassen. Entsprechend der Informationslage der Versammlungsteilnehmer ist diese Entscheidung auch die am ehesten dem Gemeinsinn verpflichtete. Denn durch sie sollen Telemachos und Penelope gezwungen werden, das private Problem endlich zu lösen, bevor es tatsächlich zu einem öffentlichen werden kann. Daher ist hier auch kein Gegenpol zwischen der polis und dem oikos zu erkennen, bei dem das Gemeinwesen hinter letzteren zurückträte.59 Vielmehr trifft die einzige politische Institution eine klare Entscheidung in Bezug auf die privaten Probleme des Telemachos. Der Umstand, dass in der Volksversammlung die Meinungsmacher aus der Elite stammen, ändert daran nichts. Diese können zwar die Entscheidung der Volksversammlung beeinflussen. Wenn es aber zu offener Konkurrenz kommt, es also zwei vollkommen widersprüchliche Ansichten gibt, entscheiden – aus der Sicht der Masse der Versammlungsteilnehmer – die besseren Argumente. Die Entscheidung, die letztendlich im Konsens getroffen wird, ist dann eine im Sinne der Gemeinschaft.60 So soll durch die Entscheidung der Volksversammlung im 2. Gesang der Odyssee der traditionellen Ordnung Geltung verschafft werden, wonach eine verwitwete Frau, welche einmal das Werben von Freiern angenommen hat, sich auch für einen von jenen entscheiden müsse. Die Institutionellen grenzen der agora Zwar mag die Konsensentscheidung der Volksversammlung im 2. Gesang der Odyssee diese als entscheidungsschwach erscheinen lassen, doch liegt dies nur daran, dass die gemeinsinnige Handlungsoption für fast alle Versammlungsteilnehmer erkennbar ist. Wenn nun diese Eindeutigkeit der gemeinsinnigen Entscheidung für die Versammlungsteilnehmer nicht mehr gegeben ist, dann stößt die agora aber tatsächlich schnell an ihre institutionellen Grenzen.61 Dies zeigt sich besonders in der Volksversammlung im 24. Gesang der Odyssee. Nachdem Odysseus alle Freier getötet hat oder hat töten lassen, wenden sich deren Angehörige an die Volksversammlung, damit das Gemeinwesen als Ganzes diese Tat bestrafe. Dass Odysseus dem Gemeinwesen von Ithaka
59 60 61
So Walter 1993, 50. Anders etwa Barker 2009, 93–107, hier 105: „So far our analysis of the first Ithacan assembly has shown its utter lack of effectiveness: the debate fractures along partisan lines; opinions become entrenched; prospects of resolving the crisis are shattered.“ Hölkeskamp 2002, 31 f.
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durch sein Handeln schweren Schaden zugefügt hat, ist ihm durchaus bewusst, und er räumt es gegenüber seinem Sohn auch offen ein: Wir aber haben die Stütze der Stadt (ἕρμα πόληος) erschlagen: sie, die unter den jungen Edlen in Ithaka die weit besten waren.62
Eine Reaktion, zumindest vonseiten der Angehörigen der ermordeten Freier, ist unvermeidbar und Odysseus erwägt deshalb selbstverständlich die Flucht aus seinem Gemeinwesen.63 Doch letztendlich entscheidet er sich zu kämpfen und dadurch diesem noch mehr Schaden zuzufügen. Trotz seines Versuches, die Ermordung der Freier geheim zu halten,64 verbreitet sich die Nachricht davon schnell im ganzen Gemeinwesen.65 Dass sich dieser Affäre nun eine Volksversammlung annehmen muss, ist für alle Mitglieder des Gemeinwesens selbstverständlich. Es ist daher keine formale Einberufung notwendig, vielmehr versammeln die Mitglieder des Gemeinwesens von Ithaka sich aus eigenem Antrieb.66 Die Initiative innerhalb der Volksversammlung selbst kommt mit Eupeithes aber natürlich wieder einem Vertreter der Elite zu, welcher auch selbst zu den direkt Betroffenen zählt, da er der Vater des ermordeten Freiers Antinoos ist: Freunde! Wahrhaftig, ein gewaltiges Werk hat dieser Mann den Achaiern ersonnen! / Die einen hat er in den Schiffen mitgeführt, die vielen und edlen, / und die gewölbten Schiffe zugrunde gerichtet und zugrunde gerichtet auch die Männer. / Die anderen aber hat er getötet, als er herkam, die weit besten unter den Kephallenen.67
Das erste Argument des Eupeithes für eine gemeinschaftliche Aktion gegen Odysseus ist also explizit nicht der Mord an den Freiern. Eupeithes erinnert vielmehr daran, dass Odysseus allein aus Troia zurückgekehrt ist. Dieser habe als schlechter Anführer alle, die ihm einst folgten, in den Tod geführt und auch die Schiffe, mit denen er nach Troia zog, sind verloren gegangen.68 Der menschliche und ökonomische Verlust, welcher das
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68
Hom. Od. 23.121 f. (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): ἡμεῖς δ’ ἕρμα πόληος ἀπέκταμεν, οἳ μέγ’ ἄ ριστοι / κούρων εἰν Ἰθάκῃ. Hom. Od. 23.117–122. Hom. Od. 23.130–140. Hom. Od. 24.413 f. Hom. Od. 24.413–420. Hom. Od. 24.426–429 (Übersetzung Wolfgang Schadewaldt): ὦ φίλοι, ἦ μέγα ἔργον ἀνὴρ ὅδε μή σατ’ Ἀχαιούς· / τοὺς μὲν σὺν νήεσσιν ἄγων πολέας τε καὶ ἐσθλοὺς / ὤλεσε μὲν νῆας γλαφυράς, ἀπὸ δ’ ὤλεσε λαούς, / τοὺς δ’ ἐλθὼν ἔκτεινε Κεφαλλήνων ὄχ’ ἀρίστους. Durch die Nennung der ‚Kephallenen‘ soll wohl klar gemacht werden, dass Odysseus auch Angehörige benachbarter Gemeinwesen (vgl. Hom. Od. 24.353–355) ermordet und damit das Gemeinwesen auch nach außen hin in Schwierigkeiten gebracht hat. In der Ilias (Hom. Il. 4.330) wird das gesamte Kontingent, welches Odysseus anführt, als Kephallenen bezeichnet (dazu s. Gschnitzer 1971, 14). Die negativen Folgen des Kriegszuges scheinen für alle Beteiligten überwogen zu haben. So hat etwa Nestor bereits im 3. Gesang der Odyssee dem Telemachos berichtet, dass man einst nach Troia
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Gemeinwesen als Ganzes aufgrund der Unfähigkeit des Anführers Odysseus zu erleiden hatte, ist natürlich für den versammelten demos ebenso relevant, vielleicht sogar der bedeutendere Entscheidungsfaktor. Denn erst nachdem Eupeithes das Versagen des Odysseus als Anführer für alle klar herausgestellt hat, spricht er über dessen aktuelle Transgression. Seine Forderung ist klar: Odysseus muss durch das Gemeinwesen zur Rechenschaft gezogen werden.69 Doch auch die Freunde des Odysseus sind anwesend und sprechen für ihn, konkurrieren also mit Eupeithes um die Gunst der Volksversammlung als Dritter Instanz. In diesem Konkurrenzkampf wird jedenfalls die Tatsache, dass Odysseus am Leben war, als die Freier seinen oikos plünderten und seine Ehefrau entehrten, nun gegen diejenigen verwendet, welche eine kollektive Aktion des demos einfordern.70 Diese konkurrierende Argumentation ist zumindest teilweise erfolgreich, denn sie verhindert eine Konsensentscheidung der Volksversammlung gegen Odysseus. Die Versammlungsteilnehmer sind sich nicht mehr sicher, mit welcher Handlungsweise dem Gemeinwohl am besten gedient wäre. Vielmehr spaltet sich der versammelte demos in eine kleinere Gruppe, welche die Handlung des Odysseus als gerechtfertigt ansieht, und eine größere Gruppe, die dem Eupeithes folgt, um den Mord an den Freiern kollektiv zu sühnen.71 Die Volksversammlung kann in ihrem engen institutionellen Handlungsrahmen damit nicht mehr als Dritte Instanz funktionieren. Mehr noch, es zerfällt damit auch die institutionelle Ordnung des Gemeinwesens von Ithaka und was folgt, könnte man als eine stasis bezeichnen.72 Da jener Teil des demos, welcher sich gegen eine Bestrafung des Odysseus aussprach, sich aber nicht gegen die Mehrheit stellte, sollte man die Situation vielleicht doch anders beschreiben, nämlich als ein strukturelles Versagen der schwach institutionalisierten Ordnung. Die Konkurrenzkämpfe der homerischen Elite können nur dann in geordnete, geregelte, institutionalisierte Bahnen gelenkt werden, solange die Volksversammlung als Dritte Instanz funktionsfähig ist. Und dies ist eben nur solange der Fall, wie sie zu einer konsensualen Entscheidungsfindung in der Lage ist. Die Ordnung des Gemeinwesens von Ithaka jedenfalls ist aufgrund der Handlungen von Penelope und von Odysseus zwar zerfallen, durch die Entfernung der Devian-
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ausgezogen war, um Beute (ληίς) zu machen, aber nur Tod und Elend gefunden habe (Hom. Od. 3.102–119). Hom. Od. 24.430–437. Hom. Od. 24.454–462. Hom. Od. 24.463–466. Flaig 2013, 178–180 sieht hierin einen gescheiterten Mehrheitsbeschluss, womit die Idee des Mehrheitsbeschlusses dem Dichter bereits bekannt gewesen sein müsse. Dies ist möglich, aber nicht zwingend, da in allen anderen homerischen Versammlungen das Konsensprinzip gilt. Wahrscheinlicher ist, dass die geschilderte soziopolitische Ordnung wohl einfach keine Mehrheitsentscheidung kennt. Weiter geht etwa Barker 2009, 107–113, der die ganze Affäre als „Eupeithes’ revolt“ (ebd., 111) bezeichnet, damit aber die institutionelle Stellung des Odysseus vollständig überschätzt.
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ten aus dem Gemeinwesen könnte diese aber wiederhergestellt werden. Genauso wie die Vernichtung der Freier der zwangsläufige Weg für Odysseus ist, um die Ordnung in seinem oikos wiederherzustellen, wäre die Vernichtung des Odysseus und seines oikos der zwangsläufige Weg für den demos, um die Ordnung im Gemeinwesen wiederherzustellen. Odysseus hat Alternativen, doch aufgrund seiner asozialen Heroität kann er sie nicht ergreifen. Ebenso wird dem versammelten demos eine Alternative aufgezeigt, und zumindest ein Teil des demos ergreift sie, was aber nur zum Zusammenbruch der politischen Institution der agora führt. Da Odysseus den entscheidenden Kampf im Kontext des Epos nicht verlieren kann, muss am Ende Athena, mit der Autorität des Zeus ausgestattet, direkt eingreifen und den Kampf abbrechen. Denn der eigentlich dichterisch notwendige Sieg des Odysseus alleine, welcher ja auch schon angekündigt wird,73 hätte die Ordnung nicht wiederhergestellt. Ein solcher Sieg wäre ja – in seiner Konsequenz – einer dauerhaften Ausschaltung der Volksversammlung als notwendiger Dritter Instanz gleichgekommen. Literaturverzeichnis Andreev, Jurij V. 1988. Die homerische Gesellschaft, in: Klio 70, 5–85. Barker, Elton T. E. 2009. Entering the Agon. Dissent and Authority in Homer, Historiography and Tragedy, Oxford. Ebert, Joachim 1969. Die Gestalt des Thersites in der Ilias, in: Philologus 113, 159–175. Edwards, Anthony T. 2004. Hesiod’s Ascra, Berkeley etc. Elmer, David F. 2013. The Poetics of Consent. Collective Decision Making and the Iliad, Baltimore. Finley, Moses I. 2002. The World of Odysseus, with an Introduction by Bernard Knox, New York. Flaig, Egon 2013. Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik, Paderborn etc. Foley, John M. 2004. Epic as Genre, in: Robert L. Fowler (Hrsg.) The Cambridge Companion to Homer, Cambridge, 171–187. Fraß, Stefan 2012. Thersites – Agamemnons mächtigster Gegner vor Troia? Formen des Konfliktaustrages zwischen der Elite und den unterelitären Schichten in der homerischen Gesellschaft, in: Michael Meißner / Katarina Nebelin / Marian Nebelin (Hrsg.) Eliten nach dem Machtverlust, Berlin, 91–110. Fuchs, Dieter / Edeltraud Roller 2009. Politik, in: Dieter Fuchs / Edeltraud Roller (Hrsg.) Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart, 205–209. Gschnitzer, Fritz 1971. Stadt und Stamm bei Homer, in: Chiron 1, 1–17. Hammer, Dean 2002. The Iliad as Politics. The Performance of Political Thought, Norman. Hölkeskamp, Karl-Joachim 1997. Agorai bei Homer, in: Walter Eder / Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.) Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland, Stuttgart, 1–19. Hölkeskamp, Karl-Joachim 2002. Ptolis and Agore. Homer and the Archaeology of the City-State, in: Franco Montanari (Hrsg.) Omero Tremila Anni Dopo, Rom, 297–342.
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Hom. Il. 24.526–528.
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Dorische Wurzeln oder Kennzeichen der Stammesgesellschaft? Das Aufkommen und die Verbreitung von Ältestenräten in der archaischen Zeit Fabian Schulz Abstract: This chapter discusses the rise and spread of councils of elders in Archaic Greece. This institution can be identified certainly or plausibly at twelve sites; most lie in the Dorian-speaking world, but Athens also had such a council. The common explanations of the origins of this institution are unsatisfactory: first, ancient myths about their foundation and, second, modern hypotheses that they were relics from the Dorian migration or tribal culture. In contrast, it is argued that certain conditions favoured the development of councils of elders: 1. the enslavement of rural populations, which secured the economic independence of aging landlords; 2. expansionism and wars, which necessitated a division of labour between young and old; 3. hoplite warfare, which drew a sharp line between men fit for military service and those who were not longer capable; 4. hierarchic age classes. At least one condition is found (three being the most frequent) in seven places: Sparta, Athens, the poleis of Crete, Naupactus, Elis, Corinth and Argos. In the remaining five places – Cyrene, Euhesperides, Knidos, Crotone and Epizephyrian Locris – transmission from mother city to colony or later adoption is likely.
Die Ausbildung von politischen Institutionen1 war ein Kennzeichen der archaischen Zeit. So bekam die Volksversammlung, die in der Welt der homerischen Epen noch ad hoc zusammentrat, einen Turnus.2 Daneben bildeten sich Ratsgremien heraus, die eine feste Mitgliedschaft hatten. Solche Gremien lassen sich bei Homer nur ansatzweise 1 2
Unter politischen Institutionen verstehe ich mit Göhler 1994, 29 „Regelsysteme der Herstellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen und Instanzen der symbolischen Darstellung von Orientierungsleistungen einer Gesellschaft“. Hölkeskamp 1997.
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fassen.3 Boulai oder bolai fanden sich in der ganzen griechischen Welt.4 Eine besondere Form, der Ältestenrat, der sich vor allem in dorischen poleis, aber auch in Athen fand, gibt noch immer Rätsel auf: Warum sich die Ratsgremien ausgerechnet aus den Alten (gerontes) rekrutierten und warum sie sich genau in diesen Städten fanden, können antike Berichte über ihre Gründung und moderne Theorien über ihre Ursprünge nicht erklären. Schriftzeugnisse über die ex nihilo-Gründung einzelner Ältestenräte durch Götter oder göttlich inspirierte Gesetzgeber, wie sie für Athen und Sparta bezeugt sind, kann man natürlich nicht für bare Münze nehmen. Im 19. Jahrhundert hielt man den Ältestenrat für ein Kennzeichen des Doriertums, im 20. Jahrhundert für eines der Stammesgesellschaft – jeweils in Sparta verkörpert.5 Auf diesen fragwürdigen Vorannahmen, die den Areopag ignorieren, basieren Lexikonartikel, die man unter dem Lemma „Gerusie“ findet. Da es keine vollständige Liste der Ältestenräte der archaischen Zeit gibt, soll dieser Beitrag mögliche und sichere Fälle in einem ersten Schritt identifizieren. Anschließend werden die lückenhaften und zweifelhaften Berichte aus der Antike sowie die modernen Theorien über ihre Ursprünge auf ihren Erkenntniswert hin geprüft. Im Hauptteil soll ein alternativer Erklärungsversuch vorgebracht werden, in dessen Mittelpunkt vier Bedingungen stehen werden, die in den betreffenden poleis die Ausbildung von Ältestenräten befördert haben könnten: 1. Versklavung einer Landbevölkerung, die die ökonomische Unabhängigkeit der Alten sicherte; 2. Kriege, welche die Arbeitsteilung zwischen den Generationen beförderten; 3. die frühe Einführung der Hopliten-Phalanx; und 4. hierarchische Altersklassen. Als Faktoren, die zur Verbreitung von Ältestenräten in Kolonien führten, kommen Übertragung und Nachahmung in den Blick. Dabei wird sich zeigen, wie Konkurrenz innerhalb von poleis und zwischen ihnen das Aufkommen und die Verbreitung von Ältestenräten vorangetrieben hat. Ältestenräte in archaischen Poleis Antike Institutionen durch moderne Begriffe zu fassen, ist oft problematisch, da sich Anachronismen einschleichen können, etwa wenn man politeia mit ‚Staat‘ übersetzt. Antike Begriffe zu entlehnen, was sich im Falle von ‚polis‘ eingebürgert hat, ist nur in Einzelfällen möglich und nicht immer wünschenswert. Wo man auf moderne Begriffe zurückgreift, ist deren Passgenauigkeit folglich zu reflektieren. Ältestenrat ist ein moderner Begriff, dem sich ohne weiteres antike Vorstellungen zu Grunde legen lassen.
3 4 5
Zu den trojanischen Demogeronten vgl. Schulz 2011, 18–23. Wallace 2013. Müller 1844, 92 und David 1991, 16.
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Basierend auf Aristoteles, der in seinen Politika die Ratsgremien von Sparta, Elis und Kreta vergleicht und ihre Mitglieder durch die Bank „Geronten“, also „Alte“ nennt, lassen sich folgende Kriterien bestimmen: 1. hohes Mindestalter für den Eintritt oder lebenslange Mitgliedschaft, 2. das Gremium oder seine Mitglieder tragen Amtsbezeichnungen, die mit „alt“ zusammenhängen, oder werden zumindest so genannt.6 Neben den beiden von Aristoteles angeführten Städten und der Insel gibt es neun weitere poleis, deren Räte mindestens eines dieser Merkmale erfüllen und in der archaischen Zeit wurzeln könnten.7 Diese Räte sind hinsichtlich der Zahl und des Alters der Quellen unterschiedlich gut bezeugt. Teils gibt es mehrere zeitgenössische, teils einzelne spätere Zeugnisse, die von antiken oder modernen Autoren auf die archaische Zeit bezogen werden. Die besser bezeugten Ratsgremien sollen im folgenden Überblick den Anfang machen. Lykurg, der legendäre spartanische Gesetzgeber, soll die Gerusie eingerichtet haben.8 Ihre 28 gewählten Mitglieder rekrutierten sich aus den über 60 Jährigen9 und amtierten lebenslang.10 Die Gerusie ist in der Rhetra und bei Tyrtaios Thema, die spätestens ins 7. Jahrhundert v. Chr. gehören.11 Im Areopag, der nach antiker Tradition von einem Gott oder einem König eingerichtet worden sein soll,12 gab es ebenfalls eine lebenslange Amtsdauer,13 so dass die meisten Areopagiten alt waren. Mogens Herman Hansen schließt, dass die Athener den Areopag als Ältestenrat angesehen haben müssen.14 Die älteste Quelle ist Solons Amnestiegesetz aus dem 6. Jahrhundert, das Plutarch überliefert.15 Der Ursprung der kretischen boule, deren Mitglieder Geronten genannt wurden, liegt im Dunkeln. Laut Aristoteles war die Mitgliedschaft in der boule lebenslang.16 Eine feste Altersgrenze ist nicht bezeugt, wird aber von Gunnar Seelentag vermutet.17 Die preisgeia und preigistoi von Rhittenia, einer von Gortyn abhängigen po6 7 8 9 10 11 12
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Aristot. Pol. 1272a–1273a, 1306a16–19. Schulz (in Vorbereitung). Hdt. 1.65; Isokr. or. 12.153; Plat. leg. 692a2; Plut. Lykurg 5. Plut. Lykurg 26.1; Xen. Lak. pol. 10 spricht vom Lebensende. Aristot. Pol. 1272a36; Plut. Lykurg 26.14 (seit Lykurg) und Plut. Agesilaos 4.2; Pol. 6.45. Parker 1993, 49–52 und Kõiv 2003, 210–212 setzen die Rhetra sogar ins 8. Jahrhundert und verbinden sie mit der Eroberung von Amyklai; Schulz 2011, 100–103, 141–155. Zu Zeus/Athena vgl. Saïd 1993, 157 f. Die Gründung durch Theseus wurde wahrscheinlich im verlorenen Anfang der Verfassung der Athener geschildert; vgl. Rhodes 1981, 107 ad [Aristot.] Ath. Pol. 3.6. Die von Plutarch bezeugte und verworfene Theorie, Solon habe den Areopag gegründet (Plut. Solon 19), wird auch von den allermeisten Gelehrten abgelehnt, etwa Wallace 1989, 3. [Aristot.] Ath. Pol. 3.6; Lys. 26.11. Hansen/Pedersen 1990, 76: „The Athenians must have viewed the Areopagos as a Council of Elders“. Schon Hansen/Elkrog 1973, 18 f. stellten als Gemeinsamkeit von spartanischer Gerusie und Areopag heraus, dass beide Ältestenräte waren; ähnlich Cawkwell 1988, 4 und 6. Plut. Solon 19 = F 70 Ruschenbusch und Leão/Rhodes. Aristot. Pol. 1272a36. Seelentag 2015, 27, 224, 226 f. erst vorsichtig, dann sicherer. Ein Indiz ist ein Passus aus den platonischen Nomoi, demzufolge es nur den Alten gestattet gewesen sei, die Gesetze beziehungsweise Gebräuche zu kritisieren (Plat. leg. 634d–e).
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lis, die in Inschriften des 6. und 5. Jahrhunderts erscheinen, werden von der Forschung als Ältestenrat identifiziert.18 Denn das dorische Adjektiv preigys, dem attisch presbys entspricht, bedeutet „altehrwürdig“. Ob es zwischen kretischen und spartanischen Institutionen, zumal den Ältestenräten, ein Rezeptionsverhältnis gab und in welche Richtung, war unter antiken Autoren umstritten und ist es auch unter modernen Forschern.19 Eine Bronzetafel20, die wohl aus Naupaktos stammt und zwischen 525 und 450 datiert wird,21 bezeugt eine preiga, bei der es sich wahrscheinlich ebenfalls um einen Ältestenrat handelt.22 Das Diagramma von 322/21, in dem Ptolemaios die Verhältnisse von Kyrene ordnete, behandelt unter anderem eine Gerusie, die offenbar schon vorher bestand.23 Die 101 lebenslangen Mitglieder rekrutieren sich aus den über 50-jährigen.24 Manche Forscher identifizieren dieses Gremium mit der von Herodot für das 6. Jahrhundert bezeugten boule.25 Auch in der kyrenischen Kolonie Euhesperides (ebenfalls 6. Jahrhundert) scheint es einen Ältestenrat gegeben zu haben, denn ein Dekret, das man zwischen 350–320 datiert, bezeugt Geronten.26 Die 60 lebenslangen amnemones von Knidos werden von Plutarch in eine nicht näher bestimmte Vergangenheit gesetzt.27 Sie waren nach Kai Trampedach ein archaisches Gremium, das laut Karl-Wilhelm Welwei noch in klassischer Zeit an der Macht war.28 Ähnlich vage ist die Datierung im Falle von Elis. Aristoteles bezeugt, dass es dort „früher“ (ποτέ) 90 lebenslang amtierende Geronten gab, die von der Forschung ins 6. Jahrhundert gesetzt werden.29 Dikaiarch, ein fragmentarisch erhaltener Autor des 4. Jahrhunderts, bezeugt für Kroton ein ἀρχεῖον γερόντων und für Lokroi Epizephyrioi γέροντες.30 Diese Fragmente behandeln das Leben des Pythagoras, dessen Wirken ins 6. Jahrhundert gesetzt wird. Diodor bezeugt für die Mitte des 4. Jahrhunderts eine Gerusie in Korinth.31 Dieses Gremium
18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
ICret 4.80.11 = Nomima 1, Nr. 7 und ICret 1.28.7 A1 = Koerner 1993, Nr. 100* = Nomima 1, Nr. 63; vgl. Gehrke 1997, 58 mit Anm. 183 und Hölkeskamp 1999, 237 f. mit Anm. 6 und 7. Nafissi 1983–1984, 356–365; Hdt. 1.65.4; Xen. Lak. pol. 1.2; Arist. Pol. 1271b24–32; [Ps.?] Pl. Min. 318cd; Ephor. FGrH 70 F 149.69 f. (= Strab. 10.4.19). IG 9.12 3.609 = Koerner 1993, Nr. 47 = Nomima 1, Nr. 44 = Meiggs/Lewis 1969, Nr. 13. Koerner 1993, Nr. 155 mit Anm. 1; Hölkeskamp 1999, 177 f. mit Anm. 4 und 11. Hansen/Nielsen 2004, 396 halten die Lokalisierung für zweifelhaft. Dazu Hölkeskamp 1999, 183 mit Anm. 51 und 54. Dagegen will Vatin 1963, 13 eher die ἀποκλησία mit der γερουσία vergleichen. SEG 9.1 Z. 34 f. Ebd. Z. 20–22. Ein neuer Platz wurde nur frei, wenn ein Geront seines Amtes enthoben wurde oder starb. Hdt. 4.165; vgl. Chamoux 1953, 214, dem sich Hölkeskamp 1999, 171 mit Anm. 41 anschließt. SEG 18.772. Plut. qu. Gr. 4 = mor. 292a–b. Trampedach 1994, 60; Welwei 1998, 64. Aristot. Pol. 1306a16–19; vgl. Gehrke 1985, 365 f. Dicaearch. Frg. 33 und 34 ed. Wehrli = Porph. VP 18 und 56. Diod. 16.65.6.
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wird mit dem Rat der 80, jener boule, identifiziert,32 die nach dem Sturz der Tyrannen im ausgehenden 6. Jahrhundert etabliert worden sein soll.33 Ob gerousia eine Amtsbezeichnung ist, wird kontrovers diskutiert,34 auf jeden Fall ist das Wort ein Hinweis auf alte Mitglieder. In den Fragmenten zur politischen Theorie des Vatikans, die dem Theophrast zugeschrieben werden, erscheint eine Gerusie, die in einem wenig beachteten Aufsatz auf Argos bezogen worden ist. In der Passage geht es um die höchsten Ämter von Argos und Karthago: „Aus diesen bestand bei ihnen die γεροντία.“35 Normalerweise hat man „bei ihnen“ auf das zuletzt genannte Karthago bezogen, aber James H. Oliver hält dagegen,36 dass Theophrast dann γερουσία benutzt hätte. Die dorische Form zeige, dass von Argos die Rede sei. Olivers Identifikation der argivischen gerontia hat in der Forschung Zustimmung gefunden; seine darauf aufbauende Gleichsetzung der gerontia mit dem Gremium der 80 wurde hingegen bezweifelt.37 Die 80, die erstmals bei Thukydides bezeugt sind, werden in der älteren Forschung mit der spartanischen Gerusie und mit dem Areopag verglichen38 und mit der von Herodot erwähnten boule identifiziert, die im Jahr 481 politische Entscheidungen trifft.39 Darüber, ob die 80 vor der Demokratisierung existierten,40 die in Argos wohl nach den Perserkriegen einsetzte,41 lässt sich nur spekulieren. Der Vergleich mit der spartanischen Gerusie und dem Areopag ist in jüngerer Zeit in Zweifel gezogen worden.42 Neue Inschriften aus Argos zeigen, dass die 80 zumindest im 4. Jahrhundert zu den halbjährigen Beamten zählten.43 Ob und in welcher Form die 80 vorher existierten, ist Spekulation; in Elis und Knidos gab es jedenfalls ähnlich große Ratsgremien mit lebenslangen Mitgliedern. Somit sind für zwölf Orte Gremien bezeugt, die zweifellos oder möglicherweise bereits in archaischer Zeit bestanden und mindestens eines der genannten Kriterien erfüllen; sie liegen auf der Peloponnes, in Attika, in Mittelgriechenland, auf Kreta, in Kleinasien, in Unteritalien und in Nordafrika. An sechs Orten sind Räte mit lebenslanger Mitgliedschaft bezeugt: Sparta, Athen, Elis, Kreta, Knidos und Kyrene. Für zwei
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Busolt 1893 Bd. 1, 658 Anm. 1, dem sich Will 1955, 615 anschließt; vgl. auch Glotz 1928, 102; Hansen/ Nielsen 2004, 467 und DNP s. v. gerousia. Nic. Dam. Frg. 60.36. Hansen/Nielsen 2004, 467: „this council is probably the γερουσία mentioned by Diodor“. Schmitz 2008, 59 pro; Ruzé 1997, 306 contra. Theophr. de elig. magistr. B 221–35: τὰς μεγίστας ἀρχάς, οἷον καὶ ἔν [γ᾽ Ἄ]ργει… ἐκ τούτων γὰρ ἡ γεροντία παρ᾽ αὐτοῖς ἦ[ν]. Oliver 1977, 338. Ruzé 1997, 269 Anm. 10: „Oliver assimile sans preuves la gérontia d’Argos aux Quatre-Vingt.“ Thuk. 5.47.9; Wörrle 1964, 56–58. How/Wells 1912 ad Hdt. 7.149.1. Wörrle 1964, 56. Hansen/Nielsen 2004, 604. Ruzé 1997, 267 und Leppin 1999, 308–310. Kritzas 2006, 421.
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Abb. 1 Ältestenräte in der archaischen Zeit.
dieser Räte ist ein Mindestalter bezeugt: die spartanische und die kyrenische Gerusie. An sechs weiteren Orten werden Gremien oder Mitglieder mit Termini bezeichnet, die mit dem Alter zusammenhängen: in Argos, Korinth, Naupaktos, Kroton, Lokroi und Euhesperides. Im Vergleich der Altersstrukturen und Amtsbezeichnungen scheinen wichtige Ähnlichkeiten und Unterschiede auf:44 In den meisten Ältestenräten entstand ein gehobener Altersdurchschnitt durch die lebenslange Amtsdauer. So ergab sich eine durchmischte Altersstruktur, die an die Räte der Achaier beziehungsweise Griechen bei Homer erinnert.45 Ein Mindestalter scheint hingegen die Ausnahme, nicht die Regel, gewesen zu sein. Das in Sparta geltende Mindestalter von 60 Jahren führte zu den ältesten Mitgliedern und wurde, soweit wir wissen, nirgends überboten. Nachklassi-
44 45
Mehr im Beitrag von Schulz (in Vorbereitung). Schulz 2011, 13–18.
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sche Quellen bezeugen für die Mitglieder der kyrenischen Gerusie immerhin ein Mindestalter von 50 Jahren. Die Amtsbezeichnungen der Ältestenräte und ihrer Mitglieder variieren zwischen den Städten: vom Alter abgeleitet (einerseits Gerusie/Geronten in Sparta, Argos, Kyrene und Euhesperides; andererseits preiga/preisgeia/preigistoi in Rhittenia und Naupaktos) oder einer anderen Eigenschaft der Mitglieder (amnemones in Knidos), der Funktion (boule auf Kreta und in Athen), dem Ort (Areopag in Athen) oder von der Zahl (80 von Argos und Korinth, 90 von Elis). Historische Gründungsakte? Die antiken Berichte über Gründungsakte, die es nur für zwei Ältestenräte gibt, sind lückenhaft und historisch zweifelhaft. Der Areopag soll von Zeus beziehungsweise Athena eingerichtet worden sein (Anm. 12). Leider ist der Anfang der Verfassung der Athener verloren, der vermutlich erzählte, wann und wie der Areopag gegründet wurde. Nach Peter Rhodes habe in der Lücke wahrscheinlich gestanden, dass der Areopag von König Theseus gegründet wurde, als er den privilegierten Clan der Eupatriden von der normalen Bürgerschaft trennte.46 Die spartanische Gerusie wurde nach einhelliger antiker Meinung von Lykurg gegründet. Laut Plutarch ging die Gründung auf eine Krise des Königtums zurück, die durch die Einrichtung der Gerusie entschärft wurde.47 Plutarch schildert ausführlich, wie Lykurg das Meisterstück gelang, einen Ausgleich zwischen den Parteien zu finden, lässt aber offen, warum das neue Ratsgremium, das von tatkräftigen Männern begründet wurde, von Anfang an Gerusie hieß und in späterer Zeit aus „Greisen“ besetzt wurde.48 Warum Lykurg ausgerechnet einen Ältestenrat geschaffen habe, lassen auch die meisten anderen Autoren offen. Nur bei Platon heißt es, jener habe die willkürliche Gewalt der Könige mit der besonnenen Kraft des Alters gemischt.49 Die ausgewogene Mischung ist jedoch ein Ideal des 5. Jahrhunderts. Das Paradigma der Institutionalisierung erlaubt es, den Blick weg von solchen legendären Akteuren und ex-post-Konstruktionen, die die Quellen dominieren, auf die Zeitumstände und Strukturen zu lenken, die den Gestaltungsspielraum etwaiger Gesetzgeber einhegten. Die Alten müssen schon vor der Reform etwas zu sagen gehabt haben; sonst hätte man ihre Führungsrolle nicht akzeptiert. Woher aber rührte jene Macht der Alten, die institutionalisiert wurde?
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So Rhodes 1981, 107 ad [Aristot.] Ath. Pol. 3.6. – Plut. Theseus 25 schreibt dem Theseus die Institutionalisierung der Eupatriden zu; kritisch zur Verbindung von Theseus und Areopag äußert sich Wallace 1989, 223–227. Plut. Lykurg 5. So bereits Meyer 1892, 272. Plat. leg. 692a2: μείγνυσιν τὴν κατὰ γῆρας σώφρονα δύναμιν τῇ κατὰ γένος αὐθάδει ῥώμῃ.
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Dorische Wuzeln oder Kennzeichen der Stammesgesellschaft? Heute gibt es über die Ursprünge der Ältestenräte verschiedene, zum Teil widersprüchliche Theorien.50 Beim Blick auf die Karte fällt jedenfalls Folgendes auf: Die Ältestenräte sind abgesehen von Athen ausschließlich im dorischen beziehungsweise westgriechischen Sprachraum verbreitet.51 Dieser Befund, der früher intensiv diskutiert wurde, wird heute weitgehend ausgeblendet. Die ältere Forschung war davon überzeugt, dass die Gerusie eine Institution gewesen sei, welche die Dorier von ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten mitgebracht hätten. So hat Karl Ottfried Müller zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Gerusie zu einer urdorischen Einrichtung erklärt,52 ähnlich wie man in dieser Zeit die Thing-Versammlungen für eine urgermanische Einrichtung hielt. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung von der dorischen Wanderung fundamendal geändert: Die Dorier seien nicht plötzlich und als geschlossener Stamm, sondern in kleinen Gruppen über einen langen Zeitraum eingewandert. Neuere Erkenntnisse aus dem Bereich der Ethnogenese legen nahe, dass sich die dorische Identität und ihre Einrichtungen erst mit der Zeit formiert haben und dann in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden.53 Die dorische Ethnogenese trug sich demnach zwischen dem 10. und 8. Jahrhundert zu.54 Heute kann sich folglich kaum ein Wissenschaftler dorische Institutionen, die auf eine „Wanderungszeit“ zurückgehen, vorstellen. Eine jüngere Ausnahme ist Oliver Grote, der die dorische Phylen- und Stammesordnung auf Siedlungsverbände zurückführt.55 Im Falle der Ältestenräte sind Wurzeln in einer Wanderungszeit noch schwerer vorstellbar, da in Zeiten von Mobilität und Migration zumal unter vormodernen Bedingungen die physische Kraft der Jungen gefragt war. Die Alten blieben auf der Strecke oder traten die beschwerliche Reise erst gar nicht an. Der oben vorgenommene Vergleich der archaischen Ratsgremien zeigt bereits verschiedene Altersstrukturen und Namen, die eher auf unabhängige Entwicklungen als auf einen gemeinsamen Ursprung deuten. Außerdem sind die inner-dorischen Ähnlichkeiten in mancher Hinsicht geringer als die externen: Die Zusammensetzung der kretischen Räte etwa hat mehr mit dem Areopag als mit der spartanischen Gerusie gemein. Trotzdem könnte es in dorischen poleis untereinander vergleichbare Strukturen gegeben haben, welche die Ausbildung von Ältestenräten begünstigten. 50 51 52 53 54 55
Ich übergehe die problematische These, derzufolge die Ältestenräte kretischer poleis und Spartas eine phönizische Institution zum Vorbild gehabt hätten; dazu Schulz 2011, 251 f. Zum dorischen beziehungsweise westgriechischen Dialekt und seinen Untergruppen vgl. Méndez-Dosuna 2007. Die Karte „Griechische Dialekte“ aus García-Ramón/Binder 1998 wird mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags abgedruckt. Müller 1844, 92. Van Effenterre 1985, 294 f.; Hall 1997, 4–16. Nafissi 2009, 118. Grote 2016, 221–242.
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Abb. 2
Das jüngere Erklärungsmodell, das zu ähnlichen Ergebnissen führt, beruht auf ethnologischen und anthropologischen Vergleichen. Demzufolge habe es wie in afrikanischen und kaukasischen Vergleichsgesellschaften auch im frühen Griechenland Stammesgesellschaften gegeben, an deren Spitze ein Rat der Stammesältesten gestanden habe. Diese Urform sei in Sparta erhalten geblieben.56 In Anbetracht der Quellenlage ist diese These problematisch. Die Besetzung nach Phylen ist explizit nur für einzelne Ratsgremien auf Kreta bezeugt.57 Historiker haben das zwar nicht nur für die ganze Insel, sondern auch für Ratsgremien in anderen poleis postuliert: nämlich für Korinth,
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Oliva 1971, 70, 89, 97–99; David 1991, 16–18, 46 f. Gehrke 1997, 58 f., Seelentag 2015, 142 f., 246–251 und Grote 2016, 131, 140 f. ad Nomima 1, Nr. 22 = Gagarin/Perlman 2016, Da1 (Datala); Koerner 1993, Nr. 90 = Nomima 1, Nr. 81 = Gagarin/Perlman 2016, Dr1 (Dreros); Koerner 1993, Nr. 91 = Nomima 1, Nr. 64 = Gagarin/Perlman 2016, Dr5 (Dreros).
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Argos, Sparta und Elis.58 Diese Annahmen sind aber spekulativ, da sie auf Rechenspielen beruhen: Die bezeugte Mitgliederzahl wird durch die Zahl der bekannten oder behaupteten Phylen geteilt, was eine Mitgliederquote pro Phyle ergibt, die stark variiert. Phylenälteste begegnen uns nur in einer einzigen Quelle aus römischer Zeit. Laut Plutarch entschieden in Sparta die „Ältesten der Phylen“ (τῶν φυλετῶν οἱ πρεσβύτατοι), ob Neugeborene aufgezogen oder ausgesetzt wurden.59 Von Geronten ist keine Rede. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob das anthropologische Konzept der Stammesgesellschaft für die Archaik greift.60 Bedingungen für die Emergenz Da antike Gründungssagen und moderne Theorien über die dorische Wanderung oder die Stammesgesellschaft keine befriedigende Erklärung für das Aufkommen und die Verbreitung von Ältestenräten liefern, ist der Blick auf ihre Enstehungszeit zu richten. Winfried Schmitz sieht in der spartanischen Gerontokratie kein Relikt, das Organisationsformen aus der Zeit der Wanderung bewahrt habe, sondern das Resultat einer gesellschaftlichen Umwälzung, die aus der spartanischen Expansion nach Messenien resultiert habe.61 An diese These möchte ich im Folgenden anknüpfen und vier Faktoren diskutieren, die die Emergenz von Ältestenträten begünstigten. Ökonomische Unabhängigkeit dank versklavter Landbevölkerung Griechische poleis waren in dieser Zeit – wie Schmitz verdeutlicht hat62 – agrarisch geprägte Gemeinschaften; daher endete die einflussreiche Stellung eines Mannes mit der Übergabe seines Hofes an seinen Sohn beziehungsweise seine Söhne. Dieser Rückzug auf das Altenteil sorgte vielerorts für eine Marginalisierung der Alten. Das zeigt das homerische Ithaka, wo in Odysseus’ Abwesenheit das politische Leben brachliegt. Odysseus’ Vater Laertes, der seinem Sohn den Hof bereits vor dessen Abfahrt nach 58
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Korinth: Glotz 1928, 102 und DNP s. v. gerusia: Jede der acht Phylen, die erst in der Suda belegt sind, habe je neun Ratsmitglieder und einen Proboulen ernannt = 80. – Argos: Die Zahl 80 in Argos deutet laut Hansen/Nielsen 2004, 604 darauf hin, dass die vier Phylen (nämlich die drei dorischen plus eine vierte, die allerdings erst im 5. Jahrhundert belegt sind) von je 20 Abgeordneten repräsentiert worden seien. – Sparta: Laut Ruzé 1997, 226 habe jede der drei dorischen Phylen, die bereits bei Tyrtaios belegt sind, zehn Mitglieder geschickt = 30. – Elis: Gemäß Glotz 1928, 83 repräsentieren die 90 Geronten die drei dorischen Phylen, die für Elis aber nicht bezeugt sind. Ganz Kreta: Grote 2016, 131. Plut. Lykurg 16.1–2. Roussel 1976, 9–13, 99–103, 169–171. Schmitz 2003, 111 Anm. 84 pace David 1991. Zuletzt Schmitz 2014, 21–24.
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Troja abgetreten hatte, ist politisch nicht mehr aktiv.63 Anders war der Fall in Sparta und auf Kreta, wo die Städter die Landbevölkerung unterjocht hatten: Dank der Sklaven, die im Haus und auf dem Land arbeiteten, behielten die Greise auch bei Abnahme der Körperkraft ihre Unabhängigkeit und gesellschaftliche Stellung.64 Zur Zeit der Einrichtung der spartanischen Gerusie gab es bereits die lakonischen Heloten, wörtlich die „Gefangenen“.65 Auch in anderen poleis auf der Peloponnes wie Argos und Korinth gab es im 8. Jahrhundert anscheinend eine kollektive Unterjochung der ansässigen Landbevölkerung;66 möglicherweise auch in Naupaktos, worauf die erwähnte Bronzetafel hinweist, und in Elis.67 Auch wenn es hier unterschiedliche Ausprägungen gab, könnte der Effekt ähnlich gewesen sein: Die ökonomische Unabhängigkeit bewahrte den Alten ihre Macht und ihr Ansehen. Auch in Athen herrschten möglicherweise ähnliche Bedingungen, wo die Landbevölkerung zwar nicht gewaltsam und kollektiv, aber doch systemisch und in großer Zahl versklavt wurde: Im Zuge der Binnenkolonisation Attikas entstand in Athen bereits im 8. Jahrhundert eine Schicht von wohlhabenden Landbesitzern, deren Äcker von landlosen Lohnarbeitern und Sklaven bestellt wurden.68 Für Nachschub an Sklaven sorgten nicht nur Kriege, sondern auch die Schuldknechtschaft und -sklaverei, die immer weitere Kreise zogen, bis es im frühen 6. Jahrhundert zu schweren Unruhen kam. Solon entschärfte die gesellschaftliche Krise, indem er die Schuldsklaverei abschaffte. Arbeitsteilung durch Kriege befördert Viele der Städte mit Ältestenräten waren in der archaischen Zeit offenbar besonders expansiv, was die gesellschaftliche Kohäsion strapazierte. Das späte 8. Jahrhundert, wohin viele Historiker die Rhetra und die Einrichtung der Gerusie setzen, stand im Zeichen der ersten Konflikte Spartas mit Argos und Messenien.69 Korinth hatte bereits um 700 Grenzstreitigkeiten mit Megara und war in den Lelantischen Krieg involviert, der in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts in Euböa tobte.70 Im 7. Jahrhundert stritt 63 64 65 66 67 68 69 70
Hom. Od. 2.26, 2.226 f., 21.20, 24.205–212. Zum Quellenwert der homerischen Epen vgl. Raaflaub 1998. Schmitz 2003, 111 f. zu Sparta; Seelentag 2015, 225 f. zu Kreta. Zu den lakonischen Heloten s. van Wees 2003, 48–53. Van Wees 2003 passim sowie 41–45 zu Argos (vgl. Ephor. FGrH 70 F 115) und 62–64 zu Korinth. Hodkinson 2009, 430, 482–484 folgt van Wees. Van Wees 2003, 61–66. Die Lesart ϝοικιάται ist aber unsicher. Welwei 1992, 87–91, 95–100. Rund um Solon und die „solonische Krise“ ist vieles umstritten; vgl. etwa zum Schlüsselbegriff der „Hektemoroi“ Meier 2012. Meier 1998, 74 f. datiert die Konflikte mit Asine und Helos, in die auch Argos verwickelt gewesen sei, um 715. Zu den Vorstufen des ersten Messenischen Krieges vgl. Meier 1998, 72 mit Anm. 14. Parker 1997, 133–144. Hall 2007, 2–6 steht den Quellen zum Lelantischen Krieg skeptischer gegenüber.
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Athen mit Megara um den Besitz der Insel Salamis.71 Unter dem angriffslustigen König Pheidon, den Herodot ins frühe 6. Jahrhundert setzt, versuchte Argos den Eleern die Verwaltung der olympischen Spiele streitig zu machen.72 Vielleicht haben solche Phasen die Arbeitsteilung zwischen den Generationen befördert: Die waffenfähigen Männer zogen zu Feld, die Alten hielten zu Hause die Stellung und bewahrten die Ordnung. Der Chorlyriker Pindar (1. Hälfte des 5. Jahrhunderts) beschreibt diese Aufteilung, wenn er von Sparta sagt: „Dort herrschen die Ratschläge der Geronten und die Speere der Jungen“.73 Wie ungewöhnlich der Einfluss, den alte Aristokraten in diesen Städten genossen, und wie erklärungsbedürftig er war, illustriert der epische Dichter Hesiod (um 700), der aus dem Dorf Askra in Böotien stammte. Als gut situierter Bauer, der die lokale Elite verachtete, hatte er eine andere Arbeitsteilung propagiert: „Jungen die Tat, den Mittleren die Ratschläge, den Alten die Gebete“.74 Zugespitzt könnte man sagen: Die Leute mittleren Alters, zu denen Hesiod selbst zählte, sagen den Jungen, wo es langgeht; den Alten bleibt nur noch das Beten. Gebete, die die Götter an das do ut des-Prinzip erinnerten, hatten für Griechen der Archaik natürlich keine unwichtige Funktion; in den homerischen Epen zählen sie zu den typischen Szenen. Das Beispiel der trojanischen Alten, von dem die Ilias erzählt, lehrte aber, dass Gebete nicht in Erfüllung gehen mussten.75 Troja wurde ihrer Gebete zum Trotz zerstört. Pindar korrigiert Hesiod, wenn er die Ratschläge der Mittleren den Alten zuweist und die Gebete weglässt. So machte er seinen gebildeten Hörern klar, dass in Sparta eine andere Ordnung herrschte: Die Alten spielten eine wichtigere Rolle als die Mittleren. Einführung der Hopliten-Phalanx Dass die besagten militärischen Aktivitäten erfolgreich waren, hing in den meisten der genannten Städte mit einer taktischen Neuerung zusammen: der Einführung der Hopliten-Phalanx. Der Vorteil der Hopliten basierte auf der Einheit der Soldaten, welche die gleichen Waffen führten, in engen Reihen standen und einander schützten. Ob es sich dabei um eine Reform oder um eine schrittweise Verfeinerung der Kampfweise handelte, ist in der Forschung umstritten; wann genau es in welcher polis passierte, 71 72 73
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Welwei 1992, 146 f.; Parker 1997, 135. Hdt. 6.127.3. Scott 2005 ad locum und Appendix 16.1–3. Wie problematisch die Quellenlage ist, illustriert Hall 2007, 145–151. Pindar Frg. 166 (Werner) apud Plut. Lykurg 21.4: ἔνθα βουλαὶ γερόντων / καὶ νέων ἀνδρῶν ἀριστεύοισιν αἰχμαί. Pindar knüpft an die Ilias an, wo Nestor sagt, er unterstütze den Kampf nicht wie die Jungen mit dem Speer, sondern mit Ermahnung und Rat, was das Vorrecht der Alten sei (Hom. Il. 4.322). Hes. Frg. 321 Merkelbach/West: ἔργα νέων, βουλαὶ δὲ μέσων, εὐχαὶ δὲ γερόντων. Hom. Il. 6.113–115.
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auch. Schließlich ist strittig, welche gesellschaftlichen Implikationen die Neuerung hatte. Lange Zeit war es Mehrheitsmeinung, dass es sich um eine Revolution gehandelt habe, die sich schnell verbreitete und die politische Partizipation steigerte. Diese communis opinio, die in den letzten Jahren in verschiedenen Punkten kritisiert wurde,76 hat Gregory Viggiano jüngst mit neuen Argumenten bekräftigt.77 Laut Viggiano waren in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts Argos, Korinth und Sparta die Pioniere im Hopliten-Kampf, Athen folgte im späten 7. Jahrhundert.78 Ich denke, dass die Einführung der Hopliten-Phalanx, wenn die Homogenität der Kampfkraft gesichert werden sollte, auch eine Reglementierung des Endes des Kriegsdienstes erforderte. Das lässt sich für Sparta wahrscheinlich machen: Das Mindestalter der spartanischen Geronten fiel bekanntlich mit dem Ende des Kriegsdienstes, der laut Xenophon vom 21. bis zum (einschließlich) 60. Lebensjahr dauerte, zusammen.79 Auch in anderen Städten wie Athen galten für das Ende des Kriegsdienstes ähnliche Altersgrenzen.80 Andererseits rekrutierte sich der Ältestenrat dort und andernorts aus den höchsten Beamten, so dass das Alter der Aufnahme schwankte. Dass die Einführung der Hopliten-Phalanx freilich keine notwendige Bedingung für die Ausbildung von Ältestenräten bildete, zeigt das Beispiel Kretas, wo die Hopliten-Taktik keinen Einzug hielt und Ältestenräte trotzdem verbreitet waren. Hierarchische Altersklassen Welche Rolle Altersklassen in archaischen, zumal dorischen poleis spielten, wird derzeit intensiver diskutiert. Die einen Forscher sprechen ihnen große Bedeutung zu, die anderen geringe.81 In Sparta und wahrscheinlich auch auf Kreta spielten sie aber zumindest für die Erziehung eine wichtige Rolle. Wo es sie gab, waren sie verschieden zugeschnitten und bezeichnet. Es waren wahrscheinlich nicht nur ethnische, sondern auch kontingente Faktoren, die zu ihrer Ausbildung führten. Männergemeinschaften, die in Altersklassen unterteilt sind, zerfallen gewöhnlich in drei Hauptgruppen: Söhne, Väter und Großväter. Jeder Klasse kommen besondere Privilegien und Pflichten zu, deren Bedeutung mit dem Alter steigt; die Ältesten ha-
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Van Wees 2004, Teile II und V sowie Raaflaub. Viggiano 2013. Viggiano 2013, 124–126. Meier 1998, 231 mit Anm. 19 setzt die Einführung der Hopliten-Kampfweise in Sparta ebenfalls in die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts. Xen. hell. 5.4.13. Timmer 2008, 231–234, 237. Pro: Sallares 1991, 160–192 besonders in dorischen, aber auch in ionischen Städten; Lupi 2000 und Schmitz 2005 zu Sparta; Seelentag 2015, 27, 116 f., 440–454, 500–503 zu Kreta; contra: Kennell 2013 zu Sparta, Kreta und Athen.
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ben oft eine Leitungsfunktion.82 Zu diesem Modell passen Sparta und Kreta, deren Gemeinschaften in zukünftige, aktive und ehemalige Krieger gegliedert waren, wo die Alten besonderes Ansehen genossen und es Ältestenräte gab.83 Bereits im Zusatz der Rhetra und bei Tyrtaios werden die spartanischen Geronten als „Erst“- beziehungsweise „Früher-Geborene“ (πρεσβυγενέας) bezeichnet.84 Dieser Begriff macht unmissverständlich deutlich, dass nicht nur einige, sondern alle Geronten alt waren (im Gegensatz zu den homerischen) und sich von der (beziehungsweise den) unteren Altersklasse(n) abhoben. Hinweise auf Altersklassen finden sich auch in Kroton.85 Im klassischen Athen gab es zwar trotz der Gliederung in Altersklassen keine herausgehobene Stellung der Alten,86 in archaischer Zeit war das aber eventuell noch anders gewesen.87 In den Ältestenräten, die sich aus den höchsten Beamten rekrutierten und eine gemischte Altersstruktur hatten, war die Linie zwischen den Altersklassen natürlich weniger scharf. Verbreitung durch Übertragung und Nachahmung Die Bedeutung von Sklaverei, Kriegen, der Hopliten-Phalanx und Altersklassen kann eine Reihe von Emergenzen im griechischen Mutterland und auf Kreta erklären; für die Ältestenräte in Apoikien bieten sich andere Erklärungen. Lange Zeit ging man davon aus, dass die Verfassung von der Mutterstadt auf die Kolonie bei deren Gründung übertragen wurde. Heute ist klar, dass es auch Prozesse der späteren Anlehnung gab. So hat Massimo Nafissi wahrscheinlich gemacht, dass Spartas Kolonie Thera das Ephorat nicht bei der Gründung, sondern erst in klassischer Zeit einführte.88 Das ist in Anbetracht der militärischen, politischen und kulturellen Überlegenheit Spartas durchaus denkbar. Das Fehlen der Gerusie in Thera und deren Bezeugung in seinen Kolonien wird in der Forschung unterschiedlich gedeutet: einmal wird die Gerusie auch für Thera postuliert,89 einmal geschlossen, dass Kyrene, eine Kolonie Theras,90 und Euhesperides, eine Kolonie Kyrenes, die Verfassung von Sparta, ihrer Großmutter- beziehungsweise Urgroßmutter-Stadt, enger abbildeten.91 Kyrene und Euhesperi-
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Kennell 2013, 3, 5 und 29; Birchler Emery 2008, 64. Kennell 2013, 39 und 57; Lupi 2000, 12–21; Sallares 1991, 178. Plut. Lykurg 6.4 τοὺς πρεσβυγενέας; Tyrtaios Frg. 4 West πρεσβυγενεῖς γέροντας. Pythagoras spricht zu Jungen und Männern getrennt; Dicaearch. Frg. 33 Wehrli = Porph. VP 18. Timmer 2008, 227. Sallares 1991, 175 zur kylonischen Verschwörung, 183 f.; Birchler Emery 2004, 228 zur Betonung der positiven Seiten des Alters in der früharchaischen Ikonographie. Nafissi 1999, 248. Malkin 1994, 108. Chamoux 1953, 120–124. Fragoulaki 2013, 187 mit Anm. 294.
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des könnten also ihre jeweilige Gerusie und ihre Geronten von Sparta entweder bei der Gründung übernommen haben, wenngleich es nur dünne Hinweise auf eine spartanische Beteiligung bei der Gründung Kyrenes gibt,92 oder später an Sparta angelehnt haben, als es politisch opportun war. Im Peloponnesischen Krieg halfen die drei Städte einander jedenfalls.93 Allerdings unterschied sich die kyrenische Gerusie zumindest in früh-hellenistischer Zeit in manchen Punkten von der spartanischen: So lag das Mindestalter niedriger und die Mitgliederzahl höher. Auch für die amnemones von Knidos kommen Übertragung auf Kolonie und Imitation der Mutterstadt in Frage: Die Stadt war wahrscheinlich eine spartanische Gründung und spätestens in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts ein treuer Verbündeter Spartas.94 Für die Geronten von Kroton und Lokroi kommt hingegen eher Anlehnung in Frage, weil die Quellen für eine spartanische Beteiligung bei der Gründung schwach sind.95 Lokroi wurde wohl um 700 durch Kolonisten aus Lokris in Mittelgriechenland96 und Kroton im ausgehenden 8. Jahrhundert von Achaiern und anderen Peloponnesiern gegründet.97 Die Altersklassen, die es in Kroton möglicherweise gab, könnten eine solche Übernahme erleichtert haben. Für die Einrichtung einer Gerusie nach spartanischem Vorbild sprächen natürlich nicht nur Verwandtschaft und Bündnisse, sondern auch der Umstand, dass die lykurgische Ordnung, zu der man die Gerusie zählte, spätestens ab dem 5. Jahrhundert als exemplarisch galt.98 Fazit und Ausblick Patrizia Birchler Emery geht davon aus, dass sich die traditionelle Stellung der Alten im Übergang von der geometrischen zur archaischen Zeit im Zuge der (Wieder-)Entdeckung der Schrift radikal geändert habe: Erst waren sie als Träger des kulturellen Gedächtnisses geehrt, dann verachtet und marginalisiert.99 In Anbetracht der Ver-
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Paus. 3.14.3. Thuk. 7.50. Nach Hdt. 1.174.2 und Diod. 5.9.2 waren die Knider Kolonisten aus Lakedaimon, wohingegen Strab. 14.2.6 sagt, sie seien aus Megara gekommen. Bresson 2007, 110 mit Anm. 15 und Malkin 1994, 80 f. zählen Thera, Kyrene und Taras zu „der Welt der spartanischen Kolonisation“. Für die Mutterstadt Sparta spricht das knidische Alphabet; vgl. Bresson 2007, 111 mit Anm. 23. Malkin, 81: „Towards the end of the fifth century, Knidos was a loyal ally of Sparta.“ Paus. 3.3.1. Schon in der Antike war umstritten, ob sie aus Ost- oder Westlokris stammten; vgl. Hansen/Nielsen 2004, 274. Von Achaiern laut Hdt. 8.47, von Peloponnesiern laut Pseudo-Skymnos 328. Zur Datierung vgl. Giangiulio 1989, 284 f. Kõiv 2003, 161. Birchler Emery 2008, 66.
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breitung von Ältestenräten erscheint diese These zu grob. Räte, deren Mitglieder alt waren und lebenslang amtierten, waren in der archaischen Zeit verbreitet. Für zwölf Orte sind Institutionen bezeugt, die zweifellos oder möglicherweise bereits in archaischer Zeit bestanden; in der Reihenfolge der Zahl und Güte der Zeugnisse sind das: Sparta, Athen, Kreta, Naupaktos, Kyrene, Euhesperides, Knidos, Elis, Kroton, Lokroi Epizephyrioi, Korinth und Argos. Diese Orte liegen auf der Peloponnes, in Attika, in Mittelgriechenland, auf Kreta, in Kleinasien, in Unteritalien und in Nordafrika. An sechs Orten sind Räte mit lebenslanger Mitgliedschaft bezeugt: Sparta, Athen, Elis, Kreta, Knidos und Kyrene. Für zwei dieser Räte ist ein Mindestalter bezeugt: die spartanische und die kyrenische Gerusie. An sechs weiteren Orten wurden Gremien oder Mitglieder mit Termini bezeichnet, die mit dem Alter zusammenhängen: in Argos, Korinth, Naupaktos, Kroton, Lokroi und Euhesperides. Diese Ältestenräte hatten viele Gesichter: Wo es kein Mindestalter gab, führte lebenslange Mitgliedschaft zu einem gehobenen Altersdurchschnitt der Teilnehmer. Entweder konnte man in den Ältestenrat direkt gewählt werden, oder er rekrutierte sich aus den ehemaligen höchsten Beamten. Im ersten Fall hatte der Rat eine feste Größe, im zweiten Fall schwankte die Mitgliederzahl. Die Amtsbezeichnung der Ältestenräte und ihrer Mitglieder kann, muss aber nicht mit dem Alter zusammenhängen. Antike Berichte über die ex nihilo-Gründung einzelner Ältestenräte durch Götter oder göttlich inspirierte Gesetzgeber, wie sie für Athen und Sparta bezeugt sind, stellen sich der Frage, warum sich das Ratsgremium ausgerechnet aus den Alten rekrutierte, nur selten und liefern, wenn sie es tun, keine überzeugenden Antworten. Der Umstand, dass sich die Ältestenräte vor allem im dorischen Raum finden, erlaubt es aber auch nicht, sie, wie es im 19. Jahrhundert geschah, zu urdorischen Institutionen zu erklären, welche die Wanderungszeit überdauert hätten. Ältestenräte brauchten Sesshaftigkeit und Wohlstand. Genauso wenig bildeten Ältestenräte Stammesstrukturen ab, wie man im 20. Jahrhundert meinte. Dass sich Ältestenräte in vielen dorischen poleis, aber auch in Athen finden, hängt mit einer Reihe von spezifischen, einander verstärkenden Bedingungen zusammen, die in diesen poleis in der archaischen Zeit herrschten und die Ausbildung beförderten: Die Versklavung der Landbevölkerung in Sparta, Kreta, Argos und Korinth, möglicherweise auch in Naupaktos und in Elis sicherte den Alten die ökonomische Unabhängigkeit und den gesellschaftlichen Einfluss, den sie andernorts verloren; einen ähnlichen Effekt hatte die Schuldsklaverei in Athen. Sparta, Argos, Korinth, Elis und Athen waren besonders expansiv, was eine Arbeitsteilung zwischen den Generationen befördert haben könnte: Die Jungen kämpften, die Alten berieten. Wie kontrovers diese Aufteilung war, illustrieren abweichende Sinnsprüche von Hesiod und Pindar. Argos, Korinth, Sparta und Athen stellten ihre Kampfweise früh auf die Hopliten-Phalanx um, was die Grenze zwischen waffenfähigen Jungen und nicht-mehr-kämpfenden Alten stärker markierte. In Sparta und auf Kreta sowie vielleicht in Athen und Kroton gab es zudem Altersklassen, die den Ältesten besondere Rechte gaben. In den dorischen Kolonien Kyrene, Euhesperides und Knidos kommt
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schließlich eine Übertragung bei der Gründung oder eine spätere Übernahme von der jeweiligen (Urgroß- beziehungsweise Groß-)Mutterstadt in Frage, in Kroton und Lokroi nur letzteres. Für eine Übernahme sprach, dass sie die Gemeinschaft mit einem mächtigen Bündnispartner vertiefte und dass die spartanische Gerusie als exemplarisch galt. Konkurrenz war für die Einrichtung von Ältestenräten ein wichtiger Motor. Vielerorts konkurrierten Junge und Alte um die Leitungsfunktion, wobei letztere mit zunehmendem Alter das Nachsehen hatten. Wo sich Ältestenräte bildeten, gelang es den Alten, die Jungen von einer wichtigen Leitungsfunktion dauerhaft auszuschließen; entweder durch die Festsetzung einer Altersgrenze, die den Zugang zum Gremium regelte, oder durch die Forderung bestimmter Vorerfahrungen (Institutionalisierung gegen Konkurrenz). Idealiter konnten sich die Jungen stattdessen auf das Kriegsgeschäft konzentrieren. Die mit der Arbeitsteilung zwischen den Altersklassen einhergehende Spezialisierung hatte das Potenzial, die Effizienz zu steigern und Konkurrenz zu vermeiden. Für die Verbreitung spielte Konkurrenz ebenfalls eine Rolle: Im Konkurrenzkampf zwischen poleis um mächtige Bündnispartner bot sich die Einrichtung einer Gerusie an, um die Gemeinschaft mit Sparta zu vertiefen. Jetzt, wo die Ältestenräte identifiziert, ihre Ursprünge beleuchtet sind und sich erste Ähnlichkeiten und Unterschiede etwa in der Altersstruktur und Amtsbezeichnungen abzeichnen, ließen sich Analyse und Vergleich ausweiten, etwa auf Größe, Rekrutierung, Verfahren und Kompetenzen. Das Paradigma der Konkurrenz kann dabei helfen, die Konkurrenz zwischen Schichten um Plätze zu untersuchen. Der Umstand, dass die Räte selektive Gremien waren, in die nur wenige neue Mitglieder aufgenommen wurden, setzte die Kandidaten in ein Konkurrenzverhältnis. Die Qualifikationen und der Modus der Auswahl wurden mit der Zeit geregelt (Institutionalisierung von Konkurrenz). Der Kampf um die Plätze dürfte die Normen bestärkt haben (Institutionalisierung durch Konkurrenz). Schließlich konnte ein Ältestenrat in Konkurrenz zu anderen Gremien treten. Diese Institutionenkonkurrenz konnte zu Kompetenzveränderungen führen, die sich in Gewinnen und Verlusten bemessen lassen. Literaturverzeichnis Birchler Emery, Patrizia 2004. L’iconographie de la vieillesse en Grèce archaïque. Thèse de doctorat, Genf. Birchler Emery, Patrizia 2008. Vieillards et vieilles femmes en Grèce archaïque. De la calvitie et des rides, Rennes. Bresson, Alain 2007. Karien und die dorische Kolonisation, in: Frank Rumscheid (Hrsg.) Die Karer und die Anderen, Bonn, 109–120. Busolt, Georg 1893. Griechische Geschichte bis zur Schlacht bei Chaeroneia, Bd. 1, Gotha. Cawkwell, George Law 1988. ΝΟΜΟΦΥΛΑΚΙΑ and the Areopagus, in: JHS 108, 1–12. Chamoux, François 1953. Cyrène sous la monarchie des Battiades, Paris.
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Intellektuelle Konkurrenz und kanonisierte Weisheit Konkurrenz-Diskurse im politischen Denken der archaischen Zeit Tanja Itgenshorst Abstract: This paper is dedicated to competition between political thinkers in Archaic Greece, which manifests itself in various ways in the extant fragments. More precisely it is asked whether this competition might have led to formalised contests – in the sense of Simmel’s Konkurrenz – which might have helped to disseminate political ideas during this period. One hint is given by an episode recounted by Ps.-Plutarch in which Hesiod participates in a contest in Chalcis regarded as a contest of wisdom. A closer look on the extant sources, however, shows that such “contests of wisdom” appear only in authors of the Imperial period: hence, Plutarch and Diogenes Laertius relate anecdotes about formal “contests of wisdom” between thinkers, which are imagined as fictitious encounters between Archaic philosophers. It is thought that the underlying point of these “contests of wisdom” is not to determine one ‘winner’ from among several thinkers engaged in fierce competition, but rather to present a group of wise men who all could claim a share of wisdom (sophia). This literary mise-en-scène presupposes the concept of the Seven Sages as a group of Archaic wise men who each share in wisdom, but this concept did not emerge until the early 4thcentury BC. These carefully construed fictitious “contests of wisdom” of the Imperial period thus stand in sharp contrast with the “unregulated” competition of the Archaic thinkers themselves: whereas the former show the wise men as a group mutually agreed that each shares in wisdom, the latter is characterised by strong individuals who promoted their own ideas, being convinced of their exclusive intellectual superiority. This specific attitude, highly competitive but not formalised, contributed to the powerful dynamic of political thought in Archaic Greece.
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Einleitung Spätestens seit Jacob Burckhardts Überlegungen zum „agonalen Menschen“ wird die Mentalität in der griechischen Archaik als entscheidend durch Agonalität geprägt wahrgenommen.1 Dies schließt ausdrücklich „Alles Musische“ mit ein: So wie den Griechen mit der Zeit Alles unter den Händen zum Agon wird, so auch Alles Musische. Die Entwicklung der Poesie geschah großentheils unter dieser Hauptbedingung. Notwendigkeit fester, gegebener Kampfrichter.2
Diese moderne Auffassung lässt sich auf frühe Zeugnisse der Griechen selbst zurückführen, so etwa Hesiods Lob der „guten Eris“ (Göttin des Streits) in seinem Lehrgedicht Werke und Tage, in dem neben anderen Tätigkeitsbereichen des Menschen auch derjenige des Sängers erwähnt wird: Ist einer auch träg, treibt sie (die gute Eris) ihn doch ans Werk. Sieht nämlich der Nichtstuer, wie sein reicher Nachbar mit Eifer pflügt, sät und sein Haus wohl bestellt, dann eifert der Nachbar dem Nachbarn nach, der zum Wohlstand eilt. Fördernd ist diese Eris für die Menschen, und so grollt der Töpfer dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, der Bettler neidet dem Bettler, und der Sänger dem Sänger.3
Im vorliegenden Zusammenhang ist diese Beobachtung von zentraler Bedeutung, da die Dichtung in der archaischen Zeit das bevorzugte Medium des politischen Denkens war.4 Was bei Burckhardt mit dem Neologismus des „Agonalen“5 und bei Hesiod durch das Verbum zeloun („wetteifern mit“) bezeichnet wird, kennzeichnet die erhaltenen Zeugnisse zum politischen Denken – in ihrer vorwiegend poetischen Form – in mehrfacher Weise. Wie die folgende Analyse zeigen wird, erweist es sich allerdings als nützlich, den Burckhardtschen Begriff um weitere moderne Konzepte zu ergänzen, da sie bestimmte Phänomene schärfer zu fassen vermögen. Hierbei spielt der Begriff der Konkurrenz eine zentrale Rolle. So soll im folgenden Abschnitt des vorliegenden Beitrags anhand der antiken Quellen gezeigt werden, dass man für die archaische Zeit tatsächlich von
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Vgl. nur Burckhardt 2012, 83–118; zum Konzept des Agonalen allgemeiner Weiler 2006 passim; Binder 2002, 883 f.; zur Forschungsgeschichte des Konzepts im weiteren Sinne Ulf 2011 passim mit weiteren Nachweisen sowie Ulf 2013. Burckhardt 2012, 115. Hes. erg. 20–26 (Übersetzung nach O. Schönberger): ἥτε καὶ ἀπάλαμόν περ ὁμῶς ἐπὶ ἔργον ἔγειρεν. / εἰς ἕτερον γάρ τίς τε ἰδὼν ἔργοιο χατίζει / πλούσιον, ὃς σπεύδει μὲν ἀρώμεναι ἠδὲ φυτεύειν / οἶκόν τ᾽εὖ θέσθαι: ζηλοῖ δέ τε γείτονα γείτων / εἰς ἄφενος σπεύδοντ᾽: ἀγαθὴ δ᾽Ἔρις ἥδε βροτοῖσιν. / καὶ κεραμεὺς κεραμεῖ κοτέει καὶ τέκτονι τέκτων, / καὶ πτωχὸς πτωχῷ φθονέει καὶ ἀοιδὸς ἀοιδῷ. Vgl. dazu Raaflaub 1988; Martin 1993; Most 2001; Ulf 2009; Itgenshorst 2014, 110–116; Itgenshorst 2019a; Itgenshorst 2019b. Vgl. zudem Binder 2002 mit Verweisen auf ältere Literatur sowie Kritik an Burckhardts Konzept.
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einer ‚intellektuellen Konkurrenz‘6 sprechen kann. Allerdings erweist es sich als notwendig, genau zu prüfen, in welcher Weise solche Konzepte hier überhaupt tauglich sind: Tatsächlich wird im vorliegenden Beitrag häufiger von „Konkurrenz-Diskursen“ die Rede sein als von einem Konkurrenz-Verhältnis, etwa im Sinne von Georg Simmel (vgl. dazu weiter unten). Im Rahmen des DFG-Netzwerks „Konkurrenz und Institutionalisierung“ war es zudem von besonderem Interesse zu untersuchen, ob dieses Wetteifern in der politischen Reflexion eine Institutionalisierung erfahren hat – möglicherweise in Gestalt von regelrechten Agonen, wie dies Burckhardts Annahme der „Notwendigkeit fester, gegebener Kampfrichter“ suggeriert. Solche nach bestimmten Regeln organisierten Wettkämpfe, wie sie in der Archaik für unterschiedliche Disziplinen bezeugt sind, stellten (wie andere Teilprojekte des Netzwerkes gezeigt haben) institutionalisierte Formen des Wettstreits dar, die sich durch moderne Konzepte von Konkurrenz sinnvoll beschreiben lassen.7 Falls sich auch für das politische Denken in archaischer Zeit solche institutionalisierten Formen von Konkurrenz nachweisen ließen, wäre dies ein bedeutender Fortschritt, da sich dadurch die Präsenz bestimmter politischer Ideen in verschiedenen Regionen Griechenlands besser erklären ließe. Dass nämlich zwischen dem Mechanismus der Konkurrenz und der Verbreitung bestimmter Vorstellungen grundsätzlich ein Zusammenhang besteht, lässt sich mit dem von Colin Renfrew und John Cherry vor über 30 Jahren entwickelten Modell der peer polity interaction plausibel machen: Wie Renfrew und Cherry durch komparatistische Analysen nachgewiesen haben, war Konkurrenz in vormodernen dezentral organisierten Siedlungsräumen generell ein wichtiger Mechanismus zur Verbreitung bestimmter Praktiken oder Motive.8 Anthony Snodgrass hat dies 1986 für Kriegstaktiken, Tempelbauweisen und Vasenstile der griechischen Archaik gezeigt; Sara Forsdyke hat das Konzept 2011 dann auf bestimmte kulturelle Praktiken und Rituale des sechsten Jahrhunderts angewandt.9 In Analogie ließe es sich also möglicherweise auch für zentrale Konzepte und Werte des politischen Denkens, wie etwa Dike (Recht/Gerechtigkeit), Eunomia (Existenz guter Gesetze), Eirene (Frieden) oder auch Sophia (Weisheit) fruchtbar machen – falls es gelingt, die Foren eines solchen „wetteifernden Austausches“ zu rekonstruieren.10 Ein plausibler Ansatzpunkt für einen solchen Rekonstruk-
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Dabei wird dem Begriff des ‚Intellektuellen‘ hier ausdrücklich eine politische Dimension zugeschrieben; vgl. Itgenshorst 2014, bes. 221–225; 231–239. Vgl. zu diesen Kategorien generell die Einleitung in diesem Band; zur „institutionalisierten Konkurrenz“ etwa Hölkeskamp 2014, bes. 49; zu den musischen Agonen und zu den Epinikien die Beiträge von Arlette Neumann-Hartmann und Claas Lattmann in diesem Band. Cherry/Renfrew 1986. Snodgrass 1986; Forsdyke 2011. Ein anderes, eher hegelianisch angelegtes Konzept zur Erklärung der Verbreitung solcher Ideen hat Christian Meier mit dem „nomologischen Wissen“ vorgeschlagen; vgl. nur Meier 1978 passim;
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tionsversuch sind dabei die für die archaische Zeit bezeugten musischen Agone11 – eben weil die Dichtung das bevorzugte Medium der politischen Reflexion war. Im vorliegenden Beitrag geht es zunächst darum, die im politischen Denken der archaischen Zeit erkennbaren „Konkurrenz-Diskurse“12 exemplarisch vorzustellen. In einem zweiten Schritt wird sodann untersucht, ob diese Ausdrucksweise im Modus der Konkurrenz eine Institutionalisierung – in Form von regelrechten Agonen – erfahren hat. Darüber hinaus erweist es sich aber als notwendig, einige zentrale Quellen der nacharchaischen Zeit, die sich mit den archaischen Denkern beschäftigen, genauer zu betrachten. In diesen Zeugnissen kommen nämlich Konkurrenz-Diskurse von ganz anderer Qualität zum Ausdruck. Die Herausarbeitung dieses doppelten Befundes ermöglicht am Ende dann die Rückkehr zur Ausgangsfrage nach den Mechanismen der Verbreitung politischer Ideen im archaischen Griechenland.13 „Intellektuelle Konkurrenz“ in der archaischen Zeit Wie bereits angedeutet, haben sich die archaischen Denker14 häufig in impliziter oder expliziter Abgrenzung beziehungsweise im Wettstreit mit anderen Denkern – Zeitgenossen oder Vorläufern – positioniert. Hierbei lassen sich grundsätzlich drei verschiedene Ebenen der Abgrenzung unterscheiden, die in unterschiedlicher Weise implizit auf ein Konkurrenzverhältnis hindeuten: 1. Die Hervorhebung der eigenen Kompetenz als eines Denkers, der von den Musen beziehungsweise Göttern ausgewählt wurde. 2. Die direkte Kritik an anderen Denkern, wobei deren Kompetenz zuweilen grundsätzlich in Zweifel gezogen wird. 3. Die Beschreibung der eigenen Vorstellungen vom richtigen Zusammenleben in der Gemeinschaft und Kritik an den Vorstellungen
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Meier 1980, 339). Vgl. dazu die Einwände bei Itgenshorst 2014, 78; 121 u. ö. Das Konzept des „nomologischen Wissens“ wird dagegen jüngst wieder hervorgehoben von Schubert 2018, 141 f. Vgl. bes. den Beitrag von Arlette Neumann-Hartmann in diesem Band. Vgl. zur Kategorie des Diskurses in diesem Zusammenhang die nützlichen Bemerkungen von Ulf 2017, 157 f.; allg. Itgenshorst 2014, 57 f. Ich danke den Publika bei den verschiedenen Treffen des DFG-Netzwerkes für kritische Nachfragen und Anmerkungen, die zur grundsätzlichen Überarbeitung meiner ursprünglichen Überlegungen beigetragen haben, insbesondere Uwe Walter, Jan Meister, Gunnar Seelentag, Christoph Ulf, Christoph Lundgreen und Katarina Nebelin. Filip Karfik (Fribourg) danke ich für Hinweise zu den weiter unten thematisierten Philosophen beziehungsweise Autoren der römischen Kaiserzeit. Der Begriff des Denkers wird im vorliegenden Zusammenhang grundsätzlich vorgezogen gegenüber dem des Weisen, des Dichters oder des Philosophen; tatsächlich fallen in archaischer Zeit diese Kategorien häufig zusammen und lassen sich meines Erachtens übergreifend mit der Figur des Denkers beschreiben; vgl. Itgenshorst 2014 passim.
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anderer Zeitgenossen (Mitbürger oder Denker). Diese drei Formen der Abgrenzung werden im Folgenden an einigen Beispielen illustriert.15 Eine erste, eher implizite Form des Wettstreits kommt darin zum Ausdruck, dass verschiedene Denker betonen, von den Musen oder Göttern ausgewählt worden zu sein. Der früheste Beleg für diesen Anspruch ist die autobiographische Fiktion am Beginn der Theogonie, durch die Hesiod seine Berufung zum Dichter erklärt: Die nun haben einstmals auch den Hesiodos den schönen Gesang gelehrt, als er die Schafe hütete unten am Fuße des hochheiligen Helikon. Und es haben zuallererst folgende Rede die Göttinnen zu mir gesprochen, die Musen vom Olymp, die Töchter des Zeus, der die Aigis besitzt: ‚Ihr Hirten vom Lande, ihr üblen Schandkerle, nichts als Bäuche! wir wissen vieles Trügerische zu sagen, das Wahrhaftigem ähnlich ist, wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres verlauten zu lassen!‘ So sprachen die Töchter des großen Zeus, die redegewandten, und gaben mir als Stab von reichblühendem Lorbeer einen Zweig, den sie gebrochen hatten, einen staunenswerten, und hauchten mir Sprache ein, gottgegebene, damit ich künden könne das Zukünftige und das vorher Gewesene, und hießen mich preisen der Seligen Geschlecht, der immerseienden, sie selbst aber immer zuerst und zuletzt zu besingen.16
Nachdem die Musen die Hirten in ihrer Gesamtheit als nichtswürdige, allein durch niedrige Bedürfnisse ausgezeichnete Individuen diskreditiert haben, wenden sie sich an Hesiod und erkennen ihm die Rolle des von ihnen auserwählten Sängers beziehungsweise Dichters zu; daraus leitet er in der Folge seine besondere Autorität als Dichter ab, der wichtige Botschaften zu verkünden habe. Noch prägnanter kommt dann in späterer Zeit dieses Moment der Auswahl in einem Fragment Pindars zum Ausdruck: … doch mich hat die Muse erwählt, Herold weiser Worte zu sein…17 Schließlich findet sich im Werk des Parmenides eine ähnliche Vorstellung: Hier sind es nicht die Musen, die den Dichter ausgewählt haben, sondern es ist die Göttin Dike, die Parmenides begrüßt und ihm zukünftige Erkenntnisse ankündigt:
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Dabei erscheint es nicht notwendig, die angeführten Autoren in chronologischer Hinsicht zu differenzieren, da die vorgestellten Beobachtungen über die gesamte archaische Zeit hinweg keine wesentliche Veränderung erfahren haben; vgl. dazu nur Itgenshorst 2014, 79–81. Hes. theog. 22–34 (Übersetzung Joachim Latacz): αἵ νύ ποθ’ Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν, / ἄρνας ποιμαίνονθ’ Ἑλικῶνος ὕπο ζαθέοιο. / τόνδε δέ με πρώτιστα θεαὶ πρὸς μῦθον ἔειπον, / Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο· / „ποιμένες ἄγραυλοι, κάκ’ ἐλέγχεα, γαστέρες οἶον, / ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμοῖα, / ἴδμεν δ’ εὖτ’ ἐθέλωμεν ἀληθέα γηρύσασθαι.“ / ὣς ἔφασαν κοῦραι μεγάλου Διὸς ἀρτιέπειαι, / καί μοι σκῆπτρον ἔδον δάφνης ἐριθηλέος ὄζον / δρέψασαι, θηητόν· ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν / θέσπιν, ἵνα κλείοιμι τά τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα, / καί μ’ ἐκέλονθ’ ὑμνεῖν μακάρων γένος αἰὲν ἐόντων, / σφᾶς δ’ αὐτὰς πρῶτόν τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν. Frg. 58.23–25 Werner = Frg. 61.18–21 Bowra (Übersetzung Oskar Werner): … ἐμὲ δ’ ἐξαίρετο[ν / κάρυκα σοφῶν ἐπέων / Μοῖσ’ (…).
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(…) die Göttin empfing mich freundlich und ergriff mit ihrer Hand meine Rechte, sprach Worte und redete mich folgendermaßen an: ‚Jüngling, Gefährte unsterblicher Lenkerinnen, der du mit den Pferden, die dich herbringen, zu unserem Haus gelangst, sei willkommen! Denn kein böses Geschick leitete dich an, diesen Weg zu gehen – er liegt fürwahr abseits vom Pfade der Menschen – sondern Themis und Dike. Du sollst also alles erfahren, sowohl das der leicht überzeugenden Wahrheit unbewegte Herz als auch die Meinungen der Sterblichen, in denen kein wahrer Beweis ist.‘18
Die drei Dichter leiten aus der Betonung ihrer Erwähltheit durch Gottheiten jeweils eine Überlegenheit der Vorstellungen ab, die in ihrer Dichtung zum Ausdruck gebracht werden. Diese Überlegenheit ist dabei insofern Ausdruck eines Konkurrenz-Diskurses, als jeder von ihnen persönlich von den Gottheiten ausgewählt worden ist. Dabei ist durchaus nicht immer klar, ob die göttliche Entscheidung durch zuvor von dem betreffenden Denker erbrachte Leistungen motiviert ist; bei Hesiod scheint sogar das Gegenteil der Fall zu sein. Trotzdem ist implizit ein Moment der Konkurrenz erkennbar, da es eben Hesiod ist (und keiner der anderen unkultivierten Hirten), der zum Dichter auserwählt wird. Eine zweite Form des Konkurrenz-Diskurses kommt überall dort zum Ausdruck, wo ein Denker die Vorstellungen anderer, zumeist früherer Denker kritisiert. Solche kritischen Aussagen sind auch deswegen besonders signifikant, weil kein einziger Fall aus archaischer Zeit bekannt ist, in dem ein Dichter oder Philosoph sich in positiver, anerkennender Weise über die Vorstellungen eines anderen Denkers geäußert hätte. Trotz des fragmentarischen Charakters der betreffenden Zeugnisse ist dabei klar erkennbar, dass die inhaltliche Abgrenzung beziehungsweise grundsätzliche Kritik an den Fähigkeiten der kritisierten „Kollegen“ jeweils mit der Verteidigung der eigenen Ideen einhergeht. So vermerkt etwa Hekataios in seiner Periegesis: (…) ein Vorgebirge, wo als erstes Danaos dem Aigyptos Gesetze gegeben (beziehungsweise Recht gesprochen) haben soll… Die verbreitete Meinung sagt, dass Aigyptos nicht nach Ägypten gekommen ist, wie unter anderen auch Hekataios mit folgenden Worten sagt: ‚Aigyptos selbst aber ist nicht nach Argos gegangen; Kinder aber hat er fünfzig gezeugt, wie Hesiod sagt, wie ich aber glaube, nicht einmal zwanzig.‘19
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Frg. 8 A.28–37 Gemelli = DK 28 B 1 = Sext. Emp. adv. math. 7.111 (Übersetzung Laura Gemelli): καί με θεὰ πρόφρων ὑπεδέξατο, χεῖρα δὲ χειρί / δεξιτερὴν ἕλεν, ὧδε δ’ ἔπος φάτο καί με προσηύδα· / ὦ κοῦρ’ ἀθανάτοισι συνάορος ἡνιόχοισιν, / ἵπποις ταί σε φέρουσιν ἱκάνων ἡμέτερον δῶ, / χαῖρ’, ἐπεὶ οὔτι σε μοῖρα κακὴ προὔπεμπε νέεσθαι / τήνδ’ ὁδόν (ἦ γὰρ ἀπ’ ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου ἐστίν), / ἀλλὰ θέμις τε δίκη τε. χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι / ἠμὲν Ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ / ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής. / ἀλλ’ ἔμπης καὶ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα / χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα. FGrH 1 F 19 = Schol. Eurip. Or. 872 (eigene Übersetzung): ἄκραν, οὗ φασι πρῶτον Δαναὸν Αἰγύπτωι δίκας διδόντα …] ἡ πολλὴ δόξα κατέχει μὴ ἀφῖχθαι τὸν Αἴγυπτον εἰς Ἄργος, καθάπερ ἄλλοι τέ φασι
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Neben einer solchen Abgrenzung von der Aussage eines anderen Denkers gibt es auch Zeugnisse, die einer grundsätzlichen Kritik Ausdruck verleihen. Heraklit etwa weist einerseits inhaltliche Aussagen anderer Denker zurück; darüber hinaus unterstellt er ihnen andererseits aber auch polymathie („Vielwisserei“), welche offenbar mit Inkompetenz gleichzusetzen ist: Lehrer der meisten ist Hesiod; sie meinen, er wisse das meiste, er, der Tag und Nacht nicht erkannte; denn sie sind ein und dasselbe.20 Die Vielwisserei lehrt nicht, Verstand zu haben; sonst hätte sie den Hesiod und den Pythagoras, ebenso den Xenophanes und den Hekataios, gelehrt, ihn zu haben.21
Und Pindar schließlich stellt die Fähigkeit zur Erkenntnis einer ganzen Gruppe von Denkern in Frage: (…) von den Naturphilosophen sagt Pindar‚ dass sie unreif der Weisheit Frucht sich pflücken.22
Die Kritik an anderen Denkern ist insofern Ausdruck eines Konkurrenz-Diskurses, als jeweils die Überlegenheit der eigenen Meinung gegenüber den Auffassungen anderer Denker betont wird. Diese Überlegenheit hat offenbar die Diskreditierung anderer, als konkurrierend angesehener Meinungen geradezu zur Voraussetzung. Die dritte in den archaischen Zeugnissen erkennbare Form eines Konkurrenz-Diskurses bezieht sich schließlich im engeren Sinne auf die Inhalte des politischen Denkens. So stellen die Denker der archaischen Zeit ihre Vorstellungen von einem guten Zusammenleben in der Gemeinschaft nahezu immer in Abgrenzung von anderen Auffassungen dar, die sie jeweils deutlich kritisieren. In den meisten Fällen bezieht sich diese Kritik auf die herrschende Realität, der der betreffende Denker seine anderslautende Vorstellung von einem guten Zusammenleben gegenüberstellt. Ein anschauliches Beispiel für diese Haltung ist die Kritik des Xenophanes von Kolophon an der Praxis in seiner Heimatpolis, die Olympiasieger mit Ehrungen auszustatten, obwohl diese zum Wohlergehen der Gemeinschaft nichts beitrügen:
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καὶ Ἑκαταῖος γράφων οὕτως· ‚ὁ δὲ Αἴγυπτος αὐτὸς μὲν οὐκ ἦλθεν εἰς Ἄργος, παῖδες δέ, , ὡς μὲν Ἡσίοδος (F 25) ἐποίησε, πεντήκοντα, ὡς ἐγὼ δέ, οὐδὲ εἴκοσι.‘ Herakl. Frg. 12 A Gemelli = DK 22 B 57 = Hippol. Refut. 9.10 (Übersetzung Laura Gemelli): διδάσκαλος δὲ πλείστων Ἡσίοδος· τοῦτον ἐπίστανται πλεῖστα εἰδέναι, ὅστις ἡμέρην καὶ εὐφρόνην οὐκ ἐγίνωσκεν· ἔστι γὰρ ἕν. Frg. 11 A Gemelli = DK 22 B 40 = Diog. Laert. 9.1 (eigene Übersetzung): πολυμαθίη νόον ἔχειν οὐ διδάσκει· Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην αὖτίς τε Ξενοφάνεά τε καὶ Ἑκαταῖον. Vgl. zur Kritik an Pythagoras außerdem Frg. 13 A Gemelli (= DK 22 B 129 = Diog. Laert. 8.6). Frg. 174 Werner = Frg. 197 Bowra = Stob. II.1.21: τοὺς φυσιολογοῦντας / ἀτελῆ σοφίας καρπὸν δρέπ.
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Denn unsere Weisheit ist besser als die Kraft von Männern und Pferden. Aber dies wird ganz unüberlegt geglaubt (das heißt, so hoch geschätzt), und es ist nicht gerecht, die Stärke der tugendhaften Weisheit vorzuziehen. Denn auch nicht wenn ein tüchtiger Faustkämpfer sich unter dem Volk befindet, noch auch wenn Fünfkampf zu betreiben noch auch im Hinblick auf das Ringen, noch auch wenn durch die Schnelligkeit der Füße – was gerade das von allen geehrte der Stärke ist, soweit es Taten von Männern im Wettkampf gibt – würde deswegen wohl die Polis eher in Wohlordnung sein. Kleine Freude aber würde der Polis wohl daraus entstehen, wenn einer im Kampf bei den Hügeln des Pises siegen würde; denn dies bereichert das Innerste des Polis nicht.23
Xenophanes stellt hier seine eigene Weisheit (sophie) direkt den Verdiensten der gymnischen Olympiasieger gegenüber und betont, dass deren Taten – im Gegensatz zu seinen eigenen Fähigkeiten – zum Wohlstand der Polis nichts beitrügen. Der Dichter inszeniert hier also eine Konkurrenz zwischen der realen Praxis und seiner eigenen Vorstellung von einer guten Ordnung. Für eine solche konfrontative Darstellung politischer Ideen gibt es zahlreiche weitere Beispiele aus der archaischen Zeit. Besonders bekannt sind einige Fragmente Solons, so etwa die sogenannte Eunomie-Elegie, in der der Dichter sich an seine athenischen Mitbürger wendet, die bestehenden Verhältnisse kritisiert und mit seinen eigenen Vorstellungen von einer guten Ordnung konfrontiert: Das sind die Übel, die in der Gemeinde umherziehen; von den Armen aber kommen viele in ein fremdes Land, verkauft und in Fesseln, schimpfliche, gebunden (…). So kommt das Volksübel ins Haus einem jeden (…). Das zu lehren die Athener heißt mich drängende Regung, wie Missordnung der Stadt die größten Übel bringt. Wohlordnung jedoch bringt alles klar gut geordnet und passend heraus, und dicht an dicht legt sie den Ungerechten Fußfesseln um. Rauhes glättet sie, macht der Gier ein Ende, Freveltat schwächt sie, und dörrt der Blindheit Blüten, die sprossenden, aus. Gerade richtet sie die Rechtssprüche, die krummen, und hochfahrende Werke besänftigt sie; sie endet die Werke der Zwietracht, endet schmerzlichen Streites Bitterkeit, und es ist durch sie alles unter den Menschen passend und vernünftig.24
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Frg. 2 West = Frg. 6 Gemelli = DK 21 B 2 = Athen. 413 F (eigene Übersetzung): … ῥώμης γὰρ ἀμείνων / ἀνδρῶν ἠδ’ ἵππων ἡμετέρη σοφίη. / ἀλλ’ εἰκῆι μάλα τοῦτο νομίζεται, οὐδὲ δίκαιον / προκρίνειν ῥώμην τῆς ἀγαθῆς σοφίης· / οὔτε γὰρ εἰ πύκτης ἀγαθὸς λαοῖσι μετείη / οὔτ’ εἰ πενταθλεῖν οὔτε παλαισμοσύνην, / οὐδὲ μὲν εἰ ταχυτῆτι ποδῶν, τόπερ ἐστὶ πρότιμον, / ῥώμης ὅσσ’ ἀνδρῶν ἔργ’ ἐν ἀγῶνι πέλει, / τούνεκεν ἂν δὴ μᾶλλον ἐν εὐνομίηι πόλις εἴη· / σμικρὸν δ’ ἄν τι πόλει χάρμα γένοιτ’ ἐπὶ τῶι, / εἴ τις ἀεθλεύων νικῶι Πίσαο παρ’ ὄχθας· / οὐ γὰρ πιαίνει ταῦτα μυχοὺς πόλεως. Frg. 4 West = Dem. 19.254 f. (Übersetzung nach Christoph Mülke): … ταῦτα μὲν ἐν δήμωι στρέφεται κακά· τῶν δὲ πενιχρῶν / ἱκνται πολλοὶ γαῖαν ἐς ἀλλοδαπὴν / πραθέντες δεσμοῖσί τ’ ἀεικελίοισι δεθέντες (…) οὕτω δημόσιον κακὸν ἔρχεται οἴκαδ’ ἑκάστωι, / αὔλειοι δ’ ἔτ’ ἔχειν οὐκ ἐθέλουσι θύραι, / ὑψηλὸν δ’ ὑπὲρ ἕρκος ὑπέρθορεν, εὗρε δὲ πάντως, / εἰ καί τις φεύγων ἐν μυχῶι ἦι θαλάμου. / ταῦτα διδάξαι θυμὸς Ἀθηναίους με κελεύει, / ὡς κακὰ πλεῖστα πόλει Δυσνομίη παρέχει· /
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Der Philosoph Heraklit übt in vergleichbarer Weise Kritik an seinen Mitbürgern in Ephesos. Dabei wird implizit deutlich, dass er selbst eine gegenteilige Auffassung von dem vertritt, was für Ephesos nützlich wäre: Recht täten die Ephesier, wenn sie sich alle Mann für Mann aufhängten und den Kindern ihre Stadt überließen, sie, die Hermodoros, ihren tauglichsten Mann, hinausgeworfen haben mit den Worten: Von uns soll keiner der Nützlichste sein oder, wenn schon, dann nur anderswo und bei anderen.25
Der Dichter Hesiod kritisiert in den Werken und Tagen dagegen nicht die gesamte Gemeinschaft, sondern lediglich eine bestimmte Gruppe, nämlich die basileis: Auch ihr, Könige, wollt dieses Recht wohl bedenken! Nahe nämlich, inmitten der Menschen, sind die Unsterblichen und achten auf alle, die das Auge der Götter nicht scheuen und einander mit krummen Bescheiden misshandeln. Dreimal zehntausend sind Zeus’ unsterbliche Wächter über die sterblichen Menschen, und sie wachen über Rechtsprüche und grausame Taten, unsichtbar gemacht, überall auf der Erde umherwandelnd.26
Auch diese Kritik macht implizit deutlich, dass der Dichter selbst andere Vorstellungen davon hat, wie die angesprochenen basileis ihre Aufgaben, konkret die Rechtsprechung, wahrnehmen sollen. Hesiod betont, dass das falsche Handeln der basileis von den Göttern nicht unbeobachtet bleibe, womit er versucht, seiner Kritik zusätzliches Gewicht zu verleihen. In der Theogonie entwirft der Dichter ein anderes, positives Bild der basileis, das implizit wiederum der kritisierten Wirklichkeit gegenübergestellt wird:
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Εὐνομίη δ’ εὔκοσμα καὶ ἄρτια πάντ’ ἀποφαίνει, / καὶ θαμὰ τοῖς ἀδίκοις ἀμφιτίθησι πέδας· / τραχέα λειαίνει, παύει κόρον, ὕβριν ἀμαυροῖ, / αὑαίνει δ’ ἄτης ἄνθεα φυόμενα, / εὐθύνει δὲ δίκας σκολιάς, ὑπερήφανά τ’ ἔργα / πραΰνει· παύει δ’ ἔργα διχοστασίης, / παύει δ’ ἀργαλέης ἔριδος χόλον, ἔστι δ’ ὑπ’ αὐτῆς / πάντα κατ’ ἀνθρώπους ἄρτια καὶ πινυτά. Vgl. auch Frg. 9 West; Frg. 34, 36 und 37 West. Frg. 72 Gemelli = DK 22 B 121 = Strabo 14.25; Diog. Laert. 9.2 (Übersetzung Laura Gemelli): ἄξιον Ἐφεσίοις ἡβηδὸν ἀπάγξασθαι πᾶσι καὶ τοῖς ἀνήβοις τὴν πόλιν καταλιπεῖν, οἵτινες Ἑρμόδωρον ἄνδρα ἑωυτῶν ὀνήιστον ἐξέβαλον φάντες· ἡμέων μηδὲ εἷς ὀνήιστος ἔστω, εἰ δὲ μή, ἄλλη τε καὶ μετ’ ἄλλων. – Vgl. außerdem den Appell des Kallinos an seine Mitbürger, für die eigene Polis in den Krieg zu ziehen (Frg. 1 West) sowie die Kritik des Autors der Theognidea an seinen Mitbürgern in Megara (Thgn. 39–52). Hes. erg. 247–255 (Übersetzung Otto Schönberger): Ὦ βασιλῆς, ὑμεῖς δὲ καταφράζεσθε καὶ αὐτοὶ / τήνδε δίκην· ἐγγὺς γὰρ ἐν ἀνθρώποισιν ἐόντες / ἀθάνατοι φράζονται ὅσοι σκολιῇσι δίκῃσιν / ἀλλήλους τρίβουσι θεῶν ὄπιν οὐκ ἀλέγοντες. / τρὶς γὰρ μύριοί εἰσιν ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ / ἀθάνατοι Ζηνὸς φύλακες θνητῶν ἀνθρώπων, / οἵ ῥα φυλάσσουσίν τε δίκας καὶ σχέτλια ἔργα / ἠέρα ἑσσάμενοι, πάντη φοιτῶντες ἐπ’ αἶαν. Vgl. erg. 35–41; 212–223. – Die von Hesiod implizit an seinen Bruder gerichteten Darstellungen der von den Menschen misshandelten Dike sowie die Gegenüberstellung der prosperierenden und der leidenden Polis (erg. 212–246) sind ebenfalls Ausdruck einer Abgrenzung der eigenen Position von anderen Vorstellungen oder der Wirklichkeit.
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Wenn die Töchter des großen Zeus einen der zeusgehegten Könige begünstigen und bei seiner Geburt huldvoll anblicken, träufeln sie ihm süßen Tau auf die Zunge, und gewinnende Worte entströmen seinem Mund; alle Leute schauen auf ihn, wie er Urteile fällt in gerechter Entscheidung. Er spricht mit Festigkeit und beendet rasch und klug sogar gewaltigen Streit. Dazu nämlich gibt es kluge Könige, dass sie für Menschen, die Schaden erlitten, auf dem Markt mit leichter Mühe alles zum Guten wenden und ihnen mit freundlichem Wort Genugtuung verschaffen. Und kommt er zur Verhandlung, verehren sie ihn wie einen Gott mit Scheu und Ehrfurcht. Er überragt die Versammlung an Ansehen.27
Diese Abgrenzung und Kritik der Verhältnisse in der Gemeinschaft geht übrigens nicht notwendigerweise mit dem Erfolg, also der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen in der Wirklichkeit einher. In vielen Fällen scheint dies sogar gerade nicht der Fall gewesen zu sein.28 Der Blick auf die antiken Texte zeigt demnach, dass im Denken verschiedener archaischer Autoren unterschiedliche agonale Diskurse zum Ausdruck kommen – die von Jacob Burckhardt postulierte Allgegenwart des Agonalen scheint sich hier also zu bestätigen. In welcher Weise lassen sich nun auf diese Diskurse moderne Modelle von Konkurrenz anwenden? Grundsätzlich scheint es hier durchaus angebracht, von „intellektueller Konkurrenz“ zu sprechen, denn wie der Blick auf die archaischen Zeugnisse gezeigt hat, positionieren sich die betreffenden Denker jeweils in Abgrenzung von anderen Denkern, Gemeinschaftsmitgliedern oder der Praxis der sozialen Wirklichkeit. In keinem Fall handelt es sich aber um ein Verhältnis, das mit der Konstellation des Konkurrenzmodells von Georg Simmel zur Deckung gebracht werden kann: So handelt es sich weder um einen Wettstreit, der nach übergeordneten, von verschiedenen Konkurrenten anerkannten Regeln durchgeführt würde, noch ist eine „dritte“ Instanz erkennbar – und darüber hinaus kommt es in keinem Fall zu einer Entscheidung dieses Wettstreits, bei der unter den Konkurrenten ein Sieger bestimmt worden wäre. Möchte man im Bild des Wettstreits bleiben, müsste man sagen, der ‚Sieger‘ in dieser intellektuellen Konkurrenz steht bereits fest, und zwar von Anfang an: Immer handelt es sich dabei um den Denker selbst, der seine eigene Position von vorneherein als
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Hes. theog. 81–92 (Übersetzung Otto Schönberger): ὅντινα τιμήσουσι Διὸς κοῦραι μεγάλοιο / γεινόμενόν τε ἴδωσι διοτρεφέων βασιλήων, / τῷ μὲν ἐπὶ γλώσσῃ γλυκερὴν χείουσιν ἐέρσην, / τοῦ δ’ ἔπε’ ἐκ στόματος ῥεῖ μείλιχα· οἱ δέ νυ λαοὶ / πάντες ἐς αὐτὸν ὁρῶσι διακρίνοντα θέμιστας / ἰθείῃσι δίκῃσιν· ὁ δ’ ἀσφαλέως ἀγορεύων / αἶψά τι καὶ μέγα νεῖκος ἐπισταμένως κατέπαυσε· / τούνεκα γὰρ βασιλῆες ἐχέφρονες, οὕνεκα λαοῖς / βλαπτομένοις ἀγορῆφι μετάτροπα ἔργα τελεῦσι / ῥηιδίως, μαλακοῖσι παραιφάμενοι ἐπέεσσιν· / ἐρχόμενον δ’ ἀν’ ἀγῶνα θεὸν ὣς ἱλάσκονται / αἰδοῖ μειλιχίῃ, μετὰ δὲ πρέπει ἀγρομένοισι. Vgl. etwa Thgn. 287–292 sowie die angeführten Fragmente Solons. Der Duktus im kurzen Fragment des Archilochos deutet in eine ähnliche Richtung: „Ihr armen, verlassenen Bürger, hört endlich auf meine Worte.“ λιπερνῆτες πολῖται, τἀμὰ δὴ συνίετε ῥήματα. (Frg. 109 West = Aristoph. Pax 603 f., Übersetzung Rainer Nickel). Vgl. dazu allgemein auch Itgenshorst 2014, 127–132.
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überlegen darstellt. Aus diesem Grund ist hier von Konkurrenz-Diskursen die Rede: die Darstellung der eigenen Überlegenheit bedient sich der Semantik der Konkurrenz, auch wenn kein formal definierter Wettstreit stattfindet. Neben dem Konkurrenzmodell von Georg Simmel gibt es aber weitere moderne Konzepte, die sich in diesem Fall möglicherweise zur Anwendung bringen lassen. Einerseits wäre hier zu denken an das von Tobias Werron vor einigen Jahren zur Diskussion gestellte, auf das Publikum ausgerichtete Konkurrenzmodell. Unter Weiterentwicklung von Simmels Konzept sieht Werron ein breiter gefasstes Publikum, das die Rolle des Dritten einnehme, im eigentlichen Zentrum der triadischen Konstellation mit den Konkurrenten um die knappe Gunst des Dritten. Dieses Publikum könne einerseits als anwesendes adressiert, andererseits aber durch mediale Vermittlung (und damit als abwesendes) angesprochen werden. Und eben diese zwei Formen eines Publikums (und im weiteren Sinne einer Öffentlichkeit), vor dem und für das die jeweiligen Werke und politischen Vorstellungen vorgetragen werden, sind für die archaische Zeit durchaus nachweisbar.29 Darüber hinaus besitzt der konstatierte Anspruch der archaischen Denker auf die eigene intellektuelle Überlegenheit gemeinsame Züge mit dem Modell der Geltungskonkurrenz,30 wie es von Karl-Siegbert Rehberg in seinen Arbeiten über die „Geltungslogik von Institutionen“31 entwickelt worden ist: Die betreffenden Denker beanspruchten für ihre Vorstellungen vom gemeinschaftlichen Zusammenleben jeweils eine Geltung, die sie anderen Entwürfen beziehungsweise der Realität grundsätzlich absprachen. Im Unterschied zur von Rehberg skizzierten Geltungskonkurrenz von Institutionen handelt es sich im vorliegenden Fall (soweit wir dies sehen können) allerdings nicht um in einer Gemeinschaft ausgefochtene konkurrierende Geltungsansprüche. Ein realer Dialog zwischen Denker und Gemeinschaft ist hier ja nicht erkennbar: die Untersuchung anderer zeitgenössischer Zeugnisse (Inschriften, literarische Quellen) gibt zwar deutliche Hinweise auf Institutionalisierungsprozesse; kausale Verbindungen zwischen den Vorstellungen der politischen Denker und der sich fortentwickelnden politisch-sozialen Realität lassen sich aber (außer im Falle des Denkers Solon, der zugleich politische Funktionen ausübte32) nicht nachweisen. Mit
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Werron 2011, passim und bes. 239–250. Werron diskutiert in diesem Zusammenhang auch explizit die Funktion der Lyrik als Medium, durch das sich die verschiedenen Konkurrenten an ein abwesendes Publikum wenden: 241 f. Vgl. grundsätzlich zur Rolle des Publikums im Zusammenhang mit der archaischen Lyrik – ein Thema, das hier nur am Rande berührt werden kann – nur Carey 2009 sowie immer noch Gentili 1984/1988. Vgl. zur Anwendung dieses Modells auf die Verhältnisse in der griechischen Archaik besonders den Beitrag von Jan Meister in diesem Band. Rehberg 1994, bes. 74–76. An anderer Stelle habe ich die These aufgestellt, dass Solon nicht in erster Linie politischer Denker, sondern Akteur auf dem politischen Feld (nach Bourdieu) gewesen ist; Itgenshorst 2014, bes. 176–180.
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anderen Worten: das politische Denken hatte in der Regel keine direkte Auswirkung auf die politisch-soziale Realität. Stattdessen wurde der jeweilige Konkurrenz-Diskurs offenbar allein von dem betreffenden Denker konstruiert, der dadurch seine intellektuelle Autorität zu untermauern suchte.33 Wenn im vorliegenden Zusammenhang von „intellektueller Konkurrenz“ gesprochen wird, kann damit also letztlich nur ein unspezifischer Konkurrenzbegriff gemeint sein, der, im Sinne von Burckhardts „Agonalem“ oder Hesiods „zeloun“, eher eine Mentalität zum Ausdruck bringt als eine geregelte Konkurrenz im Simmelschen Sinne, die im Austrag der jeweiligen Geltungsansprüche in einem institutionalisierten Wettbewerb zum Ausdruck gekommen wäre. Soweit die bisher betrachteten Zeugnisse nahelegen, drückte sich diese „intellektuelle Konkurrenz“ also in erster Linie durch verschiedene Konkurrenz-Diskurse aus, in denen die jeweiligen Denker ihre Vorstellungen in Abgrenzung von anderen zum Ausdruck brachten, ohne dass diese in der sozialen Wirklichkeit der Gemeinschaft eine Umsetzung erfahren hätten.34 Neben den bisher vorgestellten Beispielen von „intellektueller Konkurrenz“ gibt es allerdings einen konkreten Fall, in dem ein archaischer Denker tatsächlich an einem musischen Agon teilgenommen hat, der Züge von Institutionalisierung aufwies. So berichtet Hesiod in den Werken und Tagen: Dort (das heißt von Aulis, T. I.) setzte ich nach Chalkis über zu den Spielen für den tapferen Amphidamas; dieses großherzigen Mannes Söhne hatten viele Siegespreise angekündigt und ausgesetzt. Dort, so sage ich, habe ich durch einen Hymnos gewonnen und einen Dreifuß mit Henkeln errungen. Diesen weihte ich den Helikonischen Musen, wo sie mich zuerst auf den Pfad der klaren Ode geführt haben.35
Hesiod nahm hier offenbar an einem Wettkampf teil, der Regeln folgte, die für alle Teilnehmer klar definiert waren; er setzte sich durch und gewann einen Preis. Hier haben wir es also durchaus mit einem (im Sinne Simmels) indirekten Wettbewerb um die Gunst einer dritten Partei zu tun, die über Gewinner und Verlierer entscheidet. Dies hat zur Voraussetzung eine Übereinstimmung aller drei Parteien über die Regeln der Konkurrenz, also über die Bedingungen, nach denen die neutrale dritte Partei entscheidet.36 Die Nachricht über den Sieg Hesiods bei diesem Agon lässt gleichwohl vie-
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Vgl. dazu Itgenshorst 2014, 217–22. Dabei wäre übrigens zu erwägen, ob die Artikulation einer solchen intellektuellen Überlegenheit nicht geradezu eine Folge der Tatsache gewesen sein könnte, dass die jeweiligen Denker in der Gemeinschaft mit ihren Vorstellungen kein Gehör fanden – auch wenn diese Überlegung mangels Quellen hypothetischer Natur ist. Vgl. dazu bereits Itgenshorst 2014, 107 f. Hes. erg. 653–658 (Übersetzung nach Otto Schönberger): ἔνθα δ᾽ἐγὼν ἐπ᾽ἄεθλα δαΐφρονος Ἀμφιδάμαντος / Χαλκίδα τ᾽εἲς ἐπέρησα: τὰ δὲ προπεφραδμένα πολλὰ / ἄεθλ᾽ἔθεσαν παῖδες μεγαλήτορος: ἔνθα μέ φημι / ὕμνῳ νικήσαντα φέρειν τρίποδ᾽ὠτώεντα. / τὸν μὲν ἐγὼ Μούσῃς Ἑλικωνιάδεσσ᾽ἀνέθηκα, / ἔνθα με τὸ πρῶτον λιγυρῆς ἐπέβησαν ἀοιδῆς. Simmel 1992, 323–330.
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le Fragen offen. So liefert der Dichter weder Informationen über seine Konkurrenten noch über die beim Wettstreit zur Anwendung kommenden Regeln, geschweige denn über das von ihm selbst vorgetragene und ausgezeichnete Werk.37 Wir besitzen allerdings eine zusätzliche Aussage aus einer späteren Quelle, die im Hinblick auf unsere Fragestellung interessant ist. So kommentiert Plutarch den Agon in Chalkis in seinem Gastmahl der Sieben Weisen in folgender Weise: Wir hören nämlich, dass von den weisen Männern die berühmtesten Dichter der damaligen Zeit in Chalkis wegen der Bestattung des Amphidamas zusammenkamen (…).38
Plutarch bezeichnet also die am Agon teilnehmenden Dichter in ihrer Gesamtheit zugleich als weise Männer (sophoi); genau genommen werden sie sogar in erster Linie als weise Männer bezeichnet. So könnte man den in Chalkis veranstalteten Wettstreit in der Deutung Plutarchs geradezu als einen Agon der Weisheit bezeichnen. Diese Beobachtung hat möglicherweise weitergehende Konsequenzen zur Folge, die für die zu Beginn dieses Beitrags aufgeworfene Frage nach den Verbreitungswegen der politischen Ideen von Bedeutung sind: Wie in der Forschung verschiedentlich betont worden ist, gab es in archaischer Zeit eine deutliche Überschneidung zwischen den verschiedenen Konzepten von Weisheit (sophia) und der Kompetenz sowie dem Anspruch von Denkern, in politischen Fragen kompetent Stellung zu beziehen.39 Und eben diese Kompetenz sowie ihr Anspruch kommen in zwei erhaltenen Werken Hesiods, der Theogonie und den Werken und Tagen, klar zum Ausdruck.40 So könnte man mit Plutarch den Agon von Chalkis als konkretes Beispiel eines Forums ansehen, auf dem politische Konzepte und Ideen zur Diskussion gestellt, beurteilt und prämiert wurden: die Leichenspiele des Amphidamas erscheinen also als eine Art „Wettbewerb der (politischen) Ideen“ und wären – ganz im Sinne der peer polity interaction von Renfrew und Cherry – eine konkrete Gelegenheit zum Austausch und zur Verbreitung politischer Vorstellungen gewesen: durch den Sieg Hesiods in Chalkis hätten dessen Vorstellungen, etwa das bei ihm prominente Konzept der Dike, in der griechischen Welt der archaischen Zeit Verbreitung gefunden, wenn man davon ausgeht, dass die aus anderen Teilen der griechischen Welt angereisten Teilnehmer – sophoi und Dichter – die Vorstellungen des Siegers zur Kenntnis nahmen. Allerdings ist eine solche Überlegung zunächst einmal hypothetischer Natur. Sie beruht ganz auf der Tatsache, dass Weisheit, Dichtung und politisches Denken hier 37
38 39 40
In der Forschung hat man immer wieder vermutet, dass die Theogonie chronologisch vor den Werken und Tagen anzusetzen sei (vgl. etwa Most 2006, XXIf.), woraus sich die Möglichkeit ergibt, dass Hesiod beim Agon in Chalkis aus der Theogonie vorgetragen haben könnte. In der antiken literarischen Tradition wurde allerdings eine andere Hypothese privilegiert; vgl. dazu weiter unten. Plut. sept. sap. conv. 10 = mor. 153f–154a (eigene Übersetzung): ἀκούομεν γὰρ ὅτι καὶ πρὸς τὰς Ἀμφιδάμαντος ταφὰς εἰς Χαλκίδα τῶν τότε σοφῶν οἱ δοκιμώτατοι ποιηταὶ συνῆλθον (…). Vgl. dazu bereits allgemein Meier 1980; Itgenshorst 2014, 116–121. sowie jetzt Schubert 2018, 141. Zu Hesiod als politischem Denker s. Clay 2003; Most 2006; Itgenshorst 2014, bes. 155–171.
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konkret auf den Agon in Chalkis bezogen werden können – und dies ist allein durch die Darstellung Plutarchs gerechtfertigt. Zwar gab es, wie bereits erwähnt, in der Archaik durchaus Denker, die in ihren Werken auf die eigene sophia hinwiesen, um ihre Autorität zu unterstreichen. Bei Hesiod allerdings ist dies ausdrücklich nicht nachweisbar; bezogen auf den Wettstreit in Chalkis erwähnte er selbst ja lediglich, dass er durch die Qualität des Gesangs (hymnos) zum Sieger erklärt worden sei, nicht aber aufgrund bestimmter, gar politischer, Ideen und Konzepte, die in diesem Gesang zum Ausdruck gekommen wären. So muss also die Aussage Plutarchs einer genaueren Analyse unterzogen werden, um auszuschließen, dass es sich hier um eine anachronistische Deutung des kaiserzeitlichen Autors handelt. Mehrere Beobachtungen gemahnen dabei zur Vorsicht: nicht allein der große zeitliche Abstand der Quelle zu den Ereignissen in der Früharchaik könnte als Problem erscheinen, sondern auch die Tatsache, dass dieses Testimonium in einem Dialog auftaucht, dessen Rahmen ein fiktives Gastmahl der Sieben Weisen Griechenlands ist: Der gesamte Dialog steht hier also gleichsam unter dem Zeichen der sophia, und allein dies könnte der Grund sein, warum auch der Agon in Chalkis als Wettstreit der sophia dargestellt wird. Bevor Plutarchs Gastmahl der Sieben Weisen genauer betrachtet wird, soll aber zunächst einmal ein Blick auf die anderen uns bekannten musischen Agone der archaischen Zeit geworfen werden. Falls wir nämlich Informationen über deren Teilnehmer beziehungsweise Sieger sowie über die konkreten Darbietungen und Maßstäbe der Beurteilung besitzen, so können wir besser einschätzen, ob es überhaupt plausibel ist, dass im archaischen Chalkis tatsächlich ein Agon der sophia, mithin ein „Wettbewerb der Ideen“, stattgefunden hat, der eine überregionale Bedeutung besaß und Züge von Institutionalisierung trug. Musische Agone und panhellenische Foren in archaischer Zeit: eine Spurensuche Als musische Agone mit überregionaler Bedeutung sind in archaischer Zeit vor allem die pythischen Spiele in Delphi und die Großen Panathenäen in Athen zu nennen. Sie unterlagen, soweit wir wissen, in ihrem Ablauf den Regeln eines Wettbewerbs unter den Teilnehmern, die sich den von allen anerkannten Regeln sowie dem Urteil einer „dritten Instanz“ beugten; somit handelte es sich um eine Form der institutionalisierten Konkurrenz, die dem Konzept Georg Simmels entspricht.41 Dabei können die musischen Agone in Athen zu Ehren der Stadtgöttin hier vernachlässigt werden, da bei ihnen, soweit wir wissen, gar keine neuen, originalen Werke dem Publikum vorgestellt
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Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Arlette Neumann-Hartmann in diesem Band.
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wurden, sondern es allein um die Prämierung der besten Rezitationen der homerischen Epen ging.42 Dies sah bei den pythischen Spielen in Delphi ohne Zweifel anders aus; insofern sind sie im vorliegenden Zusammenhang durchaus von Interesse. Im Folgenden werden die verstreut überlieferten Informationen betreffend Organisation, Teilnehmer beziehungsweise Sieger sowie prämierte Leistungen kurz vorgestellt. So besitzen wir erstens einige (zeitlich späte) Hinweise darauf, wie die Pythien organisiert wurden. Die musischen Agone sind offenbar nach dem Ersten Heiligen Krieg, in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts (neu?) begründet worden und umfassten ab dieser Zeit neben den musischen auch sportliche Wettbewerbe.43 Für die praktische Organisation war ein Kollegium von 24 hieromnemones zuständig, die aus den Mitglieder der Amphiktyonie gewählt wurden.44 Ob diese „heiligen Erinnerer“ selbst die Kampfrichter bei den Agonen waren und, sofern dies der Fall war, nach welchen Kriterien sie die Sieger bestimmten, ist nicht bekannt. Zweitens liefern kaiserzeitliche Quellen – Ps.-Plutarch sowie Pausanias – einige verstreute Informationen über Sieger bei den musischen Agonen der archaischen Zeit.45 So wird in der anonymen, Plutarch zugeschriebenen Schrift De Musica ein gewisser Terpandros erwähnt, der wohl ins 7. Jahrhundert zu datieren ist: Terpandros scheint sich in der Kunst des Kitharaspiels ausgezeichnet zu haben; es ist nämlich vermerkt, dass er viermal hintereinander bei den pythischen Spielen gesiegt hat.46
Dasselbe Werk erwähnt zudem einen gewissen Sakadas von Argos, einen Dichter des 6. Jahrhunderts:
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Vgl. zur Quellenlage betreffend die rhapsodischen Rezitationen von Homer (Ps.-Plat. Hipparchos 228 b; Plat. Ion) sowie die Parodien (letztere erst ab der klassischen Zeit belegt) ausführlich Kotsidu 1991, 35–45. Ob darüber hinaus auch originale Werke vorgetragen wurden, ist umstritten (Ps.Plut. De Musica 3 = mor. 1132c erwähnt den Vortrag von Elegien); vgl. dazu Kotsidu 1991, 51 f. (u. a. mit Verweis auf Ps.-Plut. De Musica 8 = mor. 1134a); Davison 1958, 39 f. Deutlich optimistischer in Bezug auf originale Beiträge im Wettbewerb ist Shapiro 1992, 57 beziehungsweise 70–73, der die Teilnahme von Kitharoden bereits in archaischer Zeit für möglich hält, die unter Umständen eigene Werke vorgetragen hätten. Der Verweis auf Stesichoros kann hier meines Erachtens allerdings nicht überzeugen, da der Zusammenhang mit den Panathenäen nicht nachweisbar ist. Vgl. außerdem allgemein Osborne 1993 sowie zur Bedeutung der Panathenäen in klassischer Zeit als Forum für den philosophischen Austausch – jenseits der eigentlichen Agone – Tell 2011, 98–101. Vgl. dazu Scott 2014, 72 f. sowie Arlette Neumann-Hartmann in diesem Band. Vgl. zur (hypothetischen) Vorgeschichte dieser Agone Pausanias 10.7.2; dazu ausführlicher Weir 2004, 11–16 sowie allgemein Morgan 1990; Scott 2010. Richardson 1992, 231. Vgl. die Zusammenstellung der pythischen Sieger des 6. Jahrhunderts bei Weir 2004, 23 f.; außerdem Scott 2014, 159. Bourguet 1932, Nr. 59 B stellt das Fragment einer Siegerliste aus dem 4. Jahrhundert dar. Ps.-Plut. De Musica 4 = mor. 1132e (eigene Übersetzung): Ἔοικε δὲ κατὰ τὴν τέχνην τὴν κιθαρῳδικὴν ὁ Τέρπανδρος διενηνοχέναι· τὰ Πύθια γὰρ τετράκις ἑξῆς νενικηκὼς ἀναγέγραπται.
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Sakadas von Argos war auch ein Dichter von Gesängen und von mit Gesang versehenen Elegien; er war auch selbst ein guter Dichter, und es ist vermerkt, dass er dreimal bei den Pythien gesiegt hat (…).47
Bei Pausanias schließlich findet sich dann eine ganze Reihe von Informationen über Sieger bei pythischen Spielen; er präzisiert zudem in jedem Fall die Disziplin, in der der Preis zuerkannt wurde: In der 48. Olympiade, an der Glaukias aus Kroton siegte, und zwar in ihrem dritten Jahre, setzten die Amphiktionen Preise aus für Kitharagesang wie schon von Anfang an, dazu aber fügten sie noch einen Wettkampf im Flötengesang und Flötenspiel. Als Sieger wurden ausgerufen der Kephallenier Melampus im Kitharagesang, der arkadische Flötenspieler Echembrotos und Sakadas aus Argos im Flötenspiel; dieser Sakadas errang den Sieg auch an den beiden folgenden Pythiaden (…).“48
Diese jeweils ohne weiteren Kontext überlieferten Nachrichten deuten darauf hin, dass bei all diesen Siegen jeweils eine bestimmte musikalische Darbietung für den Sieg entscheidend gewesen ist. Dass Inhalte – etwa bestimmte Ideen oder Konzepte – bei diesem Wettbewerb jedenfalls keine entscheidende Rolle spielten, wird zudem durch Pausanias’ Bemerkung nahegelegt, dass Hesiod zu den Spielen in Delphi nicht zugelassen worden sei, „da er nicht gelernt habe, zu seinem Gesang zugleich die Kitharabegleitung zu spielen.“49 In Delphi scheint es also allein um die jeweilige musikalische Darbietung gegangen zu sein, nicht um einen „Wettbewerb der Ideen“. Stattdessen wurden offenbar jeweils die mit der Dichtung und Musik im engeren Sinne verbundenen technai beurteilt.50
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Ps.-Plut. De Musica 8 = mor. 1134a (eigene Übersetzung): γέγονεδὲ καὶ Σακάδας Ἀργεῖος ποιητὴς μελῶν τε καὶ ἐλεγείων μεμελοποιημένων· ὁ δ᾽αὐτὸς καὶ ποιητὴς ἀγαθὸς καὶ τὰ Πύθια τρὶς νενικηκὼς ἀναγέγραπται. – Die zweite Erwähnung des ποιητής ist durch Wyttenbach in αὐλητής emendiert worden, wodurch sich die Übersetzung des zweiten Satzes ändert: „er war auch selbst ein guter Flötenspieler, und es ist (in den Registern) vermerkt, dass er dreimal bei den Pythien gesiegt hat (…).“ Damit würden sich die Siege des Sakadas in Delphi auf sein Flötenspiel beziehen (vgl. Campbell Frg. 1 Sakadas). Für den vorliegenden Zusammenhang ist diese Alternative ohne Belang. Paus. 10.7.4 (Übersetzung Ernst Meyer): τῆς δὲ τεσσαρακοστῆς Ὀλυμπιάδος καὶ ὀγδόης, ἣν Γλαυκίας ὁ Κροτωνιάτηςἐνίκησε, ταύτης ἔτει τρίτῳ ἆθλα ἔθεσαν οἱ Ἀμφικτύονες κιθαρῳδίας μὲν καθὰ καὶ ἐξἀρχῆς, προσέθεσαν δὲ καὶ αὐλῳδίας ἀγώνισμα καὶ αὐλῶν: ἀνηγορεύθησαν δὲνικῶντες Κεφαλήν τε Μελάμπους κιθαρῳδίᾳ καὶ αὐλῳδὸς Ἀρκὰς Ἐχέμβροτος, Σακάδας δὲ Ἀργεῖος ἐπὶ τοῖς αὐλοῖς: ἀνείλετο δὲ ὁ Σακάδας οὗτος καὶ ἄλλας δύοτὰς ἐφεξῆς ταύτης πυθιάδας. – Paus. 6.14.10 erwähnt neben Sakadas zudem noch Pythokritos als mehrfachen Sieger im Flötenspiel (zwischen 574 und 554 v. Chr.): „Sakadas gewann nämlich den von den Amphiktyonen ausgesetzten Wettkampf, als er noch nicht um einen Kranz ging, und danach noch zwei Kranzwettkämpfe. Pythokritos aus Sikyon siegte in den darauffolgenden sechs Pythiaden, er allein als Flötenspieler.“ Paus. 10.7.3 (Übersetzung Ernst Meyer): λέγεται δὲ καὶ Ἡσίοδον ἀπελαθῆναι τοῦ ἀγωνίσματος ἅτε οὐ κιθαρίζειν ὁμοῦ τῇ ᾠδῇ δεδιδαγμένον. Vgl. zu den dabei aus moderner Sicht unterscheidbaren Kriterien auch LeVen 2010–11, 683–690.
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Diese Information entspricht dabei genau dem, was Hesiod selbst über seine Leistung in Chalkis vermerkt hatte: für einen Hymnos sei er ausgezeichnet worden – also nicht für seine Zusammenstellung an Regeln des bäuerlichen Alltags oder das Plädoyer für die Achtung der Dike. Vor diesem Hintergrund erscheint die von Plutarch betonte Rolle der Weisheit als Kriterium in einem musischen Agon wohl eher als anachronistisch (siehe dazu weiter unten). Für die archaische Zeit selbst sind wir also mit folgendem Befund konfrontiert: einerseits war die Dichtung für viele Denker das zentrale Medium zur Artikulation von politischen und anderen Ideen, und die betreffenden Denker wählten häufig Konkurrenz-Diskurse zur Artikulation ihrer Vorstellungen. Solchen Diskursen entsprach dabei allerdings kein realer Austausch oder Wettbewerb mit anderen Denkern betreffend bestimmte Ideen und Konzepte.51 Zugleich sind für dieselbe Epoche regelmäßig organisierte prestigeträchtige musische Agone bezeugt, bei denen Dichter in verschiedenen Disziplinen gegeneinander antraten. Allerdings standen bei diesen Agonen offenbar gerade nicht die inhaltlichen Ideen oder Konzepte zur Debatte; stattdessen scheinen die Siege allein aufgrund der gleichsam technischen sängerischen beziehungsweise dichterischen Fähigkeiten verliehen worden zu sein. Am Beispiel des Denkers Hesiod ließen sich diese beiden Dimensionen verdeutlichen: Hesiod war ein politischer Denker, der seine Erwähltheit durch die Musen betonte, um seinen politischen Ideen Autorität zu verliehen – und unabhängig davon berichtet er von seinem Sieg bei den Leichenspielen für Amphidamas, bei denen er für einen Hymnos ausgezeichnet worden sei. Wie bereits kurz angedeutet wurde, hat der kaiserzeitliche Autor Plutarch im Gastmahl der Sieben Weisen diese beiden Dimensionen miteinander verbunden zu der Vorstellung, dass der Agon in Chalkis ein Wettstreit der Weisheit gewesen sei. Weitere Zeugnisse dieser späteren Epoche deuten in eine ähnliche Richtung. Sie sind im vorliegenden Zusammenhang in doppelter Weise interessant: zunächst einmal aus quellenkritischen Gründen, da sie bis heute einen Einfluss auf das Bild der archaischen Denker ausüben, sodann aber auch, weil in ihnen ebenfalls Konkurrenz-Diskurse erkennbar sind.
51
Für die klassische Zeit ist dagegen klar bezeugt, dass prominente Denker (v. a. verschiedene Sophisten) während panhellenischer Agone am Austragungsort anwesend waren und jenseits der offiziellen Wettbewerbe die Präsenz der angereisten Teilnehmer und Zuschauer nutzten, um sich miteinander zu messen (Plat. Hipp. min. 368b–e zur Präsenz des Hippias in Olympia); vgl. dazu ausführlich Tell 2011, bes. 113–124. Tell hält es in Analogie durchaus für möglich, dass ähnliche Phänomene schon für die archaische Zeit angenommen werden können, und bezieht sich dafür u. a. auf die durch Diogenes Laertios bezeugten Aufenthalte des Empedokles (Diog. Laert. 8.36 und 66; vgl. 8.73) und Anaxagoras (Diog. Laert. 2.10) in Olympia: Tell 2011, 107 u. ö.
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Agone der Weisheit und Kanonisierung: literarische Konstruktionen in nacharchaischer Zeit Verschiedene griechische Autoren der römischen Kaiserzeit haben sich für die Philosophen und politischen Denker des archaischen Griechenlands interessiert. Ein Umstand, der sie dabei besonders beschäftigte, waren das Verhältnis und der Austausch zwischen den frühen Denkern. Dieses Interesse kommt in einer Reihe literarischer Fiktionen zum Ausdruck, in denen einerseits konkrete Vorstellungen der (historischen) Denker angedeutet werden und die andererseits Konkurrenz-Diskurse zum Ausdruck bringen. Konkret geht es um den anonym überlieferten Wettstreit zwischen Homer und Hesiod, das von Plutarch verfasste Gastmahl der Sieben Weisen sowie um einen Weisheitswettbewerb im Portrait des Thales von Diogenes Laertios. Diese drei Zeugnisse, die sich ins zweite bis dritte Jahrhundert n. Chr. datieren lassen, werden im Folgenden kurz vorgestellt; die dahinter stehenden Traditionen lassen sich teilweise bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen. Der Wettstreit zwischen Homer und Hesiod (Certamen Homeri et Hesiodi) geht in einer ersten Fassung wahrscheinlich auf den Sophisten Alkidamas (frühes 4. Jahrhundert v. Chr.) zurück; in der überlieferten Version lässt sich das Werk in die nachhadrianische Zeit datieren.52 Inhaltlich handelt es sich um eine literarische Fiktion des bereits mehrfach erwähnten Agons bei den Leichenspielen für Amphidamas in Chalkis, aus dem Hesiod siegreich hervorgegangen war: während Hesiod selbst in den Werken und Tagen weder seine Konkurrenten genannt noch irgendwelche Einzelheiten über den Verlauf des Agons selbst erwähnt hatte, liefert der anonyme Autor des Certamen eine recht detaillierte Beschreibung des Wettstreits. So seien bei der Bestattung des Amphidamas verschiedene Agone auf unterschiedlichen Gebieten ausgetragen worden; neben körperlichen Fähigkeiten (rhome kai tachos: Kraft und Schnelligkeit) erwähnt der Autor auch die Weisheit (sophia) als eine der Disziplinen.53 Als Kampfrichter (kritai) werden der Bruder des Verstorbenen, der basileus Paneides, sowie weitere Angehörige der Elite von Chalkis genannt, zudem beteiligte sich auch das anwesende Publikum 52
53
Vgl. West 2003, 297–300, sowie insgesamt Graziosi 2001 und Uden 2010; zur Debatte um die Datierung der im Certamen erkennbaren Vorlagen s. auch West 1967 (Certamen als Schöpfung des 4. Jahrhunderts) sowie Richardson 1981 (Datierung ins 6./5. Jahrhundert). West 2003, ibid. hat seine ursprüngliche Auffassung teilweise revidiert (er hält nun eine Datierung des ersten Teils des Certamen ins 5. Jahrhundert für möglich). Die Debatte berührt direkt den Quellenwert des Textes, da für seine Abfassung möglicherweise auf früher bereits kursierende Episoden zurückgegriffen wurde, die tatsächlich abgehaltene Wettbewerbe widerspiegelten. Im vorliegenden Beitrag wird einer Datierung ins 4. Jahrhundert der Vorzug gegeben. – Der grundlegende neue Kommentar von Bassino 2019 konnte nur noch ansatzweise berücksichtigt werden. Sein Ansatz gibt die Suche nach einer rekonstruierbaren Entstehungszeit auf zugunsten einer „open tradition“ (Bassino 2019, 3), die für biographische Literatur typisch sei und generell mehr über die Rezeptionsdynamik aussage als über die einer Biographie zugrundliegende Figur. Cert. 6.
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der Griechen an der Beurteilung der Leistungen.54 Im Agon auf dem Gebiet der Weisheit sei Hesiod gegen Homer angetreten, wobei die beiden Männer, wie der Text zeigt, sowohl als Dichter wie als weise Männer miteinander konkurrierten. Der Wettstreit lässt sich in zwei Phasen unterteilen, in denen unterschiedliche Fähigkeiten geprüft wurden. In der ersten Phase stellte Hesiod seinem Konkurrenten selbst verschiedene Aufgaben und konkrete Fragen, auf die dieser jeweils direkt antwortete; inhaltlich ging es dabei um ethische Fragen, Rätsel und die spontane Abfassung von Versen. Der Form nach handelte es sich also um eine direkte Konfrontation der beiden Konkurrenten, ohne dass Kampfrichter Aufgaben gestellt oder die Leistungen beurteilt hätten. Am Ende dieser ersten Phase habe das Publikum der anwesenden Griechen die Kür Homers zum Sieger gefordert. Der Wettstreit war aber noch nicht zu Ende; stattdessen habe der basileus Paneides die beiden Dichter nun gebeten, die ihrer Meinung nach jeweils schönste Passage aus dem eigenen Werk zu rezitieren. Hesiod hätte daraufhin einige Verse aus den Werken und Tagen vorgetragen, gefolgt von Homer, der eine Passage aus der Ilias rezitierte. Nunmehr habe Paneides seine Rolle als Kampfrichter wahrgenommen und entschieden, dass der Sieg dem Hesiod zuzusprechen sei, und zwar mit der Begründung, dass dieser in seinem Werk den Landbau und den Frieden preise, nicht, wie Homer, Kriege und Gemetzel.55 Dabei sei die Kür Hesiods zum Sieger dieses Agons gegen den Willen der Griechen erfolgt, die immer noch den Darbietungen Homer den Vorzug gegeben hätten. Der Sieger erhielt als Siegespreis den bronzenen Dreifuß, den er anschließend den Musen weihte.56 Dieser fiktive literarische Wettstreit zwischen Homer und Hesiod wird – ebenso wie der reale Agon, an dem Hesiod in Chalkis teilgenommen hatte – den Kriterien eines Agons gerecht, der nach bestimmten Regeln durchgeführt und mit einer klaren Entscheidung zugunsten eines Teilnehmers entschieden wurde: Die dabei geprüften Disziplinen werden zu Beginn definiert, und auch das am Ende in den Augen des Kampfrichters entscheidende Kriterium – die ethisch begründete Bevorzugung von Frieden und Landbau gegenüber Krieg und Gemetzel – wird transparent gemacht. Trotzdem erweckt die Beschreibung des Agons nicht den Eindruck, dass am Ende einer der beiden Kontrahenten einen Sieg über den anderen davongetragen habe. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens den Kommentar des Autors des Certamen, dass beide Kontrahenten den Agon in wunderbarer Weise bestritten hätten (amphoteron de ton poieton thaumastos agonisamenon57), und zweitens die Tatsache, dass die anwesenden 54 55 56
57
Cert. 6. Cert. 13: ὁ δὲ βασιλεὺς τὸν Ἡσίοδον ἐστεφάνωσεν, εἰπὼν δίκαιον εἶναι τὸν ἐπὶ γεωργίαν καὶ εἰρήνεν προκαλούμενον νικᾶν, οὐ τὸν πολέμους καὶ σφαγὰς διεξόντα. Der Autor des Certamen überliefert zudem einen Text für die Inschrift, die auf dem Dreifuß angebracht worden sei: Ἡσίοδος Μούσαις Ἑλικωνίσι τόνδ᾽ἀνέθηκεν, | ὕμνωι νικήσας ἐν Χαλκίδι θεῖον Ὅμηρον. (cert. 13); vgl. Hes. erg. 656f: ὕμνῳ νικήσαντα φέρειν τρίποδ᾽ὠτώεντα. |τὸν μὲν ἐγὼ Μούσῃς Ἑλικωνιάδεσσ᾽ἀνέθηκα (…). Cert. 6: ἀμφοτέρων δὲ τῶν ποιητῶν θαυμαστῶς ἀγωνισαμένων.
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Griechen bis zum Ende des Agons die Meinung vertraten, dass nicht Hesiod, sondern Homer der Sieg gebühre. Auch wenn die bei diesem Agon geltenden Regeln das Recht der Entscheidung über den Sieger offenbar dem Paneides als krites zuschrieben, wird dem Urteil „der Griechen“ in der Erzählung ein bedeutendes Gewicht zugebilligt. Eine weitere Beobachtung ist hier bedeutsam, denn aus dem offenkundigen Dissens betreffend die Beurteilung der Leistungen resultiert kein Konflikt: „Die Griechen“ (hoi Hellenes, Cert. 13) sind zwar der Meinung, dass Homer der weiseste Dichter sei, sie ziehen aber die Entscheidung des Paneides, Hesiod zum Sieger zu küren, nicht in Zweifel. So entsteht der Eindruck, dass aus diesem Agon tatsächlich beide Dichter, jeder auf seine Weise, als Sieger hervorgingen.58 Interessant ist im vorliegenden Zusammenhang außerdem, dass der kaiserzeitliche Autor die Episode um den Wettstreit von Chalkis noch um einen Epilog erweitert. Nach seinem Sieg sei Hesiod nämlich nach Delphi gesegelt, um dort das Orakel um Rat zu fragen und anschließend einen Teil seines Siegespreises (tes nikes aparchai) dem Apollon zu weihen.59 Damit wurde Hesiods Sieg im Agon um die sophia direkt mit dem Heiligtum von Delphi verknüpft. Eine solche Verbindung zwischen der Weisheit, der Orakelstätte und Konkurrenz-Diskursen findet sich auch in den weiteren Zeugnissen der römischen Kaiserzeit. Ein zweites im vorliegenden Zusammenhang interessantes Werk stammt aus der ersten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts und ist zeitlich etwas vor dem Certamen anzusetzen. Plutarchs Gastmahl der Sieben Weisen (Convivium septem sapientium) berichtet in Form eines fiktiven Dialoges von einer Zusammenkunft der weisesten Männer der archaischen Zeit in Lechaion bei Korinth, auf Einladung des dortigen Tyrannen Periandros. Im Zentrum der Begegnung stehen sieben weisen Männer: Thales, Bias, Pittakos, Solon, Chilon, Kleobulus sowie der Skythe Anacharsis. Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Teilnehmer, etwa Äsop, eine Tochter des Kleobulos, sowie den Dichter Chersias.60 Während des convivium finden in erster Linie gelehrte Gespräche über unterschiedliche ethische Fragen statt. Ein konkreter Anlass der Zusammenkunft besteht offenbar in der Lösung eines Rätsels, das der ägyptische König Amasis dem Weisen Bias als dem weisesten der Griechen stellen möchte.61 Dieses
58
59 60 61
Vgl. in diesem Zusammenhang die kontrovers geführte Debatte, ob es sich bei dem Agon um ein ‚zero sum game‘ gehandelt habe: Griffith 1990; Graziosi 2001 sowie die generellen kritischen Überlegungen zur Anwendung des Konzeptes der ‚Nullsummenkonkurrenz‘ auf die agonale Haltung in der griechischen Archaik von Burckhardt 1999. Cert. 13 f. Im Convivium gibt es zudem eine Anspielung auf den fiktiven Wettstreit zwischen Hesiod und Homer (conv. sept. sap. 10 = mor. 153f ff.). Vgl. zum Kontext allg. auch Engels 2010, 30–33. Bias habe bereits in der Vergangenheit einmal ein besonders schwieriges Rätsel des Amasis gelöst („Ἱερεῖον (…) ἔπεμψεν αὐτῷ, κελεύσας τὸ πονηρότατον ἐξελόντα καὶ χρηστότατον ἀποπέμψαι κρέας. ὁ δ´ ἡμέτερος εὖ καὶ καλῶς τὴν γλῶτταν ἐξελὼν ἔπεμψεν· ὅθεν εὐδοκιμῶν δῆλός ἐστι καὶ θαυμαζόμενος.“; conv. sept. sap. 2 = mor. 146f).
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wird in Form eines Briefes von einem gewissen Niloxeinos aus Ägypten nach Korinth gebracht, von dem Überbringer vorgetragen und nach kurzer Bedenkzeit von Bias zur Zufriedenheit aller gelöst. Diese Sequenz des Dialogs trägt dabei deutlich agonale Züge: So wird Bias in Amasis’ Brief als weisester der Griechen angesprochen (sophotatos Hellenon62) – allerdings unter Vorbehalt: falls es ihm nicht gelinge, das Rätsel zu lösen, so solle dieses einem anderen Mann gestellt werden, dem dann das Attribut des weisesten der Griechen zuerkannt werde.63 Man könnte also von einem Konkurrenz-Diskurs sprechen, wobei das Ziel der Konkurrenz darin besteht, den weisesten Mann zu ermitteln.64 Der weitere Verlauf des Dialogs ist dann allerdings durch einen kooperativen, gleichsam kollegialen Austausch geprägt. So schlägt der Gastgeber Periandros vor, die anwesenden sieben weisen Männer sollten nun der Reihe nach Ratschläge für eine gerechte Herrschaft formulieren, die dem ägyptischen König übermittelt werden sollten. Alle sieben, angefangen bei Solon von Athen, präsentieren ihre jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von einer gerechten Herrschaft prägnant in einem kurzen Satz. Darauf folgen vergleichbare Stellungnahmen zu weiteren Themen: zur besten Weise, einen Oikos zu führen, sowie betreffend die beste Polisordnung mit den gleichen Gesetzen für alle (politeia isonomos). Dieser inhaltliche Austausch zwischen den sieben weisen Männern ist dabei nicht durch Konfrontation oder eine Auseinandersetzung um eine zu ermittelnde beste Auffassung geprägt, sondern durch gegenseitige Anerkennung.65 So erscheint als zentrale Botschaft des Dialogs – abgesehen von der kurzen, agonal semantisierten Episode um das an Bias gestellte Rätsel –, dass die griechische Weisheit gerade durch das Kollektiv, eben die Gruppe der sieben weisen Männer mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Auffassungen, verkörpert werde.66 62 63 64
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Conv. sept. sap. 6 = mor. 151b. Conv. sept. sap. 2 = mor. 146e: ἐτύγχανε δὲ πρὸς Βίαντα πάλιν ἀπεσταλμένος· ὧν δὲ χάριν οὐδ´ αὐτὸς ᾔδει, πλὴν ὑπενόει πρόβλημα δεύτερον αὐτῷ κομίζειν ἐν βιβλίῳ κατασεσημασμένον· εἴρητο γάρ, εἰ Βίας ἀπαγορεύσειεν, ἐπιδεῖξαι τοῖς σοφωτάτοις Ἑλλήνων τὸ βιβλίον. Dass es sich hier um eine Art Agon handelte, wird zudem nahegelegt durch die Verwendung des Verbum agonizesthai. Bias weist darauf hin, dass der Gott Dionysos (der in anderen Dingen fähig sei und wegen seiner Weisheit als „Löser“ bezeichnet werde), wenn er ihn in Rausch geraten ließe, ihn sicher nicht im Moment des Wettstreites den Mut verlieren lasse: (…) ἐγὼ δὲ τὸν Διόνυσον οἶδα τά τ´ ἄλλα δεινὸν ὄντα καὶ Λύσιον ἀπὸ σοφίας προσαγορευόμενον, ὥστ´ οὐ δέδια τοῦ θεοῦ μεστὸς γενόμενος μὴ ἀθαρσέστερον ἀγωνίσωμαι. Conv. sept. sap. 4 = mor. 150b f. Dies zeigt sich exemplarisch schon zu Beginn der ersten von Periandros vorgeschlagenen Fragerunde, betreffend die gerechteste Form der Herrschaft. Chilon, einer der Sieben, lässt explizit Solon den Vortritt: Er sei unter ihnen nicht nur der Älteste, sondern überhaupt der Erste und Kompetenteste, wenn es um die Darlegung der gerechten Herrschaft gehe: Εἰπόντος οὖν τοῦ Χίλωνος ὡς Σόλων κατάρχεσθαι τοῦ λόγου δίκαιός ἐστιν, οὐ μόνον ὅτι πάντων προήκει καθ´ ἡλικίαν καὶ τυγχάνει κατακείμενος πρῶτος, ἀλλ´ ὅτι τὴν μεγίστην καὶ τελειοτάτην ἀρχὴν ἄρχει νόμους Ἀθηναίοις θέμενος. Conv. sept. sap. 7 = mor. 151e. Vgl. dagegen Klotz 2014, 219 sowie Martin 1993, bes. 120, die generell von einem agonistischen Charakter des Convivium (Klotz) beziehungsweise im Verhältnis der weisen Männer zueinander (Martin) ausgehen. Die Differenzierung innerhalb des Convivium erscheint mir allerdings als ent-
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Gegen Ende des Dialogs wird dann übrigens, ähnlich wie im Certamen, eine Verbindung zwischen den weisen Männern und dem Orakel von Delphi hergestellt: Der ebenfalls am Gastmahl teilnehmende Dichter Chersias fordert nämlich von Pittakos als einem der Sieben, er möge ihm einige der in Delphi inschriftlich festgehaltenen Maximen („meden agan“; „gnothi sauton“) erläutern.67 Eine noch viel deutlichere Verbindung zwischen den weisen Männern der archaischen Zeit und dem Apollonorakel lässt sich dann im Werk des Diogenes Laertios beobachten, das zeitlich wohl ins dritte nachchristliche Jahrhundert zu datieren ist. Interessant ist hier vor allem eine Passage aus der Darstellung des Philosophen Thales. Neben Thales spielen hier wiederum mehrere weise Männer eine zentrale Rolle.68 Der Autor referiert verschiedene Versionen einer Geschichte, in der die Suche nach dem weisesten Griechen im Zentrum steht: Einst hätten Fischer in Milet in ihrem Netz neben den Fischen auch einen Dreifuß gefunden und den gesamten Fang einigen Mitbürgern verkauft. Als diese sich nicht einigen konnten, wer den Dreifuß erhalten solle, hätten sie das Orakel von Delphi darüber befragt. Dieses habe sie angewiesen, den Dreifuß demjenigen zu geben, der an Weisheit von allen der erste sei.69 Daraufhin hätten sie den Dreifuß ihrem Mitbürger Thales gegeben. Dieser hätte ihn aber nicht behalten, sondern einem anderen weitergegeben; dieser hätte ihn wiederum einem anderen weitergegeben und so weiter, bis er schließlich bei Solon gelandet sei. Solon aber habe gesagt, der an Weisheit erste sei der Gott, und habe den Dreifuß nach Delphi geschickt, wo er dann verblieb.70 Dieser ersten Fassung der Anekdote lässt Diogenes nun verschiedene lokale Varianten folgen, die er aus unterschiedlichen Autoren zusammengetragen hat.71 In allen Fällen steht im Zentrum der Geschichte die Suche nach dem weisesten der Griechen (ho sophotatos ton Hellenon) beziehungsweise dem herausragendsten unter den weisen Männern (ton sophon oneïstos72), und es wird jeweils ein Objekt als Siegespreis auf eine Rundreise (periodos) durch die griechische Welt geschickt. Als weise Männer tauchen in den verschiedenen Fassungen neben
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scheidend; hier ist im kaiserzeitlichen Text (anders als in der archaischen Wirklichkeit) die agonistische Haltung eben nicht vorherrschend. Conv. sept. sap. 21 = mor. 164b: ὁ Χερσίας μειδιάσας „ἀλλ´ οὐκ ἄν,“ ἔφη, „φράσαιμι πρότερον ἢ πυθέσθαι παρὰ τούτων ὅ τι βούλεται τὸ ‚μηδὲν ἄγαν’ αὐτοῖς καὶ τὸ ‚γνῶθι σαυτόν,‘ καὶ τοῦτο δὴ τὸ πολλοὺς μὲν ἀγάμους πολλοὺς δ´ ἀπίστους ἐνίους δὲ καὶ ἀφώνους πεποιηκὸς ‚ἐγγύα πάρα δ´ ἄτα.‘“ Pittakos lehnt es ab, dieser Bitte nachzukommen. Diog. Laert. 1.27–33. Vgl. allgemein Engels 2010, 33–40. Diog. Laert. 1.28: Ἔκγονε Μιλήτου, τρίποδος πέρι Φοῖβον ἐρωτᾷς; / Τίς σοφίῃ πάντων πρῶτος, τούτου τρίποδ’ αὐδῶ. Diog. Laert. 1.28: Ὁ δὲ ἔφη σοφίᾳ πρῶτον εἶναι τὸν θεὸν καὶ ἀπέστειλεν εἰς Δελφούς. Dabei werden unterschiedliche Objekte als Siegespreis ausgesetzt (neben dem Dreifuß eine Schale oder ein goldener Becher). Auch werden neben dem wundersamen Fund im Fischernetz noch andere Anlässe für die Suche nach dem weisesten der Griechen (σοφώτατος τῶν Ἑλλήνων) genannt: ein Arkader namens Bathykles oder auch Kroisos von Lydien hätten diese Suche initiiert. ὄνειος beinhaltet zudem den Aspekt der Nützlichkeit (LSJ s. v. ὄνειος ([B]); man könnte hier also eine Anspielung auf den praktischen Nutzen der Weisheit sehen.
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Thales auf: Solon, Chilon, Myson, Pittakos, Thrasyboulos sowie Bias – insgesamt also sieben Namen. Entscheidend ist in mehreren Varianten die Rolle des Orakels von Delphi (zweimal auch des Apollonorakels von Didyma): In der ersten Fassung war es das Orakel selbst, das überhaupt den Anstoß zur Suche nach dem weisesten Mann Griechenlands gegeben hatte – und am Ende wurde dann Apollon persönlich (von einem weisen Griechen) zum weisesten Griechen erklärt. In anderen Fassungen ist es das Orakel, das die Entscheidung über den Sieger trifft – und zwar auf Anfrage eines anderen weisen Mannes, der diese Entscheidung dann jeweils akzeptiert.73 Auch wenn der Begriff des Agons in keiner der insgesamt acht Varianten der Geschichte auftaucht, ist die Semantik aller literarischen Episoden klar durch Konkurrenz und Wettbewerb geprägt: Das Ziel der Suche ist es jeweils, denjenigen Mann zu finden, der alle anderen an Weisheit überrage. Zwar treten die verschiedenen Teilnehmer des Wettbewerbs nicht am selben Ort und zur selben Zeit zum Wettstreit an; auch scheint nicht von Anfang an festzustehen, wer überhaupt an dem Wettbewerb teilnimmt. Am Ende aber kommt es jeweils zu einer von allen Beteiligten anerkannten Entscheidung, bei der ein Mann zum Sieger erklärt wird. Insofern lässt sich diese Geschichte in ihrer Grundstruktur durchaus als ein Wettbewerb im Sinne der Konkurrenz nach Georg Simmel bezeichnen. Allerdings zeichnen sich alle Episoden durch ein Element aus, das dem Prinzip des Agons grundsätzlich zuwiderzulaufen scheint. Es fehlt den Teilnehmern nämlich der Wille zum Sieg. So erhebt keiner der Teilnehmer dieses Agons selbst den Anspruch, der weiseste der Griechen zu sein, mehr noch: Jeder Teilnehmer, dem der Siegespreis von einem anderen zuerkannt wird, reicht ihn wiederum an einen anderen weiter, der seiner Meinung nach als der weiseste gelten könne. So entsteht implizit der Eindruck, dass gerade diese Ablehnung des Siegespreises Ausdruck der höchsten Weisheit ist. Auf diese Beobachtung wird später noch einmal zurückzukommen sein. Auffällig ist zudem die zentrale Rolle von Delphi. Wie bereits erwähnt, erscheint das Orakel einerseits als Initiator des Wettstreits, andererseits übernimmt es mehrfach die Rolle des Kampfrichters und durchbricht den potentiell endlosen periodos durch seine Zuweisung des Siegespreises an einen der Weisen. In einer Variante der Geschichte wird, wie gesagt, der Gott Apollon gar selbst zum Sieger im Agon erklärt.
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Vgl. Diog. Laert. 1.30, der als Gewährsmänner für diese Variante Eudoxos von Knidos und Euanthes von Milet angibt: Kroisos von Lydien habe einen goldenen Becher als Preis ausgesetzt, der dann von einem Freund an Thales als den weisesten der Griechen gegeben wurde. Thales habe diesen weitergegeben an Chilon, dieser habe das Orakel in Delphi befragt, welches dann entschieden habe, dass der Preis Myson gebühre: Οἰταῖόν τινα φημὶ Μύσων’ ἐνὶ Χηνὶ γενέσθαι | σοῦ μᾶλλον πραπίδεσσιν ἀρηρότα πευκαλίμῃσιν.). Diog. Laert. 1.29 f.; vgl. weitere Varianten dieser Version ibid. In einer auf Maiandrios von Milet zurückgehenden Variante soll Thales dem Apollon von Didyma eine Schale als Siegespreis geschickt haben, nachdem diese im Rundlauf gleich zweimal bei ihm selbst gelandet war: Diog. Laert. 1.29 (mit Varianten).
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Die Botschaft dieser verschiedenen Anekdoten in ihrer Gesamtheit ist also eine doppelte: zum einen erscheint das Orakel von Delphi als die höchste Autorität in Bezug auf die Beurteilung der menschlichen Weisheit. Und zum anderen betonen die verschiedenen Anekdoten, indem sie sämtlich darauf abheben, dass alle Weisen den Titel des weisesten Mannes für sich selbst abgelehnt haben, eine gemeinsame Qualität all dieser Männer, unter Ausblendung der Differenzen in ihren Vorstellungen.74 Dahinter steht, ganz ähnlich wie bei Plutarch ein Jahrhundert früher, die Vorstellung eines Kanons von weisen Männern – und so ist es auch nur folgerichtig, dass Diogenes nach der hier betrachteten Passage einen Abschnitt über den Kanon der Sieben Weisen einfügt.75 Den drei vorgestellten kaiserzeitlichen Zeugnissen liegen sicher unterschiedliche Genesen und Rezeptionsprozesse zugrunde; allen dreien gemeinsam ist aber, dass sie den Kontakt und Austausch zwischen weisen Männern der archaischen Zeit zum Gegenstand haben.76 Dabei handelt es sich um literarische Inszenierungen, die jeweils zwar durchaus Konkurrenz-Diskurse widerspiegeln, tatsächlich aber ein inklusives Szenario der Weisheit in der Archaik zeichnen. Ihre Botschaft ist dabei eine doppelte: Keiner dieser weisen Männer beanspruchte, als einziger der weiseste von allen zu sein. Stattdessen scheinen sich diese Männer (als literarische Figuren) implizit darauf zu verständigen, dass sie als Gruppe die Weisheit Griechenlands gemeinsam verkörpern.77 Genau dies ist die zentrale Botschaft des Gastmahls der Sieben Weisen von Plutarch,78 ebenso wie diejenige des Weisheitswettbewerbs in der Thalesbiographie des Diogenes.79 Und selbst der (literarische) Zweikampf zwischen Homer und Hesiod in Chalkis kennt eigentlich keinen klaren Sieger, da letztlich beide Kontrahenten zu Siegern erklärt werden: einerseits durch den Gastgeber Paneides, andererseits durch das Publikum der Griechen. Die inklusive, kooperative Vorstellung der archaischen Weisheit, die in diesen kaiserzeitlichen Werken zum Ausdruck kommt, steht dabei in
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In der Darstellung des Diogenes werden bestimmte inhaltliche Vorstellungen der weisen Männer in Form von Maximen geradezu als zwischen ihnen austauschbar dargestellt; vgl. Diog. Laert. 1.40. Dass es von diesem Kanon verschiedene Fassungen gab und man insgesamt siebzehn verschiedene Männer zu dieser Gruppe zählte (vgl. insgesamt Diog. Laert. 1.40–42, hier 42), ist dabei unerheblich. Vgl. dazu allg. auch Martin 1993, der die politische Dimension des Denkens betont. Vgl. ähnlich bereits Martin 1993, 120, der aus dieser Beobachtung allerdings andere Schlüsse zieht. Er sieht hier keine spätere literarische Konstruktion, sondern den Ausdruck der archaischen Wirklichkeit. So ist es nur folgerichtig, dass er die Tradition der Sieben Weisen generell ins sechste Jahrhundert zurückdatiert (vgl. ibid.). Vgl. Klotz 2014; zu Plutarch allg. Beck 2014 sowie Dillon 1977/1996, 184–230 und Aalders H. Wzn./ de Blois 1992. Die Methode des Diogenes unterscheidet sich grundlegend von derjenigen Plutarchs. Im Gegensatz zu diesem, der als Vertreter des Zweiten Sophistik selbst philosophische Konzepte vertrat, war jener an einer Darstellung der Geschichte der griechischen Philosophie interessiert; vgl. dazu Warren 2007 passim und Engels 2010, 33–36. sowie bereits Mejer 1977 und Mejer 1992. Vgl. zudem allgemein zur intellektuellen Kultur im Imperium Romanum König/Whitmarsh 2007 sowie jetzt, mit Berücksichtigung der hellenistischen Epoche, Bosman/Monaco/Jazdzeska 2019.
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einem klaren Gegensatz zur Haltung der historischen politischen Denker der archaischen Zeit selbst: wie weiter oben ausgeführt worden ist, war deren Denken klar durch Konkurrenz geprägt, da es beständig darauf abzielte, andere Denker zu übertrumpfen. Wie lässt sich aber nun erklären, dass der Habitus der Denker der archaischen Zeit in späterer Zeit in dieser Weise einem Wandel in der Darstellung unterworfen wurde? Im vorliegenden Beitrag können dazu nur einige vorläufige Überlegungen vorgeschlagen werden. Erstens kann man vermuten, dass hierbei die Entwicklung der Philosophie, auch der politischen Philosophie, an der Wende vom 5. zum 4. vorchristlichen Jahrhundert eine Rolle spielte. Wie bereits erwähnt, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass der Wettstreit zwischen Homer und Hesiod in einer früheren Fassung auf den Sophisten Alkidamas zurückging. Darauf deuten einerseits textimmanente Indizien hin.80 Andererseits gibt es dafür gewisse inhaltliche Anhaltspunkte, insbesondere die durch den Wettstreit transportierten ethischen Inhalte und Botschaften: dass der Kampfrichter Paneides am Ende dem Hesiod den Sieg zuspricht, mit der Begründung, dass er Frieden und Landbau (eirene kai georgia) besinge und nicht Krieg und Gemetzel (polemos kai sphage), passt zur ethischen Ausrichtung zentraler Debatten der Sophisten im späten 5. und 4. Jahrhundert v. Chr.81 In eine ähnliche Epoche verweist auch die Geschichte vom wandernden Dreifuß bei Diogenes Laertios: Zumindest einige der Varianten, die der Autor referiert, gehen offenbar auf Gewährsmänner des 4. Jahrhunderts zurück (Maiandrios, Eudoxos, Daimachos, Klearchos). Die fiktive Vorstellung eines solchen Wettstreits um die Weisheit, der durch klares Desinteresse der Beteiligten am eigenen Sieg gekennzeichnet war, scheint also in dieser Zeit zum ersten Mal ein verstärktes Interesse bei verschiedenen lokalen Autoren gefunden zu haben.82 Diese Beobachtung kann als Indiz für eine generelle Veränderung der Vorstellungen von sophia in dieser Zeit gewertet werden, die wohl zuerst mit dem (platonischen) Sokrates greifbar wird.83 Dass solche Vorstellun80 81 82
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Cert. 7 zitiert zwei Verse aus dem Mouseion des Alkidamas, das in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts datiert wird; vgl. Richardson 1981 passim sowie West 2003, 298. Vgl. zum politischen und sozialen Kontext des sophistischen Denkens allgemein Becker/Scholz 2004, 29–40, sowie bereits Martin 1976 und Flashar/Kerferd 1998, 3–6; 11–19. Vgl. zu Maiandrios v. Milet (Diog. 1.28) Dorandi 2013, 83 ad Z. 76 mit Nachweisen (auch zu den konkurrierenden Lesarten). Zur Datierung des Maiandrios ins 4. Jahrhundert v. Chr. siehe Brill’s New Jacoby 492, Introduction beziehungsweise F 18 (Noboru Sato). Zu Eudoxos von Knidos (Diog. 1.29 f. = F 371 Lasserre) vgl. allgemein sowie zur Datierung ins 4. Jahrhundert: Fragmente der Griechischen Historiker Continued Part IV, 1006 F 1 ( Jan Bollansée), vgl. noch Dorandi 2013, 84. Zu Daimachos von Plataiai s. FGrH 65 F 6 (Felix Jacoby); Schwartz, Daimachos [2], RE IV.2 (1901), 2008 f. mit Datierung ins frühe 3. Jahrhundert. Zu Klearchos v. Soloi (Diog. 1.29 f. = Frg. 70 Wehrli), der ins 4./3. Jahrhundert datiert wird, Hans Gottschalk, Klearchos [6], DNP 6 (1999), 502. Vgl. außerdem zu einer Stele mit Sprüchen der Sieben Weisen in Ai Khanoum (Datierung in die erste Hälfte des 3. Jahrhundert v. Chr.), die zuweilen mit Klearchos in Verbindung gebracht wurde: Althoff/Zeller 2006, 59 ff. Vgl. nur Speer 2004, 371: „Als ‚W(eisheit) über menschliches Maß hinaus‘ kritisiert (…) Sokrates den aus ihrer bereichsbezogenen Kompetenz abgeleiteten Anspruch, ‚auch im Übrigen ganz unge-
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gen und ihre Bedeutung für die Philosophie in dieser Zeit jedenfalls intensiv diskutiert wurden, zeigen in allgemeiner Weise die platonischen Dialoge, die in vielfacher Weise Auseinandersetzungen betreffend die Weisheit zum Gegenstand haben: zwischen verschiedenen Sophisten, aber auch zwischen diesen und anderen Philosophen.84 Ein weiterer Aspekt, der in den vorgestellten kaiserzeitlichen Zeugnissen von zentraler Bedeutung ist, wird bereits im Werk Platons intensiv behandelt, nämlich der Zusammenhang zwischen der sophia, genauer der Frage nach der wahren sophia, und dem Orakel von Delphi.85 Dabei spielten offenbar die sophoi der Archaik eine besonders wichtige Rolle: vermutlich gegen Ende des 5. Jahrhunderts wurden drei Maximen auf dem Pronaos des Apollontempels eingemeißelt, die den Sieben Weisen zugeschrieben wurden; unsere früheste Quelle dafür ist Platon.86 Dass Platon sich generell intensiv mit den archaischen sophoi auseinandergesetzt hat, kommt auch darin zum Ausdruck, dass er wohl als erster Autor einen Kanon von Sieben Weisen etabliert hat.87 Der Zusammenhang zwischen der sophia und dem Orakel von Delphi zeigt sich im platonischen Werk besonders klar betreffend den Philosophen Sokrates, wie das folgende Beispiel illustriert: In der Apologie des Sokrates wird erwähnt, dass ein Vertrauter des Sokrates, Chairephon, das Orakel von Delphi befragt habe, ob es einen Mann gebe, der weiser sei als Sokrates. Die Pythia habe dies verneint, woraufhin Sokrates selbst weitere Untersuchungen angestellt und andere vermeintlich weise Männer befragt habe.88 Die inhaltlichen Parallelen zu den bei Diogenes Laertios wiedergegebenen Episoden sind unübersehbar: nicht nur aufgrund der Form eines Agons um die Weisheit (und der Rolle des Orakels), sondern auch wegen des philosophischen Habitus, gerade nicht den Anspruch zu stellen, selbst der weiseste der Griechen zu sein. Für die Bedeutung des Apollonorakels in den philosophischen Diskussionen dieser Zeit – und den expliziten Rückbezug auf weise Männer der Archaik – gibt es mögli-
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heuer weise zu sein‘ (Plat. apol. 22d–e). Mit der gleichen kritischen Einstellung tritt er auch dem göttlichen W.-Spruch des delphischen Orakels gegenüber, das ihn als den Weisesten bezeichnet hatte. (…) Dieses Motiv der Unwissenheit (…) steht im Mittelpunkt der Aitiologie, dergemäß Platon die Philosophie in kritischer Distanz zur W. bestimmt: Die W. des Philosophen besteht darin, nichts zu wissen, sich seines Nichtwissens aber bewußt zu sein (…).“ Vgl. nur Erler 2007, 349 f. mit Nachweisen. Zum Zusammenhang zwischen sophia und Tugend vgl. nur ebd. 438 und 444. Dass Plutarch ein deutliches Interesse am Orakel von Delphi zeigt, wird seit langem mit seiner Tätigkeit als Apollonpriester beim dortigen Heiligtum in Verbindung gebracht; vgl. nur Dillon 1977/1996, 186; Brenk 1987, 330–336; Engels 2010, 30 f. Plat. Charm. 164c–165a; vgl. Scott 2014, 137 f. Der früheste Beleg, der den Sieben Weisen selbst eine Initiative bei der Niederschrift der Maximen in Delphi zuschreibt, ist Diodor (Diod. 9.10.4). Das Orakel spielt auch in Platons Staatsentwürfen bei der Gestaltung des religiösen Lebens eine zentrale Rolle; vgl. Scott 2014, 143 f. mit den Quellenbelegen 339 Anm. 12. Vgl. nur Althoff/Zeller 2006; Asper 2006; Schubert 2018, 61–65 (mit den alternativen Datierungen). Plat. apol. 20e–21a, Xen. apol. 14; vgl. Scott 2014, 137 f. mit 338 Anm. 49, sowie zur Weisheit und spezieller zur Funktion des Orakels in Platons Apologie Kindt 2016, 87–112. Vgl. außerdem die Überlegungen zum historischen Sokrates bei Döring 1998, 157–162, bes. 160.
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cherweise aber noch andere Gründe, die auch in der Situation des Heiligtums selbst begründet liegen. So ist es plausibel, dass die lokalen Akteure in Delphi – die Priesterschaft, die Bürger der Polis oder die Mitglieder der Amphiktyonie – ein Interesse daran hatten, eine Verbindung zwischen der Orakelstätte und Weisheitskonzepten als einem zentralen Merkmal der zeitgenössischen Philosophie zu betonen: Damit wollten sie möglicherweise an die prominente Rolle des Orakels als eines Ortes der panhellenisch unbestrittenen Expertise wieder anknüpfen, welche dieses in archaischer Zeit besessen hatte – und dies in einer Zeit, in der das Heiligtum zwar immer noch (oder vielmehr erneut) eine recht prominente Rolle spielte, zugleich aber mit unübersehbaren strukturellen Problemen konfrontiert war.89 Zusammenfassung: Konkurrenz als Motor der Verbreitung politischer Ideen in archaischer Zeit Am Ende der Untersuchung sind wir also mit folgendem Befund konfrontiert. Zunächst einmal zeigte der Blick in die archaischen Zeugnisse, dass nach Meinung einer ganzen Reihe von politischen Denkern in verschiedenen Regionen der griechischen Welt bestimmte Konzepte für eine prosperierende Gemeinschaft von zentraler Bedeutung waren: Hierzu gehörten neben dem Konzept der Dike die Vorstellung von einer „guten Ordnung“ der Gesetze (Eunomia), im Gegensatz zur Dysnomia, ebenso wie das Konzept der Eirene. Einige Denker betonten zudem die Bedeutung der sophia (Weisheit) für das Gedeihen der Polisgemeinschaft. Zugleich waren die Vorstellungen dieser Denker selbst durch Konkurrenz-Diskurse geprägt, da sie diese Vorstellungen häufig in Abgrenzung von anderen Denkern oder der Gemeinschaft insgesamt definierten. Diese Beobachtung führte zu der Frage, ob gerade die Konkurrenz (mit Jacob Burckhardt: „das Agonale“) ein Motor für die Verbreitung bestimmter Konzepte war – etwa im Sinne der peer polity interaction – und welche Form diese Konkurrenz konkret angenommen hat. Als eine Ausgangsvermutung war zunächst erwogen worden, dass es überregionale, vielleicht sogar panhellenische Foren für einen solchen Austausch über bestimmte politische Konzepte gegeben haben könnte; die Bezeichnung der Leichenspiele für Amphidamas in Chalkis durch Plutarch als einen Wettstreit weiser Dichter hatte eine solche Hypothese nahegelegt. Die Untersuchung hat dann allerdings ergeben, dass die Sichtweise des (Neu)Platonikers Plutarch auf diesen Agon durch Anachronismen geprägt ist. Während in der römischen Kaiserzeit verschiedene Autoren (teilweise unter Rückgriff auf spätklassische Vorstellungen) direkte oder indirekte Agone zwischen verschiedenen ‚weisen Männern‘ imaginiert haben, hat es in der Archaik selbst keine geregelten Wettbewerbe
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Vgl. nur Scott 2014, 139–162.
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dieser Art gegeben, in denen die inhaltlichen Vorstellungen der zeitgenössischen Denker, also etwa die genannten Konzepte, zur Diskussion gestellt worden wären. So dienten die musischen Agone der archaischen Zeit offenbar nicht einem ‚Wettbewerb der Ideen‘ (und damit auch nicht einer daraus resultierenden Verbreitung derselben), sondern allein der Prämierung musischer Darbietungen. Die ohne Zweifel nachweisbare Konkurrenz in der politischen Reflexion in archaischer Zeit wurde also nicht selbst Gegenstand institutionalisierter Agone. So war es möglicherweise gerade die „ungeregelte“ Konkurrenz der archaischen Denker, die die Verbreitung bestimmter Konzepte und Ideen beförderte. Die kritische Haltung, die viele von ihnen gegenüber anderen Denkern (ihrer eigenen Zeit oder der Vergangenheit) zum Ausdruck brachten, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie über andere, konkurrierende Vorstellungen gut informiert waren. Zudem ist für viele der Denker belegt, dass sie in der griechischen Welt herumreisten, was einer Auseinandersetzung mit den Vorstellungen anderer Denker sicher ebenfalls förderlich gewesen ist. Der dahinterstehende Verbreitungsmechanismus könnte also durchaus trotzdem mit dem Konzept der peer polity interaction erklärt werden. Die Konkurrenz, die als ein Motor der Verbreitung von Innovationen in anderen Bereichen des antiken Lebens (Kriegstaktiken, Tempelbauten, Vasenbilder) wirkte, war aber in diesem Fall offenbar gerade in ihrer nicht institutionalisierten Form der Verbreitung politischer Ideen förderlich. Sie war es, die die innovative Kraft des politischen Denkens der archaischen Zeit begründete, ganz im Gegenteil zur Kanonisierung – und möglicherweise Domestizierung – der (politischen) Weisheit in den Texten der römischen Kaiserzeit.90 Literaturverzeichnis Aalders H. Wzn., Gerhard J. D. / Lukas de Blois. 1992. Plutarch und die politische Philosophie der Griechen, in: ANRW II 36.5, 3384–3404. Althoff, Jochen / Zeller, Dieter 2006. Die Worte der Sieben Weisen. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert, Darmstadt.
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Insofern könnte man überlegen, ob die Darstellung der archaischen Denker durch die kaiserzeitlichen Quellen nicht mit der Konstellation des Kartells nach Georg Simmel verglichen werden könnte: Entscheidend ist hier die Betonung von gemeinsamen Qualitäten – eben der sophia –, die gleichsam mit einer Abschottung dieser Gruppe nach außen einhergeht (vgl. zum Simmelschen Konzept des Kartells bes. den Beitrag von Gunnar Seelentag in diesem Band). Dies wäre also ein „Konkurrenz-Diskurs“ von einer noch einmal ganz anderen Qualität, durch den eine gemeinsame Autorität der Mitglieder dieser Gruppe hervorgehoben wird, die möglicherweise in Konkurrenz zu anderen Autoritätsansprüchen außerhalb dieser Gruppe steht (vgl. ähnliche Überlegungen bei Werron 2011, 255–257, bes. 255: „Es gibt ein Innerhalb und ein Außerhalb der Konkurrenz.“). Ich danke Jan Meister und Gunnar Seelentag für weitere kritische Nachfragen, die zur Präzisierung der hier vorgestellten Überlegungen beigetragen haben.
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Epinikien als pragmatischer Ausdruck institutionalisierter Konkurrenz Claas Lattmann Abstract: Sport, including the public praising of athletes, was one of the areas of ancient Greek society that were profoundly shaped by competition and institutionalisation. This is especially true of the Archaic period. This paper shows that Pindar’s and Bacchylides’ epinician odes can give instructive insight into the dynamic interplay beetween institutionalisation and competition in this area from the early Archaic period until their time of composition, the early Classical period. By categorically separating the intratextual and extratextual dimensions of these songs, the original institution of praising the victor as established in the early Archaic period is reconstructed. Then the historical process of institutionalisation that epinician song underwent until the first half of the fifth century is traced. In so doing, an answer is proposed to the question as to why the sophisticated epinician odes that are extant counterfactually pretend to be nothing more than the simple songs of praise of Archaic times: namely, because they had to preserve the original ritual semantics against the historical backdrop of a fundamentally different performative context after the establishment of the Panhellenic games. In summary, this analysis sheds light both on the institution of Greek sport as it was shaped by elite competition and on the epinician ode as a secondary institution sui generis that was itself shaped in content and form by the achievements of agonistic competition it was meant to exalt, which it simultaneously mirrored, interpreted and so invested with meaning.
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Einleitung Im antiken Griechenland gehörte der Sport zu denjenigen Bereichen, in denen sich Konkurrenz par excellence manifestierte. Nicht ohne Grund gilt die griechische Kultur als die Kultur des Agonalen.1 Dies trifft vor allem auf die Archaik zu: Sowohl in lokalen als auch später in panhellenischen Wettspielen wetteiferten Angehörige der Elite um den sportlichen Sieg und verbunden damit um die aus diesem resultierende Gunst anderer, Dritter. Dabei zeigt sich eine starke Institutionalisierung, die sich allem Anschein nach spätestens im Laufe der Archaik vollzog und in jedem Fall in der Frühklassik weitgehend abgeschlossen war.2 In diesem Sinn kann eine Untersuchung des Sports als Fallstudie einen Beitrag dazu leisten, die Phänomene von Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik besser zu verstehen. Dies gilt um so mehr, als wir über ein umfangreiches Corpus von unmittelbar relevanten Texten verfügen, nämlich die sogenannten Epinikien. Diese Preislieder wurden öffentlich dargeboten zur Verherrlichung eines Siegers anlässlich eines sportlichen Siegs und waren als solche ein genuiner, unmittelbar-authen-
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Zum ‚Agonistischen‘ in der griechischen Kultur siehe Ulf 2008 sowie aus einer kritisch-wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive Ulf 2011; einen anthropologischen Rahmen zeigt van Wees 2011 auf. Die auch in der Rezeptionsgeschichte komplexe Problemlage kann nicht im Detail erörtert werden. Dies ist angesichts des konkreten Erkenntnisziels auch nicht erforderlich: Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen wird angesichts des verwendeten textlichen Materials die Sicht der Griechen der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. auf die Vergangenheit stehen. – Pindar ist zitiert nach Snell/Maehler 1997 (Epinikien), die Scholien zu Pindar nach Drachmann (1903–1927); Übersetzungen stammen von mir. Mein herzlicher Dank gilt Jan Meister und Gunnar Seelentag für die Konzeption des Netzwerks sowie ihre Mühen mit der Organisation der ertragreichen Treffen und der Herausgabe der Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit; ihnen und Konstantin Krieter danke ich zugleich für hilfreiche Anmerkungen zur schriftlichen Fassung meines Beitrags. Den übrigen Mitgliedern des Netzwerks bin ich für Anregungen und stimulierende Diskussionen verpflichtet. Der griechische Sport war konstitutiv konservativ. Indizien sind nicht nur (bei allen späteren Modifikationen und sich ändernden äußeren Umständen) die langanhaltende Tradition der vier panhellenischen Spiele (Olympien, Pythien, Isthmien und Nemeen) bis in die römische Kaiserzeit und teils sogar Spätantike hinein (siehe für einen Einblick van Bremen 2007 und Spawforth 2007), sondern auch die getreue Beibehaltung der ursprünglichen Kerndisziplinen (unter anderem Boxen, Ringen, Pankration, Stadionlauf und Rennen mit dem Pferdeviergespann), trotz der nicht seltenen Hinzufügung und Streichung von zusätzlichen, jedoch nach jenen modellierten Disziplinen (etwa Rennen mit dem Maultiergespann oder Laufdisziplinen unterschiedlicher Länge); vgl. exempli gratia für die Pythien Paus. 10.7.2–8 und siehe Davies 2007. Der zuletzt genannte Aspekt verweist freilich auf einen der spezifischen Gründe der Motivation zur Institutionalisierung des griechischen Sports überhaupt, nämlich den Nachweis individueller körperlicher Überlegenheit in Hinsicht auf jeweils ein spezifisches Körperorgan (etwa Kraft der Beine beim Laufen oder Kraft der Arme beim Ringen; vgl. instruktiv Pind. P. 10.22–26); das Prinzip der Ausdifferenzierung in die historisch bezeugten Disziplinen ist dann transparent (siehe unten).
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tischer Ausdruck derjenigen Gunst von Dritten, um die im sportlichen Wettkampf konkurriert wurde.3 Konkret versprechen diese Lieder Hilfe in zweifacher Hinsicht: Erstens legen sie offen, welche spezifische Natur kompetitiver Erfolg im Bereich des Sports hatte und welche soziale Wertschätzung mit ihm verbunden war. Sie eröffnen einen Blick auf die Prinzipien des sportlichen Wettbewerbs selbst und den Preis, um den dieser stattfand. Der spezifische Wert der Lieder liegt darin, dass sie nicht, wie es bei historischen Zeugnissen oftmals der Fall ist, von außen auf die Zusammenhänge blicken, sondern als Literatur und mithin sprachlicher Ausdruck von intendiert konstruierten Sinnzusammenhängen die semantische Binnenperspektive der beteiligten Menschen offenbaren. Zweitens sind sie deshalb relevant, weil sie selbst ein institutionalisierter Ausdruck von Konkurrenz sui generis sind, nämlich als literarische Gattung öffentlicher Preislieder von derjenigen des stellvertretenden Werbens um durch Konkurrenz erworbene Gunst Dritter. Konkurrenz und Institutionalisierung zeigen sich in den griechischen Epinikien folglich in zweierlei, hierarchisch verschachtelter Weise, nämlich primär im Inhalt und sekundär in der Form, Letztere mit wiederum eigenen spezifischen Inhalten, die aber oftmals selbst nach dem Muster der Konkurrenz erster Stufe modelliert waren.4 Für die vorliegende Fragestellung signifikant ist, dass es sich bei den erhaltenen Epinikien nicht nur um Zeugnisse handelt, die direkt für ihre primäre Entstehungszeit Aufschluss über Prozesse von Konkurrenz und Institutionalisierung liefern können – also lediglich als historische Dokumente ihres unmittelbaren Aufführungskontextes in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. –, sondern dass sie dies auch in einer historischen Tiefendimension vermögen: Die Epinikien konservieren die Geschichte ihrer eigenen Institutionalisierung und im Spiegel dessen sekundär auch die Institutionalisierung des Sports selbst mitsamt seinem politisch-sozialen Wert. Diese Zusammenhänge möchte ich im Folgenden im Detail freilegen und so mittels des Prismas des Epinikions Licht auf relevante Phänomene von Konkurrenz und Institutionalisierung im Bereich des griechischen Sports in ihrer historischen Dynamik werfen. Das Erkenntnisinteresse ist ein allgemeines, und es ist auf das Epinikion als solches ausgerichtet; im Mittelpunkt steht mithin nicht, welche konkreten Erinnerungen das Epinikion an einzelne Instanzen von Institutionalisierung im Bereich des Sports selbst übermittelt, etwa zur Entstehung der Olympien mittels der Präsentation aitiologischer
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Unter anderem zumindest: Eine wichtige Qualifizierung wird im Laufe dieser Studie vorgeschlagen werden. Zur Gattung des Epinikions und ihrer pragmatischen Funktion im Allgemeinen siehe Stenger 2004, 44–52; vgl. unten Anm. 6 und 7. So wird, um ein signifikantes Beispiel zu geben, das eigene Preisen oftmals in den Begrifflichkeiten der sportlichen Disziplin des Siegers ausgedrückt; siehe für einen Einblick Lefkowitz 1984 und vgl. Lattmann 2010, speziell 118–162 mit einer Fallstudie zu Pindars instruktiver Nemee 4.
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Mythen.5 Sachliche Grundlage der Analyse ist die Einsicht, dass frühe griechische Literatur prinzipiell untrennbar mit einem jeweils gattungsspezifischen und -konstitutiven ‚Sitz im Leben‘ verknüpft war: Griechische Dichtung hatte immer eine feste, klar definierte Funktion im sozialen Bereich, und diese Funktion determinierte ihre verschiedenen, für uns historisch feststellbaren Formen – und zwar gerade so, wie die Dichtung selbst vice versa immer auch die außerliterarische Welt zu den spezifischen Anlässen mit formte und ihnen, als eine ihrer zentralen Funktionen, ‚Sinn‘ verlieh.6 Ich möchte mich dem skizzierten Ziel in zwei Schritten nähern: (1) Ausgehend von einer Übersicht über die materielle Basis der Analyse wird die grundlegende interpretative Situation bestimmt, der wir bei einer Untersuchung von Epinikien gegenüberstehen. Dies wird einen Blick auf das Epinikion als genuines Produkt von Institutionalisierung ermöglichen. (2) Hierauf aufbauend sollen zweitens unter Rückgriff auf die in der Einleitung zum Sammelband aufgezeigten Kategorien einzelne Aspekte der Phänomene Konkurrenz und Institutionalisierung im Detail herausgearbeitet werden, die greifbar im Epinikion für den Sport und sekundär das Epinikion relevant sind. Dies führt zu der Einsicht, dass das Epinikion klassischer Zeit ein komplexeres und hermeneutisch vielschichtigeres historisches Dokument ist, als man gemeinhin annimmt. Epinikien und die Grundparameter ihres Verständnisses Wenden wir uns in einem ersten Schritt allgemein der Gattung des Epinikions zu und erschließen die Grundsituation, der wir bei dem Versuch ihres Verständnisses gegenüberstehen, und hierüber die Parameter des erforderlichen hermeneutischen Zugangs. Ein knapper Überblick über das Material verankert die Lieder in ihrem historischen Kontext – und lässt die Analyse mit einem Paradox beginnen: Das verfügbare Epinikiencorpus ist prima vista überhaupt nicht für die Erforschung von Konkurrenz und Institutionalisierung in der Archaik geeignet. Neben einigen wenigen kurzen Fragmenten verfügen wir fast ausschließlich über Lieder, die aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. und somit aus der frühen Klassik stammen. Konkret handelt es sich um das Corpus von Pindars und Bakchylides’ Epinikien, insgesamt ca. 50 vollständige Lieder mit einer Länge von ca. 10 bis zu ca. 300 Versen.7 Diese Texte sind zwar 5 6 7
So zum Beispiel in Pind. O. 1 (speziell 67–100, insbesondere vor dem Hintergrund von Nagy 1986) und in Pind. O. 3 (speziell 11–38); siehe zu derartigen Mythen, auch bei anderen antiken Autoren, Ulf 1997b. Siehe generell Käppel 1992, 17–21, auch Kannicht 1996, 68–99 und Carey 2009; speziell zum Epinikion siehe Stenger 2004, 44–49. Zur frühgriechischen Dichtung insgesamt siehe auch den Überblick von Kurke 2008 (speziell 156–158 zum Epinikion). Ergänzt durch etwa zwei Dutzend mehr oder weniger umfangreiche Fragmente. Daneben sind auch einige wenige Fragmente aus der vorangehenden Zeit erhalten; man beachte neben Ibykos (siehe Barron 1984 und Jenner 1986) insbesondere Simonides (vgl. Frg. 506 PMG); zu beiden sie-
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überraschend repräsentativ in allen für das Problemfeld relevanten Parametern, insbesondere im Geographischen, da sie weite Bereiche der griechischen und vor allem nicht-athenischen Welt abdecken, unter anderem das griechische Festland, die Inseln, Kyrene, Sizilien und Unteritalien, und im Sportlichen, insoweit sie die zentralen sportlichen Disziplinen repräsentieren, von den Laufdisziplinen über die Kampfsportarten bis zu den Pferdewettkämpfen, im gymnischen Bereich auch für die verschiedenen Altersklassen.8 Doch sind die verfügbaren Lieder Produkte der frühen Klassik und als solche prima vista eben gerade nicht für die Zeit der Archaik aussagekräftig. Nachdrücklich stellt sich schon vor Beginn der Analyse die grundsätzliche Frage, ob wir Pindars und Bakchylides’ Epinikien zum entfalteten Zweck nutzen können. Zwei Problemfelder zeigen sich: Die Lieder könnten nur eine Momentaufnahme darstellen, und zwar für einen relativ späten, in jedem Fall nicht mehr archaischen Zeitpunkt, zu dem die Institutionalisierungsprozesse längst abgeschlossen waren. Nach Pindar und Bakchylides bricht die Gattungstradition ja mehr oder weniger ab, so dass die Lieder den Höhe- und Endpunkt der Gattungsgeschichte im engeren Sinn darstellen.9 Zweitens weist das gesamte Corpus ein überraschend homogenes Bild auf, bestehen doch zwischen frühen und späten Liedern keine wesentlichen inhaltlichen und formalen Unterschiede. Auf den ersten Blick besteht keine Möglichkeit, eine Entwicklung im Sinn einer Institutionalisierung in ihrer Dynamik in den Liedern zu erkennen. Im Ergebnis scheinen die Lieder lediglich als Institution, und zwar der Klassik, nicht aber als Spiegel von Prozessen der Institutionalisierung in und aus der Archaik heraus ausgewertet werden zu können. Der spezifische Charakter der erhaltenen Epinikien erweist diese Einwände bei näherer Betrachtung jedoch als irreführend. Die Lieder zeigen nämlich eine überra-
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he Rawles 2012 und auch Spelman 2018, 184–191. Diese teils direkt der Archaik entstammenden Fragmente sind freilich zu kurz, um für die Beantwortung der vorliegenden Frage brauchbar zu sein; sie helfen insbesondere wegen des Fehlens des textlichen Zusammenhangs und des Kontextes nicht dabei, den Aspekt der Institutionalisierung zu ergründen. Vgl. unten Anm. 9. Für einen knappen Überblick zur Geschichte der Gattung Epinikion siehe Stenger 2004, 39 f. Anm. 145 und vgl. Pelliccia 2009; für den Versuch der Rekonstruktion der Frühgeschichte aus einer weiten Perspektive siehe Thomas 2007. Siehe die tabellarische Übersicht in Lattmann 2010, 319. Wir kennen nach Pindar und Bakchylides das Fragment eines Epinikions des Euripides (?) für Alkibiades (Frg. 755 f. PMG; siehe Bowra 1960 und vgl. zum historischen Kontext Gribble 2012) sowie aus hellenistischer Zeit die die Tradition des Epigramms aufnehmenden ‚Epinikien‘ des Kallimachos (siehe Fuhrer 1993 für einen Überblick). Freilich besitzt das Epigramm historisch eine gewisse sachliche Beziehung zum Epinikion, insofern die jeweils als relevant behandelten grundsätzlichen Merkmale des Siegerpreises identisch sind, natürlich auch bedingt durch den Umstand, dass die herkömmlich zu einem Siegerepigramm gehörige Siegerstatue in einer pragmatischen Konkurrenz zum Epinikion stand (wie es ja auch von Pindar thematisiert wird: vgl. Pind. N. 5.1–8; siehe Pavlou 2010); für eine allgemeine Perspektive siehe unter anderem Steiner 1998 und O’Sullivan 2003; vgl. Thomas 2007 für die historische Dimension und siehe Herrmann 1988 für eine Übersicht zu den Siegerstatuen in Olympia. Für insbesondere frühe Siegerepigramme siehe die Sammlung von Ebert 1972.
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schende Eigentümlichkeit, die entscheidende Aspekte der Institutionalisierung im Bereich des griechischen Sports direkt fassbar macht, und zwar dezidiert für die Archaik: Auch wenn alle erhaltenen Epinikien in der Tat einer späten, das heißt der klassischen Zeit entstammen und im direkten Vergleich untereinander keine historische Dynamik erkennen lassen, ist es andererseits ebenso der Fall, dass sie sich im Rahmen ihrer pragmatischen Aufführungssituation in ihrem Inhalt selbstreflexiv als Teil eines bis an die allerersten Anfänge von öffentlichem Lobpreis zurückreichenden geschichtlichen Kontinuums deuten und konkret in den Äußerungen des Sprechers der Lieder die Erinnerung an ihre eigene Institutionalisierung konservieren. Gleichwohl zeigt sich prima vista insofern ein Problem, als die auf diesem Weg rekonstruierbare Binnenperspektive der Epinikien in einer auffälligen dialektischen Spannung zu den tatsächlichen, das heißt aus der Außenperspektive zu rekonstruierenden historischen Gegebenheiten der Zeit ihrer Aufführung steht. Diese dialektische Spannung erweist sich aber gerade hermeneutisch als Gewinn, denn in ihr manifestiert sich unter der Oberfläche der Prozess der Institutionalisierung der Epinikien, und zwar im historischen Kontext der Entwicklung von einem ursprünglichen (in der Binnenperspektive konservierten) Zustand der Siegerehrung zu demjenigen späteren Zustand, den wir in der Klassik wenn nicht direkt (das heißt in der Binnenperspektive selbst) fassen, so doch mit Zuversicht im Spiegel eben der im Epinikion repräsentierten Ursprungssituation in Verbindung mit den bekannten außertextlichen Gegebenheiten rekonstruieren können – und zwar im Kontext des notorischen Problems, dass wir über fast keine anderen Zeugnisse zu den Bedingungen und Umständen der Darbietung des Epinikions verfügen, als sie in den verfügbaren Liedern selbst vorliegen.10 Die Problemlage ist komplex. Sie beginnt sich zu klären, wenn wir uns in einem ersten Schritt die grundlegende Situation des Lobpreises vor Augen führen, die uns in der Binnenperspektive der Epinikien entgegentritt – also diejenige außertextliche Situation, in der sich die Epinikien als Preislieder selbstreflexiv verorten.11 Der idealtypische Ablauf lässt sich wie folgt rekonstruieren:12 Unmittelbar nachdem die Zuschauer, konkret die ‚Freunde‘ (philoi) und ‚Gefährten‘ (hetairoi) des Siegers, dem überragenden Erfolg bei den Spielen beigewohnt haben,13 beginnen sie, den Sieger in einem freude-
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Siehe die umfassende Auswertung der Zeugnisse in Neumann-Hartmann 2007 und Neumann-Hartmann 2009. Eines der Hauptmerkmale von speziell Pindars Epinikien ist (und macht sie für den vorliegenden Zweck so wertvoll), dass der Sprecher durchgängig selbstreflexiv über sich und sein Lob spricht und dessen Platz in Hinsicht auf den Sieger, die soziale Gemeinschaft, die Götter und die im Wettkampf Unterlegenen bestimmt. Siehe Bremer 1992, 391 f. und 401–412. Diese Rekonstruktion der generischen Aufführungssituation wurde im Detail entwickelt in Lattmann 2012 (mit weiterer Literatur); vgl. Lattmann 2017. Vgl. exempli gratia Pind. O. 9.1–8. Dazu, dass es sich um ‚Freunde‘ und ‚Gefährten‘ des Siegers handelt (und zwar auch als ‚Mitbürger‘), siehe Lattmann 2017, 137 f. Anm. 38.
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trunkenen Umzug (komos) spontan zu feiern;14 in ihrer Begeisterung begleiten sie ihn nach Hause, um den Sieg dort im Rahmen eines Gelages (symposion) zu feiern.15 Auf dem gesamten Weg singen sie spontane Preislieder auf den Sieger – ‚komos‘-Gesänge, ganz in Entsprechung zur originalen (das heißt auch in den Liedern selbst fassbaren) antiken Gattungsbezeichnung für Epinikien, nämlich enkomioi hymnoi (oder enkomia mele), das heißt ‚Lieder während des Festumzugs‘, implizit-selbstreflexiv gleichgesetzt mit dem jeweils in diesem Moment vom Sprecher gesungenen Lied, also dem (überlieferten, von Pindar beziehungsweise Bakchylides verfassten) Epinikion.16 Diese Abfolge von Ereignissen – Sieg, spontaner Umzug, improvisiertes Festmahl – ist partiell in jedem der überlieferten Epinikien repräsentiert und erweist sich als mit jedem Lied kompatibel.17 So scheinen wir einen detaillierten und sicheren Einblick in die aus der zeitgenössischen Binnenperspektive der Beteiligten als relevant erachteten Elemente der – auffallend homogenen und in ihrer Konstitution nicht-variablen – Institution von Siegerehrung und -preis im Falle eines sportlichen Sieges zu besitzen. Wir hätten eine erste Erkenntnis dazu gewonnen, wie sich die Gunst Dritter manifestierte, um die man im sportlichen Wettbewerb miteinander konkurrierte, zumindest für die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr.: Habituell, so scheint es, feierte man den Sieger öffentlich unter Singen von Preisliedern im Rahmen eines freudetrunkenen, ausgelassenen Umzugs, der direkt nach dem Sieg begann und sich schließlich in ein Festgelage im Haus des Siegers auflöste. Allerdings ist evident, dass die so rekonstruierte Sequenz von Ereignissen gerade bei den wichtigsten, für uns paradigmatischen Institutionen der sportlichen Konkurrenz der späten archaischen und klassischen Zeit, nämlich den panhellenischen Wettspielen Olympien, Pythien, Isthmien und Nemeen, so mit Sicherheit niemals hätte stattfinden können – und damit paradoxerweise gerade bei denjenigen Wettspielen nicht, für die fast alle der erhaltenen Epinikien von Pindar und Bakchylides verfasst wurden. Ja, dieser Einwand gilt sogar schon für die überregional bedeutenden Agone wie die Apollon-Spiele bei Sikyon auf der Peloponnes, bei denen der von Pindar in Nemee 9 gepriesene Sieger Chromios aus Aitnai auf Sizilien einen Sieg im Wagenrennen errungen hatte. Nicht einmal hier hätte schließlich ein Festumzug so wie vom 14 15 16
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Vgl. Pind. N. 9.1–3; zur Relevanz des komos siehe Lattmann 2012 (speziell 9–25) und Heath 1988; Morgan 1993; Neumann-Hartmann 2009, 125–127; Agócs 2012 und Eckerman 2012. Vgl. Pind. N. 1.19–24 und Pind. O. 1.17–23. Siehe Clay 1999 zur Relevanz des Symposions. Vgl. erneut Pind. N. 9.1–3, eindeutig aufgrund des selbstreflexiven Bezugs. Zur Bezeichnung des Epinikions als ‚komos-Gesang‘ (ἐγ-/ἐπικώμιος ὕμνος oder ἐγκώμιον μέλος; vgl. exempli gratia Pind. P. 10.53 und Pind. N. 8.50 beziehungsweise Pind. O. 2.47 und Pind. N. 1.7) siehe Harvey 1955, 163 f. und Agócs 2012, 194–198. Gleichwohl sind in keinem einzigen Lied alle Elemente zugleich repräsentiert. Abgesehen davon werden in einigen wenigen Fällen Modifikationen der Grundsituationen vorgenommen, die sich aber mit den zur Verfügung stehenden historischen Informationen transparent als durch die konkrete historische Situation bedingt erklären lassen. Siehe Lattmann 2012, speziell 44–64 mit Anmerkungen zu jedem der von Pindar und Bakchylides verfassten Epinikien.
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Sprecher explizit behauptet vom Ort der Festspiele zum Heimatort des Siegers ziehen können, und ganz bestimmt nicht in direktem Anschluss an den Sieg.18 Dasselbe Problem zeigt sich bei den so zahlreichen Liedern für sizilische, italische oder kyrenische Sieger, ja sogar schon für die Sieger von den Inseln wie Aigina. Und selbstverständlich stellt sich hiermit verbunden ein weiteres, grundlegendes Problem, das die Natur der überlieferten Epinikien selbst als literarischer Texte betrifft: Obwohl der Sprecher von Pindars Epinikien kundgibt, dass er die Gesänge während des komos auf dem Weg zum Haus des Siegers beim Singen selbst improvisiere, waren diese Lieder ja mit Sicherheit kaum tatsächlich spontane Lieder – sondern erweisen sich schon auf den ersten Blick als hochartifizielle, allem Anschein nach lange im Voraus gedichtete, kostspielige Kunstwerke, deren Aufführung von einem Chor über eine lange Dauer einstudiert und geprobt worden sein musste.19 Das Faktum der Überlieferung dieser Texte allein ist hierfür beredtes Zeugnis genug. Das Stichwort ‚Selbst-Charakterisierung‘ eröffnet allerdings einen Ausweg aus der Aporie, und zwar mit entscheidenden Einsichten in das Phänomen der Institutionalisierung von Konkurrenz im Bereich des Sports in der Archaik. Am Anfang steht die Feststellung, dass sich die in den Epinikien vorgenommene Charakterisierung der außertextlichen Situation aus transparenten Gründen nicht aus der historischen Aufführungssituation zur Zeit von Pindar und Bakchylides herausentwickelt haben konnte. Wenn man aber andererseits annimmt, dass die aufgezeigten innertextlichen Zusammenhänge tatsächlich in irgendeiner Weise mit der historischen Realität in Verbindung standen – und dies ist angesichts des festen Platzes frühgriechischer Lyrik im öffentlichen Raum mit ihrer sozial determinierten Funktion in Zusammenhang damit, dass es sich nicht um Buchliteratur handelte, sondern sich ihr Zweck primär in dieser einen Aufführung selbst erschöpfte, eine nicht nur naheliegende, sondern zwingende Annahme20 –, liegt die Vermutung nahe, dass die in den Epinikien repräsentierte Situation nicht direktes passives Abbild der außertextlichen Umstände der Aufführungssituation gewesen sein konnte, sondern dass wir diese vielmehr sowohl als Reflex der
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So unmissverständlich am betonten Anfang des Liedes (Pind. N. 9.1–3): „Ziehen wir im Festzug von Apollon aus Sikyon, Musen, / ins neugegründete Aitna, wo die Türen der Gastfreunde überwältigt offenstehen, / zum gesegneten Haus des Chromios“ (Κωμάσομεν παρ’ Ἀπόλλωνος Σικυωνόθε, Μοῖσαι, / τὰν νεοκτίσταν ἐς Αἴτναν, ἔνθ’ ἀναπεπταμέναι ξείνων νενίκανται θύραι, / ὄλβιον ἐς Χρομίου δῶμα). Zur Dimension des mit der Aufführung eines Epinikions verbundenen Aufwands siehe Currie 2011. Das Problem ergibt sich mutatis mutandis auch dann, wenn die Lieder nicht von einem Chor, sondern von Pindar selbst gesungen worden sein sollten; zur komplexen Debatte zum Agenten der Aufführung siehe Lattmann 2017, insbesondere 125–130 (mit 125 Anm. 4 für weitere Literatur). Siehe oben. Hiervon unbeschadet ist, dass ein späteres erneutes Singen oder Aufführen der Lieder sekundär nicht unbeabsichtigt war (ganz im Gegenteil); siehe für einen Einblick in die Debatte Currie 2004 und Hubbard 2004. Diese Wiederholungen waren von der Sache her aber niemals etwas anderes als Wiederholungen der ersten Aufführung in all ihren Dimensionen; ihr Zweck bestand primär gerade darin, eben diese erneut in Erinnerung zu holen.
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als auch als geronnene Erinnerung an die Entstehung der Gattung Epinikion deuten könnten. Konkret wäre, so die Hypothese, die Institution der Siegerehrung in den Epinikien in gerade derjenigen Form abgebildet, die sie zu derjenigen Zeit hatte, als öffentliche Siegerehrung in der Form von Preisgesängen – also der Ausdruck der Gunst derjenigen Dritten Instanz, um deren Wohlwollen im sportlichen Wettkampf konkurriert wurde – institutionalisiert wurde. Dies wäre weiter, wie sich als direkte Konsequenz aus der Hypothese in Verbindung mit dem aufgezeigten spezifischen Zuschnitt der Charakterisierung der Situation ergibt, gerade zu einer Zeit geschehen, als es sportliche Wettspiele weder als panhellenische Wettspiele (wie später die Olympien und Pythien) noch als lokale Wettspiele mit überregionalem Einzugsgebiet (wie die Spiele in Sikyon oder die Panathenäen) gab, sondern der sportliche Wettkampf ausschließlich auf lokale Wettspiele beschränkt war – das heißt Wettspiele, an denen nur die Mitglieder ein und derselben örtlichen sozialen Gemeinschaft miteinander konkurrierten, sei es exempli gratia wie in der Odyssee bei den Phaiaken im Rahmen eines Festessens (hier natürlich mit der transparenten, aber eben dadurch um so betonteren Ausnahme der Teilnahme des auswärtigen Gastes Odysseus), sei es wie in der Ilias zu Patroklos’ Ehren im Rahmen von Leichenspielen.21 Im Ergebnis läge in Pindars und Bakchylides’ Epinikien eine – wenn auch durch die Gattungsgeschichte bis in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. im Medium der Literatur vermittelte – Abbildung der Verhältnisse inmitten der archaischen Zeit vor, und zwar grob mit dem terminus ante quem des Beginns des 6. Jahrhunderts v. Chr., zumindest dann, wenn wir den traditionellen Daten zur Institutionalisierung der panhellenischen Wettspiele Glauben schenken, die diesen Prozess in den 580er bis 560er Jahren v. Chr. verorten.22 Wenn man vor diesem Hintergrund den Verweis am Beginn von Pindars Olympie 9 auf das Siegeslied des Archilochos ernst nimmt, von welchem der Sprecher sagt, dass man (wie ebenso er selbst?) es direkt nach dem Sieg des Ringers Epharmostos am Hügel des Kronos, also am Festspielort in Olympia, gesungen habe, sind wir in Hinsicht
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Siehe Hom. Od. 8.104–255 beziehungsweise Hom. Il. 23.257–897. Zum Charakter der zuletzt genannten Passage als ‚sportliche‘ Wettkämpfe und zu ihrer Bedeutung im Gesamten der Ilias siehe Ulf 2004, ebenso Scott 1998 aus einer mehr philologischen Perspektive. Man beachte Arlette Neumann-Hartmanns Beitrag in diesem Band. Für einen (skeptischen) Überblick siehe Davies 2007 sowie umfassend Ulf 1997a mit einem Fokus auf der Frühgeschichte. Bekanntlich liegen die genauen historischen Umstände im Dunkeln, zumal unsere Kenntnisse größtenteils auf späten, gemeinhin als unsicher bewerteten Zeugnissen beruhen; vgl. zur Problematik konzise Davies 2007, 52. Ein instruktives, wenn auch weiter zurückreichendes Beispiel ist die Gründung der Olympischen Spiele, für die das Jahr 776 v. Chr. aus verschiedenen Gründen in Zweifel gezogen wurde; für einen Einblick in die Diskussion siehe Instone 2007. Auch die ersten Zeugnisse für Gymnasien als Orte des Trainings datieren in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr.; siehe Mann 1998. Insgesamt zeigt sich im Sport ein klarer Bruch zum 7. Jahrhundert v. Chr., wie etwa Christesen 2007 herausarbeitet; vgl. Aloni 2012.
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auf den Beginn dieser Tradition sogar auf die frühe archaische Epoche zurückverwiesen, konkret die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr.:23 Das Lied des Archilochos, schallend in Olympia, das Siegeslied, das dreifach anschwellende, genügte Epharmostos, um am Kronoshügel den Weg zu weisen, als er im Festzug mit seinen Freunden und Gefährten umherzog.24
Die Passage impliziert eine als spontane Freudenbekundung von Freunden und Gefährten (4: φίλοις […] σὺν ἑταίροις) im Rahmen eines komos-Umzugs unter Einschluss des Siegers (4: κωμάζοντι […] Ἐφαρμόστῳ) institutionalisierte primitive Siegerehrung in Olympia (und per Implikation bei sportlichen Wettspielen im Allgemeinen) – während deren ein einfaches kurzes Lied gesungen wurde (es „genügte“ [ἄρκεσε] ja dort in Olympia), das von Archilochos gedichtet worden war, möglicherweise beginnend mit τήνελλα καλλίνικος (oder καλλίνικε), und zwar als direkter, spontaner Jubel über den schönen Sieg (oder den schönen Sieger?) in Verbindung mit einem Verweis auf Herakles, wohl in dessen Funktion als Prototyp des Athleten.25 In diesem Sinn handelt die Passage nicht nur davon, was der Sprecher von Olympie 9 direkt nach Epharmostos’ Sieg gemacht hat, sondern indirekt wird in der Rückschau aus dem Epinikion selbst heraus die angesprochene, in spezifischer Weise institutionalisierte (und als solche gegebenenfalls als Teil des Rituals noch immer praktizierte) einfache Form des Siegerpreises für die frühere Zeit behauptet, das heißt angesichts des Verweises auf Archilochos als Urheber des Liedes die frühe Archaik. Die Passage wirft aber nicht nur Licht auf die fernen, archaischen Ursprünge der Institution der Siegerehrung. In ihrer direkten Fortführung gewinnen wir auch einen Einblick in die historische Dynamik bis in die frühe Klassik. Der einfache, an Olympia gebundene, auf die Tradition zurückgeführte und also in seiner Institutionalisierung in die Vergangenheit weisende altertümlich-primitive Siegpreis mit spontanem komos und Singen des Archilochos-Liedes wird nämlich – jenseits von und zusätzlich zu der implizierten Funktion in der jetzigen Siegerehrung für Epharmostos mit der Verortung im Olympia des Hier und Jetzt als Aktualisierung der Tradition – selbstbewusst mit der gegenwärtigen Ehrung des Siegers kontrastiert, das heißt dem während der gerade begangenen Aufführung gesungenen, von Pindar verfassten hochartifiziellen Epi23 24 25
Die genauen zeitlichen Verhältnisse sind unklar, doch lässt sich das Wirken des Archilochos ungefähr auf 680–640 v. Chr. datieren; siehe Jacoby 1941. Pind. O. 9.1–4: Τὸ μὲν Ἀρχιλόχου μέλος / φωνᾶεν Ὀλυμπίᾳ, καλλίνικος ὁ τριπλόος κεχλαδώς, / ἄρκεσε Κρόνιον παρ’ ὄχθον ἁγεμονεῦσαι / κωμάζοντι φίλοις Ἐφαρμόστῳ σὺν ἑταίροις. Zur kontrovers diskutierten Rekonstruktion des Liedes siehe Gerber 2002, 21–23 (mit weiterer Literatur); die Quelle ist Σ Pind. O. 9.1 mit mehreren Varianten; man beachte aus jüngerer Zeit Pavlou 2008, 541–545 und Pelliccia 2009, 253–256. Siehe auch Fuhrer 1993, 89 und vgl. Aristoph. Ach. 1227–1229.
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nikion. Schließlich wird diese Aussage von dessen Sprecher selbst getan, und zwar als Teil von Olympie 9 selbst. Der jetzige Preis von Sieg und Sieger (das heißt das gesamte Epinikion) wird hierdurch nicht nur ausdrücklich fernab von Olympia lokalisiert, sondern als integraler Teil der gegenwärtigen Siegesfeier („aber jetzt“: ἀλλὰ νῦν [5]) als künstlerisch weit über dem altertümlichen Preis des Siegers stehend charakterisiert: Aber jetzt weise Zeus, den rotblitzigen, und den heiligen Vorsprung von Elis derartigen Geschossen von den ferntreffenden Bögen der Musen zu […].26
Aus der Gesamtheit der kontrastierenden Juxtaposition von Lied, Ort und Zeit ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung: Nicht nur scheint schon in der Frühzeit eine, wenn auch informell-habitualisiert institutionalisierte Form der Siegerehrung existiert zu haben, sondern deren konkrete Ausgestaltung scheint sich auch im Laufe der Zeit radikal geändert zu haben – und diese Veränderung sich weiter in der kollektiven Erinnerung erhalten zu haben, und zwar als ein in dem der Klassik entstammenden Epinikion entgegentretendes Bewusstsein der Gattungsgeschichte durch eine Erinnerung an Anfangs- (Archaik zur Zeit des Archilochos oder später) und Endzustand (mehr oder weniger kurz vor der Gegenwart, das heißt irgendwann vor der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts) des dynamischen Prozesses der Institutionalisierung. Historisch hätte sich zuerst eine spezifische, von der Sache her bei einem lokalen Wettkampf naheliegende Art und Weise der Siegerehrung – Sieg, freudetrunkener Feierumzug von der Siegesörtlichkeit zum Haus des Siegers, anschließende Symposionsfeier dort – institutionalisiert, so dass diese Form der Siegerehrung von diesem Zeitpunkt an im Sinn einer Eigengültigkeit durch Habituation als fester, normativer Bezugsrahmen dessen etabliert war, was man denn eben so machte, wenn man einen sportlichen Sieg feierte. Nicht nur war damit die spezifische Tradition der Siegerehrung geboren, sondern in Verbindung mit der hoch religiösen Bedeutung des Sports und in entsprechender Weise seiner Lobpreisung als integralen Teils der religiösen Dimension hätte sich ein stabiler semantischer Bezugsrahmen ergeben, der aus der Binnenperspektive des Rituals von nun an bei jedem einzelnen Akt der Ehrung eines sportlichen Erfolgs zwingend beibehalten werden musste.27 Die Siegerehrung wäre andernfalls keine Siegerehrung mehr gewesen, und so wären auch die in ihrem Rahmen ausgeführten 26 27
Pind. O. 9.5–8: ἀλλὰ νῦν ἑκαταβόλων Μοισᾶν ἀπὸ τόξων / Δία τε φοινικοστερόπαν σεμνόν τ’ ἐπίνειμαι / ἀκρωτήριον Ἄλιδος / τοιοῖσδε βέλεσσιν, […]. Die religiöse Bedeutung manifestiert sich ja schon ganz äußerlich darin, dass der insbesondere panhellenische Sport intrikat mit religiösen Orten und Festen verbunden war; vgl. Davies 2007 und Pemberton 2000; siehe auch Ulf 1997a. Gleichwohl siehe für eine skeptische Sicht aus jüngerer Zeit Petermandl 2017 mit einer Bestimmung des religiösen Rahmens als nur äußerlich; die Spiele selbst hätten keine kultische Bedeutung gehabt. Hiergegen steht aber zumindest die dort nicht berücksichtigte Binnenperspektive der überlieferten Epinikien.
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Handlungen nicht mehr das religiös geforderte Ritual gewesen, so dass man seiner religiösen Verpflichtung gegenüber dem Sieger (und also auch gegenüber den über diese wachenden Göttern) nicht nachgekommen wäre.28 Die sich einstellende Eigengültigkeit war dabei allem Anschein nach so stark, dass das Ritual aus der Binnenperspektive auch dann aufrechterhalten werden musste, als die äußeren Umstände sich so drastisch geändert hatten, dass das Ritual faktisch nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Konkret war dies gerade dann der Fall, als man begann, sportliche Siege nicht mehr nur im lokalen Wettkampf zu erringen, sondern auch mit Mitgliedern ortsfremder sozialer Gruppen in einem regionalen oder sogar panhellenischen Rahmen zu konkurrieren.29 Im Ergebnis wurde das einmal eingeführte Ritual als Invariante betrachtet und in seiner Sinnstruktur – mit dem Kern des öffentlichen Ausdrucks der neidlosen Freude und Anerkennung durch Freunde und Gefährten des Siegers – beibehalten, während sich die historischen Handlungen, die im Rahmen dieses Rituals vollzogen wurden, grundlegend geändert hatten, aber zugleich aufgrund der Eigengültigkeit zwingend als direkter Vollzug des ursprünglichen Rituals gedeutet werden mussten. Bemerkenswert ist, dass uns gerade diese Situation in Pindars und Bakchylides’ Epinikien begegnet – und vielleicht noch mehr, dass es allem Anschein nach gerade das Epinikion war, das als im Singen geäußerter Text als das semantische Bindeglied zwischen der historischen (und als solche als faktische Handlung wiederum sekundär institutionalisierten) Situation in frühklassischer Zeit und dem archetypischen, auf die Archaik zurückweisenden und in jener Zeit institutionalisierten ursprünglichen Ritual fungierte. Konkret fassbar ist die intendiert-selbstreflexive Gleichsetzung ja transparent schon am oben zitierten Anfang von Olympie 9 mit der explizit-kontrastiven Juxtaposition beider Zeitebenen. Die Deutung der zum Zeitpunkt der historischen Aufführung des frühklassischen Epinikions bestehenden außertextlichen Realität im Sinn der ursprünglichen, archaischen Institution der Siegerehrung durch das Epinikion ist aber evident kontrafaktisch: Historisch war, so ist aus den gemachten Beobachtungen zu erschließen, in der Zwischenzeit aus dem spontanen Umzug mit privatem (oder semiprivatem, das heißt im
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Zum Lobpreis als ‚Verpflichtung‘ vgl. exempli gratia Pind. O. 1.100–103; Pind. O. 8.74–76; Pind. P. 4.1–3; Pind. I. 3/4.7 f. Die Unterschiede zwischen den letzten beiden Optionen sind für die hier gemachten Punkte nicht weiter relevant, auch wenn sich natürlich potentiell eine Verfeinerung der Datierung der historischen Prozesse im Detail ergäbe. In jedem Fall ist festzustellen, dass ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr nur lokal konkurriert wurde, auch wenn auch hier die chronologischen Details umstritten sind. Ein instruktives Zeugnis sind (bei all ihrer Problematik) die traditionellen Gründungsdaten der panhellenischen Spiele zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. Auch die sich den Zeugnissen zufolge zur gleichen Zeit in diesem Sinn vollziehende Reorganisation der Olympischen Spiele passt in ein Bild, das diesen Wettkampf für die Anfangszeit nur als lokalen Wettkampf bestimmt. Siehe zu den Details oben, besonders Anm. 22.
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Bereich von Hetairie oder Familie und/oder genos begangenem)30 Symposium (wohl) ein kurzer spontaner Umzug vor Ort (etwa in Olympia) geworden (mit oder ohne Archilochos-Lied oder Äquivalent), gefolgt (und unterbrochen) von einer längeren und beschwerlichen Reise der Festgesandtschaft der polis (das heißt einer theoria)31 nach Hause und dort einer (möglicherweise den komos am Festspielort sachlich aufnehmenden) feierlichen, lange im Voraus geplanten förmlichen Prozession unter Aufführung von professionell (von Pindar, Bakchylides etc.) komponierten Siegesliedern (durch einen Chor, entweder aus Mitbürgern oder professionellen Sängern?) mit Einzug in die Heimatstadt (nämlich als offiziellem Empfang zurück vom Wettkampfort) und einem festlichen allgemeinen Symposion zum Ausdruck der Freude, gefeiert in einem öffentlichen Bankettsaal (?) als Feier der gesamten polis.32 Erst in einem solcherart gewandelten historischen Rahmen war freilich überhaupt so etwas wie ein Epinikion als ein im Voraus individuell für einen Sieger und seinen Sieg gedichtetes (und eben nicht tatsächlich spontan dargebotenes und/oder generisch-vorgefertigtes) Lied faktisch möglich geworden. So ergäbe sich eine zwanglose Erklärung dafür, warum der erste bekannte Dichter eines Epinikions im eigentlichen Sinn Ibykos gewesen zu sein scheint – also ein Dichter, der in der für die herausgearbeiteten historischen Prozesse entscheidenden Phase der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. wirkte.33 Erst jetzt hatte ein Dichter hinreichend Zeit und Muße, ein jeweils neues Lied für und auf einen individuellen Sieger und seinen Sieg zu komponieren. Das Epinikion – und hier gelangen wir zum Kern seines Charakters als Institution und ebenso zu den zentralen hermeneutischen Parametern seines Verständnisses – bildet folglich die außertextliche historische Wirklichkeit nicht direkt, unverfälschend ab, das heißt gewissermaßen nach Art einer im Medium des Liedes dargebrachten Photographie. Sein primärer Zweck ist ein anderer als der der passiven Abbildung: Das Epinikion diente der aktiven Deutung der sich evident anders darbietenden gegenwärtigen Gegebenheiten im Sinn der allerersten Institutionalisierung einer Siegerehrung – und zwar aus der Perspektive derjenigen, die damals als erste (und also in der Zeit des Archilochos?) durch ihre Handlungen implizit bestimmt hatten, was man 30 31 32
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Wir haben zahlreiche Verweise auf die Familien der Sieger in den Epinikien; für Pindar siehe Lattmann 2010, 76 Anm. 251; man beachte Pind. P. 10.64–66. Die Mitglieder des komos sind oftmals ‚Fremde‘, das heißt ‚Gastfreunde‘ (xenoi); siehe Lattmann 2017, 137 Anm. 38. Zu solchen Festgesandtschaften siehe Rutherford 2004 und umfassend Rutherford 2013. Oder der Prytanie-Hetairie, gegebenenfalls als temporärer Repräsentantin der polis: vgl. Erich Kistlers Beitrag in diesem Sammelband. Auf der Inhaltsebene wäre dieser Unterschied aber unerheblich, zumal generell auch mit der Möglichkeit abweichender Umsetzungen des Rituals aufgrund der spezifischen politischen Verfasstheit der jeweiligen polis zu rechnen wäre. Im Übrigen schließt die hier explizierte Rekonstruktion aus, dass manche der überlieferten Epinikien noch unmittelbar am Festspielort aufgeführt worden sein könnten; so bekanntlich Gelzer 1985 und Bagordo 1995/6; für eine skeptische Position vgl. neben Lattmann 2012 auch Eckerman 2012. Siehe oben Anm. 7. Zur Datierung von Ibykos siehe Woodbury 1985, 206–220 (mit Verteidigung des Datums der 54. Olympiade [564–560 v. Chr.] für den Aufenthalt auf Samos).
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denn eben so macht, wenn man einen Sieger feiert und ehrt. Im Ergebnis wird die neue Art und Weise der Siegerehrung durch das Epinikion zur ursprünglichen, und zwar gerade dadurch, dass es dem institutionalisierten Ausdruck der historisch ursprünglichen und dann rituell archetypischen Handlung dient. Die rituelle Semantik hatte folglich prinzipiell den Vorrang vor der historischen Faktizität. In eben dieser Differenz liegt der Kern von frühgriechischer Dichtung und hier speziell des Epinikions als Deutung und Aneignung von ‚Realität‘. Und nehmen wir aus dieser Perspektive speziell Pindars Olympie 9 mit ihrer pointierten Kontrastierung von Ursprung und Gegenwart als Referenzpunkt, war diese Überwindung der Diskrepanz von Binnenperspektive und Außenrealität im Ritual sogar eine bewusste Dimension der religiösen Handlung: In schroffer Juxtaposition setzte man die ursprüngliche Institution in ihrer neuen, den geänderten Gegebenheiten angepassten Form fort, indem man sie trotz der oberflächlich bestehenden und im Vollzug der Handlung für jeden transparenten Unvereinbarkeit explizit als funktions- und sinnäquivalente Aktualisierung der einmal in der Vergangenheit institutionalisierten Form deutete.34 Konkurrenz und Institutionalisierung in Lob und Sport Im zweiten Teil dieser Fallstudie möchte ich unter Aufnahme der in der Einleitung des Sammelbandes entfalteten Kategorien relevante Implikationen in Hinsicht auf die Phänomene von Konkurrenz und Institutionalisierung explizieren, die sich aus den so weit gemachten Beobachtungen ergeben. Sie betreffen sowohl das Epinikion als auch den zugrundeliegenden Sport als seinerseits streng institutionalisierten Ausdruck von Konkurrenz. Alle Punkte sind eine mehr oder weniger direkte Folge aus der skizzierten grundlegenden Verfasstheit der Epinikien als typische frühgriechische Dichtung mit einem wohldefinierten ‚Sitz im Leben‘ und ihrem spezifischen Charakter als genuiner institutionalisierter Ausdruck von Institutionalisierung. Ich möchte diese Betrachtungen mit der Frage beginnen, welche Form von Konkurrenz uns denn überhaupt im Epinikion entgegentritt. Augenscheinlich liegt Konkurrenz in den überlieferten, von Pindar und Bakchylides verfassten Epinikien ja in
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Auf dieser Linie einer Aufnahme und hierdurch Bewahrung der Tradition der Institution des Epinikions durch ausdrückliches Aufzeigen der Andersartigkeit des Jetzt-Zustands im Vergleich zum Ursprungs-Zustand ließen sich auch so vieldiskutierte Stellen wie Pind. I. 2.1–17 besser verstehen: Weit davon entfernt, eine Kritik zeitgenössischer Epinikiendichtung im Sinne einer ‚geldgierigen Muse‘ zu sein, wird die Feststellung der Differenz gerade zur emphatischen Affirmierung der Gattungskontinuität genutzt, nämlich insofern ein evident ins Auge fallender Unterschied pointiert in der (das heißt als zeitgenössische, aber zweckäquivalente Form der) Tradition der Institution selbst verortet wird, und zwar derart, dass jeder Anschein eines Widerspruchs, dass die Tradition eben nicht fortgesetzt würde, fortgenommen wird. Zur Stelle vgl. aus anderer, aber komplementärer Perspektive exempli gratia Cairns 2011.
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zweierlei Form vor, und beide Formen zeigen eine jeweils spezifische, wenn auch nicht gänzlich andersgeartete Eigengesetzlichkeit: Auf der einen Seite steht die sportliche Konkurrenz zwischen den Teilnehmern des Wettkampfs selbst; diese manifestiert sich primär im Inhalt des Epinikions, nämlich im weitesten Sinn als Gegenstand der Lobpreisung durch den Sprecher. Auf der anderen Seite fungiert als ein integraler Bestandteil des Epinikions zugleich eine hiervon getrennte Form von Konkurrenz, nämlich im Bereich des Lobenden, und zwar bezogen auf den eigentlichen Siegpreis, das heißt mit anderen Worten den Ausdruck derjenigen Gunst, um die von den sportlichen Wettkämpfern in objektiv-historischer Hinsicht primär konkurriert wurde (zu einer notwendigen Differenzierung aus der Binnenperspektive der Epinikien unten mehr). Beide Formen der Konkurrenz sind im Epinikion auf intrikate Weise miteinander verwoben. Werfen wir zuerst einen Blick auf die Konkurrenz im Sport, das heißt die sachlich für die Gattung konstitutive, da durch den eigentlichen Anlass der Lieder primär bedingte Form der Konkurrenz. Wenn man die Anmerkungen im Epinikien-Corpus zusammennimmt, ergibt sich im Großen und Ganzen das folgende Bild: Die Konkurrenz im Sport entfaltet sich auf der sachlichen Grundlage des ‚Wuchses‘ (phya) der Wettkämpfer und/oder ihres ‚Reichtums‘ (ploutos), Letzteres vor allem im Pferdesport; zusammengenommen ist dies die Grundlage der ‚Tugend‘ oder vielleicht besser ‚Exzellenz‘ oder ‚Gutheit‘ (areta).35 Diese besitzt der Wettkämpfer aufgrund seiner Abstammung, und zwar als Mitglied einer Familie (eines genos, das heißt oftmals eben explizit eines -idai-/-adai-Clans), die ihre Abstammung auf einen Heros und hierüber auf einen göttlichen Vorfahren zurückführt.36 Der Wettkämpfer ist also im Prinzip qua Abstammung Angehöriger der ‚Elite‘, der (zumindest im Selbstverständnis) ‚Aristo‘-kratie im Sinn einer ‚Herrschaft der Besten‘ – was aber, das sei schon jetzt gesagt, in der Umkehrung bezeichnenderweise gerade nicht heißt, dass nicht prinzipiell auch Nicht-Mitglieder der (formal derart definierten) Elite am sportlichen Wettkampf hätten teilnehmen und sogar Sieger hätten werden können: Fehlte die durch die Zugehörigkeit zu einem sich auf einen Heros zurückführenden Familienverband offiziell schon im Vorfeld beglaubigte göttliche Abstammung, konnte gerade ein sportlicher Sieg, also der aktive Beweis in der Konkurrenz, hier im Sportlichen und/oder im Reichtum (also zusammengenommen der Summe der im Wettkampf in jedem Sieg aufgezeigten areta der Elite), erweisen, dass der Sieger zur herrschenden Klasse gehören, mithin Einfluss und Macht im Politischen haben können durfte; denn der Sieg zeigte ja gerade, dass, wie man in der Folge annehmen durfte (und es bei einigen
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Zum ‚Wuchs‘ vgl. exempli gratia Pind. O. 9.100; Pind. P. 8.44 f.; Pind. N. 7.54 f. und Pind. I. 7.22; zum ‚Reichtum‘ Pind. O. 2.53–56; Pind. P. 2.56; Pind. P. 5.1–4 und Pind. P. 6.44–49; zum Zusammenhang mit der areta Pind. O. 2.53–56; Pind. O. 9.100–102 und Pind. I. 7.22. Zur areta siehe auch Fränkel 1962, 613–615. Für einen Überblick für Pindar siehe Lattmann 2010, 76 Anm. 251. Zu den -idai-/-adai-Clans siehe exempli gratia Möller 1996 und Duplouy 2015 für die politische Dimension.
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Athleten auch in der Tat explizit bezeugt ist), eben doch ein Gott Vater des Siegers gewesen sein musste.37 Insgesamt (das heißt abgesehen von diesen, wenn auch nicht seltenen Grenzfällen, die freilich auf die immense soziale Bedeutung der Konkurrenz im Bereich des Sports verweisen) liegt ein Fall von Institutionalisierung gegen Konkurrenz vor: Griechischer Sport erweist sich, zumindest soweit es sich aus den Epinikien bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ergibt, als genuin aristokratisches, das heißt Eliten-Phänomen – und dies spiegelt sich in den Umständen, die seine Ausführung bedingten, denn offenkundig konnten sich im Regelfall nur diejenigen leisten, überhaupt am Wettbewerb teilzunehmen, die sich dem notwendigen Training widmen und also über Monate abkömmlich sein beziehungsweise die immensen Kosten von Pferdehaltung und Logistik der Reise zu den Wettspielorten schultern konnten, die also über hinreichende finanzielle und sonstige Mittel verfügten, gerade auch in der (im spezifischen Kontext eben nicht ohne Grund) prestigereichsten Disziplin, dem Pferdesport.38 So erklären sich die entscheidenden Parameter der sportlichen Konkurrenz, nämlich im Rahmen einer spezifischen Disziplin gezeigte partielle Stärke des Körpers sowie als Voraussetzung und/oder Bedingung hierfür der Reichtum. Der Sport als Institution war mithin nicht geronnener Ausdruck einer bloßen, zweckfreien Konkurrenz (‚des Agonalen‘ in einem traditionellen Verständnis),39 sondern diente dem genuin praktischen Zweck der Zurschaustellung – und angesichts der spezifischen sich aus der Sache selbst ergebenden Zusammenhänge sekundär zugleich 37
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Bekanntes Beispiel ist Diagoras von Rhodos, der laut Σ Pind. O. 7 inscr c Sohn von Hermes oder Herakles war (zur politischen Dimension, auch in Hinsicht auf die Nachkommenschaft, vgl. Nicholson 2018, der sich freilich in Hinsicht auf den Status des Diagoras als Heros skeptischer zeigt); vgl. instruktiv Glaukos von Karystos als Sohn des Seegottes Glaukos (Paus. 6.10.1–3) sowie vor allem Theagenes von Thasos als Sohn des Herakles (Paus. 6.11.2–9), den eine auf einem als Opferbox genutzten Marmorblock angebrachte, auf Thasos gefundene Inschrift als kultisch zu verehrenden Heros auswies; siehe für das archäologische Zeugnis und den Text Martin 1940/1, 175–193. Entsprechende sachliche Zusammenhänge unterliegen den Heroisierungen von erfolgreichen Athleten insgesamt; siehe grundlegend Currie 2005, 120–157; auch Fontenrose 1968; Boehringer 1996; Bentz/Mann 2001 und Currie 2002 (speziell zu Euthymos aus Lokroi); vgl. Lattmann 2010 mit fünf Fallstudien für die Zeit Pindars (siehe 73 f. für weitere historische Beispiele). Instruktiv ist Pindars Nemee 1, in der im Mythos Herakles als Sohn von göttlichem und menschlichem Vater dargestellt ist, mit der Pointe, dass er durch seine als sportliche Erfolge gedeuteten Errungenschaften als Heros (unter anderem die Hilfe in der Schlacht gegen die Giganten) mit dem Tod seine Menschlichkeit transzendiert und durch die Heirat mit ‚Jugend‘ (Hebe) in die Götterwelt eingeführt wird. Diese Zusammenhänge können hier nicht im Detail entfaltet werden. Insgesamt wird aber auch aus dieser Perspektive deutlich, dass das Konzept der griechischen Elite natürlich anderer Natur war als das des nachantiken ‚Adels‘. Man beachte instruktiv Papakonstantinou 2014b zur Bedeutung des Sports in der Selbstinszenierung der Elite in archaischer und klassischer Zeit; siehe auch Papakonstantinou 2018 für die frühklassische Zeit sowie Mann 2001 und Nicholson 2005. Das eben in einem herkömmlichen Verständnis tatsächlich romantisierend insbesondere die Vorstellungswelt des englischen Sports des 19. Jahrhunderts n. Chr. aufnimmt und auf die antiken Griechen zurückprojiziert; siehe Ulf 2011 und vgl. oben Anm. 1.
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dem weiteren Erwerb und der Ausübung – von politischem Einfluss und Macht, und zwar direkt in den auch hier entscheidenden Parametern von materiellem Besitz und göttlicher Sanktionierung des Erfolgs. Sport ist kein sachfremdes Substitut, sondern idealisiertes Destillat des Kampfes um Macht und Einfluss.40 Gleichwohl zeigen sich die beiden Bereiche des Sportlichen und Politischen als an der Oberfläche kategorial getrennte soziale Institutionen, die anderen Regeln folgen und sich in diesem Sinn in einer Institutionenkonkurrenz zueinander befinden – in welcher der Sport aufgrund seiner unabdingbar religiösen Einbettung und des Umstands, dass sich in ihm die Parameter der sich unter dem im Großen und Ganzen selben Teilnehmerfeld vollziehenden Konkurrenz eben am kondensiertesten verkörperten, die höhere Wertigkeit zukam, zumindest in Hinsicht auf die legitimierende Funktion. In diesem Sinn beweist der sportliche Wettkämpfer (sowohl in den athletischen als auch in den hippischen Disziplinen) im Sieg seine Exzellenz (areta) gerade dadurch, dass er andere direkt und vollständig besiegt. Ziel ist nicht der Aufweis, dass man die relevanten Spielregeln kunstvoll beherrscht (in der Tat gab es bezeichnenderweise ja nur eine Handvoll, grundsätzlich-allgemeine Regeln), sondern die Demonstration schierer, brutaler Dominanz – und zwar in transparent (politisch-)legitimatorischer Absicht in Hinsicht darauf, was die Götter (als erste Ahnen) einem individuellen Menschen durch Geburt mitgegeben haben, also insbesondere den ‚körperlichen Wuchs‘ (phya):41 Man zeigt, dass man der (wohlgemerkt: alleinige – es gab in der Regel ja keine zweiten Plätze)42 Beste ist in Hinsicht auf etwa die Beine im Laufen, die Hände im Boxen, die Arme im Ringen, alle Gliedmaßen im Pankration – und den Reichtum und die gesamte moralische Persönlichkeit vor allem im Pferdesport.43 Dieser Überlegenheit kam im historischen Kontext eine hohe, wenn nicht zentrale Signifikanz im sozialen Miteinander, konkret im Gesellschaftlich-Politischen, zu, wo es die eigene Prestige- und Machtstellung legitimierte. Und es ist gerade dies, was in objektiver, historischer Hinsicht als die spezifische Gunst Dritter – nämlich der Beherrschten, das heißt der einfachen sowie der anderen der Elite angehörigen Mit-
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Nicht ohne Grund stehen sich die Sphären von Wettkampf und Krieg in den Epinikien so nahe, auch angesichts der expliziten Parallelisierung durch speziell Pindar: siehe für einen Überblick Crowther 1999; vgl. Bentz 2005 für die bildende Kunst, der freilich für die Hochklassik und wohlgemerkt insbesondere die Zeit nach der Blüte des Epinikions eine deutliche Abnahme der Brutalität der Darstellung feststellt. Insofern ist natürlich von entscheidender Bedeutung, dass man den Sieg fair und nicht durch Betrug erringt. Instruktiv sind die Konflikte im Rahmen der Leichenspiele für Patroklos in der Ilias; siehe hierzu Dickie 1984. Crowther 1992 sammelt die Ausnahmen, welche aber in der Summe dann doch das allgemeine, vor allem aus Pindar bekannte Bild bestätigen; vgl. Segal 1984. Zum letzten Aspekt vgl. Pindars Olympie 1 zu Hieron von Syrakus, insbesondere 103–105; vgl. zu Pindars direktem Lob Hierons als eines Siegers und Herrschers die Übersicht bei Mann 2013, 28– 32.
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glieder der polis – gelten darf, um die man als Mitglied der Elite im Sport letztlich miteinander konkurrierte.44 Aus der subjektiven Sicht der Beteiligten manifestiert sich die Überlegenheit der Sieger – und damit sekundär und äquivalent ihr Prestige – jedoch nicht so sehr direkt im Beherrscht-Werden und der direkten Legitimation von Einfluss und Macht (das heißt unmittelbar in der Gunst dieser Menschen als der objektiven relevanten Dritten Instanz der Konkurrenz), sondern zuerst einmal nur ganz konkret im sogenannten kydos, das der Sieger in verschieden starkem Maße in Abhängigkeit von der relativen Wichtigkeit von Wettkampfort, Disziplin und Altersklasse erwarb. Dieses kydos ist (zumindest gegen Ende der Archaik und zu Beginn der Klassik) weniger als bloßes ‚Ansehen‘ zu verstehen, sondern galt als genuin göttlich-magische Kraft, die den Sieger zu einem übermenschlichen Lebewesen werden ließ, das nach seinem Tod als Heros religiös zu verehren war, mithin in gewissem Sinn göttlich-unsterblich geworden war.45 Die in der sportlichen Konkurrenz eigentlich umworbene Gunst von Dritten – soziales Prestige, konkret ausgedrückt unter anderem im Lobpreis des Epinikions – wurde aus dieser Perspektive objektiviert und als solche aus der Verfügungsgewalt dieser Dritten Instanz in den Bereich des Göttlichen, Ewigen projiziert – und zwar offenkundig mit dem Zweck der objektivierenden Legitimation: Gunsterweis der Nicht-Konkurrenten, einfachen Menschen (das heißt Zuschauer und speziell Bürger der polis) ebenso wie der potentiellen Mit-Konkurrenten, das heißt der Angehörigen der Elite, liegt nicht in ihrer eigenen Entscheidungsgewalt, sondern wird ihnen im Ergebnis entzogen und zu einer religiösen Pflicht, deren Befolgen notwendig ist, um kein Sakrileg zu begehen und die göttliche Ordnung der Welt zu bewahren.46 44
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Hier könnte sich eine im zeitlichen Verlauf wandelnde Situation in Hinsicht auf die konkrete Dritte Instanz zeigen, wenn wir den beschriebenen Sachverhalt mit der Ilias vergleichen: Papakonstantinou 2002 zeigt, dass „athletic prizes perform during the funeral games of Patroclus a function analogous to gifts exchanged during an aristocratic xenia occasion“ (60); vgl. Scanlon 2018. Nehmen wir dies in Verbindung damit, dass die Zuschauerschaft durchgehend in der Tat reine Zuschauerschaft ist und nur passiv den Kämpfen beiwohnt und also als bloße Erweiterung des Kämpfenden fungiert (siehe Mann 1998, 15–18), ernst, liegt der Schluss nahe, dass bei Homer die Dritte Instanz weniger die polis-Gemeinschaft (oder Kampf-Hetairie) ist, sondern die Elite-peers, und zwar dahingehend, dass der Kampf stellvertretend um den Platz in der Hierarchie geführt wird, aber allein in den Augen eben dieser Gruppe, die als ‚Elite‘ für die Gewährung des jeweiligen Status alleine zuständig ist, repräsentiert durch den gleichfalls der Elite angehörigen Agonotheten Achilleus. Diese Verschiebung und/oder Erweiterung wäre signifikant und würde den Grund für das Aufkommen einer öffentlichen, dezidiert auf die polis bezogenen Gattung wie des Epinikions transparent machen. Siehe Kurke 1993. Vgl. die heroischen Ehren, die Pindars Olympie 1 zufolge Pelops aufgrund seines (aitiologischen) mythischen Sieges im Wagenrennen zuteilwurden (insbesondere 86b–96). Zum herkömmlichen Verständnis von kydos vgl. LSJ s v („glory, renown“); hiergegen wendet sich schon Fränkel 1962, 88 (kydos sei „die Eigenschaft Erfolg zu haben und als Sieger hervorzugehn“; „die traditionelle Wiedergabe mit ‚Ruhm‘ ist falsch“). Aus dieser Verfasstheit der Epinikien in Verbindung mit der wie oben rekonstruierten öffentlichen Aufführungssituation ergibt sich, dass diese Perspektive von allen an der Aufführung beteiligten
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So ist aus der (sekundär im Epinikion Ausdruck findenden und eben hierüber rekonstruierten) Binnenperspektive des Sports das kydos der eigentliche Preis der sportlichen Konkurrenz, und die Instanz, um deren Gunst in dieser Projektion miteinander gekämpft wird, sind die Götter.47 Im Nachhinein – und dies ist eine der entscheidenden, in der archaischen Welt der aristokratischen Elite verankerten Pointen dieser traditionellen Konzeption von Sport – stand das Ergebnis des Wettkampfs allerdings immer schon von vornherein fest, wird also im und durch den Sieg nur beglaubigt. Ist doch die areta etwas, das man als Teil der phya durch Geschenk der Götter mit der Geburt besitzt, allenfalls bisher nicht gänzlich aktualisiert, da noch nicht gezeigt hat. Gerade dies wäre freilich die spezifische Leistung, die im konkreten Wettkampf zu vollbringen war, nämlich der Aufweis der eigenen, potentiell immer schon vorhandenen, seit Geburt vorhandenen Exzellenz. Über diesen Aufweis wurde man in der Tat des Siegpreises, das heißt des kydos würdig, und dieses kydos verlieh – zumindest am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. und zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. – quasi-göttliche Macht im Jenseits wie im Diesseits.48 So viel zu den Grundparametern der sportlichen Konkurrenz, wie sie sich in den Epinikien in der Binnendimension zeigt. Evident weist diese einen stark institutionalisierten Charakter auf, und zwar sowohl in Hinsicht auf eine Institutionalisierung durch Konkurrenz als auch in Hinsicht auf eine Institutionalisierung gegen Konkurrenz: Eine Institutionalisierung durch Konkurrenz liegt erstens in der geschichtlichen Herausbildung des Sports selbst sowie in seiner Binnendifferenzierung vor. Der griechische
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Personen, das heißt im Prinzip der gesamten polis, grundsätzlich geteilt worden sein musste, ja: als Teil der religiösen Pflicht eines jeden Bürgers gelten musste. Insoweit wäre es aus der Binnensicht (sc wie sie im Epinikion Ausdruck findet) nicht nötig, ja: nicht einmal möglich, mittels des Liedes zu versuchen, „to reintegrate the isolated and exceptional victor back into his various communities – his household, his city, and the Panhellenic network of the aristocracy“ (Kurke 2008, 156; siehe insgesamt Kurke 1991). Allenfalls wäre die im Raum stehende Frage, ob man dem Sieger wegen seines Sieges denn tatsächlich noch mehr Macht verleihen möge – und eben diese Frage wird durch das Epinikion im höchstmöglichen, das heißt rhetorisch gerade noch plausiblen Maße emphatisch bejaht. Das heißt speziell diejenige Gottheit, die (in Verbindung mit einem Heros) als Schutzgottheit über die Spiele präsidiert, also Zeus in Olympia, Apollon in Delphi, Poseidon in Isthmia und wiederum Zeus in Nemea. In diesem Kontext erklärt sich die gerade zu diesem Zeitpunkt aufkommende Kritik am Sport; siehe für einen knappen Überblick Papakonstantinou 2014a. Die Exzellenz war bei Männern (im Kontext einer durch den Krieg geprägten Kultur aus transparenten Gründen) primär auf das Körperliche fokussiert, in pointiertem Gegensatz zu derjenigen Art von Konkurrenz, die im Bereich der Frauen relevant war. Dies zeigt ein instruktives paralleles Zeugnis aus der Mitte der Archaik, Alkmans zweites Parthenion: Bei allen interpretatorischen Schwierigkeiten lässt sich dieses Lied dennoch plausibel im Kontext eines Schönheitswettbewerbs unter jungen Frauen verorten, in dem die unterlegenen, weniger schönen Konkurrentinnen das siegreiche, folglich schönste Mädchen und die Chorführerin für ihre von den Göttern verliehene (und also seit Geburt als Teil ihres ‚Wuchses‘, sc phya vorhandene), überragende Schönheit preisen. Zum Lied insgesamt siehe Calame 1990.
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Sport ist stark normiert, insbesondere in Hinsicht auf Teilnehmerfeld, Art der Gunst und Dritte Instanz, um deren Gunst konkurriert wurde. Diese Gegebenheiten wurden zur Legitimation – und dies ist ebenfalls ein Institutionalisierungsphänomen – auf den Bereich des Göttlichen projiziert und mithin enthistorisiert, das heißt der Verfügungsgewalt der (in realer Hinsicht tatsächlich) relevanten Dritten Instanz entzogen und dadurch als zeitloses, den Menschen enthobenes Phänomen fixiert.49 Der besonderen, letztlich im Politischen lokalisierten Konkurrenzsituation ist dabei geschuldet, dass das Feld der Konkurrenz primär immer nur die gegenwärtige Teilnehmerschaft war (also insbesondere moderne Konzepte wie absolute ‚Rekorde‘ den sachlichen Gegebenheiten grundsätzlich wesensfremd gewesen wären). Die historische Tiefendimension der Konkurrenz war nur insofern relevant, als man als Sieger in die Tradition der mythischen Helden (mit denen man ja als Angehöriger der Elite verwandt war) Aufnahme fand und die eigene Leistung in jedem Fall als Wiederholung, wenn nicht sogar Übertreffen der Großtaten der mythischen Vergangenheit gelten konnte.50 Zugleich zeigt sich eine Institutionalisierung gegen Konkurrenz, zuallererst dadurch, dass die hohen Kosten, die mit einer Teilnahme am Wettbewerb verbunden waren, das Feld in der Regel auf die schon bestehende Elite beschränkten.51 Es lag allerdings kein Kartell im eigentlichen Sinn vor, und ebenso brachte es das spezifische Leistungskriterium des Körperlichen beziehungsweise des Reichtums mit sich, dass die Klasse der Konkurrenten nicht definitiv geschlossen war, etwa durch das – mit ‚Konkurrenz‘ an sich ja nicht kompatible – ausschließliche Kriterium der Geburt und Abstammung. In der Tat war es, wie gesehen, möglich, durch einen Sieg, also den effektiven Aufweis der körperlichen oder finanziellen Überlegenheit, auch als Nicht-Mitglied eines alten, von einem Heros abstammenden genos seine (bisher verborgene und noch nicht erkannte) göttliche Abstammung zu erweisen.52 Das Kriterium der Konkurrenz hatte im Konfliktfall letztlich den Vorrang, und das System besaß aller Wahrscheinlichkeit nach entsprechend schon früh, trotz der durch die sachlichen Parameter der Konkurrenz stark restriktiven, aristokratischen Grundanlage, prinzipiell eine mehr oder weniger große Offenheit. Sie kam eben dann gerade in späteren Zeiten besonders deutlich zum Tragen, als die archaischen Gesellschaftsstrukturen brüchig geworden und/oder
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Man denke für den letzten Aspekt an Arkesilaos von Kyrene, dessen sportliche Ambitionen im Kontext gemeingriechischer Unternehmungen standen, nämlich einer Kolonisationsbemühung, für die bei den Olympien und Pythien Siedler angeworben werden sollten (vgl. Theotimos FGrH 470 F1 = Σ Pind. P. 5.34; siehe Lattmann 2010, 243–258). Vgl. für Fallstudien Lattmann 2010; für den zuletzt genannten Aspekt beachte man exempli gratia Pindars Olympie 8 (siehe Lattmann 2010, 78–116; siehe auch 75–77). Siehe Lattmann 2010, 244–246 (mit weiterer Literatur). Instruktiv ist das Feld der von Pindars und Bakchylides’ Epinikien gepriesenen Sieger: vgl. für Pindar die tabellarische Übersicht in Lattmann 2010, 319. Siehe auch Mann 1998 für eine integrative Sicht auf die Institutionalisierungsprozesse im 6. Jahrhundert v. Chr. Vgl. oben mit Anm. 37.
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überwunden waren und sich insbesondere der Sport professionalisiert hatte, mit der Folge, dass es ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. durchaus üblich wurde, dass nicht-aristokratische Teilnehmer an den Wettspielen teilnahmen, und dies in römischer Zeit in den athletischen Disziplinen tatsächlich sogar der Regelfall geworden war.53 Die Anerkennung der Ergebnisse der Konkurrenz erfolgte effektiv durch die aufgrund der historisch gegebenen sachlichen Verhältnisse von der eigentlichen Konkurrenz ausgeschlossene Dritte Instanz, die einfachen Griechen, und zwar auf der Grundlage und im Rahmen der oben festgestellten enthistorisiert-objektivierten Legitimation mittels der Projektion auf die göttliche Ebene. Paradigmatisch ausgedrückt ist diese Ideologie in der Vorstellungswelt des Epinikions selbst. Damit sind wir bei der zweiten Form von Konkurrenz, die im Epinikion greifbar wird, nämlich derjenigen, die sich im Epinikion als eigener, wenngleich sekundärer Kampf des Lobenden manifestiert, und zwar um die Anerkennung des Erfolges des Siegers durch dessen soziale Gemeinschaft. Das Epinikion lässt sich letztlich als nichts anderes verstehen als der spezifisch institutionalisierte Ausdruck der Formulierung der Gunst der Dritten Instanz in historischer, ‚realer‘ Hinsicht – und zwar auf dezidiert menschlicher Seite, in vollständiger Entsprechung zur aus der Binnenperspektive errungenen ‚objektiven‘, wahrhaftigen Gunst, die von den Göttern geschenkt wurde, dem kydos. Der in den Liedern als Sprecher entgegentretende Lobende (das ‚Ich‘ des Textes) ist in diesem Sinn nun aber aus transparenten Gründen gerade nicht Pindar oder Bakchylides – also der historische Autor der Lieder –, sondern der generische Zuschauer, der an dem Ritual-komos teilnimmt, ein Freund des Siegers, wie die Institution des Preises erfordert voller Freude über und überwältigt vom Sieg, dem er beigewohnt hat.54 In der historischen Aufführungssituation – also in der modifizierenden Transformation derjenigen ursprünglichen, archaischen Aufführungssituation, die im Epinikion einen geronnenen, institutionalisierten Ausdruck gefunden hat – muss dieser generische Zuschauer mit dem generischen, sich vorbildlich verhaltenden und neidlos Lob spendenden Bewohner der polis des Siegers gleichgesetzt werden, und zwar als Sänger 53
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Siehe für eine allgemeine Perspektive Young 1988, auch Crowther 1996. Für die archaische Zeit beachte man aber Mann 1998 speziell zum Gymnasion als Ort der Elite bis weit ins 5. Jahrhundert v. Chr. hinein; siehe auch Christesen 2007 und Christesen 2014. Zumindest in der Archaik bedingte Offenheit nicht, dass nicht dennoch hauptsächlich (oder gegebenenfalls ausschließlich) die Elite untereinander konkurrierte. Gleichwohl könnte sich möglicherweise eine gewisse Offenheit des Teilnehmerfelds in Hom. Il. 23.651–699 zeigen, wenn der gegen (den klar als prominentes Mitglied der Elite charakterisierten: Hom. Il. 2.563–566) Euryalos während der Leichenspiele für Patroklos im Boxen antretende und gewinnende Epeios nicht Mitglied der Elite (im engeren Sinne) wäre (er nimmt auch am Weitwurf teil, allerdings mit beschämendem Ergebnis: Hom. Il. 23.839 f.); so jedenfalls deutet den aufscheinenden sozialen Kontrast Scanlon 2018, 6–11. In jedem Fall zeigt sich, dass man auch als Teilnehmer mit weniger Prestige seine soziale Stellung im Bereich des Sports in relativer Hinsicht verbessern kann. Siehe ausführlich Lattmann 2017.
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stellvertretend für die Gesamtheit der Mitbürger – vielleicht sogar in der Tat historisch zu identifizieren nicht als irgendein Bürger der polis, sondern gegebenenfalls (das heißt in Abhängigkeit von der politischen Verfasstheit der polis) speziell als Mitglied einer Prytanie-Hetairie, in den Zeitumständen angepasster modifizierender Aufnahme der archaischen Hetairie, wie sie uns ja in äquivalentem Kontext in der Ilias etwa bei der Feier des Sportsiegers Euryalos bei den Leichenspielen für Patroklos begegnet.55 Gegner des Lobenden sind (aus der Binnenperspektive des Rituals) die generischen Feinde des Siegers, in den Begriffen des Epinikions konkret die ‚Neider‘ oder ‚missgünstigen Nachbarn‘, die trotz der überwältigenden, für jeden am Wettkampfort ersichtlichen Evidenz die Erwähltheit des Siegers durch die Götter nicht anerkennen wollen, mithin die Tatsache, dass dem Sieger aufgrund des gewaltigen Siegs tatsächlich kydos verliehen wurde und ihm also jetzt eine heroisch-göttliche Übermenschlichkeit zu eigen ist, die ihm nicht nur ein Leben über den Tod hinaus gewährt, sondern mit Blick hierauf auch schon im Diesseits das Anrecht auf Einfluss und Macht im Politischen.56 Wie gesagt: Das Epinikion dient historisch augenscheinlich dem Zweck (und dies erklärt eben seine Existenz), die ‚Gunst‘ der Mitglieder der sozialen Gemeinschaft mit dem göttlich verliehenen kydos effektiv kompatibel zu machen und als solche argumentativ als zwingend geboten zu etablieren – mithin in der historischen Praxis den religiösen Preis in einen aktualen weltlichen Preis zu verwandeln, das heißt Macht und Einfluss im Politisch-Sozialen. Und zwar dezidiert im Modus der religiösen Pflichterfüllung: Man darf den Sieger nicht nicht ehren, denn wenn man ihn ehrt, tut man nur das, was die Götter gebieten – ja: durch die Gewährung des Sieges an der Wettkampfstätte mitsamt dem dazugehörigen kydos auch schon längst selbst getan haben. So erklärt sich, dass zumindest in Pindars Epinikien der Sieger oftmals als Wiedergänger eines Heros oder Gottes dargestellt ist.57 Insbesondere hierin unterscheidet sich das Epinikion interessanterweise von der Darstellung des Sports bei Homer: Hier ist der Preis des Sieges (neben den Wertprei-
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Zur Prytanie-Hetairie siehe Erich Kistlers Beitrag in diesem Band. Gleichwohl ist in Hinsicht auf die Binnenperspektive nachrangig, wer historisch zur Gruppe der Sänger gehörte (oder eben sogar auch, ob möglicherweise Pindar oder Bakchylides persönlich vortrugen); so oder so ist der Sprecher als liedinterne Instanz als Repräsentant der polis konzipiert. Für einen Einblick in den historischen Kontext vgl. Aloni 2012. Für Homer vgl. instruktiv Il. 23.695–699, wo die „Freunde und Gefährten“ des Euryalos dem Boxkampf beiwohnen und diesen nach der Niederlage forttragen (man beachte speziell 695: φίλοι δ’ ἀμφέσταν ἑταῖροι). Zum in Pindars Epinikien allgegenwärtigen Motiv des Neides (phthonos) siehe Bulman 1992. Ein instruktives Beispiel ist Milon, der als Herakles verkleidet die krotonische Armee angeführt haben soll (Diod. 12.9.5 f.; siehe Mann 2001, 175–177). Eine Bestätigung findet dieses Verständnis in dem Umstand, dass speziell die sizilischen und kyrenischen Herrscher stark bemüht um panhellenische Wettkampfsiege waren, und zwar offenkundig zu dezidiert politischen Zwecken. Man beachte nur den in Pindars Pythie 4 und Pythie 5 gefeierten Sieg von Arkesilaos von Kyrene, der im Kontext einer Kampagne zur Neubesiedlung einer Kolonie stand und bei der Anwerbung von Kolonisten helfen sollte; siehe Lattmann 2010, 243–258.
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sen) ‚Ehre‘ und ‚Ruhm‘, Letzterer wohlgemerkt allem Anschein nach mit demselben Wort kydos bezeichnet.58 Doch angesichts der herausgearbeiteten Zusammenhänge liegt der Schluss nahe, dass das Wort von Homers Zeiten bis zum Ende der Archaik und dem Beginn der Frühklassik eine Begriffsverengung im skizzierten Sinn erfahren hatte, die ein Spiegel der sich institutionalisierenden Vorstellungen davon gewesen wäre, was denn dasjenige ist, worum im Sport tatsächlich konkurriert wurde, und zwar im aufgezeigten objektivierend-transzendierenden Sinn, der semantisch das (archaisch) reine ‚Prestige‘ in (klassisch) heroische, göttlich verliehene Macht überführte.59 Und so ist die Dritte Instanz, an die sich der Lobende in seinem institutionalisierten Lobeswettkampf des Epinikions mit dem Neider in der pragmatischen Dimension letztlich ausschließlich richtet, nichts anderes als die politisch-soziale Gemeinschaft des Siegers, der er selbst als Mitglied angehört – denn der Preis des Sports war ja in historischer Hinsicht in der Tat Prestige und Macht in der eigenen polis, deren Zueignung die Mitglieder der Gemeinschaft unter anderem mittels des Epinikions als öffentlichen Lobpreises im Rahmen einer großen Feier auch den Göttern gegenüber beweisen konnten. Insgesamt zeigen sich auch im Epinikion als institutionalisierter Lobes-Konkurrenz gerade diejenigen analytischen Kategorien, die sich mit Konkurrenz und Institutionalisierung im Sport im Allgemeinen verbinden. Dabei hatte sich in Entsprechung zur stark institutionalisierten Form der Konkurrenz im Sport selbst eine rigide Erwartungshaltung herausgebildet, sowohl auf Seiten der Auftraggeber, das heißt der Sieger, als auch auf Seiten des Publikums, das heißt der Angehörigen der nicht miteinander im Sport konkurrierenden Nicht-Elite – und diese wollten als Mitbürger des Siegers eben mit guten Argumenten (welche selbstverständlich auch in der im Siegesfest bewiesenen Spendierfreudigkeit der Sieger bestanden haben dürften)60 davon überzeugt werden, dass der Sieger tatsächlich göttlicher, verehrungswürdiger Abstammung war und man ihn also mit umso mehr Macht und Einfluss ausstatten sollte. In diesem Sinn erklärt sich vor dem Hintergrund der kulturellen Gegebenheiten in transparenter Weise schließlich die Institutionalisierung des Epinikions als Gattung, und zwar, wie oben gezeigt, vom spontanen, primitiven Lied zur höchst kunstvollen,
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Vgl. Hom. Il. 23.406 und 793. Zu den Wertpreisen hier siehe Papakonstantinou 2002. Für eine dynamische Bewertung des Befunds spricht, dass erst ab der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. nicht nur solche Heroisierungen historisch sicher bezeugt sind, sondern gerade zu dieser Zeit Sieger früherer Zeiten erstmals heroische Ehren erfuhren: vgl. Christesen 2010 mit einer Fallstudie zu Chion von Sparta, einem Sieger des 7. Jahrhunderts v. Chr., für den aber erst um das Jahr 470 v. Chr. kultische Verehrung glaubhaft gemacht werden kann. Vgl. Currie 2005. Dies ist bekanntlich ein wichtiger Aspekt des Siegerlobs in den überlieferten Epinikien, gerade in den hippischen Disziplinen. Man vergleiche insbesondere die (expliziten oder impliziten, das heißt oftmals im Spiegel des Mythos gegebenen) Verweise auf das prächtige Festmahl, das zum Ende der Feierlichkeiten verheißen wird, zum Beispiel in Pind. N. 1.19–24 (mit Aufnahme im Mythos am Ende des Liedes in 71 f.). Siehe auch oben mit Anm. 34 und Anm. 35.
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von den besten und teuersten Dichtern der damaligen Zeit verfassten Liedern: Mit der Zunahme der politischen Bedeutung des Sports wurde das Epinikion in eben derjenigen Form, wie man einen Sieger eben immer schon gepriesen hatte, zu einer festen Institution, die nicht nur zum Sieg dazugehörte, sondern den wichtigsten und eigentlichen Preis des sportlichen Erfolgs dokumentierte: die Anerkennung des Siegers als übermenschlich-göttlich durch diejenige Instanz, die aus der Binnenperspektive sowieso keine andere Wahl hatte, als eben dies zu tun, wenn sie nicht gegen die göttliche Ordnung verstoßen wollte – und gerade dies durch die öffentliche Aufführung der Lieder sich selbst und den Göttern gegenüber tatkräftig demonstrierte. Insofern dabei die Epinikien als immer kostspieligere und elaboriertere Auftragsarbeit selbst zum Ausdruck der areta des Siegers wurden (und zwar gerade derjenigen, die auch dem Sieg selbst zugrunde lag), waren sie jedoch letztlich nichts anderes als ein Phänomen der Institutionalisierung durch Konkurrenz, in welcher die Sieger sich gegenseitig zu überbieten versuchten – sei es innerhalb der polis, sei es sogar in einem panhellenischen Rahmen, wie es sicherlich insbesondere bei den sizilischen oder kyrenischen Herrschern der Fall war. In einem so gearteten Kontext durften die Lieder aber niemals selbst ihre Artifizialität vollständig zugeben, sondern mussten, ganz in Entsprechung zu dem, was wir bei Pindar und Bakchylides beobachten können, in der Binnenperspektive immer das spontane Preislied archaischer Machart bleiben. So schließt die Betrachtung des Epinikions als eines institutionalisierten Ausdrucks von Konkurrenz so, wie sie begonnen hatte, nämlich mit der Feststellung eines sich sachlich unmittelbar aus den spezifischen historischen Prozessen der Institutionalisierung ergebenden, den Liedern inhärenten und essentiell ihr Wesen ausmachenden Paradoxons. Rückblick Zum Abschluss ein kurzer Rückblick: Für die griechische Archaik war der Sport einer der zentralen Bereiche, in denen sich Konkurrenz und Institutionalisierung par excellence zeigen. Hier sind die von Pindar und Bakchylides verfassten Epinikien ein wichtiges und instruktives Zeugnis. Sie erlauben sowohl einen Blick auf die Zustände zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. am Übergang von Spätarchaik zu Frühklassik als auch auf die Zustände, die am Beginn des griechischen Sports standen: Die Epinikien konservieren einerseits die spezifischen Umstände ihrer ursprünglichen Entstehungszeit als Gattung, erlauben aber zugleich, die historische Entwicklung bis hin zur Entstehungszeit der überlieferten Lieder aus diesen selbst heraus zu rekonstruieren. Der sich zeigende Wandel von einem spontan dargebotenen generischen Lied zu einem seinerseits in institutionalisierter Weise individuell komponierten Kunstwerk vollzog sich wohl in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr., parallel zu und ausgehend von den Prozessen der sich im panhellenischen Rahmen vollziehenden Institutionalisierung im Bereich des Sports selbst.
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Insgesamt lässt sich im Prisma des Epinikions die Institutionalisierung des Sports und seines Lobpreises fassen, und zwar aus der spezifischen Perspektive der Beteiligten selbst heraus. Insofern kann die vorliegende Analyse von Pindars und Bakchylides’ Epinikien als Fallstudie dazu dienen, ähnliche und parallele Konkurrenz- und Institutionalisierungsprozesse in der Archaik besser zu verstehen. Dies gilt methodologisch speziell in Hinsicht auf die spezifisch dialektische Verbindung von und Spannung zwischen historischer Faktizität und fiktionaler Binnenperspektive von früher griechischer Dichtung als Weltaneignung und -deutung, in der sich die historische Dynamik der Institutionalisierungsprozesse selbst unmittelbar manifestiert und verkörpert. Literaturverzeichnis Agócs, Peter 2012. Performance and Genre. Reading Pindar’s κῶμοι, in: Peter Agócs / Christopher Carey / Richard Rawles (Hrsg.) Reading the Victory Ode, Cambridge etc., 191–223. Aloni, Antonio 2012. Epinician and the Polis, in: BICS 55, 21–37. Bagordo, Andreas 1995/6. Μοῦσ’ αὐθιγενής (Bacchyl. 2.11), in: Glotta 73, 137–141. Barron, John P. 1984. Ibycus: Gorgias and Other Poems, in: BICS 31, 13–24. Bentz, Martin 2005. Spiel um Leben und Tod? Gewalt und Athletik in klassischer Zeit, in: Günter Fischer / Susanne Moraw (Hrsg.) Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart, 129–141. Bentz, Martin / Christian Mann 2001. Zur Heroisierung von Athleten, in: Ralf von den Hoff / Stefan Schmidt (Hrsg.) Konstruktionen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart, 225–240. Boehringer, David 1996. Zur Heroisierung historischer Persönlichkeiten bei den Griechen, in: Martin Flashar / Hans-Joachim Gehrke / Ernst Heinrich (Hrsg.) Retrospektive. Konzepte von Vergangenheit in der griechisch-römischen Antike, München, 37–61. Bowra, Cecil Maurice 1960. Euripides’ Epinician for Alcibiades, in: Historia 9, 68–79. Bremer, Dieter 1992. Pindar. Siegeslieder. Griechisch – deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einer Einführung versehen von Dieter Bremer, München. Bulman, Patricia 1992. Phthonos in Pindar, Berkeley. Cairns, Francis 2011. Money and the Poet. The First Stasimon of Isthmian 2, in: Mnemosyne 64, 21–36. Calame, Claude 1990. Choruses of Young Women in Ancient Greece. Their Morphology, Religious Role, and Social Functions, Lanham (2. Aufl.). Carey, Chris 2009. Genre, Occasion and Performance, in: Felix Budelmann (Hrsg.) The Cambridge Companion to Greek Lyric, Cambridge, 21–38. Christesen, Paul 2007. The Transformation of Athletics in Sixth-Century Greece, in: Gerald P. Schaus / Stephen R. Wenn (Hrsg.) Onward to the Olympics. Historical Perspectives on the Olympic Games, Waterloo, 59–68. Christesen, Paul 2010. Kings Playing Politics. The Heroization of Chionis of Sparta, in: Historia 30, 1–48. Christesen, Paul 2014. Sport and Democratization in Ancient Greece (with an Excursus on Athletic Nudity), in: Paul Christesen / Donald J. Kyle (Hrsg.) A Companion to Sport and Spectacle in Greek and Roman Antiquity, Malden etc., 211–235.
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Widerstreitende Kräfte Zu Konkurrenz und Institutionalisierung im archaischen Griechenland Winfried Schmitz Abstract: Members of the elite in Ancient Greece competed not only for athletic prices or public office, but also in war. After military campaigns, prizes for outstanding bravery were promised. Yet Greek elites were not solely concerned with constantly measuring their personal honour against one another. Although such contests were based on objective criteria, the losers often disputed the rules, and so competition shifted to other areas. This led to a competition for validation (Geltungskonkurrenz) that a third party decided. Since moral categories were included in the evaluation, it became possible to use both competition and competition for validation, according to the concept developed by Georg Simmel, for the benefit of the community as a whole and the enhancement of its norms and values. But the envy of the vanquished disqualified the victors’ accomplishments again and again. Competition also could not be kept on a given path in other fields. Internal conflicts often escalated to such an extent that the victors branded the defeated as tainted and expelled them from the city, banishing them to a new-founded colony. Tyrants suspended the orderly competitive systems of the nobility and had to leave the city themselves when the opposition became too powerful. Failed competitive struggles prepared the ground for the establishment of an institution outside of the nobility as an independent third party. In the end, this led to the disintegration of the aristocratic order. In lieu of an aristocratic competitive model, the concept of a mixed citizenry emerged, preventing segregation and antagonism.
Adelsgesellschaften sind paradoxe Gesellschaften. Sie stellen Regeln auf und schaffen Institutionen, die ihnen Möglichkeiten geben, sich durch Würde, Reichtum und vornehme Herkunft, dann auch durch spezielle Zugangsvoraussetzungen für die Aufnahme in einen Adelsrat von anderen sozialen Schichten abzugrenzen. In diskursiver Auseinandersetzung, in Epen und in lyrischer Dichtung, aber auch durch ihren Habitus,
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formulieren sie Verhaltenserwartungen aus und prangern in verletzenden Spottversen transgressives Verhalten an. Doch dem stark ausgebildeten Geltungsdrang wohnt auch eine Sprengkraft inne: Die Maxime, ‚immer der Beste zu sein‘, erfordert es nicht nur, sich im Kampf oder in der Rede vor dem Volk, im athletischen Wettkampf, bei der Jagd und beim Symposion unter Gleichgesinnten auszuzeichnen, sondern stellt auch eine Verlockung dar, die Regeln im eigenen Interesse auszulegen, sie neu zu formulieren, Grenzen auszutesten und zu durchbrechen. Stabilität gewinnen aristokratische Gesellschaften dann, wenn sie ihren Standesgenossen gegenüber Verhaltenserwartungen, Normen und Werte durchsetzen können gegen etwaige Bestrebungen, sie zu missachten, um eine Sonderstellung zu etablieren.1 Der Streit um den Siegespreis Aus dem nur fragmentarisch erhaltenen Bericht des Historikers Diodor über den Krieg zwischen Messenien und Sparta ist in einem im Vatikan befindlichen Codex eine Episode über den Wettstreit zwischen Kleonnis und Aristomenes überliefert.2 Das Kriegsjahr und die näheren Umstände des vorangegangenen Kampfes kennen wir nicht – jedenfalls war der messenische König Euphaës verwundet worden. Als er sich von der Verletzung erholt hatte, schlug er vor, ein Schiedsgericht um den Siegespreis (κρίσις ἀριστείου) abzuhalten. Zwei Männer traten in gegenseitigen Wettstreit, in einen ἀγῶν, von denen ein jeder Anspruch auf den größten Ruhm im Kampf erhob. Was war während des Kampfs geschehen? Kleonnis hatte den König, als er zu Boden gestürzt war, mit seinem Schild gedeckt und acht von den Spartanern, die auf ihn eindrangen, getötet, von denen zwei berühmte Führer waren; er hatte den getöteten Feinden die gesamte Rüstung als Beute genommen und seinen Gefolgsleuten (ὑπασπισταί) übergeben, „damit er beim Schiedsgericht Beweisstücke für seine Tapferkeit (ἀρετή) vorweisen könne“.3 Und obschon er von vielen Wunden bedeckt war, trug er doch alle auf der Brust und lieferte damit den schlagenden Beweis, dass er vor keinem seiner Feinde zurückgewichen war.
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Der frühgriechischen (und homerischen) Adelswelt sind eine Reihe von wissenschaftlichen Werken gewidmet: Strasburger 1953; Stahl 1987, bes. 77–105; Andreev 1988; Stein-Hölkeskamp 1989; Ulf 1990; Raaflaub 1997; Stein-Hölkeskamp 2000; Osborne 2004; Duplouy 2006; Schmitz 2008; Ulf 2009; Meister (im Druck). Die Arbeiten von Walter Donlan zum frühgriechischen Adel finden sich zusammengestellt in Donlan 1999. Vgl. auch Gschnitzer 1981, 38–47; Welwei 1998, 46–49; Schmitz 2015, 15–30, 40 f. Zum transgressiven Verhalten Ferla 1996. Zu ‚Vorzüglichkeit‘ (ἀριστίνδην) und anderen Distinktionsmerkmalen des griechischen Adels Stein-Hölkeskamp/Hölkeskamp 2018, 43–52. Codex Vaticanus 1354 (= Diod. 8 Frg. 12.1; vgl. FGrH 106 F 12). Diod. 8 Frg. 12.2: ἵνα ἔχῃ σημεῖα τῆς ἰδίας ἀρετῆς πρὸς τὴν κρίσιν.
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Aristomenes hatte im Kampf um den zu Boden gegangenen messenischen König ‚nur‘ fünf Lakedaimonier getötet, deren gesamte Rüstung erbeutet und seinen eigenen Leib vor jeder Verwundung bewahrt. Auf dem Weg aus der Schlacht zurück hatte er jedoch den Kleonnis, der schwer verwundet war, auf seine Schultern genommen und ihn in die Stadt zurückgetragen, ungeachtet dessen, dass er seine gesamte eigene Rüstung und auch noch die des Kleonnis schleppen musste, der an Größe und Gewicht alle anderen übertraf. „Gemäß dem Gesetz“ – so berichtet Diodor – ließ sich der König mit seinen Feldherren nieder und folgte den Reden und Argumenten, die Kleonnis und Aristomenes vorbrachten. Kleonnis verwies auf die höhere Zahl der getöteten Feinde, die er in der gleichen Situation niedergestreckt hatte wie Aristomenes, so dass er „in seinem Rechtsanspruch auf den Siegespreis der Erste“ sein müsse.4 Außerdem sei seine Brust voller Wunden, während Aristomenes wie von einem Gelage, einem Symposion, unversehrt zurückgekehrt sei. Man müsse Kleonnis daher „für den Besseren“ (ἀγαθώτερος) halten, da er sich schonungslos für sein Vaterland geopfert habe, und zwar in doppelter Hinsicht. Dass Aristomenes den Körper des schwer verwundeten Kleonnis getragen habe, sei kein Zeichen von Tapferkeit – denn dies sei geschehen, als keine Gefahr mehr bestanden habe. Dies sei also nur ein Zeichen von Körperkraft, und dafür gäbe es den Preis nicht.5 In seiner Erwiderung packt Aristomenes seinen Kontrahenten um den Siegespreis an der Ehre: Wie könne Kleonnis dem Aristomenes den Siegespreis streitig machen, der sein Retter auf dem Schlachtfeld gewesen sei. Kleonnis stehe ihm nicht nur in der Tapferkeit im Kampfe nach, sondern zeige sich auch jetzt noch als durch und durch undankbarer Mensch. Er habe in seiner Rede die Taten des Aristomenes herabgewürdigt und zeige daher „übertriebenen Ehrgeiz“, sei φιλοτιμότερος, wenn er einem Manne, dem er höchsten Dank für die eigene Rettung schulde, „aus Neid“ (διὰ φθόνον) das ihm zustehende Lob vorenthalte. Er, Aristomenes, sei der Tapferere in der Kriegsgefahr gewesen und habe einfach nur Glück gehabt, nicht verwundet worden zu sein. Er habe im Kampf in vorderster Linie gestanden und, wenn die Feinde in Schrecken vor seinem Heldentum sich nicht zu wehren wagten, dann sei er es doch, den sie fürchteten und der des hohen Lobs würdig sei. Er habe die Gegner getötet und gleichzeitig auf seine körperliche Sicherheit geachtet und sei daher zugleich mutig und klug! „Wer nämlich mitten im Kampf auf Leben und Tod besonnen der drohenden Gefahr begegnet, besitzt doppelte Tugend, sowohl die des Körpers als auch die der Seele“.6 Aristomenes schließt seine Rede mit einem neuerlichen Verweis darauf, dass er den verwundeten Kleonnis vom Schlachtfeld getragen habe und ohne diese Tat Kleonnis 4 5 6
Diod. 8 Frg. 12.5–6: κατὰ τὸν νόμον … τοῖς εἰς τὸ πρωτεῖον δικαίοις. Diod. 8 Frg. 12.7–9. Diod. 8 Frg. 12.14: ὁ γὰρ ἐν αὐτῷ τῷ θυμομαχεῖν ἐμφρόνως ὑπομένων τὸ δεινὸν ἑκατέρας ἔχει τὰς ἀρετάς, σώματός τε καὶ ψυχῆς.
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gar nicht in den Wettstreit um den Siegespreis hätte eintreten können. Ungefährlich sei dies nicht gewesen, da auch ein zunächst geschlagener Feind gern nach einer Kehrtwendung wieder zum Angriff übergehe und durch eine solche Kriegslist den Sieg doch noch erringe. Damit endet die Rede, und es folgt in dem Exzerpt nur noch der knappe Satz: „Nach diesen Ausführungen gaben die Richter einstimmig dem Aristomenes den Vorzug (προέκριναν)“.7 Freilich muss bei diesem Exemplum berücksichtigt werden, dass wir es nicht ohne weiteres für die archaische Zeit reklamieren können. Die Episode ist zwar in den Kontext des Messenischen Krieges gestellt und damit in das 7. Jahrhundert gesetzt, doch für diese Zeit ist es in der überlieferten Form anachronistisch. Denn der Wettstreit um den Siegespreis ist im Stil einer sophistischen Dialektik gehalten, wie sie in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. aufkam. Es ist ein stilisiertes Rededuell, bei dem beide Seiten gute Argumente vorbringen und der Leser beziehungsweise Zuhörer selbst eine Entscheidung treffen soll, welche Argumente er als die überzeugenderen werten will. Dies erinnert an viele attische Tragödien, bei denen konträre Standpunkte hart aufeinanderprallen, beide Seiten ein gutes Recht für sich geltend machen können und doch auch beide Seiten sich in maßloses Handeln, in hybris, verstricken. Vergleichen lässt sich unser Exemplum auch mit Gerichtsverhandlungen vor den attischen Geschworenengerichten, die nach Rede und Gegenrede von Kläger und Angeklagtem ein Urteil abgaben, das durch einfachen Mehrheitsbeschluss ohne vorherige Beratung gefällt wurde, so wie „die Richter“ (οἱ δικάζοντες) nach den Reden von Kleonnis und Aristomenes „einstimmig“ (ὁμογνώμονες) dem Aristomenes den Siegespreis zuerkannten. Dass aber Kämpfe um den Preis der Tapferkeit (ἀριστεία) im Krieg zumindest in spätarchaischer Zeit ausgefochten wurden, zeigen zahlreiche Belegstellen in den Historien Herodots, die sich auf die Perserkriege beziehen. Mehrfach spricht Herodot davon, dass sich bei Kriegszügen und Flottenunternehmungen Kontingente einer Stadt oder Einzelpersonen besonders ausgezeichnet hätten: Als sich die Griechen auf den Angriff der persischen Flotte am Kap Artemision vorbereiteten, erbeuteten die Griechen in einem ersten Seegefecht dreißig feindliche Schiffe und nahmen Philaon, den Bruder des Salaminierkönigs Gorgos, gefangen. Herodot betont, dass es der Athener Lykomedes war, der „als erster von den Griechen“ (πρῶτος δὲ Ἑλλήνων) ein feindliches Schiff kaperte und „dafür den Preis der Tapferkeit erhielt“.8 Bei der Seeschlacht am Artemision selbst zeichneten sich im Heer des Xerxes die Ägypter besonders aus (ἠρίστευσαν), auf Seiten der Griechen die Athener und unter ihnen Kleinias, der Sohn des Alkibiades, der mit eigenem Schiff in die Schlacht gezogen war.9 Auch bei
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Diod. 8 Frg. 12.16. Hdt. 8.11.2: καὶ τὸ ἀριστήιον ἔλαβε οὗτος. Auch auf der gegnerischen Seite sollen alle miteinander gewetteifert haben, als erster ein attisches Schiff zu kapern und dafür eine Belohnung vom König zu erhalten (8.10.3); vgl. auch Hdt. 8.93. Hdt. 8.17.
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anderen Gelegenheiten hebt Herodot Personen heraus, die sich im Kampf als „tapfer“ (ἄριστος) erwiesen und sich „in der Tapferkeit auszeichneten“ (ἀριστεῦσαι; εὐδοκιμεῖν μάλιστα).10 Bei nur wenigen Gelegenheiten beschreibt Herodot den ‚Wettstreit um den Siegespreis‘ ausführlicher, so als die Spartaner den Siegespreis nach der Schlacht von Plataiai verliehen. Sie, die Lakedaimonier, hätten – auch wenn sich die Tegeaten und die Athener ebenfalls tapfer gehalten hätten – alle anderen Griechen an Tapferkeit übertroffen.11 Herodot begnügt sich aber nicht mit dieser Feststellung, sondern meint, dafür Argumente vorbringen zu müssen, ähnlich wie im Rededuell zwischen Kleonnis und Aristomenes: „Das kann ich am besten dadurch beweisen (ἀποσημήνασθαι) – denn diese alle [scil. die Spartaner] besiegten, was sich nur in den Weg stellte“, und standen doch der stärksten Macht der Gegner gegenüber. „Der weitaus Tapferste war meiner Meinung nach Aristodemos“.12 Ähnlich wie dies Kleonnis für sich beansprucht hatte, wollte Herodot dem Aristodemos den Siegespreis für die größte Tapferkeit zugesprochen wissen. Doch die Spartaner entschieden anders: „Als man jedoch darüber sprach, wer der Tapferste (ἄριστος) von ihnen gewesen sei, meinten die anwesenden Spartaner (ἔγνωσαν οἱ παραγενόμενοι Σπαρτιητέων), Aristodemos habe offenbar wegen der ihm anhaftenden Schuld (ἐκ τῆς παρεούσης οἱ αἰτίης) den Tod gesucht und sei deshalb wie ein Rasender aus der Reihe gerannt und habe Heldentaten vollbracht“. Poseidonios, der sich nach ihm ausgezeichnet hatte, habe hingegen nicht sterben wollen und sich dennoch so tapfer verhalten; darum verdiene er den Vorrang. Herodot kann dieses Urteil nicht nachvollziehen, denn – so urteilt er – „das mögen sie wohl auch aus Missgunst gesagt haben“. Bei einer Zeremonie vor allen Gefallenen erhielten jedenfalls Poseidonios, Philokyon und Amompharetos Ehrungen (τίμιοι) zuerkannt, Aristodemos jedoch nicht.13 Als die verbündeten Griechen bei Salamis gegen die Perser gesiegt hatten, schickten sie das Beste von der Beute als Erstlingsgaben nach Delphi und verteilten die übrige Beute unter sich.14 Dann fuhren sie zum Isthmos, „um dort demjenigen Griechen den Preis der Tapferkeit (ἀριστήια) zu verleihen, der sich in diesem Krieg als der würdigste (ἀξιώτατος) erwiesen hatte“.15 Darüber urteilen sollten die Feldherren der Griechen und mit Stimmsteinen einen Erst- und einen Zweitplatzierten wählen. Doch das Verfahren ging gründlich schief: Bei der Abstimmung für den ersten Platz gab sich jeder der Strategen selbst die Stimme, weil ein jeder glaubte, der tapferste (ἄριστος) gewesen 10 11 12 13 14 15
Hdt. 7.226.1, 227; vgl. 9.105. Siegespreise sollen auch schon in mythischer Zeit zugesprochen worden sein, so dem Telamon (Soph. Aj. 464; Isokr. or. 9.16). Zu diesen Belegstellen siehe Gauer 1968, 28 f. Ein Siegespreis (ἀριστεῖον) konnte auch einer Gottheit verliehen werden (Demosth. or. 22.72). Hdt. 9.71.1: ὑπερεβάλοντο ἀρετῇ Λακεδαιμόνιοι. Hdt. 9.71.2 Hdt. 9.71.3–4 (Übersetzung Josef Feix). Hdt. 8.122. Hdt. 8.123.1.
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zu sein. Bei der Abstimmung für den zweiten Preis ergab sich eine Stimmenmehrheit für Themistokles. Aus gegenseitigem Neid – so schreibt Herodot – bestätigten die Griechen dieses Urteil aber nicht und jeder fuhr ohne eine Entscheidung (ἀκρίτων) in seine Heimatstadt zurück; allein Themistokles wurde als der klügste Mann aller Griechen (ἀνὴρ πολλὸν Ἑλλήνων σοφώτατος) gerühmt. Doch weil er trotz seines Sieges von den Mitkämpfern in der Schlacht bei Salamis nicht geehrt worden war, begab er sich gleich darauf nach Sparta. Die Spartaner nahmen ihn würdig auf, erwiesen ihm große Ehre; den Preis der Tapferkeit (ἀριστήια) verliehen sie dem Eurybiades, den Preis der Klugheit und Gewandtheit (σοφίη καὶ δεξιότης) aber dem Themistokles. In beiden Fällen waren es Kränze aus Ölbaumzweigen. Themistokles erhielt außerdem den schönsten Wagen, der in Sparta zu finden war, und nach vielen Ehrungen geleiteten sie ihn mit dreihundert ausgewählten Spartanern, den ‚Rittern‘, bis an die Grenze nach Tegea. Nach Herodots Wissen war er der einzige, dem die Spartaner je das Geleit gegeben haben.16 Nach Athen zurückgekehrt, sah sich Themistokles indes Angriffen ausgesetzt. Ein gewisser Timodemos aus Aphidnai, der ihm feindlich gesinnt war, warf ihm aus Neid seine Reise nach Sparta vor: Nur durch Athens Stärke habe er jene Ehren von den Spartanern erhalten, nicht durch eigenes Verdienst. Um den Schmähungen ein Ende zu machen, hätte Themistokles geantwortet: „Du hast recht; wenn ich aus Belbina stammte, hätten mir die Lakedaimonier diese Ehren nicht erwiesen, aber auch dir nicht, Kerl, obgleich du ein Athener bist“.17 Die von Diodor überlieferte Episode und die von Herodot genannten Wettstreite um die aristeia, die Siegespreise, entsprechen recht genau dem, was der Soziologe Georg Simmel unter ‚Konkurrenz‘ versteht.18 Die Konkurrenz zwischen zwei Personen hat nicht das Ziel, den Gegner zu vernichten, sondern die Gunst einer Dritten Instanz zu erringen, die den Siegespreis vergibt. Diese Dritte Instanz ist im ersten Beispiel der messenische König, das beratende Gremium der Feldherren und letztendlich die dem Wettstreit beiwohnende Öffentlichkeit – und auch das Publikum des Autors, auf wen immer die von Diodor bewahrte Überlieferung zurückgeht. Die Verleihung eines Siegespreises durch die Dritte Instanz ist beim Streit zwischen Kleonnis und Aristomenes nicht metaphorisch gemeint, sondern ganz konkret. Durch Exempla wie diese werden von der Öffentlichkeit und den sich im Kampf messenden ‚Helden‘ die
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Hdt. 8.124. Hdt. 8.125 (Übersetzung Josef Feix). Plutarch gibt Lykomedes (wohl irrtümlich) den Siegespreis der Schlacht von Salamis (Themistokles 15.2). Simmel 1995 (= Simmel 1992, 323–349; zuerst 1903). Zu Georg Simmel siehe Schroer 2017, 77–106; zu seinen Überlegungen zur Vergesellschaftung und den Dynamiken des Sozialen ebd. 80–92. Zur Weiterentwicklung des Konkurrenzmodells durch Theodor Geiger, Niklas Luhmann und Tobias Werron siehe Künzer 2016, 47–52 sowie die Einleitung zu diesem Band. Im Sammelband von DesRosiers/Vuong 2016 geht es um eine sozioreligiöse Konkurrenz, insbesondere in der römischen Kaiserzeit; auf die theoretischen Ansätze von Simmel, Geiger, Luhmann oder Werron gehen die Herausgeber allerdings nicht ein.
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gesellschaftlichen Normen verinnerlicht – Tapferkeit in der Schlacht und der Einsatz des eigenen Lebens, um den König zu schützen. Insofern gilt auch Simmels Diktum: Konkurrenz führt zu einer Wertsteigerung, die der Dritten Instanz zugutekommt, unter Umständen auch dem unterlegenen Konkurrenten, da das gemeinsame Ziel mit der bestmöglichen Leistung zum Nutzen aller erreicht wird.19 Die öffentliche Inszenierung des Wettstreits verbindet die Konkurrenten mit der Dritten Instanz, was erst die Voraussetzung dafür schafft, normbildende Kraft zu entfalten.20 Dies gelingt freilich nur, wenn der Konkurrenzkampf „nach gemeinsamen Regeln“ abläuft und die zu beurteilende Leistung nach vorgegebenen Bewertungskriterien bemessen wird. Auch dies ist in unserem Beispiel insofern gegeben, als das bereits institutionalisierte Verfahren „gemäß dem Gesetz“ abläuft und das zentrale Bewertungskriterium die Tapferkeit im Kampf ist. ‚Objektiv messbar‘ ist die Leistung an der Zahl der getöteten Feinde, der erbeuteten Rüstungen und der Wunden (auf der Brust). Aber auch für dieses Beispiel gilt, was Jan Meister anhand der Hippokleides-Episode gezeigt hat: Als Aristomenes in der Zahl der getöteten Feinde und der erlittenen Wunden als sichtbare Zeichen der Tapferkeit zu unterliegen droht, wechselt er auf ein anderes Feld, das der weitsichtigen Klugheit und der ethischen Bewertung, ob man gegen seinen Lebensretter in den Wettkampf um den Siegespreis eintreten dürfe; er verlässt damit den Rahmen der eigentlich geltenden Spielregeln im Wettstreit um den Siegespreis.21 Indem die Kriterien zur Zuerkennung des Siegespreises – um eine andere Entscheidung herbeizuführen – zur Disposition gestellt werden, entsteht eine Geltungskonkurrenz, und auch über diese entscheidet im Falle von Kleonnis und Aristomenes und des Spartaners Aristodemos die Dritte Instanz und zwar zugunsten der weitsichtigen Klugheit und der moralischen Integrität.22 Allein nach der Tapferkeit bemessen, hätte der Preis dem Aristodemos zuerkannt werden müssen. Da aber dieser ungestüm auf den Gegner losstürmte und den Tod im Kampf suchte, weil er als einziger den Kampf der Dreihundert an den Thermopylen überlebt hatte, fehlte ihm offensichtlich die moralische Integrität und die weitsichtige Klugheit – zumal er mit seinem ungestümen Anrennen aus der fest gefügten Hoplitenreihe ausscherte und damit seinen Nebenmann ungedeckt ließ. Auch in diesem Fall ist das eigentlich vorrangige Kriterium, die Tapferkeit im Kampf, hintangestellt, und die Dritte Instanz zieht aus moralischen Gründen den Poseidonios, Philolykon und Amompharetos dem Aristodemos vor. In diesem Punkt weichen die antiken Beispiele von Simmels Modell ab, das an der mo19 20 21 22
Simmel 1992, 324 f. und die Einleitung zu diesem Band. Zur Öffentlichkeit als Publikum, welches für das Funktionieren von Konkurrenz eine notwendige Voraussetzung ist, aber auch eine imaginierte Öffentlichkeit sein kann, s. Werron 2011, 239–246 und vgl. Künzer 2016, 55 mit Anm. 8. Meister (im Druck) zur Hippokleides-Episode. Im Konkurrenzmodell ist durchaus angelegt, dass die Öffentlichkeit als Dritte Instanz eine Verständigung über die Regeln und die Kriterien der Konkurrenz herbeiführt und diese verändern kann (Werron 2011, 239–246).
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Winfried Schmitz
dernen Gesellschaft entwickelt wurde.23 Danach strebten Konkurrenzsituationen zu einer Objektivierung des Verfahrens. Wenn objektiv feststellbar sei, wer im Konkurrenzwettbewerb die höhere Leistung erbracht habe, fördere dies die Akzeptanz der Entscheidung. Wenn allein die individuelle Leistung ohne Rücksicht auf die dahinterstehende Person zähle, würden moralische Urteile und soziale Kriterien außer Kraft gesetzt und zugunsten eines Leistungsprimats objektiviert. Dazu stehen die hier genannten Beispiele in Gegensatz. Themistokles kanzelt den nicht satisfaktionsfähigen Neider um die ihm entgegengebrachten Ehren, Timodemos, ab, und Aristomenes und dem Spartaner Poseidonios ist es ein Leichtes, die objektiven Kriterien der Bemessung der Tapferkeit im Kampf an die Seite zu schieben, indem sie den Konkurrenten moralisch deklassieren.24 Bezeichnend an der Überlieferung ist auch, dass Diodor und Herodot gerade die Fälle ausführlich beschreiben, in denen diskursiv um die Kriterien des Konkurrenzkampfes, also um die Geltungskonkurrenz gerungen wurde. Die Antwort ist in beiden Fällen identisch, und die Entscheidung im Zwist zwischen Kleonnis und Aristomenes einstimmig. Bloße Tapferkeit hat, auch wenn sie einem einzelnen ‚Helden‘ zum Ruhm gereicht, zurückzustehen hinter einem tapferen Einsatz, der gleichzeitig der ganzen Gemeinschaft und ihren Normen und Werten nützt. Die ausgezeichnete arete ist eben nicht nur Tapferkeit, sondern ein tugendhaftes Verhalten,25 was mehr umfasst. Die Geltungskonkurrenz ist schnell und eindeutig entschieden – und doch stellt Herodot sie gleich wieder in Frage, denn nach seiner Meinung war doch Aristodemos der „weitaus Tapferste“26 und tatsächlich mögen sie „aus Missgunst“ ihm den Preis verweigert und als Vorwand die ihm anhaftende Schuld angeführt haben. Herodot hält also die Geltungskonkurrenz durchaus nicht ein für alle Mal entschieden und legt dem Leser eine neuerliche Entscheidung über Aristodemos’ Taten nahe, zumindest im rückschauenden historischen Urteil. Wenn ihm der Preis aus Missgunst vorenthalten wurde, entspricht auch dies nicht den moralischen Anforderungen an die Preisverleihung. Nach der Schlacht bei Salamis sollte der Siegespreis feierlich an einem neutralen und heiligen Ort verliehen werden, an dem alle vier Jahre Athleten für ihre Siege im sportlichen Konkurrenzkampf ausgezeichnet wurden, dort wo Mittelgriechenland an die Peloponnes grenzt und die verbündeten Griechen ihre Verteidigungsstrategie bei Xerxes’ Vorrücken festgele