"Kuhhandel", "Zustimmung erkauft", "Gefeilsche": Spektakuläre Absprachen im Vorfeld von Bu
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German Pages 448 Year 2011
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1175
Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat Eine Untersuchung zur Gesetzgebung zwischen Recht und Politik Von Stephan Smith
Duncker & Humblot · Berlin
STEPHAN SMITH
Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1175
Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat Eine Untersuchung zur Gesetzgebung zwischen Recht und Politik
Von Stephan Smith
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2009/2010 als Dissertation angenommen.
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© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: werksatz ∙ Büro für Typografie und Buchgestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13367-3 (Print) ISBN 978-3-428-53367-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83367-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern und meiner Schwester
Vorwort Das Verfassen der vorliegenden Arbeit erbrachte mir das Geschenk, mich lange mit der Wissenschaft, unserem Grundgesetz sowie mit dem Verhältnis von Recht und Politik beschäftigen zu dürfen. Es ermöglichte mir, mich auch den anderen Bereichen zu widmen, die zwar nicht den eigentlichen Gegenstand einer wissenschaftlichen Arbeit ausmachen, aber untrennbar damit zusammenhängen: insbesondere mit Sprache, Literatur, Büchern, Umgang mit Texten und Gedanken, Entwicklung von Arbeitsmethoden. Diese Aufgabe ist ein wichtiger, bereichernder Teil meines Lebens geworden. Sie brachte in mehrfacher Hinsicht eine Erweiterung der Erkenntnis mit sich: in der Sache natürlich, aber auch hinsichtlich grundsätzlicher Überlegungen zu Leben und dem Sozialen, schließlich zu mir selbst. Für diesen Gewinn danke ich Professor Dr. Ulrich K. Preuß, ehedem Inhaber des Lehrstuhls für Rechtliche Grundlagen der Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, bis 2010 Professor for Law and Politics an der Hertie School of Governance, Berlin. Er hat ihn mir ermöglicht, indem er die Betreuung der vorliegenden Arbeit übernommen hat, die im Wintersemester 2009/10 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation vorlag. Ich danke Professor Dr. Preuß ferner für die Betreuung an sich und die dabei geführten bereichernden, wohlwollend-kritischen und stets angenehmen Gespräche, begleitet von einem über das Fachliche hinausgehenden Interesse an meiner Person und meiner jungen Familie. Schließlich schulde ich ihm Dank für die Erstellung des umfangreichen und ebenfalls erkenntnisreichen Erstgutachtens. Das Zweitvotum hat freundlicherweise Professor Dr. Markus Heintzen, Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin, übernommen. Dafür und für die Mühe der Erstellung des Gutachtens, das ebenfalls eine großartige Rückmeldung gegeben hat, danke ich sehr. Weiterhin danke ich dem Bundesrat, der das Erscheinen der vorliegenden Arbeit mit einem großzügigen Druckkostenzuschuß unterstützt hat. Großer Dank gebührt meinen Eltern, die mir meine Ausbildung sowie die Erstellung der vorliegenden Arbeit ermöglicht und mich darin unterstützt haben. Sie haben ihren Kindern, oft unter Hintanstellung ihrer eigenen Bedürfnisse, einen guten Start ins Leben ermöglicht. Ihnen und meiner Schwester Kathrin, mit der mich eine wundervolle Kindheit und Jugend verbindet, ist diese Schrift gewidmet.
8
Vorwort
Anteil genommen an der Entstehung dieser Arbeit haben ferner die treuen Gefährten Christopher Venus, Rudolf Reibel und Georg Jacobs. Mit offenem Ohr, mitfühlenden Gedanken, fachlichem Gedankenaustausch, z.T. täglichem gemeinsamem Mittagessen, aber auch mit nichtfachlichem Ausgleich sowie Unterstützungsleistungen, wie Korrekturlesen und technischer Hilfe, haben auch sie in den vielen Berliner Jahren zu der Entstehung dieses Textes beigetragen. Vor allem aber schulde ich meiner lieben Frau Ruth besonderen Dank. Sie hatte Verständnis für den großen Zeitaufwand, den das Schreiben des Buches erforderte, und hat manche Abwesenheit, meist geistiger Natur, sowie Gedankenverlorenheit geduldig hingenommen. Sie ist eine Unterstützung in jeder Hinsicht. Ihr und Richard gehört alle Zukunft. Düsseldorf / Berlin, im Frühjahr 2010
Stephan Smith
Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
1. Teil Theorie des demokratischen Bundesstaates
30
1. Kapitel Bundesstaatsprinzip und Demokratie in der Verfassungsgeschichte Deutschlands
31
A. Nur föderale Tradition in der deutschen Verfassungsgeschichte? . . . . . . . . . . .
31
B. Ergebnis: Symbiotische Entwicklung von Demokratie und Bundesstaatlichkeit
42
2. Kapitel Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
44
A. Die Grundmodelle der Demokratie in Staatsphilosophie und Staatsrechtslehre
45
B. Einordnung der Modelle und Konsequenzen in bezug auf den demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
3. Kapitel Die Bundesstaatstheorien: Antinomie von Bundesstaat und Demokratie oder demokratischer Bundesstaat?
56
A. Das Verhältnis von Demokratie und Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
B. Vereinzelte Lehren vom demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
C. Interpretation der herrschenden Lehren: Deutung des Bundesstaates von der Einheit her als Ursache von Theorieproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
D. Ergebnis und Problemstellung: Der demokratische Bundesstaat und seine Strukturprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
10
Inhaltsübersicht 4. Kapitel Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
84
A. Die Auslegung des Grundgesetzes als demokratischer Bundesstaat . . . . . . . . .
85
B. Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
C. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 D. Begriffsinstrumentarium des demokratischen Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . 122 E.
„Warum Bundesstaat?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
F.
Ergebnis: Theorie des demokratischen Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
G. Konsequenzen für die Verfassungsreform: Entflechtungsgebot . . . . . . . . . . . . . 155
2. Teil Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat
159
5. Kapitel Recht und Politik
160
A. Begriffe von Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 B. Das Verhältnis von Recht zu Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 C. Recht und Politik im demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
6. Kapitel Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat
169
A. Struktur der Konfliktlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 B. Gründe der Konfliktlagen im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 C. Ergebnis, rechtspolitische Konsequenzen und Bewertung der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
Inhaltsübersicht
11
7. Kapitel Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat
257
A. Die formelle und inhaltliche Gesetzgebung als Konfliktlösung: Verfassungsverfahrensrecht und materielle Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 B. Die äußere Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat zwischen Recht und Politik: Gremien – Verfahren – Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 C. Die innere Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Zusammenfassung und Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
1. Teil Theorie des demokratischen Bundesstaates
30
1. Kapitel Bundesstaatsprinzip und Demokratie in der Verfassungsgeschichte Deutschlands
31
A. Nur föderale Tradition in der deutschen Verfassungsgeschichte? . . . . . . . . . . . I. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rheinbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deutscher Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Paulskirchenverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Norddeutscher Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Drittes Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 32 33 34 36 37 38 41
B. Ergebnis: Symbiotische Entwicklung von Demokratie und Bundesstaatlichkeit
42
2. Kapitel Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
44
A. Die Grundmodelle der Demokratie in Staatsphilosophie und Staatsrechtslehre I. Einheitsorientierte Demokratiemodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Identitäre Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Monistisches Demokratieverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Pluralistische Demokratievorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Liberal-repräsentative Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pluralistische Demokratietheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 45 45 49 50 50 52
B. Einordnung der Modelle und Konsequenzen in bezug auf den demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
14
Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Die Bundesstaatstheorien: Antinomie von Bundesstaat und Demokratie oder demokratischer Bundesstaat?
56
A. Das Verhältnis von Demokratie und Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unvereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erich Kaufmann: Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung . . . . . . . . . 2. Carl Schmitt: Verfassungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wilhelm Grewe: Antinomien des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konrad Hesse: Der unitarische Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Beteiligungsföderalismus . . . . . . . . . . 3. Herrschende Lehre: Vereinbarkeit im Sinne einer Ergänzung . . . . . . .
57 58 58 59 61 63 63 66 70
B. Vereinzelte Lehren vom demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wieland Hempel: Der demokratische Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Alexander Hanebeck: Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes
71 71 74
C. Interpretation der herrschenden Lehren: Deutung des Bundesstaates von der Einheit her als Ursache von Theorieproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
D. Ergebnis und Problemstellung: Der demokratische Bundesstaat und seine Strukturprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
4. Kapitel Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
84
A. Die Auslegung des Grundgesetzes als demokratischer Bundesstaat . . . . . . . . . I. Die gemischte Verfassung und ihre Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Konzept der gemischten Verfassung: Die Mäßigung . . . . . . . . . . 2. Die Auslegung der gemischten Verfassung: Einheit der Verfassung . . II. Historische Auslegung: Die spezifisch demokratische und föderale Tradition deutscher Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85 85 85 88
B. Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Legitimation des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweifache Legitimation des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die legitimierende Funktion und Stellung der Ministerpräsidenten b) Die Legitimation des Parlamentarischen Rates und dessen Verabschiedung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92 92 92 94 94 95
c) Die Annahme des Grundgesetzes durch die Länder . . . . . . . . . . . .
96
89
Inhaltsverzeichnis
II.
15
d) Exegese der Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
e) Existenz der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
f) Ergebnis: Gemeinsame Verfassungsgebung von Bund und Ländern
99
Die demokratische und föderale Legitimation staatlicher Entscheidungen 100 1. Der Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Der Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (1) Gleichberechtigung und Mitverantwortung des Bundesrates? . 102 (2) Der Bundesrat: eine Zweite Kammer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Sonstige Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Die Entscheidungen auf Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4. Zwischenergebnis: Gemeinsame Legitimation staatlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
III. Endergebnis: Eigenständige bzw. gemeinschaftliche politische Willensbildung und demokratische Legitimation im Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . 113 C. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I.
Plurale statt monistische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
II.
Liberale statt symbolische Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
III. Das Parlament als Verfassungsorgan statt Ort der Souveränität . . . . . . . . 121 D. Begriffsinstrumentarium des demokratischen Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . 122 I.
Zur Notwendigkeit eines abstrakten Begriffsinstrumentariums . . . . . . . . 123
II.
Souveränität im demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
III. Einheit durch Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
E.
IV.
Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
V.
Exkurs: Die Staatsqualität der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
„Warum Bundesstaat?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 I.
Die bestehenden Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Legitimation durch die geschichtlich gegebene, regionale Vielfalt Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Legitimation durch Sicherung von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Legitimation durch Verbesserung der Funktionsfähigkeit des politischadministrativen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
II. F.
Stellungnahme: Die tatsächliche Grundlage der verfassungsrechtlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Ergebnis: Theorie des demokratischen Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
G. Konsequenzen für die Verfassungsreform: Entflechtungsgebot . . . . . . . . . . . . . 155
16
Inhaltsverzeichnis 2. Teil Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat
159
5. Kapitel Recht und Politik
160
A. Begriffe von Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 I. Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 II. Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 B. Das Verhältnis von Recht zu Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 I. Die Auffassungen in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. Stellungnahme: Einzelfallbezogene Beurteilung von Recht und Politik . . 165 C. Recht und Politik im demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6. Kapitel Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat A. Struktur der Konfliktlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Recht und Politik in der Struktur der Konfliktlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bestehende Einteilungen der Konfliktlagen in der Literatur . . . . . . . . . . . III. Vorläufige Stellungnahme: Strukturelle Dreiteilung der Konfliktlinien im demokratischen Bundesstaat (echte föderale, echte demokratische und parteipolitisch-föderale Konflikte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Inhalte der Konflikte: Die Interessenlagen im demokratischen Bundesstaat zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zulässigkeit der Aufteilung von Interessenlagen im demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Echte föderale Streitigkeiten: Länderinteressen und Bundesinteressen als (verfassungs-)rechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Parteipolitische Streitigkeiten: die Interessen von Regierung / Regierungspartei und Opposition / Oppositionspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Wechsel von parteipolitischen zu Landesinteressen: die Schmerzgrenze parteipolitischer Loyalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169 169 169 169
174 178 178 179 184 187 191
B. Gründe der Konfliktlagen im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 I. Recht und Politik in den Ursachen föderaler Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . 194 II. Die parteipolitische Unitarisierung des demokratischen Bundesstaates . . 194
Inhaltsverzeichnis
17
1. Die rechtliche Zulässigkeit (partei-)politischen Verhaltens im Bundesrat 2. Die tatsächliche Wirkung der Parteien im demokratischen Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hintergrund der Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grenzen der (Partei-)Politisierung des demokratischen Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die politischen Grenzen der (Partei-)Politisierung . . . . . . . . . . . . . b) Die rechtlichen Grenzen der (Partei-)Politisierung . . . . . . . . . . . . . c) Recht und Politik als Grenzen parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Recht oder Politik? Erhöhung der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen als Ursache häufiger föderaler Streitigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erhöhung der Zustimmungsvorbehalte durch Verfassungsänderungen? 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 84 Abs. 1 GG (Einheitsthese)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Recht oder Politik? Das Verbundsystem als Ursache häufiger föderaler Streitigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund: Verbund vs. Trennsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 84 Abs. 1 GG oder die Tendenz des Bundes zur Regelung der Behördeneinrichtung und des Verwaltungsverfahrens? . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Recht oder Politik? Verschiebungen in der Kompetenzordnung . . . . . . . . 1. Erweiterung des Kompetenzkataloges des Bundes durch die Bundespolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verschiebungen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die ständige Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs: Die neue Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG n.F. . . . . VI. Recht oder Politik? Die Finanzverfassung als Verflechtungsursache in der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Zusammenhang von Gesetzgebung und Finanzverfassung im demokratischen Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Zusammenhang von Geld und Macht im Bundesstaat . . . . . . . . . 3. Rechtspolitische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Unitarische Vorprägung der Eliten als Ursache föderaler Streitigkeiten . . 1. Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
194 199 200 205 206 214 214 218 221 221 222 223 229 230 230 230 232 233 234 235 238 239 241 242 242 244 246 247 248
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Inhaltsverzeichnis 2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
C. Ergebnis, rechtspolitische Konsequenzen und Bewertung der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 7. Kapitel Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat
257
A. Die formelle und inhaltliche Gesetzgebung als Konfliktlösung: Verfassungsverfahrensrecht und materielle Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 I.
Annäherung an die Definition der formellen und inhaltlichen Konfliktlösung: Problemaufriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Die „formelle“ Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Die „inhaltliche“ Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
II.
Ähnlichkeiten im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
III. Eigene Definition: Innere und äußere Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . 259 B. Die äußere Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat zwischen Recht und Politik: Gremien – Verfahren – Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 I.
Nochmals: Recht und Politik in der Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
II.
Gremien der Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Verfassungsrechtliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Vermittlungsausschuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Politische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 a) Parteistrukturen im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (1) Länderrunden im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (2) Vorbesprechungen zu Bundesratsausschüssen . . . . . . . . . . . . . 270 (3) Vorbesprechungen und Begleitgespräche zum Vermittlungsausschuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Ländergliederungen im Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (1) Landesgruppen innerhalb der Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (2) Sonderfall CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Scharniere zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung
273
(1) Bundesratsrunden der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (2) Teilnahme von Ländervertretern an Sitzungen der Bundestagsfraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
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(3) Teilnahme von Ländervertretern an Sitzungen der Arbeitsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 d) Bundesstaatliche Strukturen in den Bundesparteien . . . . . . . . . . . . 274 e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 III. Verfahren zur Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Das Verfahren nach Art. 76 Abs. 1 Satz 1 GG (sog. Erster Durchgang) 276 a) Verfassungsrechtliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 b) Politische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2. Beteiligung des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Verfassungsrechtliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Politische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 (1) Vermeidung des Zustimmungserfordernisses . . . . . . . . . . . . . 281 (a) Teilung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 (α) Deutung der Gesetzesteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 (β) Praxis der Gesetzesteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 (b) Verzicht auf zustimmungsbedürftige Regelungen . . . . . . . 285 (c) Interpretation des rechtlichen Zustimmungserfordernisses durch die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 (d) Abfassung des Gesetzestextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 (e) Beseitigung des Zustimmungserfordernisses erst während des parlamentarischen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 (2) Herbeiführung des Zustimmungserfordernisses . . . . . . . . . . . . 288 (a) Absichtlich: Zustimmungsgesetz zur Einbeziehung der Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 (b) Unabsichtlich: Zufällige Bündelung . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 (3) Praxis der Stimmabgabe im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 (a) Abstimmungsverhalten im Bundesrat als Gegenstand von Koalitionsvereinbarungen in den Länderregierungen . . . . 290 (b) Flucht in die Enthaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 (c) Uneinheitliche Stimmabgabe im Bundesrat (Streit um das Zuwanderungsgesetz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 (d) Stimmabgabe nach Parteien (Politisierung des Bundesrates) 296 3. Das Verfahren des Vermittlungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 a) Verfassungsrechtliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 b) Politische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 (1) Die Verfahrensstadien in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 (2) Vom „Überparlament“ zur „Verfassungsinstitution im Wartestand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 (3) Neue Angebote im Vermittlungsausschuß . . . . . . . . . . . . . . . . 301
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Inhaltsverzeichnis (4) Vermittlungsausschuß als Verfahrenskompromiß . . . . . . . . . . 303 (5) Der unechte Einigungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 IV.
Beteiligte an der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat . . . . . . . 305 1. Verfassungsrechtliche Konstruktion: Die Verfassungsorgane . . . . . . . 305 2. Politische Praxis: Untergliederungen der Verfassungsorgane nach politischen und föderalen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
V.
Die Behandlung von Verfahrensfehlern in der rechtlich determinierten Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . 308 2. Die Aufnahme der Rechtsprechung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 309 3. Stellungnahme: Anforderungen an das äußere Gesetzgebungsverfahren 309
C. Die innere Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 I.
Theorie der inneren Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 1. Konzeptualisierungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2. Muster: (Vertrags-)Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 3. Ziel: Kompromiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 4. Mittel: Tausch und Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 5. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
II.
Praxis der Verhandlung: Techniken der Kompromißbildung . . . . . . . . . . 329 1. Kopplungsgeschäfte und Paketlösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 2. Seitenzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 3. Änderung der ursprünglichen Entwurfsformulierung . . . . . . . . . . . . . 332 4. Milderung und Beseitigung von Gesetzesfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 5. Übernahme von Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 6. Alternativlösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 7. Ausklammern / Verschieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 8. Drohung mit bzw. Verzicht auf Vermittlungsausschuß und Zustimmungsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 9. Bewertung: Janusköpfiger Charakter der Konfliktlösungsmechanismen 335
III. Die rechtliche Beurteilung von „Verfahrensfehlern“ bei der inneren Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 1. Ergebnis- oder Verfahrenskontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 a) Reine Ergebniskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 b) Optimale Methodik des Gesetzgebungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . 340 c) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . 340 d) Stellungnahme: Verfahrenskontrolle durch Verfassungsbindung . . 342
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21
2. Grundsatz: Föderaler und politischer Verhandlungsdruck . . . . . . . . . . 344 3. Grenzen: Maßstäbe der Verfahrenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 a) Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 (1) Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 (2) Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 (3) Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 b) Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 c) Funktionale Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 d) Verfassungsorgantreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 e) Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 f) Parallele zum Verwaltungsrecht: Kompromißfindungsermessen . . 367 g) Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 4. Abwägung der Verfahrensverstöße mit der Funktionsfähigkeit . . . . . . 375 5. Ausspruch des Gerichts: Nichtigkeit oder Verfassungswidrigkeit . . . . 376 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Zusammenfassung und Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
Einleitung Virtus in medio Th. von Aquin
Es ist Zeit, einige in Wissenschaft, Politik und öffentlichem Diskurs beliebte und sich beständig haltende, aber erkenntnisbehindernde Vorstellungen grundsätzlich zu überdenken. Gleichzeitig ist es notwendig, sich einiger Gedanken und Traditionen zu besinnen, um das Verständnis für scheinbar unlösbare Probleme zu befördern. Der vorliegende Untersuchungsgegenstand der Konfliktlösung zwischen den bundesstaatlichen Ebenen bei der Gesetzgebung bietet zahlreiche Beispiele dafür. Zu überdenken ist insbesondere der Umgang mit dem Bundesstaat, dem zu Unrecht ungeliebten Kind unter den Staatsstrukturprinzipen des Grundgesetzes. Keiner der anderen Verfassungsgrundsätze des Grundgesetzes – die Demokratie, das Rechtsstaatsprinzip und der soziale Staat – wird so oft in Frage gestellt wie das Bundesstaatsprinzip, obwohl es sich dabei um den Verfassungsgrundsatz mit der längsten deutschen Tradition handelt. Kaum ein Thema ist in Wissenschaft und Praxis derart umstritten und wird mit so vielen Interpretationsansätzen bedacht wie der Föderalismus im Grundgesetz. Zu diesem Aufwand steht der erreichte Fortschritt in keinem Verhältnis. Einen besonders schlechten Ruf besitzt das Organ, das für den Bundesstaat des Grundgesetzes besonders typisch ist und ihn geradezu verkörpert: der Bundesrat. Spätestens seit Ende der sechziger Jahre, als erstmals politisch entgegengesetzte Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat herrschten, ist er ein beliebter Gegenstand steter Kritik. Unter den Bezeichnungen „Blockadeinstrument“ 1, „Störfaktor“ 2 oder „Gegenregierung“ 3 wird der Bundesrat gern dafür verantwortlich gemacht, angeblich notwendige Reformen zu be- oder verhindern. Dabei schrecken Teile des Schrifttums und der Politik nicht oder wieder nicht davor zurück, Demokratie und Bundesstaat für nicht miteinander vereinbar zu halten 4. Historische Kenntnis schützt vor Überraschungen: Eine Debatte, die unter dem Titel „Vereinbarkeit von Demokratie 1
Schneider, NJW 1997, S. 3757 (3759). Stünker (MdB), ZRP 2005, S. 279. 3 So der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt vor dem Bundesrat, Sten. Bericht, 407. Sitzung, S. 235; s. a. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 68. 4 Z. B. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 117 ff.; Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat. Das vergessene Spannungsverhältnis zwischen Parlament, Demokratie und 2
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Einleitung
und Bundesstaat“ bereits im Kaiserreich geführt wurde, die für das Grundgesetz abgeschlossen schien und in Vergessenheit 5 geraten ist. Einer kritischen Betrachtung ist daher neben dieser Debatte die dominante und vorherrschende Stellung des Demokratieprinzips zu unterziehen. Im Grundgesetz scheint ihm alles unterworfen. In der politischen Praxis adelt nichts so sehr, wie als demokratisch bezeichnet zu werden; nichts vernichtet so sehr, wie der Vorwurf, undemokratisch zu sein. Gibt es tatsächlich eine Präponderanz des Demokratieprinzips? Wie stehen andere Verfassungsgrundsätze zum Demokratieprinzip, wie etwa zum Bundesstaatsprinzip? Und vor allem: Was folgt daraus für das Grundgesetz? Welchen Charakter trägt es? Wie ist das Ergebnis der Entscheidungen beschaffen, die im Rahmen des Grundgesetzes ergehen? Das Ergebnis dieser Entscheidungen ist in der Regel das Recht. Es ist das Resultat eines politischen Prozesses. Die Rechtsetzung ist das Ziel des politischen Prozesses. Recht ist das Ergebnis von Politik. Das wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis Recht und Politik zueinander stehen. Nirgendwo begegnen sich beide so sehr wie in der Gesetzgebung. In der Sache kann dieses nicht gerade im Focus der Literatur stehende Verhältnis 6 hilfreich sein, das Verfahren der Normsetzung zu analysieren. Recht und Politik stehen in einer besonderen Beziehung zueinander: Sie scheinen einerseits wie Gegensätze, andererseits wie ein zusammengehörendes Begriffspaar. Politik gestaltet, Recht verwaltet; Recht ist Politik, weil es ihr Ergebnis ist; Recht gibt der Politik Regeln vor, setzt ihr damit Grenzen, ermöglicht ihr aber auch das Gestalten. Politik und Recht wissenschaftlich zu untersuchen, sind zwei Disziplinen berufen: die Rechts- und die Politikwissenschaft. Im Gegensatz zu ihrem jeweiligen Untersuchungsgegenstand scheinen die beiden Nachbardisziplinen nicht besonders eng miteinander verbunden. Ihr Verhältnis ist von einem bestenfalls gleichgültigen Nebeneinander, wenn nicht vom Streit darüber geprägt, wer die wichtigere, die ältere oder die wahre Wissenschaft von beiden sei. Es wäre nicht zweckmäßig, wenn sich die Rechtswissenschaft nur auf den verrechtlichten Teil der Politik beschränkte und die Politikwissenschaft das Normative vernachlässigte. Dabei würde eine Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen einen Erkenntnisgewinn bedeuten. Bundesstaat, S. 81 ff.; politikwissenschaftlich grundlegend Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat. 5 Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat. Das vergessene Spannungsverhältnis zwischen Parlament, Demokratie und Bundesstaat, S. 81 ff. 6 Es sei denn, es geht um die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes; vgl. dazu jüngst Hassemer, JZ 2008, S. 1 ff.; van Ooyen / Möllers, Recht gegen Politik, S. 9 ff.; Piazolo, Das Bundesverfassungsgericht und die Behandlung von politischen Fragen, S. 293 ff.; ders. (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht – Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik; aus der sonstigen Literatur dazu statt vieler Leibholz, DVBl. 1974, S. 396 ff.; Hinkel, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik; Benda, ZRP 1977, S. 1 ff.; Ipsen, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 263 ff.
Einleitung
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Dies gilt insbesondere für den hiesigen Untersuchungsgegenstand – die Gesetzgebung. In der Gesetzgebung begegnen sich nicht nur Recht und Politik. In der Praxis begegnen sich zuvörderst die unterschiedlichsten Interessen: die der Parteien und der von ihnen vertretenen Wähler, die der Interessenverbände und nicht zuletzt die der an der Gesetzgebung beteiligten Bundesländer. Daher erfordert die Gesetzgebung im pluralen und demokratischen Bundesstaat die Vermittlung zwischen diesen Belangen und unter Umständen die Lösung von Konflikten. Die Konfliktlösung als solche sowie den politischen Prozeß zu untersuchen sind zunächst Gegenstände der Sozialwissenschaften. Ihre Erkenntnisse können freilich auch für die Rechtswissenschaft von Bedeutung sein, da sie durch die Bereitstellung empirischen Materials zur Praxis des Gesetzgebungsverfahrens deren Ergebnisse erweitern, in einen Funktionszusammenhang stellen und erst damit die Wirkungsweise des Verfassungsrechts vollständig darstellen können. Untersuchungen haben ergeben, daß sich die Rechtswissenschaft weitgehend auf die rechtliche bzw. rechtsdogmatische Seite des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens beschränkt, während die Politikwissenschaft die tatsächlichen und internen Vorgänge der Parlamentsarbeit und damit der Gesetzesentstehung betrachtet 7. Insofern ist eine Zurückhaltung der Juristen gegenüber der Untersuchung der Praxis festzustellen. Dies dürfte mit einem überhöhten bis devoten Verständnis von der Gesetzgebung zusammenhängen, das es verhindert, die durchaus irdischen Vorgänge im Gesetzgebungsprozeß zu beleuchten oder sie sogar rechtlichen Regeln zu unterwerfen 8. Denn eigentlich ist die Gesetzgebung, also die Schaffung von Rechtsnormen, ein juristisches Thema. Es ist Aufgabe der Rechtswissenschaft, den rechtlichen Rahmen der politischen Interessenauseinandersetzung zu klären. Die Regeln, nach denen die Politik streitet, müssen von der Verfassung und damit durch das Recht festgelegt sein, um der politischen Auseinandersetzung die notwendige Stabilität und Berechenbarkeit zu geben. Hier können die empirischen Wissenschaften von der Rechtswissenschaft profitieren, indem sie ihnen mit der ihr eigenen Genauigkeit aufzeigt, an welche Regeln sich die an der Gesetzgebung Beteiligten zu halten haben. Diese Betrachtung von Regeln und Grenzen fehlt oftmals in den Sozialwissenschaften oder ist bestenfalls umstritten. Insofern bietet das vorliegende Thema eine Möglichkeit, das Verhältnis von Rechts- und Sozialwissenschaft zu überdenken. Ähnliches wie für die Kooperation von Rechts- und Politikwissenschaft gilt für das Verhältnis der Verfassungstheorie zur Verfassungsdogmatik. Werden beide in der Literatur fahrlässigerweise miteinander vermengt, wie zum Teil angenommen wird? Ist die Verfassungstheorie Ballast für die Dogmatik und verstellt damit den Blick auf die Rechtsanwendung? Oder können nicht etwa die vorpositiven Grundlagen des Verfassungsrechts Hilfe und stützender Rahmen in Streitfragen sein? 7 8
Helms, Wettbewerb und Kooperation, S. 44 f. Näher unten 7. Kap., C. III. 1. d) a. E. m.w. N.
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Einleitung
Ein Gegenstand der Verfassungstheorie, aber auch der Politikwissenschaft, der ebenfalls in Vergessenheit geraten ist, jedoch eine solche Hilfe für die Dogmatik darstellen könnte, ist der Topos der gemischten Verfassung. Dieser bereits in der Antike bekannte Gedanke findet sich nur noch vereinzelt als Begriff in der Literatur 9, eine ausführliche Auseinandersetzung 10, geschweige denn ein Versuch der Verbindung von Verfassungstheorie und -dogmatik finden sich kaum. Das Verfassungsorgan, das sich im Schnittpunkt der Sphären von Bundesstaats- und Demokratieprinzip, Recht und Politik und den anderen zuvor genannten Bereichen befindet, ist der Bundesrat. Er macht immer wieder durch spektakuläre Debatten auf sich aufmerksam. In der 14. Wahlperiode waren dies die Abstimmungen über die Steuerreform am 14. Juli 2000 11 und über das sog. Zuwanderungsgesetz am 22. März 2002 12. Während letztere zahlreiche Veröffentlichungen im wissenschaftlichen Schrifttum nach sich zog 13 und durch das Bundesverfassungsgericht entschieden wurde 14, wurde das Votum über die Steuerreform nur selten und kurz erwähnt, nie abschließend bewertet und eingehend untersucht 15. Bei dieser Abstimmung konnte die damalige Bundesregierung trotz einer Mehrheit der Oppositionsparteien im Bundesrat in außergewöhnlichen parainstitutionellen Verhandlungen durch Gewährung von bundesstaatlichen Finanztransfers an bestimmte Bundesländer diese aus den Reihen der Opposition herauslösen, ihre Zustimmung zu dem Gesetz erwirken und damit eine Mehrheit im Bundesrat herstellen, die ohne die Zahlungen nicht zustande gekommen wäre. Dieser Fall vereinigt sämtliche denkbare Facetten der Staatspraxis und der Wissenschaft in sich: das Verhältnis von Recht und Politik, Demokratie und Bundesstaatsprinzip, Macht und Geld im Verfassungsstaat, Interessenvermittlung, formelle und informelle Konfliktlösung und die Rolle des Bundesrates in der Gesetzgebung. Im einzelnen ist die Abstimmung wie folgt abgelaufen 16: Am 14. Juli 2000 hat der Bundesrat der von der Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten und bereits vom Bundestag verabschiedeten SteuZ. B. bei Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. e) α. Nach langer Zeit das politikwissenschaftliche Werk des Schweizers Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, 2006. 11 Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz) vom 23. Oktober 2000, BGBl. I, S. 1433. 12 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 20. Juni 2002, BGBl. I, S. 1946. 13 Vgl. nur den Sammelband Meyer (Hrsg.), Abstimmungskonflikt im Bundesrat im Spiegel der Staatsrechtslehre, 2003. 14 BVerfGE 106, 310. 15 Nachweise s. u. in Anm. 30. 16 Sofern in der Untersuchung auf den Fall Bezug genommen wird, sind diese Abschnitte in kleinerer Schriftgröße gesetzt. 9
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Einleitung
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erreform zugestimmt 17 und damit der Union, welche über die von ihr geführten Landesregierungen die Mehrheit im Bundesrat besaß, eine schwere politische Niederlage beigebracht. Mit dem Zusatzangebot, den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer noch einmal um einen Prozentpunkt auf 42 % zu senken und Unternehmensübergaben des Mittelstandes zu erleichtern, sowie mit zahlreichen finanziellen Zusagen an einzelne Bundesländer, ist es der Bundesregierung in letzter Minute gelungen, auch Länder, in denen die damaligen Oppositionsparteien CDU / CSU und FDP an der Regierung beteiligt waren, zur Zustimmung zu bewegen. Für das Steuersenkungsgesetz stimmten neben den von SPD und Grünen regierten Ländern auch die großen Koalitionen in Bremen, Berlin und Brandenburg, weiterhin das SPD / FDP-regierte Rheinland-Pfalz sowie das von einer SPD / PDS-Regierung geführte Mecklenburg-Vorpommern. Die Reform erhielt damit 41 von 69 Stimmen. Neben den steuerlichen Korrekturen in einem Volumen von rund sieben Milliarden DM hat es umfassende Zusagen der Bundesregierung für finanzielle Hilfen an einzelne Bundesländer gegeben 18. Berlin erhielt zur Finanzierung der besonderen Sicherheitsvorkehrungen, die in einer Hauptstadt notwendig sind, einen Zuschuß von 75 Millionen DM im Jahr. Für die Förderung der Berliner Museumsinsel als „nationalem Kulturerbe“ bringt der Bund 25 Millionen DM auf. Weitere 20 Millionen DM dienen unter anderem der Sanierung des Olympiastadions. Schließlich wurde ein zügiger Abschluß des Hauptstadtvertrages zugesagt. Brandenburg erhielt für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen rund 450 Millionen DM. Hierbei handelte es sich allerdings nicht um zusätzliche Gelder; die Mittel sollten lediglich früher fließen. Dem Land Bremen hat die Bundesregierung zugesagt, daß die günstige steuerliche Einwohnerwertung der Stadtstaaten im Länderfinanzausgleich durch dessen Neuregelung, die das Bundesverfassungsgericht bis Ende 2002 verlangt hatte 19, nicht berührt wird. Damit profitierten auch Berlin und Hamburg von dieser Regelung. Mecklenburg-Vorpommern stimmte zu, nachdem der Bundeskanzler in einem persönlichen Gespräch zugesagt hatte, daß der Bund sich für steuerliche Vorteile für das Gaskraftwerk Lubmin verbürgen würde. Weiterhin soll die Bundesbahnstrecke Rostock-Berlin früher ausgebaut werden. Rheinland-Pfalz erhält keine weiteren Gelder, konnte aber in der Sache selbst Steuererleichterungen für den Mittelstand in Höhe von fünf bis sieben Milliarden DM erwirken. Die oben erwähnten steuerlichen Korrekturen lagen dem Bundesrat nur als gemeinsamer Entschließungsantrag von neun Ländern vor. Verabschiedet werden konnte nur das Steuergesetz, wie es der Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat beschlossen hatte. Die Veränderungen und Zusagen wurden zum größten Teil erst in der Nacht zum 14. Juli 2000 in Telefonaten und persönlichen Gesprächen ausgehandelt 20 und sind daher nicht Teil der Vorlage aus dem Vermittlungsverfahren. Sie haben damit lediglich Aufforderungscharakter, keine Gesetzeskraft. Ein vom Finanzminister zugesagtes Änderungsgesetz wurde kurz darauf verabschiedet.
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Vgl. FAZ v. 15. Juli 2000, S. 1 ff. Vgl. zum folgenden FAZ v. 18. Juli 2000, S. 1 ff.; Focus, Nr. 29/2000, S. 24 f. BVerfG, NJW 2000, S. 1097. FAZ v. 15. Juli 2000, S. 1; vgl. Starck, FAZ v. 19. Juli 2000, S. 8.
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Einleitung Heftige Reaktionen aus den Reihen der Politik setzten sodann ein. Der damalige thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel kritisierte scharf, er habe einen solchen Mißbrauch eines Verfassungsorgans in 30 Jahren nicht erlebt. Die Bundesregierung habe sich ihre Mehrheit hinter dem Rücken gewählter Mitglieder des Hauses auf schamlose Weise zusammengekarrt 21. Die Abgeordnete Christa Reichard warnte, ein Parlament, das sich gegen seine eklatante Mißachtung nicht zur Wehr setze, mache sich selbst unglaubwürdig 22. Von einem „föderalen Kuhhandel“ sprach der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff. Das Gerangel und Gefeilsche im Bundesrat sei eine Schande für unser politisches System 23. Diese Kritik am Verhalten der Bundesregierung verhallte aber recht schnell. Statt dessen setzte in der Politik die Diskussion über die Niederlage der Opposition und die innerparteilichen Konsequenzen in der CDU sowie die Rolle der zum damaligen Zeitpunkt erst kurz im Amt der Oppositionsführerin befindlichen Angela Merkel ein 24. Auch in der Presse war die Taktik des Bundeskanzlers Objekt der Kritik, die jedoch ebenfalls schnell der Diskussion um die interne Situation in der Union wich. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte sich das Vorgehen der Bundesregierung als wenig respektvoll gegenüber den Zielen und Regeln der föderalen Staatsordnung dar 25. Für dasselbe Blatt schrieb der Göttinger Staatsrechtslehrer Starck, der 14. Juli 2000 sei ein schwarzer Tag für das bundesstaatliche System geregelter Zuständigkeiten 26. Es handele sich um Machtausübung außerhalb der verfassungsrechtlichen Formen und Finanzierungsvorschriften. In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Verfassungsrechtler Paul Kirchhof sagte dieser, das Angebot einer speziellen Finanzzuweisung bei entsprechendem Abstimmungsverhalten habe nicht gemacht und auch nicht angenommen werden dürfen 27. In den Augen der Zeitung Die Zeit beschädigt der trickreiche Kuhhandel des damaligen Finanzministers Eichel den Föderalismus 28. Die Süddeutsche Zeitung sah den Föderalismus als nicht mehr wettbewerbsfähig an. Die Steuerreform habe nur dank eines bizarren Teppichhandels den Bundesrat passieren können. Gleichwohl sei dies ebenso legitim, wie die Instrumentalisierung des Bundesrates durch die Bundestagsopposition 29. Von der wissenschaftlichen Seite her wurde der Fall nur kurz mit den o. a. Artikeln der genannten Staatsrechtler in der Presse bedacht und nur in wenigen Fällen erwähnt, meist lediglich als Kommentar oder bloßes Beispiel, aber nie eingehend untersucht 30. Sie erschöpften sich meist in wenigen Zeilen sowie darin, das angeführte Interview mit Paul Kirchhof zu zitieren.
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Das Parlament, Nr. 31 – 32/2000, S. 18. Focus, Nr. 30/2000, S. 24. FAZ v. 19. Juli 2000, S. 8. Vgl. FAZ v. 17. Juli 2000, S. 1 ff.; Der Spiegel, Nr. 29/2000, S. 26 f. FAZ v. 15. Juli 2000, S. 1. FAZ v. 19. Juli 2000, S. 8. FAZ v. 24. Juli 2000, S. 17. Die Zeit, Nr. 30/2000, S. 16. SZ v. 24. Juli 2000, S. 4.
Einleitung
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Dieser Fall bietet Anlaß, die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat systematisch zu untersuchen. Um sich dem Thema zu nähern, soll es in seine einzelnen Bestandteile zerlegt und im einzelnen beleuchtet werden. Dazu gliedert die Untersuchung sich in zwei große Teile: 1. die Theorie des demokratischen Bundesstaates und 2. die Praxis seiner Konfliktlösung. Zunächst ist ein Bild des demokratischen Bundesstaates zu entwerfen. Dabei soll es nicht primär darum gehen, die deformierte Verfassungswirklichkeit darzustellen. Dazu sind in der Vergangenheit genug Stellungnahmen abgegeben worden, worüber die Grundkonstruktion des Grundgesetzes in Vergessenheit und der Bundesstaat in Verruf geraten sind. Vielmehr soll im ersten Teil die ursprüngliche und rechtliche Struktur des demokratischen Bundesstaates freigelegt, Verständnis für sie geweckt und ihr schlechter Ruf beseitigt werden. Dennoch soll auch auf Pathologien aufmerksam gemacht, unter dem Blickwinkel von Recht und Politik den Ursachen nachgegangen und daraus rechtspolitische Vorschläge entwickelt werden. Der zweite Teil wird sich mit der Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung beschäftigen. Dazu gehört es auch zu klären – ebenfalls unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Recht und Politik –, welche Interessen und Konfliktlinien im Bundesstaat bestehen und wie sie gelöst werden. Dieser Konfliktlösung soll ein theoretisches Gerüst gegeben sowie ihre rechtliche und politische Praxis dargestellt werden.
30 Z. B. Klein, ZG 2002, S. 297; v. Münch, NJW 2000, S. 2644 (2645); Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 1; Rührmair, Der Bundesrat, S. 53, 61; Sturm, Föderalismus in Deutschland, S. 65 f.; politikwissenschaftlich als Fallbeispiel zur Vetospieler-Theorie von Tsebelis: Merkel, BJS 2003, S. 255 ff.; wirtschaftswissenschaftlich: Kommentar von Hickel, Blätter für deutsche und internationale Politik 2000, S. 906 ff.
1. Teil
Theorie des demokratischen Bundesstaates Der demokratische Bundesstaat setzt sich auf den ersten Blick aus Demokratie- und Bundesstaatsprinzip zusammen. Dabei stellt sich die Frage: Spielt sich die gesamt-(bundes-)staatliche Gesetzgebung „zwischen Föderalismus und parlamentarischer Demokratie“ 1 ab, mit der Folge, daß die zwischen beiden Grundsätzen bestehende Spannung für Problemfälle sorgt? Oder hat das Grundgesetz, wie es Art. 20 Abs. 1 GG vorsieht, wirklich einen „demokratischen Bundesstaat“ entworfen und was macht ihn aus? Um diese Fragen zu beantworten und um zu einer Theorie des demokratischen Bundesstaates zu gelangen, sollen beide Prinzipien in Beziehung zueinander gesetzt werden. Daher besteht Grund zu der Annahme, daß dies mit der alten, bereits erwähnten, theoretischen Streitfrage geschehen kann, ob beide Prinzipien überhaupt miteinander vereinbar sind. Das Verhältnis von Bundesstaatlichkeit und Demokratie wiederum gilt seit der Gründung des Deutschen Reiches bis heute als nicht ganz widerspruchsfrei 2 und ist einer abschließenden und befriedenden Klärung noch nicht zugeführt. Unter der These, daß Demokratie und Bundesstaatlichkeit im Grundgesetz nur als demokratische Bundesstaatlichkeit (vgl. Art. 20 Abs. 1 GG) zu verstehen sind, soll in Verschmelzung beider Prinzipien eine Theorie des demokratischen Bundesstaates entworfen werden. Sie soll das Modell sein, mit dem sich die Staatspraxis erklären lassen kann. Unter Zugrundelegung der These, daß beide Prinzipien nicht aus sich selbst heraus, sondern nur im Zusammenhang mit dem jeweils anderen verstanden werden können und einen neuen Verfassungstypus eigener Art schaffen, soll eine Alternative zu den bisherigen Lehren angeboten werden, die Bundesstaat und Demokratie „nur“ als Ergänzung zueinander deuten.
1 Schenke, Gesetzgebung „zwischen Föderalismus und parlamentarischer Demokratie“, ParlRParlPr, § 55, vor Rn. 1; vgl. a. die Kapitelüberschrift bei Kilper / Lhotta, Föderalismus, S. 122: „Gesetzgebung im Spannungsverhältnis von Parlamentarismus und Föderalismus“. 2 Selbst in der jüngsten Literatur finden sich noch Abschnitte zur Vereinbarkeit beider Prinzipien. Zu dieser Streitfrage ausführlich unten 3. Kap., A.
1. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Demokratie
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1. Kapitel
Bundesstaatsprinzip und Demokratie in der Verfassungsgeschichte Deutschlands A. Nur föderale Tradition in der deutschen Verfassungsgeschichte? Deutschland kann auf eine lange föderale Tradition zurückblicken. Dies wird auch allenthalben in der Literatur festgestellt. Dementsprechend finden sich zu Recht in den meisten Werken zum Bundesstaatsprinzip Darstellungen zur Verfassungsgeschichte der föderalen Ordnung Deutschlands 1. Dabei wird stets der Föderalismus isoliert betrachtet. Das Grundgesetz kreiert nun aber ausdrücklich einen „demokratischen [und sozialen] Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG). Mithin soll im folgenden die Verfassungsgeschichte Deutschlands nicht bloß im Hinblick auf ihren föderalen Anteil dargestellt, sondern auch gefragt werden, wie Demokratie und Bundesstaatlichkeit sich in der deutschen Verfassungsgeschichte zueinander verhalten und wie sie sich zum demokratischen Bundesstaat entwickelt haben. I. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation Das Alte Reich war über die Jahrhunderte bis zu seinem Ende 1806 hinweg der staats- und völkerrechtliche Rahmen für die Ausübung politischer Herrschaft in Deutschland und darüber hinaus. Es war kein Staat im modernen Sinne 2, gilt aber – sofern man ihn überhaupt in heutige rechtliche Kategorien fassen kann 3 – als Staatenbund 4 und damit als eine frühe Form föderativer Ordnung 5. 1 Statt vieler Hoppenstedt, Die bundesstaatliche Ordnung, S. 3 ff.; Engels, Chancengleichheit und Bundesstaatsprinzip, S. 34 ff.; Oeter, Integration und Subsidiarität; politikwissenschaftlich Laufer / Münch, Föderatives System, S. 41 ff.; Sturm, Föderalismus, S. 17 ff. 2 Randelzhofer, Heiliges Römisches Reich, S. 196; Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 93; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 170; Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 10. 3 Die Rechtsnatur des Alten Reiches war bereits zu Zeiten seines Bestehens umstritten und ist es bis heute, vgl. Kimminich, Historische Grundlagen und Entwicklung des Föderalismus, S. 4 ff.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 170; Randelzhofer, Heiliges Römisches Reich, S. 67 ff. 4 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 170 („mehr als nur ein loser Staatenbund“); Kimminich, Historische Grundlagen und Entwicklung des Föderalismus, S. 4 (7); Randelzhofer, Heiliges Römisches Reich, S. 297 ff. 5 So auch Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 124, 127.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Die föderative Ordnung hat damit in Deutschland eine längere Tradition als die staatliche. Denn im Alten Reich waren zunächst die Stände als Personenverbände vereinigt und erst später, im Laufe der Entwicklung hin zur räumlichen Gliederung von Herrschaft, wurden die Territorialstaaten zusammengefaßt. Dem standen als „Zentralorgane“ der Immerwährende Reichstag und die Wahlkaiser gegenüber. Es existierten also zwei Ebenen. Damit ließ sich bereits damals das Reich nicht in das klassische Schema der Staatsformen einfügen 6. Die Reichspublizistik unterschied folglich mit der Majestas realis und der Majestas personalis zwei Seiten der Souveränität und teilte diese damit zwischen Kaiser und Reichsständen auf 7. Andere versuchten das Reich als zusammengesetztes Gemeinwesen (res publica composita) und System zweier Ebenen (duplex regimen) zu deuten 8. Dies geriet in Widerspruch mit der staatsrechtlichen Autorität nach Pufendorf, der die rechtliche Möglichkeit einer derartigen Konstruktion leugnete, die Reinheit der aristotelischen Staatsmodelle und Bodin’schen Souveränitätsdoktrin verteidigte gegen die begriffsperrige, historisch gewachsene Komplexität des Alten Reiches und dieses als „monstro simile“ abqualifizierte 9. Dabei wird es offenbar in Teilen der Literatur bedauert, daß das Reich Zeit seiner Existenz ein heterogener Verband ohne echte Spitze blieb. So wurde etwa das Fehlen einer zentralen Herrschaftsgewalt konstatiert 10, was im übrigen auf das noch zu erörternde Bedürfnis nach einer einheitlichen Herrschaftskonstituierung hindeutet. Es zeigt sich also bereits hier, daß die Existenz zweier Ebenen innerhalb einer Organisation konstruktive Probleme hervorgerufen hat. Offensichtlich bereitet es Schwierigkeiten, die Vielheit der politischen Entscheidungsträger mit der Idee der Einheit zu verknüpfen 11. II. Rheinbund Im Jahre 1806 schlossen sich unter dem Protektorat Napoleons 39 deutsche Staaten zu einem Bund zusammen, dem Rheinbund. In seiner Bundesakte sah er die Schaffung von gemeinsamen Einrichtungen vor und stellte eine Möglichkeit dar, die souverän gewordenen Staaten zu verbinden. Obwohl es dazu nie kam, weil mit der Niederlage seines Erschaffers auch der Bund verschwand, ging von 6
Reinhard, Zeitschrift für historische Forschung 29 (2003), S. 343 ff. Dreier, Souveränität, Sp. 1203 (1204). 8 Hugo, De statu regiorum Germaniae, 1689, Cap. II (zit. n. Isensee, AöR 115 [1990], S. 248, [266, Fn. 47]); dazu Preuß, Gemeinde, Staat, Reich, S. 11; Randelzhofer, Heiliges Römisches Reich, S. 78 f. 9 Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (266). 10 So Dreier, Souveränität, Sp. 1203 (1205). 11 Vgl. Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (265); Eckertz, Bundesstaat und Demokratie, S. 13 ff.; vgl. zum Nationenbegriff des Alten Reiches Nonn, Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982), S. 120 f. 7
1. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Demokratie
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ihm ein bedeutender Impuls für die staatliche und gesellschaftliche Neuerung Deutschlands aus, da er eine Etappe auf dem Weg aus dem Alten Reich hinüber zu neueren, nämlich föderalen Formen darstellte, mit denen allein eine Zusammenfassung Deutschlands denkbar war 12. Bundesstaatlichkeit war damit der schon früh vorgegebene Weg zu nationaler Einheit. III. Deutscher Bund Auf dem Wiener Kongreß 1815 entstand zur Neuordnung Europas nach dem Sieg über Napoleon der Deutsche Bund. Seine Verfassung setzte sich aus der Bundesakte i.V. m. der Wiener Schlußakte von 1820 zusammen 13. Aus dieser ergab sich auch die Rechtsnatur des Bundes. Es handelte sich dabei um einen Staatenbund 14, denn die Staatsgewalt verblieb im wesentlichen bei den Mitgliedsstaaten. Als Organ des Bundes wurde eine ständige Bundesversammlung geschaffen, der Bundestag, so genannt in Anlehnung an den früheren Reichstag 15. Er bestand aus Gesandten der einzelnen Staaten. Das Stimmrecht der einzelnen Staaten richtete sich nach ihrer Größe, zahlreiche Beschlüsse wurden – für einen Staatenbund bemerkenswerterweise – mit Mehrheit gefaßt (2/3-Mehrheit, Art. VIII Abs. 2 Deutsche Bundesakte), grundlegende Entscheidungen bedurften jedoch der Einstimmigkeit. Die Mitglieder des Bundestages waren weisungsgebundene Gesandte ihrer Staaten. Aufgrund dieser Verfahren stellt der Bundestag einen Vorläufer des heutigen Bundesrates dar 16. In die Zeit des Deutschen Bundes fielen die Bewegung des Nationalstaates sowie die Phase des Konstitutionalismus. In Nachwirkung der Französischen Revolution und der Staatsgründung der Vereinigten Staaten standen sich zwei verschiedene, sich widerstreitende Modelle der Nationalstaatswerdung gegenüber: Das frühere, aber fernere Vorbild des amerikanischen Bundesstaats und das nähere, jedoch wirkmächtigere des französischen Unitarismus 17. Bei dieser Spannung und Gewichtung ist es bis heute geblieben. Der Einheitsstaat ist Grundform, der Föderalismus die begründungsbedürftige Variante 18. Unter an12 Vgl. Laufer / Münch, Föderatives System, S. 42 f.; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 125. 13 Ausführlich Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 131 f. 14 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 129 f.; Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 236; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 43; Kimminich, Historische Grundlagen und Entwicklung des Föderalismus, S. 4 (10); diff. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 670. 15 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 588. 16 Vgl. umfassend zu den Vorläufern des Bundesrates Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Teil I, Rn. 1 ff.; Rührmair, Der Bundesrat, S. 17 ff. 17 Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (261 ff.); Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, S. 67 ff.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
derem durch dieses französische Vorbild erklärt sich die Einheitsfixierung der Deutschen und ihrer Staatslehre. Besonders in Deutschland stand das Gegenmodell des Bundesstaates das ganze 19. Jahrhundert im Verdacht, ein Instrument restaurativer Kräfte zu sein. Zu diesem Mißverständnis trug vor allem der Deutsche Bund bei, der als Staatenbund zwischen den Fürsten entstanden war 19. Nicht auf Bundes-, sondern auf der Ebene der Einzelstaaten setzte eine Entwicklung ein, die zwischen 1815 und 1848 als Frühkonstitutionalismus bezeichnet wird 20. Er wurde bestimmt durch die Reorganisation der Herrschaft durch die Monarchen selbst, die in der Regel einseitig Verfassungen erließen und damit eine Neuordnung der Staaten „von unten“ ausschlossen. In allen deutschen Verfassungen des Frühkonstitutionalismus zwischen 1815 und 1848 blieb der Fürst Inhaber der gesamten Staatsgewalt. Vorbild dafür war die Charte der französischen Rastaurationsmonarchie 21. Auch hier zeigt sich die Vorbildwirkung Frankreichs, dem Erfinder des modernen Staates und des Souveränitätsgedankens 22. IV. Paulskirchenverfassung Dieses Streben nach nationaler Einheit und Einhegung der Herrschaft durch eine Verfassung drückte sich am meisten nach dem Ausbruch der Märzrevolution 1848 in dem Entwurf einer Reichsverfassung aus, den die Nationalversammlung im selben Jahr beschloß. Er verwirklichte die Forderungen der konstitutionellen Bewegungen in Form eines Bundesstaates. Bei den Verfassungsberatungen spielte auch das föderale Beispiel der USA und seiner bundesstaatlichen Konstruktion und nicht das einheitsstaatliche Frankreich als das traditionelle Leitbild der Deutschen eine Rolle 23. Dies wird oft vernachlässigt. Dementsprechend weist Boldt zu Recht daraufhin: „Das darf man nicht vergessen, wenn man nach den politischen Vorbildern fragt, nach denen man sich damals in Deutschland richtete; es waren dies nicht nur die konstitutionelle Monarchie Englands mit ihrem Zusammenspiel von König und Parlament und nicht nur die Idee der Volkssouveränität, wie 18
Evers, Durch Teile Eins, S. 45 (51). Evers, Durch Teile Eins, S. 45 (51). 20 Boldt, Konstitutionalismus, Sp. 641 (642). 21 Boldt, Konstitutionalismus, Sp. 641 (642). 22 Isensee u. a., Staat, Sp. 133 (140). 23 Ausschußbericht über die deutsche Reichsverfassung, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 1848, S. 2717 (2723 f.); Waitz, Das Wesen des Bundesstaates, in: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur, 1853, S. 494 (530), zit. n. Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (262, Fn. 37); Ellwein / Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 107; vgl. a. zu den Einflüssen der USA auf die deutsche Verfassungsentwicklung Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, S. 16 ff. 19
1. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Demokratie
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man sie in der Französischen Revolution und Rousseau vorfand“ 24. Es wird sich zeigen, daß dem Grundgesetz ebenfalls eine Orientierung am Rousseauschen Demokratiebegriff fremd ist. Die nie in Kraft getretene Paulskirchenverfassung ist dem Grundgesetz ähnlicher als die Reichsverfassung von 1871. Gleichwohl orientieren sich auch diese sowie die Weimarer Reichsverfassung an ihr. Daher ist eine kurze Darstellung erforderlich. Hinsichtlich der hier in Rede stehenden bundesstaatlichen Tradition sah die Paulskirchenverfassung vor, ein zu gründendes Reich als Bundesstaat 25 aufzubauen (vgl. §§ 5, 87 Satz 2, 88 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 26). Wegen des zuvor geschilderten Verdachts der Restauration der bundesstaatlichen Idee kostete es jedoch erhebliche Kämpfe, bis sich diese Idee durchsetzte 27. Das Reich hatte selbst Staatsqualität, ohne daß die Staatsqualität der deutschen Länder aufgehoben wurde. Man konstruierte also eine doppelte Staatlichkeit. Dementsprechend sah der Verfassungsentwurf auch eine Repräsentationsmöglichkeit der Gliedstaaten vor: das Staatenhaus. Es wäre je zur Hälfte aus Vertretern der Regierungen und der Volksvertretungen der einzelnen Staaten besetzt worden. Zusammen mit dem Volkshaus, hervorgehend aus allgemeinen Wahlen auf Reichsebene, hätte es den Reichstag gebildet, das zentrale Organ der Reichsgewalt (§§ 85, 86, 88 Abs. 1, 93). Die Beschlüsse des Reichstages sollten nur durch Übereinstimmung beider Häuser zustande kommen. Damit wäre ein Zwei-Kammer-System, jetzt in bundesstaatlich abgewandelter Form, geschaffen worden 28. Bei diesem hätten Volkshaus als Repräsentant des Reichssvolkes und Staatenhaus als Vertreter der Einzelstaaten in einem gleichberechtigten Verhältnis zueinander gestanden. Die Legitimation staatlicher Entscheidungen wäre zu gleichen Teilen vom Reichsvolk und den Staatenvölkern ausgegangen. Alle Mitglieder des Staatenhauses sollten ein freies Mandat haben (§ 96). Auch das Staatenhaus sollte den Charakter einer unabhängigen parlamentarischen Körperschaft besitzen. Es war zwar als Gegengewicht gegen den demokratischen Unitarismus des Volkshauses gedacht, verkörperte aber selbst eine bestimmte Form des demokratischen Prinzips, nämlich die föderative Demokratie 29. Die innere Spannung von Föderalismus und Unitarismus erhielt im bundesstaatlichen Gewaltenteilungssystem der Paulskirchenverfassung mit dieser Gewaltenbalancierung, aber auch Demokratiegliederung einen bedeutenden und konstruktiven 24
Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 143. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 150; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 48. 26 Abgdr. bei Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, Nr. 108. 27 Evers, Durch Teile Eins, S. 45 (51). 28 Laufer / Münch, Föderatives System, S. 47. 29 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 2, S. 830. 25
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Sinn 30. Die Paulskirchenverfassung zeigt damit auch die frühe gemeinsame Entwicklung von Föderalismus und Demokratie auf. Sie beschrieb einen frühen demokratischen Bundesstaat, in dem nationale Einheit, bundesstaatliche Gliederung und Volkssouveränität zusammenfielen. V. Norddeutscher Bund Nach dem Sieg Preußens über Österreich 1866 wurde durch den Prager Frieden der alte Deutsche Bund aufgelöst und die Einrichtung des Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung beschlossen 31. Er war ein Bundesstaat 32, obwohl die einzelnen Gliedstaaten Träger der Zentralgewalt waren. Die Bundesverfassung kam zunächst durch Annahme des Verfassungsentwurfs durch den konstituierenden Reichstag vom 16. April 1867 zustande 33. Dieser setzte sich aufgrund allgemeiner, gleicher und direkter Wahl zusammen 34. Gleichzeitig trat die Verfassung durch 23 Publikationspatente der Länder in Kraft. Diesen hatten zuvor die einzelstaatlichen Landtage ihre Zustimmung erteilt 35. Dieses Zustimmungsrecht räumten die Landesregierungen den einzelstaatlichen Landtagen ausdrücklich durch eine zweite Verfassungsvereinbarung ein. Die Legitimation erhielt die Bundesverfassung damit sowohl durch das Gesamtvolk in Gestalt des Norddeutschen Reichstags als auch durch die Bevölkerung in den Einzelstaaten durch die Landtage 36. Die Legitimation der norddeutschen Bundesverfassung erfolgte damit zugleich national-unitarisch wie föderal, jeweils unter Beteiligung der gewählten Parlamente. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes war im wesentlichen mit der des deutschen Reichs ab 1871 identisch, die sogleich vorgestellt wird, so daß die Darstellung hier auf das bündische Element reduziert werden kann. Ausdruck dessen war der Bundesrat als Verteter der Gliedstaaten. Er war das bundesstaatliche Legislativorgan, das aus Vertretern der im Bund vereinigten Staaten bestand (Art. 6). Zusammen mit dem Reichstag war er das Organ der Gesetzgebung. Der Reichstag ging aus allgemeinen, direkten und freien Wahlen des Gesamtvolkes hervor (Art. 20) und stellt damit das demokratische Element dar. Gesetzesbe30
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 2, S. 786. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 649 ff. 32 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 169; Kimminich, Historische Grundlagen und Entwicklung des Föderalismus, S. 4 (13); Laufer / Münch, Föderatives System, S. 48 f.; Maurer, Entstehung und Grundlagen der Reichsverfassung von 1871, S. 29 (32 ff.). 33 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 666. 34 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 648. 35 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 667, 671 f. 36 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 671 f. 31
1. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Demokratie
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schlüsse konnten nur durch übereinstimmende Entscheidung von Reichstag und Bundesrat zustande kommen (Art. 5). Es bedurfte also der Übereinstimmung des zentralen und der gliedstaatlichen Willen, um eine endgültig verbindliche Entscheidung herbeizuführen. Zu Recht spricht Huber von zwei gleichberechtigten Organen der Legislative 37. Insofern kann auch hier von einer demokratischen (wenn auch an heutigen Maßstäben gemessen eingeschränkten) und einer föderalen Legitimation staatlicher Entscheidungen gesprochen werden. Damit liegt eine weitere Verbindung beider Prinzipien zu einer demokratischen und gleichzeitig bundesstaatlichen Staatsorganisation in der deutschen Verfassungsgeschichte vor. VI. Kaiserreich Nach dem Sieg Preußens und der verbündeten süddeutschen Staaten über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 gelang Bismarck die deutsche Einigung, indem er diese Staaten zum Beitritt zum Norddeutschen Bund bewegen konnte. Das damit entstandene Deutsche Reich war ein Bundesstaat in der Staatsform der konstitutionellen Monarchie 38. So entstand der deutsche Nationalstaat als monarchischer Bundesstaat. Träger der Verfassung waren die Fürsten der Einzelstaaten, wie sich aus der Präambel ergibt, sowie die Nation, vertreten durch den Reichstag von 1871, als zwei gleichberechtigte Vertreter des pouvoir constituant 39. So entstand die Reichsverfassung (RV) durch die Novemberverträge zwischen dem Norddeutschen Bund und den vier süddeutschen Staaten Baden, Bayern, Hessen und Württemberg. Sie wurden ratifiziert durch die zuständigen Verfassungsorgane: den Bundesrat und den Reichstag des Norddeutschen Bundes sowie durch die süddeutschen Kammern 40. Entsprechendes gilt für die Staatsgewalt selbst. Als deren Träger erscheinen die Fürsten und damit das bündische Element, aber auch der Reichstag, als demokratisches Element 41. Insofern war das Reich „Demokratie und Monarchie zugleich“ 42. Es bestand also eine doppelte Trägerschaft. Der Gesamtstaat hatte damit mit dem national-unitarischen ein bündisches Fundament: Er war, außer auf dem Willen der Nation, auf ein Bündnis der Gliedstaaten gegründet 43. 37
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 658. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 168; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 76; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 50. 39 Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 415, 365, 383; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 59 f.; ders., HbStR I, § 4, Rn. 19. 40 Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 745. 41 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 677 f., 748 f., 791; Band 6, S. 59 f. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 414 f. 42 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 774. 43 Huber, DeutscheVerfassungsgeschichte, Band 3, S. 677 f., 748 f.; Band 6, S. 59 f. 38
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Zentrales Organ der Reichsverfassung war der Bundesrat. Dies gilt jedenfalls für die verfassungsrechtliche Konstruktion. In der Verfassungswirklichkeit nahm die Rolle des Reichtages zu 44. Der Bundesrat bestand aus den Vertretern der Mitgliedsstaaten. Seine wichtigste Zuständigkeit war die Mitwirkung an der Gesetzgebung (Art. 5 RV). Die Mitglieder besaßen ein imperatives Mandat und verfügten über Stimmen, die nur einheitlich abgegeben werden konnten (Art. 6 Abs. 2 RV). Der Bundesrat war seiner Struktur nach keine zweite Kammer. Er orientierte sich vielmehr an seinen staatenbündischen Vorläufern, wie dem Bundestag des deutschen Bundes oder dem Reichstag des Alten Reiches. Mit seiner Konstruktion hat sich diese Bundesratstradition über die Weimarer Reichsverfassung bis zum heutigen Bundesrat erhalten. Dem Bundesrat stand der Reichstag als unitarisch-demokratisches Element gegenüber. Er war Repräsentant der Reichsbevölkerung und ging aus allgemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen hervor (Art. 20 RV). Seine wichtigste Zuständigkeit war die Mitwirkung an der Gesetzgebung zusammen mit dem Bundesrat (Art. 5 RV). Die Gesetzgebung konnte nur im Zusammenspiel beider Organe erfolgen. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 RV ordnete an: „Die Uebereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist erforderlich und ausreichend“ 45. Aus dieser Vorschrift läßt sich zweierlei entnehmen: Sowohl eine Gleichberechtigung beider Organe als auch eine Zusammensetzung der gesetzgeberischen Entscheidung aus Länder- und Reichswillen. So formuliert treffend auch Huber: „Beide Organe faßten völlig gleichrangige Beschlüsse, die, wenn sie übereinstimmten, den gesetzgeberischen Willen des Reiches verbindlich zum Ausdruck brachten“ 46. Es bestand also die Notwendigkeit der Willensübereinstimmung der nationalen und der gliedstaatlichen Ebene. Die Legitimation erfolgte daher unitarischdemokratisch und gleichzeitig bundesstaatlich-monarchisch. In der Verfassung von 1871 – in ihrer Entstehung und ihrer Staatsorganisation – liegt daher eine weitere Verbindung beider Elemente zu einer einheitlichen demokratischbundesstaatlichen Staatsorganisation in der deutschen Verfassungsgeschichte. VII. Weimarer Republik Nach dem Verlieren des Ersten Weltkrieges, der Abdankung des Kaisers und der Revolution 1918/19 begann die „Erneuerung des Reiches“ (Präambel der Weimarer Reichsverfassung [WRV]) mit der demokratisch gewählten Nationalversammlung auf Reichsebene, welche Deutschland eine Verfassung geben sollte. 44 45 46
Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 392. Abgdr. bei Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 261. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 921.
1. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Demokratie
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Die Gliedstaaten übten zwar Einfluß auf die Vorbereitung des Verfassungswerkes aus; von der endgültigen Entscheidung über die Inkraftsetzung der Verfassung und der damit vollzogenen Erneuerung des Reichs dagegen waren die Landesregierungen wie die Landesparlamente ausgeschlossen 47. Die Legitimation der Weimarer Reichsverfassung erfolgte damit unitarisch-demokratisch durch das Gesamtvolk und nicht mehr bündisch. Dennoch war die Republik ein föderaler Nationalstaat: Die Verfassung sah das Reich und die Länder vor (vgl. Art. 18 Abs. 1 Satz 1 WRV). Daß in der Weimarer Reichsverfassung entgegen mancher Stimmen eben auch das föderale Prinzip gelten sollte, bestätigt ihre Entstehung. Denn mit der vorläufigen Verfassung vom 10. Februar 1919 wendete man sich bewußt von dem bis dahin in der Nationalversammlung stark vertretenen Unitarismus und den Vorstellungen vom Einheitsstaat ab 48. Das im ersten Verfassungsentwurf vorgesehene Konstrukt, die Gliedstaaten zu hochpotenzierten Selbstverwaltungskörperschaften zu machen, konnte sich nicht durchsetzen 49. Die Länder waren als Staaten konzipiert, was deren Fähigkeit zur Verfassungsgebung voraussetzte (vgl. Art. 17 Abs. 1 WRV). Die Verfassung bekannte sich mithin zu Demokratie und Bundesstaatlichkeit gleichzeitig. Dennoch: Die neue Ordnung wies zentralistische Tendenzen auf 50. So weitete die neue Verfassung die Zuständigkeiten des Reichs in den Bereichen Gesetzgebung und Finanzen im Vergleich zur alten Reichsverfassung erheblich aus. Die Länder verfügten in Fortführung bisheriger Verfassungen über ein Organ, welches sie im Reich vertrat, den Reichsrat. Er diente der „Einflußnahme auf die Bildung des Reichswillens“. Damit trat gegenüber den ersten Verfassungsentwürfen eine „deutliche Reföderalisierung der deutschen Verfassungsverhältnisse“ 51 ein. Im Vergleich zur Verfassung des Kaiserreiches verlor er aber seine beherrschende Stellung. Er besaß bei der Gesetzgebung nur noch ein Einspruchsrecht (Art. 74 WRV). Das neu errungene Prinzip der Volkssouveränität hatte sich so durchgesetzt, daß auch der vom Volk gewählte Reichstag den größeren Einfluß besaß. Außerdem betrachtete man den Reichstag vor dem Hintergrund der revolutionären Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und einer daraus folgenden Angst vor dem Zerfall des Reiches als Verkörperung der Einheit der Nation 52. Dennoch konnte der Reichsrat trotz Verlustes seiner Stellung als 47
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 5, 1178 ff., 1181 ff., 1205; Band 6,
S. 60. 48
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 1077. Laufer / Münch, Föderatives System, S. 60. 50 Vgl. Laufer / Münch, Föderatives System, S. 59 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 57 ff.; Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 483 ff. 51 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 1077. 52 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 58. 49
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Träger der Reichsgewalt bei der Gesetzgebung und Verwaltung mitwirken. Bei der Einbringung von Gesetzen der Reichsregierung mußte der Reichsrat zustimmen (Art. 69 Abs. 1 WRV). Ergab sich keine Übereinstimung, konnte die Reichsregierung die Vorlage dennoch einbringen, mußte aber die abweichende Auffassung des Reichsrates erwähnen (Art. 69 WRV). Der Reichsrat verfügte ebenfalls über ein Gesetzesinitiativrecht, auch wenn er seine Vorlagen durch die Reichsregierung einbringen lassen mußte (Art. 69 Abs. 2 WRV). Es bestand daher eine Möglichkeit der Einflußnahme gliedstaatlicher Willensbildung auf die des Gesamtstaates, wenngleich sie in der Staatspraxis auch eine geringe Bedeutung besaß 53. Die Gesetzgebung lag damit letztlich in den Händen des Reichs, war also unitarisch-demokratisch legitimiert. Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde der Schritt vom monarchischen zum demokratischen Bundesstaat vollzogen. Aufgrund der Verfassungsentstehung sowie des Zustandekommens staatlicher Entscheidungen lag trotz der bundesstaatlichen Gliederung der Schwerpunkt staatlichen Handelns eher auf der Reichsebene. Das Demokratieprinzip überwog gegenüber der Bundesstaatlichkeit. In der Weimarer Republik wurde die Vereinigung von Demokratie und Bundesstaat ein weiteres Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte vollzogen, diesmal auf dem Weg des unitarischen Bundesstaates. Darunter verstand die Weimarer Staatsrechtslehre einen Bundesstaat, der seine Grundlage allein in einem nationalunitarischen Gesamtakt besaß 54. Die Weimarer Verfassung konstruierte einen Nationalstaat mit bundesstaatsartiger innerer Organisation. Die Bundesstaatlichkeit der Weimarer Republik war kein Erzeugnis des Staatswillens der Einzelstaaten mehr; sie war ausschließlich das Produkt der in der Reichsverfassung zum Ausdruck kommenden verfassungsgebenden Gewalt des Gesamtvolkes. Daß diese Art Bundesstaat im Vergleich zu seinem Vorgänger, der Reichsverfassung von 1871, und seinem Nachfolger, dem Grundgesetz, verfassungsrechtlich eher unitarisch ausgeprägt war, ist hier aber ohne Belang: Entscheidend ist, daß in der deutschen Verfassungsgeschichte eine weitere Staatsordnung zu finden ist, welche die beiden Prinzipien miteinander vereinigt. Es ändert auch nichts an dem Gewicht, das dem föderativen Moment im Verfassungsrecht wie in der Verfassungswirklichkeit zukam 55. Denn die im Reich oppositionellen Parteien nutzten die Länder als Rückhalt, da sie in einzelnen Ländern jeweils beherrschende Stellung innehatten. Weiterhin hatten sie daher ein Interesse allein am Erhalt der bundesstaatlichen Ordnung als solcher. Schließlich konnte der Kompetenzverlust der Länder durch starke verfassungsrechtliche Sicherungen 56 bis zu einem gewissen Grad aufgewogen werden. 53 54 55
den.
Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 156. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 61 f. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 61 f., 58 f. sowie zum Folgen-
1. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Demokratie
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VIII. Drittes Reich Sofort nach ihrer Regierungsübernahme begannen die Nationalsozialisten, den bundesstaatlichen Aufbau der Weimarer Reichsverfassung zu zerschlagen und eine zentralistische Herrschaft zu errichten. Die für den Föderalismus grundlegende Machtteilung und der Staatsaufbau von unten nach oben standen der uneingeschränkten Herrschaft des Führerstaates im Wege. Die Länder als eigenständige Machtzentren wurden systematisch ausgeschaltet. So wurden am 5. März 1933 in den Ländern, die noch keine NS-Regierung hatten, Reichkommissare eingesetzt, was den Nationalsozialisten die Stimmführung im Reichsrat bescherte. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 57 schuf die Grundlage für die Gleichschaltung der Länder. Diese erfolgte mit zwei Gesetzen, welche die Landtage entsprechend den Wahlen des Reichstags zusammensetzten 58 und für jedes Land einen Reichsstatthalter einsetzten 59, der für die Einhaltung der nationalsozialistischen Politik zu sorgen hatte. Das „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar 1934 60 übertrug alle noch bei den Ländern verbliebenen Hoheitsrechte auf das Reich (Art. 2 Abs. 1), die Landesparlamente wurden aufgelöst (Art. 1) und die Landesregierungen als reine Vollzugsbehörden der Reichsregierung unterstellt (vgl. Art. 2 Abs. 2). Die Länder blieben damit lediglich formal als Verwaltungseinheiten bestehen. Schließlich wurde der Reichsrat aufgelöst 61 und durch die Einrichtung von Parteigauen die unbeschränkte Herrschaft der NSDAP verfestigt. Damit hatten die Nationalsozialisten in kurzer Zeit einen totalitär geführten Einheitsstaat geschaffen. Bestätigt ist damit, daß in autoritären und totalitären Staaten die Staatsorganisation monolithisch ausfällt 62. Die Tyrannei neigt zu einfachen 63 und entdifferenzierten Formen. Ein solcher Staatsaufbau blieb aber eine kurze Ausnahme in der ansonsten föderal geprägten deutschen Verfassungsgeschichte. Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde an diese Tradition wieder angeknüpft. 56 Z. B. doppelte Zweidrittelmehrheit bei Verfassungsänderungen (Art. 76 WRV). Der Reichstag des Kaiserreiches konnte sie mit einfacher Mehrheit beschließen. Änderungen an der bundesstaatlichen Ordnung in Weimar wären aufgrund des o.a. Interesses der Parteien kaum wahrscheinlich gewesen. 57 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, RGBl. I, S. 141. 58 Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung vom 31. März 1933, RGBl. I, S. 153. 59 Zweites Gesetz zur Gleichschaltung vom 7. April 1933, RGBl. I, S. 173 („Reichsstatthaltergesetz“). 60 RGBl. I, S. 75. 61 Gesetz über die Aufhebung des Reichsrats vom 14. Februar 1934, RGBl. I, S. 89. 62 Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (266). 63 Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, S. 346; Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (266).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
B. Ergebnis: Symbiotische Entwicklung von Demokratie und Bundesstaatlichkeit Die Rückschau in die deutsche Verfassungsgeschichte zeigt, daß der bundesstaatliche Aufbau sämtlicher Staatsgebilde und Staaten ein Kontinuum deutscher Staatlichkeit darstellt. Insoweit entsprach es der konsequenten Weiterführung der deutschen Verfassungstradition, die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat zu konzipieren. Dabei lassen sich Veränderungen und Kontinuitäten feststellen. So ist zunächst der Föderalismus als ein Mittel zur Einigung angesehen worden. Ziel der Einigungsbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts war der nationale Bundesstaat 64. War dieses erreicht, ließ sich dann eine unitarisierende Tendenz in der Verfassungswirklichkeit feststellen, z. B. im Kaiserreich, die dann in der Weimarer Republik sogar in der Verfassung angelegt war. Eine endgültige Abkehr vom bundesstaatlichen Aufbau hin zu einem Einheitsstaat läßt sich der Verfassungsgeschichte aber nicht entnehmen. Vielmehr liefen nationalstaatlicher Einigungsprozeß, die Durchsetzung der Demokratie und die Herausbildung einer bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland parallel. Dementsprechend entwickelten sich das national-einheitliche demokratische und das subnational-föderale Prinzip gleichzeitig und zusammen aus. Die Geschichte der Einigung Deutschlands und damit der Staatsbildung beinhaltet insbesondere zum Nachbarn Frankreich einen elementaren Unterschied. Es ist die Staatswerdung und Verfassungsgebung „von oben“ 65. In Deutschland setzten die Monarchen nach dem Vorbild Frankreichs Verfassungen zum eigenen Machterhalt ein. In Frankreich stellten die Revolution und das Erkämpfen einer Verfassung einen Umsturz von unten und damit des gesamten Volkes dar. Unter anderem spiegelt sich darin die einheitsstaatliche Tradition und ein anderer Demokratiebegriff Frankreichs wider, wie noch zu zeigen sein wird. In Deutschland hingegen hatten stets die deutschen Staaten Anteil an der Gründung des Zentralstaates. Darin ist eine wesentliche Bedeutung der Länder bei der Staatsbildung und damit auch insoweit eine föderale Tradition zu erkennen. Dem entspricht die der Verfassungsgeschichte weiterhin zu entnehmende Entwicklung gleichsam vom monarchischen zum demokratischen Bundesstaat. In ihm erfolgt die Willensbildung nicht nur durch den Zentralstaat, sondern auch durch die Glieder. Dazu war jeweils ein eigenes Organ berufen: ein demokratisches Parlament und eine Länderkammer. In verschiedenen Verfassungen, mit Ausnahme der Weimarer Reichsverfassung, war dazu eine Willensübereinstimmung erforderlich und demnach darin eine Gleichberechtigung beider Ebenen 64
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, S. 310. Wahl, HbStR I, § 1, Rn. 5 mit Verweis auf Böckenförde; Wegge, Demokratieprinzip, S. 95; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, S. 291. 65
1. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Demokratie
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zu sehen. Dabei wählte man im Gegensatz zu Rousseaus Idee nicht die unmittelbare Demokratie, sondern gestaltete die Volksherrschaft als repräsentative Verfassungsdemokratie. In der Verfassungsgeschichte galten die jeweiligen Länderkammern nicht nur als Vertretungsorgan der Länder, sondern auch der Dynastien. Allmählich setzte sich die Demokratie gegenüber der Monarchie durch. Daraus ergibt sich auch die in der heutigen Staatsrechtslehre gängige 66 Definition des republikanischen Prinzips als (bloße) Negation der Monarchie. Trotz des Übergangs in das demokratische Zeitalter blieben einige Strukturen von Gliedstaaten und deren Repräsentation erhalten. Daraus erklärt sich bspw. die Konstruktion des Bundesrates, in dem nicht etwa die Länderparlamente, sondern die demokratisch legitimierten Landesregierungen vertreten sind. Mittelbar erscheint daher auch im Bundesrat das Demokratieprinzip. Es läßt sich der Verfassungsgeschichte also nicht der gängige Nachweis allein der föderalen Tradition Deutschlands entnehmen: Bundesstaat und Demokratie entwickelten sich zusammen und verschmolzen im demokratischen Bundesstaat. Doch dies ist nur der verfassungsrechtliche Teil der demokratisch-föderalen Tradition Deutschlands. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne eine tatsächlichhistorische Fundierung. Diese liegt – nach dem jetzigen Stand der Untersuchung 67 – in dem Kontinuum von selbständigen staatlichen Einheiten unterhalb der nationalen Ebene. Sie haben zur Einheit beigetragen und ihren Einfluß und ihre historisch gewachsene Möglichkeit der Selbstbestimmung dabei zum Teil abgegeben, zum Teil behalten. Die aufgrund der Verfassungsgeschichte weiterhin ermittelte Vorbildwirkung Frankreichs sowie die bis 1918 bestehende Monarchie führen also zu der Gefahr, auch die Demokratie vom Einheitsstaat her zu interpretieren. Schließlich folgt aber aus der historischen Betrachtung, daß die staatliche Entwicklung in Deutschland einen anderen Weg genommen hat als in Frankreich, obwohl es sich dabei um ein Vorbild Deutschlands gehandelt hat. Zu Recht ist der Bundesstaat des Grundgesetzes als eine Staatsform genuin deutscher Prägung 68 bezeichnet worden. Er ist nicht von Zeit und Raum abzulösen. Das gilt insbesondere für die Erscheinungsform des demokratischen Bundesstaates. Daher ist seine Konstruk66 Herrschende Auffassung: Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 11; Doehring, Staatsrecht, S. 121 f.; Dreier, in: ders., GG, Art. 20, Rn. 16; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 III, Rn. 5 ff.; Jarass / Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 3; Kersten, DÖV 1993, S. 896 (899); v. Münch, Staatsrecht I, Rn. 109; Sachs, in: ders., GG, Art. 20, Rn. 9 (m.w. N. in Fn. 18); Schnapp, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 20, Rn. 5; Stern, Staatsrecht I, § 17 I. 4.; a. A.: Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 20, Rn. 13; Isensee, JZ 1981, S. 1 ff; Gröschner, HbStR I, § 23, Rn. 34 ff., 39; weitere Nachweise bei Sachs, in: ders., GG, Art. 20, Rn. 9, Fn. 15. 67 Zur Begründung des Bundesstaates im Tatsächlichen s. u. 4. Kap. E. II. 68 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 1.
44
1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
tion aus sich selbst heraus, d. h. aus der Verfassungsauslegung, und historisch zu erklären. Die besondere Bedeutung der Tradition für den bundesstaatlichen Aufbau hat v. Treitschke bereits festgestellt: „Ein Bundesstaat läßt sich nicht improvisieren. Mehr als ein anderer Staatsaufbau muß diese kunstvolle Staatsordnung begründet sein in der Geschichte eines Landes“ 69. Für den weiteren Verlauf der Untersuchung ergibt sich daraus Grund zu der Annahme, daß Fehldeutungen bei der Analyse des demokratischen Bundesstaates auf der Übernahme von Modellen anderer Verfassungsräume beruhen könnten. Sie könnten aber auch von Modellen anderer Verfassungszeiten herrühren. Denn so wie im Grundgesetz konstruktive Relikte aus dem Zeitalter der Monarchie geblieben sind (z. B. der Bundesrat), könnten auch Überreste in der Verfassungstheorie existieren. Die Bestandteile des demokratischen Bundesstaates sind daher genau auf Inhalt und Herkunft zu untersuchen. Aus der geschichtlichen Entwicklung von Demokratie und Föderalismus zum demokratischen Bundesstaat läßt sich eine erste Bestätigung dafür entnehmen, Bundesstaatlichkeit und Demokratie stets in bezug zueinander zu interpretieren. So ergibt sich bereits aus der historischen Betrachtung das Problem, politische Vielfalt mit staatlicher Einheit zu verbinden. Es soll später theoretisch eingehend erörtert werden. Dabei gibt es bereits nach gegenwärtigem Stand der Untersuchung den Hinweis darauf, daß die Begriffe von Staat und Souveränität eine Rolle spielen werden.
2. Kapitel
Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien Um die bestehenden Theorien zum Verhältnis von Bundesstaat und Demokratie richtig einzuordnen, sind zuvor einige theoretische Begriffsklärungen der Demokratie und Vorstellung von Demokratiemodellen erforderlich. Wie schon der historische Rückblick ergeben hat, sind Demokratie und Bundesstaat von ihrem historisch-tatsächlichen Hintergrund nicht ablösbar, so daß sich auch hieraus Aufschlüsse über ihr Zusammenspiel ergeben. Dabei wird die soeben erarbeitete Annahme zugrunde gelegt, daß diejenigen, die eine Unvereinbarkeit zwischen Demokratie und Föderalismus bejahen, Verständnisse anderer Verfassungsräume und -zeiten in den demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes hineintragen, anstatt diesen aus seiner Entwicklung, seinen tatsächlichen Bindungen und aus seiner Verfassung heraus zu interpretieren.
69
v. Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat, S. 157.
2. Kap.: Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
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Insbesondere die Spielarten der Demokratie sind so vielfältig, daß man sich leicht in dem Netz der unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen verfangen kann. Um so mehr ist es notwendig, den genauen demokratietheoretischen Hintergrund des deutschen demokratischen Bundesstaates herauszuarbeiten. Angesichts der Fülle demokratischer Konzepte und ihrer unterschiedlichen Blickrichtungen ist es nicht möglich und hier auch nicht der Ort, sie in Gänze zu präsentieren. Erschwert wird diese Debatte durch die nicht immer einheitlich verwendeten Bezeichnungen. Die verschiedenen Ausprägungen der Demokratiemodelle sind aber insoweit zur Kenntnis zu nehmen, wie sie zur Interpretation der später vorzustellenden Theorien des (demokratischen) Bundesstaates notwendig sind.
A. Die Grundmodelle der Demokratie in Staatsphilosophie und Staatsrechtslehre Es existieren zwei Grundströmungen der Demokratietheorie in Staatsphilosophie und Staatsrechtslehre, die man zusammenfassend als einheitsorientierte (I.) und pluralistische Modelle (II.) bezeichnen kann. I. Einheitsorientierte Demokratiemodelle 1. Identitäre Demokratie Die identitäre Demokratie, für die verschiedene Bezeichnungen, wie republikanische oder Volksdemokratie, kursieren, geht von gesellschaftlicher Homogenität und / oder einheitlicher Wertorientierung aus und umfaßt möglichst viele gesellschaftliche Bereiche. Der egalitären Demokratie liegt ein radikales Demokratieverständnis zugrunde, das auf Rousseau zurückgeht. Nach seinem radikal-demokratischen Modell liegt die Quelle aller Autorität beim Volk. In Rousseaus Theorie wird die Volkssouveränität absolut gesetzt. Die Souveränität des Volkes ist Rousseau zufolge prinzipiell unbeschränkt und unbeschränkbar – sie kann nicht durch Verfassungen, Grundrechte, korporative Freiheiten von Gruppen beschränkt werden 1. Sein Konzept staatlichen Rechts ist insofern radikaldemokratisch, als die Quelle aller verbindlichen Autorität unveräußerbar, undelegierbar ist und unteilbar beim Volk liegt 2. Die Volkssouveränität ist insbesondere nicht teilbar, weil in ihr alle Gewalt begründet und zusammengefaßt ist. Es muß (zumindest im Idealfall) zu einer totalen Übereinstimmung, ja Identität aller Gewalten kommen 3. Daher ist nach Rousseau Demokratie eine 1
Schmidt, Demokratietheorien, S. 106; Maier, Der Föderalismus, S. 104 (129). Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 1. Kap., 2. Kap.; vgl. a. Schwan, Politische Theorien, S. 157 (219 f.). 3 Schwan, Politische Theorien, S. 157 (220). 2
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Regierungsform, bei der die Staatsgewalt vom Volke ausgeht und diesem Träger der Regierung identisch bleibt 4. Die Herrschaft von Menschen über Menschen soll durch die Einheit von Regierenden und Regierten abgelöst werden. Das Volk ist grundsätzlich auch unrepräsentierbar. Denn die volonté générale, die a priori besteht, kann nicht übertragen werden, sie muß beim Volk verbleiben. Repräsentation und Demokratie schließen sich daher gegenseitig aus 5. Die demokratischen Entscheidungen müssen sämtlich in einer Selbstregierung des Volkes erfolgen. Folglich nehmen Befürworter einer direkten Demokratie Bezug auf Rousseau. Für sie kommt die direkte Demokratie der identitären Demokratie am nächsten. Sie betrachten die Demokratie nicht nur als Organisationsform für den Staat, sondern als starke Demokratie, die als Gestaltungsprinzip sämtliche Lebens- und Gesellschaftsbereiche umfaßt 6. Dabei ist Rousseaus Lehre die Grundlage für vollkommen entgegengesetzte Autoren, wie einerseits Agnoli 7 und andererseits Carl Schmitt 8. Rousseau ist damit Berufungsobjekt für alle Theorien, die eine totale Gleichheit oder Homogenität anstreben, sei es in nationalistischer oder sozialistischer Hinsicht 9. Insbesondere Schmitts umstrittenes Konzept der Identität von Herrschenden und Beherrschten war auch ein Anliegen des identitären, an Rousseau orientierten Demokratieverständnisses 10: „Jedes Gesetz, das das Volk nicht bestätigt hat, ist null und nichtig, es ist kein Gesetz.“ 11 Diese Radikalität beruht letztlich auf der empirisch nicht haltbaren Fiktion eines homogen gedachten Volkswillens. Nur im gemeinsamen Bezug auf ein a priori vorausgesetztes, nicht belegbares Gemeinwohl sind Regierte und Regierende identisch: Nur so wird die Unterschei4
Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 6. Kap. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 3. Buch, 15. Kap.; 2. Buch, 1. Kap.; vgl. a. Grimm, Repräsentation, Sp. 878 (979); Speth, Rousseau, S. 114 (123). 6 Schultze, Demokratie, S. 51 (53); Hättich / Benda, Demokratie, Sp. 1182 (1184); vgl. a. Preuß, ZRP 1993, S. 131 (132 ff.). 7 Agnoli, Die Transformation der Demokratie, S. 55 ff., 70: „... das Identitätsverhältnis zwischen Regierten und Regierenden, das dem demokratischen Gedanken zugrunde liegt ...“; zur Enstehungsgeschichte der Schrift und zu Agnolis Parlamentarismuskritik vgl. Kraushaar, ZParl 2007, S. 160 ff. 8 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, passim; ders., Verfassungslehre, S. 205; hier auch zu seinem berühmten und umstrittenen Konzept der Identität von Herrschern und Beherrschten; krit. dazu Badura, HbStR II, § 25, Rn. 36; Stern, Staatsrecht I, § 18 II. 5. a); diff. Böckenförde, HbStR I, § 22, Rn. 4; zur Deutung Schmitts vgl. Schmidt, Demokratietheorien, S. 109; Speth, Rousseau, S. 114 (124). 9 Schultze, Demokratie, S. 51 (52) unterscheidet daher drei Grundmodelle. Da die deliberative und republikanische Demokratie auf dem gleichen theoretischen Fundament ruhen, ist hier von zwei Konzepten die Rede. 10 Guggenberger, Demokratie / Demokratietheorie, S. 70 (72); zur Ähnlichkeit des Identitätskonzepts von Herrschern und Beherrschten in der Demokratie bei Schmitt und Rousseau vgl. Wegge, Demokratieprinzip, S. 95, 30 ff. 11 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 3. Buch, 15. Kap. 5
2. Kap.: Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
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dung von Herrschenden und Beherrschten hinfällig, wie Rousseau dies fordert 12. Dies ist auch der Punkt, an dem die Demokratiedebatte zu der umstrittenen Frage führt, ob Demokratie das Versprechen der Herrschaftsfreiheit einlöst, wie die Anhänger der Volksdemokratie in letzter Konsequenz annehmen. Während bei Rousseau jedoch der Staat durch einen Gesellschaftsvertrag (contrat social) zustande kommt, beruht bei Schmitt die Verfassung auf einer Entscheidung (Dezision), „und zwar Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit. Als Vertrag ist die Verfassung nur möglich [...] zwischen politischen Einheiten, die ein Bundes-, möglicherweise auch ein bundesstaatliches Verhältnis begründen“. Innerhalb eines Staates jedoch könne die Verfassung nicht auf einem Vertrag beruhen, weil dies „ein Vertrag selbständiger in sich stehender Kräfte innerhalb des Staates“ sei und dadurch das Einheitsprinzip und die Einheitsgewähr für den „Staat als politische Einheit“ in Frage gestellt würden 13. Auch hinsichtlich der Konzeptualisierung von Repräsentation beruhen auf Rousseau solche Modelle, die einen unteilbaren, a priori bestehenden Volkswillen annehmen. Auch wenn sie politisch völlig entgegengesetzt sind, besitzen sie diese Gemeinsamkeit, auf die es im Zusammenhang mit dem Bundesstaat angesichts seiner geteilten Staatlichkeit ankommt. Das konservative Konzept symbolischer Repräsentation geht von einer materiell verstandenen Repräsentationsidee mit einem eigenen vorgefundenen Gemeinwohlgehalt aus. Es wird auch Prinzip der auftragsfreien Repräsentation 14 genannt oder als idealistisches Konzept 15 bezeichnet. Es versteht Repräsentation nicht als ein bloßes technisches Mittel zur Darstellung des Volkswillens, sondern geht von einem präexistenten, vorgegebenen Gemeinwohl und damit Volkswillen aus. Dieser werde vorgefunden und müsse dargestellt werden. Dazu dient nach dieser Schule die Repräsentation. Die Vorstellung eines vorgegebenen Gemeinwohls beruht auf der Vorstellung, daß es mehr zu repräsentieren gebe als nur die Summe individueller Interessen und Meinungen. Sondern eine die Gegenwart überdauernde und Generationen übergreifende Gemeinschaft und Idee. Diese Lesart steigerte Carl Schmitt und ihm folgend Gerhard Leibholz zu einem Repräsentationsidealismus 16. Da diese Richtung nicht an die Interessenvertretung glaubt, betont diese Theorie folglich die Weisungsfreiheit der 12
Guggenberger, Demokratie / Demokratietheorie, S. 70 (74). So die Darstellung Schmitts bei Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum Werk von Carl Schmitt, S. 344 (352 f.) unter Bezugnahme auf Schmitt, Verfassungslehre, S. 20, 21 ff., 62 ff; diese Lehre hat Böckenförde sich zu eigen gemacht in: Geschichtliche Entwicklung und Bedeutung der Verfassung, S. 29 (36 ff.). 14 Zippelius, Staatslehre, § 24, III. 1. 15 Hofmann / Dreier, ParlRParlPr, § 5, Rn. 9; vgl. a. Pitkin, Representation, S. 151 ff.; historisch Hofmann, Repräsentation, S. 38 ff.; Rausch, Repräsentation und Repräsentativverfassung, S. 51 ff. 16 Hofmann / Dreier, ParlRParlPr, § 5, Rn. 10. 13
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Abgeordneten, zumal die Einheitsbildung durch den freien Diskussionsprozeß der Abgeordneten entstehe, weshalb deren Entscheidungen in völliger Freiheit getroffen werden müßten. Einziger Verknüpfungspunkt ist die Volkswahl der Repräsentanten, die aber jeder inhaltlichen Richtungsgebung entkleidet wird und ein reiner Auswahlmechanismus für das Führungspersonal des Staates ist, das den präexistenten, außerhalb des politischen Prozesses bestehenden Willen zu finden, zu formulieren und abzubilden habe. Die symbolische Konzeption beruht auf der Vorstellung eines als politische Einheit existierenden Volkes, das als Ganzes repräsentiert werde 17. Repräsentation wird als Mittel der Einheitsbildung verstanden 18. Der Repräsentant ist das sichtbare Zeichen der Einheit der „politischen Gemeinschaft“, die er in der Willensbildung vertritt 19. Auch von einem unteilbaren Volkswillen, nicht aber von einer Auftragsfreiheit der Repräsentanten gehen radikaldemokratische Konzepte der Repräsentation aus. Vielmehr beharrt diese Schule auf einer eindeutigen Interessenvertretung. Denn entgegen aller Repräsentationstheorie bleibe auch der bürgerliche Abgeordnete immer an die Interessen seiner Klasse gebunden. Dem liegen Vorstellungen Rousseaus zugrunde, der die egalitäre Staatsbürgergesellschaft verkündet und – wie oben dargestellt – den Volkswillen, die volonté générale, als unteilbar begreift. Da der Volkswille nicht erkannt werden könne, sei er unrepräsentierbar. Unmittelbare Demokratie und Selbstherrschaft des Volkes wird damit zum Ideal der Demokratie; Repräsentation wird somit als defizitär empfunden. Aus dieser Richtung sind verschiedenartige Konzepte der basisdemokratischen Partizipation aller Bürger oder Betroffenen und das sozialistische System der Rätedemokratie entstanden 20.
17 Schmitt, Verfassungslehre, S. 208, 218; Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 44 ff., 72 f.; Kimme, Das Repräsentativsystem, S. 92 ff.; Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und der Staatsrechtslehre in Deutschland, S. 199 ff.; Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, S. 55 ff; Mantl, Repräsentation und Identität, S. 121 ff.; Müller, Das imperative und freie Mandat, S. 13 ff.; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 194; Isensee, HbStR II, § 15, Rn. 119 ff.; ähnlich Böckenförde, Mittelbare / repräsentative Demokratie, S. 301 (318 ff.). 18 Vgl. Pitkin, Representation, S. 29 f; Hofmann, Repräsentation, S. 389; Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 93. 19 Leibholz, Repräsentation, S. 58; Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, S. 468. 20 Badura, HbStR II, § 25, Rn. 40; Gottschalch, Parlamentarismus und Rätedemokratie; Schneider / Kuda, Arbeiterräte in der Novemberrevolution; v. Beyme, ZfP 17 (1970), S. 27; Zippelius, Staatslehre, § 23, I. 1. a); Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie?; Euchner, Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, S. 37 (45); vgl. a. Bermbach (Hrsg.), Theorie und Praxis der direkten Demokratie, passim.
2. Kap.: Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
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2. Monistisches Demokratieverständnis Die dem identitären Demokratiemodell zugrunde liegende Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Volkswillens ist auch Anliegen eines Demokratiemodells in der Staatsrechtslehre, das man im Anschluß an die politikwissenschaftliche Diskussion als monistisches Demokratieverständnis bezeichnen kann. Während die zuvor beschriebenen Überlegungen zur Demokratie der politischen Ideengeschichte auf eine lange Tradition zurückblicken können, hat sich die deutsche Staatsrechtslehre erst relativ spät mit dem Demokratiebegriff beschäftigt 21. Er wurde in den 1980er und 1990er Jahren von Lehre 22 und Bundesverfassungsgericht 23 entwickelt und kann als herrschend bezeichnet werden. Ausgehend von der Prämisse, daß jedes staatliche Handeln auf das Volk zurückzuführen sein muß (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), ist zentrales Anliegen der monistischen Auffassung die demokratische Gleichheit aller Staatsbürger, die nur im Wahlakt vollständig existiert und somit andere Formen von Partizipation als ungleich und daraus folgend als undemokratisch erscheinen läßt. Daher kann auch nur das Volk als Gesamtheit und können keine – wie auch immer gearteten – Unter- oder Sondergruppen Legitimation vermitteln 24. Legitimation, die nicht von der Gesamtheit der Bürger ausgeht, wird daher aus demokratischer Sicht als bloße „Scheinlegitimation“ 25 bezeichnet oder als „bedenkliche Ausgliederung aus der einheitlichen Staatsgewalt“ 26. Notwendig sei eine „substantielle Gleichheit“, wobei die Einheitlichkeit entweder im Nationalen 27 oder auch in gemeinsamer Religion, Sprache, Kultur oder politischem Bekenntnis 28 liegen könne. 21 Soweit ersichtlich erstmalige Erwähnung bei Steffani, Monistische oder pluralistische Demokratie, S. 482 ff; ähnlich Haverkate, VVDStRL 46 (1988), S. 217 (218 ff.); dem folgend Groß, Kollegialprinzip, S. 163 ff.; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 78 ff.; Petersen, Demokratie und Grundgesetz, S. 14 m.w. N.; jüngst umfassend Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, S. 53 ff. 22 Grundlegend Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 289 (312 ff.); Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG Art. 20, Rn. 170, 172; Maurer, Staatsrecht, § 7, Rn. 23; Jarass / Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 5; vgl. a. Schmitt, Verfassungslehre, S. 224 ff.; Isensee, Volk als Grund der Verfassung, S. 92; Loschelder, HbStR V, § 107, Rn. 21. 23 BVerfGE 83, 37 (50 ff.); 83, 60 (71 ff.); 89, 155 (182 ff.); 93, 37 (65 ff.); 107, 59 (86 ff.). 24 Grundlegend Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 289 (312 ff.); Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG Art. 20, Rn. 170, 172; Maurer, Staatsrecht, § 7, Rn. 23; Jarass / Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 5; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 224; Unruh, VerwArch 92 (2001), S. 531 (543); Isensee, Volk als Grund der Verfassung, S. 92; Loschelder, HbStR V, § 107, Rn. 21; Musil, DÖV 2004, S. 116 (118); vgl. a. Schmitt, Verfassungslehre, S. 224 ff. 25 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 289 (316). 26 Nierhaus, in: Sachs, GG, Art. 28, Rn. 23.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Die Freiheit des Einzelnen geht in diesem Konzept in der Freiheit der Gesamtheit Volk auf 29. Zentrales Merkmal des Volksbegriffes ist der „Charakter des über die Summe der Zugehörigen hinausgehenden, rechtlich verselbständigten Verbandes“, kurz: der „Einheit über der Vielheit“ 30. Die Geschlossenheit dieser, auf das Volk als Einheit rekurrierenden Theorie kommt in ihrer Bezeichnung als monistisch 31, holistisch 32 oder volksdemokratisch 33 zum Ausdruck. Es gibt danach nur einen verfassungsmäßigen Ausgangspunkt demokratischer Legitimation: Das Volk, welches als Ganzes Legitimation aller Ausformungen von Staatsgewalt ist. Es gibt also nur ein und ein einheitliches Legitimationssubjekt, das durch das Parlament repräsentiert wird. Die Demokratie wird dadurch unitarisiert 34, das Gesamtvolk als politische Einheit bildet die Basis einer zentralistisch ausgerichteten Staatsorganisation 35. II. Pluralistische Demokratievorstellungen 1. Liberal-repräsentative Demokratie Die liberale Demokratie hingegen geht von einer gesellschaftlichen Interessenvielfalt aus. Sie beruht auf einem von individueller Interessendurchsetzung geleiteten, instrumentellen Verständnis von Politik zum Schutz des Einzelnen und erfaßt folglich nur den Bereich des Politischen. Sie bezweifelt die Selbstverwandlungsmöglichkeit des Menschen im Prozeß demokratischer Partiziption vom eigennützigen bourgeois zum gemeinschaftlichen citoyen 36. Eine Strömung dieser Theorie ist das liberal-repräsentative Demokratieverständnis, wie es insbesondere von den Autoren der Federalist Papers entworfen wurde 37. Dort aber gründet die Demokratie nicht wie bei Rousseau im Gesellschaftsvertrag, sondern 27 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 289 (332); Schmitt, Verfassungslehre, S. 224 ff.; Isensee, Volk als Grund der Verfassung, S. 92; Loschelder, HbStR V, § 107, Rn. 21. 28 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 289 (332). 29 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 81. 30 Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 208. 31 Groß, Kollegialprinzip, S. 163 ff; ders., Pluralistische Interpretation des Demokratieprinzips, S. 92 (94). 32 Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, S. 53 ff. 33 Bryde, StWStPr 5 (1994), S. 305 ff. 34 Frankenberg, Vorsicht Demokratie, S. 177 (179). 35 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 83 m.w. N.; auch in der Geschichtswissenschaft läßt sich für den Zeitraum vor der Reichsgründung eine überwiegend an der nationalen Ebene orientierte Sichtweise nachweisen, vgl. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 2, S. 143. 36 Schultze, Demokratie, S. 51 (52). 37 Speth, Hamilton, Madison, Jay, S. 142 (145); vgl. a. ders., Rousseau, S. 114 (124).
2. Kap.: Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
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wird in einer Verfassung verankert. Die Repräsentation gilt als Vertretung der Gesamtinteressen des Volkes, die sich aus den gewählten weisungsfreien Volksrepräsentanten ergibt 38. Dieses Modell geht von der Vielheit und Individualität der Interessen aus, da die vorrangige Wahrnehmung des eigenen Nutzens zur unaufhebbaren „menschlichen Natur“ gehöre. Von daher kann auch nicht die Homogenität des Denkens und Wollens das Ziel aller Politik sein, sondern die möglichst vollständige Widerspiegelung („Repräsentation“) der mannigfaltigen gesellschaftlichen Interessen und Meinungen 39. Da aufgrund dieser Vielheit und damit unter anderem die Gegenläufigkeit der Interessen eine (direkte) Regierung nicht möglich macht, wird die Lösung dieses Problems gerade in der Repräsentation gesehen. Das liberale Repräsentationsverständnis verficht nicht einfach ein freies Mandat, demzufolge die Repräsentanten, nur ihrem Gewissen unterworfen, über die Verwirklichung eines angeblich a priori vorgefundenen Gemeinwohls befinden müßten. Vielmehr verbindet diese Schule die Vorstellung eines Gemeinwohls mit einer Berücksichtigung der Einzelinteressen, die auszuhandeln und lediglich zu regulieren sind, sowie mit den technischen Erfordernissen eines Repräsentationsmechanismus eines großen Staates 40. Nach dieser „realistischen Schule“ 41 sollen die Repräsentanten einerseits unabhängig und urteilskräftig sein, um die allgemeinen Belange vor Augen zu haben, zugleich aber ihrer Wählerschaft verbunden, um deren spezifische Interessen einzubringen und sich nicht ihrerseits zu elitären Gruppen mit Sonderinteressen zu verselbständigen. Repräsentation bezweckt nach diesem Verständnis einerseits, das Durchschlagen von mit allgemeinen Belangen unvereinbaren Partikularinteressen abzuwenden, was ein imperatives Mandat ausschließt; andererseits soll eine abgehobene, den Interessen der an der Macht Befindlichen nützende Politik verhindert werden. Dabei muß eine Rückkopplung der Abgeordneten bestehen, ohne in starre Abhängigkeiten zu verfallen. Diese wird in der Pflicht der Repräsentanten gesehen, daß sie nur im Namen derjenigen agieren, die sie entsenden, und daß sie allgemeine Regelungen nur in Kenntnis und in Abwägung von deren Interessen finden können. Insbesondere sollen regelmäßige Wahlen in kurzen Abständen der erforderlichen Rückbindung dienen 42. Hierfür ist der Begriff der Responsivität geprägt worden 43. Aufgrund der Anerkennung einer Vielzahl von Meinungen und der 38
Vgl. Grimm, Repräsentation, Sp. 878 (880). Guggenberger, Demokratie / Demokratietheorie, S. 70 (74). 40 The Federalist, Nr. 10 (Madison); in der deutschen Staatsrechtslehre heute etwa Hofmann / Dreier, ParlRParlPr, § 5, Rn. 9; Badura, HbStR II, § 25, Rn. 29. 41 Hofmann / Dreier, ParlRParlPr, § 5, Rn. 12. 42 The Federalist, Nr. 57 (Madison, Hamilton). 43 Der Begriff stammt aus dem der amerikanischen Debatte entlehnten Terminus der „responiveness“, Dreier, Jura 1997, S. 249 (256), Fn. 93; ders., AöR 113 (1988), S. 465; Preuß, ZRP 1993, S. 131 (135); vgl. a. Uppendahl, ZParl 1981, S. 123 (126 ff.) m.w. N. 39
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Anerkennung der Repräsentation sind das liberale-repräsentative Demokratieverständnis und damit auch die Autoren der Federalist Papers im weitesten Sinn Vorläufer der zeitgenössischen pluralistischen Theorie 44. Dieses Modell beruht im wesentlichen auf der Lehre Fraenkels 45. Er definiert Pluralismus als „das gleichberechtigte, durch grundrechtliche Garantien geschützte Nebeneinanderexistieren und -wirken einer Vielzahl sozialer Gruppen innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft“ und betrachtet ihn als ausgesprochenes Phänomen des 20. Jahrhunderts 46. Fraenkel geht von einer natürlichen Vielfalt von Interessen und Meinungen aus und sieht – unter einem weniger skeptischen Menschenbild als der Federalist – deren Duchsetzung als legitim und positiv an. Durch ein Austragen dieser Gegensätze entsteht in einem Prozeß des Gegenund Miteinanders ein Gemeinwohl a posteriori. Daher lehnt diese Schule die Annahme eines a priorischen Volkswillens konservativer oder Rousseauscher Art ab. Zur Regulierung der Interessenvielfalt bedarf es der Repräsentation. 2. Pluralistische Demokratietheorien In dieser Grundströmung der Staatsrechtslehre gibt es keine geschlossene Theorie, sondern verschiedene Abstufungen und Ausprägungen 47. Dies ist im Zusammenhang mit dem demokratischen Bundesstaat insofern von Bedeutung, als die Bundesstaatlichkeit als ein Argument für dieses Demokratieverständnis herangezogen wird. Die zusammenfassend als pluralistische Theorien bezeichneten Modelle nehmen Anleihen bei liberalen Theorien, sofern sie von der Verschiedenheit der Meinungen ausgehen, und bei radikaldemokratischen, sofern sie basisdemokratische Forderungen erheben und die Selbstregierungen der Betroffenen proklamieren. Nach diesem Demokratieverständnis wird Art. 20 Abs. 2 GG, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, als bloßes Bekenntnis zum Demokratieprinzip mit Hilfe einer traditionellen Formel verstanden, womit aber nicht auf eine bestimmte Tradition oder Homogenität Bezug genommen werde 48. Hinter diesem Verständnis steht unter anderem die Sichtweise der Volkssouveränität als 44 Speth, Hamilton, Madison, Jay, S. 142 (147). Nachweise und ausführliche Darstellung bei Göhler / Klein, Politische Theorien, S. 259 (373 f.). 45 Grundlegend Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, S. 165 ff; ders., Pluralismus, S. 254 ff.; vgl. a. v. Brünneck, Ernst Fraenkel, S. 415 ff. 46 Fraenkel, Pluralismus, S. 254. 47 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 84, spricht zutreffend (vgl. die Argumente bei Bryde, StWStPr 5 [1994], S. 305 ff.) von „mehreren Ansätzen, die einzeln oder kumulativ zur Begründung herangezogen werden“; Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, S. 75 f. 48 Frankenberg, Vorsicht Demokratie, S. 177 (180).
2. Kap.: Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
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Idee der freien Selbstbestimmung des einzelnen Menschen und nicht als Selbstbestimmung der Menschen als Kollektiv. In dieser recht weitgehenden, gleichsam individualistischen Variante, sei von zwangsläufiger Betroffenheit staatlicher Herrschaft, nicht nur von Abwehr-, sondern auch von Teilhaberechten des Einzelnen auszugehen. Da Volk letztlich eine Kurzformel für Menschen sei, folge daraus gerade nicht die Begrenzung des demokratischen Prinzips auf das deutsche Volk als einziges verfassungsgemäßes Legitimationssubjekt 49. Danach setzt z. B. demokratische Legitimation eines verfassungsgebenden Aktes nicht notwendig eine vorherige Konstituierung des Legitimationsgebers als Volk oder Nation voraus 50. In weniger theoretischer Argumentation als vielmehr in normorientierter Auslegung stellen andere auf den Zusammenhang mit anderen Verfassungsprinzipien ab. Es spreche die Offenheit des Grundgesetzes für internationale Zusammenarbeit für ein plurales Demokratieverständnis 51. Hier wird auf die Präambel des Grundgesetzes und Art. 23 GG mit dem Staatsziel der Europäischen Union verwiesen, welche eine nicht bloß einheitliche nationale Legitimation bewirke. Daneben führen andere das republikanische Prinzip des Grundgesetzes an, welches eine Sperre gegen das monistische Verständnis darstelle 52. Schließlich sehen andere in umfassender Gesamtschau die Grund- und Menschenrechte, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit und das Widerstandsrecht als zum pluralistischen Demokratieverständnis gehörend an 53. Zu der Gewaltenteilung gehöre auch die vertikale durch den Bundesstaat 54. Zu den Vertretern des pluralen Demokratieverständnisses gehört auch eine bundesstaatliche Variante. In Auslegung des Demokratieprinzips in Zusammenschau mit dem Bundesstaatsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 1 GG) wird argumentiert, das Grundgesetz verkörpere den Bundesstaat als eine gegliederte Demokratie. Danach existierten sowohl in den Kommunen als auch in den Ländern Völker, was gegen eine Interpretation von „Volk“ als einheitliches deutsches Volk spreche 55. Es gebe nicht nur den einen Willen des einen deutschen Volkes, sondern auch gleichermaßen eigenständige demokratische Selbstbestimmung auf der Länderebene (vgl. Art. 28 Abs. 1 GG). Innerhalb des deutschen Volkes existierten 49
Bryde, StWStPr 5 (1994), S. 318 (324). Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 9 (23). 51 Bryde, StWStPr 5 (1994), S. 318 (320 f.); Groß, Kollegialprinzip, S. 168; Stern, Staatsrecht I, § 18 II. 6. f). 52 Frankenberg, AK-GG, Art. 20 Abs. 1 – 3 I, Rn. 37. 53 Steffani, Monistische oder pluralistische Demokratie, S. 482 (497); vgl. a. ders., Die Republik der Landesfürsten, S. 56 (58 f.). 54 Steffani, ZParl 1985, S. 219 (229); ders., Pluralistische Demokratie, S. 117 ff. 55 Bryde, StWStPr 5 (1994), S. 318 ff.; Groß, Kollegialprinzip, S. 167 f.; Engels, Chancengleichheit und Bundesstaatsprinzip, S. 106. 50
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
gegensätzliche Meinungen und Interessen, die sich auf der Ebene der Länder als abweichende „Einheit“ formieren könnten 56. Aufgrund eigener Hoheitsmacht, eigenen Verfassungssphären, eigenständiger verfassungsgebender Gewalt und demokratischer Legitimationsfähigkeit sei eine „Pluralität der politischen Leitungsgewalt“ 57 angelegt.
B. Einordnung der Modelle und Konsequenzen in bezug auf den demokratischen Bundesstaat Um die Konsequenzen der jeweiligen Konzepte für den Bundesstaat zu verdeutlichen, kommt es auf die Frage der Ungeteiltheit und Einheitlichkeit des Volkswillens bzw. des Volkes als einzigem Legitimationssubjekt an, da der Bundesstaat eine Vielheit der Legitimationsebenen und -subjekte vorsieht. Das identitäre Demokratiemodell, ein symbolisches Verständnis von Repräsentation, aber auch die Idee der radikalen Volkssouveränität sowie ein monistisches Demokratieverständnis gleichen sich in der Annahme eines vordefinierten, a priori existenten und damit unteilbaren und verbindlichen Volkswillens. Damit zeigt sich bereits hier, daß es bei jedem Demokratieverständnis, das die Einheitlichkeit des Legitimationssubjekts betont oder absolute Gleichheit annimmt, zu Schwierigkeiten kommt, wenn eine andere Legitimationsquelle hinzutreten sollte; wenn der Volkskörper sich also anders als homogen darstellen sollte; wenn – in unserem Zusammenhang – zu dem Demokratieprinzip das Bundesstaatsprinzip tritt. Da die Legitimationsmasse homogen sein muß, der einheitliche Volkswille bindend ist, ist ein gegliedertes Staatswesen für die Anhänger dieser Denkschulen kaum möglich. Daher gerät diese Lehre auch in eine argumentative Notlage, wenn es um die Definition der Landesvölker und des Staates geht. Demgemäß erkennt sie diese entweder nur als Teile des Gesamtvolkes an 58 oder sogar nur in einem metaphorischen Sinne 59. Dieses staatstheoretische Problem setzt sich auf staatsrechtlicher Ebene fort. Da das monistische Demokratieverständnis durch seine Fixierung auf ein einheitliches Legitimationssubjekt parlamentszentriert ist, erscheint ihm eine ergänzende Legitimation durch eine zweite Kammer systemwidrig. Mehrfache
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Engels, Chancengleichheit und Bundesstaatsprinzip, S. 106 (Anführungen im Original). 57 Stern, Staatsrecht I, § 19 II. 1.; Groß, Kollegialprinzip, S. 168; ähnlich Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, IV., Rn. 8. 58 Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, S. 165 (177); Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 47; Löwer, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 28, Rn. 26; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 211; Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 81 (90 f.); Zinn, AöR 75 (1949), S. (291) 296. 59 Z. B. Isensee, HbStR § 98, Rn. 64; Bullinger, DÖV 1970, S. 761 f.; Rottmann, DVBl. 1981, S. 439 (442).
2. Kap.: Strukturmerkmale der Demokratie und ihre Theorien
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demokratische Legitimation durch Bundesvolk und Landesvölker ist so undenkbar. Dies gilt nicht nur für ein monistisches Demokratieverständnis, sondern auch für alle Theorien, die auf einer Volksdemokratie beruhen, da auch sie von einem nicht belegbaren präexistenten Allgemeinwillen, der Homogenität der Legitimationsmasse, und damit nur in absoluter, tatsächlich aber nicht bestehender Gleichheit funktionieren können. Diese Richtungen wiederum stehen sich zwar politisch entgegen, wie die o. g. Fundierung von Schmitt und Agnoli auf Rousseau zeigt, beruhen aber auf demselben theoretischen Konzept. Da sie extreme nationale Homogenität einerseits und absolute politische Gleichheit andererseits befürworten und der demokratische Bundesstaat solche extremen Homogenitätskonzepte offenbar nicht zuläßt, ergibt sich daraus die Vermutung, daß das Grundgesetz und der demokratische Bundesstaat durch Gemäßigtheit gekennzeichnet sind. Weiterhin führen diese Lehren zur Unitarisierung der Bundesstaatstheorie. Denn sie haben zur Folge, daß der Bundesstaat damit letztlich zum Einheitsstaat wird, daß die Existenz der Staatsqualität der Länder und der Landesvölker, sofern sie anerkannt wird, letztlich bloß pro forma gebilligt werden und kaum praktische oder gar legitimatorische Bedeutung erlangen können, da angesichts des bindenden Allgemeinwillens keine andere echte Legitimationsbasis existieren darf. Demgegenüber stehen mit den pluralistischen Demokratietheorien Modelle zur Verfügung, die in einer Bandbreite von einer Vielheit der (bundes-) staatlichen Ebenen bis zu einer Vielheit der Einzelnen reichen. Plural wird hier gleichsam von zweifach bis unendlich ausgelegt. Mit der föderal begründeten Variante des pluralistischen Demokratieverständnisses steht eine Möglichkeit zweifacher Legitimationsvermittlung zur Verfügung. Hinter den Theorien der monistischen und pluralen Demokratie stehen die zwei großen Schulen der deutschen Staatsrechtslehre, die nicht bloß ein gegenläufiges Verständnis von Demokratie, sondern auch vom Staat, der Souveränität und der Verfassung besitzen. Man könnte sie auf die Alternativen „Dezision – Integration, Etatismus – Pluralismus, Staat – politische Gemeinschaft“ 60 oder deren Protagonisten „Schmitt – Smend“ zuspitzen. Die eine ist geprägt durch ein „Denken vom Staat her“ 61. Sie sieht im Staat die natürliche Organisationsform eines Volkes, das sich schon vorrechtlich als eine wie auch immer geartete homogene Einheit präsentiert und dessen natürliche Gemeinschaftsbildung sich im Staat verwirklicht. Einmal rechtlich verfaßt erblickt sie im Staat den Friedensgaranten schlechthin. Demzufolge betrachtet sie alles, was dessen Einheit aufspalten 60 So die Gegenüberstellung bei Günther, Denken vom Staat her, Die bundesdeutsche Staatslehre zwischen Dezision und Integration 1949 –1970, passim; vgl. dazu die Besprechung von Grawert, Der Staat 2005, S. 151. 61 Günther, Denken vom Staat her.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
könnte, als gefährlich. In Zeiten der Not bedürfe es eines handlungsfähigen Staates mit einem Staatsoberhaupt, welches eine befriedende Wirkung auch dadurch habe, daß alle Staatsbürger sich hinter ihn stellten. In dieser Schule sind die Sphären von Staat und Gesellschaft getrennt, die Verfassung folglich auf den Staat bezogen. Die andere Denkschule betont die Vielheit der Meinungen (Pluralismus). Sie sieht im Staat nicht eine natürliche, sondern nur eine rechtliche Organisationsform, betrachtet ihn ohnehin nur als einen möglichen Akteur unter vielen in einer politischen Gemeinschaft, die daneben noch aus Interessenvertretungen, Parteien, Verbänden etc. bestehe. Demzufolge sei eine Verfassung auch nicht nur auf den Staat, sondern die gesamte Gesellschaft ausgerichtet. Entscheidungen kommen nicht durch einseitige Verfügungen einer starken Hand zustande, sondern durch Prozesse des Aushandelns, der Kooperation und Integration. Es zeigt sich bereits hier bei kursorischer Betrachtung, daß bei Abkehr von Gleichheits- und Einheitlichkeitsgedanken sowie bei Anerkennung eines nach bestimmten Regeln erst zu bildenden und nicht vorgefundenen Willens keine konstruktiven Schwierigkeiten bestehen, eine zweite Ebene staatlicher Entscheidungsgewalt anzuerkennen. Damit kann bereits festgehalten werden, daß es nicht unbedingt einen Widerspruch zwischen Demokratie und Bundesstaatsprinzip gibt und eine mehrfache Legitimation staatlicher Entscheidungen nicht unbedingt ausgeschlossen werden kann. Ob es dafür einer gänzlichen Aufgabe des Einheits- und Staatsbegriffs bedarf, wie zum Teil vertreten wird 62, und die gänzliche Abkehr vom Nationenbegriff erforderlich oder deren Redefinition angezeigt ist, sei hier zunächst dahingestellt. Welches dieser Demokratieverständnisse dem Grundgesetz zugrunde liegt, soll der Eingangsthese gemäß nach der Gegenüberstellung mit dem Bundesstaatsprinzip untersucht werden.
3. Kapitel
Die Bundesstaatstheorien: Antinomie von Bundesstaat und Demokratie oder demokratischer Bundesstaat? Auf diesen Theorien zur Demokratie basierend kann sich die Untersuchung nun den Bundesstaatstheorien zuwenden. Dabei muß sich auch hier die Auswahl der Autoren beschränken. Ausgehend von der Hypothese, daß der Föderalismus 62
So in Zusammenhang mit dem demokratischen Bundesstaat letztlich Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 86.
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
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des Grundgesetzes nur als demokratischer Bundesstaat richtig verstanden werden kann, ist eine Auswahl dahingehend zu treffen, nur diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die sich zu einem demokratischen Bundesstaat äußern – es sind bloß zwei Konzepte – oder sich zumindest mit der Vereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat befassen. Der Bundesstaat ist mit vielen Interpretationsansätzen bedacht worden. Diejenigen, welche gleichzeitig auch die für das Grundgesetz bedeutendsten und prägendsten sind 1, nehmen auch zum Verhältnis von Demokratie und Bundesstaat Stellung (A.). Hingegen gibt es – soweit erkennbar – nur zwei Versuche, eine Dogmatik des demokratischen Bundesstaates zu entwerfen, davon ist eine erst jüngst erschienen (B.). Diese Theorien sollen im folgenden dargestellt werden, um aus Ihnen Anhaltspunkte für den Aufbau eines Modells vom demokratischen Bundesstaat zu gewinnen. Dazu werden die bestehenden Konzepte insgesamt zunächst vorgestellt. In einer daran anschließenden Auswertung werden die Probleme des demokratischen Bundesstaates herausgearbeitet und zusammengefaßt.
A. Das Verhältnis von Demokratie und Bundesstaat Die Auffassungen über das Verhältnis von Demokratie und Bundesstaatlichkeit haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Während man zu Zeiten des Kaisserreichs und zum Teil noch in der Weimarer Republik von einer Unvereinbarkeit der beiden Verfassungsgrundsätze ausging (I.), änderte sich diese Sichtweise für das Grundgesetz spätestens seit Konrad Hesse zu der Annahme, beide Prinzipien unterstützten sich gegenseitig und seien daher miteinander vereinbar (II.). Nachdem diese Streitfrage schon als vergessen bezeichnet wurde 2, kehren im Zuge angeblicher Ineffizienzdebatten und Reformdiskussionen wieder einige Autoren dahin zurück, einen Antagonismus festzustellen 3. Die Diskussion ist daher noch immer nicht beendet und zahlreiche Fragen sind nicht zufriedenstellend beantwortet.
1
s.u. 3. Kap., A. II.; vgl. a. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 28 ff. Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 81. 3 Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 117 ff.; Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 81 ff.; politikwissenschaftlich grundlegend Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat; aus der Sicht der Geschichtswissenschaft Ritter, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 55. 2
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
I. Unvereinbarkeit 1. Erich Kaufmann: Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung Noch im Kaiserreich vertrat Kaufmann die Auffassung von der Unvereinbarkeit einer parlamentarischen Demokratie mit dem Föderalismus. Seine Überlegungen gehen von der unitarischen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten aus. Dem Reich sei ein Übermaß an Handlungsmöglichkeiten gegeben. Diese Verteilung werde jedoch föderal „eingefangen“, weil die Gliedstaaten in die „Verwirklichung dieses Unitarismus“ vielfältig eingebunden seien. Diese Einbindung erfolge zum einen dadurch, „daß die eigentliche Vollziehung den Einzelstaaten verblieben“ sei, und zum anderen durch die „volle und ebenbürtige Beteiligung des Bundesrates an der Gesetzgebung“ 4. Eine derart eingefaßte Reichsgewalt bezeichnet er als „fragmentarische Reichsgewalt“, weil sie nur Teile der staatlichen Angelegenheiten regelt und andere Hoheitsgewalten, namentlich die der Länder, einbezieht. Beweggrund und Leitgedanke für diese rechtliche Konstruktion sieht Kaufmann im Tatsächlichen: in dem politischen Willen des Volkes zur wirtschaftlichen und sozialen Reichseinheit 5. Gleichwohl sei ein Einheitsstaat nicht gewollt, weshalb eine Verteilung der Kompetenzen nach Funktionen, also Gesetzgebung und Vollziehung, erfolgen müsse. Damit bestehe ein „ausgleichendes Korrektiv gegenüber jenem Unitarismus“ 6. Der Zwiespalt zwischen dem Willen zur Einheit und dem föderal-fragmentarischen Charakter der Staatsgewalt finde im föderalen Reichsorgan des Bundesrates Form und Aufhebung 7. Folge dieser föderalen Konstruktion sei es, daß eine Parlamentarisierung des Reiches unmöglich, mit anderen Worten, Demokratie mit dem Bundesstaat nicht vereinbar sei. Dies sei ausgeschlossen, da das Wesen der parlamentarischen Regierungsform darin bestehe, „daß das der Majorität des Parlamentes entstammende Kabinett Haupt der Vollziehung“ sei 8. Kaufmann setzt also voraus, daß die dem Parlament verantwortliche Regierung auch für die gesamte Vollziehung verantwortlich sein muß und deshalb die Exekutivkompetenzen nicht zwischen dem Zentralstaat und dem Gliedstaat aufgeteilt werden dürfen. Da dies Kaufmanns zentrales Argument ist, fragt sich, welches Verständnis einer parlamentarischen Regierung dem zugrunde liegt. Die oben vorgenommene Beschreibung der Demokratiemodelle ergab, daß die Vorstellung einer ungeteilten und unteilbaren Souveränität des Parlamentes das Modell der 4 5 6 7 8
Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, S. 193. Vgl. Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, S. 193. Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, S. 193. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, S. 128. Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, S. 193.
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britischen Parlamentssouveränität ist. Absolute Parlamentssouveränität ist aber das Modell des nationalen Einheitsstaates und nicht des Bundesstaates. Das Parlament hat das Recht, alle staatliche Tätigkeit zu kontrollieren 9, folglich auch die Exekutive. Es kommt auch hier zu Spannungen, wenn man wie Kaufmann das Parlament als den höchsten und unteilbaren Willen begreift, mit anderen Worten, es als Souverän ansieht. Der Wille einer anderen Ebene (der bundesstaatlichen) würde dann diesen höchsten und unteilbaren Willen durchbrechen. Ein Modell des demokratischen Bundesstaates muß sich daher auch mit dem geeigneten Verständnis von Repräsentation und Parlamentarismus auseinandersetzen. Was die Institutionenkunde betrifft, sind die Ausführungen Kaufmanns insofern für die Untersuchung des demokratischen Bundesstaates bedeutsam, als sie uns die Herkunft des deutschen Vollzugsföderalismus verdeutlichen. Er ist durch die funktionale Verteilung von Zuständigkeiten gekennzeichnet, also durch die überwiegende Zuordnung der Gesetzgebung zum Bund und die Vollziehung zu den Ländern (Verbundsystem). Demgegenüber wird im Trennsystem die jeweilige Ebene erst gesetzgeberisch und dann auch vollziehend tätig (z. B. USA) 10. Die der Unterscheidung von Gesetzgebung und Gesetzesvollzug folgende Aufteilung von Kompetenzen ist seit der Reichsverfassung, zu deren Geltungszeit Kaufmanns Schrift erschien (1917), Strukturmerkmal des deutschen Bundesstaates geblieben. Sie ist nicht nur „Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung“, sondern auch in den folgenden Verfassungen, inklusive des Grundgesetzes. 2. Carl Schmitt: Verfassungslehre In die Weimarer Zeit fiel die Erörterung des Verhältnisses von Demokratie und Bundesstaat durch Carl Schmitt, die auch für die Bundesrepublik Deutschland noch Bedeutung entfaltet hat. Die Vereinbarkeit der beiden Prinzipien ist für Schmitt ein Problem der Legitimation. Das entscheidende Argument ist dabei die Homogenität des Legitimationssubjekts Volk. Seiner Lehre nach beruhen sowohl die Demokratie als auch der Bund auf der Homogenität des Volkes. Diese sei eine Folge der demokratischen Gleichheit, die eine substantielle sei. Die Substanz der Gleichheit könne in verschiedenen Demokratien oder Zeitaltern verschiedenartig ausfallen: Es könne eine nationale, eine religiöse, eine zivilisatorische, eine soziale, eine klassenmäßige oder eine andere Art von Homogenität sein 11. Bilde sich ein Bund demokratischer Staaten, so sei die notwendige Folge, daß die demokratische Homogenität mit der Bundeshomogenität „zusammenfließe“. Deshalb liege es in der natürlichen Entwicklung der Demokratie, daß 9
Vgl. Steffani, Die Republik der Landesfürsten, S. 56 (59). Vgl. Laufer / Münch, Föderatives System, S. 23 f. 11 Schmitt, Verfassungslehre, S. 228 ff., 376. 10
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die homogene Einheit des Volkes über die politischen Grenzen der Gliedstaaten hinweggehe und den Schwebezustand des Nebeneinanderbestehens von Bund und politisch selbständigen Gliedstaaten zugunsten einer durchgängigen Einheit beseitige 12. Schmitt zufolge führt die Verbindung von Demokratie und bundesstaatlicher Organisation zu einem eigenartigen, selbständigen Typus staatlicher Organisation. Diesen nennt er einen „Bundesstaat ohne bündische Grundlage“ 13. Als einen solchen führt er beispielhaft das Deutsche Reich der Weimarer Reichsverfassung an. Wenn ein solcher Staat dennoch als Bundesstaat zu bezeichnen sei, dann aufgrund seiner Verfassung, die „den bundesstaatlichen Charakter wahren will“ 14. Auf diese Weise kommt der pouvoir constituant ins Spiel: Durch den demokratischen Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des ganzen Volkes werde die bündische Grundlage und damit der Bundescharakter aufgehoben 15. Genauer: An die Stelle der bundesmäßigen Verfassungsvereinbarung zwischen den Gliedstaaten werde ein Akt der verfassungsgebenden Gewalt des einheitlichen Volkes gesetzt 16. Demokratie und Föderalismus sind bei Schmitt also insofern nicht zu vereinbaren, als die Demokratie den Föderalismus beseitigt 17. In einem Staat, der beides vorsieht, also im Bundesstaat ohne bündische Grundlage, gibt es nur ein einziges Volk. Der staatliche Charakter der Gliedstaaten ist also beseitigt. In einem Staat, der auf einem verfassungsgebenden Akt des ganzen Volkes beruht, kann es nur eine politische Einheit geben. Für Schmitt ist also das Nebeneinander von Staatsvolk des Bundes und Völkern der Gliedstaaten undenkbar. Die bündische Organisation würde der für ihn notwendigen Einheitlichkeit widersprechen. Für ihn reduziert sich das Bundesstaatsprinzip auf ein reines Organisationsprinzip. Dies ist möglich, da es auf dem Willen der verfassungsgebenden Gewalt beruht, aber auch logisch notwendig, weil Schmitt die Einheit des Volkes betont. Diese Auffassung gab Schmitt einige Jahre später zugunsten der Vereinbarkeit von Demokratie und Föderalismus auf 18. Da die bundesstaatliche Organisation und der Parlamentarismus im Reich und in den Ländern zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Schrift zwölf Jahre nebeneinander bestanden hatten, sei die 12
Schmitt, Verfassungslehre, S. 388. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 14 Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 15 Schmitt, Verfassungslehre, S. 389. 16 Schmitt, Verfassungslehre, S. 65. 17 Ähnlich Beaud, Der Staat 1996, S. 45 (65): „Schließlich neigt die Volkssouveränität notwendigerweise zur Zentralisierung der Macht, die sie legitimiert, und neigt also zur Vernichtung des Föderalismus, indem sie das Gleichgewicht der Föderation zugunsten des Zentralstaates zerstört.“ 18 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 94 ff. 13
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Vereinbarkeit anscheinend ipso facto bewiesen 19. Dies beruhe auf einem Struktur- und Funktionswandel. Die Vereinbarkeit sei nur darauf zurückzuführen, daß im Parlament föderale Parteien vertreten seien, darunter fast regelmäßig auch eine auf ein bestimmtes Land beschränkte. Gleichzeitig seien umgekehrt die verschiedenen, den pluralistischen Staat bildenden Machtkomplexe mit ihren Organisationen durch das Reich hindurch und über Landesgrenzen hinweg daran interessiert, die staatlichen Machtpositionen, die sie in den einzelnen Ländern errungen haben, unter allen Umständen zu verteidigen, weil sie auf diese Weise gegen eine im Reich oder in anderen Ländern herrschende, feindliche Partei oder Parteikoalition am besten gesichert seien. So würden bundesstaatliche Einrichtungen und Positionen zu Verbündeten und Stützpunkten des Pluralismus. Aber die auf diese Weise entstehende „Vereinbarkeit“ von Parlamentarismus und Föderalismus sei nur durch eine beiderseitige Auflockerung der Geschlossenheit und Festigkeit der staatlichen Einheit gewonnen 20. Schließlich ergänzt Schmitt seine Betrachtungen um zwei neue Rechtfertigungen, die der Föderalismus in einem gleichzeitig parlamentarisch und bundesstaatlich organisierten Staat erhalte 21. Er könne zum einen als ein Hilfsmittel echter territorialer Dezentralisation gelten. Zum zweiten könne er als Gegenmittel gegen die Methoden eines parteipolitischen Pluralismus angesehen werden, der versuche, unterschiedslos alle Machtpositionen in Staat und Gesellschaft, in der Staatsaufsicht und der Selbstverwaltung zu besetzen. Auch aus der Auseinandersetzung mit Schmitt ergibt sich für die weitere Untersuchung Klärungsbedarf: es sind die Frage nach der Einheit und Homogenität des Legitimationskörpers sowie der verfassungsgebenden Gewalt. Ferner fragt sich, ob der Bundesstaat tatsächlich keine bündische Grundlage mehr besitzt, d. h. ob er nur noch ein reines Organisationsprinzip ist. 3. Wilhelm Grewe: Antinomien des Föderalismus Auf einen gänzlich anderen Grund hebt Grewe in einer oft zitierten, aber stets unbearbeiteten kleinen Schrift ein Jahr vor Inkrafttreten des Grundgesetzes ab 22: auf die Parteipolitik. Ob er eine gänzliche Unvereinbarkeit beider Prinzipien annimmt oder nicht, wird nicht ganz klar. Einerseits 23 konzediert er wie Schmitt, daß sich Föderalismus und Demokratie in der politischen Wirklichkeit vereinbaren ließen. Dies bewiesen existierende demokratische Bundesstaaten. Es ergäben 19 20 21 22 23
Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 95. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 95 (Anführung im Original). Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 96. Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 14 ff. Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 15.
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sich aber Probleme, Reibungsflächen und verfassungspolitische Gefahren. Andererseits 24 versucht er gar nicht erst – im Gegensatz zu anderen „Antinomien des Föderalismus“ – diese aufzulösen, da dies außerhalb der Möglichkeiten föderalistischer Verfassungspolitik liege. Grewe argumentiert aus der Struktur des Parteiensystems in der Weimarer Republik heraus. Sie habe sich auf ein pluralistisches System straff organisierter und zentralisierter Reichsparteien gegründet, das in wirksamer Weise geeignet gewesen sei, die gliedstaatliche Selbständigkeit der Länder auszuhöhlen. Mächtige und keiner verfassungsmäßigen Verantwortung unterliegende Parteibürokratien seien in der Lage gewesen, die Länderregierungen zu überspielen und auf diesem Wege einem verfassungsmäßig nicht vorgesehenen, unkontrollierbaren Einfluß der Zentralgewalt des Reiches zu dienen. Umgekehrt sei es aber mittels des Reichsrates möglich gewesen, durch einen Zusammenschluß parteipolitisch gleichgerichteter Länderregierungen die föderalistischen Verfassungsrechte der Länder „gegen die in der Reichsregierung herrschenden feindlichen Parteien“ zu nutzen 25. Der Konflikt sei dadurch besonders verschärft worden, daß sich die deutschen Parteien seit jeher nicht als Parteien im eigentlichen Sinne des Wortes verstanden, d. h. als durch gemeinsame Spielregeln verbundene Partner bei einer übergeordneten nationalen Aufgabe, sondern daß sie sämtlich danach strebten, ihre Widersacher aus dem politischen Spiel auszuschalten 26. Die Kombination von Föderalismus und Demokratie führe zu einem „parteipolitisch verfälschten Pseudo-Föderalismus“, in dem sich vor allem die Nachteile des Parteien- und des Bundesstaates kumulierten und gegenseitig steigerten 27. Auch Grewe vermag eine allgemeingültige Unvereinbarkeit von Demokratie und Föderalismus nicht zu konstruieren. Dies gesteht er gleichsam ein, wenn er anführt, entsprechende Verfassungen bestünden in der Wirklichkeit. Seine Unvereinbarkeitsthese stützt er im wesentlichen auf die Erfahrungen in der Weimarer Republik. Erfahrungen, von denen bekanntermaßen die Schöpfer des Grundgesetzes geprägt waren 28. Grewe ist insoweit Recht zu geben, als die „Gefahren (Anm. d. Verf.: für die Weimarer Republik !) in erster Linie in der Struktur des deutschen Parteiensystems“ zu suchen waren. Die Parteien in der Weimarer Republik haben sich nicht nur gegenseitig bekämpft, wie Grewe schreibt, sondern waren zu überwiegenden Teilen auch dem Staat gegenüber feindlich 24
Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 28. Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 15 f. 26 Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 16. 27 Grewe, Antinomien des Föderalismus, S. 16. 28 Vgl. z. B. die „schwache“ Stellung des Bundespräsidenten im Vergleich zu der des „Ersatzkaisers“ Reichspräsidenten mit weitgehenden Befugnissen, z. B. zum Regieren mit Notverordnungen. 25
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gesonnen. Dies war zu Anfang der Bundesrepublik Deutschland nicht der Fall. Das haben geschichts- und politikwissenschaftliche Forschungen zum Parteiensystem der jungen Bundesrepublik Deutschland ergeben. Danach gilt es als gesicherte Erkenntnis, daß das frühe Gelingen der zweiten deutschen Republik auf den allgemeinen Konsens der Anerkennung und auch des Verständnisses einer parlamentarisch-demokratischen Ordnung durch die beteiligten Parteien zurückzuführen ist 29. Letztlich haben sich Grewes Bedenken also nicht bestätigt. Eine allgemeingültige Unvereinbarkeit beider Prinzipien kann daher auch nicht aufgrund des Parteiensystems erkannt werden. Hingegen ist ihm jedenfalls in der Beobachtung zuzustimmen geben, daß die parteipolitische Nutzung von Länderrechten, d. h. des Bundesrates, im politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland stattfindet. Aufgrund der Beschäftigung mit der Lehre Kaufmanns stellt sich daher für den weiteren Verlauf der Arbeit die Frage, welche Stellung die Parteien im demokratischen Bundesstaat einnehmen, insbesondere, ob die Parteipolitik im Bundesrat eine pathologische Folge der Verknüpfung zweier widerstreitender Prinzipien in der Verfassung ist. II. Vereinbarkeit 1. Konrad Hesse: Der unitarische Bundesstaat Einen – auch die Begrifflichkeit – bis heute prägenden 30 Einschnitt stellt die Schrift von Konrad Hesse „Der unitarische Bundesstaat“ aus dem Jahr 1962 dar. Hesse geht zunächst zu Recht davon aus, daß eine eigene Bundesstaatstheorie der Bundesrepublik Deutschland fehle. Für seine Untersuchung will er die Wirklichkeit des Bundesstaates berücksichtigen, da dessen Entwicklung etwas Geschichtliches sei und nicht von der Wirklichkeit abgetrennt werden könne 31. Es ging Hesse also dabei wesentlich um die Wirkungen des empirisch festzustellenden Wandels auf die aktuelle Bundesstaatlichkeit. In diesem Wandel seien die Bundesländer kaum noch traditionell verwurzelte Gemeinwesen, sie hätten selber ihre Kompetenzen auf dem Weg zum Sozialstaat an den Bund abgegeben und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse höher veranschlagt als regionale Unterschiede 32. Angesichts dieser Unitarisierung plädiert Hesse für eine „radikale Wendung“ 33 in der Bundesstaatslehre: daß das überkomme29
Schmidt, Demokratietheorien, S. 106. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 31; vgl. z. B. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, IV, Rn. 74: „bahnbrechende Arbeit von Konrad Hesse“. Vgl. a. zum Ganzen die Darstellung der Lehre Hesses Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, S. 130 ff. 31 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 4 f. 32 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 12 ff. 33 Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, S. 131. 30
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ne, föderale Verständnis, nach welchem der Bundesstaat „gekennzeichnet [ist] durch die Gleichzeitigkeit von Mannigfaltigkeit und Einheit, eine gegebene Differenziertheit der Gliedstaaten, deren Individualität durch den bundesmäßigen Aufbau erhalten und zu gemeinschaftlichem Zusammenwirken in der Einheit des Gesamtstaates verbunden werden soll“ 34, ist für ihn überlebt. Bundesstaatlichkeit diene nicht mehr dem Schutz der Länder, sondern der Begrenzung zentralistischer Macht. Funktion und Wesen des neuen unitarischen – und nicht mehr föderalen – Bundesstaates lägen nunmehr in der Gewährleistung einer bundesstaatlich strukturierten Willensbildung 35 und der vertikalen Gewaltenteilung 36. Das Bundesstaatsprinzip werde somit zu einer Ergänzung des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips. Daher sei die Annahme einer Antinomie zwischen beiden Prinzipien hinfällig. Da der unitarische Bundesstaat nicht auf dem bündischen Prinzip beruhe, könne er durchaus auf einer Entscheidung der verfassungsgebenden Gewalt des Gesamtvolkes beruhen 37. Zusammenfassend läßt sich sagen: Im unitarischen Bundesstaat Hesses wird nicht mehr um die föderale Balance gerungen, sondern unitarisch kooperiert 38. Wie Schmitt reduziert Hesse den Bundesstaatsgedanken damit auf ein reines Organisationsprinzip. Der Bundesstaat wird auch hier – wenn auch unter anderem Vorzeichen als bei Schmitt – nur von der Einheit her gedacht. Wenigstens kritisch zu begleiten ist Hesses Verständnis des Demokratieprinzips, das er nicht – wie eingangs dargestellt – als Herleitungszusammenhang von staatlicher Herrschaft versteht. Vielmehr wird er mit positiven Aspekten, wie Minderheitenschutz, Überschaubarkeit, Nähe der staatlichen Verwaltung sowie mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung, verknüpft. Das sind jedoch Kompensationszusammenhänge, die in der Verfassung so nicht vorgesehen sind 39. Problematisch ist auch sein methodisches Vorgehen, die vorgefundene Verfassungswirklichkeit ohne rechtliche Bezüge dennoch rechtlich zu systematisieren. Letztlich versucht er nur, einer Entwicklung positive Seiten abzugewinnen. Das wiederum bedeutet nichts anderes, als den kooperativen Föderalismus und den unitarischen Bundesstaat zu rechtfertigen, ihm nachträglich eine Theorie zu geben, die nicht den grundgesetzlichen Legitimations- und Entscheidungsmustern entspricht und ihm dadurch eine „Generalabsolution“ 40 zu erteilen. Die formalen 34
Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 14. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 4, unter Hinweis auf Smend. 36 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32; ders., AöR 98 (1973), S. 1 (35 ff.); ders., Aspekte des kooperativen Föderalismus, S. 141 (148). 37 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32. 38 Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, S. 132. 39 Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 81 (94). 40 Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 81 (96). 35
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Fragen von Souveränität im Bundesstaat, der Herleitung von Staatsgewalt 41, der Legitimation der Verfassung und staatlicher Entscheidungen erscheinen so als „Scheinprobleme“ einer vorgeblich überholten Staatsvorstellung. Es wird sich aber zeigen, daß die einzelnen Länder sehr wohl (immer noch) Vermittler von ursprünglicher Legitimation sein können. Die bedingungslose Anerkenntnis der Wirklichkeit ist nur mit der verfassungspolitischen Mode und der Stimmung in der frühen Bundesrepublik Deutschland zu erklären. Die sachliche Unitarisierung sei eine Erscheinung, die aus den Notwendigkeiten der Zeit (Wirtschaft, Technik, Verkehr, Flüchtlingsaufnahme nach 1945, Sozialstaat 42) resultiere. Sie „aufhalten zu wollen, würde letztlich ein vergebliches Unterfangen sein und die normative Kraft der Verfassung in äußerste Gefahr bringen“. Es wird sich zeigen, daß es genau umgekehrt ist. Aus der Verfassung läßt sich entnehmen, daß noch ausreichend „bündische“ Elemente enthalten sind, die gerade zu ignorieren, die Verfassung in Unstimmigkeiten und damit „in Gefahr“ bringen. Die Abkehr vom Grundgesetz in seiner ursprünglichen Fassung führt dazu, allzu leichtfertig die Selbstbestimmung, die Staatlichkeit der Länder und deren Fähigkeit zu unabgeleiteter demokratischer Legitimation zu opfern und damit ihre eigentliche verfassungsrechtliche Bestimmung zu übergehen. Die Methode Hesses hat zur Folge, daß ein angeblicher tatsächlicher Einheitlichkeitsbedarf aufgrund der damaligen Überhöhung der Problemlösungskapazitäten des Zentralstaates eine rechtliche Vereinheitlichung der Bundesstaatsidee bewirkt. Im übrigen ist die Reaktion auf sich ändernde gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse mit Unitarisierung nicht zwingend. Politische Strukturveränderungen sind keine unmittelbaren zwangsläufigen Effekte der gesellschaftlich-tatsächlichen Umstände, sondern hängen davon ab, wie die politisch Verantwortlichen darauf reagieren 43. Dies gilt auch für den Umgang mit dem Bundesstaat. Unterschiedliche Zeiten gehen auch unterschiedlich mit dem Föderalismus um. Es existieren verschiedene Perioden des Umgangs mit dem Bundesstaat in der Bundesrepublik Deutschland 44. Dabei herrschte aber stets eine unitaristisch-zentralistische Tendenz vor. So erschien es der großen Koalition und der sozialliberalen Koalition eben opportun, mit zentralistisch-unitarischen Maßnahmen zu arbeiten, wie z. B. den Gemeinschaftsaufgaben und der Mischfinanzierung, und damit die bisherige Staatspraxis durch verfassungsrechtliche Normierung zu verfestigen und auszubauen. Theoretisch wäre auch ein Wettbewerbsmodell denkbar gewesen, das man damals nicht für zielführend hielt, 41
Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 290; Scheuner, DÖV 1962, S. 641 f. Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 13. 43 Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 115; Münch, APuZ 13/1999, S. 3 (7); Schreckenberger, Föderalismus, VerwArch 69 (1978), S. 341 (348); Renzsch, StWStPr 8 (1997), S. 87 ff. 44 Vgl. näher Münch, APuZ 13/1999, S. 3 (8 ff.). 42
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dann aber Ende der achtziger und neunziger Jahre im Zuge einer allgemeinen Tendenz zur Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche an Anhängern gewann. Die unitarische Entwicklung resultiert daraus, daß in Deutschland praktisch seit den Anfängen des Bundesstaates in der Problemwahrnehmung der politischen Eliten eine zentralisierend-unitarische Entwicklung des Staates als gesellschaftliches Bedürfnis erschien (von der Herstellung der nationalen Einheit bis zur Bewältigung der Nachkriegsprobleme und letztlich der gegenwärtigen Herausforderungen in den Bereichen Sicherheit und „Globalisierung“), unabhängig von den jeweils existierenden verfassungsrechtlichen Grundlagen. Diese jahrzehntelangen Erfahrungen mit einer angeblichen zentralistischen Überlegenheit in der Problemlösungskompetenz haben die Anschauungen der politischen Akteure in der Nachkriegszeit und die verstärkten Unitarisierungstendenzen erheblich mitbeeinflußt 45. Daß das Fortschritts- und Technikargument nicht zwingend ist, beweist der Vergleich mit anderen föderalen Industriestaaten, wie der Schweiz oder den USA, in denen die föderalen Unterschiede nach wie vor stärker ausgeprägt sind 46. Im übrigen läßt sich nachweisen, daß in ehemals strikt zentralistischen Einheitsstaaten die Ausbreitung des Föderalismus – oder zumindest des föderalen Grundgedankens – voranschreitet 47. Aus der Beschäftigung mit Hesse ergeben sich weitere Fragen, die ein Modell des demokratischen Bundesstaates zu beantworten hat: Ist das Bundesstaatsprinzip tatsächlich nur ein reines Organisationsprinzip und liegt seine Bedeutung und Rechtfertigung allein in dem rechtlich-technischen Faktor der vertikalen Gewaltenteilung? 2. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Beteiligungsföderalismus Ausgehend von parteipolitisch gegenläufigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat und einer damit möglichen Handlungsunfähigkeit des Staates stellt Böckenförde ein Spannungsverhältnis von bundesstaatlicher Ordnung und parlamentarischer Demokratie fest. Dies sei auf ein tiefer liegendes „Strukturproblem des demokratischen Bundesstaates“ zurückzuführen, dem sog. Beteiligungsföderalismus, der zum entscheidenden Merkmal des Bundesstaates geworden sei. Danach werde der Verlust eigenständiger Kompetenzen der Länder durch die Erweiterung ihrer Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes kompensiert 48. Böckenförde wendet sich nicht gegen die übliche Deutung des Beteiligungsföderalismus als eine Form der Gewaltenteilung, sondern gegen die Folgerung, 45 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 106 ff, Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 115; Isensee, Einheit in Ungleichheit, S. 139 (148). 46 Vgl. Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 115. 47 Hilz, Die Ambivalenz des Föderalismus, S. 36 ff. 48 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (187, 189).
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dieser füge sich bruchlos in die demokratische Ordnung ein 49. Die Mitwirkung des nur durch die Landesvölker legitimierten Bundesrates an der Bundeswillensbildung führe notwendig zu einer Schwächung der demokratischen Legitimation im Bund. Diesem Befund liegt sein theoretisches Verständnis der Demokratie zugrunde, welches er anhand eines Rückgriffs auf Montesquieu darlegt 50. Dieser unterscheide zwischen der einheitlichen, homogenen Herrschaftskonstituierung durch einen Monarchen oder ein Volk, auf deren Grundlage die Staatsgewalten organisatorisch-funktionell getrennt werden (Gewaltentrennung), und der vielfältigen Herrschaftskonstituierung durch Stände, die zur Ausführung einer Staatsgewalt funktionell zusammenarbeiteten (Gewaltenteilung). Während Böckenförde nun den von ihm konstatierten Beteiligungsföderalismus der ständestaatlichen Gewaltenteilung zuordnet, erblickt er im Demokratieprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) den Grundsatz einheitlicher Herrschaftskonstituierung 51. Nach diesem Verständnis der Demokratie übernimmt das Volk vom Monarchen die Trägerschaft der einheitlichen und souveränen Staatsgewalt, die sich im Absolutismus gebildet hat 52. Da er also eine einheitliche demokratische Legitimation annimmt, welche im Bundesstaat des Grundgesetzes vom Willen der Ländergesamtheit durchkreuzt werde, erblickt er hierin das Strukturproblem des demokratischen Bundesstaates. So gesehen sind Demokratie und Bundesstaat unvereinbar. Damit verschiebt sich aber das Ausgangsproblem seiner Überlegungen, die zeitweise Einschränkung der Bundestagsmehrheit durch den Bundesrat. Kernproblem wird damit die Aufspaltung der einheitlichen Staatsgewalt durch die Beteiligung verschiedener föderaler Machtträger. Unausgesprochen ist das eigentliche Thema Böckenfördes die Frage nach der Erhaltung politischer Einheit 53. Die Lösung dieses Problems bundesstaatlicher Demokratie sieht Böckenförde nicht im Verfassungsrecht, sondern in der Verfassungswirklichkeit: in den Parteien. Das von ihm zunächst angesichts der bundesstaatlichen Mitwirkung festgestellte „Defizit an demokratischer Struktur“ 54 sieht er dadurch „politisch weithin ausgeglichen“ 55, daß sich „über der je originären und staatsrechtlich unvermittelten Ausgangsbasis von Landes- und Bundesstaatsgewalt die nämlichen politischen Parteien als legitimierte Inhaber der politischen Entscheidungsposi49 Vgl. zum Ganzen die Darstellung der Lehre Böckenfördes bei Eckertz, Bundesstaat und Demokratie, S. 13 (14) oder bei Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, S. 141 ff. 50 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (188). 51 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (189). 52 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 289 (293) vgl. a. ders., Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 188: „Basis einer einheitlichen Trägerschaft der Staatsgewalt – Volk oder Monarch“. 53 Eckertz, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 13 (14). 54 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (190). 55 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (192).
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tionen erheben“ 56. Dies sei möglich, weil alle ins Gewicht fallenden politischen Parteien insofern unitarische Parteien seien, als sie jeweils bundesweit in Bund und Ländern zugleich agierten. Deren Doppelrolle als Regierungs- und Oppositionsparteien zugleich führe zu einer „materiellen Allparteienregierung“. Sie sei wohl unparlamentarisch, aber noch nicht undemokratisch 57. Vielmehr biete der „Allparteienbundesstaat“ sogar einen verfassungspolitisch sinnvollen Ertrag dadurch, daß er Stabilität gewährleiste 58. Und Stabilität erhebt Böckenförde kurzerhand zum eigentlichen Zweck des politischen Systems 59. Böckenförde steht damit sowohl in der Tradition Hesses als auch in der Schmitts. Wie Hesse sieht Böckenförde den Beteiligungsföderalismus in die Entwicklung zum unitarischen Bundesstaat eingefügt. Er ist gleichsam das Organisationsprinzip einer Entwicklung zur sachlichen Unitarisierung, die Böckenförde – auch hier wie Hesse – durch die Funktionsbedingungen der Industriegesellschaft und die sozialstaatlich induzierte Erwartung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sowie der Bundesgrundrechte verursacht, „vorangetrieben“ sieht. Anders als Hesse jedoch erblickt er einen Strukturbruch, auch wenn dieser überwunden werden kann. Hesse demgegenüber spricht noch von einer kongenialen Ergänzung des Demokratieprinzips. Mit Schmitt verbindet ihn die gleiche, nämlich einheitliche Sichtweise der Demokratie. Demzufolge sehen sie das gleiche Problem im demokratischen Bundesstaat: die Durchbrechung des einheitlichen Willens. Während dieser jedoch daraus auf die Unvereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaats schließt und eine Kritik am „Parteienbundesstaat“ übt, erblickt Böckenförde genau darin, eben in den Parteien, die Lösung des Problems. Beide eint auch die Einordnung des Bundesstaates. Dementsprechend spricht er dem Bundesstaat national-unitarischen Charakter zu und stuft ihn politisch herab zu einem Prinzip „innerstaatlicher Gliederung“ 60 bzw. zu einem „Bund ohne bündische Grundlage“. Bei beiden ist der Bundesgedanke nicht mehr als ein Organisationsprinzip. Mit seiner Argumentation auf Grundlage der einheitlichen Herrschaftskonstituierung ist gleichzeitig auch der Gedanke der unteilbaren Souveränität, die beim Bundesvolk liege, verbunden. Er hat sich damit Schmitts Verfassungsbegriff zu eigen gemacht 61. Durch die Einbeziehung der Souveränität gehört Böckenförde zu der herrschenden Lehrmeinung, die unter anderem mit diesem Begriff den Bundesstaat zu erfassen sucht. Neuere Untersuchungen haben ergeben, daß die 56
Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (190 f.). Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (191 f.). 58 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (192). 59 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (193). 60 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (190, 194). 61 Vgl. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutung der Verfassung, S. 29 (36 ff.). 57
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Souveränität zentrale Kategorie bei der Theoriebildung zum Bundesstaat ist 62. Für die folgende Untersuchung bestätigt sich die oben in der Verfassungsgeschichte dargestellte Annahme, daß auch die Souveränität im demokratischen Bundesstaat zu analysieren ist, da ein bestimmtes Verständnis derselben offenbar zur Unmöglichkeit des demokratischen Bundesstaates führt. Aus demselben Grund ist das Demokratieverständnis des demokratischen Bundesstaates zu untersuchen. Böckenfördes Konzept ist methodisch wie inhaltlich kritisch zu betrachten. Er entwickelt nicht allein aus Verfassungsrecht und -theorie ein Konzept des Bundesstaates; vielmehr werden die Bruchstellen durch Rückgriff auf die Verfassungswirklichkeit bloß „gekittet“. Es ist stets der Vorbehalt der Verfassungswirklichkeit, welcher die Verfassungsmäßigkeit bewahren kann 63. Die Stabilität des Systems heilt alle verfassungsrechtlichen Bedenken. Das eigentliche rechtliche Problem des demokratischen Bundesstaates bleibt ungelöst. Mit der Rechtfertigung der Kompetenzverluste der Länder leistet sein Konzept auch keinen Beitrag zur Entflechtung, vielmehr werden die Kompetenzverluste befördert. Zeitlich und inhaltlich reiht sich Böckenfördes Beteiligungsföderalismus in Modell des kooperativen Föderalismus ein, das Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre vorgestellt wurde 64. Seine Grundlagen sind mit der Ländermitwirkung auf Bundesebene und der Selbstkoordinierung der Länder bereits bei Hesse angelegt. Das für den Bundesstaat wesentliche Merkmal sei die Kooperation 65. Dazu gehörte die Diagnose einer Kompetenzverschiebung zugunsten des Bundes 66, die im Ergebnis wegen Kompetenzkompensation über die Mitentscheidung im Bundesrat 67 unproblematisch sei. Zunehmend gerieten dabei auch die negativen Aspekte dieser Entwicklung in den Blick, die insbesondere im hohen Konsensbedarf gesehen wurde, der zu Problemlösungsdefiziten führe. Weiterhin wurde der Bedeutungsverlust der Landesparlamente 68 beklagt, der 62 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 381 ff; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 60 f. 63 Vgl. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, S. 146. 64 Ausführliche Darstellung zum folgenden m.w. N. bei Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 33 f.; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 259 ff. 65 Aus dieser Zeit Kisker, Kooperation im Bundesstaat; Ritter, AöR 94 (1979), S. 389 ff.; vgl. die Darstellungen bei Hanf, Bundesstaat ohne Bundesrat, S. 43 ff.; Rudolf, HbStR VI, § 141, Rn. 2. 66 Hesse, AöR 98 (1973), S. 1 (35 ff.); Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 294 f.; Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (419 ff.). 67 Zur Debatte um die These zusammenfassend Klein, DVBl. 1981, S. 661 (663 f.); Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 40 ff.; gegen die These Klein, DVBl. 1981, S. 661 (664); Lerche, Prinzipien des deutschen Föderalismus, S. 79 (86); ders., Zustimmungsgesetze, S. 183, 187, ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 63. 68 Z. B. Schenke, ParlRParlPr, § 55, Rn. 60, 68; Johne, APuZ 50 –51/2004, S. 10 (14).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Folge des Ersatzes von Selbst- durch Mitbestimmung im von den Länderregierungen besetzten Bundesrat sei. Daraus entstand der häufig aufgegriffene Terminus des „Exekutivföderalismus“. Das ebenfalls in dieser Zeit populär gewordene Stichwort von der „Politikverflechtungsfalle“ 69 war Ausdruck der Tendenz zu Kooperation und Beteiligung. Die Politikverflechtung ist seitdem eine zentrale Kategorie bei der Beschreibung des Föderalismus, auch und gerade nach der Wiedervereinigung 70, und hat mittlerweile auch den Weg aus der Fachliteratur in die allgemeine Berichterstattung gefunden. 3. Herrschende Lehre: Vereinbarkeit im Sinne einer Ergänzung Die herrschende Staatrechtslehre in der Bundesrepublik Deutschland ging – sofern überhaupt Interesse für das Problem bestand – von zwei Standardannahmen aus. Das Bundesstaatsprinzip vervielfache und fördere die demokratische Struktur des Grundgesetzes. Die (nach dem Krieg stets nur bis zu Carl Schmitt zurückverfolgte) These von der Antinomie beider Prinzipien sei zum einen durch die Verfassungsrealität, insbesondere aber durch die Bundesstaatstheorie Hesses, erledigt worden 71. Es fand also keine eigentliche Auseinandersetzung mit der Vereinbarkeitsproblematik statt. Sie mag dahintergestanden haben, findet aber keine ausdrückliche Erwähnung und eingehende Klärung. Typisch ist dafür die häufig anzutreffende Formulierung, das Bundesstaatsprinzip bilde eine Ergänzung und Verstärkung des Demokratieprinzips 72. Dies wird gefolgert aus der Vervielfachung der demokratischen Ebenen 73, der größeren Nähe der gliedstaatlichen Ebene zum Bürger 74, der minderheitenschützenden Wirkung des Bundesstaates 75, dem Einbau der Opposition in die Staatsleitung und der Verstärkung des Prinzips alternativer politischer Führung 76 sowie der 69
Eingeführt von Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung, 1976. Vgl. z. B. Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 89 ff.; König, StWStPr 8 (1997), S. 135 ff.; Lhotta, Föderalismus und Demokratie, S. 83 ff.; Schultze, StWStPr 4 (1993), S. 225 ff. 71 Z. B. Kimminich, HbStR I, § 26, Rn. 47. 72 Statt vieler Stern, Staatsrecht I, § 19 II. 1.; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 56; Vogel, HbVerfR, § 22, Rn. 15; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 224. 73 Z. B. Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 272; Rennert, Der Staat 1993, S. 269 (274). 74 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 224; Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 11; Müller-Brandeck-Bouquet, DV 29 (1996), S. 143; Degenhart, ZfA 1993, S. 409 (410); Vogel, HbVerfR, § 22, Rn. 15; Rennert, Der Staat 1993, S. 274; Kölble, ZRP 1968, S. 8 f; Scupin, Verfassungswandel im föderativen Bereich des Grundgesetzes, S. 261 ff.; Messmer, Föderalismus und Demokratie, passim. 75 Vogel, HbVerfR, § 22, Rn. 15; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 225; Liebrecht, DVBl. 1969, S. 97. 76 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 273; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 226. 70
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
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bundesstaatlichen Aufteilung der Parteienstrukturen 77. Diese Argumente werden üblicherweise auch als Rechtfertigungen des Bundesstaates präsentiert 78. Nachdem soeben die Lehren Hesses und Böckenfördes dargestellt wurden, ist erkennbar, daß die Annahme einer Vereinbarkeit im Sinne einer Ergänzung im wesentlichen auf dem Modell Hesses beruht. Dies zeigt abermals, wie prägend seine Schrift ist. Gleichzeitig zeigt es, daß die Erörterung der Vereinbarkeit ein vergessenes, aber in der Theorie nicht endgültig bewältigtes theoretisches Problem ist.
B. Vereinzelte Lehren vom demokratischen Bundesstaat Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß häufig Darstellungen anzutreffen sind, welche die Vereinbarkeit von Bundesstaatlichkeit und Demokratie im Sinne einer Ergänzung deuten. Neben dieser Vielzahl von Deutungsversuchen gibt es nur eine verschwindend geringe Anzahl von Autoren, die den Versuch unternommen haben, ein Modell vom demokratischen Bundesstaat und damit von der Verschmelzung beider Prinzipien zu entwickeln. I. Wieland Hempel: Der demokratische Bundesstaat Diese Schrift aus dem Jahre 1969 hat die Frage zum Gegenstand, inwieweit Zuständigkeitsvereinbarungen der Länder untereinander und mit dem Bund verfassungsrechtlich zulässig sind. Dazu trägt der Autor sein Bild einer Theorie vom Staatenstaat und vom demokratischen Bundesstaat vor. Der Verfasser hält die „herrschende Lehre“, welche den Bundesstaat „als einen aus Staaten zusammengesetzten Staat“ 79 definiere, für unzutreffend. Nach seiner Meinung beruhen die Länder der Bundesrepublik Deutschland nicht „auf jeweils selbständigen verfassungsgebenden Gewalten der Landesvölker“. Sie leiteten vielmehr „ihren verfassungsrechtlichen Status ausschließlich von der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes“ 80 ab. Diese einheitliche Legitimation sowohl des Bundes als auch der Länder ist es, welche den demokratischen Bundesstaat für ihn ausmacht. Dieser grenzt sich insbesondere vom „bündischen Bundesstaat“ ab, in dem das einheitlich geltende Verfassungsgesetz nur Schranke, nicht aber Grundlage der regionalen Institutionen und ihrer Ordnungen sei. Im einheitlich autorisierten demokratischen Bundesstaat hingegen sei den Ländern ihr öffentliches Amt ausschließlich von der einen verfassungsgebenden 77 78 79 80
Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 227; Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 275. s.u. 4. Kap., E. I. 2., 3. Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 41. Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 239.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Gewalt des Gesamtvolkes anvertraut 81. Daher haben die Länder nicht nur teil an der Regierungsfunktion, sondern auch an der Souveränität des Gesamtstaates 82. Die einheitliche Autorisierung von Bund und Ländern habe zur Folge, daß die funktionale Einheit des Gesamtstaates von seiten der regionalen Differenzierung der Gesellschaft keine Einschränkungen erfahre. Diese „einheitliche Autorisierung der Bundesrepublik Deutschland“ lasse insbesondere „keinen Raum für unveräußerliche Rechte“ der Landesvölker. Die Gesamtstaatsverfassung habe sich vielmehr für ein Zuordnungsrecht zwischen dem Bund und den Ländern entschieden, das die Rechtsbeziehungen zwischen dem Bund und den Ländern regele 83. Andererseits erkennt Hempel einen von der Bundespolitik institutionell unabhängigen Bereich eigener politischer Willensbildung in den Ländern an. Daher kennzeichneten sich die Länder als selbständige politische Entscheidungszentren 84. Demgemäß sei der demokratische Bundesstaat ein Staat, dessen politische Leitungsgewalt regional und funktional gegliedert sei und dessen Ämterwesen einheitlich vom gesamten deutschen Volk autorisiert werde. Die regionale Gliederung besage, daß die Länder im eigenen Verfassungsrechtskreis an der Regierungsfunktion und der Souveränität des Gesamtstaates teilhaben. Funktionale Gliederung bedeute, daß sie innerhalb der Bundesinstitution durch den Bundesrat bei der vom Bund ausgeübten Leitungsgewalt mitwirkten 85. Hempels Konzept ist in zwei Richtungen abzugrenzen: zum unitarischen Bundesstaat Hesses sowie zum Konzept des kooperativen Föderalismus. Bei Hesse haben die Länder neben der vertikalen Gewaltenteilung eine bloße Mitwirkungsfunktion, was dann bei Böckenförde zum Beteiligungsföderalismus weiterentwickelt wurde. In Hempels Worten ist darin also lediglich eine funktionale Gliederung zu sehen. Hempel aber schreibt dem Bundesstaat noch die regionale Gliederung zu, wenngleich sie auch rechtfertigungsbedürftig sei. Durch diese regionale Gliederung ist sein Modell auch vom kooperativen Föderalismus abzugrenzen, das die Selbständigkeit der regionalen Entscheidungszentren grundsätzlich in Frage stellt 86. Hempels Deutung der Länder geht aber auch insoweit über Hesse hinaus, als er den Ländern nicht bloß eine exekutivische Beteiligung an der Bundeswillensbildung zugesteht. Vielmehr anerkennt er einen selbständigen Prozeß politischer Willensbildung in den Ländern. Nicht die Beteiligung der Lan81
Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 239 f. Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 209. 83 Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 240. 84 Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 208. 85 Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 240, 300. 86 Vgl. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 2 ff., 315 f.; Hesse der unitarische Bundesstaat, S. 12 ff; ders., Verfassungsrecht, Rn. 87 ff. 82
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
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desexekutiven an der Willensbildung des Bundes rechtfertige die Länder, deren Mitwirkung an der Gesetzgebung und den Zwang zur Verständigung, sondern eine selbständige politische Leitungsfunktion in den Ländern. Damit liefert er für den hiesigen Untersuchungsgegenstand eine Deutung für die Konflikte bei der gemeinschaftlichen Gesetzgebung von Bund und Ländern, nämlich die Rechtfertigung des Einigungszwanges und damit auch möglicher Reibungsverluste aus der selbständigen Funktion der Länder, die in eigener politischer Leitungsgewalt zu sehen ist. Zu behandeln sind damit auch der Hintergrund, die Ursache und die Methoden der Kompromißbildung im demokratischen Bundesstaat. Kritisch anzumerken bleibt, daß Hempel mit seiner Definition des einheitlich legitimierten demokratischen Bundesstaates bloß die herrschende Auffassung zur (einheitlichen) Konstituierung des Grundgesetzes aufgreift. Danach ist das Grundgesetz einheitlich vom ganzen deutschen Volk und nicht etwa den Ländern oder Landesvölkern legitimiert. Auf diese Weise bringt Hempel auch Demokratie und Bundesstaatlichkeit miteinander in Einklang. Doch noch mehr: Auch die Zulässigkeit von Zuständigkeitsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern, den eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchung, begründet er ebenfalls mit der einheitlichen Legitimierung durch das deutsche Gesamtvolk. Dieser Umstand erweist sich daher als Universalmittel zur Erklärung verschiedener Erscheinungen im Bundesstaat. Auch wenn die Zuständigkeitsvereinbarungen hier nicht zu behandeln sind, erscheint es doch zweifelhaft, ob die einheitliche Legitimation – zumal diese nicht unumstritten ist – diese so einfach als zulässig erscheinen lassen können 87. Durch die ausdrückliche Anerkennung politischer Leitungsgewalt ist Hempel auf der Skala der Bundesstaatskonzepte zwischen zentrifugal und zentripetal im Vergleich zum unitarischen und kooperativen Bundesstaat weniger unitaristisch. Durch seine Vorstellung von der einheitlichen Legitimation des Gesamtstaates bleibt er im Ergebnis ein Vertreter des Einheitsgedankens und damit einer unitarischen Lehre. Dies bestätigt auch ein Vergleich mit dem bestehenden Schrifttum. Hempels Lehre ist im Ergebnis mit einer von ihm nicht behandelten Theorie, mit derjenigen Giacomettis 88 und der späteren Bleckmanns 89, identisch. Nach Giacometti ist ein Bundesstaat nichts anderes als ein besonders durch autonome „regionale“ Gebietskörperschaften, welche im Bund mitwirken, gekennzeichneter Einheitsstaat. Wie Hempel gründet auch Bleckmann seine Argumentation auf der einheitlichen Verfassungsgebung durch das deutsche (Bundes-)Volk. Daher liege, in ausdrücklicher Anlehnung an Bodin, die innere Souveränität beim Bund. Folge sei, daß es sich bei dem so begründeten Bundesstaat „letztlich [um] einen Einheitsstaat“ 90 handele. 87 88 89 90
Zweifelnd ebenfalls Schäfer, DVBl. 1973, S. 286 (287). Vgl. Usteri, Der Staat 1973, S. 269 (271). Bleckmann, Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips, S. 173 ff. Bleckmann, Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips, S. 173.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
II. Alexander Hanebeck: Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes Erst jüngst ist mit dieser Schrift ein Versuch unternommen worden, ein Modell vom demokratischen Bundesstaat zu entwerfen. Der Verfasser kritisiert die Beschreibung des Bundesstaates mittels der Begriffe Staat(-lichkeit) und Souveränität als Zentralbegriffe der herrschenden Bundesstaatslehren. Er geht noch darüber hinaus, indem er für seine Theorie gänzlich auf diese Begriffe verzichtet. Der Bundesstaat des Grundgesetzes sei ausschließlich aus den geschriebenen Verfassungsnormen zu deuten. Die Begriffe der Souveränität und Staat(-lichkeit) seien aus der Staatslehre und der allgemeinen Bundesstaatslehre in das Grundgesetz importiert worden 91. Bei diesen Begriffen handele es sich um ein unbrauchbares Instrumentarium, weil mit ihm Einheitsvorstellungen transportiert würden, welche nur schwer mit einer bundesstaatlichen Organisation zu vereinbaren seien 92. Die Kategorie der Souveränität bringe die Vorstellung von einem Souverän und damit von einer einheitlichen Entscheidungsinstanz mit sich. Daher sei es schwer, eine gegliederte Staatsorganisation zu denken 93. Der Begriff Staat setze die Einheit des Staates entweder voraus oder sehe diese als Aufgabe an 94. Konstruktion und Konzeption des demokratischen Bundesstaates sei vielmehr von der Analyse des Ursprungs demokratischer Legitimation her zu erklären 95. Der demokratische Bundesstaat fungiere als ein Kürzel für die Analyse des Bundesstaates aus dem Blickwinkel des Verhältnisses der Subjekte demokratischer Legitimation, der Landesvölker und des Bundesvolkes. Grundlage des demokratischen Bundesstaates sei die Eigenständigkeit demokratischer Legitimation durch 17 Legitimationssubjekte – das Bundesvolk und 16 Landesvölker 96. Diese 17 Zentren demokratischer Legitimation seien Grundlage des pluralen grundgesetzlichen Bundesstaates. Ein Souverän oder ein grundsätzliches Verhältnis der Über- oder Unterordnung existiere nicht. Dies zeige sich in der Gleichberechtigung von Bundestag und Bundesrat, welche sich nicht gegenseitig überstimmen können 97. Die Entscheidungen des Bundesvolkes allein sowie die eines Landesvolkes seien selbständig demokratisch legitimiert, die Entscheidungen im Zusammenwirken der Legitimationssubjekte seien kooperativ legitimiert. Mit Hanebeck ist – abgesehen von Hempel – erstmals der Versuch unternommen worden, ein Konzept vom demokratischen Bundesstaat zu entwerfen und 91 92 93 94 95 96 97
Hanebeck, Hanebeck, Hanebeck, Hanebeck, Hanebeck, Hanebeck, Hanebeck,
Der Der Der Der Der Der Der
demokratische demokratische demokratische demokratische demokratische demokratische demokratische
Bundesstaat, Bundesstaat, Bundesstaat, Bundesstaat, Bundesstaat, Bundesstaat, Bundesstaat,
S. 51 ff. S. 60. S. 61. S. 62. S. 27, 357. S. 257. S. 199, 205.
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
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nicht nur Demokratie und Föderalismus miteinander in Einklang zu bringen. Überzeugend entwickelt er aus den Normen des Grundgesetzes ein ausgewogenes Modell, das das Grundgesetz als eine zwischen Bund und Ländern ausgewogene Verfassung beschreibt. Der demokratische Bundesstaat Hanebecks wird weder vom Oberstaat aus gedeutet, noch von den Gliedstaaten her. Daß die Verfassungswirklichkeit anders aussieht, nämlich eine Dominanz des Bundes und einen Gewichtsverlust der Landesparlamente beinhaltet, ist eine andere Frage. Hanebeck deutet den Bundesstaat aus sich heraus und füllt ihn nicht mit zusätzlichem Gehalt auf. Er betrachtet ihn als Bestandteil des Grundgesetzes und nicht als nun einmal vorhandenes Prinzip, das es zu rechtfertigen gilt. Die Lehre Hanebecks reiht sich in Modelle ein, die sich zunehmend kritisch mit den bestehenden Kategorien der Beschreibung und Erfassung des Bundesstaates beschäftigen. Seit der Wiedervereinigung ist eine Tendenz in der Literatur zum Bundesstaat feststellbar, die die Begriffe Staat(-lichkeit), Souveränität und Einheitsgedanken für ungeeignet halten, um mit ihnen den Bundesstaat zu beschreiben. Zu nennen sind hier die Monographien von Bauer 98, Sarcevic 99, Korioth 100 und Heitsch 101. Die Reichweite der Konzepte geht dabei von Kritik dieser Kategorien über bloße erklärende Heranziehung bis zur gänzlichen Ablehnung 102. Gemein ist diesen Autoren weiterhin eine stärkere Normativität ihrer Konzepte. Allein am Text des Verfassungsrechts solle sich eine Bundesstaatstheorie orientieren. Diesen Weg geht auch Hanebeck. Dabei löst er freilich den deutschen Bundesstaat gänzlich von seiner historischen Folie ab und schneidet auch seine Ursprünge im Tatsächlichen ab. Die Frage „Warum Bundesstaat?“, deren Antwort den Geltungsgrund des Bundesstaates bildet, bleibt unbeantwortet. Er geht ferner über die Modelle der genannten Autoren hinaus, indem er das bestehende Begriffsinstrumentarium nicht nur kritisiert, sondern gänzlich über Bord wirft. Daher ist Hanebeck trotz seiner inhaltlichen Ausgewogenheit doch methodisch extrem, indem er auf die Begriffe gänzlich verzichtet. Damit setzt er sich dem Vorwurf aus, es sich einfach zu machen. Außerdem ist die Kritik an den Begriffen freilich so neu auch nicht. Sie wurde nur anscheinend lange nicht aufgegriffen. Schon v. Gierke und Preuß wiesen darauf hin, daß diese Begriffe Schwierigkeiten bereiten: Wolle die Lehre den traditionellen Begriff der staatlichen Einheit nicht preisgeben, so bleibe „für eine Zwischenbildung zwischen dem völkerrechtlichen Staatenbund und dem in Selbstverwaltungskörper gegliederten Einheitsstaat“ kein Raum 103. Es zeigt sich damit abermals, daß 98
Bauer, Die Bundestreue, 1992. Sarcevic, Das Bundesstaatsprinzip, 2000. 100 Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997. 101 Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, 2001. 102 Teile der Literatur verzichten mittlerweile auf den Begriff der Souveränität: Siehe dazu unten 4. Kap., D. I. 99
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
die Entwicklung der Bundesstaatslehren nur sehr langsam vorankommt. Wie sich aus den Lehren Schmitts und Grewes ergab, sind die Parteien eine nicht zu vernachlässigende Größe im „Parteienbundesstaat“ 104. Daher müssen sie in einer Lehre vom demokratischen Bundesstaat einen Platz zugewiesen bekommen. Leider bleiben sie bei Hanebeck unbeachtet. Auch die Verfassungsgeschichte, in der sich die Entwicklung zum demokratischen Bundesstaat nachweisen läßt (s. o.), bleibt leider unberührt. Gleichwohl zeigt die Auseinandersetzung mit diesem Modell, daß eine Theorie des demokratischen Bundesstaates sich mit den Instituten Staat, Souveränität und Einheit auseinanderzusetzen hat.
C. Interpretation der herrschenden Lehren: Deutung des Bundesstaates von der Einheit her als Ursache von Theorieproblemen Das letztlich hinter der Vereinbarkeitsdiskussion stehende Problem ist die angebliche Durchbrechung der gesamtstaatlichen demokratischen Legitimation durch eine „außerhalb“ stehende Größe, d. h. durch die Gliedstaaten. Das betrifft – präkonstitutionell – die Legitimation der Verfassungsgebung oder – konstitutionell – die Legitimation der durch die Verfassung geregelten staatlichen Entscheidungen. Wie kommt es zu dieser Annahme der Unvereinbarkeit? Wenn die demokratische Legitimation von einigen Autoren als unterlaufen angesehen wird, ist deren Demokratieverständnis zu ermitteln. Für sie stellt der Volkskörper eine homogene und mithin unteilbare Masse dar. Ihr Wille darf nicht durchbrochen oder von nicht dem Volk zugehörigen Dritten ergänzt werden. Für sie kann die Legitimation der Verfassung und auch der jeweiligen staatlichen Entscheidungen allein auf dem Willen des einen und einheitlichen Volkes beruhen. Dann erweist sich freilich konsequenterweise eine weitere Legitimationsquelle, namentlich die föderale, als störend oder nicht passend, indem sie die Legitimation der einheitsstaatlichen Legitimationsquelle aufweicht. Daß auch eine Legitimation – sei es der Verfassung, sei es später dann der staatlichen Entscheidungen – auf eine weitere, anders organisierte Quelle zurückzuführen sein kann, kommt für diese Lehre nicht in Betracht. Diese Sichtweise der Volksherrschaft verkörpert ein monistisches Demokratieverständnis. Es geht letztlich auf die radikale Demokratietheorie Rousseaus zurück.
103 v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, S. 1097 ff.; ähnlich Haenel, Bemerkungen zu Calhoun, S. 63 f.; ebenso Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 118, 252 ff. 104 Der Begriff stammt aus der Weimarer Republik: Er geht zurück auf Carl Bilfinger, DJZ 1932, Sp. 1017 (1018).
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
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In Rousseaus Theorie wird die Volkssouveränität absolut gesetzt 105. Rousseaus Konzept staatlichen Rechts ist radikal demokratisch, insofern die Quelle aller verbindlichen Autorität unveräußerbar, undelegierbar, unteilbar beim Volk als Ganzem liegt 106. Die Souveränität des Volkes ist Rousseau zufolge „prinzipiell unbeschränkt und unbeschränkbar – sie kann nicht durch Verfassungen, Grundrechte, korporative Freiheiten von Gruppen beschränkt werden“ 107. Hinsichtlich der Volkssouveränität besteht eine Ähnlichkeit zu Sièyes. Sein Begriff der Volkssouveränität steht für die Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit der dem Volk zustehenden Staatsgewalt. Deshalb lehnte er auch ein Zweikammersystem ab. Das Volk ist Grund aller staatlichen Gewalt. Diese ist legitim und legal nur insoweit, als sie die Herrschaft des Volkes realisiert 108. Es ist diese umfassende Stellung des Volkes in den Staatslehren Rousseaus und Sièyes, welche schlagwortartig seit Schmitt zum Begriff der Selbstherrschaft verkürzt wird 109. Dieses Demokratieverständnis entstammt ursprünglich dem Konzept des französischen Einheits- und Nationalstaates. Danach ist Demokratie die souveräne Herrschaftsmacht der einheitlichen und unteilbaren Nation 110. In der so verstandenen Demokratie konnte es nur ein oberstes Organ des Gesamtwillens geben. Woher kommt nun aber die Idee des einheitlichen und unteilbaren Volks (-willens)? Die Idee eines letzten unteilbaren Willens, einer obersten Entscheidungseinheit, eines machtvollen Willens, eines höchsten Organs ist älter als das Konzept Rousseaus 111. Es ist die Idee des zentralistischen Absolutismus. Den Weg vom Absolutismus zur Demokratie beschritten die französische Revolution und Rousseau, indem sie den absoluten Monarchen durch die Demokratie ersetzten. Sie tasteten den Einheitsstaat nicht an, sondern wechselten nur die Herrschaftsform. Den Weg dazu hatte Rousseau bereitet, als er den Hobbes’schen Zentralismus für sein Leitbild der Demokratie übernahm 112. Nachdem Frankreich den deutschen Fürsten im Absolutismus als Vorbild diente, blieb dies auch so im Zeitalter des Konstitutionalismus, freilich unter liberal-konstitutionellem Vorzeichen. Denn in Deutschland kam der Gegenspieler dieser Theorie, das liberal-repräsentative Demokratieverständnis, wie es von 105
Schmidt, Demokratietheorien, S. 106. Forschner, Rousseau, Sp. 946 (947). 107 Maier, Rousseau, S. 104 (129). 108 Vgl. die Darstellung bei Wegge, Demokratieprinzip, S. 94. 109 Wegge, Demokratieprinzip, S. 102. 110 Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 374; Band 1, S. 8 ff. 111 Deshalb darf die Interpretation nicht an dieser Stelle stehen bleiben (so aber Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 280; Heger, Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat, S. 89.), auch wenn freilich im Grundgesetz nur die Deutung der Demokratie in Rede steht. 112 Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 125; vgl. a. Jellinek, Staatslehre, S. 605, 617. 106
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
den Autoren der Federalist Papers entworfen wurde 113, zur Geltung. Dort aber gründet die Demokratie nicht wie bei Rousseau im Gesellschaftsvertrag, sondern wird in einer Verfassung verankert. Diese setzten die Fürsten zur Beibehaltung ihres Einflusses ein. Daher wird im Gegensatz zu Frankreich in Deutschland von einer „Revolution von oben“ gesprochen. Unverändert blieb dabei die zentralistische einheitliche Ausrichtung des Staates und das Festhalten an einem einzigen unteilbaren Willen, diesmal in Gestalt des Repräsentativorgans Parlament. Aber auch hier entsteht ein logisches Problem, wenn man erstens unter Einfluß Rousseaus das Parlament als ein Organ mit dem höchsten, unteilbaren souveränen Willen, weil auf dem absoluten, unteilbaren Volkswillen beruhend, ansieht, in einem Bundesstaat aber ein zweiter Strang der Willensbildung besteht. Gleiches gilt zweitens, wenn man Repräsentation als Wiedergabe eines bereits bestehenden, vorgefundenen allgemeinen Volkswillens versteht. Ist somit die repräsentative Organisation schuld an Spannungen zwischen Föderalismus und Demokratie 114? Ist daher das „post-parlamentarische“ und „post-nationale“ Zeitalter erreicht, in dem die Repräsentation „nicht mehr hinreicht“ und durch direktdemokratische Elemente ersetzt werden muß 115? Es bestätigt sich, daß unter Zuhilfenahme der Unvereinbarkeitsdiskussion neben dem Demokratie- auch das Parlamentsverständnis und der Repräsentationsbegriff des demokratischen Bundesstaates sowie sein Verhältnis zur Souveränität zu ermitteln ist. Dies gilt auch angesichts der Mißverständnisse, zu denen man wie Kaufmann und Lehmbruch 116 gelangt, die den deutschen demokratischen Bundesstaat mit dem rein parlamentarischen Modell Großbritanniens und dessen Mehrheitsdemokratie in einem Einheitsstaat vergleichen. Es gilt für Wissenschaft und Praxis, daß es zu Mißverständnissen kommen muß, wenn man die Theorien und Modelle anderer Verfassungsräume, zumal wenn es sich dabei um reine Lehren handelt, auf die eigene Verfassung überträgt. So kommt es in der Lehre zu Bezeichnungen des Bundesrates, wie „Bundesoppositionsrat“ 117 oder etwa „Neinsagemaschine“ 118. Die Politik bezeichnet ihn als „Gegenregierung“ 119. Dies verkennt die Konstruktion des Grundgesetzes als eben nicht nur rein parlamentarische, sondern auch als bundesstaatliche Demokratie. Dies gilt auch für die Sichtweise, die (demokratische) Wahlentscheidung werde durch die Entwertung des Mehrheitsprinzips infolge der (bundesstaatlichen) Beteiligung des Bundesrates beeinträchtigt 120. 113
Speth, Rousseau, S. 114 (124). So anscheinend Lhotta, Föderalismus und Demokratie, S. 35 ff. (47 f.). 115 In diesem Sinne Lhotta, Föderalismus und Demokratie, S. 35 ff. (48, 54). 116 Zu dessen Lehre aus der Politikwissenschaft s. u. 6. Kap., B. II. 2. a). 117 Battis / Gusy, Staatsrecht, Rn. 174 m.w. N. 118 Fromme, Die beiden Kammern, S. 381. 119 So der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt vor dem Bundesrat, Sten. Bericht, 407. Sitzung, S. 235; s. a. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 68. 114
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
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Das Problem der Demokratie und des Parlamentarismus in Deutschland und deren Verbindung mit dem Bundesstaat besteht also darin, daß die Vorstellungen von diesen Prinzipien von außen, d. h. von Frankreich und Großbritannien, nach Deutschland und in das Grundgesetz hineingetragen wurden sowie an eigenen, aber aus anderen Zeiten, nämlich vordemokratischen, stammenden Lehren festgehalten wird. In anderen Verfassungsräumen geht man jedoch aufgrund historischer und landesspezifisch eigener Entwicklungen von anderen Vorstellungen aus. Die historische und damit die verfassungsgeschichtliche Entwicklung haben in Deutschland aber einen eigenen Verlauf genommen. Andere Länder waren zwar Vorbild für die deutsche Verfassungsentwicklung 121: Frankreich als Begründer der Volkssouveränität und des modernen Staates, England, Mutterland des Parlamentarismus. Aber auch die USA, welche die Paulskirchenverfassung beeinflußten. Es ist nicht statthaft, die reinen Lehren anderer Länder zu übernehmen oder an eigenen Lehren aus vergangenen – monarchischen – Zeiten festzuhalten, denn dadurch kommt es offensichtlich zu Inkompatibilitäten, die in der Verfassungspraxis offenbar keine Rolle spielten, wie Schmitt selbst feststellte („Vereinbarkeit ipso facto“). Damit ergibt sich eine erste Bestätigung der Annahme, daß Demokratie und Bundesstaat stets nur im Zusammenhang, also als demokratischer Bundesstaat, zu deuten sind. Ein weiteres ergibt sich aus der Unvereinbarkeitsdiskussion. Aus den herrschenden Lehren in Verfassungstheorie und Staatsrecht läßt sich deren Grundtendenz zu unitarischer Ausrichtung feststellen. Diesen Nachweis hat Oeter überzeugend geführt 122. Dies ergibt sich zunächst aus den Auffassungen zur Entstehung von Verfassungen. Nach Hesse, Böckenförde und Hempel sind das Grundgesetz sowie die Weimarer Reichsverfassung bei Schmitt allein durch das Bundesvolk legitimiert. Pouvoir constituant ist danach also allein das Bundesvolk. Dies entspricht auch der herrschenden Meinung 123. Für das Verhältnis von Föderalismus und Demokratie werden jedoch unterschiedliche Schlüsse aus demselben Umstand gezogen: Während Schmitt folgert, die beiden Prinzipen seien unvereinbar, weil die einheitliche Legitimation über die gliedstaatliche Diversität hinweggehe, schließen die anderen Autoren auf die Vereinbarkeit, weil die Entscheidung für beide Prinzipien aus einer Hand, von einer einheitlichen verfassungsgebenden Gewalt komme. Die Gemeinsamkeit wiederum liegt in der Tendenz: Da sie an der einheitlichen Legitimierung festhalten, lösen sie das Bundesstaatsprinzip von seinem föderalen Ursprung und reduzieren es auf ein reines Organisationsprinzip, müssen es aus logischen Gründen sogar. 120 Diekmann, Das Verhältnis des Bundesrates zu Bundestag und Bundesregierung, S. 163 m.w. N. 121 Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (261 ff.). 122 Grundlegend Oeter, Integration und Subsidiarität, passim. Ihm folgend Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 64 ff., 116 ff., 135 f. 123 Nachweise s. u. 4. Kap., B. I. 1.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Das ergibt sich zunächst neben der Lehre von Schmitt aus dem Modell Hesses vom unitarischen Bundesstaat und dem Konzept des Beteiligungsföderalismus bei Böckenförde. Bei Hesse tritt neben dieser ausdrücklichen Loslösung des Bundesstaatsbegriffs von seiner historischen Grundlage das unitarisch-zentralistische Verständnis des Bundesstaates in Charakterisierungen zutage wie, es gehe um „die Wirkungen des bundesstaatlichen Aufbaus für den Gesamtstaat“ 124, um die „Zuordnung der gesamtstaatlichen Kräfte“ 125 oder es sei das Prinzip des Bundesstaates unter dem Grundgesetz, daß es „eine wesentliche Ergänzung der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung“ 126 sei. Das damit neugeschaffene Paradigma von der Bundesstaatlichkeit als einer Variante oder Verstärkung anderer Verfassungsgrundsätze, vor allem der Gewaltenteilung, gab der Bundesstaatsdogmatik eine neue Richtung 127 und hat bis heute seine Wirkung nicht verloren 128, wie die Darstellung der herrschenden Lehre bestätigt. Darin liegt eine Deutung des Bundesstaatsprinzips nur in Richtung auf den Zentralstaat. Es wird auf Zubringer- und Hilfsdienste für Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip reduziert 129. Durch diese unitarische Interpretation entsteht eine „verzerrte Wahrnehmung des Bundesstaates“ 130. Dementsprechend erscheint der Bundesstaat als eine Variante des dezentralisierten Einheitsstaates 131. Denn durch die Ausrichtung am Einheitsstaat werden alle föderativen Züge der Verfassung als Zuweisungen von der nationalen Ebene her gedeutet und nicht als Ergebnis und Fortführung der ehemals bündischen Grundlage 132. Diese Denkweise beruht auf ihrer Orientierung am Nationalstaatsmodell des 19. Jahrhunderts. Sie führt zu einer letztlich am Einheitsstaat orientierten Bundesstaatsidee 133. Demzufolge muß es zu Spannungen kommen: in der Theorie, wenn das föderale Element der Vielheit mit dem demokratischen Element der Einheit zusammentrifft, in der Praxis, wenn 124
Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 31. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32. 126 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32. 127 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 258. 128 Ebenso Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 32; die Bedeutung und Rechtfertigung des Bundesstaatsprinzips für die und aus der Gewaltenteilung bei Bauer, in: Dreier, GG, Art. 20 (Bundesstaat), Rn. 17; Degenhart, Staatsrecht, Rn. 467; v. Münch, Staatsrecht I, Rn. 514; Schenke, JuS 1989, S. 698 ff.; Schodder, Föderative Gewaltenteilung, passim; Stein / Frank, Staatsrecht, S. 111; Vedder, Intraföderale Staatsverträge, S. 34 f.; krit. bereits Scheuner, DÖV 1962, S. 641; Lerche, VVDStRL 21 (1964), S. 78 ff. 129 Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (260). 130 Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (94). 131 Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (94); Beaud, R.D.P. 114 (1998), S. 83 (93 f.); ders., La notion de pacte fédérativ, S. 197 (253). 132 Ähnlich Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (95) m.w. N. zu dieser Denkrichtung. 133 Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (97). 125
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
81
Handlungen und Willensäußerungen der Glieder auf die des Bundes treffen und als Störungen wahrgenommen werden. Auch die Lehren zum Beteiligungsföderalismus im kooperativen Bundesstaat beinhalten nicht nur eine unitarische Deutung des Bundesstaates; sie leisten damit auch einer weiteren Unitarisierung Vorschub 134. Denn sie erteilen der in den sechziger bis siebziger Jahren begonnenen Verfassungspraxis, die zu Recht als Politikverflechtung bezeichnet wurde, und den in dieser Zeit durchgeführten Verfassungsänderungen eine Generalabsolution. Dies betrifft auch die Methode Hesses, der bloß die Wirklichkeit beschreibt. Indem er diese Lehren mit theoretischem Sinngehalt auffüllt und die beschriebene Wirklichkeit als Theorie ausgibt, besteht die Möglichkeit, diesen Weg ohne schlechtes Gewissen weitergehen zu können: Gefordert und legitimiert sei der Trend zur Zentralisierung und zur Unitarisierung durch die „Funktionsbedingungen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft“ sowie „von der sozialstaatlich induzierten Erwartung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse [...] und der unitarischen Wirkung bundeseinheitlich gewährleisteter, unmittelbar geltender Grundrechte“ 135. Damit ist ein weiterer zentraler Begriff für das Bundesstaatsverständnis genannt, der die Konzentration auf die gesamtstaatliche Ebene zum Ausdruck bringt: die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“. Es ist also in den bestehenden Konzepten zu Demokratie und Bundesstaat eine eindeutige Tendenz erkennbar, nach der sich die verfassungsgebende Gewalt aus dem gesamten, sich als Einheit darstellenden Volk ergibt. Die Legitimation des demokratischen Bundesstaates, wie ihn das Grundgesetz beschreibt, wird folglich der Bundes-, nicht der Länderebene zugeordnet. Darin liegt ein unitaristisch-zentralistisches Verfassungsverständnis hinsichtlich der Legitimation der deutschen Verfassung. Aus diesem Befund läßt sich eine Prägung der deutschen Staatsrechtslehre und Verfassungstheorie durch die französische und damit einheitsstaatliche, aber auch die eigene monarchische und nationalstaatliche Tradition feststellen 136. Gleichzeitig – dies ergibt sich aus der Analyse Kaufmanns – ist ein Rest der Staatsrechtslehre zu finden, der die Betonung auf die staatliche, nationale Einheit gelegt hat. Dies war sicher aus damaliger Sicht verständlich und entsprach der Stimmungslage, da Deutschland eine verspätete Nation war. Allerdings ist die nationale Einheit längst erreicht. Zudem wurde sie eben auch als Bundesstaat 134 Wie hier: Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 464; J.J. Hesse (Hrsg.), Politikverflechtung im föderativen Staat; Scharpf, Der Bundesrat und die Kooperation auf der „Dritten Ebene“, S. 59 ff; Schultze, StWStPr 4 (1993), S. 225 ff. 135 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und Demokratie, S. 182 (187). 136 Vgl. Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, S. 15 ff.; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 125; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 142; Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (97).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
herbeigeführt. Weiterhin galt die Lehre von der Unvereinbarkeit als politisches Mittel gegen die Parlamentarisierung und damit Demokratisierung. Theoretische Relikte dessen können daher in einer demokratischen Republik keinen Nutzen mehr haben, vielmehr führen sie zu Mißverständnissen. Eine Konzentration auf Kooperation und Einheitlichkeit ist auch deshalb einseitig, weil allein auf die Verfahren der bundesstaatlichen Integration abgestellt wird, nicht auf die mit dem bundesstaatlichen Aufbau verfassungsrechtlich institutionalisierte Pluralität der Leitungsgewalt. Geleistet wird damit im wesentlichen eine Beschreibung bestimmter Phänomene, aber nicht deren Rechtfertigung 137. Die beiden Konzeptionen des unitarischen und kooperativen Bundesstaates und die ihnen zugrunde liegenden Diagnosen sind dennoch nach wie vor bestimmend für das Verständnis des Bundesstaates in Deutschland. Dies schlägt sich auch in der Finanzordnung nieder 138. Daran ändern auch die oben dargestellten Konzepte 139 nichts, die nach der Wiedervereinigung entwickelt wurden. Keiner dieser Ansätze hat eine vergleichbare Wirkung oder Zustimmung erreicht: Nach wie vor wird im wesentlichen auf die Vorstellungen vom unitarischen oder kooperativen Bundesstaat zurückgegriffen, wenn die bundesstaatliche Ordnung erläutert wird 140. Die Staatsrechtslehre ist über Hesses Anfang der sechziger Jahre konstruierten unitarischen Bundesstaat nicht hinausgelangt 141. Die bereits angedeutete Einseitigkeit dieser Konzepte und die darin liegende Abwertung des Bundesstaates zum Hilfsprinzip sind nach wie vor prägend.
D. Ergebnis und Problemstellung: Der demokratische Bundesstaat und seine Strukturprobleme Das Kapitel sollte aufzeigen, wie der Zusammenhang von Demokratie und Bundesstaatsprinzip gesehen werden kann und welche Fragen sich aus den bestehenden Konzepten ergeben, die eine Theorie vom demokratischen Bundesstaat 137
Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 336. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, S. 131 f.; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 34 f. 139 Bauer, Sarcevic, Korioth und Heitsch. 140 So die Darstellungen in Lehrbüchern: Bleckmann, Staatsrecht I, Rn. 1452 ff., 1490 ff.; Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 107; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 223 ff.; Maurer, Staatsrecht, § 10, Rn. 55 ff., 73 ff.; v. Münch, Staatsrecht I, Rn. 598 ff. Aus der Kommentarliteratur: Bauer, in: Dreier, GG, Art. 20 (Bundesstaat), Rn. 18; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, IV, Rn. 91; Sachs, in: ders., GG, Art., 20, Rn. 57 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 20, Rn. 31 und 44 f.; vgl. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 35. 141 Lhotta, Der Staat 1997, S. 189 (199); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 255; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 35. 138
3. Kap.: Die Bundesstaatstheorien
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dann beantworten muß. Überwiegend werden diese Prinzipien gegenübergestellt und es wird versucht, sie in Einklang miteinander zu bringen. Sofern eine Vereinbarkeit bejaht wird, was ebenfalls überwiegend der Fall ist, bleibt es aber bei einer bloßen Gegenüberstellung, aus der eine Vereinbarkeit gefolgert wird. Nur zweimal wird der Versuch unternommen, ein Modell vom demokratischen Bundesstaat zu entwerfen. Aus der Betrachtung dieser Theorien ergaben sich mehrere Einzelfragen: An erster Stelle steht das „richtige“ Verständnis von Bundesstaat und Demokratie. Denn bei einer bestimmten Deutung der Demokratie – so die obige Analyse – ist ein demokratischer Bundesstaat nicht denkbar. Es gibt aber nicht bloß eine Lesart der Demokratie, wie die eingangs vorgenommene Darstellung ergeben hat. Die soeben angestellte Analyse hat ergeben, daß die überwiegende Anzahl von Autoren eine Vereinbarkeit beider Prinzipien bejaht, aber die Demokratie auf nur ein Volk gründet und den Bundesstaat auf ein reines Organisationsprinzip in einer einheitlich legitimierten Verfassung begrenzt, seinen Wert auf Zubringerdienste für den Zentralstaat reduziert. Ein eigenes Zentrum politischer Willensbildung und demokratischer Legitimation lehnen die meisten ab. Sofern es bejaht wird, wird darin nur ein Einfluß auf die Willensbildung im Gesamtstaat gesehen. Daher ist zu klären, ob im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes in den Ländern mehr zu sehen ist als eine bloße staatsorganisatorische Gliederung. Um diese Frage zu beantworten, sind zwei Unterpunkte zu klären, die sich ebenfalls aus der Diskussion ergeben haben: Ist das Grundgesetz vom Bundes- oder von den Landesvölkern legitimiert und werden – in dem so konstituierten Staat – die Entscheidungen gleichberechtigt zwischen Bund und Ländern oder nur unter bloßer Beteiligung der Länder getroffen? Weiterhin ist das Parlamentarismus- und Repräsentationsverständnis des Grundgesetzes zu ermitteln. Daneben ergibt sich aus der Theorieübersicht, daß eine neue Bestimmung von „Staat“, „Souveränität“ und „Einheit“ im demokratischen Bundesstaat hilfreich wäre. Muß man sich von diesen Begriffen wirklich vollständig trennen, um den demokratischen Bundesstaat verstehen und konstruieren zu können, wie einige Autoren fordern? Oder erfordert dieser Staat nur eine „richtige“ Auslegung der Begriffe? Weiterhin sind die Parteien von Bedeutung. Hier stellen sich zwei Fragen. Zum einen ihre tatsächliche Rolle im demokratischen Bundesstaat: Sind sie „Sand oder Öl“ 142 im Getriebe? Dazu wird ihnen zum Teil eine einheitsstiftende Wirkung und die Fähigkeit zur Auflösung von Spannungen zwischen Föderalismus und Demokratie zugesprochen, zum Teil sagt man ihnen unitarisierende Wirkung im Bundesstaat und Hemmung des Parlaments nach. Zum anderen stellt sich die rechtliche Frage, ob politisches Verhalten im Bundesrat zulässig 142
Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93 ff.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
ist. Den Parteien ist daher im demokratischen Bundesstaat ein Platz zuzuweisen. Da sich das Handeln der Parteien im Bundesrat als Schnittstelle zwischen Bund und Ländern äußert, ist ihre Rolle anhand der kontrovers diskutierten Frage über die Politisierung des Bundesrates und damit in dem späteren Anschnitt über dieses Organ zu ermitteln. Das beinhaltet die Fragen: Hat der Bundesrat die Eigenschaft als Zweite Kammer, wie sich aus der Analyse Rousseaus und Sièyes ergab, und welche Wirkung haben die Parteien im Bundesrat? Schließlich bleibt eine Frage zu klären: Warum Bundesstaat? So, wie diese Frage sich nicht aus vorstehender theoretischer Diskussion ergibt, ist anzunehmen, daß ihre Antwort sich im Tatsächlichen befindet. Ein Modell, welches zwar das rechtliche Funktionieren der Verfassung erklären kann, nicht aber den tatsächlichen Ursprung und Zweck ihrer Regelungen, wäre unvollständig. Denn erstens würde eine rein abstrakte, theoretische und abgehobene Grundlage des Bundesstaates des notwendigen Rückhalts und Bindung an die Bürger entbehren. Zweitens ergäbe sich ein verfassungspolitisches Handlungsgebot, wenn sich die Verfassungswirklichkeit von Ursprung und Zweck zu sehr entfernt hätte.
4. Kapitel
Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile Eine abstrakte Antinomiedebatte kommt anscheinend zu unmöglichen Ergebnissen, die es tatsächlich nicht gibt und die selbst Gegner einer Vereinbarkeit eingestehen. Diese Autoren stehen daher vor dem Problem, das schon Hugo Preuß im Jahre 1889 beschrieben hat: Nach ihm zeigt sich „die bedenkliche Alternative, entweder die begriffliche Möglichkeit eines solchen Staatswesens zu leugnen und damit gegen die historische und politische Realität zu verstoßen; oder diese Möglichkeit zu bejahen und damit gegen die herrschende Staatsidee in Widerspruch zu geraten“ 1. Wenn nun aber Theorie und Praxis derart auseinanderfallen, dann muß der Fehler in der Theorie zu finden sein. Daher ist es notwendig, das Zusammenwirken von Föderalismus und Demokratie anhand seiner historischen Herkunft und seiner konkreten Verfassung zu erörtern, um zu einer Theorie vom demokratischen Bundesstaat zu gelangen.
1
Preuß, Gemeinde, Staat, Reich, S. 16.
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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A. Die Auslegung des Grundgesetzes als demokratischer Bundesstaat Die Deutung dieser Begriffe und des demokratischen Bundesstaates bedarf eines methodisch korrekten Verfahrens. Es liegt in dem Modell der gemischten Verfassung und ihrer Einheit 2 (dazu I.) und der Auslegung aufgrund Tradition (II.). Anhand dieses Modells kann dann die Auslegung des Grundgesetzes und seiner Strukturprinzipien erfolgen. Die eingangs dargestellte Verfassungsgeschichte zeigt eine Entwicklung zum demokratischen Bundesstaat und damit zur gemischten Verfassung auf. Aus der Verfassungsgeschichte ergeben sich auch erste Anhaltspunkte zur Beantwortung der oben herausgearbeiteten Fragen nach der Deutung von Bundesstaat und Demokratie sowie nach dem Begriffsinstrumentarium des demokratischen Bundesstaates und seiner Rechtfertigung (s. dazu unten B. bis E.). I. Die gemischte Verfassung und ihre Einheit 1. Das Konzept der gemischten Verfassung: Die Mäßigung Die Idee der gemischten Verfassung stammt aus der Antike und geht auf Aristoteles, Diogenes-Laertius, Polybios und Cicero zurück. Im Mittelalter wurde sie von Thomas von Aquin und in der Neuzeit von Calvin aufgegriffen. Sie bezweckte seinerzeit die Kombination einer Verfassung aus Elementen der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie, um damit die Verfassung vor Entartung einer jeweils einzigen Form zu schützen und durch die richtige Mischung die Vorzüge jeder Form zum Ausdruck zu bringen 3. In ihrem Ursprung sah diese Lehre also die Mischung von Staatsformen vor. Dies rührt daher, daß die Staatsformen in der Antike umfassender Ausdruck der staatlichen Konstruktionsprinzipien waren 4. Nachdem diese Lehre in der Neuzeit weitestgehend verdrängt geblieben war, gibt es in der Moderne und der Gegenwart wieder Vertreter dieses Konzepts. So entwirft von Gagern das Modell einer „repräsentativen Verfassung“, welche durch Kombination des monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elements die naturgegebene Ausdehnung der jeweils einzelnen 2 Ebenso Schenke, ParlRParlPr, § 55, Rn. 70; Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. a), § 19 III. 8. e) α); Benda, Demokratie, Sp. 1192 f.; zur Weimarer Reichsverfassung Schmitt, Verfassungslehre, S. 200 ff.; abwartend Schlaich, VVDStRL 39, S. 99 (116), Fn. 56; krit. Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, S. 182 (190), der das GG als gemischte Verfassung sieht, welche eine „strukturformrelativierende Verfassung“ sei; unter dem Interpretationstopos der Einheit der Verfassung Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 274 f., 20, 71; ihm folgend Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 I, Rn. 44. 3 Schmitt, Verfassungslehre, S. 202 f.; Zippelius, Staatslehre, § 20, II. m.N.; vgl. die Zitate der antiken Autoren ebd.; Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. e) α). 4 Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. e) α).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Kräfte zu begrenzen sucht 5. Für Carl Schmitt ist die moderne bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassung immer eine gemischte Verfassung. Sie setzt sich für ihn stets aus zwei Elementen zusammen, aus einem rechtlichen und einem politischen. In der gemischten Verfassung verbindet sich „der in sich selbständige und geschlossene rechtsstaatliche Bestandteil mit politischen Formelementen“ 6. Letztere können die Monarchie und die Demokratie sein, so daß die moderne rechtsstaatliche Verfassung in beiden Formen erscheinen könne. In einem weiteren Sinne sei die moderne Verfassung auch eine gemischte, „weil in ihr innerhalb des zweiten, des politischen Elements verschiedenartige politische Formprinzipien und -elemente (Demokratie, Aristokratie, Demokratie) untereinander verbunden und vermischt sind“ 7. Schließlich bricht Stern die Lehre auf die Staatsstrukturprinzipien herunter. Die Idee der gemischten Verfassung dürfe nicht an der Staatsform hängenbleiben. Sie müsse auf die Gesamtheit der die Staatsverfassung gestaltenden Prinzipien bezogen werden 8. Unter Bezugnahme auf Lord Bolingbroke nennt er es „mixed government“. Ganz im Sinne der antiken Vorstellungen beschreibt heute Sternberger das Ziel der gemischten Verfassung. Es bestehe darin, Elemente zu einer erträglichen, dauerhaften und die Freiheit sichernden Ordnung zu verbinden, die bei abstrakter Betrachtung einander zu widersprechen scheinen 9. Vereinzelt wird Kritik an diesem Konzept geäußert. Der Einwand Böckenfördes, die Idee der gemischten Verfassung begründe eine strukturformrelativierende Verfassung 10, vermag allerdings nicht gänzlich zu überzeugen. Denn das Wesen der gemischten Verfassung ist es ja nachgerade, unerwünschte Erscheinungen eines Prinzips zu verhindern. Sollte man dies als relativierend betrachten, ist Böckenförde recht zu geben. Sollte er seinen Einwand dahin verstanden wissen wollen, daß – bezogen auf das Grundgesetz – die grundsätzliche demokratische Legitimation durch ein weiteres Organ, den Bundesrat, aufweicht, weil dieser womöglich ein demokratisches Defizit 11 aufweist, so ist dem nach dem oben Gesagten die bestehende demokratische Legitimation des Bundesrates 5 Über die Verlängerung der Finanzperioden und Gesetzgebungslandtage, 1827, zit. n. Schmitt, Verfassungslehre, S. 204. 6 Schmitt, Verfassungslehre, S. 202 (Hervorhebung im Original). 7 Schmitt, Verfassungslehre, S. 202 (Hervorhebung im Original). 8 Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. e) α). 9 Sternberger, Was ist eine Demokratie wirklich, S. 25 ff. 10 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, S. 182 (190). 11 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, S. 182 (199 f.); Hablitzel, BayVBl. 1979, S. 37 (40); Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 201; Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 8 (21); Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 81 (103); Jekewitz, AK-GG, vor Art. 50, Rn. 11; Klein, Die Legitimation des Bundesrates, S. 95 (102 f., 105); ders., ZG 2002, S. 297 (306); Knies, DÖV 1977, S. 577 (578); Maurer, Der Bundesrat, S. 636 f.; Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (410).
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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und seiner Entscheidungen entgegenzuhalten. Es gibt keine schlechte oder gute demokratische Legitimation, nur eine unmittelbare oder mittelbare. Kritik an dieser Lehre wurde auch bereits in der frühen Neuzeit geübt. Ihr stand das Ideal der reinen Verfassung gegenüber 12, vertreten von Machiavelli. Auch Bodin, Hobbes und später Pufendorf lehnten das Konzept der gemischten Verfassung ab. Bodin wandte aufgrund seiner Lehre von der Souveränität ein, es könne nur einen Träger der einheitlichen Staatsgewalt geben 13. Dieser Angriff gegen das Prinzip der gemischten Verfassung ist jedoch nicht berechtigt. Denn zum einen steht hinter dem Ideal der reinen Verfassung und dem des einheitlichen Trägers der Staatsgewalt die Idee des Absolutismus. Dessen theoretische Begründung geht davon aus, daß die Einheit des Staates sich auch in der Einheit eines Organs darstellt, weil damit am besten inneren Konflikten vorgebeugt werde. Zum anderen: Selbst wenn man meint, der Staat bedürfe eines einheitlichen Willens, so muß dieser nicht unbedingt der eines einzigen Organs sein 14. Wenn zugegeben wird, daß in Republiken die Staatsgewalt in einem Kollegium konzentriert sein kann, dessen Einheitswille aus den Willensakten mehrerer Individuen entsteht, so ist nicht einzusehen, warum der Einheitswille nicht aus dem Einheitswillen mehrerer unabhängiger Organe gefunden werden kann 15. Es ist geradezu das Wesen des Verfassungsstaates, daß der Staatswille durch mehrere Organe hervorgebracht wird. Diese Organe sind in ihrer Kreation, Struktur und Legitimität nicht zufällig entstanden. Hinter ihnen standen vielmehr langjährige Erfahrungen und vielschichtige Prinzipien, die sie hervorbrachten und rechtfertigen. „Gemischte Verfassung heißt darum, eine Verfassung nach unterschiedlichen Prinzipien in Richtung auf eine sinnvolle Einheit zu konkretisieren, mit anderen Worten, verschiedenartige Bildungsgesetze zu harmonisieren und zu integrieren“ 16. Es ist also ein Ziel der gemischten Verfassung, negative Auswüchse eines Verfassungsprinzips in Reinform zu verhindern. Im Zusammenhang mit dem demokratischen Bundesstaat stehen sich die zentripetale Tendenz der Demokratie und die zentrifugale des Föderalismus gegenüber. Wie die Theorieübersicht ergeben hat, stellt die Literatur zu Recht eine Unitarisierung fest. Das Bundesstaatsprinzip vermochte also offenbar keinen wirksamen Schutz gegen die Unitarisierung zu entfalten. Spricht dies gegen das Konzept der gemischten Verfassung? Nach dem oben Gesagten liegt dies an der Deutung des Bundesstaates, seiner Pflege und an seiner Verkümmerung infolge des politischen Umgangs mit dem entwick12
Schmitt, Verfassungslehre, S. 202. Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. e) α); Zippelius, Staatslehre, § 20, II. m.N. 14 Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 550; Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. e) α); Zippelius, Staatslehre, § 20, II. m.N. 15 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 550. 16 Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. e) α). 13
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
lungsoffenen Verfassungsrecht. Es besteht daher Grund zu der Annahme, daß das Bundesstaatsprinzip und nicht etwa nur die anderen Staatsstrukturmerkmale des Grundgesetzes, wie die Demokratie, was regelmäßig betont wird, in besonderer Weise auf den verantwortungsvollen und auf seinen Bestand und seine Entfaltung ausgerichteten Umgang aller am Verfassungsleben Beteiligten angewiesen ist. Diese sind die Politik, die Verfassungsrechtsprechung, die Staatsrechtslehre, die Medien und auch die Gesellschaft insgesamt. Allein Bezeichnungen, wie „Dunkelregierung“ für den Bundesrat, verbieten sich daher. Schließlich vermag die Idee der gemischten Verfassung ein weiteres Phänomen zu erklären: die Stabilität des Grundgesetzes. Darin sah bereits Cicero ein Argument für diese Verfassungsform. Es „spricht für sie ihre Stabilität; denn eine Staatsform deren Elemente in wohlabgewogener Weise miteinander verbunden sind, entartet nicht so leicht“ 17. Auch Dahlmann sagt in seiner Politik: „Die Regierungsform eines großen Staates muß, um Dauer zu haben, nicht aus gleichartigen, sondern aus verschiedenartigen [...] Bestandteilen gebaut sein“ 18. Dies erklärt die lange Lebensdauer des Grundgesetzes und dessen Erfolg auch als „Exportschlager“ 19. 2. Die Auslegung der gemischten Verfassung: Einheit der Verfassung Das Prinzip der gemischten Verfassung fordert den beteiligten Verfassungsprinzipien gleichsam den Verzicht ihrer Verwirklichung in Reinform ab. Inwieweit, das bedarf der Auslegung. Der methodische Weg zur Auslegung von – auch scheinbar gegenläufigen – Verfassungsprinzipien ist die Einheit der Verfassung 20, dem „vornehmsten Interpretationsprinzip“ 21, wie das Bundesverfassungsgericht urteilt. Dieser Grundsatz geht davon aus, daß die Verfassung nicht ein Konglomerat zufällig aneinandergereihter Rechtssätze ist, sondern von einer Konzeption und einer Idee getragen ist, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein geschlossenes Ganzes der Ordnung des Staats- und Gemeinschaftslebens zu sein 22. Daher dürfen die Verfassungssätze, die sich innerhalb dieser Einheit befinden, nicht isoliert ausgelegt werden 23. Verfassungsprinzipien, die in einem Spannungsver17
Zit. n. Zippelius, Staatslehre, § 20, II. m.N. 3. Auflage 1847, § 99, S. 83, zit. n. Schmitt, Verfassungslehre, S. 204. 19 Vgl. dazu Karpen, Gesetzgebungslehre, S. 61 ff. 20 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 14 (32 f.); ferner 19, 206 (220) jeweils m.w. N.; Isensee, HbStR VII, § 162, Rn. 41; Starck, HbStR VII, § 164, Rn. 19; ausführlich Müller, Die Einheit der Verfassung, passim; Ossenbühl, DÖV 1965, S. 654; Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. a) m.w. N. 21 BVerfGE 19, 206 (220). 22 Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. a); vgl. a. BVerfGE 19, 206 (220). 23 BVerfGE 30, 1 (19). 18
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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hältnis zueinander stehen, müssen harmonisiert werden. Kein Rechtsgut darf auf Kosten eines anderen als vorrangig erachtet werden, es sei denn, die Verfassung ordnet die Rangfolge selbst an 24. Mit dem Bundesverfassungsgericht gilt: „Alle Verfassungsbestimmungen müssen [...] so ausgelegt werden, daß sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Werteordnung vereinbar sind“ 25. Andererseits „darf die schwächere Norm nur soweit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muß in jedem Fall respektiert werden“ 26. II. Historische Auslegung: Die spezifisch demokratische und föderale Tradition deutscher Verfassungen Der eingangs angestellte Rückblick in die deutsche Verfassungsgeschichte hat ergeben, daß eine Entwicklung vom monarchischen Bund hin zum demokratischen Bundesstaat angelegt ist. In ihm erfolgt die Willensbildung nicht nur durch den Zentralstaat, sondern auch durch die Glieder. Insoweit spricht eine historische Vermutung für eine vom Einheitsstaat verschiedene Willensbildung und damit auch für einen anderen Demokratiebegriff. Im demokratischen Bundesstaat entscheidet nicht bloß das egalitär-unitarische Prinzip. Es erfolgt vielmehr eine Ergänzung des demokratisch-unitarischen Volksbegriffs durch einen zweiten, vom egalitären Prinzip abweichenden und dieses damit ergänzenden Grundsatz. Das kann entweder das feudale (oder klerikale) oder das föderale (oder munizipale) oder das berufs- und besitzständische (oder das wirtschaftlich-soziale) Prinzip sein 27. Dieser Gedanke einer zweifachen Willensbildung kommt bereits im Streit in der Frankfurter Nationalversammlung um ein Einoder Zweikammersystem und das geplante Staatenhaus zum Ausdruck 28. Es kann daher in Zusammenschau mit den anderen deutschen historischen Verfassungen vom Grundsatz der Ergänzung des egalitären demokratischen Willens durch ein zweites, das föderale Moment gesprochen werden. Dieser Umstand spricht weiterhin gegen die Annahme eines radikalen Demokratiebegriffs französischer oder einheitsstaatlicher Tradition. Das heißt nicht, daß er in der deutschen Verfassungsgeschichte nicht vertreten wurde 29. Er hat sich aber nicht durchgesetzt.
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Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. a). BVerfGE 30, 1 (19) unter Hinweis auf BVerfGE 19, 206 (220); vgl. a. BVerfGE 47, 327 (369); vgl. grds. zur Verfassungsauslegung Sachs, in: ders., GG, Einführung, Rn. 37 ff.; Starck, HbStR VII, § 164; Stern, Staatsrecht I, § 4 III., jeweils m.w. N. 26 BVerfGE 28, 243 (261). 27 Huber, Verfassungsgeschichte, Band 2, S. 784. 28 s.o. 1. Kap., A. IV. 29 So z. B. die demokratische Linke in der Frankfurter Nationalversammlung, vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 2, S. 785. 25
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Die deutsche Verfassungsgeschichte bietet also Anhaltspunkte für eine Tradition der zweifachen Legitimation staatlicher Entscheidungen. Dem entspricht die historische Entwicklung in Deutschland: Da sich das Prinzip der Volkssouveränität durchsetzte, der Terror der Radikaldemokratie in der französischen Revolution aber die Unverzichtbarkeit eines Gegengewichts republikanischer Institutionen zeigte 30, wurde die demokratische Republik oder die repräsentative Demokratie zum Leitprinzip der Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Danach gelang es mit der schrittweisen Konstitutionalisierung, die ständische Repräsentation durch die parlamentarische abzulösen 31. So sahen die Paulskirchenverfassung, die Verfassung des Kaiserreichs und die Weimarer Reichsverfassung das jeweils Reichstag genannte Parlament vor, welches das Volk in seiner Gesamtheit repräsentieren sollte. Gleichzeitig sieht das föderale Element auch eine Form der Repräsentation vor: die Vertretung des Volkes nach regionaler Gliederung in einer Länderkammer. Sie hieß in den verschiedenen Verfassungen Bundesrat oder Reichsrat. Dies leitet über zu einem weiteren Spezifikum deutscher Verfassungsgeschichte: dem Bundesstaatsprinzip. Der oben angestellte Rückblick in die Verfassungsgeschichte hat die historische Bedeutung des Bundesstaatsprinzips ergeben. Im Gegensatz zur französischen Demokratieidee, die, wie festgestellt, von der Einheit und Unteilbarkeit der Nation ausgeht, erhielt sich im nationalen Bundesstaat Deutschlands dagegen die überlieferte Grundvorstellung, daß das Ganze der Nation die daseinsgerechte Form in der gegliederten Vielfalt föderativ verbundener Einzelstaaten finde 32. Zu Recht formuliert Huber im Zusammenhang mit der Weimarer Reichsverfassung: „Die deutsche Nation blieb auch als demokratische Republik eine Einheit in vielgliedriger Fügung. Es war ein Ausdruck dieser verfassungspolitischen Grundkonzeption, daß, wie schon die Bismarck’sche, auch die Weimarer Reichsverfassung neben dem Reichstag als dem ersten Repräsentativorgan festhielt, das die Nation nicht als politische Einheit, sondern in ihrer nach Ländern unterschiedenen, föderativen Vielfalt zu vertreten hatte, um dieses gegliederte Gefüge zu einem Ganzen zu formen und dem Einfluß der Teile bei der Bildung des Reichswillens reale Geltung zu verschaffen“ 33. Diese Sätze gelten auch, ja sogar noch eher für den demokratischen Bundesstaat unter dem Grundgesetz. Der demokratische Bundesstaat ist somit eine spezifische Entwicklung deutscher Verfassungsgeschichte. Es ergibt sich weiter daraus, daß eine zweifache Bildung und Legitimation des gesamtstaatlichen Willens in der Verfassungsgeschichte bereits konstatiert wurde und nichts Ungewöhnliches ist. 30
Vgl. Henke, HbStR I, § 21, Rn. 21. Grimm, Repräsentation, StLex, Sp. 878 (879 f.). 32 Wie hier Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 374. 33 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 374 mit Bezugnahme auf Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens, S. 13 ff., 39 ff., 110 ff. 31
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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Das gilt nicht nur für die Willensbildung unter der geltenden Verfassung, sondern auch für die Legitimation der Verfassung. Die doppelte Legitimation des demokratischen Bundesstaates ist in der deutschen Verfassungsgeschichte auch keineswegs eine unbekannte Erscheinung. Dies hat der Rückblick auf die Entstehung des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreiches ergeben. Danach kann zusammenfassend nochmals mit Huber die Entstehung der Verfassungen von 1867 und 1871 wie folgt beschrieben werden: Der Gesamtstaat von 1871 hatte „zugleich mit diesem national-unitarischen ein bündisches Fundament: Er war, außer auf dem Willen der Nation, auf ein Bündnis der Gliedstaaten gegründet“ 34. Es erfolgte also eine gemeinsame Legitimation. In der Darstellung der Verfassungsgeschichte 35 wurde darauf hingewiesen, daß an der Entstehung der Verfassungen von 1867 und 1871 sowohl die Landesparlamente als auch der Reichstag, also die Länder und der Gesamtstaat, an der Legitimation der jeweiligen Verfassung beteiligt waren. Während es bei der Reichsgründung allerdings eine monarchisch-bündische Mitwirkung war, entstand das Grundgesetz – wie noch zu zeigen sein wird – unter demokratisch-bündischer Beteiligung, also unter Mitwirkung von demokratischen Gliedstaaten. Das Grundgesetz ist sowohl durch das Gesamtvolk auf Bundesebene als auch durch die Landesvölker legitimiert. Dies ergibt sich auch insbesondere aus der Gegenüberstellung mit der Weimarer Reichsverfassung. Sie war ausschließlich von der Nationalversammlung verabschiedet worden und damit unitarisch legitimiert. So steht auch die Verfassungsentstehung des Grundgesetzes in einer Entwicklung vom monarchischen Bund zum demokratischen Bundesstaat. Auch dieser Umstand verpflichtet, Demokratie und Bundesstaat gemeinsam zu deuten. Aus diesem Kontinuum deutscher Verfassungsgeschichte wiederum folgt, daß sie ausstrahlt auf die heutige Verfassung. Methodisch erfolgt dies im Wege der historischen Auslegung. Deren Bestandteil ist das Element der Tradition 36, die Auslegung von Normen in ihrer historischen Herkunft. Anders formuliert: Es gilt die (widerlegliche) Vermutung der Kontinuität 37. So können historische Leitbilder in die Auslegung einfließen. Aus ihnen heraus können dann auch die bestehenden Strukturen nicht nur gedeutet, sondern auch verändert oder reformiert werden, sofern es nötig ist – sei es aus notwendiger Anpassung an die Moderne, sei es wegen des Verfalls bestehender Regelungen. Die historische Auslegung ergibt eine erste Bestätigung für das Legitimationsmodell Hanebecks, der selbst die Verfassungsgeschichte nicht heranzieht. 34
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 59 f. s.o., 1. Kap., A. V., VI. 36 Vgl. dazu Zippelius / Würtenberger, Staatsrecht, § 7, Rn. 10 ff.; Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 10; Sachs, in: ders., GG, Einführung, Rn. 41 m.w. N.; H.-P. Schneider, Der Wille des Verfassungsgebers, S. 903 ff.; Stern, Staatsrecht I, § 2 II. 3. b). 37 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 10. 35
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Danach sind sowohl die Entstehung des Grundgesetzes als auch sämtliche staatliche Entscheidungen von Bund und Ländern gemeinsam und gleichberechtigt legitimiert. Aus der Verfassungsgeschichte ergeben sich ferner Hinweise auf die sogleich anzustellende Auslegung der Ideen von Föderalismus und Demokratie: Eine Reduzierung des Bundesstaates auf ein Organisationsmodell läßt sich der Verfassungsgeschichte ebensowenig entnehmen wie eine radikale Demokratievorstellung. Solche einseitigen Deutungen erlaubt auch eine auf Ausgleich bedachte gemischte Verfassung nicht.
B. Bundesstaat Wie ist in der gemischten Verfassung des Grundgesetzes das Bundesstaatsprinzip zu deuten? Handelt es sich infolge seiner Verbindung mit der Demokratie um ein bloßes Organisationsmodell, wie Schmitt und andere es behauptet haben? Oder liegt seine Bedeutung in einer bloßen Beteiligung an der Willensbildung des Zentralstaates durch die Länderbürokratien ohne echte politische Willensbildung und bloßen Zubringerdiensten für den Gesamtstaat, wie Hesse annimmt? Oder ist dem Legitimationsmodell zu folgen, das Bund- und Landesvölker als gleichberechtigte originäre Legitimationskörper ausweist? Zur Beantwortung dieser Fragen sind zwei Prozesse zu verfolgen, welche die Autoren jeweils für ihre Modelle heranziehen: Welche Rolle spielen die „Legitimationskörper“ (Schmitt) Bund und Länder bei der Legitimation des Grundgesetzes (I.) und bei staatlichen Entscheidungen (II.)? I. Die Legitimation des Grundgesetzes Da sich aus der obigen Analyse der Lehrmeinungen ergab, daß die Autoren für ihre Argumentation die Verfassungsgebung des Grundgesetzes heranziehen, ist deren Herkunft zu klären. 1. Stand der Forschung Hinsichtlich des verfassungsgebenden Subjekts ist im Schrifttum eine eindeutige Tendenz festzustellen. Nur vereinzelt wird die Auffassung vertreten, das Grundgesetz sei eine Schöpfung der Länder 38; die Bundesrepublik Deutschland 38 Maier, AöR 115 (1990), S. 213 (223); Pfetsch, Verfassungspolitik der Nachkriegszeit, S. 146; Stolleis, HbStR I, § 7, Rn. 116; ders., Geschichte des öffentlichen Rechts, Band III, S. 199; Schulze, Kleine deutsche Geschichte, S. 235; Wuermeling, NJW 1990, S. 1079 (1082); zum Folgenden vgl. die Darstellung bei Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 129 ff., 144 f.
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sei, im Gegensatz zur Weimarer Republik, die aus einer Entscheidung der Nationalversammlung heraus entstand, ein Zusammenschluß von Ländern 39. Nach herrschender Meinung 40 hingegen ist die Entstehung des Grundgesetzes ein Akt des deutschen Volkes als einheitliche Gesamtheit und damit eine zentralistische Handlung. Begründet wird diese Auffassung unter anderem mit dem Wortlaut der Präambel des Grundgesetzes 41. Danach sei Schöpfer der Verfassung „das deutsche Volk in den Ländern“. Der Zusatz „in den Ländern“ diene lediglich dazu, eine Brücke zwischen dem Aufbau des Staates als Bundesstaat und der Verfassungsgebung durch das deutsche Volk zu schlagen 42. Andere messen diesem Zusatz keine Bedeutung bei oder verzichten auf ihn ganz. Vielmehr wird auf die Nation als Willenseinheit abgestellt. So wird formuliert, die Bundesrepublik Deutschland sei ein auf der Entscheidung des deutschen Volkes beruhender Nationalstaat, die Länder seien nicht „Herren des Grundgesetzes“ 43. Die Verfassungsgebung wird als „Gestaltungsakt des deutschen Volkes“ 44, „der deutschen Nation“ 45 oder des „Volks als Legitimationseinheit“ 46 bezeichnet, was „selbstverständliche Verfassungsvoraussetzung“ 47 sei. Weiterhin habe sich der parlamentarische Rat in einer Abstimmung ausdrücklich gegen die von Bayern vorgeschlagene Lösung gewandt, nach der die Länder als die verfassungsgebende Gewalt anzusehen seien 48. Dies sei auch durch die Idee der Volkssouveränität geboten 49. Darüber hinaus könne auch nicht der Abstimmungsmodus des Art. 144 39
Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band III, S. 119. Badura, Staatsrecht, B, Rn. 3; Bethge, AöR 110 (1985), S. 169 (190); Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, S. 159 f; Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 235 f.; Hömig, in: Seifert / Hömig, GG, Präambel, Rn. 4; Dreier, in: ders., GG, Präambel, Rn. 44; Huber, in: Sachs, GG, Präambel, Rn. 14, 20 f., Art. 144, Rn. 7; Jarass / Pieroth, GG, Präambel, Rn. 3; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 278; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 251; Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Präambel, Rn. 29; Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 91; v. Münch, in: ders. / Kunig, GG, Art. 144; Rn. 8; Starck, in: Mangoldt / Klein / Starck, GG, Präambel, Rn. 20; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 197; Stern, Staatsrecht II, § 25 II. 2. a); Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, S. 57, 61; politikwissenschaftlich: Hennis, Regieren im modernen Staat, S. 336. 41 v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 144, Rn. 5; Huber, in: Sachs, GG, Präambel, Rn. 14, 20 f., Art. 144, Rn. 7; Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Art. 144, Rn. 2. 42 Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Präambel, Rn. 29. 43 BayVerfGH, BayVBl. 1991, S. 561 (562), Huber, in: Sachs, GG, Art. 144, Rn. 7. 44 Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 144, Rn. 8; Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 91. 45 Huber, in: Sachs, GG, Art. 144, Rn. 7. 46 Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 160. 47 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 61. 48 Huber, in: Sachs, GG, Präambel, Rn. 21, Art. 144, Rn. 1; Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 30 ff. 40
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Abs. 1 GG für eine Mitwirkung der Länder bei der Verfassungsgebung ins Feld geführt werden. Nach dieser Vorschrift bedarf das Grundgesetz der Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder, in denen es gelten soll. Durch die Zwei-Drittel-Regelung könnten einzelne Länder auch gegen ihren Willen an das Grundgesetz gebunden werden 50. Nach anderer Ansicht 51 geht die Legitimation des Grundgesetzes sowohl vom Bundesvolk als auch von den Landesvölkern aus. Es haben weder allein die Länder als eigenständige Subjekte das Grundgesetz angenommen, noch sei es in diesem Verfahren allein auf das Gesamtvolk angekommen. Vielmehr haben die Länder durch jeweils eigenständige Entscheidungen, aber unter Anerkennung einer vorausgesetzten Gesamtheit, das Grundgesetz demokratisch legitimiert. Der Verfassungsgebung liege einerseits die eigenständige Entscheidung der Länder zugrunde, andererseits das gemeinsame Handeln der Länder im Namen des Gesamtvolkes. Diese Kombination aus Eigenständigkeit und Gemeinsamkeit komme im Text des Grundgesetzes zum Ausdruck, wenn man die Präambel und Art. 144 Abs. 1 GG zusammen lese. 2. Zweifache Legitimation des Grundgesetzes Der gesamte Vorgang der Verfassungsgebung spricht für eine gemeinschaftliche Legitimation. Das deutsche Volk hat sich nicht nur als Gesamtheit, als Einheit die Verfassung gegeben. Ebenso spielten die Länder eine bedeutende Rolle bei der Verabschiedung des Grundgesetzes. Der deutsche Föderalismus des Grundgesetzes ist von der Schaffung des Gesamtstaates durch die Gliedstaaten geprägt. Dies hat Hanebeck überzeugend dargelegt 52. Es ergibt sich aus (a) der Funktion und Stellung der Ministerpräsidenten bei der Verfassungsentstehung, (b) dem Parlamentarischen Rat, (c) dem Annahmeverfahren des Grundgesetzes durch die Länder und (d) der Exegese der Präambel des Grundgesetzes, (e) aber auch aus dem tatsächlichen Umstand der zeitlich früheren Existenz der Länder und deren Landesverfassungen. a) Die legitimierende Funktion und Stellung der Ministerpräsidenten Die auch bündische Legitimation des Grundgesetzes ergibt sich zunächst aus der Funktion der Ministerpräsidenten. Sie waren in der Übergangszeit bis zur Konstituierung des Parlamentarischen Rates die Repräsentanten Deutschlands. 49 50 51 52
Stern, Staatsrecht II, § 25 II. 2. a). BayVerfGH, BayVBl. 1991, S. 561 (562), Huber, in: Sachs, GG, Art. 144, Rn. 7. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 136 ff., 182 ff. Vgl. zum Ganzen Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 136 ff.
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Die Gemeinschaft der Ministerpräsidenten war formell höchste Instanz deutscher Politik 53. Sie legten im wesentlichen das Verfahren der Grundgesetzentstehung fest 54. Sie kamen überein, keine Nationalversammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung einzuberufen, sondern einen von den Landtagen gewählten „Parlamentarischen Rat“, der ein „Grundgesetz für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebietes der Westmächte“ ausarbeiten sollte 55. Einigkeit mit den Alliierten erzielte man auch darüber, daß das dann ausgearbeitete Grundgesetz in einem weiteren Schritt demokratisch legitimiert werden sollte. Bereits hier wird zum einen die Rolle der Länder bei der Entstehung des Grundgesetzes deutlich. Denn auch die Teilhabe an Verfahrensfragen stellt bereits die Ausübung verfassungsgebender Gewalt dar 56. Die Entscheidung über die verfassungsgebende Gewalt gehört bereits zur Verfassungsentscheidung 57. Die Länder wurden dabei von den Ministerpräsidenten vertreten, welche wiederum von den Landesvölkern legitimiert waren. Damit geht die Verfassungsgebung auch auf die Landesvölker als eigenständige Legitimationssubjekte zurück. Zum anderen zeigt auch das angestrebte Verfahren aus Ausarbeitung und Beschluß durch den über die Länder legitimierten Parlamentarischen Rat und die anschließende Bundeslegitimation, daß das Grundgesetz auf einer zweifachen Legitimation fußt. b) Die Legitimation des Parlamentarischen Rates und dessen Verabschiedung des Grundgesetzes Dann entsandten die Länder ihre Vertreter in den Parlamentarischen Rat, der den Verfassungsentwurf beriet und schließlich verabschiedete. Dabei bestand hinsichtlich der Legitimation seiner Mitglieder ebenfalls eine Besonderheit. Die Mitglieder waren als Repräsentanten ihres Landes durch das jeweilige Landesvolk legitimiert. Die Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Rates fand in den jeweiligen Landesparlamenten statt 58. Die Landesvölker erscheinen damit ein weiteres Mal als Legitimationssubjekte. Durch einen Mandatstausch über Ländergrenzen hinweg sowie die Besetzung des Rates nach Parteien können sie aber gleichzeitig auch als Repräsentanten einer länderübergreifenden Gemeinschaft angesehen werden, nämlich der der drei Westzonen 59. Die demokratische Legitimation des parlamentarischen Rates ging also von den Landesvölkern und 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. Benz, Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, S. 118. Dazu und zum folgenden Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 155 ff. Feldkamp, Der parlamentarische Rat, S. 63 f. Vgl. Steiner, Verfassungsgebung und verfassungsgebende Gewalt des Volkes, S. 91. Roellecke, JZ 1992, S. 929 (932). Vgl. Feldkamp, Der parlamentarische Rat, S. 36. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 161 ff.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
dem Gesamtvolk gemeinsam aus. Weder die einen noch das andere kamen als einziges Legitimationssubjekt in Frage. Auf beide gestützt legitimiert sich der Parlamentarische Rat. Teilweise wird das Selbstverständnis der Abgeordneten als Beleg dafür herangezogen, daß die Verfassungsgebung auf das deutsche Volk insgesamt zurückgeht 60. Abgesehen davon, daß das Selbstverständnis eines Repräsentanten nicht generell demokratische Legitimation herzustellen vermag 61, und das Argument allein deshalb nicht weiter verfängt, verkürzt es die Debatten im Parlamentarischen Rat jedoch auf unzulässige Weise. Denn es läßt sich nachweisen, daß ausschließliche, entweder die Länder oder das Gesamtvolk nicht berücksichtigende Formulierungen, nicht mehrheitsfähig waren 62. Daher vermag auch nicht von der herrschenden Auffassung behauptet werden, es spreche für eine Verfassungsgebung des Gesamtvolkes, daß der bayerische Vorschlag, die Länder seien als verfassungsgebende Gewalt anzusehen, abgelehnt worden sei. Vielmehr finden sich in den Sitzungsprotokollen Stimmen, die belegen, daß sowohl die Landesvölker als selbständige Einheiten als auch das (Gesamt-)Volk in den drei Westzonen an der demokratischen Legitimation des Parlamentarischen Rates Anteil hatten 63. Der auf diese Weise zusammengesetzte und damit zweifach legitimierte Parlamentarische Rat hat dann am 8. Mai 1949 das Grundgesetz beschlossen. Nach dem zuvor dargestellten Verfahren war dies erst der eine Teil. Der andere sollte durch die Verabschiedung nach Art. 144 GG erfolgen. c) Die Annahme des Grundgesetzes durch die Länder Weiterhin bedurfte das Grundgesetz der Annahme durch die Landtage (in zwei Dritteln) der deutschen Länder (Art. 144 Abs. 1 GG). Teilweise wird das Annahmeverfahren nach Art. 144 GG als bloßer Abstimmungsmodus des gesamtdeutschen Volkes, das lediglich aus organisatorischen Gründen in Länder gegliedert sei, angesehen und damit als Nachweis für die gesamtstaatliche Legitimation des Grundgesetzes herangezogen 64. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die 60 Dreier, in: ders., GG, Präambel, Rn. 44; Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, S. 160; Schmidt, AöR 87 (1962), S. 253 (260 f.); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 251. 61 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 174 f. 62 Einzelheiten bei Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 168 ff., 175. 63 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen Hauptausschuß, S. 306 ff.; zit. b. Matz, JöR n.F. 1 (1951), S. 33. 64 Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, S. 163; Danco, Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, S. 36; Huber, in: Sachs, GG, Präambel, Rn. 20 f.; ders., in: Sachs, GG, Art. 144, Rn. 7; Steiner, Verfassungsgebung, S. 155; Zinn, AöR 75 (1949), S. 291.
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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Mehrheit von zwei Dritteln nicht auf das Gesamtvolk bezogen war, sondern auf die Mehrheit der Länder. Daß die Länder zu zwei Dritteln zustimmen mußten, also nicht zustimmende Länder letztlich gegen ihren Willen an das Grundgesetz gebunden werden konnten 65, spricht nicht gegen die Annahme einer Legitimation durch die Länder und ein (auch) föderales Zustandekommen des Grundgesetzes 66. Denn auch in einem „typischen“ 67 Verfahren der Verfassungsgebung, etwa durch eine Nationalversammlung, wird bei einer demokratischen Abstimmung die Minderheit (des Gremiums und des von den Ablehnenden repräsentierten Teils der Bevölkerung) auch an die somit verabschiedete Verfassung gebunden. Art. 144 Abs. 1 GG stellt keinen Akt des einen einheitlichen Volkes in seiner Gesamtheit dar. Es ist aber auch kein rein bündisches Verfahren. Hier läßt sich vielmehr eine Wechselwirkung zwischen Demokratie und Bundesstaatsprinzip feststellen. Durch den Abstimmungsmodus des Mehrheitsprinzips erfolgt eine demokratische Ausstrahlung auf das bündische Handlungsmuster, die Einstimmigkeit. Insofern wirkt sich das demokratische auf das bundesstaatliche Prinzip aus und dies bereits im Gründungsakt des demokratischen Bundesstaates. Damit liegt ein weiterer Beleg dafür vor, daß Demokratie und Bundesstaat stets in Zusammenhang miteinander zu lesen sind. Es kommt den Ländern also eine legitimations- und einheitsstiftende Kraft für den Gesamtstaat zu, die sie – bereits „jetzt“, präkonstitutionell – ungeachtet der „späteren“ verfassungsrechtlichen Konstruktion – zu unverzichtbaren Akteuren des deutschen Bundesstaates macht. Das zeigt, daß die historische Legitimation des (bundes-)deutschen Föderalismus der Gesamtstaatsbildung durch den Länderkonsens, die den Gliedstaaten (im Vergleich zum Oberstaat) die älteren Rechte gibt, durch die historischen Brüche der deutschen Geschichte zwar beschädigt, aber nicht zerstört worden ist 68. d) Exegese der Präambel Aus der Präambel kann entgegen der herrschenden Meinung 69 nicht auf die alleinige gesamtstaatliche Legitimation des Grundgesetzes geschlossen werden. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, daß ihr keine rechtlich verbindlichen Aussagen über die Verfassungsgebung zu entnehmen sind. Die verfassungsgebende 65
BayVerfGH, BayVBl. 1991, S. 561 (562), Huber, in: Sachs, GG, Art. 144, Rn. 7. So aber Huber, in: Sachs, GG, Art. 144, Rn. 7. 67 Sofern von einem typischen Verfahren der Verfassungsgebung überhaupt die Rede sein kann. Ein solches richtet sich stets nach den Umständen des Einzelfalles und der historischen Situation. 68 Im Ergebnis ebenso Kloepfer, DÖV 2004, S. 566; schön auch ders., ZRP 1983, S. 57 (59): „Daß sich das Grundgesetz aus der Zustimmung der Länder legitimert, ist für einen Bundesstaat nichts Anrüchiges“. 69 s.o. a); zum Ganzen Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 179 ff. 66
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Gewalt ist Gegenstand der Verfassungstheorie, sie gehört nicht zur Dogmatik des positiven Verfassungsrechts 70. „Sieht man die verfassungsgebende, konstituierende Gewalt also als positivrechtlich unkonstituierbar an 71, kann eine Verfassung bereits deshalb über ihre Entstehung keine verbindlichen Aussagen machen“ 72. Selbst wenn man eine juristische Begrenzung der verfassungsgebenden Gewalt für möglich hält, etwa durch Revisionsvorschriften der Verfassung, ist jedenfalls rückblickend, vom Standpunkt einer geltenden Verfassung aus betrachtet, die Ausübung verfassungsgebender Gewalt vorverfassungsrechtlicher Natur 73. „Die Verfassung selbst kann diese vorverfassungsrechtliche Situation nicht regeln, sie hat zu diesem Zeitpunkt noch keine Geltung“ 74. Selbst wenn man, wie die herrschende Auffassung, daran keinen Anstoß nimmt und das Argumentieren mit der Präambel zuläßt, ist dieser Auffassung zu widersprechen. Sie führt an, daß sich der Parlamentarische Rat von den beiden alternativen Vorschlägen des Herrenchiemseer Entwurfes 75 zum Verfassungsgeber in der Präambel für die Version „... das deutsche Volk in den Ländern ...“ entschieden habe, anstatt allein den Ländern diese Funktion zuzuschreiben 76. Gegen diese Auslegung spricht die Aufnahme des Zusatzes „in den Ländern“. Dessen Existenz und Bedeutung vermag die herrschende Auffassung nicht zu erklären. Eine alleinige Legitimation durch die Länder ergibt sich aus der Präambel freilich auch nicht; dem steht die Benennung des deutschen Volkes entgegen. Vielmehr läßt sich die Präambel mit beiden Bestandteilen nur so sinnvoll deuten, indem ihr die doppelte Legitimation der Verfassung durch das Gesamtvolk und die Landesvölker zu entnehmen ist.
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Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 179; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Präambel, Rn. 14; Möllers, Staat als Argument, S. 200; Henke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 24 ff; Stückrath, Verfassungsablösung, S. 185 ff. 71 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 179; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 60; Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, S. 90 (111); Stern, Staatsrecht I, § 5 I. 2. c), 3.; Murswiek, Verfassungsgebende Gewalt, S. 135; Henke, Verfassungsgebende Gewalt, S. 25; ders., Der Staat 1980, S. 181 (198); ders., Der Staat 1992, S. 265 (279); Unruh, Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 384; Dreier, in: ders., GG, Art. 146, Rn. 21; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Präambel, Rn. 14; Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, S. 104; Heckel, Wo war das Volk?, S. 13 (22); Randelzhofer, Grundgesetz unter Vorbehalt?, S. 141 (153). 72 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 179. 73 Schneider, HbStR VII, § 158, Rn. 16; ihm folgend m.w. N. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 179. 74 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 180. 75 HChE, S. 61. 76 Zit. b. Matz, JöR n.F. 1 (1951), S. 20 ff.; vgl. a. Huber, in: Sachs, GG, Präambel, Rn. 1 f., 14.
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e) Existenz der Länder Neben diesen Überlegungen kommt auch eine tatsächliche Komponente zum Tragen. Die Länder existierten zeitlich früher als der Bund 77. Noch davor entstand unter Aufsicht der Militärregierung Politik in deutscher Verantwortung auf Gemeinde- und Kreisebene 78. Dies hat zu der üblichen Beschreibung geführt, die Bundesrepublik Deutschland sei „von unten nach oben“ gegründet worden. Dann wurden in den einzelnen Besatzungszonen die Länder gegründet 79. Deren Landesregierungen waren zunächst den jeweiligen Besatzungsmächten gegenüber verantwortlich, dann fanden nach Kommunalwahlen im Jahre 1946 bis Mitte Mai 1947 Landtagswahlen in allen Ländern der westlichen Besatzungszonen statt 80. Das bedeutet, daß bereits zu diesem Zeitpunkt eine eigene demokratische Legitimation der Landesregierungen durch das Legitimationssubjekt Landesvolk existierte. Das jeweilige Landesvolk war es in der Folge dann auch, das die jeweilige Landesverfassung annahm. Die Verfassungen wurden in Volksentscheiden durch die Landesvölker verabschiedet, oder es wurden eigens gewählte Landesversammlungen zur Ausarbeitung einer Verfassung gewählt 81. Damit haben die Landesverfassungen ihre demokratische Legitimation jeweils direkt vom jeweiligen Landesvolk erhalten. Bei den Verfassungen wurde die noch ausstehende Verfassung für ganz Deutschland berücksichtigt, indem in die Verfassungstexte entsprechende Passagen eingefügt wurden, nach denen sich das jeweilige Land als Teil Deutschlands betrachtet oder die eigenständige Rolle des Landes bei der Gründung des Gesamtstaates betont 82. Jedenfalls stellt sich die Verfassungsgebung in den Ländern als eigene demokratische Legitimation der Landesvölker in Erwartung eines größeren Gesamtstaates dar. f) Ergebnis: Gemeinsame Verfassungsgebung von Bund und Ländern Das Grundgesetz ist also auf zweifache Weise legitimiert. Als verfassungsgebende Gewalt sind sowohl das Gesamtvolk auf Bundesebene, als auch die Landesvölker als jeweils eigenständige Legitimationssubjekte zu sehen. Weder erfolgte die Legitimation allein auf Ebene des Gesamtstaates noch allein durch die Länder. Die Verfassungsgebung des Grundgesetzes stellt damit eine Mischform dar. Diese Legitimation unterscheidet sich von der einheitsstaatlichen, aber auch von einer rein bündischen Verfassungsgebung. 77 78 79 80 81 82
Zum Ganzen Hanebeck, Demokratischer Bundesstaat, S. 136 ff. Benz, Potsdam 1945, S. 119. Ausführlich Stern, Staatsrecht V, § 131 IV. 7. b). Stern, Staatsrecht V, § 131 IV. 7. b). Stern, Staatsrecht V, § 131 V. 5. a). Aufzählung dieser Passagen bei Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 141 f.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Entgegen der herrschenden Auffassung kann damit an Hanebecks Modell angeknüpft werden, nach dem das Grundgesetz von Bundesvolk und Landesvölkern gemeinsam legitimiert wurde. Daher sind bereits aus diesem Grund alle die Theorien zu Föderalismus und Demokratie abzulehnen, welche die angebliche einheitliche Legitimation der Verfassung benutzen, um die Bundesstaatlichkeit als ein Organisationsprinzip innerhalb einer einheitlich legitimierten Verfassungsordnung anzusehen. II. Die demokratische und föderale Legitimation staatlicher Entscheidungen Betrachtet man den Weg der Entscheidungen im Staat, so gelangt man ebenfalls zu dem Ergebnis, daß das Bundesstaatsprinzip mehr als eine reine Organisationsform ist. Es hat auch hier echten föderalen Charakter. Denn die Länder erweisen sich als Elemente der Legitimierung staatlicher Entscheidungen. Auf Bundesebene wirken sie an der Entscheidung mit und stellen die zweite Hälfte der Legitimation dar. Auf Landesebene treffen sie eigene Entscheidungen. Die Landesvölker vermitteln durch eigene demokratische Wahlen eine eigenständige originäre und unabgeleitete Legitimation, sind eigenständige Legitimationssubjekte. Dadurch unterscheiden sie sich von bloßen Selbstverwaltungskörperschaften mit Selbstverwaltungselementen. 1. Der Bundestag Im Rahmen der Ausführungen zum Demokratieprinzip wurde bereits erläutert, daß jede staatliche Entscheidung auf das Volk zurückzuführen sein muß. Es legitimiert die staatlichen Entscheidungen. Im Grundgesetz wird die Legitimation durch den Bundestag vermittelt. Er ist Repräsentant des Gesamtvolkes, denn er geht aus den Wahlen auf Bundesebene vor. Dies läßt sich auch Art. 38 Abs. 1 GG entnehmen, nach dem die Abgeordneten des Deutschen Bundestages „Vertreter des ganzen Volkes“ sind. Die Legitimation von Entscheidungen, für die der Bund ausschließlich und alleine zuständig ist, geht damit ebenfalls allein und ausschließlich vom Gesamtvolk aus. 2. Der Bundesrat Das Organ, über das die Länder an der Willensbildung des Bundes mitwirken (Art. 50 GG), ist der Bundesrat. Seine Zusammensetzung ist von der des Bundestages grundverschieden. Während sich der Bundestag aus direkt gewählten Abgeordneten zusammensetzt und daher ein unstreitig hohes Legitimationsmaß besitzt, besteht der Bundesrat aus „Mitgliedern der Regierungen der Länder“ (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG). Damit stellt sich die Frage nach seiner Legitimation und der seiner Entscheidungen.
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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Die Bundesratsmitglieder sind Mitglieder der Landesregierungen. Diese wiederum gehen aus Landesparlamenten hervor. Denn die Regierungen sind vom Vertrauen der Länderparlamente abhängig, was auf den Länderverfassungen bzw. aus dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG beruht. Dementsprechend bestehen auch in den Ländern parlamentarische Regierungssysteme, mit den wesentlichen Eigenschaften, wie sie oben bereits für den Bund dargestellt wurden, d. h. die Landesparlamente beruhen auf einer demokratischen Wahl in den Ländern. Es findet eine repräsentativ-demokratische Landeswillensbildung statt, zu deren Mitwirkung auch die Parteien berufen sind (vgl. Art. 20 Abs. 1, 21, 28 Abs. 1 GG; z. B. Art. 2, 3, 30 Abs. 1 LVerf NW). Der Bundesrat besitzt daher eine mittelbare demokratische Legitimation 83. Diese ist ausreichend, weil das Demokratieprinzip eine Legitimationskette fordert, aber auch hinreichen läßt 84. Aus der mittelbaren Legitimation folgt weiter, daß die Entscheidung, welche das jeweilige Land im Rahmen seiner Mitwirkung trifft, auf das Legitimationssubjekt Landesvolk zurückzuführen ist. Dies bedeutet eine föderale Mitwirkung auf Bundesebene. Da diese Mitwirkung demokratisch legitimiert ist, ist die föderale Mitwirkung demokratisch – und nicht mehr monarchisch – ausgestaltet. Das demokratische Prinzip färbt insoweit auf das Bundesstaatsprinzip ab. Diese demokratisch-bundesstaatliche Mitwirkung ist eine Ausprägung des demokratischen Bundesstaates. Demokratie und Bundesstaat gehören auch hier zusammen und können nur zusammen gedeutet werden. Es findet darüber hinaus eine demokratische Beeinflussung des Bundesstaatsgedankens aber auch insofern statt, als es zur Artikulation des gemeinsamen Willens aller Länder im Bundesrat nicht einer Einstimmigkeit, wie in rein bündischen Organisationen, bedarf. Das Prinzip der Einstimmigkeit beruht auf dem Gedanken der Statusgleichheit 85 zwischen Staaten, die sich als gleichberechtigte und voneinander unabhängige Körperschaften mit politischer Entscheidungsgewalt gegenüberstehen. Es ist auch in der Verfassungspraxis zu finden, etwa im Rahmen des kooperativen Föderalismus bei der Zusammenarbeit aller Länder, z. B. in der KMK. Vielmehr erfolgt im Bundesrat eine Entscheidungsfindung nach dem demokratischen Entscheidungsverfahren, dem Mehrheitsprinzip. Insoweit ergänzt auch hier das demokratische Prinzip den Bundesgedanken: Im Grundgesetz können sie nur zusammen gedacht werden. 83
Ebenso Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. f); Herzog, HbStR III, § 57, Rn. 26; Klein, die Legitimation des Bundesrates, S. 95 ff., 102 f; Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (636); Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (44 f.). 84 Vgl. auch Kadelbach, VVDStRL 66 (2006), S. 7 (10), nach dem (regionale) demokratische Selbstbestimmung nicht bedeuten müsse, daß allein die Parlamente für die Gesetzgebung zuständig seien. Es reiche, daß die Exekutive hierfür legitimiert sei und sie unter demokratischer Kontrolle ausübe. 85 Vgl. Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (182); Klatt, APuZ 31/1982, S. 3 (7); Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, S. 182 (185).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Für ein föderales Element spricht weiterhin die Mitgliedschaft im Bundesrat. Es ist umstritten, ob die Länder als die eigentlichen Mitglieder des Bundesrates anzusehen 86 sind oder aufgrund von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG die entsandten Personen 87. Dem Grundgesetz läßt sich entnehmen, daß die Länder als solche die Mitgliedschaft innehaben 88. Dies ergibt sich unter anderem aus dem Zwang zur einheitlichen Stimmabgabe (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG) und dem Wortlaut des Grundgesetzes, nach dem die Länder an der Gesetzgebung und der Verwaltung mitwirken (Art. 50 Abs. 1 GG). Auch daraus ist für die hier in Rede stehende Frage zu schließen, daß die Länder zur Mitwirkung an der Bundeswillensbildung berufen sind, diese Willensbildung also eine hinreichende föderale Komponente enthält. Da diese den Landeswillen widerspiegelt, welcher aus einem politischen Prozeß und demokratischen Wahlen, also originärer Legitimation, entstanden ist, ist für eine Reduktion auf ein Organisationsprinzip kein Raum. Weiterhin folgt daraus, daß die Länder – sofern sie vom Grundgesetz zur Mitwirkung berufen sind – insoweit gleichberechtigt neben dem Bund stehen. Die Mitwirkung des Bundesrates erfolgt, wenn das Grundgesetz es vorschreibt. Das sind (a) die Bereiche der Gesetzgebung, (b) der Verfassungsänderung sowie (c) sonstige Verfahren. a) Gesetzgebung (1) Gleichberechtigung und Mitverantwortung des Bundesrates? Hinsichtlich der Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung ist zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzgebung zu unterscheiden. Für das Zustandekommen der letzteren ist die positive Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Die Fälle der Zustimmungsbedürftigkeit sind im Grundgesetz abschließend geregelt 89 („Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates“). Die 86 Dörr, in: Epping / Hillgruber, GG, Art. 51, Rn. 1; Hanikel, Die Organisation des Bundesrates, S. 81 ff; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 185 ff.; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, Art. 51, Rn. 3; Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 30; Rudolf, Funktion und Stellung des Bundesrates, S. 14 f.; Rührmair, Der Bundesrat, S. 24; Heger, Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat, S. 52; Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (617 ff.); ders., Staatsrecht, § 16, Rn. 10; ders., Mitgliedschaft und Stimmrecht im Bundesrat, S. 157 (159 f.); Scholl, Der Bundesrat in der deutschen Verfassungsentwicklung, S. 42. 87 BVerfGE 106, 310 (330); Bauer, in: Dreier, GG, Art. 51, Rn. 12; de Wall, in: Berliner Kommentar, Art. 51, Rn. 9; Korioth, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 51, Rn. 2; Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 51, Rn. 2; Herzog, HbStR III, § 59, Rn. 2; Scholz, Landesparlamente und Bundesrat, S. 831 (840). 88 Ausführliche Darstellung der Kontroverse bei Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 185 ff. 89 Aufzählungen bei Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 13; Bryde, in: v. Münch / Kunig, Art. 77, Rn. 20.
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eine Zustimmungspflicht auslösenden Vorschriften sind im Grundgesetz verteilt und im Zusammenhang mit der sachlichen Gesetzgebungskompetenz normiert. Die beiden wichtigsten Gruppen von Zustimmungsbedürftigkeiten ergeben sich daraus, daß die Organisationshoheit der Länder durch eine Bundesregelung betroffen ist, z. B. Art. 84 Abs. 1 GG: Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens. Diese Vorschrift löst mehr als zwei Drittel aller Fälle der Zustimmungsbedürftigkeit aus. In diesen Fällen soll das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates als „Kompensation“ für Eingriffe des Bundesgesetzgebers in die Organisationshoheit der Länder wirken, die als unmittelbare Folge ihrer Staatlichkeit besonderen Schutz genießt 90. Die andere Gruppe findet sich im Bereich Haushalts- und Finanzverfassung (z. B. Art. 106 Abs. 3 GG), hier als Ausfluß der Haushaltshoheit der Länder, die ebenfalls als Element ihre Staatlichkeit zu sehen ist. Seit 1949 ist der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze von ca. 40 % auf 60% angestiegen 91. Neben diesen Gesetzen ist auch ein erheblicher Teil der Rechtsverordnungen des Bundes zustimmungspflichtig 92. Dies regelt Art. 80 Abs. 2 GG. Bis zum Ende der 12. Legislaturperiode (1990 – 1994) sind von den 15.000 Rechtsverordnungen des Bundes im Durchschnitt 40 % zustimmungspflichtig gewesen 93. Da ein zustimmungspflichtiges Gesetz also nicht zustande kommt (arg. e contr. Art. 78 Var. 1 GG), wenn der Bundesrat nicht zustimmt, kann er insoweit als gleichberechtigt mit dem Bundestag bezeichnet werden. Er trägt daher auch eine Mitverantwortung für das Gesetz. Dies ist der Hintergrund der Streitfrage, ob der Bundesrat als Zweite Kammer bezeichnet werden kann 94. Gegen eine Gleichberechtigung und Mitverantwortung ist eingewendet worden, der Bundesrat könne einem Gesetzesbeschluß des Bundestages nur zustimmen oder ihn ablehnen, der Gesetzesinhalt werde hingegen allein vom Bundestag bestimmt 95. Dem ist zwar zu Recht entgegengehalten worden, daß der Bundestag seine Gesetzesbeschlüsse nicht ohne Blick auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat fasse 96. Dieses Argument ist freilich mit Blick auf die Staatspraxis formuliert und im Ergebnis zutreffend. Dem formalen Argument ist aber ebenfalls formal zu begegnen. 90
Degenhart, Staatsrecht I, § 8 II, 1., Rn. 659. Bundesrat (Hrsg.), Handbuch des Bundesrates 2000/01, S. 290; Schindler, Datenhandbuch des Deutschen Bundestages, S. 2430; a. A. zur Quantität der Zustimmungsbedürftigkeit vgl. a. Dästner, ZParl 2001, S. 294 ff. 92 Antoni, AöR 114 (1989), S. 220 ff.; Wilke, AöR 98 (1973), S. 224 ff. 93 Bauer, in: Dreier, GG, Art. 80, Rn. 13. 94 Dazu im Zusammenhang mit dem Bundesrat sogleich unter (b). 95 Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 253 (258, 260 f.). 96 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 200; Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (238): „präventive Kontrollwirkung“; Schneider, Gesetzgebung, § 6, Rn. 148 a.E. 91
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Daher ist entscheidend, daß unabhängig vom Inhalt der Bundestag auf den Bundesrat angewiesen ist, das Gesetz also mit dem Willen beider zustande kommt und der Bundesrat spätestens über den Vermittlungsausschuß auch inhaltlich auf das Gesetz Einfluß nehmen kann. Weiterhin spricht gegen die alleinige Inhaltsbestimmung durch den Bundestag, daß schon vorher gem. Art. 76 Abs. 2 Satz 1 GG im häufigsten Fall der Gesetzesinitiativen – der Regierungsvorlage – der Gesetzesentwurf zuerst dem Bundesrat zugeleitet wird 97. Damit soll der Bundestag in die Lage versetzt werden, die Position des Bundesrates zu berücksichtigen, um Konflikte antizipativ zu vermeiden 98. Bei der Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens durch den Bundesrat ist seine Position ebenfalls bekannt, nur bei aus der Mitte des Bundestages kommenden Gesetzgebungsvorschlägen ist die Bundesratsposition formell noch nicht gefunden. Daß der Bundestag deshalb bei einem zustimmungsbedürftigen Gesetzesvorhaben einen Beschluß faßt, ohne die Position des Bundesrates einzubeziehen, ist jedoch unrealistisch 99. Es bleibt daher bei dem Ergebnis der Gleichberechtigung von Bundesrat und Bundestag. Mit Hanebeck läßt sich daher sagen: „Bundestag und Bundesrat sind hinsichtlich zustimmungsbedürftiger Gesetze aufeinander angewiesen und beziehen dies auch in ihre Überlegungen ein. Der Bundesrat ist gegenüber dem Bundestag hinsichtlich zustimmungsbedürftiger Rechtssetzungsvorhaben effektiv gleichberechtigt. Die demokratische Legitimation geht in diesen Fällen von den Landesvölkern und dem Gesamtvolk gemeinsam aus“ 100. Gegen eine Gleichberechtigung könnte eingewendet werden, Art. 50 GG sehe eine bloße Mitwirkung bei der Gesetzgebung vor. Dieser Schluß ist jedoch nicht zwingend. Denn mit dieser Formulierung wählt das Grundgesetz lediglich einen Oberbegriff für eine ganze Skala von Entscheidungsmöglichkeiten, die vom Informationsrecht bis zum gleichberechtigten Zustimmungsrecht reichen 101. Dazu war die Verfassung allein wegen der Differenzierung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen gezwungen. Auch das Verfahren bei Einspruchsgesetzen ist eine Form der Mitwirkung. Sofern eine Mitverantwortung des Bundesrates abgelehnt wird 102, ist dem rechtlich und politisch folgendes entgegenzuhalten: Durch Einführung einer zustimmungsbedürftigen Regelung in ein Gesetz wird die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Damit holen Bundesregierung oder Bundestag den Bundesrat mit ins Boot und zwingen ihm eine klare Entscheidung zwischen Ja oder Nein 97
Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 200. Zum sog. „Ersten Durchgang“ s. u. 7. Kap., B. III. 1. 99 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 200. 100 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 200. 101 Klein, AöR 108 (1983), S. 329 (332). 102 Etwa Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 253 (260 f.). 98
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auf. Diese Einengung der Entscheidungsmöglichkeiten kann verfassungsrechtlich nicht irrelevant sein. Ferner wird in politischer Hinsicht eine gemeinsame Verantwortung geleugnet. Dies übersieht aber, daß Mitglieder des Bundesrates vor sich und ihren Wählern ganz anders erscheinen, wenn sie eine ausdrückliche Zustimmung aussprechen, als wenn sie – wie bei der Einspruchsgesetzgebung – ein Gesetz bloß passieren lassen 103. Auch die Politik geht von einer Mitverantwortung aus. Das verdeutlicht das Beispiel des sog. Gesundheitskompromisses gegen Ende der rot-grünen Regierung, als divergierende Mehrheiten zwischen Bundestag und Bundesrat bestanden. Hier bekannte sich die Opposition auch nachträglich noch zu den von ihr mitgetragenen Entscheidungen. Ein anderes Beispiel zeigt, daß auch aus Sicht der Regierung die Bundesopposition bzw. die Bundesratsmehrheit eine Mitverantwortung trägt. So hat ebenfalls die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2004 eine Regelung im Sozialrecht nicht als Rechtsverordnung, sondern als Gesetz erlassen, um die Opposition politisch mit in die Verantwortung zu nehmen 104. Fraglich ist, ob eine Gleichberechtigung auch bei der Einspruchsgesetzgebung angenommen werden kann. Bei dieser kann der Bundesrat nach Abschluß des Vermittlungsverfahrens (Art. 77 Abs. 2 GG) zwar Einspruch einlegen (Art. 77 Abs. 3 Satz 1 GG), der Bundestag diesen jedoch mit der Mehrheit seiner gesetzlichen Mitgliederzahl zurückweisen (Art. 77 Abs. 4 Satz 1 GG). Die Beteiligung des Bundesrates spielt nur eine untergeordnete Rolle, da es dem Bundestag auf einfachem Wege möglich ist, seinen Einspruch zu überstimmen. Er hat bloß die Wirkung eines aufschiebenden Vetos 105. Die Legitimation von Einspruchsgesetzen geht daher vom Bundesvolk aus. Daran ändert auch das Verfahren nach Art. 77 Abs. 4 Satz 2 GG nichts. Danach bedarf die Zurückweisung durch den Bundestag einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Stimmen, falls der Bundesrat den Einspruch mit zwei Dritteln seiner Stimmen beschlossen hat. Dazu ist angemerkt worden, dieses Verfahren spiele in der Praxis keine Rolle, weshalb es in der Regel bei der gesamtvölkischen Legitimation bleibe 106. Dem ist zwar grundsätzlich zuzustimmen, es handelt sich aber um eine bloße an den tatsächlichen Gegebenheiten orientierte Argumentation. Entscheidend ist auch hier die verfassungsrechtliche Konstruktion. Danach kann – im Gegensatz zur Zustimmungsgesetzgebung – der Einspruch der Länderkammer zurückgewiesen werden. Dies sogar nach einer möglichen inhaltlichen Einflußnahme der Länder im Wege des Vermittlungsverfahrens. Eine Übereinstimmung der Willen bei103 Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (244). 104 Dies betraf die Frage, wann das Arbeitslosengeld II auszuzahlen sei, am Monatsanfang oder -ende. Dies wird üblicherweise durch Rechtsverordnung geregelt. s.u. 7. Kap., B. III. 2. b) (2) (a). 105 Jarass / Pieroth, GG, Art. 77, Rn. 8. 106 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 202.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
der Organe ist nicht erforderlich. Daher bleibt es bei der untergeordneten Rolle der Länder bei der Einspruchsgesetzgebung. Die Legitimation erfolgt durch das Bundesvolk. Bei Einspruchgesetzen ist der Bundesrat dem Bundestag gegenüber nicht gleichwertig. Es zeigt sich abermals: Der demokratische Bundesstaat läßt eine undifferenzierte Auslegung nicht zu. (2) Der Bundesrat: eine Zweite Kammer? Eine der umstrittensten Fragen in der Bundesstaatsliteratur ist die Qualifizierung des Bundesrates als Zweite Kammer. Ein Teil des Schrifttums 107 lehnt es ab, den Bundesrat als Zweite Kammer zu qualifizieren. Der Bundesrat sei kein Teil eines einheitlichen Parlaments und auch nicht gleichwertig mit dem Bundestag, auch wenn Zustimmungsgesetze nicht ohne seine Mitwirkung zustande kämen. Daneben wird der Bundesrat auch als Organ sui generis bezeichnet 108. Andere wollen dem Bundesrat nur bei Zustimmungsgesetzen die Eigenschaft als Zweite Kammer zugestehen 109. Das Grundgesetz wurde ferner auch als unvollständiges Zweikammersystem bezeichnet 110. Das Bundesverfassungsgericht sieht den Bundesrat ebenfalls nicht als Zweite Kammer an 111. Es entnimmt dies der Verkündungsformel von Gesetzen („Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen.“) sowie dem Grundgesetz, das in Art. 77 Abs. 1 GG erklärte, die Gesetze werden vom Bundestag beschlossen und in Art. 50 GG die bloße Mitwirkung des Bundesrates vorsehe. Eine andere Ansicht 112 argumentiert, der Bundesrat sei als Gesetzgebungsorgan an jedem Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Bei Zustimmungsgesetzen sei diese Beteiligung gleichwertig, so daß der Bundesrat insgesamt eine Zweite Kammer darstelle. Dafür spreche außerdem das Vermittlungsverfahren nach 107 Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 14 f.; Janson, DVBl. 1978, S. 318 (321); Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 99; Jekewitz, AK-GG, Art. 50, Rn. 2; Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 251 (253); Dolzer, VVDStRL 58 (1998), S. 7 (21). 108 Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. h) γ); Staatsrecht II, § 27 II. 2. c). 109 Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 50, Rn. 16. 110 Aubert, Bundesstaatsrecht in der Schweiz, S. 1290. 111 BVerfGE 37, 363 (380). 112 Leibholz / Hesselberger, Die Stellung des Bundesrates, S. 99 (110); Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, 50, Rn. 10; Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 50; Weckerling-Wilhelm, in: Umbach / Clemens, GG, Art. 50, Rn. 6; Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (187, 191); Schneider, Ministerpräsidenten, S. 240; Ziller, Zum Spannungsverhältnis von Bundestag und Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren, S. 135 (152); Dästner, ZParl 1999, S. 26, 38; diff. Laufer, ZParl 1970, S. 318 (322); Klein, AöR 108 (1983), S. 329 (331): Der Bundesrat könne wie eine Zweite Kammer wirken.
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Art. 77 Abs. 2, 3 GG, das dem Bundesrat nicht nur eine verhindernd-verneinende, sondern auch eine mitverantwortend-mitgestaltende Stellung einräume. Der Bundesrat sei zwar nicht Teil eines übergreifenden Parlaments 113, gleichwohl aber ein bundesstaatliches Gesetzgebungsorgan, dem faktisch die Stellung einer Zweiten Kammer zukomme. Zu diesem Ergebnis kommen auch moderne Analysen der Politikwissenschaft, die die Verfassungsorgane unter systematischen Gesichtspunkten erforschen 114. Daneben gibt es eine dritte Meinung 115, welche den Streit für überflüssig hält. Da unterschiedliche Definitionen einer Zweiten Kammer bestünden, komme man zu unterschiedlichen Ergebnissen. Aus der möglichen Qualifizierung des Bundesrates als Zweite Kammer ergäben sich keine rechtlichen Befugnisse, Kompetenzen oder sonstige rechtlich relevanten Konsequenzen. Es handele sich daher um eine rein terminologische Frage ohne rechtliche Bedeutung. Richtig ist zwar, daß es unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Zweite Kammer“ gibt, und daß sich die Kompetenzen des Bundesrates nicht aus seiner Bewertung als Zweite Kammer, sondern aus dem Verfassungsrecht herleiten. Das bedeutet aber nicht, daß die Frage wertlos wäre. Ihr kommt ein Erkenntnisgewinn zu. Dies gilt für die Rechtsvergleichung 116 sowie für das Verständnis des Bundesrates in Politik und Öffentlichkeit. Die bereits erwähnten Bezeichnungen des Bundesrates als „Dunkelregierung“ oder „Neinsagemaschine“ in Politik 117 und Rechtswissenschaft zeugen von einem – ob bezweckt oder nicht, mag hier dahinstehen – von einem mangelnden Verständnis dieses Organs. Die Bewertung als Zweite Kammer vermag auch ohne eine ganz genaue Definition seine Rolle und Stellung in der Gesetzgebung – insbesondere im Beziehung zum Bundestag – begrifflich zu verdeutlichen. Rechtlich lassen sich aus der Bewertung als Zweite Kammer in der Tat keine Schlüsse ziehen, aber politisch-faktisch. Entscheidend für die Bezeichnung als Zweite Kammer ist ungeachtet aller unterschiedlichen Definitionen, ob, wie und in welchem Grad der Bundesrat 113
So etwa Vonderbeck, Der Bundesrat, S. 106 ff., 110. König, APuZ 13/1999, S. 24 (27 f.); v. Beyme, Die Funktionen des Bundesrates, S. 365 ff.; Steffani, Die Republik der Landesfürsten, S. 66; ders., ZParl 1985, S. 219 (226); a. A. Sturm, APuZ 29 – 30/2003, S. 24. 115 Blumenwitz, in: BK-GG, Art. 50, Rn. 6; Hebeler, JA 2003, S. 522 (526); Herzog, HbStR III, § 57, Rn. 30; Klein, AöR 108 (1983), S. 329 (331); Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 48 („rein terminologischer Natur“) und Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 15, die sich dann aber doch ausführlich mit der Frage befassen und sie entscheiden; Schmidt, Die Struktur der Zweiten Kammer im Rechtsvergleich, S. 119; Schenke, ParlRParlPr, § 55, Rn. 24. 116 Dazu die Arbeit von Schmidt, Die Struktur der Zweiten Kammer im Rechtsvergleich, passim; Mulert, Die Funktion zweiter Kammern in Bundesstaaten, S. 64 ff.; Hanf, Bundesstaat ohne Bundesrat?, passim. 117 Jüngst Stünker (MdB), ZRP 2005, S. 279; „Störfaktor“; „Ersatzgesetzgeber“. 114
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
an der Gesetzgebung beteiligt ist 118. Entscheidend ist die Funktion, nicht die institutionelle Ausgestaltung. Dementsprechend handelt es sich nach einer allgemeinen Definition bei einem Zweikammersystem um eine Verfassungsordnung, bei der die einem Parlament zustehenden Befugnisse – hauptsächlich die klassische Funktion der Gesetzgebung – nicht einer einzigen Körperschaft, sondern zwei Kammern oder Häusern zustehen. Diese Befugnisse werden gemeinsam ausgeführt oder die beiden Kammern bilden zusammen das Parlament. Sie bilden zusammen die gesetzgebende Gewalt 119. Dabei ist die Erste Kammer eine echte Volksvertretung, die Zweite beruht auf einer anderen Legitimationsbasis als der demokratischen, etwa der föderalen 120. Das hat zur Folge, daß – ungeachtet unterschiedlicher Definitionen der Zweiten Kammer! – das Volk in der Ersten Kammer stets als Einheit erscheint, in der Zweiten Kammer in seiner Untergliederung auftritt – gleich, ob etwa regionaler oder gesellschaftlicher Natur 121. Fraglich ist, ob die Zweite Kammer Teil eines einheitlichen Parlaments ist. Dies wird oft verneint, weil dem Bundesrat die direkte demokratische Legitimation fehle, dessen Mitglieder weisungsgebunden seien und jederzeit abberufen werden könnten, was im Widerspruch zum freien Mandat stehe 122. Diese Sichtweise geht entweder von einem idealtypischen Bild einer Volksvertretung oder vom Senatsprinzip aus. Damit würde der Bundesrat an den Maßstäben gemessen, wie sie seit Beginn der Französischen Revolution für Volksvertretungen aufgestellt wurden. „Das ist aber das idealtypische Bild einer Volksvertretung, nicht einer föderativen Vertretung“ 123. Hier liegt die gleiche Verwechslung vor wie bei der Frage nach der Legitimation des Bundesrates und der Vereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat. Mißt man den demokratischen Bundesstaat nur an der Elle der Demokratie, müssen die Mitentscheidungen des Bundesrates als Durchbrechung des demokratischen Willens erscheinen. Da das Grundgesetz aber einen demokratischen Bundesstaat konstruiert hat, werden seine Entscheidungen, aber auch das Organ Bundesrat, nicht nur demokratisch, sondern auch bundesstaatlich legitimiert. Es ist also zwischen Volksvertretung und Parlament 118
Ähnlich Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (182); Stern, Staatsrecht II, § 27 II. 2. c). Münchener Rechtslexikon, S. 1320; Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 98 f.; ähnlich Herzog, Zweikammersystem, EvStLex, Sp. 4109.; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 250. 120 Schmidt, Die Struktur der Zweiten Kammer im Rechtsvergleich, S. 119; Herzog, Zweikammersystem, EvStLex, Sp. 4109; vgl. a. Groß, ZaöRV 2003, S. 29 (31); Ziller, Zum Spannungsverhältnis zwischen Bundestag und Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren, S. 135 (151 f.). 121 Karpen, Plurality in Unity, S. 173, Koja, Allgemeine Staatslehre, S. 178; Schmidt, Die Struktur der Zweiten Kammer im Rechtsvergleich, S. 32. 122 Z. B. Vonderbeck, Der Bundesrat, S. 106 ff., 110; Sturm, APuZ 29 –30/2003, S. 24.; w.N. bei Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 51. 123 Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 51. 119
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zu unterscheiden. Hinsichtlich des zweiten Arguments ist zu bemerken, daß es keinen Grund gibt, den Begriff der Zweiten Kammer auf Senate zu beschränken. Eine Zweite Kammer muß nicht Teil eines einheitlichen Parlaments sein, um als solche qualifiziert werden zu können. Dennoch ist der Bundesrat nicht Teil eines einheitlichen Parlaments. Das Grundgesetz sieht kein einheitliches Organ vor, sondern kreiert die „für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften“ (Art. 59 Abs. 2 GG). Bundestag und Bundesrat sind damit zwei Teile der funktional einheitlichen Legislative, auch wenn diese sich nicht institutionell einheitlich darstellt. Mit der Politkwissenschaft läßt sich definieren: strukturell nichtparlamentarische, funktionell parlamentarische Zweite Kammer 124. Da der Bundesrat („nur“) die Funktion einer Zweiten Kammer ausübt, stellt sich die Frage, ob das immer der Fall ist oder nur bisweilen. Angesichts der unterschiedlichen Verfahrensmodelle Zustimmungs- und Einspruchsgesetzgebung könnten sich hier Unterschiede ergeben. Im Falle der Zustimmungsgesetzgebung ist der Bundesrat dem Bundestag gegenüber vollständig gleichberechtigt. Der Bundesrat muß dem Gesetzesvorhaben ausdrücklich zustimmen. Bei Zustimmungsgesetzen tragen beide Organe die gemeinsame Verantwortung für das Gesetz. Die demokratische Legitimation geht von Bundes- und Landesvölkern aus. Bei der Einspruchsgesetzgebung kann der Bundesrat nur Einspruch einlegen, der überdies vom Bundestag zurückgewiesen werden kann. Eine inhaltliche Gestaltungsbefugnis geht damit ebensowenig einher. Bundestag und Bundesrat sind bei Einspruchgesetzen nicht gleichberechtigt; die Legitimation geht vom Bundesvolk aus. Daher übt der Bundesrat die Funktion der Zweiten Kammer nur bei Zustimmungsgesetzen aus. Hiergegen könnte eingewendet werden, der Charakter einer Zweiten Kammer könne nicht jeweils aus der im Einzelfall wahrgenommenen Zuständigkeit hergeleitet werden, sondern müsse aus der ganzheitlichen Betrachtung des Organs, seiner Struktur und seiner Funktionen erkannt werden 125. Hiergegen spricht aber, daß der Bundesrat „nur“ seiner Funktion nach Zweite Kammer ist, wie soeben herausgearbeitet wurde. Das bedeutet, daß sich seine Funktion je nach Gegenstand auch ändern kann. Die Frage muß daher lauten: „Wann nimmt der Bundesrat die Funktion einer Zweiten Kammer (in der Gesetzgebung) wahr?“ Da die Antwort darauf unterschiedlich ausfallen kann, ist eine pauschale Antwort nicht nötig. Sie ist auch, wie sich gerade gezeigt hat, nicht möglich, da je nach Gesetzgebungstypus die Befugnisse des Organs variieren. Es zeigt sich, daß im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes auch bei detaillierten Einzelfragen eine undifferenzierte Antwort nicht möglich ist. Der versprochene Erkenntnisgewinn liegt in folgendem: Die Tatsache, daß der Bundesrat bei der Zustimmungsgesetzgebung eine funktionale Kammer ist 124 125
Steffani, Die Republik der Landesfürsten, S. 66; ders., ZParl 1985, S. 219 (226). Vonderbeck, Der Bundesrat, S. 109.
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und daß bei Zweikammersystemen stets das Volk in Einheit und Vielheit erscheint, relativiert das Problem der Vereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat. Denn nach dieser Klarstellung wandelt sich das Problem in eines von allen Zweikammersystemen oder könnte ebensogut bei einem Oberhaus adeliger Zusammensetzung erscheinen. Es ist aber nicht bekannt, daß in diesen Fällen ein ähnlicher Theorieaufwand betrieben würde, etwa in Großbritannien mit seinem Oberhaus. Das Problem liegt also woanders. Es ist ein Definitionsproblem in der Theorie von Demokratie und Bundesstaat und eine Frage speziell der deutschen Staatsrechtslehre. b) Verfassungsänderung Daß die Länder einen hälftigen Beitrag zu Entstehung und Legitimation des Grundgesetzes beigetragen haben, wurde bereits dargestellt. Eine gleichberechtigte Rolle kommt ihnen und damit dem föderalen Element auch bei der Verfassungsänderung zu. Die Verfassungsänderung ist in Art. 79 Abs. 2 GG geregelt. Danach bedarf ein verfassungsänderndes Gesetz der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Es müssen also beide bundesstaatlichen Ebenen zustimmen; keine kann die andere überstimmen. Die Legitimation von Verfassungsänderungen durch den Bundesrat wird vom Grundgesetz also als gleichbedeutend mit der Legitimation durch den Bundestag eingeordnet 126. Daher sind beide Organe gleichberechtigt, damit auch die Bundesgegenüber der Landesebene, und letztlich ist die demokratische Legitimation durch das Bundesvolk und die Landesvölker gegeben. Daß die Länder dem Bund bei der Verfassungsänderung ebenbürtig sind, bestätigt auch das Ergebnis der Verfassungsentstehung und -legitimation zu gleichen Teilen. Es schreibt damit erstens folgerichtig ausdrücklich in der Verfassung das fort, was oben bei der Entstehung des Grundgesetzes ermittelt wurde. Zweitens wäre es widersprüchlich, wenn das Grundgesetz den Ländern bei Verfassungsänderungen eine bedeutende Rolle zumessen, ihnen bei der Verfassungsentstehung aber nur eine untergeordnete Bedeutung geben würde. Daher ist es folgerichtig, bei Verfassungsentstehung und -änderung eine gleichberechtigte Rolle der Bundes- und Landesebene anzunehmen. c) Sonstige Verfahren Bei Zwangsmaßnahmen des Bundes gegenüber einem Land ist die Maßnahme entweder von der Zustimmung des Bundesrates abhängig (Art. 37 GG – Bundes126
Herzog, HbStR III, § 57, Rn. 30; Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates und ihre Inanspruchnahme, S. 94 ff.; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 198.
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zwang), oder das Land kann die Beendigung einer Maßnahme verlangen (Art. 91 GG – Innerer Notstand; Art. 87a GG – Streitkräfte). Daher werden diese demokratisch von den Landesvölkern gemeinsam mit dem Bundesvolk ausgeübt 127. Es gibt insoweit keine Unterordnung der Länder unter den Bund. Alle Zwangsmaßnahmen sind davon abhängig, daß der Bundesrat vorher zustimmt oder nicht widerspricht 128. Diese Maßnahmen sind freilich zu unterscheiden von der Bundesaufsicht nach Art. 84 GG und der Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG. Hier bleibt es grundsätzlich 129 bei einem Unterordnungsverhältnis. Weiterhin doppelt demokratisch legitimiert ist das Verfahren nach Art. 23 Abs. 2 GG. Nach dieser Vorschrift „wirken durch den Bundesrat die Länder“ in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Hier sind weniger meßbare Einspruchs- und Zustimmungserfordernisse der Länder zu beachten. Das Geflecht des Art. 23 GG läuft auf eine Kooperation von Bund und Ländern hinaus. Deren Gesamtwirkung erlaubt es, im Ergebnis ebenfalls von einer zweifachen demokratischen Legitimation zu sprechen 130. Gleiches gilt für die Wahl der Bundesrichter. Nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG wählen der Bundesrat und der Bundestag selbständig je die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Die demokratische Legitimation geht damit von den Landesvölkern und dem Bundesvolk aus 131. Die Bestellung der Bundesrichter regelt Art. 95 Abs. 2 GG. Danach entscheidet der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß. Dieser besteht jeweils zur Hälfte aus den zuständigen Länderministern und Mitgliedern des Bundestages. Da der Richterwahlausschuß mit einfacher Mehrheit der Stimmen entscheidet, kommt eine Mehrheit nicht gegen die Stimmen aller Landesminister zustande 132. Bei der Entscheidung besteht also Einigungszwang: Entscheidet sich der Bundesminister oder der Richterwahlausschuß gegen die Berufung, findet sie nicht statt 133. Das Grundgesetz verlangt daher auch hier eine gemeinsame Entscheidung 134, beide bundesstaatlichen Ebenen müssen kooperieren, um Bundesrichter zu berufen.
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Ausführlich Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 200 f. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 201. 129 Hier gibt es gleichwohl ein Mitspracherecht des Bundesrates (Art. 84 Abs. 4 GG). 130 Vgl. ebenso Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 202 f. 131 Ebenso Geck, Wahl und Amtsrecht der Bundesverfassungsrichter, S. 25; Billing, Richterwahl, S. 283 ff. „föderal begründete und deshalb zulässige Beschränkung des Prinzips demokratischer Legitimation“; zur Praxis Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 95, Rn. 14; Pieper, Verfassungsrichterwahlen, S. 29 ff. 132 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 204. 133 Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 95, Rn. 36 f. 134 Blümel, HbStR IV, § 102, Rn. 23. 128
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
3. Die Entscheidungen auf Landesebene Die Landesebene betreffend ist die Frage nach der Legitimation einfacher zu beantworten. Sofern die Länder im Bereich der hier in Rede stehenden Gesetzgebung zuständig sind, gehen vom Landesgesetzgeber erlassene Gesetze auf das Landesvolk zurück. Sie beruhen auf einem einheitlichen Landeswillen. Hier manifestiert sich damit originäre staatliche Entscheidungsgewalt mit reiner demokratischer Legitimation, unabhängig von den anderen Ländern, dem Bund oder gar den Gemeinden 135. 4. Zwischenergebnis: Gemeinsame Legitimation staatlicher Entscheidungen Der Bundesrat erweist sich also aus den vorgenannten Gründen als dem Bundestag gleichberechtigtes Organ, soweit er zustimmen muß. Dies ist bei Verfassungsänderungen und bei mehr als 50% der Gesetze sowie bei allen sonstigen Verfahren der Fall. Diese Konstruktion der Gleichberechtigung kennt die deutsche Verfassungsgeschichte: mit dem Verhältnis von Staaten- zu Volkshaus in der Paulskirchenverfassung. Die Entscheidungen im demokratischen Bundesstaat sind – sofern das Grundgesetz die Beteiligung der Länder fordert – zweifach legitimiert: demokratisch und föderal. Dabei läßt sich die föderale Legitimation wiederum auch auf einen demokratischen Akt zurückführen, den in den Ländern. Es besteht insoweit ein Verbundkonzept zweifacher Legitimation im demokratischen Bundesstaat. Durch diese gemeinsame Legitimation trägt der Bundesrat auch die Mitverantwortung für das ganze Gesetz, das als Einheit zu sehen ist. Im übrigen sind die ausschließlich auf Bundesebene zu treffenden Entscheidungen auch ausschließlich durch das Bundesvolk legitimiert. Entsprechendes gilt auf Landesebene für die Landesvölker. Es besteht also ein entscheidungsspezifisches Kombinationsmodell, bei dem je nach Entscheidung eine Gleichberechtigung festzustellen ist. Es läßt sich weder pauschal eine Vorherrschaft des Bundes noch der Länder bestimmen. Weder besteht eine ständige Gleichberechtigung des Bundesrates noch eine Vormachtstellung des Bundestages. Damit besteht auch keine grundsätzliche Präponderanz des Demokratieprinzips. Ob eine solche besteht läßt sich nur im Einzelfall nach Art des Gesetzes feststellen. Das bedeutet: Bei Einspruchsgesetzen besteht eine Vorrangstellung des Demokratieprinzips, bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen ein Gleichgewicht beider Prinzipien.
135 Ein solcher „doppelter Föderalismus“ hinsichtlich der Gemeinden, wie er in einigen Bundesstaaten der USA besteht, widerspricht deren Status als Teil der mittelbaren Landesverwaltung. Für die europäische Ebene wäre er denkbar.
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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III. Endergebnis: Eigenständige bzw. gemeinschaftliche politische Willensbildung und demokratische Legitimation im Bundesstaat Damit können Hanebecks Überlegungen zur Legitimation zum Bestandteil einer Theorie des demokratischen Bundesstaates werden: Im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes „sind die Landesvölker und das Gesamtvolk eigenständige Subjekte demokratischer Legitimation, aber gleichzeitig in ein gemeinsames, Landesvölker und Gesamtvolk umfassendes Ganzes eingeordnet. Diese Einordnung hebt die Eigenständigkeit jedes Legitimationssubjekts nicht zugunsten der anderen Ebene auf. Ein allein entscheidungsfähiger Souverän existiert nicht“ 136. Sein Modell ist aber dahin zu präzisieren, daß die Existenz der Einspruchsgesetze, welche de facto weniger als 50% ausmachen, verfassungsrechtlich aber die Regel darstellen, eine absolute Gleichberechtigung des Bundesrates verhindern. Ob eine Gleichberechtigung besteht, läßt sich nur nach Art des Gesetzes (Einspruchsgesetz, Zustimmungsgesetz) feststellen. Der Bundesrat ist überwiegend, aber nicht stets gleichberechtigt. Vielmehr ergibt sich auch hier, daß im demokratischen Bundesstaat absolute Begriffe und Verallgemeinerungen fehl am Platze sind. Ein Indiz für die Gemäßigtheit dieser Verfassung. Weiterhin folgt aus den vorstehenden Überlegungen, daß die Länder Zentren eigenständiger politischer Willensbildung und damit staatlicher Legitimation sind. Es ist daher nicht gestattet, den Bundesstaat auf ein reines Organisationsprinzip zu reduzieren. Der entscheidende Unterschied zwischen Gliedstaaten und Selbstverwaltungskörperschaften besteht darin, daß bei Gliedstaaten die staatliche Gewalt unabgeleitet, während sie bei Selbstverwaltungskörperschaften abgeleitet ist 137. Dies ist mit der ursprünglichen demokratischen Entscheidung des Wahlvolkes in den Ländern der Fall. Dementsprechend sind die Landesvölker weder bloße Teile des Gesamtvolkes, noch existieren sie in einem metaphorischen Sinn. Vielmehr sind die Landesvölker eigenständige Einheiten demokratischer Legitimation. Daher existieren das Bundesvolk und eigenständige Landesvölker. Als Ergebnis bleibt also festzuhalten, daß der Staatsorganisation des Bundesstaates noch hinreichend föderale Elemente zu entnehmen sind. Dies verbietet es, den Bundesstaat des Grundgesetzes als Bund ohne bündische Grundlage zu bezeichnen, eine Sichtweise, die noch aus Weimarer Zeiten stammt. Der verfassungshistorische Rückblick, die Betrachtungen von Entstehung des Grundgesetzes und staatlicher Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland ergaben, 136
Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 271. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, S. 489, zit. n. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 II, Rn. 10 m.w. N. 137
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
daß mit dem Grundgesetz, was seine Bundesstaatlichkeit betrifft, eine bewußte Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung und ein bewußter föderativer Aufbau zu erkennen sind. Eine Sichtweise vom Bund ohne bündische Grundlage nach Schmittscher oder Hessescher Art ist daher für das Grundgesetz unzutreffend, hinsichtlich der langen deutschen föderalen Tradition ahistorisch und führt dazu, daß man den Bundesstaat nicht versteht, er auch nicht funktionieren kann und es zu verstärkter bzw. beschleunigter Unitarisierung kommt. Der Föderalismusbegriff des Grundgesetzes ist (noch immer) von einer bündischen Qualität, genauer gesagt einer auch-bündischen. Es läßt sich eine Mischung aus einheitsstaatlicher und bündischer Organisation feststellen. Ohne ein bündisches Verständnis, d. h. nur mit einem zentralistisch-demokratischen Verständnis des Grundgesetzes, müssen die föderalen Elemente der Verfassung, wie der Bundesrat, die Länder als Staaten, die Landesvölker, als störend empfunden werden. Dementsprechend wird von einigen Autoren den Landesvölkern oder den Ländern zum Teil nur symbolische Bedeutung beigemessen. Dabei ergibt sich aus der vorstehenden Betrachtung gerade auch im Vergleich des Grundgesetzes mit seinem direkten zeitlichen Vorgänger, der Weimarer Reichsverfassung, ein stärkeres föderales Element. Dort war die Mitwirkung der Länder bei Verfassungsgebung, Verfassungsänderung und Gesetzgebung zwar vorhanden, aber untergeordnet. Die Verfassung trug daher einen unitarischen Charakter. Im Grundgesetz hingegen läßt sich eine ungleich größere Bedeutung der Länder und (wieder) deren gleichberechtigte Mitwirkung feststellen. Die Auseinandersetzung mit der These vom Bundesstaat als reinem Organisationsmodell hat ferner zu dem Ergebnis geführt, daß in diesem Staat noch eine hinreichende föderale Grundlage besteht. Das verwehrt es Wissenschaft und Politik, ihn nur von der Zentrale her zu deuten. Die Entscheidungen sind in einem entscheidungsspezifischen Verbundkonzept auf zweifache Weise demokratisch legitimiert: durch die Landesvölker und das Bundesvolk. Dies gilt freilich nur, sofern das Grundgesetz die Beteiligung beider Ebenen fordert. Im übrigen entscheiden beide Ebenen selbständig. Das Bundesstaatsprinzip des Grundgesetzes erweist sich als ein Prinzip mehrfacher demokratischer Legitimation: auf Bundesebene, auf Länderebene, auf gesamtsstaatlicher Ebene. Nochmals: Bundesstaat und Demokratie können nur zusammen gedacht werden. Die Frage nach der Auslegung des Föderalismus im demokratischen Bundesstaat ist damit beantwortet.
C. Demokratie Die obige Analyse hatte ergeben, daß eine Unvereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat nur bei einem monistischen Demokratieverständnis festzustellen ist. Wie ist also Demokratie im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes statt dessen auszulegen?
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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I. Plurale statt monistische Demokratie Demokratie ist in der gemischten Verfassung des Grundgesetzes in bezug auf den Bundesstaat zu interpretieren. Aus den obigen Überlegungen folgt, daß Demokratie und Bundesstaat nicht miteinander vereinbar sind, wenn an einem Demokratiebegriff (und einem Parlaments- bzw. Repräsentationsverständnis) festgehalten wird, der radikal demokratisch 138 ist und letztlich an einem monarchischen Einheitsverständnis festhält. Dies sollte bereits deshalb nicht statthaft sein, weil das Zeitalter der Monarchie schon lange verlassen wurde. Das Grundgesetz ist eine rein republikanische und demokratische Verfassung. Seine Auslegung kann nicht anhand von Modellen erfolgen, welche ihre Wurzeln im monarchischen Zeitalter haben. Dagegen könnte aber sprechen, daß in Deutschland aufgrund der verfassungshistorischen Entwicklung, wie zum Teil vertreten wird 139, die Monarchie durch die Demokratie ersetzt wurde und sich insofern argumentieren ließe, es müsse ein hierarchisches und monistisches Demokratieverständnis beibehalten werden. Diese Sichtweise wäre jedoch erstens der gleiche Schritt, den Rousseau ging, als er für die Demokratie den Einheitsgedanken von Hobbes übernahm, der letztlich zur Unvereinbarkeit führte. Diesem Irrtum sitzen auch diejenigen auf, die auf Legitimationsebene den Monarchen nur durch das Volk ersetzen, aber gleichzeitig auf der Herrschaftsebene bei der monistischen Konzeption blieben, ohne sie durch die pluralistische ersetzt zu haben. Nur so entstand das Dogma der Unvereinbarkeit. Selbst wenn dem so wäre, ist die Demokratie jedoch keine Idee, welche, wie die Monarchie, aufgrund der Vereinigung aller Staatsgewalt in einer Person zwingend eines einheitlichen monolithischen Korsetts bedarf. Die Demokratie geht bereits aufgrund der unterschiedlichen Veranlagung der Menschen von der Vielfalt der Meinungen, also der Pluralität der Interessen, aus, zwischen denen im politischen Wettbewerb entschieden wird, so daß für ein einheitliches Demokratieverständnis kein Raum ist. Durch die Entscheidung für den Bundesstaat geht das Grundgesetz davon aus, daß es auch räumlich unterschiedliche Interessen und daher plurale Willensbildung geben kann. Die gemischte Verfassung des Grundgesetzes weist dem Bundesstaat einen Platz neben der Demokratie zu und schreibt seine gleichberechtigte Teilnahme an der Willensbildung fest, weshalb es auch keine Präponderanz des Demokratieprinzips gibt (vgl. daneben auch Art. 79 Abs. 3 GG). Es ist nicht von einer „monarchischen“ Demokratie im Sinne einer einheitlich-monolithischen, sondern von einer pluralen und konstitutionellen Demokratie im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes auszugehen. 138
Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 280. Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, S. 289 (293); Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (262); Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 125. 139
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Für die Gleichberechtigung und die symbiotische Entwicklung beider Prinzipien spricht weiterhin, daß in Deutschland eine gleichzeitige Entwicklung von Einheits- und Bundesstaatsgedanke stattgefunden hat. Die staatliche nationale Einheit Deutschlands wurde als Bundesstaat vollendet. Nationale Einheit und Bundesstaat sind auch daher keine Gegensätze. Schließlich hat die Analyse der bundesdeutschen Verfassungsgebung und der staatlichen Entscheidungen ergeben, daß Bundes- und Landesvölker gleichberechtigte Legitimationssubjekte sind. Der gleichzeitige bundesstaatliche Aufbau färbt daher auf die Demokratie ab. Aus diesen Gründen geht das Grundgesetz nicht von einem radikalegalitären Demokratiebegriff aus, der ein einheitliches Legitimationssubjekt annimmt, sondern von einem pluralen, das Länder- und Bundeswillen kennt. Der demokratische Bundesstaat sperrt sich also gegen jegliche radikale oder totalitäre Auslegung des Demokratieprinzips mit einem vorgefundenen Volkswillen, gleich von welcher Seite her. Auch insoweit präsentiert sich das Grundgesetz als gemäßigte Verfassung. Die Willensbildung der Länder und des Bundes sowie die gemeinsame Verfassung gehen nicht auf einen einzigen Legitimationsursprung zurück, sondern sind plural demokratisch legitimiert. Unter den verschiedenen pluralen Demokratietheorien ist hier freilich Differenzierung geboten. Aufgrund der anzuerkennenden Vielzahl von Interessen unter Ablehnung eines Gemeinwohls a priori stellt sich die Frage, wie dennoch eine Integration dieser Vielheit möglich ist. Die pluralen Demokratietheorien reichen dabei von zweifacher, d. h. bundesstaatlicher, bis zur unendlichen, individualistischen Sichtweise. Eine Lösung ist nur in einem Konzept zu finden, welches die Interessenvielheit anerkennt, aber gleichzeitig das Ganze nicht aus den Augen verliert. Dies hat in tatsächlicher (dazu sogleich) wie in theoretischkonstruktiver Hinsicht der Repräsentation der Interessen (dazu unten 2.) zu erfolgen. Eine gewisse Homogenität der in einem Verband zusammengefaßten Menschen ist Vorbedingung jeder stabilen Ordnung. Nur auf diese Weise kann ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts der Bürger entstehen, das Gefühl der Identifizierung mit dem Gemeinwesen, das Grundlage für das tägliche Zusammenleben ist, das aber auch in Ausnahmefällen das Ganze sprengende Konflikte vermeidet. Gerade der demokratische Bundesstaat ist auf ein Mindestmaß an Homogenität seiner Bürger angewiesen: Unter dem Gesichtspunkt des Bundesstaates ist er es, weil er ansonsten Gefahr läuft, zentrifugalen Tendenzen zu unterliegen; in demokratischer Hinsicht, weil erst die Grundlage einer gewissen Homogenität es ermöglicht, daß die Bürger bereit sind, Mehrheitsentscheidungen hinzunehmen 140. Schließlich vermag angesichts der pluralistischen Demokratie im demokratischen Bundesstaat ein Minimum an Homogenität ein Gefühl für das Ganze im Gegensatz zum Gruppeninteresse 140
Böckenförde, HbStR I, § 22, Rn. 47, 63 ff.; Kirchhof, HbStR IX, § 221, Rn. 16.
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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als Integrationsquelle herzustellen 141. Pluralismus setzt daher ein Mindestmaß an Homogenität voraus. Abzulehnen ist jedoch eine absolute Homogenität und ein absolutes Demokratieverständnis, wie sie Schmitt fordert, da sie eine zweite legitimierende Ebene im Bundesstaat aus den genennten Gründen denklogisch unmöglich machen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist eine gewisse Gleichgerichtetheit, ein Mindeststandard an vorrechtlicher Homogenität. Wie diese zu definieren ist, ist zunächst zweitrangig. Sie kann national, ethnisch, religiös, sprachlich, kulturell oder geschichtlich sein 142. Die Homogenität ist also eine tatsächliche. Aus dieser tatsächlichen Homogenität macht Schmitt eine verfassungstheoretische, die er dann als absolut betrachtet. Daraus entwickelt er sein absolutes oder mit anderen Worten radikales Demokratieverständnis. Dem demokratischen Bundesstaat liegt weder eine atomisierte Pluralität noch eine totale, sondern eine relative Homogenität 143 zugrunde. Dieser ausgewogenen Homogenität entspricht das Gleichgewicht von Partikularinteressen und Gemeinwohl in der Repräsentation. Angesichts dieses gemäßigten Verständnisses von Homogentiät erweist sich auch hier das Grundgesetz als Verfassung des Maßes. II. Liberale statt symbolische Repräsentation Welche Auswirkung hat schließlich die Konstruktion des demokratischen Bundesstaates auf das Repräsentationsverständnis? Oder ist es gar so, daß der Gedanke der Repräsentation angesichts der Vereinigung von Demokratie und Bundesstaat in einer Verfassung unmöglich wird, „nicht mehr hinreicht“ und durch direktdemokratische Elemente ersetzt werden muß 144? Richtigerweise liegt dem demokratischen Bundesstaat ein liberales Repräsentationsverständnis zugrunde, das die Existenz pluraler und individueller Interessen mit dem Gemeinwohlgedanken verbindet. Dies ergibt sich aus dem Zusammenspiel des Bundesstaates mit der Demokratie. Hier sind zunächst aufgrund der engen Verknüpfung zwischen monistischem Demokratiebegriff und symbolischer Repräsentationsidee 145 die Gründe anzuführen, die gegen diesen Demokratiebegriff sprechen: In einer Demokratie einheitlicher monolithischer 141 Zu weiteren Integrationsquellen in der pluralistischen Gesellschaft Herzog, Pluralismus, Pluralistische Gesellschaft, EvStLex, Sp. 2539 (2544 ff., hier 2545). 142 Böckenförde, HbStR I, § 22, Rn. 64. 143 BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht – unter Bezugnahme auf Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 (427 ff.); Böckenförde, HbStR I, § 22, Rn. 63. 144 Lhotta, Föderalismus und Demokratie, S. 35 ff. (48, 54); Beyme, Theorie der Politik, S. 141. 145 s.o. 2. Kap., A. I. 1.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Geschlossenheit muß die Existenz einer zweiten – föderalen – Ebene demokratischer Legitimation als Fremdkörper erscheinen. Gleiches gilt für einen Repräsentationsbegriff, der auf die „Darstellung politischer Einheit“ 146 gerichtet ist. Existiert ein fiktiver Gesamtwille der Repräsentierten, wie diese Theorie annimmt, darf er nicht um den einer anderen Ebene ergänzt werden. Gäbe es einen wahren Volkswillen, gleichsam eine volonté générale, kann eine abweichende Bundesratsmehrheit nur als undemokratisch angesehen werden. Ein fiktiver Gesamtwille widerspricht daher dem bundesstaatlichen Aufbau des Grundgesetzes, der zwei Ebenen der Willensbildung kennt. Das symbolische Verständnis von Repräsentation löst die Theorie der demokratischen Legitimation aus dem Gesamtzusammenhang des Verfassungsstaates, der sich nicht auf die Einrichtung eines repräsentativen Verfahrens der staatlichen Willensbildung beschränkt, sondern die Staatsgewalt auf ein föderal und funktional gegliedertes System verteilt. Gegen einen fiktiven Gesamtwillen sprechen ferner die von der Verfassung vereinzelt vorgeschriebenen auch materiellen Gehalte: die Demokratie als Wertordnung, die Grundrechte, die Staatsziele und die allgemeinen Regeln des Völkerrechts als einem für alle verbindlichen Rahmen inhaltlicher Grundstandards 147. Repräsentation ist daher eine Methode, um für eine als solche handlungsunfähige Gruppe einen autonomen Willen zu bilden 148, indem gewählte Vertreter beauftragt werden, für die gesamte Gruppe Beschlüsse zu fassen. Auf staatstheoretischer Ebene wird sich die Repräsentation ferner als Mittel erweisen, um zwischen Legitimation und Souveränität, d. h. zwischen dem Legitimationssubjekt Volk und souveräner Herrschaftsgewalt, zu vermitteln 149. Dies führt zur Begrenzung des responsiven Repräsentationsverständnisses zur anderen Seite hin: Es erweisen sich direktdemokratische Elemente als ungeeignet, da eben im großflächigen modernen Massenstaat die Repräsentation unverzichtbar ist. Auch aus der Vereinigung von Demokratie und Bundesstaat läßt sich, entgegen vereinzelter Stimmen 150, nichts anderes herleiten, als eben der Verzicht auf die symbolische Repräsentation mit ihrem fiktiven Gesamtwillen, also auch nichts für die direkte Demokratie. Plebiszitäre Demokratie ist vielmehr letztlich die konsequente Weiterführung der Annahme einer absoluten und unteilbaren Volkssouveränität 151, denn „da Gesetze nichts anderes als die ei146
Hammanns, Das politische Denken der neueren Staatslehre in der Bundesrepublik,
S. 79. 147
Ähnlich Groß, Kollegialprinzip, S. 176; Bryde, VVDStRL 46 (1988), S. 181 (190). Pollmann, Repräsentation und Organschaft, S. 45; ähnlich Meyn, Kontrolle als Verwaltungsprinzip, S. 292; Böckenförde, Mittelbare / repräsentative Demokratie, S. 301 (309); Groß, Kollegialprinzip, S. 176. 149 s.u. D. II. 150 Lhotta, Föderalismus und Demokratie, S. 35 ff. (48, 54); Beyme, Theorie der Politik, S. 141. 151 Vgl. Speth, Rousseau, S. 118 (124); Schwan, Politische Theorien, S. 157 (226 f.). 148
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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gentlichen Akte des Gemeinwillens sind, kann der Souverän nur handeln, wenn das Volk versammelt ist“ 152. Für einen vorverfassungsmäßigen Allgemeinwillen ist im demokratischen Bundesstaat kein Raum. Darüber hinaus sind Gedanken der permanenten Rückkopplung, die – weitergedacht – zum imperativen Mandat führen, unzulässig. Bereits organisationstheoretisch spricht das Prinzip der Repräsentation für eine Unabhängigkeit des Abgeordneten. Die Einsetzung eines Vertretungsorgans setzt ein gewisses Maß an Autonomie voraus 153. Ein vollkommen Weisungsabhängiger ohne eigenen Entscheidungsspielraum kann andere nicht repräsentieren, weil er keine Verantwortung trägt 154. Nur in der Eigenständigkeit der delegierten Entscheidungsfindung kann sich ihr Rationalisierungseffekt entfalten 155. Dagegen spricht weiterhin das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Danach sind die Mitglieder des Bundestages Repräsentanten des gesamten Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Dies ist nicht nur eine Reaktion auf die in einer Großorganisation nicht überwindbaren praktischen Schwierigkeiten eines imperativen Mandats 156, sondern auch eine Absage des Verfassungsgebers an die Theorie des imperativen Mandats 157. Die Rückkopplung erfolgt, wie sich auch aus der Gesamtschau mit Art. 21 GG ergibt, über die weltanschauungs- und interessengebundenen Parteien. Selbst wenn direktdemokratische Verfahren, etwa auf kommunaler Ebene, eingesetzt werden, bedürfen diese der Vorformung der abstimmungsfähigen Alternativen. Die Leistung wird in der Regel von Parteien erbracht. Selbst wenn nicht, erfolgt auf jeden Fall eine Vorformung der Meinungen, die letztlich nichts anderes ist als eine „verdeckte Repräsentation“ 158. Schließlich sorgt die periodische Wiederkehr für die notwendige Kontrolle. Daneben dient auch, auf der tatsächlichen Ebene, die Berichterstattung oder die grundrechtlich geschützte freie öffentliche Diskussion als Rückkopplungsmechanismus.
152
Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 3. Buch, 12. Kap. Pitkin, The Concept of Representation, S. 152; bereits v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Band 2, S. 202, zit. n. Groß, Kollegialprinzip, S. 177, Fn. 80. 154 Böckenförde, Mittelbare / repräsentative Demokratie, S. 301 (315); Groß, Kollegialprinzip, S. 177. 155 Groß, Kollegialprinzip, S. 177. 156 So anscheinend Groß, Kollegialprinzip, S. 177 mit Verweis auf Müller, Das freie und das imperative Mandat; Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, S. 75 ff. 157 Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR n.F. 1 (1951), Art. 38, S. 355; vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 38, Rn. 12 m.w. N. 158 Dreier, Jura 1997, S. 249 (251); von einer anderen Art der Mediatisierung spricht Badura, Die politische Freiheit der Demokratie, S. 193 (207). 153
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Im demokratischen Bundesstaat nun steht mit den häufig stattfindenden Wahlen im Bund und in den Ländern gerade ein Mittel zur Verfügung, ständige demokratische Einflußnahme des Wählers zu gewährleisten. Er kann seinen Willen demokratisch und föderal zum Ausdruck bringen, der sich über seine jeweilige Landesregierung und den Bundesrat bei gegebener Zuständigkeit auch auf Bundesebene auswirkt. Die föderale Vervielfachung ist somit auch eine demokratische Vervielfachung. Eine mögliche Nichtzustimmung im Bundesrat wäre mithin eine demokratische Entscheidung (und nicht etwa eine „Blockade“). Mit diesem bundesstaatlichen Mehr an Demokratie stehen ausreichend demokratische Einflußmöglichkeiten zur Verfügung. Zudem vermeiden sie die anderen angeführten Nachteile direkter Demokratie. Selbst wenn man die Nichtzustimmung des Bundesrates anders werten sollte, lassen sich Meinungsunterschiede und die komplexen Konfliktlagen zwischen der nationalen und der föderalen Ebene demokratischer Legitimation nicht mit plebiszitären Elementen beheben. Die Weimarer Reichsverfassung sah zwar die Möglichkeit vor, Einsprüche des Reichsrates durch einen Volksentscheid zu überstimmen (Art. 74 Abs. 3 Satz 2 WRV), allerdings ist dieses Verfahren nie angewendet worden. Würde man heute ein solches Instrument einführen, hätte dies eine (weitere) Schwächung der Länder und einen (weiteren) Unitarisierungsschub zur Folge 159, was weder rechtlich mit dem Bundesstaatsprinzip vereinbar, noch rechtspolitisch wünschenswert wäre. Im übrigen bedeutet gerade im demokratischen Bundesstaat die der Politik aufgetragene politische Verantwortung nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht zur Lösung von Aufgaben, derer sie sich nicht ohne weiteres entledigen kann, indem sie die Verantwortung an das Volk zurückgibt, wenn es schwierig wird. Regieren in Staaten mit komplexen Verfassungen ist schwieriger als in Staaten mit einfachen. Der demokratische Bundesstaat verlangt seinen politischen Führern viel ab. Es bewahrheitet sich wiederum die Lehre, daß der Bundesstaat der Machthemmung dient, oder umgekehrt, daß absolute Macht zu einfachen Systemen neigt. Demokratische Legitimation bedeutet also nicht, daß das Volk auf jede Einzelentscheidung Einfluß nehmen kann 160. Es ist zu differenzieren. Die Deutung der Repräsentation im Gesamtkontext der Verfassung ergibt, daß auf Zeit gewählte Vertreter für andere verbindliche Entscheidungen treffen dürfen, ohne daß es neben der Wahl besondere verbindliche Mechanismen zur Herstellung inhaltlicher Übereinstimmung zwischen Wählern und Gewählten gibt 161. Daher sind direktdemokratische Elemente rechtlich systemfremd und tatsächlich nicht durchführbar. Weiterhin gibt es in der pluralen Demokratie und im demokratischen Bundesstaat keinen a priorischen Gesamtwillen oder wie in Weimar die 159
Vgl. a. Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 195. Fichtmüller, AöR 91 (1966), S. 297 (318 f.); Müller, JuS 1986, S. 497 (503); Groß, Kollegialprinzip, S. 178. 161 Ebenso Meyn, Kontrolle als Verwaltungsprinzip, S. 294; Röhl, Der Wissenschaftsrat, S. 131 f.; Groß, Kollegialprinzip, S. 179. 160
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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Notwendigkeit, aus dem Gefühl des Ausnahmezustandes oder des angeblichen Zerfalls der Nation heraus das Parlament als Repräsentant der nationalen Einheit zu verstehen. Da die staatliche Gemeinschaft jedoch mehr ist als nur die Summe der Einzelwillen, gibt es sehr wohl ein Gemeinwohl, das nicht vordenklich besteht, sondern sich demokratisch ergibt. Daher liegt dem Grundgesetz weder ein responsives noch ein libertäres Repräsentationsverständnis zugrunde. Ein weiterer Aspekt, weshalb sich das Grundgesetz als gemäßigte Verfassung darstellt. Ein derart gemäßigtes Repräsentationsverständnis, wie es letztlich auf den Federalist zurückgeht 162, ermöglicht die Berücksichtigung der Einzelinteressen und die Wahrung der Belange der Gesamtheit, indem es die Einzelinteressen mit der Vorstellung eines Gesamtwohls verbindet 163. Auf beides kann nicht verzichtet werden. Das Gemeinwohl ermöglicht die Integration und den Bestand der Gemeinschaft, die plurale Demokratie die Interessenwahrung des Einzelnen. Diese Schule konnte von Anfang an den demokratischen Bundesstaat konstruieren und hatte nicht wie die deutsche Staatsrechtslehre aufgrund des Übergangs von der Monarchie zur Demokratie mit deren Resten zu kämpfen. Die Betrachtung der Repräsentationsverständnisse zeigt weiter, daß das Grundgesetz von vielen Denkschulen beeinflußt wurde, aber zu einem eigenen, unverwechselbaren Amalgam weiterentwickelt wurde. Dies schließt die Übernahme und den Vergleich mit den reinen Lehren aus. Dabei trägt die Repräsentation im demokratischen Bundesstaat (wieder) dualistische Züge. Das Parlament repräsentiert das Land demokratisch-unitarisch in seiner Einheit, in einer Länderkammer föderal in seiner Vielheit. Dies ist möglich, weil das plurale Demokratie- und das gemäßigte Repräsentationsverständnis nicht von einem einheitlichen homogenen Volkswillen ausgehen. III. Das Parlament als Verfassungsorgan statt Ort der Souveränität Weiterhin ergab der Streit über die Vereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat, den Parlamentarismusbegriff im demokratischen Bundesstaaat zu analysieren. So ergab sich etwa aus der Theorie Kaufmanns, daß ein demokratischer Bundesstaat nicht denkbar ist, wenn man das Parlament als höchsten und unteilbaren Willen begreift, mit anderen Worten, es als Souverän ansieht. Die Parlamentssouveränität ist aber das Konzept des Einheitsstaates, nicht des Bundesstaates. Eine Mitwirkung eines weiteren Gremiums ist daher nicht denkbar. Im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes ist dies anders. Seine gemischte Verfassung hat die Ausübung der Staatsgewalt nicht einem obersten „machtvollen Willen“ 164 anvertraut, sondern einer Mehrzahl „besonderer Or162 163
s.o. 2. Kap., A. II. 1. Schwan, Politische Theorien, S. 157 (373).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
gane“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Diese Organe sind nicht durch Ingerenzen aneinander gebunden 165. Es ist daher nicht zulässig, dem Willen des Repräsentativorgans Parlament eine Bedeutung dahingehend zuzuschreiben, daß er nicht ergänzt werden dürfte. Das Problem entsteht nicht, wenn der Bundestag als Organ einer Verfassung unterliegt. Der Wille des Bundesparlaments ist daher einer Verfassung unterworfen, welche nun einmal die Beteiligung eines zweiten, gliedstaatlichen Willens vorsieht. Dieser zweite Wille erscheint nur dann als Fremdkörper, wenn man den Willen des Bundesparlaments als souverän betrachtet. Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes ist weiterhin kein rein parlamentarisches System wie es in Großbritannien besteht 166, sondern sieht in einer gemischten Verfassung auch eine bundesstaatliche Gliederung vor. Daher ist es auch nicht statthaft, bei divergierenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat in letzterem eine „Dunkelregierung“ 167, „außerparlamentarische“ Opposition zu sehen, welche das angeblich demokratische Wechselspiel von Regierung und Opposition durchbreche. Denn auch diese Argumentation geht vom Ideal des reinen Parlamentarismus im Einheitsstaat mit bloßer alternierender Regierung und Opposition sowie vom britischen Parlamentsverständnis aus, das das Parlament als souverän ansieht. Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes ist also stets ein Verfassungsstaat und nur als solcher interpretierbar. Innerhalb dessen wiederum sind Demokratie, Parlamentarismus und Bundesstaat, wie hier geschehen, auf spezifisch deutsche Weise und stets im Zusammenhang miteinander zu deuten. Er steht damit sowohl in der Tradition der deutschen historischen Verfassungsentwicklung seit dem 19. Jahrhundert als auch in der des westlichen Verfassungsstaates.
D. Begriffsinstrumentarium des demokratischen Bundesstaates Angesichts des tatsächlichen Bestehens von Bundesstaaten bei theoretischer Unmöglichkeit, also des Auseinanderfallens von Theorie und Praxis, sind zuvor die Begriffe von Demokratie und Bundesstaat in Bezug zueinander interpretiert und neu justiert worden. Es liegt nahe, das „Begriffsnetz“ 168 der Bundesstaatslehren ebenfalls einer inhaltlichen Neuausrichtung zu unterziehen. 164 Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 190; vgl. a. Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 126. 165 Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 126. 166 Vgl. dazu Rausch, Parlament, Parlamentarismus, StLex, Sp. 296 (298). 167 Müntefering, Tagesschau v. 24. Mai 2005. 168 v. Bogdandy, Supranationale Organisation als neuer Herrschaftstypus, Integration 16 (1994), S. 210 ff.
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I. Zur Notwendigkeit eines abstrakten Begriffsinstrumentariums Ein Auseinanderfallen von Theorie und Praxis – also etwa wie bei angeblicher Unvereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat – kann freilich auch vermieden werden, indem man auf die Verfassungstheorie gänzlich verzichtet, d. h. die bestehenden Begriffe entfallen läßt. Darauf laufen letztlich die Konzepte hinaus, die auf „Staat“, „Souveränität“ und „Einheit“ verzichten wollen 169. Dem stehen jedoch grundlegende und wissenschaftstheoretische Bedenken entgegen. Zunächst sollte auf diese Begriffe nicht verzichtet werden, da ihnen ein erkenntnistheoretischer Wert zukommt. Die Begriffe können zum Vergleich und zur Erfassung von allgemeinen Prinzipien und Besonderheiten dienen. Sie ermöglichen die Abstraktion. Die Abstraktion wiederum öffnet den Blick für größere und historische Entwicklungslinien und erleichtert einen Vergleich zwischen Staaten 170. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, daß aus abstrakten Begriffen (der Staatslehre) keine konkreten rechtlichen Folgen (im Verfassungsrecht) abgeleitet werden dürfen. Dies soll nicht Aufgabe des Begriffsinstrumentariums sein. Die Begriffe sollen nicht die Interpretation über die Verfassung übernehmen. Vielmehr sollen diese Begriffe für die jeweils geltende Verfassung aus ihr heraus mit Inhalt gefüllt werden. Daher geht der pauschale Vorwurf der Antiquiertheit von Begriffen – etwa der Souveränität oder des Staates 171 – auch ins Leere. Veraltet sind nicht Begriffe, sondern allenfalls ihre Inhalte. Es muß nicht auf sie verzichtet werden, sondern sie sind modern und hier im Hinblick auf die Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu bestimmen. So läßt sich auch wissenschaftlich eine historische Entwicklung dokumentieren. Schließlich spricht das Neudefininieren von Begriffen nicht dafür, daß sie überflüssig wären oder an Bedeutung verlören, denn „Formenwandel bedeutet keinen Verfall“ 172. Daher ist es ein normativ und rechtsdogmatisch verengter Blick, auf die abstrakten Begriffe verzichten zu wollen. Eine Jurisprudenz, die sich allein auf 169 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 60 ff.; krit. a. Lhotta, Der Staat 1997, S. 189 (192); v. Bogdandy, Integration 16 (1994), S. 210 ff.; ders., Die Verfassung in der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, S. 97 ff.; Thürer, VVDStRL 50 (1991), S. 97 ff; Schröder, DVBl. 1994, S. 316 (318); Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 66; weiterhin Kriele, Staatslehre: „Im Verfassungsstaat gibt es keinen Souverän“, S. 102 f; ebenso Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstruktur, S. 511 (512). 170 Vgl. Heintzen, Manuskript. Allgemeine Staatslehre, 2005, Vorlesung vom 14. Juli 2005, S. 3, [letzter Zugriff: 22. März 2009]. 171 Massing, Souveränität, S. 51 ff; Hebeisen, Souveränität, passim; Czempiel (Hrsg.), Die anachronistische Souveränität; Kirchheimer, Politik und Verfassung, S. 57 ff. 172 Preuß, Souveränität, S. 313 (316).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
die Subsumtion und Anwendung von Normen beschränkt, ist bloßes Handwerk. Hier ist es dann fraglich, von einer Wissenschaft zu sprechen 173. Versteht man unter einer Wissenschaft „die problembezogene, rational nachprüfbare fachliche Auseinandersetzung mit einer Frage“, die von einer „von Weisungen und sonstigen gesellschaftlichen Zwängen unabhängigen Person oder Institution nach sachadäquater Methode unter Zugrundelegung eines selbstbestimmten Wertesystems“ und „unter Heranziehung des gesamten Wissensgebietes mit Einschluß der sachverwandten Wissensgebiete“ 174 geleistet wird, muß der Jurisprudenz daran gelegen sein, ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis zu stellen, indem sie ihre Teildisziplinen Rechtssoziologie, Rechtspolitologie, Rechtsphilosophie, aber auch vergleichende Regierungslehre und Staatslehre pflegt und sich nicht mit normativer Dogmatik begnügt. Solange das Recht, aber auch der Staat, Erscheinungsformen der Politik sind, kann die Staatsrechtswissenschaft nicht darauf verzichten, den Staat und die Politik in allen ihren Vielschichtigkeiten zu erfassen 175. Nur dies ist mit einem übergreifenden abstrakten Begriffsinstrumentarium möglich. Man darf sich daher nicht auf die reine Dogmatik beschränken. Die Erkenntnisse der Allgemeinen Staatslehre und der Politikwissenschaft – und damit auch das Begriffsinstrumentarium des Bundesstaates – sind für die Dogmatik notwendig und unentbehrlich, soll das Staatsrecht als das Recht für das Politische in seiner Funktion richtig verstanden werden können. Schließlich ermöglichen die Begriffe die Erschließung einer weiteren Ebene des Verhältnisses von Recht und Politik. Die Bildung und Definition von Staatsformprädikaten ist ein politischer Prozeß, zum Teil sogar politischer Kampf, wie sich am Begriff der Demokratie besonders gut zeigen läßt 176. Die Abstraktheit der Begriffe ermöglicht dies. Die an Argumente und Regeln gebundene Wissenschaft kann daher einen Beitrag dazu leisten, den ungebundenen politischen Kampf zu zügeln und Mißbrauch vorzubeugen. „Gerade die abstrakten, 173 Vgl. klassisch v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848; wie sehr diese Schrift die Jurisprudenz erschüttert hat, zeigt das Buch von Larenz, der sich mehr als 100 Jahre später noch zu einer Apologie der Rechtswissenschaft genötigt sah: Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1966; krit. wie hier Mengel, APuZ 13 – 14/1989, S. 30 (32). 174 Stadler-Richter, Die Rechtswissenschaft als Berater im Spannungsfeld von Gesetzgebung und Politik, S. 210 (211); dem folgend Mengel, APuZ 13 –14/1989, S. 30 (32). 175 Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 2 III. 1. vor a); vgl. auch grundsätzlich zu den verwandten Disziplinen Staatswissenschaft, Allgemeine Staatslehre, Politikwissenschaft ders., Staatsrecht I, § 2; vgl. a. Grimm, Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft, S. 53 ff.; Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, S. 68 ff.; zur Notwendigkeit einer Theorie gerade des Bundesstaates Bauer, Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, S. 645 (650). 176 Dazu und zum folgenden Heintzen, Manuskript, Allgemeine Staatslehre, 2005, Vorlesung vom 14. Juli 2005, S. 4, [letzter Zugriff: 22. März 2009].
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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sinnvariablen und unklaren Begriffe sind die wichtigen, interessanten und grundlegenden Begriffe“ (Heintzen). Gerade bei der Souveränität handelt es sich um einen „Schlüsselbegriff des Politischen“. Darunter versteht Preuß Begriffe, die kontitutiv für die Sphäre des Politischen sind und ihrerseits nur in dieser Sphäre Bedeutung haben und deren Bedeutung sich erst im Kontext des Politischen entfalten 177. Gleiches gilt damit für den „Staat“ selbst, aber auch für den „Bund“, der eine Vertragsbeziehung in der Sphäre des Politischen beschreibt 178. Zu den Begriffen im einzelnen: Die Kategorien von Staat und Souveränität sind zunächst im Hinblick auf das Völkerrecht von Bedeutung und daher unverzichtbar, denn als Völkerrechtssubjekt gilt der (souveräne) Staat 179. Dagegen vermag auch nicht eingewendet zu werden, dabei handele es sich doch um die sog. „äußere Souveränität“ 180, die keinen Zusammenhang mit der inneren Staatsordnung habe. Dies würde aber verkennen, daß äußere Souveränität die innere voraussetzt 181. Meint jene die äußere Unabhängigkeit, so zielt diese staatsintern auf eine Entscheidungsgewalt. Daß es nicht sinnvoll ist, auf abstrakte Begriffe zu verzichten, zeigt sich gerade anhand der Souveränität. Die Besonderheiten des Bismarck’schen Bundesstaates wurden von der zur Zeit des Kaiserreichs herrschenden deutschen Staatsrechtslehre zum Idealtyp des Bundesstaates als solchem hochstilisiert. Der Verzicht auf abstrakte Kategorien und die Konzentration des staatsrechtlichen Positivismus auf den Text der Verfassung und die daraus zu gewinnenden logischen Deduktionen, in Abkehr von der eher staatstheoretischrechtsvergleichenden Perspektive der älteren liberalen Staatsrechtslehre, hat die darin liegende Blickverengung zumindest befördert 182 und mit zu dem Problem der Unvereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat geführt, das bis heute in der Theorie und Praxis gesehen wird. Ferner muß die Souveränität im Hinblick auf die Entstehung supranationaler Einheiten neudefiniert werden. Will man einen offenen Staat, muß man auch seine Begriffe öffnen. Die wissenschaftliche Diskussion darüber ist bereits in vollem Gange 183 – insbesondere im Hinblick auf die Europäische Union 184 –, ohne daß die Debatte über die Souveränität 177
Preuß, Souveränität, S. 313. Preuß, Souveränität, S. 313 m. Verweis auf Greber, Die vorpositiven Grundlagen des Bundesstaates. 179 Oeter, Bundesstaatsrecht, S. 381; Dreier, Souveränität, StLex, Sp. 1203. 180 Vgl. Dreier, Souveränität, StLex, Sp. 1203; zum Wandel des Begriffs der äußeren Souveränität Preuß, Souveränität, S. 313 ff. 181 Dreier, Souveränität, StLex, Sp. 1203 (1204). 182 Oeter, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (670). 183 Vgl. statt vieler Oeter, ZaöRV (55) 1995, S. 659 ff; Kaufmann, Europäische Union und Demokratieprinzip, insbes. S. 38 ff; Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 507 ff.; zum Wandel der äußeren Souveräniät Preuß, Souveränität, S. 313 ff. 184 Preuß, Europa als politische Gemeinschaft, S. 489 ff.; Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 ff; Beaud, Der Staat 1996, S. 45 ff; Oeter, ZaöRV (55) 1995, S. 659 ff. 178
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im Bundesstaat auf nationalstaatlicher Ebene – jedenfalls in Deutschland – zu einem befriedigenden Ende geführt worden wäre, obwohl man dazu lange genug Zeit hatte. Gerade in bezug auf die Europäische Union ist die Souveränität ein Begriff, mit dem in der politischen Diskussion argumentiert wird, etwa bei Gegnern der europäischen Integration, die einen Souveränitätsverlust beklagen. Die Souveränität wird damit, und so bestätigt sich der soeben abstrakt formulierte Gedanke, zum politischen Kampfbegriff je nach politischem Standpunkt und Ziel. Hier für Klarheit zu sorgen, muß Aufgabe der Wissenschaft sein. Auch auf den Gedanken der (staatlichen) Einheit kann nicht verzichtet werden. Staatsrechtlich läßt sich der Gedanke der Einheit dem Grundgesetz entnehmen, das in Art. 28 Abs. 1 GG das Homogenitätsgebot aufstellt. Staatstheoretisch erfüllt die Einheit wichtige Funktionen. Staatliche Einheit verweist entweder auf die Geschlossenheit der Staatsorganisation (Organisationseinheit), also vornehmlich auf den organisatorischen Zusammenhalt und die Normbindung des Verwaltungapparates, oder den inneren Zusammenhalt des Gemeinwesens (Integrationsfunktion) namentlich seiner Bürger, oder die ungeteilte Durchsetzungsfähigkeit der staatlichen Organisation gegenüber dem Gemeinwesen (Durchsetzungseinheit) 185. Gerade im Bundesstaat ist es notwendig, die Einheit zu erhalten und zu definieren. Da der Bundesstaat ein zusammengesetztes Gemeinwesen ist, muß eine Einheit hergestellt werden, um das Ganze nicht auseinanderfallen zu lassen. Die Einheit muß aber so beschaffen sein, daß sie die Vielheit der Glieder erhält, sonst würde der Bundesstaat zum Einheitsstaat verkommen. Die Vielheit in Einheit zu garantieren und die Einheit der Vielheit zu ermöglichen, ist damit Aufgabe des Einheitsbegriffs. Daher ist es auch notwendig, den Staat zu definieren, der diese Einheit darstellt. Es bedarf des Staates als Anknüpfungspunkt für staatliche Rechte und Pflichten, zur Zuordnung eines Komplexes von Rechtsregeln, zur Unterscheidung privater Geschäfte und dienstlicher Pflichten und Befugnisse der Amtswalter, zur Verselbständigung der vermögens-, finanz- und haftpflichtrechtlichen Stellung des staatlichen Ämterwesens, zur Gewährleistung organisatorischer Kontinuität 186. Der Staat steht dem Privaten gegenüber, sei es mit Hoheitsrechten, die bis zum unmittelbaren Zwang reichen können, sei es mit Schutzpflichten und als Grundrechtsadressat. Von daher ist er nicht ein bloßer Akteur unter vielen ders., Föderalismus, S. 59 ff.; Mäder, Vom Wesen der Souveränität,; Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat, S. 100 ff., 365 ff.; vgl. a. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus. 185 Möllers, Staat als Argument, S. 228. 186 Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 127 Fn. 30; Wolff, Organschaft und juristische Person I, S. 207 ff.; Thoma, Art. Staat, S. 748 f; Weber, Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, S. 13 f.; Forsthoff, Verwaltungsrecht I, S. 170; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, S. 48 f.; Haenel, Staatsrecht I, S. 107; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 45; speziell zur Staatshaftung und Beamtenhaftung BGHZ 34, 99; BVerwGE 13, 17; 19, 90.
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im „politischen System“. Trotz der Bedeutung auch anderer Akteure ist sein Unterschied aufgrund der genannten Rechte und Pflichten bedeutsam. Mehr noch: In der heutigen Zeit sind die zunehmende Verlagerung von Kompetenzen auf die supranationale Ebene sowie im Rahmen der sog. Globalisierung die nahezu ungezügelte Kraft der (Welt-)Märkte und die Internationalisierung des Rechts zu verzeichnen. Gleiches gilt für große Wirtschaftsunternehmen auf nationaler Ebene. Gerade dies spricht nicht für die abnehmende Bedeutung des Staates 187, vielmehr unterstreicht diese Entwicklung, daß es nach wie vor dieser Institution bedarf. Denn supranationale Organisationen weisen im Gegensatz zu den nationalstaatlichen Organen eine nur schwache demokratische Legitimation auf. Die Macht internationaler Wirtschaftszusammenschlüsse sowie einzelner Unternehmen ist längst zu einer stärkeren Bedrohung von Freiheit und Bürgerrechten geworden als der Staat, der „gebändigte Leviathan“ 188. Angesichts dieser Schutzlosigkeit und Entfremdung sucht der Bürger eine Institution, die für ihn Recht setzt und koordiniert, inneren und äußeren Frieden garantiert, seine Verläßlichkeit gewährt, in seiner Sprache Recht setzt 189. Diese Gründe verlieren im hiesigen Zusammenhang nicht etwa dadurch an Bedeutung, daß es im Rahmen einer Dogmatik des demokratischen Bundesstaates nicht um die Abschaffung des Staates als solchem, sondern nur um den Verzicht auf ihn als Begriff geht. Denn im Rahmen einer grundsätzlichen Argumentation gegen den Staat könnte die angebliche Verzichtbarkeit, ja „Hinderlichkeit der Größe Staat“ 190, in einem für die Verfassungsordnung entscheidenden und unverzichtbaren (Art. 20 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG) Anteil, dem demokratischen Bundesstaat, ins Felde geführt werden. Denn es gehört zur Geschichte des Staates, daß er totgesagt oder seine Sterblichkeit vorausgesagt wird 191. Aus den genannten Gründen jedoch bleibt der Staat von Bedeutung bzw. es erwächst ihm wieder eine wichtige Aufgabe. Nur die Institution Staat vermag Demokratie, Grundrechte und soziale Sicherung zu gewährleisten. Dazu ist nur ein leistungsfähiger Staat in der Lage, dessen Bedeutung auch nicht bereits auf der Begriffsebene geschwächt werden darf, was noch lange kein „Denken von der Krise her“ 192 bedeutet. Solange demokratische und grundrechtliche Standards nur hier geschaffen werden, wird auch eine multinationale Staatslehre nicht ohne den Staat auskommen.
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So aber nahezu polemisch Lhotta, Der Staat 1997, S. 189 ff. So der Titel eines Sammelbandes von Denninger, Der gebändigte Leviathan. 189 Vgl. Kirchhof, Die Zukunft der Demokratie im Verfassungsstaat, JZ 2004, S. 981 (982); die Bedeutung des Staates auch in einer transnationalen Staatslehre bejahend Grawert, Der Staat 2005, S. 151 (153). 190 So Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 60 ff., 39 ff. jeweils m.w. N. 191 Kirchhof, JZ 2004, S. 981 (986) m.w. N. 192 Groß, Kollegialprinzip, S. 176. 188
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II. Souveränität im demokratischen Bundesstaat Das Problem des Bundesstaates mit der Souveränität ist vergleichbar mit seinem Verhältnis zur Demokratie. Eine der umstrittensten Fragen der Staatstheorie ist die nach dem Sitz der Souveränität im Bundesstaat 193. Die herrschende deutsche Staatsrechtslehre versteht unter Souveränität die höchste, unabgeleitete, ihrerseits keiner weiteren, fremden Bindung oder Derogationsmöglichkeit unterliegende staatliche Herrschaftsgewalt 194. Diese Unteilbarkeit und Unergänzbarkeit der Souveränität läßt in den Augen der herrschenden Lehre einen Bundesstaat nicht zu oder bedarf konstruktiver Kunstgriffe, weil in ihm nicht nur die zentralstaatliche und als souverän erachtete Ebene entscheidet, sondern auch noch die gliedstaatliche. Letzte muß dann als Durchbrechung und insoweit systemfremde Gewalt erscheinen. Dem gegenüber steht eine Schule, nach der die Souveränität beim Bund und den Gliedstaaten liegt. Danach sind im Bundesstaat also sowohl der Zentralstaat als auch die Gliedstaaten souverän 195. Wesen des Bundesstaates sei die geteilte und gestufte Souveränität. Dieses Verständnis kann auf eine ebenfalls lange Tradition zurückblicken. Sie beruht auf den Schulen Tocquevilles, Calhouns 196, Waitz’ 197, der sich auf den Federalist bezog, und v. Seydels 198. Sie ist im Bundesstaatsdenken der Schweiz und der USA noch heute vorhanden. In Deutschland war diese altliberal-bündische Staatsrechtslehre bis ca. 1871 herrschend 199. Sie wurde verdrängt durch eher unitarisch gesinnte Positionen, etwa von Laband 200 oder Hänel 201. Dabei blieb es bis heute, wie die Schwierigkeiten mit dem demokratischen Bundesstaat zeigen. Da diese Lehre, wie oben ausgeführt, aufgrund ihrer Begriffe zwangsläufig zur Einheit (des Staates) gelangt, wird auch so das Bundesstaatsprinzip unitarisch gedeutet und gelenkt. Plakativ formuliert: Souveränität monarchischer 193 Vgl. dazu umfassend Greber, Die vorpositiven Grundlagen des Bundesstaates, S. 25 ff., 61 ff. 194 Dreier, Souveränität, StLex, Sp. 1203; Preuß, Europa als politische Gemeinschaft, S. 489 (514) m.w. N. 195 Schneider, Kooperation, Konkurrenz oder Konfrontation, S. 91 (99); Hufen, BayVBl. 1987, S. 513 (516 f.); vgl. a. v. Sell, Rundfunkföderalismus, S. 765 ff.; Fleiner, Rechtsvergleichung, S. 255 (262). 196 Calhoun, Speech on the Revenue Collection (Force) Bill, S. 401 (404 ff.). 197 Waitz, Grundzüge der Politik, S. 153 ff. 198 v. Seydel, ZgesStw 28 (1872), S. 185 ff.; vgl. zum Ganzen Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, S. 56, 69 f. 199 Oeter, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (667). 200 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, S. 56 ff. 201 Hänel, Studien zum deutschen Staatsrecht, S. 39 ff.; vgl. dazu Oeter, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (666); Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (107) m.w. N.
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Tradition drängt zu einfachen Formen 202. Demgegenüber sind föderale Gebilde komplexe Erscheinungen. Auch das auf der Lehre Bodins beruhende Dogma der Unteilbarkeit der Souveränität – parallel zu der Unteilbarkeit des demokratischen Willens – ist ein Relikt aus dem Zeitalter der Monarchie, die im Ansatz nur einheitsstaatlich denken konnte, weil sie alle Staatsgewalt im absoluten Herrscher vereinigt sah. Die Staatsgewalt wurde entsprechend körperlicher Kraft und göttlicher Macht als unteilbar angesehen. Dieses Dogma prägt bis heute die deutschen Vorstellungen von der konstruktiven Grundlage des Bundesstaates 203. Dies äußert sich in der „Unmöglichkeit, einen Bund freier Staaten zu denken“ 204, aber letztlich auch in der Radikalkur, auf den Begriff gänzlich verzichten zu wollen, um den Bundesstaat zu ermöglichen. Diesen Weg geht nämlich die mittlerweile herrschende Lehre und erklärt die Frage nach der Teilbarkeit der Souveränität im Bundesstaat kurzerhand für beendet 205. Diese Autoren sind nicht zu verwechseln mit denen, die der kritischen Richtung angehören, die auf die Begriffe Staat und Souveränität gänzlich – auch unter dem Gesichtspunkt des Bundesstaates – verzichten wollen 206. Da also ein Festhalten an dem auf monarchischer Tradition beruhendem Souveränitätsbegriff für einen demokratischen Bundesstaat nicht in Frage kommt, bleibt nur der Verzicht auf diese Kategorie oder eine Begriffsbestimmung auf der Grundlage des Modells geteilter Souveränität. Mit der Aufgabe der Diskussion hält die herrschende Lehre letztlich aber an dem monarchischen Souveränitätsbegriff fest. Dies wird insbesondere dann unverständlich, wenn einerseits die Souveränität aufgegeben, andererseits gleichzeitig an einem – ebenfalls einheitsgeprägten und axiomatischen – Staatsbegriff festgehalten wird 207. Es fragt sich ferner, wie eine Weiterentwicklung der Bundesstaatslehre erfolgen soll, und damit auch, welches Selbstverständnis von Wissenschaft vorliegt, indem auf ihre Begrifflichkeiten verzichtet und eine Debatte schlicht für beendet erklärt wird. Als Alternative zu der überalterten Lehre der Unteilbarkeit und den gänzlichen Verzicht auf den Begriff bietet sich eine Neujustierung des Begriffes der 202
In Anlehnung an Maier, AöR 115 (1990), S. 213 (215). Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 383 mit Verweis auf Kimminich, HbStR I, § 26, Rn. 21; Doehring, Staatsrecht, S. 116 ff.; Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S. 219 f. 204 Haverkate, Verfassungslehre, S. 349. 205 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 66; ders., HbStR I, § 15, Rn. 167; Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (641 f., 644); Kimminich, HbStR I, § 26, Rn. 14, 20 f.; Stern, Staatsrecht I, § 19 I. 1. a) Fn. 6 m.w. N.; Wahl, AöR 112 (1987), S. 26, Fn. 2; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1978), S. 7 (16 ff., 54 [Nr. 2.4]); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 IV, Rn. 8 f. 206 Z. B.: Lhotta, Der Staat 1997, S. 189 (199); im Hinblick auf die „Föderation“, verstanden als eine moderne Erscheinung der Staatenverbindungen: Beaud, Der Staat 1996, S. 45 (48, 66). 207 So z. B. Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 65 ff. 203
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Souveränität auf Grundlage der Idee geteilter Souveränität an. Diese Alternative muß dem Prinzip der gemischten Verfassung gerecht werden, das die Gewalten beschränken will und dem demokratischen Bundesstaat zugrunde liegt. Dieses Prinzip wurde nur durch Bodins Souveränitätslehre verdrängt 208. Auch insofern passen das Prinzip gemischter Verfassung und geteilter Souveränität zusammen bzw. erklären sich die konstruktiven Schwierigkeiten der ungeteilten Souveränität mit dem Bundesstaat. Wie oben zur Demokratie ausgeführt, muß in einer gemischten Verfassung dann auch die Souveränität der Kombination mit dem Bundesstaat Rechnung tragen und auf ihn hin ausgelegt werden. Verdrängt wurde aber nicht nur das Prinzip der gemischten Verfassung, sondern auch die Idee geteilter Souveränität. Diese Idee ist bei genauerem Hinsehen kein neuer Gedanke, sondern entspricht einer alten deutschen, vormals herrschenden Denkschule. Die Auswahl der Autoren bzw. Theorien zur Souveränität im demokratischen Bundesstaat muß sich beschränken. Da aus den genannten Gründen auf den Souveränitätsbegriff nicht verzichtet werden kann, scheiden von vornherein Bundesstaatstheorien ohne Souveränitätsbegriff 209 aus. Da festgestellt wurde, daß das Dogma der unteilbaren Souveränität den Bundesstaat theoretisch undenkbar macht, kommen nur solche Modelle in Frage, die eine Teilbarkeit der Souveränität vorsehen. Schließlich muß eine Lösung gefunden werden, welche die gemischte Verfassung im demokratischen Bundesstaat und damit das demokratische Element in den Bundesstaat miteinbezieht. Einen Ansatz, der all dies berücksichtigen könnte, bieten die Teile der Literatur an, die auf die Volkssouveränität abstellen. Deren Sitz ist mit Art. 20 Abs. 2 GG normativ verankert. Daher sei Souveränität im demokratischen Verfassungsstaat eigentlich nur noch als Frage nach der Legitimation der Herrschafts- bzw. Staatsgewalt konstruierbar 210. Stellvertretend soll der Schweizer Staatsrechtler FleinerGerster zu Wort kommen 211, der von außen einen erhellenden Blick auf die deutsche Diskussion werfen kann. Der Begriff der Souveränität müsse in einem auf der Volkssouveränität basierenden demokratischen Gemeinwesen eigentlich 208
Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 466; vgl. Hinsley, Sovereignty, S. 122,
135. 209 So die Einteilung bei Greber, Die vorpositiven Grundlagen des Bundesstaates, S. 61 ff. Dazu zählt er Friedrich, Trends of Federalism in Theory and Practice, und Schmitt, Verfassungslehre, S. 371 ff., der von einer Schwebelage der Souveränität spricht. Daran anknüpfend Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 (104 ff.). Greber selbst sieht als Grundlage des Bundes einen Statusvertrag als Alternative zur Souveräntät an, S. 227, 255 f. Zum Bundesvertrag vgl. a. Beaud, La notion de pacte fédérativ, S. 197 (267 ff.). 210 Dreier, in: ders., GG, Art. 20 (Demokratie), Rn. 76 m.w. N.; Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, S. 43; Kriele, Staatslehre, S. 55 ff., 273 ff.; ähnlich Pernthaler, Staatslehre, S. 14. 211 Fleiner-Gerster, Staatslehre, S. 189 f.; ihm folgend Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 381 ff.; krit. Greber, Die vorspositiven Grundlagen des Bundesstaates, S. 44 f.
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reformuliert werden, denn oberste und unabgeleitete Staatsgewalt könne es in einem demokratischen Staat eigentlich nicht geben 212. Staatsgewalt unter dem Blickwinkel der Volkssouveränität sei immer nur abgeleitete Gewalt, delegierte Kompetenz, die den von der Verfassung eingesetzten Organen zur treuhänderischen Ausübung anvertraut sei 213. Sie sei insofern immer nur rechtlich gebundene Gewalt, Befugnis, die erst durch die Verfassung entstehe und in ihrer Ausübung an die durch die Verfassung gezogenen Grenzen gebunden sei. Souveränität sei in dieser Perspektive eigentlich nur noch konstruierbar als Frage nach der Legitimation der Staatsgewalt. Souverän sei das Volk, „das seiner Staatsgewalt in seinem Territorium die Legitimität verleiht“ 214. Wieso die Souveränität aber nicht mehreren Ebenen der Staatlichkeit zugleich zuteil werden kann, der Bundesstaat also nicht als ein Gefüge geteilter Souveränität begriffen werden kann, sei nach derartiger Reformulierung der Souveränitätsfrage – als Frage nach dem Legitimationszusammenhang staatlicher Herrschaft – schwerlich nachvollziehbar 215. Dieser Souveränitätsbegriff erscheint grundsätzlich für den demokratischen Bundesstaat geeignet, weil er das Mehrebenensystem des Bundesstaates mit dem Legitimationsprinzip der Demokratie verbindet. Gegen diese Gleichsetzung von Souveränität und Demokratie wurden jedoch jüngst Bedenken erhoben 216. Sie werde der historischen Funktion der Souveränität nicht gerecht. Diese Sichtweise vermenge zwei zu unterscheidende Gesichtspunkte: die Frage nach dem ursprünglichen Träger der Herrschaftsgewalt, d. h. nach dem Legitimationssubjekt, auf die das Demokratieprinzip antwortet, werde vermengt mit der Frage nach einer bestimmten Eigenschaft der Herrschaftsgewalt, welche Souveränität genannt werde. Die Qualifizierung von Herrschaftsgewalt als souverän wolle aber erst rechtfertigungsbedürftige und -fähige Herrschaftsgewalt herausbilden 217 und von inakzeptabler Macht abgrenzen. Auch deshalb sei es verkürzt, wenn Souveränität selbst als Rechtfertigungstitel erschiene; Herrschaftsgewalt trüge dann ihren Legitimationstitel in sich und wäre selbstzweckhaft 218. 212
Fleiner-Gerster, Staatslehre, S. 190 f. Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 382 unter Verweis zu dieser „eigentlich banalen Prämisse jeder demokratischen Staatslehre“ auf Stern, Staatsrecht II, § 36 III.; Böckenförde, HbStR I, § 22, Rn. 3 ff., 11 ff.; Badura, HbStR II, § 25, Rn. 27 ff. 214 Fleiner-Gerster, Staatslehre, S. 190. Ähnlich Beaud, Der Staat 1996, S. 45 (66): „Daher ist die Volksouveränität nicht mehr als eine andere Bedeutung der Souveränität und daher mit der Föderation vereinbar“. 215 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 382; Fleiner-Gerster, Staatslehre, S. 260 ff.; Cybulka, Die Legitimation der öffentlichen Verwaltung, S. 76 ff. 216 Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 511 ff., 541; ähnlich Musil, Wettbewerb in der staatlichen Verwaltung, S. 91. 217 Ähnlich Greber, Die vorspositiven Grundlagen des Bundesstaates, S. 222: „Souveränität bedeutet die Fähigkeit eines Herrschaftsträgers, Herrschaftsausübung als Staatsgewalt zu legitimieren“. 213
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Diese Einwände überzeugen. Die Differenzierung zwischen Legitimation und Souveränität, d. h. von Herrschaft und deren Rechtfertigung, ist genauer. Nur bei einer Trennung kann ermittelt werden, ob in dem jeweiligen Staat die Legitimation und die Souveränität ihren Anforderungen gerecht werden. Daher müssen diese beiden staatstheoretisch seit jeher unterschiedlichen Begriffe auch bei einer Neuausrichtung getrennt bleiben. Die Gleichsetzung von Demokratie und Souveränität, d. h. von Rechtfertigung und Herrschaft, ließe die Frage nach der Souveränität im Verfassungsstaat leerlaufen. Sie wäre durch Ineinssetzung faktisch abgeschafft. Ihre Neudefinition wäre keine Neudefinition, sondern ihre eigene Abschaffung. Ferner ermöglicht die genaue Umgrenzung von rechtfertigungsfähiger- und -bedürftiger und damit legitimer Macht die genaue Abgrenzung von bloß faktischer Macht. Dies ist gerade eine moderne Konzeption, da heute eine Gesellschaft entstanden ist, in der neben dem Staat viele andere Machtfaktoren bestehen. Dabei handelt es sich in erster Linie um private faktische Macht. Weiterhin ist die Trennung von Souveränität und Legitimation eher für den demokratischen Bundesstaat geeignet. Im Mehrebenensystem des demokratischen Bundesstaates kann die Souveränität ihre Funktion voll wahrnehmen, ohne mit dem insofern überflüssigen Gesichtspunkt demokratischer Legitimation überfrachtet zu werden. Sie hat die Aufgabe, die konkurrierenden Herrschaftsansprüche beider bundesstaatlicher Ebenen zu koordinieren. Dazu ist kein Gewaltenmonismus erforderlich. Dazu ist auch ein Rechtssystem in der Lage, das die Herrschaftsbefugnisse eindeutig zuordnet. Dieses Rechtssystem ist die Verfassung. Souveränität ist damit die „höchste rechtlich fixierte, durch eine Verfassung zugewiesene und gebundene Herrschaftsgewalt“ 219. Kann demnach also auf Souveränitästheorien, die auf die Volkssouveränität abstellen, nicht zurückgegriffen werden, verbleiben nur noch das Konzept geteilter Souveränität. Problematisch erscheint jedoch der Begriff der „geteilten“ Souveränität, da er angesichts der jahrhundertelangen Unteilbarkeitsdoktrin schon begrifflich geeignet ist, Mißverständnisse auszulösen 220. Es könnte widersprüchlich erscheinen, das seit langem auf Suprematie, Einzigkeit und Unteilbarkeit abstellende Souveränitätskonzept als teilbar zu betrachten 221. Dies vermeidet das Konzept der „gemeinsamen Souveränität“ Schlieskys 222. Es ist in der Lage, dem Konzept der gemeinsamen Legitimation und gemeinsamen Verantwortung im demokratischen Bundesstaat zu entsprechen, das bei 218
Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 511 m.w. N. Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 513. 220 Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 545; krit. a. Greber, Die vorspositiven Grundlagen des Bundesstaates, S. 66 f. 221 Di Fabio, Verfassungsstaat, S. 92; ihm folgend Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 530. 222 Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 507 ff. 219
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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der Zustimmungsgesetzgebung und der Verfassungsgebung besteht. Er knüpft an die alte deutsche liberale Schule an, zeigt aber durch die begriffliche Veränderung die moderne Weiterentwicklung auf. Da der Staat nunmehr in der modernen bundesstaatlichen Version als Mehrebenensystem verstanden wird, muß dies ebenfalls in der Definition sichtbar werden. Gemeinsame Souveränität bezeichnet dann „die Eigenschaft einer oder mehrerer Herrschaftsgewalten aus verschiedenen Ursprüngen, die aufgrund rechtlicher Koordinierung in ihrer Wirkungsdimension insgesamt eine Herrschaftsordnung mit einem System von Herrschaftsgewalt hervorbringen, das die Voraussetzungen des Souveränitätsbegriffes – Zuhöchstsein (Suprematie), Einseitigkeit, Einzigkeit und Einheitlichkeit – gemeinsam erfüllt“ 223. Damit hätte also der Souveränitätsbegriff einen – für über 50 Jahre Demokratie unter dem Grundgesetz – späten Übergang vom monarchischen in das demokratische Zeitalter gefunden. Mit seiner Neuausrichtung ist das Dogma seiner Unteilbarkeit obsolet und es ist nicht etwa erforderlich, auf ihn zu verzichten. Diese Neudefinition wäre modern und traditionell zugleich. Modern, weil sie mit der mehr als hundert Jahre herrschenden monistischen Souveränitätskonzeption in der deutschen Staatsrechtslehre aufräumt, weil sie im Hinblick auf supranationale Entwicklungen offen ist, 224 weil sie einer Denkschule entstammt, die sich letztlich nur die Demokratie als tragendes Prinzip eines modernen Staates vorstellen konnte 225. Bundesstaat und Demokratie sind damit keine Gegensätze mehr. Die Neudefinition ist traditionell, weil sie an eine große alte deutsche Denkschule anknüpft. Nebenbei bemerkt ist dieses Vorgehen ein Beispiel, wie Probleme der Gegenwart durch Rückgriff auf die Vergangenheit und deren Fundus an Ideen gelöst werden können. III. Einheit durch Verfassung Widersprechen sich der Einheitsgedanke und ein bundesstaatlicher Aufbau? Verbieten es die beiden Legitimationsträger, von einer (staatlichen) Einheit auszugehen, so daß auch auf den Einheitsgedanken im demokratischen Bundesstaat zu verzichten ist? Das wäre der Fall, wenn eine wie auch immer geartete Gliederung der staatlichen Geschlossenheit nicht möglich wäre, ohne den Funktionsverlust des Staates zu bewirken. Dieser Auffassung entsprach das Einheitsmodell der Staatspersönlichkeitslehre. Der Wille des Staates müsse eine unteilbare Einheit sein, solle 223
Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 546. Die hier auf Schliesky beruhende Definition hat dieser im Hinblick auf die europäische Einigung konzipiert. 225 Oeter, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (671). 224
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
nicht das Subjekt selbst seine Einheit verlieren 226 und „zu einer Summe von Einheiten degeneriert werden“ 227. Gewährleistet werde diese „Einheit und Unteilbarkeit der Staatsgewalt“ in einer real wirksamen, obersten Entscheidungseinheit, einem „machtvollen Willen“ 228. Daher bedürfe jeder Staat eines „höchsten Organs“, „welches den Staat in Tätigkeit setzt und erhält und die oberste Entscheidungsgewalt besitzt“ 229. Der Hintergrund dieser Lehre, nachdem oben schon der Souveränitätsgedanke analysiert wurde, wird deutlich: ihre Verwurzelung im absolutistischen Zentralismus und in der Annahme eines vorgefundenen Gemeinwohls. Demgegenüber sieht die Staatslehre des Konstitutionalismus vor, daß der Wille des höchsten Organs nicht nur kollegial gebildet werden kann. Es sollte auch „der Einheitswille [...] aus dem Willen mehrerer voneinander unabhängiger Organe gefunden werden können“, und zwar in der Weise, daß im Zweikammersystem die beiden Kammern, im Konstitutionalismus König und Parlament „getrennt gefaßte“, aber „zur Einheit vereinigte Willen“ bilden 230. Diese Auffassung ist der Beurteilung auch des Bundesstaates zugrunde zu legen. Denn die von der Staatspersönlichkeitslehre vorhergesagte „Anarchie, Zerrüttung“ 231 und Degenerierung 232 ist nicht eingetreten, obwohl das Staatsideal monolithischer Geschlossenheit im 19. Jahrhundert mit den Mitteln der Gewaltenteilung, der Grundrechte, der Parteiendemokratie und des Pluralismus aufgegliedert wurde 233. Der moderne Staat hat demokratische und rechtsstaatliche Gestalt angenommen, ohne daß seine machtbewehrte, den inneren Frieden gewährleistende Entscheidungs- und Handlungseinheit preisgegeben worden wäre 234. Lediglich dem bundesstaatlichen Verfassungsprinzip steht noch das atavistische Ideal von blockhafter staatlicher Einheit entgegen, wie die ganze Diskussion um dessen Vereinbarkeit mit der Demokratie zeigt.
226 Jellinek, Staatslehre, S. 496; ähnlich Laband, Staatsecht I, S. 84; Anschütz, Deutsches Staatsrecht, S. 20; vgl. a. Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 121 m.w. N. 227 Laband, Staatsrecht I, S. 85. 228 Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 190. 229 Jellinek, Staatslehre, S. 554. 230 Jellinek, Staatslehre, S. 550, 660, 665; ähnlich Haenel, Staatsrecht I, S. 93; vgl. auch Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 122. 231 Mohl, Staatswissenschaften, Band I, S. 274; Jellinek, System der öffentlichen Rechte, S. 226. 232 Laband, Staatsrecht I, S. 84; Anschütz, Deutsches Staatsrecht, S. 20. 233 Vgl. Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (267); Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 126. 234 Darauf weist paradoxerweise Isensee, AöR 115, S. 248 (267) hin, obwohl er ansonsten ein Vertreter des Einheitsgedankens ist: HbStR I, S. 592 ff.; ähnlich ders., HbStR VII, § 162, Rn. 102 f.; ders., JZ 1999, S. 265 (272).
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Doch auch der Bundesstaat tastet die staatliche Entscheidungs- und Handlungseinheit nicht an. Der Staat ist nicht „seinem Wesen nach“ eine subjektive Einheit, sondern dann, wenn die Verfassung ihn als eine solche ordnet 235. In einer pluralistischen Konzeption ist Einheit ein Beziehungsbegriff. Sie wird nicht staatstheoretisch vorgefunden 236, sondern durch die Verfassungsordnung, welche die Spannungen einer freiheitlichen pluralistischen Gesellschaft anerkennt, hergestellt 237. Nochmals: Zur Einheit ist kein monistisches Konzept erforderlich. Die konkrete Gestalt der Einheit hängt von der jeweiligen Verfassung ab. In autoritären Staaten fällt sie monolithisch aus. In der rechtsstaatlichen Demokratie wird die staatliche Einheit einerseits durch den Vorrang von Verfassung und Gesetz eingegrenzt, andererseits ausdifferenziert in Organisation und Verfahren 238. In der bundesstaatlichen Demokratie bleibt eine solche redefinierte staatliche Einheit ebenfalls erhalten. Sie wird gewährleistet durch die Verfassungshomogenität, gemeinschaftliche Willensbildung durch die Organisation der Willen der beiden die Legitimationssubjekte repräsentierenden Organe Bundestag und Bundesrat, durch in der Verfassung institutionalisierte Konfliktregelungsverfahren (z. B. Vermittlungsausschuß) und durch eine über mögliche Streitigkeiten zwischen den Legitimationssubjekten entscheidende Verfassungsgerichtsbarkeit 239. Diese staatliche Organisation konstituiert den Staat als Wirkungseinheit 240. Einheit ist damit als „Produkt gemeinsamen Handelns“ 241 zu verstehen. Die jeweils souveränen Legitimationssubjekte Bundesvolk und die Landesvölker, letztere in ihrer Gesamtheit vertreten im Bundesrat, stellen im Gesetzgebungsverfahren 235
Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 127 (Anführung im Original). So aber die etatistische Lehre: Isensee, HbStR II, § 15, Rn. 1 ff., 199 ff., 157 f.; ähnlich ders., JZ 1999, S. 265 (272); HbStR VII, § 62, Rn. 102 f.; Kirchhof, HbStR VII, § 183, Rn. 34; krit. dazu Preuß, Staats- und verfassungsrechtliche Handbücher, S. 453 ff.; Häberle, EuGRZ 1992, S. 429 (431). 237 Groß, Kollegialprinzip, S. 173; vgl. a. Göldner, Integration und Pluralismus, S. 26 ff. 238 Ähnlich Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (266). 239 Ähnlich Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (267). Dessen Interpretation der Einheit zeigt aber eher einen unitarischen Hintergrund, wenn er die Einheit gewährleistet sieht durch Ingerenzrechte des Bundes gegenüber den Ländern und eine (bloße) Mitwirkung der Länder bei der Bundeswillensbildung. Aber auch die Ingerenzrechte sprechen eher für eine Gleichberechtigung, da sie nie ohne Beteiligung des Bundesrates und damit der Länder ausgeübt werden können (vgl. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 200 ff.). Daß die Willensbildung eine gemeinschaftliche ist, wurde oben unter Rückgriff auf das Legitimationsmodell (Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 205) erörtert. 240 Heller, Staatslehre, S. 269 ff.; Groß, Kollegialprinzip, S. 173; Greber, Die vorpositiven Grundlagen des Bundesstaates, S. 233 ff.; Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, S. 269 (292 f.); Frankenberg, Die Verfassung der Republik, S. 63. 241 Groß, Kollegialprinzip, S. 173. 236
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einen gemeinsamen Willen her: Darin besteht die Handlungseinheit. Trotz Vielheit der Herrschaftsgewalten sind Einheitlichkeit und Letztverantwortlichkeit möglich 242. Einheit ist damit nicht Einheit im Ursprung, sondern in der Erscheinung und der Wirkung 243. Mit einem solchen Einheitsbegriff ist es möglich, den Bundesstaat mit zwei selbständigen und unabhängigen Ebenen der Legitimation zu denken und gleichzeitig deren Vereinigung und Zusammengehörigkeit in einer Einheit, aber nicht in einem einheitlichen Staat, zu denken. Dies entspricht dem föderalen Gedanken: der Vielheit in Einheit. Damit wird die Konsequenz, die sich aus einem monolithischen Verständnis der Einheit und des Staates ergäbe, vermieden. Sie bestünde darin, die bundesstaatliche Einheit stets von der gesamtstaatlichen Einheit und damit der Einheitlichkeit zu denken und so auch mittelbar über die dogmatische Unterfütterung einer Unitarisierung im Bundesstaat Vorschub zu leisten. Die Vielheit in Einheit erweist sich damit weder als Binsenweisheit des Bundesstaates noch als „immerwährendes Ganzheitlichkeitsschema“, noch als antiqiuerter Topos: Er ist und bleibt Grundlage des demokratischen Bundesstaates. Es besteht daher kein Anlaß, mit einem Federstrich kurzerhand auf die Einheit des Staates zu verzichten. Es ist nur nicht das atavistische Staatsideal monolithischer Geschlossenheit und hierarchischer Struktur zugrunde zu legen. Die Einheit des Staates ist etwas anderes als der Einheitsstaat. Einheit heißt im Bundesstaat nicht Einheitlichkeit. Dies verkennen diejenigen letztlich, die auf den Gedanken der staatlichen Einheit verzichten wollen, anstatt ihn neu auszulegen, wie etwa Hanebeck. Dies verwundert, weil er doch auch im Rahmen des Demokratiebegriffs diesen plural redefiniert. Im demokratischen Bundesstaat besteht nicht eine Einheit im Sinne einer obersten, alle anderen ausschließenden Gewalt. Sie besteht darin, wie Gegensätze in einer Ordnung vielfältiger Gewaltbalancen gebunden werden können. Diese Leistung erbringt die (gemischte) Verfassung. IV. Staat Wenn also die Souveränität je Bund und den Ländern gemeinsam zukommt, ist nicht einsehbar, diesen Einheiten dann auch die Staatsqualität abzusprechen. Parallel zu der zweifachen Legitimation gibt es dann die zweifache Staatlichkeit. Damit bleibt es dann auch bei der herrschenden Doppelstaatlichkeit als Eigentümlichkeit des Bundesstaates. Wenn die Demokratie im demokratischen Bundesstaat räumlich plural ist, die Souveränität bei Bund und Ländern liegt, ist dementsprechend die staatliche 242 Ebenso Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 514; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 563. 243 Schliesky, Souveränität und Legitimität, S. 545.
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Einheit ein Pluralismus staatlicher Rechtssubjekte, die Gesamtheit von Bund und Ländern 244. Der Staat ist nicht seinem Wesen nach eine subjektive Einheit, sondern er ist es dann, wenn die Verfassung ihn als eine solche ordnet. Staat ist damit auf eine organisationstheoretische Interpretation zurückzuführen, die Einheit als Produkt gemeinsamen Handelns (s. o.) versteht. Staat ist damit eine gemeinsame, gestufte Organisation, die verbindlich entscheidet, was für alle rechtens ist 245. Staat ist damit die Gesamtheit der mit der Herstellung bindender Entscheidungen befaßten Einrichtungen. Er bringt nicht einen bereits bestehenden „Allgemeinwillen des Volkes“ zum Ausdruck, sondern organisiert mit der unabdingbaren Befugnis der Letztentscheidungs- und Durchsetzungsgewalt ausgestattet, die Koordinierung der verschiedenen Interessen zu einem für alle verbindlichen Willen. Entsprechend dem oben für den demokratischen Bundesstaat geltenden Repräsentationsverständnis verbindet er die Wahrung der Einzelinteressen mit der Vorstellung eines (zu ermittelnden) Gemeinwohls der Gemeinschaft und dessen Durchsetzung. Er ist damit mehr als ein bloßes Mittel zur Willensbildung, aber auch weniger als ein metaphysisch aufgeladener Ausdruck einer natürlichen Gemeinschaft oder eines präexistenten Willens. Mit einem derartigen Staats- und Einheitsbegriff ist es möglich, zwei gleichberechtigte Ebenen demokratischer Legitimation zu denken, die mittels eines gestuften Staatsbegriffes zusammengehalten werden, ohne daß – wie bei einem monolithischen Staatsbegriff – die Landesebene sich stets auf die Ebene des Gesamtstaates ausrichtet und der Bundesstaat damit einheitsstaatlich ausgerichtet ist. Damit entspricht der Staatsbegriff des demokratischen Bundesstaates dem Föderalismusgedanken schlechthin: der Vielheit in Einheit. Die Einheit als Produkt gemeinsamen Handelns wäre bei hiesigem Untersuchungsgegenstand die gemeinsame Gesetzgebung von Bund und Ländern, in der sich zwei Legitimationsstränge zusammenfinden müssen. Auf welchem Weg dies praktisch passiert, soll später geklärt werden. Bereits jetzt spricht in der Tat viel dafür, „daß eine auf Kompromissen, Einschränkungen, Verhandlungen und mit all dem immer wieder auch auf Zufälligkeiten beruhende Politik [...] verfassungspolitisch gewollt ist“ 246. V. Exkurs: Die Staatsqualität der Länder Die Untersuchung hat ergeben, daß jedes Land über eine eigenständige verfassungsgebende Gewalt verfügt, die ihre Existenz nicht irgendeiner Delega244
Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 127, 298. Groß, Kollegialprinzip, S. 173; Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, S. 149; ähnlich Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, S. 269 (297 ff.). 246 Ellwein, HbVerfR, S. 1093 (1138), zit. b. Preuß, Staats- und verfassungsrechtliche Handbücher, S. 453 (463). 245
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tion durch das Gesamtvolk verdankt, sondern als eigener, unabgeleiteter pouvoir constituant bestand. Die Länder verfügen über eigene Verfassungssphären, die – abgesehen von Art. 28 Abs. 1 GG – unabhängig von denen des Bundes sind. Weiterhin üben die Länder eigenständige Hoheitsmacht in einem eigenen Territorium aus, die nicht ebenfalls vom Bund abgeleitet ist. Schließlich erweisen sich die Landesvölker als eigenständige Legitimationssubjekte. In den Ländern finden repräsentativ-demokratische Wahlen des jeweiligen Landesvolks statt. Diese legitimieren die Landesparlamente, von welchen wiederum die jeweiligen Regierungen abhängig sind. Die Staatsgewalt der Länder leitet sich daher nur vom jeweiligen Landesvolk und nicht von einer anderen Gewalt ab. Die Länder sind zu einer eigenständigen Willensbildung fähig. Damit entscheiden sie entweder Sachfragen in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich oder sie wirken an der Willensbildung des Bundes mit. Zwar kann auch der dezentrale Einheitsstaat eine Mitwirkung seiner Untergliederungen an der Willensbildung der Zentrale vorsehen 247, aber diese Mitwirkung beschränkt sich in der Regel auf eine Anhörung und gestattet keine echte Wahrnehmung politischer Gestaltungs- und Leitungsrechte. Aus diesen Gründen verbietet es sich auch, den Ländern die Staatsqualität abzusprechen oder auf diesen Begriff zu verzichten. Entgegen der herrschenden Auffassung ist eine in das Grundgesetz hineingelesene Staatsqualität der Länder nicht Ursache von Befugnissen 248, sondern die aus der Verfassung entnommenen Rechte und Eigenschaften der Länder erlauben es, diesen die Staatsqualität zuzusprechen 249. Dagegen sprechen nach soeben erfolgter Deutung aus der Gesamtschau des Grundgesetzes auch keine konstruktiven Bedenken. Mit dem redefinierten, weniger kategorischen Staatsbegriff muß zur Konstruktion des demokratischen Bundesstaates nicht die Staatlichkeit der Länder verneint oder nur in einem metaphorischen Sinne zuerkannt werden. Dazu ist die monistische Deutung des Staates als monolithische Einheit verpflichtet, weil für sie eine „zweite Einheit“ neben der staatlichen nicht denkbar ist. Auch ist ein gänzlicher Verzicht auf den Staatsbegriff nicht notwendig. Dieser Kunstgriff ist nicht erforderlich, aus den genannten Gründen nicht wünschenswert und methodisch extrem.
247 Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. a) mit Verweis auf Art. 40, 42 Preuß. Verf. vom 30. 11. 1920. 248 Statt vieler Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 2.; vgl. dazu auch Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 94 ff. 249 Herrschende Auffassung, BVerfGE 1, 14 (34); 4, 115 (136); 6, 309 (346 f.); 7, 1 (13); 8, 104 (116); 12, 205 (255); 13, 54 (74 f.); 14, 221 (234); 34, 9 (19); 36, 342 (360 f.); 60, 175 (207); 60, 319 (327); 66, 107 (114); 72, 330 (385); 81, 310 (334); 82, 272 (282); 86, 148 (275); 87, 181 (196); 96, 345 (366); statt vieler Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, S. 167 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 IV, Rn. 2 f.; Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 65 ff.; Kimminch, HbStR I, § 26, Rn. 5; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 (1988), S. 7 (22 f.).
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Daher existieren neben dem Bundesvolk auch die jeweiligen Landesvölker. Verfügt aber nach dem oben Gesagten der Gliedstaat über eine eigene verfassungsgebende Gewalt, so kann dies einzig bedeuten, daß auch der Gliedstaat über ein eigenes Staatsvolk verfügt, das Legitimationssubjekt staatlicher Entscheidungen ist 250. Dementsprechend erkennt auch die herrschende Staatsrechtslehre eigenständige Landesvölker an 251. Dabei scheint es sich aber lediglich um eine formale Anerkennung zu handeln 252. Konsequent ist dann auch, daß das Landesvolk Legitimationsquelle allen staatlichen Handelns des jeweiligen Landes ist. „Volk“ in den Ländern und „Volk“ im Bund sind im bundesstaatlichen System des Grundgesetzes voneinander unabhängige, je originäre und staatsrechtlich nicht vermittelte Legitimationskörper 253. Das betrifft die Entscheidungen auf Landesebene, aber auch die Mitwirkung der Länder auf Bundesebene. Auch infolge dieses Umstands kann der Bundesstaat des Grundgesetzes nicht auf ein Organisationsprinzip reduziert werden. Es verbietet sich aber auch weiterhin, die Länder insofern zu Selbstverwaltungskörperschaften zu degradieren, als daß das Bundesstaatsprinzip nur noch ein Organisationsmerkmal ist 254. Denn es verbleiben ihnen noch Gesetzgebungskompetenzen, sowie genuine Regierungsaufgaben und Rechtsprechungshoheiten. Diese sind es vornehmlich, die einen substantiellen Gehalt der Staatsqualität ausmachen 255. Da die Länder trotz aller Verluste – insbesondere im Bereich der Gesetzgebung – diese Befugnisse noch besitzen, ist für eine Reduktion des Bundesstaatsprinzips kein Raum, so daß es bei dem bündischen Charakter des Bundesstaates des Grundgesetzes bleibt. Der entscheidende Unterschied zwischen Bundesstaaten und Selbstverwaltungskörperschaften ist dabei in der 250
Ähnlich Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 392 f. BVerfGE 1, 14 (34); 4, 178 (189); 11, 77 (85 f.); 34, 9 (20); 36, 342 (360 f.); Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, S. 167; Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, S. 182 (190); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 12; Dreier, in: ders., GG, Art. 20 (Demokratie), Rn. 85; Grawert, HbStR II, § 16, Rn. 33; Herdegen, HbStR VI, § 129, Rn. 11; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG Art. 20 IV, Rn. 11; Maurer, Staatsrecht, § 7, Rn. 53; Sachs, AöR 108 (1983), S. 68 (70); Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 20, Rn. 26, 62; Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 2. c); a. A. Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 47 ff., 53. 252 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 116 ff.; vgl. dens. auch zu den einzelnen Spielarten der Anerkennung von Landesvölkern in der Lehre. Insbesondere Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 47 ff., der aufgrund der Tatsache, daß die Landesangehörigkeit kein personenrechtlich dauerhaftes Band zum Land darstellt, nur eine „de-facto-Landeszugehörigkeit“ anerkennt und demgemäß das Landesvolk als integralen Bestandteil des Bundesvolkes ansieht. Dagegen insoweit zu Recht Bryde, StWStPr 5 (1994), S. 318, da diese Konstruktion die Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik am Fundament treffe. 253 Wie hier Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 271 f.; Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 96. 254 BVerfGE 34, 9 (19 f.). Anders aber Schmitt und Hesse, s. o. 255 Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 2. b). 251
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Unabgeleitetheit jeder staatlichen Gewalt und entsprechend in der Abgeleitetheit der Gewalt von Selbstverwaltungskörperschaften zu erblicken 256. Um bloße Selbstverwaltungskörperschaften handelt es sich bei den Gemeinden 257. Sie sind ungeachtet des bundesverfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstverwaltungsrechts in Art. 28 Abs. 2 GG Untergliederungen der Länder und gehören damit zur mittelbaren Landesverwaltung 258. Sie stellen daher auch neben Bund und Ländern keine dritte Ebene der Staatlichkeit dar 259. Denn im Gegensatz zu den Ländern beruht die Ordnung der Gemeinde nicht auf einer Verfassung, sondern auf einfachem Landesgesetz 260. Die Gemeinden unterliegen ferner einer Staatsaufsicht (vgl. §§ 119 ff. GO NW). Grundsätzlich ist dies eine Rechtsaufsicht, bisweilen auch Fachaufsicht und Finanzaufsicht. Schließlich können die Gemeinden auch Träger eines den Grundrechten vergleichbaren 261 Schutzes sein, der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 GG. Sie sind damit Träger eines subjektiven Rechts 262 und stehen somit stark vereinfachend vergleichbar einem Privaten dem Staat gegenüber. Ein Land mit einer eigenen Verfassung und damit eigenen Grundrechten ist hingegen stets grundrechtsverpflichtet und kann nicht deren Träger sein. Aufgrund ihrer Selbstverwaltungseigenschaft sind die Gemeinderäte konsequenterweise auch nicht als Parlamente im Sinne der Gewaltenteilungslehre anzusehen 263, sondern sind bloße (Selbst-)Verwaltungsorgane 264. Abzulehnen ist weiterhin die Annahme von Völkern auf kommunaler Ebene 265. Während den Vertretern dieser Auffassung hinsichtlich der Existenz von Landesvölkern und ihrer Fähigkeit der Vermittlung demokratischer Legitimation zuzustimmen ist, muß dies auf Gemeindeebene unter vorstehenden Gesichtspunkten abgelehnt werden.
256 Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, S. 489 und viele andere, zit. n. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 II, Rn. 10. 257 BVerfGE 8, 122 (132); 86, 148 (215); Schild, DÖV 1985, S. 664 (672); Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 175; Stern, Staatsrecht I, § 12 I. 7. b). 258 Vgl. Jarass / Pieroth, GG Art. 28, Rn. 5; Gern, Deutsches Kommunalrecht, Rn. 119. 259 BVerfGE 73, 118 (191); 83, 37 (54); Nierhaus, in: Sachs, GG, Art. 28, Rn. 31. 260 Z. B. Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Juli 1994 (GO NW), GV. NW., S. 666/SGV. NW., S. 2023. 261 Maurer, DVBl. 1995, S. 1037 (1041 f.). 262 Jarass / Pieroth, GG, Art. 28, Rn. 5a. 263 Vgl. BVerwGE 57, 43 (59); NJW 1993, S. 411; NVwZ 1989, S. 46; BayVerfGH, BayVBl. 1984, S. 621; VGH BW, BWVPr 1978, S. 88; Gern, Deutsches Kommunalrecht, Rn. 314; Wurzel, BayVBl. 417; vgl. a. Jarass / Pieroth, GG, Art. 28, Rn. 4. 264 Smith, in: Kleerbaum / Palmen, GO NW, § 40, IV. 2. m.w. N.; Gern, Deutsches Kommunalrecht, Rn. 314. 265 So aber Bryde, StWStPr 5 (1994), S. 305 (318 ff.).
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E. „Warum Bundesstaat?“ Die Auseinandersetzung mit den Bundesstaatstheorien führte schließlich zu der Frage „Warum eigentlich Bundesstaat?“ 266 Sie könnte sich mit den Rechtfertigungslehren beantworten lassen. Nicht umsonst lautet die Fortsetzung der zitierten Frage: „Zur Frage der Rechtfertigung des Bundesstaates [...]“. Seit Bestehen des Grundgesetzes begleitet den deutschen Bundesstaat die Frage nach seiner Rechtfertigung. Die Literatur der Versuche, dieses Staatsprinzip zu erklären, ist unüberschaubar. Neben den Versuchen über eine Bundesstaatstheorie stellen die Rechtfertigungsversuche den quantitativ mindestens genauso großen Teil des Schrifttums dar, ja in der Rechtfertigung werden eigene Bundesstaatslehren gesehen. Allein aufgrund dieser rein quantitativen Betrachtung kommt man an den Rechtfertigungslehren nicht vorbei, wenn man die in der Lehre angebotenen Bundesstaatstheorien untersucht. Teile der Wissenschaft blicken mittlerweile über den Tellerrand der Rechtfertigung hinaus. Sie betrachten nicht mehr die einzelnen Rechtfertigungen, sondern begeben sich gleichsam auf eine höhere Ebene, indem sie die Rechtfertigungsdebatte an sich betrachten 267. Bereits 1990 hat Isensee zutreffenderweise festgestellt, daß die Deutungen des deutschen Föderalismus in der Staatsrechtslehre durchweg apologetischen Charakter besäßen 268. Dieser Satz wird immer häufiger zitiert 269. Dennoch sind die Idee und der angebliche Bedarf an einer Rechtfertigung des Bundesstaates noch immer anzutreffen und werden zum Teil auch von jungen Autoren 270 – so scheint es – blindlings und ohne inhaltliche Auseinandersetzung übernommen, weil es eben so üblich ist. I. Die bestehenden Konzeptionen Die verschiedenen Legitimationsmuster, die sich auch als eine Aufstellung von „Vorteilen föderativer Organisationen“ 271 lesen lassen, können letztlich in drei Kategorien aufgeteilt werden 272: der staatlich-institutionellen Repräsentation der geschichtlich gegebenen, regionalen Vielfalt Deutschlands (1.), der Sicherung 266
Kölble, Warum eigentlich Föderalismus?, S. 20 ff., zit. n. Lhotta, Der Staat 1997, S. 189 (191); die Frage stellt sich auch Kölble, Föderalismus – warum?, ZRP 1968, S. 8 f. 267 Z. B. Oeter; Hanebeck; Isensee; Lhotta, Der Staat 1997, S. 189 (191). 268 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 7; ders., AöR 115 (1990), S. 248 ff.; vgl. a. Stern, Föderative Besinnungen, S. 319 (322 f.). 269 Statt vieler Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 65; Lhotta, Der Staat 1997, S. 189 (199). 270 Z. B. Hoppenstedt, Die bundesstaatliche Ordnung, S. 17 ff; Engels, Chancengleichheit und Bundesstaatsprinzip, S. 45. 271 Laufer / Münch, Föderatives System, S. 28.
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von Freiheit (2.) und der Verbesserung der Funktionsfähigkeit des politischadministrativen Systems (3.). 1. Legitimation durch die geschichtlich gegebene, regionale Vielfalt Deutschlands Wie eingangs geschildert, kann Deutschland auf eine lange föderale Tradition zurückblicken. Dementsprechend legitimieren viele Autoren den deutschen Föderalismus aus historischen Gründen 273. Die deutschen Lande seien immer föderal organisiert gewesen. Aus dieser Entwicklung heraus habe sich Deutschland über Jahrhunderte vom feudalen zum modernen demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes entwickelt. Andere Autoren rechtfertigen den Föderalismus aus der kulturellen regionalen Vielfalt Deutschlands 274. Es bestehen historisch, landsmannschaftlich, wirtschaftlich, konfessionell und kulturell gewachsene Differenzen, die auch heute trotz der modernen Industriegesellschaft noch spürbar sind. Dies wird deutlich, wenn man sich die Unterschiedlichkeit des Rheinlandes, Brandenburgs, der Hansestädte oder Bayerns 275 vor Augen führt. Hier läßt sich die Formel der Vielheit in Einheit verorten. 2. Legitimation durch Sicherung von Freiheit Unter diese Kategorie fallen die Rechtfertigungen aus dem Subsidiaritätsprinzip, der Demokratisierung und der Gewaltenteilung. Eine Lehre sieht Sinn und Rechtfertigung bundesstaatlicher Ordnung in dem Grundsatz der Subsidiarität 276. Dieses aus der katholischen Soziallehre 277 stam272
Aufbauend auf den Einteilungen von Andersen, Bundesstaat / Föderalismus, S. 65 (66) und Kisker, Ideologische und theoretische Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, S. 23 (25) mit Verweis auf Stern, Staatsrecht I, § 19 II.; vgl. a. die Einteilung bei Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 327. 273 Statt vieler Isensee, Einheit in Ungleichheit, S. 139 f.; Maier, AöR 115 (1990), S. 213 (220 ff.); Oebbecke, Das Bundesstaatsprinzip, S. 113 (114); Sturm, Föderalismus, S. 12 ff.; Kilper / Lhotta, Föderalismus, S. 56; Ellwein / Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 108; Volkmann, Wozu Bundesstaat?, OWG 2005, S. 56 (57 f.).; Sachs, in: ders., GG, Art. 20, Rn. 55 m.w. N.; vgl. Hesselberger, GG, Art. 20, Rn. 5; Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 82. 274 Kilper / Lhotta, Föderalismus, S. 57; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 27; Schultze, ZParl 1990, S. 475. 275 So auch Laufer / Münch, Föderatives System, S. 28; Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 337 f. 276 Vertreten insbes. von Dürig, JZ 1953, S. 193 (195); ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1, Rn. 53 f.; Deuerlein, Föderalismus, S. 319 ff.; Lichtenstern, Gesetzgebung, S. 151;
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mende Prinzip besagt, daß übergeordnete Gemeinschaften nur solche Aufgaben wahrnehmen sollen, die nachgeordnete kleinere Gemeinschaften nicht ebensogut erfüllen könnten 278. Durch dieses Prinzip werde zum einen die größere Einheit von Aufgaben entlastet. Sie könne sich intensiver den Bereichen zuwenden, die nur zentral lösbar seien 279. Umgekehrt ermögliche die Lösung regionaler Probleme durch die kleinere Einheit ein oftmals sachnäheres adäquateres Ergebnis, da auf regionale Vielfalt, Besonderheiten und Präferenzen besser eingegangen werden könne. Zudem erhalte der Bürger auf dieser unteren Ebene die bessere Möglichkeit der Partizipation 280. Eine weitere Konzeption, die in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland als herrschend angesehen werden kann, sieht die Legitimation des Bundesstaates in einer Förderung der Demokratie 281. Sie beruht im wesentlichen auf der Lehre Hesses 282. Zum einen werde eine zusätzliche Ebene demokratischer Partizipation eröffnet. Zum anderen entfalte der bundesstaatliche Aufbau eine minderheitenschützende Wirkung, denn er erschwere es der Mehrheit, regionale Minderheiten zu beeinträchtigen, da diese durch institutionalisierte Mitwirkungs- und Vetomöglichkeiten einen Einfluß geltend machen könnten 283. Zum dritten besorge der Bundesstaat den Einbau der Opposition in die demokratische Ordnung und die Realisierung des Prinzips alternativer politischer Führung. Denn Oppositionsparteien im Bund könnten dort, wo sie in den Ländern die Mehrheit besitzen, zur Regierungspartei werden und staatliche Verantwortung übernehmen 284. Schließlich lockere der Bundesstaat auch die innere Ordnung
Loebenstein, Föderalismus, S. 827 (828); jüngst Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 158 ff.; krit. Fröchling, Bundesrat, S. 6; Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, S. 66 (74 ff.); Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 219; Herzog, Der Staat 1963, S. 399 (411 ff.); differenzierend Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 224 ff.; ders., HbStR IV, § 98, Rn. 242; vgl. ferner Deuerlein, Föderalismus, S. 319 ff.; Knemeyer, ZRP 1990, S. 173 f.; Kühnhardt, APuZ 45/1991, S. 37 (40); Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz; Oppermann, JuS 1996, S. 569 ff.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 253 ff. 277 Papst Pius XI., Quadragesimo anno, 1931; lateinischer und deutscher Wortlaut bei: Utz, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 3. 278 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassung, S. 19; Laufer, Föderalismus, S. 29. 279 Kilper / Lhotta, Föderalismus, S. 60. 280 Laufer / Münch, Föderatives System, S. 29. 281 Bothe, Föderalismus, S. 26; Häberle, DV 24 (1991), S. 190; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 224 ff.; Hoppenstedt, Föderatives System, S. 20; Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 272 ff.; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 31; Mayer-Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates, S. 201; Stern, Staatsrecht I, § 19 II. 1. 282 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 32. 283 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 225. 284 Hesse, Der demokratische Bundesstaat, Rn. 226; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 31.
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der Parteien auf und vervielfältige im soeben beschriebenen Sinne auch die innerparteiliche Demokratie durch mehr Ebenen. Als das „Hauptargument“ 285 zur Rechtfertigung des Bundesstaates gilt die Verstärkung der Gewaltenteilung 286. Neben die horizontale Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative trete im Bundesstaat eine zweite Form der Gewaltenteilung: die vertikale Gewaltenteilung zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten. Es ergebe sich also eine „doppelte Gewaltenteilung“ 287. Auch dieses Argument geht auf Hesse zurück 288. 3. Legitimation durch Verbesserung der Funktionsfähigkeit des politisch-administrativen Systems Auch Effizienzgesichtspunkte werden als Rechtfertigungsgründe für den Bundesstaat angeführt. Föderalismus sei eine effiziente Staatsordnung, wenn und soweit die Aufgabenerledigung in kleineren Einheiten effizienter sei als in den großen. Insbesondere wird betont, daß in kleineren Einheiten eher mit neuen Lösungen für Probleme experimentiert werden könne. Dem föderativen System wird gesteigerte Lern-, Problembewältigungs- und Konfliktverarbeitungsfähigkeit zugesprochen 289. Damit solle auch eine Systemstabilisierung erreicht werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Legitimation durch Wettbewerb zwischen den verschiedenen Ebenen und Gliedern zu sehen. Sofern vergleichbare Kompetenzbereiche vorliegen, könnten die betreffenden Einheiten um die optimale Erfüllung der Aufgaben konkurrieren 290. 285
Weber, Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus, S. 10. Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 232; Kilper / Lhotta, Föderalismus, S. 61 f.; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 30 f.; Mayer-Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates, S. 199; Schenke, JuS 1989, S. 698 ff.; Stern, Staatsrecht I, § 19 II. 2.; Weber, Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus, S. 10; vgl. a. Schodder, Föderative Gewaltenteilung, S. 8 f., 25; krit. Bothe, Föderalismus, S. 24. 287 Wittkämper, Dezentralisierung politischer Entscheidungen, S. 71. 288 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 26 ff. 289 Lerche, VVDStRL 21 (1964), S. 84 ff.; Ronneberger, Föderative Politik als Handlungssystem, S. 295 (307 ff.); Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat, Band I, S. 47 ff., S. 146 ff., 154 ff., 183 ff.; Kopp, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, S. 112 ff.; Kisker, Ideologische und theoretische Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, S. 23 (26); Mayer-Tasch, Politische Theorie, S. 200; Dye, American Federalism, S. 175 ff.; differenzierend Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 329; ablehnend Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 27 ff. 290 Arndt, Erneuerter Föderalismus, S. 31 f.; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 31 f.; Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat, Band I, S. 146 ff.; Sturm, Das Selbstverständnis des deutschen Föderalismus im Wandel, S. 111 (115); van Suntum, Die Idee des wettbewerblichen Föderalismus, S. 13 (14). 286
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II. Stellungnahme: Die tatsächliche Grundlage der verfassungsrechtlichen Ordnung In der Tat hat die Deutung des deutschen Bundesstaates überwiegend apologetischen Charakter. Er wird nicht aus sich heraus gerechtfertigt, sondern aus dem Nutzen, den er für andere Verfassungselemente erbringt. Es besteht daher eine unitarische Ausrichtung der Bundesstaatsinterpretation auch durch die Rechtfertigungslehren. Dies hat obige Analyse zu den Theorien des demokratischen Bundesstaates ergeben. Seine Legitimation wird nur aus seinen Hilfsdiensten für das Rechtsstaats- oder Demokratieprinzip abgeleitet 291. Deutlich wird dies nicht nur an den verbreiteten zweifelnden Überlegungen zur Rechtfertigung des Bundesstaates, sondern auch an der Bedeutung, die Hesses Lehre vom unitarischen Bundesstaat erlangt hat. Das bedeutet, daß das Bundesstaatsprinzip im wesentlichen aus der Warte des Bundes wahrgenommen wird, weil seine Dienstbarmachung für die offenbar als wichtiger eingestuften Entscheidungen auf Bundesebene sowie für das Demokratieprinzip beschrieben wird. Sämtliche Rechtfertigungsversuche erwecken den Eindruck, als müsse für das nolens volens nun einmal vorhandene Bundesstaatsprinzip gleichsam rückwirkend eine Rechtfertigung gefunden werden. Im Gegensatz zum Demokratieprizip fehlt es an einer positiven Theorie, nach welcher der Bundesstaat kein Übel ist, sondern elementarer Teil der Verfassung. Viele Autoren scheinen sich dabei auch nicht recht an die historischen Wurzeln, die Verfassungstradition und den dem Bundesstaatsprinzip naturgemäß innewohnenden Raumbezug 292 erinnern zu wollen. Das bildet den Hintergrund, vor dem nicht nur Hesses Lehre 293, sondern auch andere unitarisch geprägte Deutungen des Bundesstaates Einfluß gewinnen und bis heute Bedeutung behalten konnten. Letzteres zeigt sich z. B. an dem nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Politik und Medien stets wohlfeilen Streit um die angebliche Ineffektivität des Föderalismus oder den Bundesrat als „Blockadeinstrument“ 294. Denn der Verlauf der Untersuchung hat ergeben, daß derartige Positionen von einem für das Grundgesetz falschen Demokratieund Verfassungsverständnis ausgehen. Dem bundesdeutschen Föderalismus wird nach einer Auffassung in der Literatur vorgeworfen, daß die Länder in ihrer heutigen Gestalt auf keine Tradition zurückblicken können 295. Das ist aber zunächst insoweit unerheblich, da es sich 291
Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (260). Vgl. Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (254): „Die Raumvergessenheit der Deutschen“. 293 So auch Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 67. 294 Etwa Schneider, NJW 1997, S. 3757 (3759). Dazu sogleich. 295 Vgl. zur Kritik Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 12; Hoppenstedt, Föderalismus, S. 18; Weber, Fiktionen und Gefahren, S. 57 ff. 292
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bei der Bundesstaatlichkeit als solche um eine Tradition handelt. Aus diesem Grunde wäre unter historischen Gesichtspunkten weniger die Einsetzung als vielmehr die Abschaffung der Gliederung Deutschlands in Länder rechtfertigungsbedürftig. Weiterhin kann nach fünfzigjährigem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland und des Grundgesetzes der deutsche bundesstaatliche Aufbau eine historische Legitimation im Sinne einer „Legitimation durch Zeit“ 296 genießen. So wie es hinsichtlich der Legitimation des Grundgesetzes verfassungstheoretisch vertretbar ist, daß die Legitimation im Nachhinein durch die Annahme der Bürger, die sich faßbar in den ersten Bundestagswahlen manifestierte, erfolgte 297, kann dies im Tatsächlichen erst recht nach langer Zeit für die Akzeptanz der Bundesländer gelten. Hiergegen bringen einige Autoren vor, die Länderzuschnitte seien künstlich 298. Sie stimmten in vielen Fällen nicht mit den landsmannschaftlichen überein, wie z. B. in Nordrhein-Westfalen. Bei anderen hingegen schon, wie in Sachsen oder Bayern. Dies spricht aber nicht gegen die Legitimationsfähigkeit des Argumentes Unterschiedlichkeit. Denn in Europa war der Zuschnitt von Staaten stets Ergebnis von Kriegen und damit der Einflußnahme der Sieger bzw. fremder Staaten unterworfen. Als Beispiel möge nur der Reichsdeputationshauptschluß dienen. Traditionen und Staatsbewußtsein haben sich – selbst in „Bindestrich-Bundesländern“ – gebildet. Die integrative Leistung, die im monarchischen Zeitalter von den Herrscherhäusern geleistet wurde, findet heute einen Ersatz in Parteien oder in den Ministerpräsidenten, die nicht umsonst als „Landesväter“ oder „Landesfürsten“ 299 bezeichnet werden 300. Auch ist ein unterschiedliches Wahlverhalten in den Bundesländern nachweisbar. 301 Dafür sprechen weiter die vielen gescheiterten Versuche, eine Länderneugliederung zu unternehmen. Dies gilt sowohl für entsprechende Initiativen kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes als auch für jüngste Ansätze zu Länderfusionen 302. Die Beharrungskräfte 296
Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (274). Vgl. Mußgnug, HbStR IV, § 6, Rn. 100 ff. 298 Vgl. zur Kritik Bothe, Föderalismus, S. 25; Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 12; Hoppenstedt, Die bundesstaatliche Ordnung, S. 19. 299 Vgl. Steffani, Die Republik der Landesfürsten, passim; Schneider, Ministerpräsidenten, S. 64, 87, 198 ff., 368 ff. 300 Vgl. Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (276 f.). 301 Schultze, Wählerverhalten und Parteiensystem, S. 32 ff.; Isensee, Einheit in Ungleichheit, S. 139 (142) mit Bezug auf Schmidtchen, Protestanten und Katholiken, passim. 302 Herdegen, Neugliederung der Bundesgebietes, S. 123 (126 f); Evers, in: Bonner Kommentar, Art. 29, Rn. 16 f.; vgl. a. Grube, Föderalismus in der öffentlichen Meinung, S. 101 (102); zur gescheiterten Länderfusion Berlin-Brandenburg Bauer / Seidel, LKV 1999, S. 343; Jung, ZParl 1997, S. 13 ff.; Häberle, Kulturhoheit im Bundesstaat, S. 55 (63). 297
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der Bevölkerung haben sich als stärker erwiesen als der Machbarkeitsglauben der Politik. „Der unerfüllte Verfassungsauftrag“ 303 wird unerfüllt bleiben. Denn Art. 29 GG entspricht keinem politischen Willen 304. Er könnte daher gestrichen werden. Schließlich haben in den letzten Tagen der DDR die ersten frei gewählten Volksvertretungen die alten Länder wiederbelebt, welche die DDR abgeschafft hatte 305. Eine derartige identitätsstiftende Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Das mag bisweilen angesichts des wirtschaftlichen Leistungsgefälles als „Zug ins Irrationale“ 306 erscheinen. Die Macht des Irrationalen ist als Barriere für Länderneugliederungen auch aus anderen Bundesstaaten, wie etwa der Schweiz, bekannt 307. Sie ist aber gerade deshalb ein Beleg für die Stärke, welche die bestehende Gliederung erlangt hat. Über diese Kräfte sollten sich weder die politischen Kräfte noch die Wissenschaft in technokratischer Manier hinwegsetzen. Dieses Staatsbewußtsein hat auch normativen Niederschlag gefunden: in den unterschiedlichen Verfassungen der Länder. Sie weisen zum Teil beträchtliche Unterschiede auf, wie etwa in dem Menschenbild, von dem sie geprägt sind, sozialethischen Vorstellungen, aber auch in der politischen Willensbildung durch plebiszitäre Elemente oder soziale Grundrechte. Diese differierenden Inhalte dokumentieren das Bemühen, – legitimen oder irrationalen – Sehnsüchten Raum zu geben, die im Bund unerfüllt geblieben sind 308. Die bundesstaatliche Tradition Deutschlands kann folglich als Geltungsgrund herangezogen werden. Anders formuliert: Der Bundesstaat beruht auf der „Selbstbestimmung der durch historische Prozesse in staatlichen Einheiten zu eigenen Gemeinwesen verfaßten Bevölkerungsgruppen“ 309. Zu diesem historischen Prozeß gehört auch die Entwicklung in den Geltungsjahren des Grundgesetzes. Diese Tradition ist freilich kein Selbstzweck. Aber sie erklärt und legitimiert die bestehenden Strukturen. Solche Determinanten mit langer Geschichte lassen sich nicht beliebig verändern. Nur gewachsene Strukturen bilden ein schlüssiges und tragfähiges System. Die zuvor dargestellten Legitimationsmuster sind solche, die eher ursprüngliche und auf tatsächlichen Gegebenheiten beruhende Rechtfertigungskategorien des Bundesstaates darstellen und es daher vermögen, das Gemüt der Menschen 303
Hennings, Der unerfüllte Verfassungsauftrag, passim. Ebenso Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (277); Herdegen, Neugliederung des Bundesgebietes, S. 123 (128). 305 Herdegen, Neugliederung der Bundesgebietes, S. 123 (124). 306 Herdegen, Neugliederung der Bundesgebietes, S. 123 (131). 307 Eichenberger, Föderalismus und Regionalismus in Europa, S. 17 (26). 308 Herdegen, Neugliederung der Bundesgebietes, S. 123 (131); vgl. die verschiedenen Verfassungsentwürfe in: JöR n.F. 39 (1990), S. 350 ff.; Schwabe, ZRP 1991, S. 361 ff.; Simon, NJ 1991, S. 427 ff.; Graf Vitzthum, VBlBW 1991, S. 404 ff. 309 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 574; ähnlich Kadelbach, VVDStRL 66 (2006), S. 7 f. 304
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anzusprechen und die Bürger „mitzunehmen“. Anders hingegen die Rechtfertigungsgründe des Subsidiaritätsprinzips, der vertikalen Gewaltenteilung und der Demokratieverstärkung. Diese „rationalen Rechtfertigungsgründe“ 310 sind von abstrakter, verfassungsrechtlicher Natur und sehen in der Bundesstaatlichkeit bzw. im Föderalismus ein „Ordnungsprinzip der Freiheit“ 311. Sie entstammen einer Zeit, in der sich die Menschen und damit letztlich auch das Staatsverständnis von den Kategorien Region, Land und staatliche Einheit verabschiedet hatten. Vielmehr sah sich nach Auffassung einiger Autoren der selbstverständlich gewordene Nationalstaat mehr und mehr unitarischen Tendenzen ausgeliefert, welche die anfängliche Legitimation aus Vielfalt obsolet erscheinen ließen. Das Bestreben, zuviel Machtkonzentration zu vermeiden und sämtliche staatliche Elemente demokratischer Legitimation zuführen zu wollen, ist allenthalben spürbar. Bisweilen muten die Rechtfertigungen auch an, als wollten sie die nach wie vor bestehende Existenz eines vorgeblich anachronistischen Systems, das eine historisch an anderen Kategorien ausgerichtete Herkunft hat und demzufolge auch anderen Rechtfertigungen unterlag, nachträglich mit „übers Knie gebrochenen“ Argumentationen rechtfertigen, auch wenn sie der Sache nach zutreffend sind. Solche universellen Rechtfertigungen reichen aber nicht aus, um eine Beziehung der Bürger zu der Organisationsform ihres Gemeinwesens aufzubauen. Die Vernachlässigung der Rechtfertigung des Bundesstaates aus der Nähe der Menschen zu partikularen Gruppenidentitäten und damit zu ihren Bundesländern zugunsten universeller Rechtfertigung ist mit ein Grund für unitarische Tendenzen. Diese, zugleich eher „technischen“ Rechtfertigungsgründe haben den Bundesstaat entzaubert und ihm damit Geltungskraft genommen. Denn der Bürger geht jedoch nicht nur in seiner universellen politischen Identität auf, sondern besitzt auch noch eine partikulare. Dieser partikularen Identität des Bürgers als politisches Wesen entspricht zumeist seine emotionale Verbundenheit als menschliches Wesen. Überwiegend aus diesem emotionalen Bindemittel erwächst der Zusammenhalt politischer Gemeinschaften, der für ihre Existenz zwingend notwendig ist. Dies gilt auch für die Gliedstaaten in einem föderalen Gebilde. Als Vergleichsbeispiel (zu der rationalen und emotionalen Variante) sei hier der eher rationale Verfassungspatriotismus im Vergleich zu einem traditionell verstandenen, emotionalen Patriotismus angeführt. So, wie sich aus diesen ursprünglichen Neigungen persönliche Identitäten ergeben, ergeben sich daraus immer größer werdende Gruppenidentitäten: von der Familie über die Nation bis zu übernationalen Gruppen, wie den Europäern. Eine Stufe auf dieser Identitätsskala ist das Bundesland. Aus dieser emotionalen Gruppenidentität rechtfertigt sich daher noch immer der Bundesstaat. Es sind noch hinreichend tatsächliche und daher emotionale Bezugspunkte zur Bundesstaatlichkeit vorhanden, wie so310 311
Bothe, Föderalismus, S. 24. v. Unruh, DVBl. 1982, S. 184.
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eben aufgezeigt. Der Bundesstaat rechtfertigt sich daher nicht nur aus rechtlichtechnischen Gesichtspunkten. Die letzte Gruppe der Rechtfertigungsgründe (Wettbewerb und Effizienz) stellt auch gleichzeitig die modernste dar. Während zuvor noch in den Kategorien der Freiheitssicherung gedacht wurde, also in nicht materialistischen Dimensionen, scheinen mit den Größen Effizienz und Wettbewerb Kriterien eingeführt zu sein, die sich in einer materialistischen Welt an den Gesetzen des Marktes orientieren. Diese Deutungsversuche – in allen gesellschaftlichen Bereichen – sind seit den neunziger Jahren genauso modern, wie Ende der sechziger Jahre die unitarische Ausrichtung, die als Lösung aller Probleme betrachtet wurde. Dabei wird der Anwendungsbereich des Wettbewerbs überschätzt. Folglich ist dem heutzutage wohlfeilen Argument des Wettbewerbs mit Vorsicht zu begegnen. Der Staat läßt sich nur sehr bedingt mit Instrumenten eines Gebietes beherrschen, in dem andere Gesetze gelten: dem Markt. Es ist nicht primäre Aufgabe des Staates, am Markt teilzunehmen. Es ist seine Aufgabe, das Recht zu garantieren, daß Wettbewerb stattfinden kann. Und diese Garantie kann er nicht ausfüllen, wenn er sich selbst zum günstigsten Preis verkauft 312. Effektivitäts- und Wettbewerbsabsichten verfangen nur bedingt, da sich die normativen Werte des Bundesstaates dem Effizienzkalkül entziehen 313. Stabilität hängt wesentlich vom Konsens der Bürger ab, die nicht nur rechnen 314. Daher: „Dem Staat was des Staates ist, dem Markt, was des Marktes ist“. Im Bundesstaat haben Bund und Länder, vermittelt durch den Grundsatz der Bundestreue, füreinander einzustehen. Andererseits darf dies nicht zu einer Gleichschaltung der Länder und zur Nivellierung sämtlicher Unterschiede führen. Der Lohn für eine erfolgreiche gliedstaatliche Politik muß auch dem betreffenden Land zugute kommen. Dafür sind freilich auch Änderungen an der Finanzverfassung erforderlich, d. h., die Länder müssen eigene Steuerhoheiten bekommen. Letztlich ist das rechte Mittelmaß zwischen Solidarität und Wettbewerb zu finden. Erforderlich ist daher ein solidarischer Wettbewerb. Schließlich führt der Vorwurf der vorgeblichen Ineffektivität des bundesstaatlichen Systems zu Vorbehalten ihm gegenüber und damit auch zu einer Zuwendung zum Zentralismus und Unitarismus. Die bundesstaatliche Ordnung wird also als unnötiges Hindernis bei der Durchsetzung notwendiger Entscheidungen angesehen. Dies hat nicht nur den Rechtfertigungsdruck des Bundesstaates erhöht 315, sondern erhebt auch den Einheitsstaat zur vermeintlich besseren Alternative und führt damit zu einer verstärkten zentralistischen Verfassungspraxis. 312
Vgl. dazu Kirchhof, FAZ vom 1. Dezember 2004, S. 38. Krit. Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 44 ff.; Kirchhof, Bundesstaatlichkeit als Element des Verfassungsstaates, S. 59 (63); ders., JZ 2004, S. 981 (985): „Der dem Wirtschaftrecht entlehnte Gedanke des Wettbewerbs ist aber ein Gegensatz zum Demokratieprinzip“. 314 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 329. 315 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 73. 313
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Auffällig ist dabei, daß sich die Wahrnehmung des Bundesrates als vorgebliches Blockadeinstrument 316 verstärkt und der im politischen Sprachgebrauch sowie in der Berichterstattung verwendete Ausdruck „Blockade“ nach der Obstruktionspolitik Lafontaines in den letzten Regierungsjahren Kohls zugenommen hat. Seitdem gilt diese Möglichkeit als legitimes Mittel und die Wahrnehmung des Bundesrates – insbesondere in der öffentlichen Debatte – hat sich (weiter) verschlechtert. Daraus folgt – abgesehen von der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit solcher Politik –, daß die Pflege von Verfassungsorganen und -prinzipien, letztlich der Politik mit dem Recht, auf den verantwortungsvollen Umgang der Beteiligten angewiesen ist. Eine Wahrnehmung, sei sie zutreffend oder nicht, kann dann auch noch durch ebenfalls unverantwortungsvollen Umgang der Presse potenziert werden. Der Brückenschlag zu der Auffassung, der einzelne Bürger neige dann ebenfalls zum geringschätzigen Umgang mit dem Recht 317 und damit zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Erscheinung, fällt dann nicht mehr schwer. Daher sollte auf den Begriff der Blockade verzichtet werden. Er hat einen pejorativen Gehalt, der nicht dem Verfassungsrecht entspricht. Eine Nichtzustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz ist nicht etwa eine Blockade, sondern eine demokratisch-bundesstaatliche Entscheidung in einer Verfassung, die bei Zustimmungsgesetzen eine doppelte Mehrheit sowie die Parteien als verfassungsrechtliche Institutionen 318 vorsieht. Der Begriff der Blockade ist kein rechtlich-neutraler Begriff, sondern ein politisch-wertender. Er sollte aus dem politischen Sprachgebrauch, mindestens aber aus dem wissenschaftlichen Schrifttum 319 herausgenommen werden. Der Einheitsstaat ist allerdings nicht zwingend die effektivere Staatsform für die angeblich nach Einheitlichkeit strebende Modernisierung. Oben wurde bereits näher erläutert, daß die unitarische Reaktion auf die anstehenden Probleme infolge der sich ändernden Gesellschaft und des technischen Fortschritts nicht zwingend und auch nicht verfassungsrechtlich vorgegeben war. Vielmehr war es eine politische Entscheidung, mit Zentralisierung zu reagieren 320. Daraus erklären sich weitere Gewichtsverschiebungen im Verfassungsrecht (z. B. Gemeinschaftsaufgaben) oder in der Verfassungspraxis. Nach der herrschenden Lehre handelt es sich also bei dem Bundesstaatsprinzip um eine Ordnung, die es zu rechtfertigen gilt. Zuzugestehen ist, daß eine Bundesstaatstheorie den Bundesstaat zu erklären, seine historische Herkunft darzulegen 316
Statt vieler Schneider, NJW 1997, S. 3757 (3759). So zu Recht Bauer, RuP 2002, S. 70 (78). 318 BVerfGE 2, 1 (73); 5, 85 (133); 9, 162 (165); 11, 239 (241); 13, 54 (81 f.); 41, 399 (416); 96, 92. 319 Verwendet etwa bei v. Arnim, ZRP 1998, S. 138. 320 Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 115; Renzsch, StWStPr 8 (1997), S. 87 ff. 317
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hat, sie muß ihn aber nicht rechtfertigen. Die Aufgabe der Lehre zum Bundesstaat besteht nicht darin, den Bundesstaat zu rechtfertigen, sondern eine in sich schlüssige Bundesstaatstheorie zu entwickeln, mit der konkrete Verfassungsfragen gelöst werden können. Insbesondere beim Bundesstaat hat sie Anhaltspunkte für das richtige Gleichgewicht zwischen föderaler und unitarischer Ausrichtung zu geben. Die Ausfüllung obliegt freilich der Verfassungspraxis, d. h. der Politik. Obwohl die Verfassung die bundesstaatliche Ordnung im Gegensatz zu anderen Verfassungsprinzipien eingehender geregelt hat 321, ist es der Verfassungspraxis gelungen, den Bundesstaat zu unitarisieren und die Länder politisch und verfassungsrechtlich auszuzehren. Daher ist die Lehre um so mehr gefordert; sie hat der Politik Grenzen zu setzen und die Einfallstore des Politischen im Bereich des Bundesstaates noch enger zu stecken, um weitere Zentralisierungserscheinungen zu verhindern. Dies wird durch eine bloße Rechtfertigungsdebatte nicht erreicht. Die Diskussion um die Rechtfertigung des Bundesstaates ist in Deutschland nämlich nur deshalb so stark ausgesprägt, weil der ursprüngliche Nutzen und der tatsächliche Ursprung des Föderalismus durch den hohen Unitarisierungsgrad in den Hintergrund getreten und nur noch die Kosten und Nachteile zu erkennen sind, die in einem Bundesstaat mit gesundem föderalen Gleichgewicht zumindest aufgewogen werden. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Lehre die Frage „Warum Bundesstaat?“ zu beantworten hat; aber nicht im Sinne einer Rechtfertigung eines vorgefundenen Verfassungsprinzips. Eine Lehre, welche die Frage nicht beantwortet, ist unvollständig. Da sich die Lehren vom unitarischen und kooperativen Bundesstaat sowie vom Beteiligungsföderalismus als Kunstprodukte erwiesen haben, muß dem historisch-tatsächlichen Ursprung der bundesstaatlichen Ordnung wieder mehr Gewicht beigemessen werden. Die föderale Tradition einer durch historische Vorgänge entstandenen regionalen Selbstbestimmung und die kulturelle Vielfalt Deutschlands sind daher nicht nur ein Rechtfertigungsgrund, sondern auch insbesondere die Erklärung der gegenwärtigen Verfassungsordnung. Dies ist die tatsächliche Grundlage einer rechtlichen Konstruktion. Letztere muß nicht nachträglich mit Sinngehalt gefüllt werden. Erst recht nicht mit einem rechtlichen oder verfassungstheoretischen Geltungsgrund, der den Menschen fremd, ihnen zumindest weniger vertraut ist als ein tatsächlicher Geltungsgrund oder ein emotionaler Bezug zu ihrem Gemeinwesen. Ihre historische Herkunft und regionale Zugehörigkeit ist den Menschen hingegen vertraut. Es ist ein Irrglaube anzunehmen, daß nur aus einem Verfassungstext heraus oder ausschließlich mittels „technischer“ Theorien über zusätzliche Gewaltenteilung die Identität einer Ordnung und die Identifizierung der Menschen mit ihr erwachsen können. Ihre Lebenskraft erhält eine Ordnung
321
Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (250).
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
auch aus den Menschen, die sie angeht und deren politisches Zusammenleben sie ordnen soll 322. Neben einer rechtlichen Legitimation bedarf es zur Anerkennung und Identifikation der Menschen mit einer staatlichen Gemeinschaft und ihrer Verfassungsordnung auch eines (tieferen) Grundes, der den Bürger nicht nur als politisches, sondern auch als natürliches Wesen und damit sein Gefühl anspricht. Dies sind im Falle des Bundesstaates die partikulare Identität der Bürger und damit die unterschiedlichen Kulturen und gewachsenen Traditionen. Bloß rationale, technische und kalte Gründe reichen alleine nicht. Dies führt dazu, daß die Identifikation der Menschen mit ihrem Gemeinwesen unterbleibt und sofort die Frage etwa nach dem Warum und den Kosten aufkommt. Zwar scheint seit der Aufklärung stets derjenige der Überlegene, der hinterfragt und das Gemütsbezogene in den Bereich des Mystischen und damit Unterlegenen verweist. Aber eine Gemeinschaft kann darauf nicht ganz verzichten, will sie ihren Zusammenhalt nicht verlieren. Ähnliches gilt auch für die Demokratie. Oben wurde gesagt, daß zwar ein präexistenter Gemeinwille nicht existiert, andererseits aber die Demokratie mehr herstellt, als nur die Summe der Einzelwillen zu bündeln. Daher gilt für die Demokratie wie den Bundesstaat, daß es einer gemütsbezogenen Komponente bedarf: Es gibt auch in der Demokratie das Gemeinwohl, allein um ein integratives Gemeinschaftsmoment zu bilden und damit nicht nur den Verstand der Menschen anzusprechen. Das bedeutet nicht, daß die Argumente der zusätzlichen Form der Gewaltenteilung, der Vervielfältigung von Demokratie abzulehnen wären. Gerade die Überlegungen zum demokratischen Bundesstaat haben dies bestätigt. Sie können neben dem hier vertretenen Grund zusätzlich Geltung beanspruchen. Er besteht darin, daß sich der Bundesstaat des Grundgesetzes und damit die Akzeptanz der Länder und das partikulare Staatsbewußtsein aus räumlicher Gemeinsamkeit speisen. Dies wurzelt in kurzer oder langer geschichtlicher Verbundenheit oder zumindest erfolgreichen geschichtlichen Assoziationsversuchen, in landsmannschaftlichem Zugehörigkeitsgefühl oder in staatsrechtlicher Kontinuität im Grundgesetz. Mit dieser im Tatsächlichen liegenden Erklärung besteht eine hinreichende verfassungstheoretische Verwurzelung einer verfassungsrechtlichen Konstruktion.
322
Wie hier Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (251).
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F. Ergebnis: Theorie des demokratischen Bundesstaates Die Analyse des demokratischen Bundesstaates hat ergeben, daß in der Verfassungstheorie ein langer Weg zum demokratischen Bundesstaat zurückzulegen war; ein längerer noch als in der tatsächlichen, historischen Verfassungsentwicklung. Problematisch erwiesen sich dabei die Vorbildwirkung anderer Länder und die Übernahme deren Modelle sowie das Festhalten an eigenen Theoriemodellen aus vergangenen, nicht-demokratischen Epochen. Demzufolge mußte es zu Imkompabilitäten kommen, weil der vielfältige Einfluß die deutschen Verfassungen zu einem besonderen Amalgam gemacht und zur gemischten Verfassung des Grundgesetzes geführt hat. In ihr sind nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung die einzelnen Prinzipien mit Rücksicht aufeinander auszulegen. Die reinen Lehren haben sich im Grundgesetz nicht verwirklicht. Seine Bestandteile sind auch nicht danach, sondern differenziert auszulegen. Die Übernahme von Modellen und Begrifflichkeiten anderer Verfassungstraditionen ist folglich nicht statthaft. „Die (vielfach unberechtigte) Idealisierung fremder Modelle trägt nichts bei zum Verständnis und zur Verbesserung des Eigenen“ 323. Die Kenntnis und der Vergleich hingegen schon, wie der bisherige Verlauf der Untersuchung gezeigt hat. Daher ist aufgrund seiner eigenen historischen Entwicklung und verfassungsrechtlichen Mischform von einem Verfassungstyp sui generis, nämlich spezifisch deutscher Prägung auszugehen: dem demokratischen Bundesstaat. „Darin zeigt sich der Bundesstaat, auch gegenüber dem Einheitsstaat, als höhere Entfaltung des Verfassungsstaates“ 324 Bundesstaat und Demokratie haben zu einem Verbundsystem geführt, in dem die Bestandteile nur sinnvoll miteinander, nicht in Gegenüberstellung zueinander interpretiert werden können. Der Streit über die Vereinbarkeit beider Prinzipien ist damit für das Grundgesetz hinfällig. Es kann keine isolierte Bundesstaatstheorie für das Grundgesetz geben, sondern nur eine des demokratischen Bundesstaates. Die Rede sei daher von der „Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat“, nicht von der „Gesetzgebung zwischen parlamentarischer Demokratie und Föderalismus“ 325, die noch immer einen Ant323
Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 381. Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (267). 325 Schenke, ParlRParlPr, § 55, vor Rn. 1; dies kommt – unterderhand – auch in vielen Schriften vor; vgl. etwa die Kapitelüberschrift bei Kilper / Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 122: „Gesetzgebung im Spannungsverhältnis von Parlamentarismus und Föderalismus“; im 1. Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 1998: „Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat“ (Hervorhebg. d. Verf.); ebenso die Gegenüberstellung bei Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 199 ff.; Lorz, Interorganrespekt, S. 596 f., der zwischen beiden durch Interorganrespekt einen Ausgleich schaffen will; Dann, Der Staat 2003, S. 355 (368 f.), der „ein volles parlamentarisches Regierungssystem“ der Bundesstaatlichkeit gegenüberstellt; Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat, S. 81. 324
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
agonismus zweier gegenläufiger Prinzipien und deren Zusammenfügung in einer Verfassung unterstellt. Die Weiterentwicklung vom monarchischen zum demokratischen Bundesstaat macht es notwendig, die auch inhaltliche Abkehr von Begriffsbestimmungen vergangener Epochen vorzunehmen und sie behutsam modern zu redefinieren, ohne auf die Begriffe selbst zu verzichten. Demokratie und Bundesstaat sind nicht etwa einzeln, sondern stets in Bezug zueinander auszulegen. Dies führt zu folgendem Bild des demokratischen Bundesstaates des Grundgesetzes, seinen Bestandteilen und seiner Herkunft: Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes erweist sich als eine plurale Demokratie, in der die Verfassung selbst und die staatlichen Entscheidungen in einem Kombinationsmodell von zwei staatlichen Ebenen mit je unabgeleiteter Gewalt zweifach demokratisch legitimiert sind. Für eine Reduktion des Bundesstaates auf ein reines Organisationsprinzip oder einen „einheitsstaatlichen Bundesstaat“ ist in der Verfassungstheorie damit kein Raum. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung, der herrschenden Auffassung in der Staatsrechtslehre, aber auch der Verfassungswirklichkeit. Weder das Parlament ist Sitz der Souveränität, was eine bundesstaatliche Auflockerung unmöglich machen würde, noch liegt sie beim Volk. Im demokratischen Bundesstaat, der notwendigerweise als Verfassungsstaat konzipiert ist, ist die Souveränität als teilbar denkbar, da sie nunmehr als höchste rechtlich fixierte, durch eine Verfassung zugewiesene und gebundene Herrschaftsgewalt zu verstehen ist. Sie hat die Aufgabe, die konkurrierenden Herrschaftsansprüche beider bundesstaatlicher Ebenen zu koordinieren. Dem Parlamentarismus des demokratischen Bundesstaates liegt ein gemäßigt responsiver Repräsentationsbegriff zugrunde, der keinen einheitlichen und daher unergänzbaren allgemeinen Volkswillen a priori kennt, sondern die Pluralität der Interessen widerspiegelt, gleichzeitig aber auch einen Gemeinwillen herstellen kann. Der demokratische Bundesstaat bleibt Staat, aber nicht im Sinne einer vorgefundenen Einheit, sondern er ist Wirkungseinheit im Sinne eines Produkts gemeinsamen Handelns zweier staatlicher Ebenen, das verfassungsrechtlich organisiert ist. Das Grundgesetz ist durch und durch Verfassung einer Republik. Sämtliche Relikte in der Verfassungstheorie aus der Monarchie passen nicht hinein, führen vielmehr nur zu angeblichen Fehlfunktionen. Dieses Ergebnis zeigt, daß der demokratische Bundesstaat ein hochkomplexes und ausdifferenziertes Wesen ist. Es ist daher einer vereinfachenden Gegenüberstellung von Alternativen, wie „Dezision – Integration, Etatismus – Pluralismus, Staat – politische Gemeinschaft“ 326, oder deren Protagonisten „Schmitt – Smend“ 326 So aber die vereinfachende Gegenüberstellung bei Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatslehre zwischen Dezision und Integration 1949 –1970, passim; vgl. dazu die Besprechung von Grawert, Der Staat 2005, S. 151 ff.
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nicht zugänglich. Die gemäßigte Verfassung ist vielmehr differenziert zu analysieren und läßt sich nur durch zeitgemäße, aber besonnene Umdeutung seines Begriffsinstrumentariums erfassen. Die reine Lehre ist seine Sache nicht. Auch insofern erweist sich der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes als Staat einer gemäßigten Verfassung. Das Ziel einer gemischten Verfassung ist damit erreicht. Dem rechtlichen Konstrukt der zweifachen demokratischen Legitimation entspricht seine tatsächlich-historische Grundlage. Während die Demokratie auf einer nationalstaatlichen Selbstbestimmung beruht, gründet sich der Bundesstaat auf der Selbstbestimmung der durch historische Prozesse in staatlichen Einheiten zu eigenen Gemeinwesen verfaßten Bevölkerungsgruppen. Insgesamt liegt damit ein Bild des demokratischen Bundesstaates vor, welches den Bundesstaat nicht als etwas notgedrungen Vorhandenes und als zu rechtfertigende Erscheinung, sondern als ein dem deutschen Verfassungsraum eigenen, wertvollen Bestandteil unserer Verfassungsordnung ansieht.
G. Konsequenzen für die Verfassungsreform: Entflechtungsgebot Weiterhin ergibt sich aus dem bisherigen Verlauf der Untersuchung eine theoretische Leitlininie für die Reform und Auslegung des Zustimmungserfordernisses und die Verteilung des Kompetenztitels. Nach hiesiger Auffassung ist die grundsätzlich bestehende demokratische Legitimation eines einheitlichen Legitimationssubjekts zu gewährleisten, eine doppelte Legitimation durch die bundesstaatliche Gliederung als notwendige Konsequenz des demokratischen Bundesstaates statthaft. Dem läßt sich freilich keine Apologie des bestehenden Verflechtungsföderalismus entnehmen. Es galt lediglich, die Form der zweifachen Legitimation der Entscheidungen im demokratischen Bundesstaat zu untersuchen und dem Grunde – nicht der Häufigkeit nach – gegen undifferenzierte Kritik zu schützen. Ein anderes, davon zu unterscheidendes Problem ist die hohe Anzahl von zustimmungspflichtigen Gesetzen. Es sind also Qualität und Quantität zu unterscheiden. Vielmehr ergibt sich aus der Auslegung des demokratischen Bundesstaates ein Entflechtungsgebot 327. Dieses Entflechtungsgebot ergibt sich aus dem Interpretationsprinzip der Einheit der Verfassung, mit dem das Verhältnis von Demokratie und Bundesstaat bestimmt werden kann. Nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung ist jedes Verfassungsprinzip so auszulegen, daß sein 327
Ebenso Huber, Gutachten, S. D 36.
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
Gehalt möglichst vollständig zur Entfaltung kommt, gleichzeitig aber insoweit zurückzunehmen ist, als es mit anderen Verfassungsgrundsätzen widerstreitet 328. Es kommt also auf den Gehalt von Demokratie- und Bundesstaatsprinzip an. Diese jeweiligen Inhalte von Demokratie- und Bundesstaatsprinzip bleiben auch in der gemischten Verfassung des demokratischen Bundesstaates beachtlich und sind nur insoweit einzuschränken, wie es die Gewährleistung der Einheit der Verfassung erfordert. Das Entflechtungsgebot beruht zunächst auf dem Demokratieprinzip. Zunächst fordert das Demokratieprinzip für sich genommen eine einheitliche Legitimation staatlicher Entscheidungen 329. Bereits aus diesem Grund ist die gemeinschaftliche Gesetzgebung auf die Fälle zu beschränken, die sich aus der echten Betroffenheit der Länderinteressen rechtfertigen. Aus dem Demokratieprinzip folgt weiterhin ein Gebot der Zurechenbarkeit von Verantwortung 330. Die parlamentarische Demokratie fordert die Erkennbarkeit des Zusammenhangs zwischen Entscheidungsträger, Entscheidung und Verantwortung 331. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, daß bei der Formung des politischen Willens die Entscheidungsverfahren der die Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verständlich sind 332. Das heißt, die klare Zurechenbarkeit der Verantwortungen muß wiederhergestellt werden. Das Grundgesetz verlangt daher ein höchstmögliches Maß an Verantwortungsteilung und enthält somit ein Entflechtungsgebot. Das heißt nicht, daß Bund und Länder bei gemeinschaftlicher Gesetzgebung nicht auch gemeinsam Verantwortung tragen können. Dies ist nur logische Folge der vom Grundgesetz vorgesehenen Zustimmungsgesetzgebung. Sie ist aber auf die Fälle echter gemeinsamer Zuständigkeiten zu reduzieren, wenn es das Bundesstaatsprinzip gebietet. Das sind die Fälle, in denen die Interessen der Länder berührt sind. Das Entflechtungsgebot resultiert weiterhin aus dem Bundesstaatsprinzip und aus Art. 30, 70 GG, Art. 28 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG sowie der Staatsqualität der Länder. Beides fordert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß den Ländern ein Hausgut originärer Kompetenzen verbleibt und sie nicht zu hochpotenzierten Selbstverwaltungskörperschaften herabsinken 333. Diese Zielvorgabe des Bundesstaatsprinzips kann freilich nur durch Rückgabe von Zuständigkeiten und damit durch Entflechtung erreicht werden. Gleiches gilt für 328
s.o. A. I. 2. s.o. 2. Kap., A. 330 Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (30 f.); Kirchhof, Das Parlament als Mittler der Demokratie, S. 237 (250); BVerfGE 89, 155 (185); 5, 85 (135, 198, 205); 69, 315 (344 ff.); Huber, Gutachten, S. D 36. 331 BVerfGE 9, 268 (281); 68, 1 (86). 332 BVerfGE 89, 155 (185). 333 BVerfGE 43, 9 (19 f.). 329
4. Kap.: Der demokratische Bundesstaat und seine Bestandteile
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das Subsidiaritätsprinzip als einem Element des Bundesstaates. Auch aus ihm folgt, daß möglichst viele Kompetenzen auf der unteren Ebene, also bei den Ländern, verbleiben bzw. wieder dorthin zurückgegeben werden. In Art. 30 GG ist bestimmt, daß die Ausübung staatlicher Befugnisse Sache der Länder ist, Art. 70 GG konkretisiert dies für die Gesetzgebung. Die beiden Vorschriften zeigen damit die Richtung der Entflechtung an: Die Verlagerung der Kompetenzen hat auf die Länder zu erfolgen. Ein Entflechtungsgebot ergibt sich auch aus dem Zusammenspiel von Demokratie und Bundesstaat. Nach Art. 28 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG gilt das parlamentarisch-demokratische Regierungssystem auch in den Ländern. Aufgrund dieser Anordnung sind bundesstaatliche Vorschriften so auszulegen, daß dieses System in den Ländern nicht ausgehöhlt wird. Kompetenztitel (und Zustimmungsvorschriften) sind daher eng und damit zugunsten der Demokratie in den Ländern auszulegen. Ein Entflechtungsgebot ergibt sich weiterhin aus der Verfassungswirklichkeit des Verflechtungsföderalismus. Es sind Veränderungen zu beobachten, die verfassungsrechtlich und -politisch nicht wünschenswert. So bedeutet der Zuwachs der Zustimmungsgesetze auf über 60% einen Bedeutungsverlust der Landesparlamente, den die Mitwirkung der Landesexekutiven über den Bundesrat nicht ausgleichen kann. Dies widerspricht dem auch in den Ländern geltenden Demokratieprinzip (Art. 28 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG). Nach einer Rückverlagerung von Kompetenzen würden die Parlamente unmittelbar über eigene Landesgesetze entscheiden. Im Exekutivföderalismus der Gegenwart hingegen verlieren die Landtagswahlen an Gewicht und die Bedeutung der Länder selbst als eigenständige Zentren politischer Entscheidungsgewalt mit unvermittelter demokratischer Legitimation nimmt ab. Dies ist aufgrund des Bundesstaatsprinzips, das es verbietet, die Länder zu hochpotenzierten Gebietskörperschaften herabzustufen 334, und des Staatscharakters der Länder nicht hinzunehmen. Da die gemeinschaftliche Gesetzgebung von Bund und Ländern die Vereinigung zweier Willen zu einem bedeutet, orientieren sich die Ergebnisse zwangsläufig an einem Kompromiß, zu dem ein beiderseitiges Nachgeben erforderlich ist. Wegen des damit einhergehenden Identifikationsverlusts der Handelnden ist dies bei mehr als 60 % der Gesetze nicht wünschenswert. Gemeinsame Gesetzgebung ist auf die Fälle zurückzuführen, in denen originäre gebietskörperschaftliche Interessen von Bund und Ländern gleichzeitig betroffen sind, da sie sich auf diese Weise rechtfertigt. Ein hohes Maß an Zustimmungsbedürftigkeit führt ferner zu verstärkter Parteipolitisierung des Bundesrates 335. Daß parteipolitische Interessen eine Rolle 334
BVerfGE 34, 9 (20); 87, 181 (196). Ebenso Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 369 f. 335
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1. Teil: Theorie des demokratischen Bundesstaates
spielen, ist eine notwendige Folge des demokratischen Bundesstaates und daher zulässig; es sind aber aus den genannten rechtlichen und tatsächlichen Gründen parteipolitische Interessen auf ein Minimum zu beschränken. Um diese Entflechtung herzustellen, ist erstens die Verteilung der Kompetenztitel dahingehend zu ändern, daß möglichst in den meisten Fällen künftig die Entscheidung auf ein einheitliches Legitimationssubjekt zurückzuführen ist, eine klare Trennung von Verantwortlichkeiten und damit eine Entflechtung gewährleistet ist. Dies sind entweder der Bund oder die Länder. Nach der grundgesetzlich (Art. 30 GG) zu Recht den Ländern zugeschriebenen und auf der Idee der Subsidiarität beruhenden Kompetenzverteilung sind grundsätzlich die Länder mit Kompetenztiteln zu versehen. Die übrigen wenigen verbleibenden Kompetenzen würden dann gemeinsam von Bundesvolk und Landesvölkern legitimiert sein. Daß dies nicht nur zulässig, sondern auch vom Grundgesetz so vorgesehen ist, hat die bisherige Untersuchung gezeigt. Damit wird eine grundsätzliche Zuständigkeit des einheitlichen Legitimationssubjekts gewahrt, bei gleichzeitiger – zulässiger – gemeinsamer Legitimation bei Zustimmungsgesetzen. Um die weitgehende Einheitlichkeit der Legitimation, der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung und der Staatlichkeit der Länder und deren Grundzuständigkeit (Art. 30 GG) zu entsprechen, ist zweitens eine Änderung in der Auslegung des Zustimmungserfordernisses notwendig: Es ist restriktiv zu handhaben. Die gegenwärtig überbordenden Zustimmungsbefugnisse sind zugunsten echter Selbstbestimmungsbefugnisse zu reduzieren. Gleichzeitig würde so der Schwächung der Landesparlamente entgegengewirkt und eine unmittelbarere demokratische Legitimation hergestellt. Diese Schwächung erfolgte bisher durch den Ersatz echter (parlamentarischer) Entscheidungskompetenz durch (bloße exekutivische) Mitbestimmungsbefugnisse im Bundesrat. Es bedarf also eines möglichst hohen Maßes an reiner parlamentarischer Entscheidungsgewalt des Bundestages und der jeweiligen Landtage. Ferner wird bei einer Rückverlagerung der Kompetenzen den Landtagswahlen wieder mehr Gewicht gegeben und die bisweilen zu beobachtende Tendenz zu „Bundesratswahlen“ und die Aufladung mit bundespolitischen Gehalten vermieden. Ob die Föderalismusreform 2006 diesen Anforderungen gerecht geworden ist, soll unten erörtert werden 336.
336
6. Kap., C.
2. Teil
Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat Nachdem zuvor die Grundlagen des demokratischen Bundesstaates erarbeitet wurden, gilt es nun, die Rechtsetzung in diesem Verfassungstyp zu untersuchen. Gemäß der eingangs vorgenommenen Einschränkung soll nur die Zustimmungsgesetzgebung von Bund und Ländern betrachtet werden. Es geht damit um die Teile der staatlichen Willensbildung, die plural, also gemeinschaftlich von Bund und Ländern, legitimiert werden. Die Beschränkung rechtfertigt sich aus der Komplexität dieser Entscheidungen, im Gegensatz zu denjenigen Gesetzgebungsverfahren, die von einem einheitlichen Legitimationssubjekt getragen werden. Sie sind es auch, die dem Bundesstaat den Vorwurf des Immobilismus einhandeln und durch spektakuläre Verfahren die Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Öffentlichkeit auf sich ziehen und dieses Bild zu bestätigen scheinen. Die Gesetzgebung von Bund und Ländern stellt sich im demokratischen Bundesstaat als gemeinschaftliche Legitimation staatlicher Entscheidungen dar. Bei gemeinschaftlichen Entscheidungen kommt es in der Regel zu Meinungsverschiedenheiten, also zu Konflikten. Im Mittelpunkt der hiesigen Betrachtung der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat stehen daher die Konflikte und deren Beilegung. Welche Konflikte das sein können und in welchen Bereichen sie entstehenen, soll im 6. Kapitel geklärt werden. Im 7. Kapitel wird die Frage beantwortet, wie diese Konflikte gelöst werden können, genauer, welche Verfahren dafür zur Verfügung stehen und nach welchen Prinzipen innerhalb dieser Verfahren die Verhandlungen geführt werden. Da die Gesetzgebung im Grenzbereich von Recht und Politik stattfindet, soll auch die Untersuchung aus der Sicht des Rechts und der Politik geführt werden.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
5. Kapitel
Recht und Politik Die Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat nicht nur nach rechtlichen, sondern auch nach politischen Maßstäben zu untersuchen, erfordert es, sich Klarheit über die Bedeutung der Begriffe „Recht“ und „Politik“ zu verschaffen. Es herrscht nicht nur Uneinigkeit über die Begriffe Recht und Politik (A.), sondern auch darüber, ob sich diese beiden Sphären trennen lassen und wie dies gegebenenfalls zu erfolgen hat (B.).
A. Begriffe von Recht und Politik Es gibt zahlreiche Konzepte, die versuchen, die Begriffe Recht und Politik zu definieren. Die Literatur dazu ist unübersehbar. Eine erschöpfende Erläuterung dieser beiden Kategorien ist an dieser Stelle nicht zu leisten und auch gar nicht erforderlich. Hier kommt es nur darauf an, die beiden Sphären in bezug auf den Untersuchungsgegenstand zu beschreiben. I. Politik Der klassische Politikbegriff sieht das Wesen der Politik in der Herbeiführung einer gerechten Ordnung und stellt damit das Gemeinwohl, wie Frieden, Ordnung, Gerechtigkeit, in den Vordergrund 1. Dagegen betont das realistische Politikverständnis nach Max Weber: „[...] das Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung [...] um ihrer selbst Willen oder als Mittel im Dienste anderer Ziele“ 2. Die historisch-dialektische Theorie versteht Politik als gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne einer Überwindung der Klassen 3. Smend beschreibt Politik als Integration 4, demgegenüber erachtet Carl Schmitt die Unterscheidung von Freund und Feind als politisch 5. Andere hingegen betrachten 1 Diese Schule geht zurück auf die klassische Antike: Platon und Aristoteles sowie Thomas v. Aquin, heute etwa Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 33; ders., NVwZ 1985, S. 616 (618); Scheuner, Der Bereich der Regierung, S. 252 ff.; ders., Verfassung, StLex, Band 8, Sp. 117 ff.; ähnlich v. d. Gablenz, Politik als Wissenschaft, S. 23. 2 Weber, Politik als Beruf, S. 493 (494); ebenso Geiger, JöR n.F. 33 (1984), S. 41 (53). Dieses Verständnis steht in der Tradition von Macchiavelli; dazu Sellin, Politik, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 809 ff., 826 ff., 831 ff.; Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, 1, S. 239 ff. 3 In der Tradition von Marx; dazu vgl. Bermbach, PVS 24 (1985), S. 15 (18 ff.). 4 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (136 ff.). 5 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 ff.
5. Kap.: Recht und Politik
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die Durchsetzung von (Partial-)Interessen als Politik 6. Schließlich setzen einige Autoren die Politik mit dem Handeln des Staates 7 oder der Parlamentstätigkeit und der Gesetzgebung 8 gleich. Nach Schulze-Fielitz u. a. ist politisches Handeln mit der Freiheit verbunden, unter Handlungsalternativen wählen zu können 9. Die Politik hat sich damit sehr viel weniger an vorgegebene Gestaltungsregeln zu halten als etwa die Rechtsprechung. Ausgehend von der These, daß es politische und rechtliche Interessen, Konfliktursachen und Mittel der Streitbeilegung gibt, muß eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Rechts geführt werden. II. Recht Nicht weniger schwierig als die Definition der Politik ist die Bestimmung des Rechts. Vereinfachend lassen sich die Definitionsversuche in materielle und formelle Konzepte unterteilen. In der Antike stellte etwa Justinian fest: „Ius est ars boni et aequi“ 10. Er beschreibt damit die Einheit von Recht und Gerechtigkeit bzw. guter Ordnung. Diese Definition wirkt bei Thomas von Aquin fort: „Recht ist das von der menschlichen Vernunft erkannte ewige, von Gott gestiftete Gesetz (lex aeterna), dessen Inhalt auf die Erreichung des Guten (und Vermeidung des Bösen) gerichtet ist“ 11. Damit betrachtet er das Recht als eine vorgefundene, natürliche und vom Menschen nur noch zu setzende Ordnung. Eine weitere materiale Definition ist mit § 1 des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1797 unternommen worden: „Recht ist alles, was an sich selbst gut ist, was nach seinen Verhältnissen und Folgen etwas Gutes enthält oder hervorbringt und zur allgemeinen Wohlfahrt beiträgt“. Im neueren Schrifttum überwiegen hingegen die formalen Rechtsdefinitionen. So ist für Kant das Recht der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden können“ 12. Er schafft damit eine Ord6 Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 237 ff. 7 Z. B. Scheuner, Der Bereich der Regierung, S. 455 (472) und 45 (71 f., 77). 8 Leisner, Der Begriff des „Politischen“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 305 (333 ff.). 9 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 375 f.; Grauhan, Politische Verwaltung, S. 31 f., 46 ff.; Narr, Logik der Politikwissenschaft, S. 9 (22 ff.); Bartelsperger, VVDStRL 33 (1975), S. 221 (249); Mengel, APuZ 13 –14/1989, S. 30. 10 Corpus Iustinianum, Digesten, 1, 1, 1 pr. 11 Summa theologica, IIa IIae, qu. 57, art. 1. 12 Kant, Metaphysik der Sitten [1797], AA VI, S. 230.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
nung, die Freiheit und Freiheitsbeschränkung der Individuen regelt und damit ihr Zusammenleben verträglich machen soll. Kelsen, der „konsequenteste aller Rechtspositivisten“ (Mayer-Maly), betrachtet Recht als „eine normative Zwangsordnung menschlichen Verhaltens, auf Grund deren sich jedermann so verhalten soll, wie es einer tatsächlich gesetzten und im großen und ganzen wirksamen Verfassung und den gemäß dieser Verfassung gesetzten Normen entspricht“ 13. Danach ist Recht eine Ordnung, die allein kraft Setzung, und nicht etwa – wie das Naturrecht annimmt – kraft vordenklichem oder natürlichem Vorhandensein gilt. Max Weber fügt die Möglichkeit der Normdurchsetzung durch Zwang hinzu: „Recht soll heißen eine Ordnung, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance physischen oder psychischen Zwanges, ausgeübt durch einen eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“ 14. Inwiefern die Untersuchungsgegenstände – die Interessenlagen, die Konfliktursachen und die Konfliktlösung – Recht oder Politik unterliegen, setzt voraus, beide Sphären voneinander trennen zu können. Umstritten ist, ob dies überhaupt möglich ist.
B. Das Verhältnis von Recht zu Politik Das Verhältnis von Recht zu Politik ist eine nicht weniger komplexe Thematik. Ähnlich wie die Diskussion über die Vereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaatlichkeit besitzt sie eine wechselvolle Geschichte in Inhalt und Bewertung. Während man in der Weimarer Zeit die Trennbarkeit beider Bereiche überwiegend zuversichtlich beurteilte 15, herrscht in der Bundesrepublik Deutschland die Auffassung vor, Politik und Recht seien keine streng geschiedenen Welten, sie stünden in einem Wechselverhältnis zueinander 16. Demzufolge wird die 13
Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 34 ff., 45 ff., 51 ff., 206 ff.; dazu Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen. 14 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 22. 15 Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, S. 23. 16 Benda, ZRP 1977, S. 1 (2); Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, S. 27 f.; Dichgans, Recht und Politik, S. 945 ff.; Esser, Grundbegriffe des Rechts und des Staates, S. 9; Grimm, JuS 1969, S. 501 ff.; ders., Recht und Politik, S. 91 ff., Häberle, Politik, S. 64; Herzog, ZG 1987, S. 290 (292); v. d. Heydte, Judicial-self-restraint, S. 923; Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 7 (8); Mengel, APuZ 13 –14/1989, S. 30; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 208 ff.; Reuß, DVBl. 1957, S. 365 (366); Rinken, AK-GG, vor Art. 93, Rn. 90; Roellecke, HbStR III, § 67, Rn. 30 f.; Simon, NJ 1996, S. 170; ders., HbVerfR, § 34, Rn. 46; Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), S. 337 (338); Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 377; für eine Trennbarkeit: Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 44; Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 168 ff.; Schneider, AöR 82 (1957), S. 1 (12); Scupin, Iudex praeceptor legis actoris?, S. 555 (567); Vogel, NJW 1996, S. 1501 ff.
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wissenschaftliche Debatte über das Verhältnis von Recht zu Politik kurzerhand für überholt erklärt 17. Dagegen stehen aber noch Veröffentlichungen in jüngster Zeit 18, die sich dieser Frage widmen. I. Die Auffassungen in Literatur und Rechtsprechung Zunächst gibt es eine Reihe von Autoren, welche die Trennbarkeit beider Sphären bejahen. Die Verfasser verbindet ihr Unterscheidungskriterium, das in der Normiertheit und der Regelungsdichte einer Materie besteht. Bachof sieht das Verhältnis von Recht und Politik so: Er schlägt die Unterscheidung von politischen Direktiven und Rechtsnormen vor und orientiert sich damit an dem Gesichtspunkt, wie eine Materie geregelt ist 19. Noch weitergehend untersucht Kaufmann das Bundesverfassungsgericht als von der Entscheidung politischer Fragen ausgeschlossen und definiert dabei all diejenigen Gegenstände als politisch, für deren Entscheidung keine Rechtsnormen bestehen 20. Ähnlich sieht es heute Gusy, der den Unterschied zwischen Recht und Politik daraus herleiten will, ob eine Materie durch eine Rechtsnorm geregelt ist oder nicht. „Politische Entscheidungen sind solche, die in normativ ungeprägten Bereichen – etwa auf einen Akt der Rechtsetzung gerichtet – ergehen; Rechtsentscheidungen werden dagegen in geregelten Sphären getroffen“ 21. Auch Korinek sieht „die Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Überprüfung [...] ausschließlich von der Regelungsdichte des Kontrollmaßstabes abhängig“ 22. In der späteren Bundesrepublik Deutschland äußert sich ihr Bundesverfassungsgericht auch zu dem Verhältnis von Recht und Politik und damit zu seiner eigenen Stellung. Der Unterschied der Verfassungsgerichtsbarkeit zu allen anderen Gerichten bestehe darin, daß es allein die Verfassungsgerichtsbarkeit sei, die es mit einer besonderen Art von Rechtsstreitigkeiten, d. h. mit politischen Streitigkeiten zu tun habe. Sie seien deshalb politisch, weil „über politisches Recht gestritten und das Politische selbst anhand der bestehenden Normen zum Gegenstand der richterlichen Betrachtung gemacht wird“ 23. Der diese Stellungnahme prägende Text des Berichterstatters Leibholz sieht im Wesen des Rechts und 17 v. Brünneck, AöR 102 (1977), S. 1 (3); Buchardt, Verfassungsgerichtliche Erkenntnis, S. 28 f.; mit Einschränkungen Rinken, AK-GG, vor Art. 93, Rn. 89; Grimm, Studium, S. 99; bereits in der Weimarer Republik Triepel, VVDStRL 5 (1929), S. 2 (6 ff.). 18 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 195 ff., 208 ff. 19 Bachof, VVDStRL 9 (1952), S. 118. 20 Kaufmann, VVDStRL 9 (1952), S. 1 (4). 21 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 44. 22 Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 52. 23 Statusbericht Bundesverfassungsgericht, JöR n.F. 6 (1957), S. 109 (144 f.); Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 168 ff.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
der Politik zwar einen gewissen inneren Widerspruch: Das Politische sei stets etwas „Dynamisch-Irrationales“, das sich den dauernd ändernden Lebensverhältnissen anzupassen suche, wogegen umgekehrt das Recht seiner grundsätzlichen Wesensstruktur nach immer etwas „Statisch-Rationales“ sei, bestrebt, die „vitalen politischen Kräfte“ zu bändigen 24. Dabei wohne dieses Spannungsverhältnis dem Verfassungsrecht und damit auch der Verfassungsgerichtsbarkeit inne. Mit diesem Verständnis wird dann eine isolierte Abgrenzung von Recht und Politik vermieden und verschoben auf das Verhältnis von politischem Recht zum (rein) Politischen. Auch in neuerer Zeit zeigen sich Richter des Bundesverfassungsgerichts davon überzeugt, daß die abstrakte Entgegensetzung von Recht und Politik sich nicht dazu eignet, das gerichtliche Tätigkeitsfeld gegenüber dem anderer Gewalten abzugrenzen, da eine Trennung beider schlechthin nicht möglich sei 25. Die herrschende Meinung in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland verneint dementsprechend die Möglichkeit, Politik und Recht trennen zu können 26. Benda formuliert: „Recht und Politik sind zwei verschiedene Aggregatzustände derselben Materie 27. Stellvertretend für viele sei hier der Beitrag von Grimm genannt, der das vielseitige Verhältnis von Recht und Politik schlagwortartig und griffig formuliert: Recht als Zweck, Produkt, Werkzeug, Rahmen und Maßstab der Politik 28. Da Politik den Auftrag habe, für eine gerechte Ordnung zu sorgen, sei das Recht Zweck der Politik. Es sei weiterhin Produkt der Politik, weil das Gesetz ein für allgemeinverbindlich erklärtes politisches Programm sei. Das Recht sei ferner „geronnene Politik“. Die Politik bediene sich aber auch des Rechts, um ihre Ideen zu verwirklichen. Insofern sei das Recht auch Werkzeug der Politik. Die Eigenschaft des Rechts als Rahmen der Politik macht sich in zwei Richtungen bemerkbar. Einerseits solle es die ungezügelten Kräfte der Politik einhegen, andererseits dürfe diese Einhegung nur so weit sein, daß die Politik sich den ändernden Bedingungen anpassen könne. Durch eine vollkommene Verrechtlichung werde die Politik aufgelöst. Schließlich sei das Recht Maßstab der Politik. Es setze sich vor die Politik im Sinne einer gerechten Ordnung, welche die Politik zu verwirklichen habe. Hier seien die Abkehrung vom Positivismus und die Anerkennung einer gerechten Ordnung, des Naturrechts zu erkennen. Zwischen Recht und Politik bestehe ein „typisches Wechselleben, eine Symbiose, von der schwer zu sagen ist, wer sich wessen bedient“ 29. 24
Statusbericht Bundesverfassungsgericht, JöR n.F. 6 (1957), S. 109 (121 f.). Limbach, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor, S. 18. 26 Nachweise oben Fn. 16. 27 Benda, ZRP 1977, S. 1 (2). 28 Grimm, JuS 1969, S. 501 ff.; ähnlich Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 7 (8): „verfestigte Politik“. 29 Esser, Grundbegriffe des Rechts und des Staates, S. 9. 25
5. Kap.: Recht und Politik
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Ein zweifaches Verhältnis des Rechts gegenüber der Politik hebt Holmes hervor, indem er die entmächtigende und die ermächtigende Funktion des Rechts betont 30. Die Vorstellung des Konstitutionalismus, daß das Recht die Politik nur kontrollieren, begrenzen und einschränken würde, reiche nicht aus. Vielmehr seien Regeln auch schöpferisch; sie ermöglichten Handlungsweisen und Möglichkeiten, die es sonst nicht gäbe. So sei eine Verfassung nicht bloß eine Fessel für Mehrheiten und Amtspersonen, sondern verleihe auch Befugnisse (Strukturierung der Regierung, Gewährleistung der Beteiligung des Volkes) und regele deren Gebrauch (nach Grundsätzen eines ordentlichen Verfahrens und der Gleichbehandlung). Daher seien Verfassungsregeln überwiegend ermächtigend, nicht entmächtigend. Für die Konfliktlösung auf rechtlichem und auf politischem Wege formuliert Henke: „Politik ist der Bereich des Streits im Ungewissen; das Recht der Bereich des materiell und formell, inhaltlich und verfahrensmäßig vorentschiedenen Streits“ 31. Daraus läßt sich folgende Begriffsbestimmung ableiten: Politische Konfliktlösung bedeutet im hiesigen Zusammenhang die umfassende Handlungsfreiheit in der Wahl und Kreation der Mittel, also auch die verfahrensmäßige Unbestimmtheit. Rechtliche Konfliktlösung ist die nach festen Regeln vorbestimmte Streitbeilegung. II. Stellungnahme: Einzelfallbezogene Beurteilung von Recht und Politik Die Vielzahl an Stimmen zu Recht und Politik läßt sich dahin ordnen, daß das Verhältnis beider zueinander unter zwei Blickwinkeln betrachtet werden kann: Trennbarkeit und Funktion. Es ist die eine Frage, ob beide Sphären voneinander getrennt werden können, eine andere Facette ist es, welche Funktion beide füreinander besitzen. Überwiegend wird danach gefragt, ob eine Trennbarkeit möglich ist. Daneben ergibt sich aus den Stellungnahmen von Holmes und zum Teil von Grimm auch die zweite Perspektive. Indem Holmes zwischen ermächtigendem und entmächtigendem Recht unterscheidet, zeigt sich weniger die Frage nach der Trennbarkeit, sondern vielmehr die nach der Funktion des Rechts für die Politik; das gilt auch für Grimm, indem er formuliert, Recht sei Werkzeug und Rahmen der Politik. Es kann also zwischen der ermöglichenden und der begrenzenden Funktion des Rechts gegenüber dem Politischen unterschieden werden. Beide Funktionen haben ihren Platz. Es gibt ermöglichende und beschränkende Regeln. Nur die eine oder nur die andere Funktion würde dem vielschichtigen 30 Holmes, Verfassungsförmige Vorentscheidungen, S. 133 (151 ff.); vgl. a. Ipsen, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 263 (264), der betont, daß das Recht nicht nur eine begrenzende Funktion besitzt. 31 Henke, Der Staat 1980, S. 181 (200 f.).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Verhältnis beider zueinander nicht gerecht. Ausgehend von dieser These kann das Verhältnis von Recht und Politik bei der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat unter dem Blickwinkel der Funktion betrachtet werden. Aus der Literaturübersicht ergibt sich ferner die vornehmlich gestellte Frage nach der Trennbarkeit von Recht und Politik. Auch hier können die Meinungen zu einer formalen Trennung nicht absolut und einseitig gelten. Die Gegenüberstellung „Statik – Dynamik“ oder „Gestalten – Bewahren“ berücksichtigt nicht, daß die Auslegung des Rechts und die „Verfassungsauslegung Mitgestaltung und Formung des Verfassungslebens ist“ 32. Das deutsche Steuerrecht ist sehr dynamisch, während z. B. der Parlamentsbrauch, daß die stärkste Fraktion den Bundestagspräsidenten stellt, schon sehr lange besteht, stets befolgt wird und damit als statisch umschrieben werden kann. Je offener eine Verfassung angelegt ist, desto dynamischer verhält sie sich. Da zu den Grundlagen eines demokratischen Staates etwa auch die Meinungs- und Gewissensfreiheit zählen, kann eine demokratische Verfassung nicht als statische gelten. Hierin findet sich auch ein Hinweis auf die Untauglichkeit von am Positivismus ausgerichteten Lösungen 33. Auch die Versuche, die Trennung anhand der Normierung festzumachen, bereiten Schwierigkeiten. Sie läuft im Verfassungsrecht auf die Frage hinaus, ob eine Norm justitiabel ist. Wann das der Fall ist, wäre dann nur eine Frage richterlicher Disziplin oder argumentatorischer Fähigkeiten 34. Die Kontrolldichte von der Regelungsdichte des Kontrollmaßstabes abhängig zu machen 35, wäre damit ein Zirkelschluß. Jede der Definitionen, die eine Trennbarkeit befürworten, ist damit Einwänden ausgesetzt. Daher ist unter Einschränkungen der herrschenden Auffassung im Schrifttum Recht zu geben. Insbesondere die Lehre Grimms vermag umfassend die wechselseitigen Verstrickungen von Recht und Politik zu erörtern. Dies bedeutet jedoch nicht, nicht nach der These von Recht und Politik in der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat vorgehen zu können. Denn die Konsequenz, die einige Autoren der herrschenden Meinung ziehen, indem sie kurzerhand die Trennbarkeit verneinen, ist in ihrer Absolutheit nicht überzeugend. Gerade deren Darstellung des Verhältnisses beider Sphären zueinander zeigt, daß durchaus zwischen beiden unterschieden werden kann. Recht und Politik lassen sich vielleicht nicht voneinander trennen, aber innerhalb dieser Gemengelage kann der je rechtliche und politische Anteil unterschieden werden. Man sollte die Gegenüberstellungen, die Recht und Politik zu trennen versuchen, nicht mißverstehen. Sie sollten nicht so gedeutet werden, daß sie absoluten 32 Scheuner, Verfassung, StLex, Sp. 117 ff.; ebenso Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 225. 33 Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, S. 27. 34 Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, S. 28. 35 Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 52.
5. Kap.: Recht und Politik
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Charakter besäßen. Zu jedem der Begriffspaare der Trennbarkeit ließe sich ein Gegenbeispiel bringen oder ein Einwand formulieren, wie soeben gezeigt. Die Beschreibungen wollen vielmehr typisieren. Gerade die Ausnahmen der Gegenbeispiele bestätigen die Regel, welche die Trennbarkeitstheorien beschreiben. Ein absolutes Entscheidungskriterium gibt es nicht. Wie bei den Bestimmungen zu Recht und Politik schließen sich die Definitionen überwiegend nicht aus, sondern es können die verschiedenen Merkmale zusammen gedacht werden. Die Leugnung eines Unterschiedes von Recht und Politik sowie die rigorose Beendigungserklärung der Debatte machen es sich zu leicht. Sie nähmen die Entscheidung des Verfassungsgebers für die Verfassungsgerichtsbarkeit und damit die „funktionelle Differenzierung“ 36 von Recht und Politik nicht ernst. Recht und Politik auseinanderzuhalten ist aber unverzichtbar, „um daraus Folgerungen für das Verhalten des Richters zu ziehen, der an die Norm gebunden ist und weder nach eigener politischer Überzeugung noch de lege ferenda entscheiden darf“ 37. Auch wenn damit feststeht, daß stets eine Wechselwirkung zwischen beiden Größen steht und sie nicht gänzlich trennbar sind, zeigt doch etwa die Tatsache, daß das Recht ein Produkt der Politik ist, daß es hier eine Bruchstelle gibt, eine Qualitätsveränderung stattfindet. Dies wird auch von Vertretern der herrschenden Meinung eingeräumt 38. Gleiches gilt, wenn man sich die Spielart des Rechts als Maßstab der Politik verdeutlicht. Trennbar sind die Sphären nicht – aber unterscheidbar.
C. Recht und Politik im demokratischen Bundesstaat Die Erörterung der Vielzahl von Theorien, Politik und Recht zu unterscheiden, hat ergeben, daß jede Theorie Vor- und Nachteile besitzt. Kein Abgrenzungskriterium bleibt gänzlich widerspruchsfrei und kann Allgemeingültigkeit beanspruchen. Daher muß man sich mit der Einsicht begnügen, daß die Sphären von Recht und Politik nicht allgemeingültig, sondern nur jeweils für einen bestimmten Betrachtungsgegenstand unterscheidbar sind. Dies zwingt dazu, je nach Einzelfrage eine spezifische Unterscheidung anhand einer für den Einzelfall passenden Theorie vorzunehmen. Hier, bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat, erscheint die Frage, wie Recht und Politik zu unterscheiden sind: bei der Struktur der Interessen im Bundesstaat, bei der Ursache der Konflikte sowie bei der Konfliktlösung. 36
Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 228. Schuppert, ZRP 1973, S. 257 (258). 38 Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, S. 27: „abtrennbares Moment“; vgl. a. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 221: „Umschlagpunkt“. 37
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Zunächst werden die Inhalte der Interessen und die Konfliktlagen im demokratischen Bundesstaat betrachtet. Hier zwischen Recht und Politik zu unterscheiden bedeutet, zwischen partei- bzw. sachpolitischen und föderalen Interessen zu unterscheiden. Die Ursachen von Konflikten zwischen Bund und Ländern beruhen damit auf Interessen, die freier politischer Gestaltung in materieller Hinsicht entstammen, weil auch in den Ländern parlamentarische Demokratien bestehen, in denen Sachpolitik betrieben wird ([partei-]politische Interessen), oder aber auf ihre Interessen als (verfassungs-)rechtlich vorgesehenes Glied eines Bundesstaates zurückzuführen sind, wie etwa die Abwehr von Einmischungen des Bundes in die landeseigene Verwaltung (föderale Interessen). Weiterhin wird die Ermittlung der Ursachen der Konflikte im Lichte der Unterscheidung von Recht und Politik erscheinen. Hier soll ermittelt werden, ob das Verfassungsrecht oder die Politik – hier verstanden als Verfassungspraxis – für bestimmte Konflikte verantwortlich ist, etwa bei der Frage, ob die parteipolitische Unitarisierung des Bundesstaates als möglicher „Blockadegrund“ eine systemimmanente Folge des demokratischen Bundesstaates ist oder durch „politischen Mißbrauch“ des Bundesrates entstanden ist. Es soll auch untersucht werden, ob die Erhöhung der Anzahl von Zustimmungsgesetzen als mögliche Ursache häufiger föderaler Konflikte auf die verfassungsrechtliche Konstruktion oder die politische Praxis zurückzuführen ist. Schließlich werden die Konfliktregelungsmechanismen im demokratischen Bundesstaat erörtert. Hier kommt es darauf an, ob das Verfassungsrecht Schlichtungsregeln vorsieht (z. B. den Vermittlungsausschuß) oder ob außerhalb dieser normierten Mechanismen eine Konfliktlösung erfolgt (z. B. in Kamingesprächen). Es ist daher auf einen Politik- bzw. Rechtsbegriff abzustellen, der die Normiertheit ins Auge faßt. Rechtliche Streitbeilegung ist die verfahrensmäßig vorentschiedene Streitbeilegung, politische Streitbeilegung ist die Konfliktlösung nach freier, diesmal auch im Verfahren und in den Methoden schöpferischer Streitbeilegung. In der Folge stellt sich damit auch die Frage nach der Sanktionierung. Im rechtlich normierten Bereich werden Rechtsverstöße sanktioniert, im politisch-ungeregelten kann nur, aber immerhin, eine politische Konsequenz erfolgen. An dieser Stelle trifft auch die Unterscheidung von Statik und Dynamik das Verhältnis von Recht und Politik. Während die rechtlichen Konfliktregelungsinstitute feststehen, können sich die politischen Streitbeilegungsmechanismen hinsichtlich Verfahren, Gremien und Beteiligten ändern. Hier besteht eine Parallele zu der im Schrifttum geäußerten Theorie vom informalen Verfassungsstaat nach Schulze-Fielitz 39.
39
Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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6. Kapitel
Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat A. Struktur der Konfliktlagen Um die überwiegend tatsächliche Frage, welche Konfliktlagen im demokratischen Bundesstaat bestehen und auf welche Ursachen sie zurückgehen, zu beantworten, kann die Rechtswissenschaft die Forschungsergebnisse der Politikwissenschaft nutzen. Zu den unterschiedlichen Konfliktlinien im Bundesstaat liegen einige, meist nur nebenbei und im Zusammenhang mit anderen Fragestellungen unternommene und bisher noch nicht zusammengefaßte Versuche vor, diese zu strukturieren. Sie sollen zunächst vorgestellt werden (I.), um anschließend aus ihnen ein Gesamtkonzept zu entwickeln (II.). I. Recht und Politik in der Struktur der Konfliktlagen Zur Erinnerung: Da sich Recht und Politik nicht allgemeingültig voneinander trennen lassen, mußten einzelfallspezifische Definitionen gefunden werden. Bei Konfliktlagen im demokratischen Bundesstaat zwischen politischen und rechtlichen Interessen zu unterscheiden bedeutet ganz allgemein, zwischen parteibzw. sachpolitischen Interessen einerseits und föderalen Interessen andererseits zu unterscheiden. Was darunter im Einzelfall zu verstehen ist, wird unterschiedlich beurteilt. II. Bestehende Einteilungen der Konfliktlagen in der Literatur Nach Renzsch 1 ist zu unterscheiden zwischen parteiideologisch geprägten Konflikten und kompetentiellen (vertikalen) sowie territorialen (horizontalen) Konfliktlagen, die in der Regel nicht parteiideologisch motiviert sind. Unter parteiideologisch definierten Konflikten versteht er solche, bei denen in den Entscheidungsgremien nach dem „Schwarz-Rot-Schema“ entschieden wird. Bei diesen Konflikten, zumal wenn sie kaum Bedeutung für die Landespolitik haben, dominiere die Parteienkonkurrenz den Entscheidungsprozeß. Es könne bei diesen Fragen kaum von föderalen Aushandlungsprozessen die Rede sein, wenn die „oppositionelle“ Mehrheit im Bundesrat die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien zu Verhandlungen im Vermittlungsausschuß zwinge. Viel1
Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (172 ff.).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
mehr erschienen solche Vorgänge als koalitionsähnliche, von parteitaktischen Gesichtspunkten geprägte Kompromißbildungen. Ob es zu einem Kompromiß komme oder man die Vorlage scheitern lasse, sei eine Frage der Opportunität, die unter dem Blickwinkel der Stimmenmaximierung bei der nächsten Wahl entschieden werde. Zu ergänzen wäre bei dieser Definition, daß nicht allein parteitaktische Gründe eine Rolle spielen. Denn landespolitische Interessen können diesen parteipolitischen Erwägungen eine Grenze setzen. Dies bestätigt der eingangs vorgestellte Fall der gescheiterten Steuerreform 2000. Mittels Finanzzuweisungen und geldwerten Zusagen vermochte die derzeitige Bundesregierung die Länder mit Regierungen der Bundesoppositionsparteien herauszukaufen. Diesen Ländern war das Hemd der Landesfinanzen näher als der Parteirock.
Im Gegensatz zu diesen Streitigkeiten lassen sich nicht parteipolitisch besetzte Konfliktlagen, d. h. solche, bei denen die Auseinandersetzungen quer durch die Parteien laufen, nicht auf das Schema des Parteienwettbewerbs reduzieren. Hierbei handelt es sich typischerweise um institutionelle Konflikte zwischen den staatlichen Ebenen (Bund vs. Länder) oder bei gegensätzlichen territorialen Interessen (Länder vs. Länder), die Lehmbruch als „länderspezifische Interessen“ bezeichnet, weil sie die besonderen Interessen eines jeweiligen Landes betreffen (z. B. altindustrialisierte Länder gegenüber Länder mit jüngeren Industrien) 2. Es handelt sich bei nicht-parteipolitischen Konflikten um solche zwischen originären staatlichen Interessen. Zu diesen Konflikten, bei denen die Parteizugehörigkeit keine Rolle spielt, gehörten insbesondere die Finanzbeziehungen. Das vorgenannte Beispiel verdeutlicht auch dies. Die Strukturierung von Renzsch läßt sich in einer Übersicht wie folgt darstellen: 1. parteipolitische geprägte Konflikte, 2. nicht parteipolitisch geprägte Konflikte, a) kompetentielle (vertikale) Konflikte: Bund vs. Länder, b) territoriale (horizontale) Konflikte: Länder vs. Länder.
Ähnlich kategorisiert Bothe 3 die Konfliktlinien im demokratischen Bundesstaat. Er unterscheidet zwischen echten und unechten föderalen Konflikten. Diese könne es, so differenziert er weiter aus, jeweils zwischen dem Bund und den Ländern als auch zwischen den Ländern geben. Die unechten föderalen Konflikte seien diejenigen, bei denen es nicht primär um die Frage gehe, wer welches Problem entscheidet, sondern darum, wie es entschieden wird. Es gehe daher nicht um eine Konkurrenz zwischen den „bundesstaatlichen Wirkungseinheiten“, sondern um Inhalte. Damit beschreibt Bothe 2 Lehmbruch, Parteienwettbewerb, S. 140; Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (173). 3 Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20 ff.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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mit anderen Worten, was Renzsch als politische Konflikte bezeichnet. Insoweit decken sich die Konzepte. Bothe differenziert allerdings weiter aus, indem er auch hier Streitigkeiten Bund vs. Länder und Länder vs. Länder einbezieht. Insoweit übergeht Renzsch, daß es parteipolitische Konflikte nicht nur in der allseits bekannten vertikalen Ausprägung, also Bund vs. Länder, geben kann. Auch horizontale Differenzen, also Länder vs. Länder, kommen vor. Sie liegen insbesondere auf Gebieten, auf denen die Länder die ausschließliche Kompetenz besitzen und auf der sog. Dritten Ebene 4, auf der sie ihre Aktivitäten untereinander koordinieren. Als Beispiel mögen die konzeptionellen Streitigkeiten zwischen den Ländern im Bildungsbereich dienen, die in der KultusministerKonferenz ausgetragen werden. Hier sind die Länder ausschließlich zuständig und koordinieren ihre Tätigkeiten im Rahmen des kooperativen Föderalismus 5. Daher ist der weiteren Ausdifferenzierung Bothes der Vorzug zu geben. Unter echten föderalen Streitigkeiten versteht Bothe Gegensätze zwischen dem Bund und den Ländern. Er beschreibt damit Differenzen zwischen den staatlichen Ebenen, die auf Unterschieden in den echten Interessen der Länder bzw. des Bundes als Staaten unabhängig von ihrer jeweiligen parteipolitischen Ausrichtung beruhen. Hinsichtlich dieser Konfliktlinie decken sich die Konzepte beider Autoren. Die Begrifflichkeiten variieren nur. Als Übersicht ergibt sich folgendes Schema: 1. unechte föderale Konflikte, a) zwischen Bund und den Ländern, b) zwischen den Ländern, 2. echte föderale Konflikte, a) zwischen Bund und den Ländern, b) zwischen den Ländern.
Klatt 6 und ihm folgend 7 Jun 8 nehmen eine Dreiteilung vor. Danach gibt es föderative Konfliktlagen, sektorale Konflikte und parteipolitische Differenzen. Diese drei möglichen Konfliktlagen könnten mit der Zahl der möglichen Verhandlungspartner kombiniert werden. Unter föderativen Konfliktlagen versteht er aus dem bundesstaatlichen System resultierende Interessengegensätze; als sektorale Konflikte bezeichnet er unter4 Vgl. allg. dazu und zum kooperativen Föderalismus z. B. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 25 ff., 236 ff., 271 ff.; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 169 ff.; Scharpf, Der Bundesrat, S. 121 ff. 5 Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20 (31 f.). 6 Klatt, APuZ 31/1986, S. 3 (6 f.). 7 Aber offenbar ohne sich auf ihn zu beziehen. Nicht etwa nur ähnlich, daher zu Unrecht Leunig, ZParl 2003, S. 778 (783, Fn. 25). 8 Jun, Der Bundesrat, S. 339 (352).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
schiedliche Fach- und Ressortinteressen. Näher werden die Einteilungen nicht erläutert: 1. föderative Konfliktlagen, 2. sektorale Konflikte, 3. parteipolitische Konflikte.
Hinsichtlich der föderativen und parteipolitischen Konflikte ist Klatts Schema deckungsgleich mit denjenigen von Renzsch und Bothe. Inwieweit eine weitere Differenzierung nach sektoralen Konflikten geboten ist, bleibt Klatt eine Erläuterung schuldig und es ist auch kein Grund dafür ersichtlich. Sofern Klatt damit Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bürokratien in den jeweiligen Ressorts meint 9, so erscheinen die Interessen der Landesbürokratie, die später die Gesetze vollziehen muß, als Landesinteresse gegenüber der Bundesbürokratie, gleich auf welchem Sektor (Ressort). Eine weitere Differenzierung scheint auch nicht geboten, denn letztlich sind parteipolitische Differenzen stets Meinungsverschiedenheiten in der (weltanschaulichen) Beurteilung einer Sachfrage im Gegensatz zu föderalen Differenzen. Dementsprechend erläutert Bothe zu Recht, daß es bei jenen um „Inhalte“ 10 gehe. Dafür spricht auch die Bezeichnung Leunigs als „sachpolitische“ 11 Konflikte. Sie werden nur insoweit zu föderalen Streitigkeiten, als daß diese oder jene bundesstaatliche Ebene die eine oder andere Lösung bevorzugt. Insofern vermag die Zweierteilung die Gegenüberstellung von echten föderalen Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in (bloßen) Sachfragen besser zu verdeutlichen. Es ist also eine strukturelle Unterscheidung vorzunehmen. Es bleibt daher bei dieser Aufteilung. Zwei andere Autoren differenzieren weiter. So unterteilt Leunig 12 nach empirischer Untersuchung verschiedener bundesstaatlicher Gesetzgebungsverfahren die politischen Konflikte in „parteipolitische“, „koalitionsinterne“ und „parteiinterne“ Konflikte. Unter parteipolitischen Konflikten versteht er OppositionsRegierungs-Konflikte, bei denen sich die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien einerseits und die Bundestagsopposition sowie die von ihren Parteien gebildeten Landesregierungen gegenüberstehen. Es handelt sich also dabei um die üblicherweise als parteipolitische Differenzen bezeichneten Streitigkeiten im Bundesstaat. Weiterhin gibt es koalitionsinterne Konflikte. Dabei handelt es sich um Konflikte innerhalb einer Koalition jeweils auf Bundes- bzw. Landesebene sowie um Streitigkeiten zwischen einer der Koalitionsparteien auf Bundes- oder Landesebene und der anderen „Koalitionspartei“ auf der jeweils anderen Ebene. Schließlich kommen „parteiinterne“ Konflikte vor. Darunter sind die Fälle 9
Klatt, APuZ 31/1986, S. 3 (7). Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20. 11 Leunig, ZParl 2003, S. 778 (783). 12 Leunig, ZParl 2003, S. 778 (782 f.); ders., Föderale Verhandlungen, S. 241. 10
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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einzuordnen, in denen eine der Koalitionsparteien auf Bundes- bzw. Landesebene gegenüber der eigenen Partei auf der jeweils anderen Ebene abweichende Interessen vertritt: 1. föderale Konflikte, 2. politisch-föderale Konflikte, a) parteipolitische Konflikte, b) koalitionsinterne Konflikte, c) parteiinterne Konflikte.
Eine ausschließlich materielle Einteilung föderaler Frontstellungen nimmt Schultze 13 vor. Ihm hat sich Heitsch 14 angeschlossen. Danach ist der Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland von mindestens sechs Konfliktlinien bestimmt, die teilweise gegenläufig seien und sich überlagerten: 1. der Konflikt zwischen entwickelten und unterentwickelten bzw. zwischen armen und reichen Ländern; 2. der regional-kulturelle Konflikt als Ausdruck der Gegensätze zwischen einer eher protestantisch / nicht-konfessionell, nord-, mitteldeutsch und preußisch-national bestimmten Subkultur einerseits und andererseits einer katholisch-konfessionell, süddeutsch und westeuropäisch-supranational bestimmten Subkultur; 3. der Konflikt zwischen großen, leistungsstarken und kleinen, leistungsschwachen Ländern 15; 4. der Konflikt zwischen Flächenstaaten und Stadtstaaten; 5. der Konflikt zwischen alten und neuen Ländern; 6. der Konflikt zwischen CDU / CSU-geführten und SPD-geführten Ländern.
Diese materiellen Differenzen stellen sich bei genauerer Überlegung nur als solche zwischen Ländern dar. Mit Ausnahme der parteipolitischen Differenzierung (6.) handelt es sich um genuine Landesinteressen. Die Aufteilung Schultzes erfaßt daher nicht einmal die Bundesebene, so daß sie nicht als Grundlage einer Übersicht über die Frontverläufe im demokratischen Bundesstaat dienen kann. Dieses Konzept ist jedoch in der Lage, die Konfliktlinien materieller Art innerhalb der Länder zu erfassen. Es dient insoweit der Ausdifferenzierung und der materiellen Anreicherung der Zweiteilung, an der auch nach Vorstellung dieses Konzeptes festgehalten werden kann.
13
Schultze, StWStPr 4 (1993), S. 225 (233). Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 12 f., allerdings ohne Nr. 2 der Aufzählung Schultzes. 15 So insbesondere auch ähnlich Klatt, VerwArch 82 (1991), S. 430 (439 f.); Lehmbruch, Parteienwettbewerb, S. 140; Renzsch, ZParl 1994, S. 116 (123); ders., Finanzverfassung und Finanzausgleich, S. 235 ff.; Münch, Der Bundesrat im Kontext neuer Regierungsprogramme, S. 133 (143); Benz, APuZ 29 – 30/2003, S. 32 (36). 14
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
III. Vorläufige Stellungnahme: Strukturelle Dreiteilung der Konfliktlinien im demokratischen Bundesstaat (echte föderale, echte demokratische und parteipolitisch-föderale Konflikte) Bei der Vorstellung der verschiedenen Konzepte stellte sich bereits heraus, daß eine strukturelle Gliederung vorzunehmen ist, die zunächst auf eine Zweiteilung der Konfliktlagen im demokratischen Bundesstaat hinausläuft. Es sind danach zwei Arten föderaler Konflikte zu unterscheiden: echte föderale Konflikte und föderale Konflikte partei- und sachpolitischer Ausrichtung. Unter echten föderalen Konflikten sind Differenzen zwischen den staatlichen Ebenen zu verstehen, die auf Unterschieden in den echten Interessen der Länder bzw. des Bundes als Staaten unabhängig von ihrer jeweiligen parteipolitischen Ausrichtung beruhen. Hingegen sind politisch-föderale Konflikte solche Streitigkeiten, in denen entweder um eine Sachfrage oder um eine parteipolitische Frage gerungen wird und die nur deshalb zu einer föderalen Auseinandersetzung werden, weil zum Zustandekommen eines Gesetzes die doppelte Mehrheit von Bundestag und Bundesrat erforderlich ist, diese Organe aber durch parteipolitisch unterschiedliche Mehrheiten dominiert werden. Ein sachpolitischer Konflikt ist dabei eine Streitigkeit, die aus Gründen resultiert, die aus dem jeweiligen Politikfeld stammen; ein parteipolitischer Konflikt ist ein Regierungs-Oppositions-Konflikt 16. Andere Konzepte der Aufteilung in drei Frontstellungen erweisen sich bei näherer Betrachtung als weniger sinnvoll, da zum einen ihre einzelnen Kategorien letztlich unter die vorstehenden Einordnungen subsumiert werden können. Die Zweiteilung erreicht damit einen höheren Abstraktionsgrad. Zum anderen verdeutlicht die Zweiteilung eher die Unterschiede der Frontstellungen im demokratischen Bundesstaat. Sie entspricht dem Kompositum des demokratischen Bundesstaates aus dem unitarisch-demokratischen und dem föderal-demokratischen Element. Hier tauchen die ursprünglich getrennten Elemente wieder auf, die sich zu der einen, neuen Staatsform vereinigt haben. Hinsichtlich der Terminologie ist folgenden Bezeichnungen der Vorzug zu geben: Die Unterscheidung von „echten föderalen Konflikten“ und „parteipolitisch-föderalen Konflikten“ verdeutlicht in den Begriffen selbst die hinter ihnen stehenden Probleme, ohne gleich auf Definitionen zurückgreifen zu müssen. Darauf sind die Bezeichnungen angewiesen, die lediglich die Negation des jeweils anderen Begriffes verwenden (parteipolitisch / nicht parteipolitisch [Renzsch] 17; echt föderal / unecht föderal [Bothe] 18).
16 17 18
Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 30 f. Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (172 ff.). Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Innerhalb dieser Zweiteilung ist jeweils wiederum zu unterscheiden zwischen Bund-Länder-Konflikten und Streitigkeiten der Länder untereinander, denn beide Arten können zwischen Bund und Ländern als auch zwischen den Ländern vorkommen. Die zuletzt vorgestellte materielle Differenzierung nach Schultze sowie die Verfeinerung der politischen Konfliktlinien gemäß Leunig stellen keinen Widerspruch zu der bevorzugten Zweiteilung dar. Vielmehr lassen auch sie sich in dieses Schema der Konfliktlinien im demokratischen Bundesstaat integrieren, wie sich oben bereits herausgestellt hat. Sie verfeinern dieses Raster. Die Streitigkeiten materieller Art erweisen sich dabei als Differenzen ausschließlich zwischen den Ländern. Bis auf die parteipolitische Unterscheidung handelt es sich ausschließlich um Inhalte, welche die Länderinteressen berühren. Dementsprechend sind sie bei den echten föderalen Streitigkeiten zwischen den Ländern anzutreffen. Leunig hat die politisch-föderalen Konflikte zwar zutreffend näher ausdifferenziert zwischen parteipolitischen, koalitionsinternen und parteiinternen Streitigkeiten. Allerdings können für diese Untersuchung die koalitions- und parteiinternen Konflikte zusammengefaßt werden. Da Leunig nach seiner Definition richtigerweise bei der parteipolitischen Streitigkeit als Bezugseinheit Regierung und Opposition wählt, sollte auch bei der weiteren Schematisierung die Regierung bzw. die Opposition als Bezugseinheit dienen. Ob wiederum Streit innerhalb der Regierung bzw. der Opposition in der Koalition oder innerhalb der Partei besteht, stellt dann eine weitere Unterteilung dar. Demnach handelt es sich bei den „koalitionsinternen“ nicht um eine dritte Kategorie innerhalb von politischföderalen Sachkonflikten, sondern nur um eine weitere Variation innerhalb der regierungsinternen Streitigkeit 19. Da es außerdem hier um die formalen Handlungsbeziehungen zwischen den bundesstaatlichen Ebenen geht und nicht um die Ausdifferenzierung innerhalb einer bundesstaatlichen Ebene – Leunig aber als koalitionsinterne Konflikte auch solche innerhalb einer bundesstaatlichen Ebene definiert – ist diese Aufteilung hier nicht passend und zu weitgehend. Die Gegenüberstellung in nur zwei Kategorien ist für den hiesigen Untersuchungsgegenstand ausreichend und verdeutlicht zudem, daß politisch-föderale Streitigkeiten zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien einerseits („klassischer“ Fall) und innerhalb jeweils der Regierungs- und Oppositionsparteien auftreten. Dies entspricht auch dem Mehrparteiensystem, in dem die Regierung und Opposition meist von mehreren Parteien gestellt werden. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen ergibt sich folgende Einteilung:
19
ben.
Eine koalitionsinterne Streitigkeit kann es naturgemäß in der Opposition nicht ge-
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
I. föderale Konflikte II. politisch-föderale Konflikte 1. parteipolitischer Konflikt („klassischer“ Streitfall) 2. regierungs- / oppositionsinterner Konflikt a) parteiinterner Konflikt b) koalitionsinterner Konflikt
Was keiner der Autoren in sein Schema aufnimmt, sind die Auseinandersetzungen innerhalb eines Landes bzw. im Bund zwischen Regierung und Opposition. Sie haben keinen föderalen Bezug. Es handelt sich um rein politische Konflikte innerhalb einer Ebene im Bundesstaat. Wenn aber Konfliktlinien erfaßt werden, die sich aus der Eigenschaft der Länder als Teilstaaten im Bundesstaat (echte föderale Konflikte) und damit aus dem Bundesstaatsprinzip ergeben, müssen auch diejenigen Streitigkeiten erfaßt werden, die sich allein aus der Eigenart des Grundgesetzes als parlamentarische Demokratie ergeben. Dies sind Streitigkeiten zwischen Regierungsfraktion(-en) und Opposition auf Bundes- bzw. Landesebene (im Schema „Regierung“, „Opposition“). Diese allein auf einer bundesstaatlichen Ebene ausgetragenen Konflikte sind gleichfalls in das Schema einzufügen, so daß sich folgende vorläufige Übersicht der drei Konfliktlagen im demokratischen Bundesstaat ergibt: I.
Föderale Konflikte 1. zwischen Bund und den Ländern 2. zwischen den Ländern a) arme gegen reiche Länder b) regional-kulturelle Konflikte c) große und leistungsstarke gegen kleine und leistungsschwache Länder d) Flächen- gegen Stadtstaaten e) alte gegen neue Länder II. Partei- / sachpolitische Konflikte ohne föderalen Bezug 1. Bund: Regierung vs. Opposition 2. Länder: Regierung vs. Opposition III. Partei- / sachpolitisch-föderale Konflikte 1. zwischen Bund und den Ländern a) parteipolitische Konflikte („klassischer“ Streitfall) b) regierungs- / oppositionsinterner Konflikt (1) parteiinterner Konflikt (2) koalitionsinterner Konflikt 2. zwischen den Ländern
Diese Übersicht erfaßt sämtliche Konfliktlagen im demokratischen Bundesstaat. Wie jedes Schema kann auch dieses die Konfliktlagen nur typisiert und in Reinform erfassen, denn es kann auch zu Überschneidungen von (partei-) politischen und föderalen Konflikten kommen. Dies hat die empirische Untersuchung der Inanspruchnahme der Zustimmungsrechte des Bundesrates ergeben 20. Eine Kombination der Konfliktarten zu Mischkonflikten ist damit ebenfalls möglich. Inwiefern aber die Konfliktlinien ausgefüllt sind und das Schema endgültig
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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aufzubauen ist, zeigt sich, wenn man den verschiedenen Interessen der an der Gesetzgebung beteiligten Legitimationssubjekte nachspürt. Denn Konflikte entstehen nur infolge unterschiedlicher Interessen. Dabei kommt es entscheidend auf die Interessen der Länder an, denn sie sind es, die ihre Zustimmung geben müssen. Das werden sie nur tun, wenn ihre Interessen berücksichtigt werden. Möchte man die Fälle gemeinschaftlicher Gesetzgebung zugunsten einer klareren Verantwortungsteilung, genauer: die das politische Leben bremsenden Streitfälle darunter, reduzieren, muß man die hinter den Streitfällen stehenden Länderinteressen und die diesen zugrunde liegenden tatsächlichen oder rechtlichen Gründe herausfiltern. Im hiesigen Zusammenhang mit der gemeinschaftlichen Gesetzgebung kommt es zunächst nur auf diejenigen parteipolitisch-föderalen und echten föderalen Konflikte an, die zwischen Bund und Ländern bestehen, da der Bund und die Gesamtheit der Länder die beiden Legitimationssubjekte im demokratischen Bundesstaat darstellen. Sofern bei den parteipolitischen Bund-Länder-Konflikten noch weiter zwischen parteipolitischen, koalitions- und parteiinternen Streitigkeiten differenziert wird, kommt dieser Untergliederung hier ebenfalls keine Bedeutung zu, da es aufgrund der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes allein auf die Meinungsunterschiede zwischen den bundesstaatlichen Ebenen ankommt. Interessenkonflikte zwischen den Ländern könnten aber insoweit doch von Bedeutung sein, als sie bei Entscheidungen im Bundesrat zutage treten und daher Mehrheitsbildungen beeinflussen könnten. Denn dem Bund muß es zur Verabschiedung eines Gesetzes gelingen, eine Mehrheit im Bundesrat herbeizuführen. Dabei könnte den finanziellen Unterschieden zwischen den Ländern eine besondere Bedeutung zukommen. Dem entspricht der Befund in der Literatur, insbesondere im politikwissenschaftlichen Schrifttum, daß – wenn von unterschiedlichen Landesinteressen die Rede ist – es stets um finanzielle Begehrlichkeiten geht 21. Diese These ist bei der folgenden Untersuchung der Interessen zu berücksichtigen.
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Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates und ihre Inanspruchnahme, S. 61. Braun, StWStPr 7 (1996) S. 101 (123); Klatt, VerwArch 82 (1991), S. 430 (439 f.); Lehmbruch, Parteienwettbewerb, S. 140; Renzsch, ZParl 1994, S. 116 (123); ders., Finanzverfassung und Finanzausgleich, S. 235 ff.; Münch, Der Bundesrat, S. 133 (140, 143); König, APuZ 13/1999, S. 24 (30); Merkel, BJS 2003, S. 255 (262). 21
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
IV. Inhalte der Konflikte: Die Interessenlagen im demokratischen Bundesstaat zwischen Recht und Politik 1. Die Zulässigkeit der Aufteilung von Interessenlagen im demokratischen Bundesstaat Vereinzelte Stimmen wenden ein, daß eine Unterscheidung zwischen Landesund parteipolitischen bzw. Bundesinteressen nicht getroffen werden könne 22. Dies wird damit begründet, daß kaum Maßstäbe zur Abgrenzung gefunden werden könnten 23. Neben diesen Praktikabilitätserwägungen wird auch angeführt, die Zusammensetzung des Bundesrates erfolge durch die Landesregierungen, welche infolge des parlamentarischen Regierungssystems auch in den Ländern (vgl. Art. 20 GG) von politischen Parteien gebildet würden 24. Dem ist jedoch erstens entgegenzuhalten, daß selbst diese Autoren originäre Landesinteressen anerkennen 25. Es handelt sich dabei um Fragen der Finanzpolitik, um Eingriffe in die Landesverwaltung und um Kompetenzstreitigkeiten. Zweitens dient die Unterscheidung von parteipolitischen und Landesinteressen dazu, das Verhalten des Bundesrates als Vertreter von Landesinteressen 26 und damit die These von der parteipolitischen Unitarisierung des Bundesrates beurteilen zu können. Das Argument, daß auch in den Ländern ein Parteiensystem existiert, das auf den Bundesrat durchschlägt, spricht für die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens in der Länderkammer, nicht aber gegen eine Unterscheidbarkeit von Landes- und Parteiinteressen. Daneben können bloße Praktikabilitätserwägungen und etwaige Mühe in der Forschung kein Hindernis für die Unterscheidbarkeit sein. Schließlich ist es bei der Unterscheidung von rechtlichen und politischen Ursachen für Bund-Länder-Streitigkeiten besser möglich, Ursachen für pathologische Entwicklungen zu finden und auf dieser Grundlage Reformvorschläge für Verfassungsänderungen am Bundesstaatsrecht zu unterbreiten. Dementsprechend wird zu Recht ganz herrschend in der Rechtsund Politikwissenschaft ganz selbstverständlich zwischen Landes- und Bundesbzw. Parteiinteressen unterschieden 27. 22 Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 71; Dolzer, VVDStRL 58 (1998), S. 7 (16); ihm folgend Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 314; krit. auch Leunig, APuZ 50 – 51/2004, S. 33 ff.; noch weitergehend Meyer, Gemeinwohlauftrag und föderatives Zustimmungserfordernis, S. 230, der Landes- und Bundesinteressen gleichsetzt. 23 Dolzer, VVDStRL 58 (1998), S. 7 (16). 24 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 315. 25 Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 91; Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (16). 26 Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates und ihre Inanspruchnahme, S. 60. 27 Nachweise in folgender Anm.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Eine grundsätzliche Unterscheidbarkeit ist daher möglich und zweckmäßig. Gleichwohl wurde diesen Einwänden aber oben bereits insoweit Rechnung getragen, als einerseits nur eine grobe Einteilung als möglich erachtet wurde und andererseits eine Kombination zwischen den einzelnen Kategorien als zu dem Schema zugehörig bezeichnet wurde. Schließlich sind solche Schemata stets der Vergröberung unterworfen, um grundsätzliche Handlungsmuster ermitteln zu können. 2. Echte föderale Streitigkeiten: Länderinteressen und Bundesinteressen als (verfassungs-)rechtliche Folgen Zunächst fragt sich, bei welchen Inhalten es sich um echte föderale Streitigkeiten handelt. Echte föderale Streitigkeiten – sei es im Verhältnis Bund vs. Länder, sei es zwischen den Ländern – sind Konflikte, welche sich um die prioritären Landesinteressen drehen. Sie sind territoriumsbezogen und ergeben sich aus der Eigenschaft der jeweiligen Gebietskörperschaft als Mitglied eines Bundesstaates. Da die Organisation des Bundesstaates zunächst durch das Verfassungsrecht erfolgt, entstammen diese Interessen der Sphäre des Rechts. Es handelt sich um rechtlich-institutionelle Interessen, im Gegensatz zu den als politisch bezeichneten Interessen, die keinen bundesstaatlichen Ursprung und keine Bindung an rechtliche Institutionen haben. Anhaltspunkt für die Ermittlung der Länderinteressen kann zunächst der Katalog der Zustimmungstatbestände sein, die das Grundgesetz vorsieht. Denn mit ihnen geht der Verfassungsgeber davon aus, daß es „bestimmte Fälle [gibt], in welchen der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt ist“ 28. Daher gibt er den Ländern ein Beteiligungsrecht an der Gesetzgebung. Die Einspruchsgesetzgebung ist demgegenüber bei hiesiger Untersuchung nicht einzubeziehen, weil bei ihr nach dem oben Gesagten keine gemeinschaftliche Gesetzgebung im Sinne pluraler Legitimationssubjekte im demokratischen Bundesstaat vorliegt. Erst recht nicht sind sonstige Beteiligungsrechte des Bundesrates, wie etwa bei der Verordnungsgebung oder in auswärtigen Angelegenheiten, zu berücksichtigen, da hier nur die Gesetzgebung untersucht wird. Gegen dieses Vorgehen könnte aber sprechen, daß es auch Materien gibt bzw. gab, in denen die Interessen der Länder besonders berührt sind, ohne daß das Grundgesetz eine deren Zustimmung auslösende Vorschrift vorgesehen hätte. 28 BVerfGE 1, 76 (79); 37, 363 (381); 39, 96 (116); ebenso Schneider, DVBl. 1953, S. 257 (260); Wassermann, NJW 2003, S. 331; Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (621); Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (376); Wyduckel, DÖV 1989, S. 257 (260); Antoni, AöR 113 (1988), S. 329 (344); Halstenberg, Bundesstaatliche Entwicklung, S. 127 (148); Janson, DVBl. 1978, S. 318 (321).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Als solche sind zu nennen: Neugliederungsgesetze (Art. 29 Abs. 2, 4, 5, 6 GG), Staatsangehörigkeit in den Ländern (Art. 74 Nr. 8 GG a.F.), Rahmengesetze über das Landesbeamtenrecht (Art. 75 Nr. 1 GG a.F.), insbesondere auch das die Landesinteressen besonders berührende Haushaltsgesetz (Art. 110 Abs. 2 GG) 29. Die Vorgehensweise ist also dahin zu präzisieren, daß die Annäherung an die Interessen der bundesstaatlichen Körperschaften über die Zustimmungstatbestände zunächst nur ein Anhaltspunkt sein kann. Dieser Anhaltspunkt könnte dennoch konkretisiert werden, wenn die einzelnen Zustimmungsnormen zu Themengebieten generalisiert werden können. Abschließend sind diese Überlegungen um eine rechtstatsächliche Betrachtung der Interessen zu ergänzen. Es ist sich den Interessen also zunächst über die Zustimmungstatbestände zu nähern. Diese sind nicht geschlossen im Grundgesetz aufgeführt, sondern finden sich verteilt im Verfassungstext, geregelt im Zusammenhang mit der sachlichen Gesetzgebungskompetenz. In der Literatur finden sich jedoch Übersichten, welche alle die Zustimmung auslösenden Normen geschlossen aufführen 30. Einige davon haben diese Vorschriften thematisch geordnet 31. Wenn man diese große Menge an Zustimmungstatbeständen kategorisieren will, müssen Einzel- und Sonderfälle, wie etwa der Gesetzgebungsnotstand, die Verfassungsänderung oder der Verteidigungsfall, beiseite gelassen werden. Bei generalisierender Betrachtung der verbleibenden Vorschriften ergibt sich, daß eine Zustimmungspflicht des Bundesrates in den meisten Fällen ausgelöst wird, wenn − die Finanzverteilung betroffen ist und − es um die Einflußnahme des Bundes auf die Landesverwaltungen geht. Diesen Textbefund bestätigen verschiedene rechtstatsächliche Untersuchungen. Länderinteressen sind zuvörderst das gemeinsame Interesse der Länder an der Sicherung ihrer Finanzquellen 32 im Rahmen des Länderfinanzausgleichs oder 29
Beispiele bei Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, 1. Auflage, Art. 50 GG, Rn. 159. Schindler, Datenhandbuch, Band II, S. 2432; Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 77, Rn. 20; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 50, Rn. 15; Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (373 ff.); Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 251 (262 ff.); Stern, Staatsrecht II, § 27 IV. 2. b) β); Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 13. 31 Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 28 f.; Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (373 ff.); Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 251 (262 ff.); Stern, Staatsrecht II, § 27 IV. 2. b) β). 32 Politikwissenschaftlich: Benz, APuZ 29 – 30/2003, S. 32 (34, 36); Lehmbruch, Parteienwettbewerb, S. 139 f.; Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (173); ders., ZParl 1989, S. 331 (334); Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (123); Leunig, ZParl 2003, S. 778 (782); Münch, Der Bundesrat, S. 133 (140); Schüttemeyer / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531); Kropp / Sturm, APuZ 13/1999, S. 37 (45); König, APuZ 13/1999, S. 24 (29); Merkel, BJS 2003, S. 255 (262); Jun, Der Bundesrat, S. 348, der noch Verfassungsänderungen einbezieht; rechtswissenschaftlich Herzog, HbStR III, 30
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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der Verteilung des Steueraufkommens. Aber auch die Finanzierungsfragen, die mit der Sachgesetzgebung gleichsam als Annex einhergehen, sind ein großer und steter Quell von Bund-Länder-Streitigkeiten 33. „Wenn’s ums Geld geht, kennen die Ministerpräsidenten [...] keine Parteien mehr, sondern nur noch Länder“ 34. Finanzielle Auseinandersetzungen, auch solche im Bund-Länder-Verhältnis, orientieren sich stets an den Interessen der jeweils betroffenen Gebietskörperschaft, sind also „territorial gebunden“ 35. Sie entziehen sich „dem binären Code“ 36 des Parteienwettbewerbs, sondern liegen in der Regel quer zu den parteipolitischen Interessen. Es wäre kontraproduktiv, wenn Parteien Positionen bezögen und sich damit zwangsläufig gegen die Interessen einzelner Länder stellen würden 37. Dementsprechend wirkt der Bundesrat bei Finanzstreitigkeiten als Sachwalter der Länderinteressen 38. Daneben liegt es im besonderen Interesse der Länder, Interventionen des Bundes und mittlerweile auch der EU abzuwehren 39. Dies betrifft insbesondere Übergriffe des Bundes in die Verwaltungsorganisation und Verwaltungskompetenz der Länder 40, sei es durch direkte Organisationsregelungen, sei es mittelbar durch den Ausbau der Bundeseigenverwaltung 41. Diese Gruppe ist quantitativ besonders bedeutsam da der Bund in den meisten Gesetzentwürfen Regelungen für das Verwaltungsverfahren erläßt 42. Es betrifft aber auch die Tendenz des Bundes, Kompetenzen an sich zu reißen. Da nachzuweisen ist, daß als drittes, neben den bisher genannten Feldern, die Streitigkeiten um die Regelungskompetenz des Bundes Anlaß für die Zustimmungsverweigerung im Bundesrat war 43, liegt auch hier eine Ursache föderaler Streitigkeiten. § 57, Rn. 20; Lange, Die Legitimationskrise des Bundesrates, S. 226 (235 ff.); Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates, S. 63; Halstenberg, Bundesstaatliche Entwicklung und Bundesrat, S. 127 (146 f.); Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (621); Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (376); Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 76; Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 29; Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (248); Fromme, ZRP 1976, S. 201 (203); ders., Gesetzgebung im Widerstreit, S. 59, 61, 65, 76, 79, 96. 33 Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 365. 34 Herles, Das Parlament, Nr. 34 – 35/1979, S. 3. 35 Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (172). 36 v. Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, S. 26. 37 Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (172). 38 Fromme, ZRP 1976, S. 201 (203). 39 Rührmair, Der Bundesrat, S. 50. 40 Fromme, ZRP 1976, S. 201 (203); ders., Gesetzgebung im Widerstreit, S. 59, 61, 65, 76, 79, 96; Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (621); Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 76; Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 29; Benz, APuZ 29 –30/2003, S. 32 (36). 41 Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (376). 42 Jun, Der Bundesrat, S. (339) 348.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Ganz allgemein formuliert, ergeben sich Landesinteressen aus der Eigenschaft der Länder als eigenständige Legitimationssubjekte auf Landesebene. Mit ihrer Befähigung zu originärer staatlicher Willensbildung 44 tragen sie eine Verantwortung gegenüber ihrer eigenen Wahlbevölkerung, ihr politisches Personal hat aber auch das Eigeninteresse, wiedergewählt zu werden. Neben den Bereichen Finanzen und Verwaltung sind eine Vielzahl an einzelnen Sachproblemen denkbar, die so vielfältig sind wie die einzelnen Politikfelder und die Eigenarten der Bundesländer. Insofern bestätigt sich die Begründung des deutschen Föderalismus mit dem auf tatsächlichen Unterschieden beruhenden historisch gewachsenen Selbstbestimmungsrecht von regionalen Bevölkerungsgruppen 45. Hier können spezifische Interessen des bestimmten Bundeslandes und seiner Bevölkerung bei der Bildung des gesamtstaatlichen Willens zur Geltung gebracht werden, wie z. B. von Hamburg und Bremen die Interessen für Außenhandel oder von Bayern für Fremdenverkehr und Bier 46. Hier werden ohne Rücksicht auf die jeweilige Parteizugehörigkeit verbindende, die Länder übergreifende Sachkoalitionen geschlossen, etwa in Fragen von Kohle und Stahl oder in der Weinwirtschaft. Diese Vielzahl unterschiedlicher Sachfragen läßt sich nicht weiter zusammenfassen. Es gibt also zwei Arten von Landesinteressen 47: − landesspezifische Interessen, die sich aus der spezifischen geographischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Eigenart des jeweiligen Landes ergeben, und − föderale Landesinteressen, die allen Ländern im Verhältnis zum Bund gemein sind. Ein Beispiel für eine echte föderale Streitigkeit im Verhältnis Bund – Länder liegt im Medienrecht. Anlaß von Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet war der Versuch des Bundes, die Zuständigkeit der audiovisuellen Massenmedien an sich zu ziehen. Dem trat das Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Fernsehurteil 48 entgegen. Somit konnte sich das Rundfunkrecht auf Länderebene entfalten 49. Echte föderale Streitigkeiten zwischen den Ländern treten bspw. bei Fragen des horizontalen Finanzausgleichs auf (Art. 107 Abs. 2 Satz 1, 3 GG). Danach ist die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen auszugleichen. Hier fin43 Fromme, ZRP 1976, S. 201 (203); ders., Gesetzgebung im Widerstreit, S. 62, 76; Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates, S. 59; Jun, Der Bundesrat, S. (339) 348. 44 s.o. 4. Kap., D. V. 45 s.o. 4. Kap., E. I. 1. 46 Schneider, Gesetzgebung, § 6, Rn. 140. 47 Im Ergebnis wie hier Leunig, APuZ 50 – 51/2004, S. 33 (34). 48 BVerfGE 12, 205 (226). 49 Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20 (31).
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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den Streitigkeiten zwischen zahlenden und empfangenden Ländern statt, die – je nach Position – ihre Wirtschaftskraft nicht honoriert sehen bzw. für weitere Zuwendungen streiten. Die Interessen des Bundes liegen in der Regel spiegelbildlich zu denen der Länder. Denn die Interessen der Länder bestehen im Bereich der Verwaltung und ihrer Gesetzgebungszuständigkeiten – also in zwei der drei Hauptstreitpunkte – darin, Eingriffe des Bundes „abzuwehren“ und sich gegen ihn „zu verteidigen“ 50. Die herrschende Diktion des Defensiven in sämtlichen empirischen Studien ist dabei bezeichnend. Weiterhin ergibt sich aus der hohen Anzahl an Regelungen des Verwaltungsverfahrens in allen Gesetzen 51, daß der Bund offenbar ein Interesse daran hat, dieses bis ins Detail zu regeln. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich, denn „die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus“ (Art. 83 Hs. 1 GG). Der Bund besitzt aber auch finanzpolitische Interessen. So kann es Ziel des Bundes sein, möglichst wenig an die Länder zahlen zu müssen oder seine Verschuldung niedrig zu halten 52. Stellt man dies den Landesinteressen gegenüber, so ergibt sich, daß jede Seite sich darum bemüht, die Kosten auf den anderen abzuwälzen, oder die Länder versuchen, Verteilungskonflikte unter sich zulasten des Bundes zu lösen 53. Das grundsätzliche Interesse des Bundes an seiner Kompetenzausweitung ist aber differenziert zu betrachten. Denn seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland ist der demokratische Bundesstaat von der schleichenden Erosion eigener Länderkompetenzen zugunsten von Zuständigkeiten des Bundes gekennzeichnet 54, eine Entwicklung der Zentralisierung und Unitarisierung. Diese Erweiterung war freilich nur um den Preis erweiterter Mitbestimmungsrechte der Länder und damit deren Veto-Macht zu erhalten. Diese Entwicklung wurde leider in Politik und Wissenschaft 55 eskortiert von der Idee eines Kompensationsmechanismus im Sinne eines Systems kommunizierender Röhren als Grundlage für das Tauschgeschäft „Länderkompetenzen gegen Erweiterung der Mitbestimmungsrechte im Bundesrat“. Mitbestimmung ist jedoch nur ein unzureichendes 50 Statt vieler Rührmair, Der Bundesrat, S. 50: „Abwehr“; Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (107). 51 Vgl. Jun, Der Bundesrat, S. 339 (348). 52 Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (174); Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (112 f.). 53 Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (175); Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (112 f.). 54 Statt vieler Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (16 f.); Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (107). 55 Z. B. Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 39; Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (108).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Surrogat für Selbstbestimmung 56. Die Eigenstaatlichkeit der Länder ist nach dem oben Gesagten 57 auch der Ausdruck autonomer politischer Gestaltung in einem parlamentarisch-demokratischen Verfahren. Daher war dieser Tausch nie ein echter Ausgleich. Die Kompensationsthese ist daher abzulehnen 58. Die Länder haben ihre eigene Entmachtung zu einem Gutteil selbst verschuldet, da sie keine Kosten tragen wollten und auch ihre Landespolitiker an die Kompensation und die Unitarisierung glaubten. Sie entsprach der überwiegenden Meinung über die Problemlösungskompetenz in einem Bundesstaat. Die theoretische Betrachtung der Bundesstaatslehren im ersten Teil, die eine unitarische Tendenz des Schrifttums ergab, hat damit eine Parallele in der Praxis. Zusammenfassend bilden also Finanzfragen und Eingriffe des Bundes in die Verwaltung sowie Kompetenzgerangel die Hauptinteressen jeweils des Bundes und der Länder. Sie sind Hauptursache von Bund-Länder-Streitigkeiten. 3. Parteipolitische Streitigkeiten: die Interessen von Regierung / Regierungspartei und Opposition / Oppositionspartei Nochmals: Bei parteipolitisch-föderalen Streitigkeiten handelt es sich um solche, die zwischen den Ländern und dem Bund bestehen, ohne daß ein unmittelbarer Bezug zu deren Eigenschaft als Bestandteil der bundesstaatlichen Ordnung bestünde 59. Im Gegensatz zu den territorialen und rechtlich-institutionellen Interessen wurzeln sie ausschließlich im Politischen. Parteipolitische Streitigkeiten zwischen Bund und den Ländern sind stets die öffentlichkeitswirksamsten. Sie sind es auch, welche dem Föderalismus den Vorwurf der Ineffektivität einhandeln. Dazu sei auf das Beispiel des Zuwanderungsgesetzes verwiesen, das auch noch unter dem Aspekt des Abstimmungsmodus im Bundesrat eine Rolle spielt. Die die rot-grüne Bundestagsmehrheit verfolgte eine andere Ausländerpolitik als die Opposition. Es ging dabei ausschließlich um diese Sachfrage und politische Gegensätze, föderale Aspekte waren nicht berührt.
Die Akteure bei parteipolitischen Streitigkeiten sind nicht verfassungsrechtlich determiniert wie bei den föderalen. Sie ergeben sich vielmehr aus Parteizugehörigkeit und können daher mehrere (rechtliche) Organe, ([bundesstaats-]rechtliche) Ebenen und Gruppen umfassen. Hier stehen sich zunächst die (Bundes-) 56
Isensee, AöR 115 (1990), S. 248 (257). s.o. 4. Kap., E. II. 58 Wie hier Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (17). 59 Ähnlich zu „allgemeinpolitischen Gründen“: Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates, S. 60. 57
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Regierung, die Mehrheitsfraktionen und die über die gemeinsame Parteizugehörigkeit verbundenen Länder einerseits und die Opposition im Bund (Minderheitsfraktion im Bundestag) mit ebenfalls über die Partei verbundenen Ländern gegenüber. Diese Vielzahl von Akteuren bilden jeweils einen parteipolitischen Interessenverbund (in der Übersicht: „Verbund A“, „Verbund B“). Im Gegensatz zu den rechtlich-institutionellen Konflikten handelt es sich um politischinformale Konflikte. Welche Interessen haben die Parteien auf Bundes- und Landesebene? Die Verbünde zunächst, gleich ob auf Regierungs- oder Oppositionsseite, teilen ein über die Funktion des Bundesrates vermitteltes gemeinsames wahlpolitisches Interesse: den Wahlerfolg auf den verschiedenen Ebenen des Bundesstaates 60. Dieses gemeinsame Interesse verbindet sie. Die Willensbildung innerhalb dieser parteipolitischen Interessenverbünde folgt den Regeln föderaler Konsensbildung. Geschlossenes Handeln ist im Grunde nur auf der Basis eines Konsenses zu sichern, denn keine Ebene hat gegenüber der anderen effektive Sanktionsmittel, um bestimmte Positionen gegen die Interessen von an Entscheidungen beteiligten Machtträgern durchzusetzen. Die Machtverhältnisse innerhalb der parteipolitischen Verbünde hängen von den Funktionen ab. Allgemein gesprochen haben Akteure mit Regierungsamt ein deutlich höheres Gewicht, als solche ohne. Die Ministerpräsidenten haben erheblichen innerparteilichen Einfluß, denn abhängig von den konkreten Mehrheitsverhältnissen ist ihr Drohpotential gegenüber „ihrer“ Bundesregierung deutlich größer als umgekehrt 61. Für die Ermittlung von Konfliktlinien folgt daraus, daß auch innerhalb dieser Verbünde Meinungsverschiedenheiten bestehen. Hier stehen die politischen Meinungen der (Bundes-) Regierung bzw. (Bundes-)Opposition denen „ihrer“ Länder gegenüber. Dies verdeutlicht sich, wenn man die Interessen von Regierung und Opposition im einzelnen betrachtet. Das Hauptinteresse der Regierung bei der gemeinschaftlichen Gesetzgebung liegt ganz allgemein betrachtet darin, einen Gesetzentwurf zu verabschieden 62. Mit wachsender politischer Bedeutung eines Gesetzesvorhabens wird ihr Interesse steigen, es auf jeden Fall durchzubringen. Die Bundesregierung und die mit ihr parteipolitisch verbundenen Landesregierungen besitzen aufgrund der verfassungsrechtlichen Stellung im Gesetzgebungsverfahren (Art. 73 ff. GG) die dominierende Rolle als Gesetzesinitiant. Die Bundesregierung kann allerdings „ihre“ Länderregierungen nicht als stets verfügbare Erfüllungsgehilfen ihrer Bundespolitik benutzen. Denn die Länder besitzen ihrerseits eigene Interessen, die 60
Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54). Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55); vgl. die Fallstudien zur sog. „Albrecht-Initiative“: ders., ZParl 1989, S. 331 ff.; dazu aus rechtlicher Sicht Patzig, DÖV 1989, S. 330 ff. 62 Vgl. Meyer, Gemeinwohlauftrag und föderatives Zustimmungserfordernis, S. 230. 61
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
denen der Bundesregierung gegenüberstehen. Diese kann sie nicht übergehen, will sie nicht das Risiko des Scheiterns oder einer Erpressung im Bundesrat eingehen 63. Das bedeutet also, daß es zu Streitigkeiten zwischen den über die Partei verbundenen Ebenen Bund – Länder auch und allein im Bereich der Regierungspartei(-en) geben kann. Das heißt, es stehen sich nicht nur wie in der „klassischen“ Situation Bund und Länder geführt von verschiedenen Parteien gegenüber, sondern auch politisch gleichgerichtete Ebenen. Das Schema der Konfliktlinien ist daher auf Regierungsseite um die Konstellation Bund / Regierung A – Länder / Regierung A zu erweitern, wobei nach der gängigen Terminologie A-Länder, die von der SPD geführten, B-Länder, die von CDU / CSU geführten Länder sind. Es stehen sich also innerhalb eines parteipolitischen Verbundes landes- und parteipolitische Interessen gegenüber. Ein entsprechendes Problem hat die Opposition. Die Opposition hat das Interesse, die Regierung als handlungsunfähig erscheinen zu lassen 64. Naheliegenderweise sieht sie in den parteipolitisch verbundenen Landesregierungen Verbündete im Bundesrat, insbesondere dann, wenn sie dort die Mehrheit stellen. Jedoch ist eine Oppositionsfraktion kaum in der Lage, diese einfach in eine Oppositionsstrategie einzuspannen, denn die Länder haben ihre jeweils eigenen Interessen, die sich oftmals von denen der Bundesopposition unterscheiden. Regierungsinteressen haben eine höhere Bedeutung als Parlamentsinteressen. Zudem hat für einen Ministerpräsidenten die Wahl im Land Vorrang vor der Loyalität gegenüber Parteifreunden auf der Bundesebene. Hinsichtlich des Grundmusters der Konfliktlinien wiederholt sich also die soeben auf Regierungsseite vorgenommene Konstellation: Bund / Opposition B – Länder / Opposition B. Da sich auf Regierungs- und Oppositionsseite das Grundprinzip dieser Konflikte gleicht, können sie terminologisch zusammengefaßt werden als „parteiinterne Konflikte“. Entsprechend ist die Übersicht zu ergänzen. III. Parteipolitisch-föderale Konflikte 1. zwischen dem Bund und den Ländern 1) parteipolitische: A-Verbund vs. B-Verbund („klassischer“ Streitfall) 2) verbundintern-föderale: (1) Bund / A-Regierung vs. Länder / A-Regierung (2) Bund / B-Opposition vs. Länder / B-Opposition
Nachdem die Interessenlagen in formell-struktureller Hinsicht damit feststehen, stellt sich die Frage nach dem Inhalt dieser Konflikte. Allerdings ist eine 63
Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55). Dazu und zum folgenden Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55); ders., Parteien im Bundesstaat, S. 93 (94). 64
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Aufzählung weder möglich noch zielführend. Denn naturgemäß können solche Streitigkeiten aus jedem nur denkbaren Feld der Sachpolitik stammen. Trotz dieser inhaltlichen Verschiedenheit besitzen die Konflikte unter formellem Blickwinkel eine Gemeinsamkeit. Diese Gemeinsamkeit liegt in dem Umstand, der sachpolitische Streitigkeiten überhaupt zu föderalen Auseinandersetzungen werden läßt: die Zustimmungstatbestände. Sie sind das Einfallstor, weshalb sich der Bundesrat mit einem Gesetz überhaupt (politisch) auseinandersetzen kann. Dies gilt (vgl. Art. 84 Abs. 1 GG), wenn der Zustimmungstatbestand z. B. nur wegen einer Verwaltungsfrage eröffnet ist. Dennoch darf der Bundesrat sich mit dem ganzen Gesetz und damit auch dessen materiellem Gehalt befassen (Einheitsthese) 65. Es läßt sich nachweisen, daß die meisten der vom Bundesrat beanspruchten Einflußnahmen vorwiegend allgemeinpolitisch (und finanzpolitisch) und nicht föderal begründet sind 66. Gerade diese politischen Streitigkeiten im föderalen Gewand sind umstritten (Stichwort: „Parteipolitisierung des Bundesrates“) und handeln dem Bundesstaat den Vorwurf des Immobilismus (Stichwort: „Blockadeinstrument“) ein. Für die anstehende Untersuchung der Ursachen föderaler Streitigkeiten kommen daher die Parteipolitisierung des Bundesrates und die hohe Anzahl an Zustimmungstatbeständen in Frage. 4. Der Wechsel von parteipolitischen zu Landesinteressen: die Schmerzgrenze parteipolitischer Loyalität Oben wurde darauf hingewiesen, daß zwischen parteipolitischen und Landesinteressen zu unterscheiden ist und daß es auch Kombinationen zwischen beiden geben kann. Wie sind dann aber Fälle zu erklären, in denen sich die Länder, deren Regierungspartei im Bund in der Opposition ist, zunächst nach Parteiräson verhalten, sich aber später doch gegen die eigene (Bundes-)Partei stellen und mit der von der gegnerischen Partei gebildeten Bundesregierung stimmen? Ein solcher Fall ist der eingangs genannte Streit um die Steuerreform 2000. Mit finanziellen Zusagen an die Länder Berlin, Bremen, Rheinland-Pfalz, MecklenburgVorpommern und Brandenburg erwirkte die Bundesregierung die Zustimmung dieser Länder im Bundesrat. Er konnte sie damit aus der „Unionsfront herausbrechen“, anders, mit dem entwickelten Instrumentarium formuliert: aus dem parteipolitischen Verbund herauslösen. Dieser Fall war zwar besonders öffentlichkeitswirksam und löste ernorme Empörung aus, war aber nicht der erste dieser Art. Im Jahre 1985 verweigerte Bayern seine Zustimmung zu einer Personalreform der Bundeswehr 67. Die erforderliche Mehrheit der Bundesregierung im Bundesrat war 65
BVerfGE 8, 274 (294); näher dazu unten B. III. 2. Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates und ihre Inanspruchnahme, S. 67. 67 Gesetz zur Verbesserung der Personalstruktur der Streitkräfte vom 30. Juli 1985 (BGBl. I, S. 1621). 66
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
danach nicht mehr gesichert. Daraufhin versuchte der Bund, seine Mehrheit mit der Hilfe Bremens zu erlangen. Dafür bot er dem Senat die Vergabe von Flottenaufträgen an. Darauf stimmte Bremen mit den „Regierungsländern“, „um sich auf diesem Umweg eine günstige Ausgangsstellung für die Wünsche des Küsten-Stadtstaates im Hinblick auf Strukturhilfen nach dem Muster des Saarlandes zu verschaffen“ 68. Ein gleicher Fall ereignete sich 1967 bei der Entstehung des Finanzänderungsgesetzes 69. Hier existierten Meinungsunterschiede zwischen Bundestag und Bundesrat. Daher wollten eigentlich die divergierenden Länder den Vermittlungssausschuß anrufen. Unter wahrheitswidriger Vorgabe von Zeitnot erklärten jedoch die betreffenden Länder einen Verzicht darauf. Ausschlaggebend für diesen Verzicht war hingegen die vom damaligen Bundesfinanzminister Strauß vor dem Plenum des Bundesrates abgegebene Zusicherung, den finanzschwachen Ländern erhöhte Ergänzungszuweisungen aus Bundesmitteln zu gewähren 70. Unter dem Eindruck dieser Ankündigung, die mit dem Beratungsgegenstand nichts zu tun hatte, stellte der Bundesrat seine Bedenken gegen das Gesetz zurück. Dies gab er ganz ungeniert expressis verbis in einer Entschließung zum Ausdruck: „Der Bundesrat läßt sich bei dieser Entscheidung davon leiten, daß die Bundesregierung den Finanzbedarf der Länder anerkennt und ihre Zusage erfüllt, die Ergänzungszuweisungen an die finanzschwachen Länder zu erhöhen“ 71. (Nur) ein Minister protestierte gegen diesen Passus: „Wollen wir uns kaufen lassen?“ 72 Daß sich dagegen keine Stimme erhob, die eine solche massive Verdächtigung zurückgewiesen hätte, spricht dafür, daß der Minister den Sachverhalt zutreffend gekennzeichnet hatte 73. Der Bundesrat hat sich von einer auf ganz anderem Felde liegenden finanziellen Zusage „leiten lassen“, obwohl er erkannte, daß „das Gesetz eine Reihe von erheblichen Mängeln ausweist, die nicht nur seine Durchführbarkeit in der Praxis wesentlich erschwerten, sondern die auch zu Unzuträglichkeiten für den Staatsbürger führen“ 74, wie die bereits angeführte Entschließung des Bundesrates ausdrücklich festhielt.
Den Fällen ist folgendes gemein. Der Bund machte einigen Ländern Angebote, die nicht nur nichts mit dem Gegenstand des Gesetzesentwurfs zu tun hatten oder wenigstens eine andere materielle Sachfrage betrafen, sondern bloße Geldzahlungen oder sonstige geldwerte Vorteile ausmachten. Diese sachfremden Seitenzahlungen ohne inneren Zusammenhang mit dem konkreten Gesetzgebungsvorhaben sind besonders bemerkenswert. Der Bund sucht Verbündete unter den Ländern durch finanzielle Angebote an einzelne von ihnen. Auf diese Weise versucht der Bund, einen Keil zwischen die Länder zu treiben, indem er 68
FAZ v. 21. Februar 1985, S. 2. BGBl. I, S. 1259. 70 Vgl. Sachverhaltsdarstellung bei Schneider, Der Niedergang des Gesetzgebungsverfahrens, S. 421 (429 ff.) m.w. N. aus den Sitzungsprotokollen. 71 Bundesrat, 318. Sitzung vom 8. Dezember 1967, Sitzungsbericht, S. 294. 72 Der hessische Minister Hemsath, Bundesrat, 318. Sitzung vom 8. Dezember 1967, Sitzungsbericht S. 293 f. 73 Schneider, Der Niedergang des Gesetzgebungsverfahrens, S. 421 (430). 74 Bundesrat, 318. Sitzung vom 8. Dezember 1967, Sitzungsbericht S. 294. 69
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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sich einige Stimmen erkauft. Dieser Vorgang des „divide et impera“ 75 wird insbesondere durch die politikwissenschaftliche Forschung bestätigt 76. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen hat der Bund die Länder gegeneinander ausspielen können. Er paktierte mit den finanz- und strukturschwachen Ländern gegen die finanzstarken und leistungsfähigen 77. Bei den Ländern, die zum „Überlaufen“ gebracht werden sollen, kann es sich um solche aus der „Opposition“ handeln oder aber um neutrale Bundesländer. Die betreffenden Landesregierungen stellten damit parteipolitische Loyalitäten zurück und stellten ihre eigenen Interessen in den Vordergrund („Geschenke mitnehmen“). Dies sagten die entsprechenden Landesvertreter auch ausdrücklich so aus 78. Offenbar gibt es eine Schmerzgrenze der Loyalität, bis zu der sich die Länder parteipolitisch in die Pflicht nehmen lassen. Sie ist schnell erreicht, wenn es um die Finanzausstattung der Länder geht. Im Falle der Steuerreform 2000 handelte es sich bei den Ländern um besonders finanzschwache Gliedstaaten. Daraus kann geschlossen werden, daß diese Länder für solche Angebote besonders empfänglich sind. Die Länder unterliegen damit einem „institutionellen Selbsterhaltungsinteresse“ 79. Dieses ist eines von verschiedenen Momenten, das der Parteipolitisierung des Bundesrates Grenzen setzt 80. Der Bund hat es dementsprechend leicht, die Ländergemeinschaft zu spalten. In Grenzfällen ist den Ländern das „Landeshemd“ näher als der „Parteirock“. Es fragt sich, wo die Loyalitätsgrenze verläuft. Allgemein gesprochen verläuft diese Grenze dort, wo eine Landesregierung, die in einer konkreten Frage nicht mit der Meinung „ihrer“ Bundesregierung bzw. „ihrer“ Oppositionsfraktion im Bundestag übereinstimmt, so sehr unter Druck der Bundeszentrale ihrer Partei gerät, daß sie sich bewogen fühlt, bei der Abstimmung im Bundesrat ihrer eigenen 75 Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20 (30); Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (174). 76 Renzsch, Konfliktlösung im parlamentarischen Bundesstaat, S. 167 (174); ders., ZParl 1994, S. 116 (123); Braun, StWStPr 7 (1996) S. 101 (198, 123); Lehmbruch, Parteienwettbewerb, S. 139 f.; Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 64 f.; Münch, Der Bundesrat im Kontext neuer Regierungsprogramme, S. 133 (140, 143); Merkel, BJS 2003, S. 255 (262); Schultze, StWStPr 4 (1993), S. 225 (233); Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531); vgl. a. König, APuZ 13/1999, S. 24 (30): „mediane Abstimmungsstimme“; aus der Rechtswissenschaft: Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (247); Fromme, Gesetzgebung im Widerstreit, S. 65; Klatt, VerwArch 82 (1991), S. 430 (439 f.); Benz, APuZ 29 –30/2003, S. 32 (36); Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20 (30). 77 Klatt, VerwArch 82 (1991), S. 431 (439); Renzsch, ZParl 1994, S. 116 (123); dies konnte auch beim Strukturhilfegesetz 1988/89 beobachtet werden: Patzig, DÖV 1989, S. 330 ff.; Renzsch, ZParl 1989, S. 331 ff. 78 FAZ v. 15. Juli 2000, S. 1; FAZ v. 18. Juli 2000, S. 4; SZ v. 6. Juli 2000, S. 1. 79 Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531). 80 s.u. B. II. 3.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
politischen Überzeugung die Parteidisziplin vorzuziehen 81. Umgekehrt verläuft sie dort, wo der Druck von der eigenen Landesseite so groß wird, daß die Landesregierung aus der Parteidisziplin ausschert und, gegebenenfalls gegen die eigene politische Überzeugung, aufgrund der eigenen Landesinteressen zugunsten der „gegnerischen“ Bundesregierung im Bundesrat abstimmt. Die Loyalitätsgrenze wird also erreicht, wenn sich infolge des Zustimmungserfordernisses parteipolitische Sachkonflikte mit föderalen Konflikten verbinden. Anders formuliert: Es gibt Situationen, in denen zwischen Interessen zu entscheiden ist, die sich aus der Eigenschaft der Landesregierung als Teil der verfassungsrechtlichen Bundesstaatsordnung ergeben (Recht) und deren Eigenschaft als demokratisch bestelltem politischem Gremium (Politik). Fraglich ist, ob dieser Verlauf der Loyalitätsgrenze näher bestimmt werden kann. Oben wurde festgestellt, daß die armen Länder besonders empfänglich sind. Daraus ergibt sich, daß die Grenze von der finanziellen Leistungsfähigkeit der betreffenden Länder abhängt. Aber auch bei dieser Erkenntnis ist insofern Einschränkung geboten, als alle Bundesländer stets Interesse an zusätzlichen Finanzquellen haben. Entscheidend kann weiterhin die Bedeutung des konkreten Gegenstandes für die jeweilige Landesregierung sein 82. Weiterhin ist die Bedeutung des Gesetzesvorhabens und das Bestreben der Bundesopposition, ein solches Gesetz im Bundesrat scheitern zu lassen, entscheidend. Aber auch hier kann Geld starken parteipolitischen Druck untergraben, wie die Steuerreform 2000 zeigt. Es galt als Prüfstein für die neue Parteivorsitzende der CDU, Angela Merkel, die Reform der Regierung zu Fall zu bringen. Dennoch ließen sich die CDU-Politiker in den Ländern davon nicht beeindrucken und votierten im Bundesrat angesichts der Seitenzahlungen im Sinne der Bundesregierung.
Wo die Grenze zwischen parteipolitischer Loyalität und Landesinteresse verläuft, läßt sich also nicht allgemeingültig bestimmen 83. Die Auflösung von Interessenkonflikten entlang der parteipolitisch-föderalen Loyalitätsgrenze durch sachfremde Seitenzahlungen, welche die geltende Finanzverfassung offenbar zuläßt, stellt weiterhin ein informelles Verfahren der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat dar. Dieses informelle Verfahren ist daher unten an der für die Konfliktlösungsmechanismen vorgesehenen Stelle unter eben diesem Blickwinkel weiterzuverfolgen. Die rechtliche Zulässigkeit soll dort ebenfalls erörtert werden.
81 Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (247), der von einer „Reizschwelle“ spricht. 82 Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (248). 83 Wie hier Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (248); Fromme, Gesetzgebung im Widerstreit, S. 65.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Die Existenz einer Loyalitätsgrenze spricht übrigens dafür, zwischen Landesund Parteiinteressen unterscheiden zu können. Ansonsten wäre eine Verhaltensänderung bei wechselnden Gegebenheiten, also bei finanziellem Angebot, nicht erklärbar. Weiterhin liegt mit dieser Loyalitätsgrenze ein Nachweis für den unmittelbaren Zusammenhang von Gesetzgebung und Finanzverfassung vor. Daher war es grundsätzlich richtig, diese beiden Gebiete von der Föderalismuskommission bearbeiten zu lassen 84. Die Aufteilung in zwei Arbeitsgruppen mit jeweiligen Gutachten suggeriert jedoch eine Trennung beider Materien. Daß aber ein direkter Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und Finanzverfassung besteht, zeigt der Fall der Steuerreform 2000. 5. Ergebnis Zusammenfassend lassen sich also nach generalisierender Betrachtung Konfliktfelder im demokratischen Bundesstaat ausmachen, auf denen es zu Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern kommt: Dazu gehören zunächst (echte) föderale Streitigkeiten. Dies sind Konflikte, die sich aus der Eigenschaft der Beteiligten als Mitglied der verfassungsrechtlich normierten bundesstaatlichen Ordnung ergeben. Es handelt sich daher um rechtlich-institutionelle Konflikte. In materieller Hinsicht geht es im Verhältnis Bund – Länder um Entscheidungen über die Finanzverteilung, Eingriffe in die Kompetenzen sowie die Verwaltungshoheit der Länder, im Verhältnis Länder – Länder um unterschiedliche Inhalte. In den echten föderalen Streitigkeiten erscheint das Bundesstaatsprinzip (unten im Schema I.). Weiterhin bestehen parteipolitisch-föderale (unechte föderale) Streitigkeiten. Hiervon existieren zwei Arten. Erstens gibt es Konflikte zwischen Verbünden auf der Grundlage der Parteizugehörigkeit (Bundesregierung, Bundestagsmehrheit, entsprechende Länderregierungen bzw. Bundestagsopposition und entsprechende Länderregierungen). Diese parteipolitischen Streitverbünde umfassen Institutionen und bundesstaatliche Ebenen und sind nur „lose“ über die Parteizugehörigkeit verbunden. Sie gliedern rechtliche Institutionen politisch auf (Fraktionen, Länderregierungen im Bundesrat). Sie sind daher als politisch-informelle Streitigkeiten zu bezeichnen. Hier liegt der „klassische Streitfall“ im Bundesstaat bei divergierenden Mehrheiten: Bundesregierung, Bundestagsmehrheit gegen Bundesopposition und Bundesratsmehrheit. Zweitens: Innerhalb dieser Verbünde existieren Meinungsunterschiede zwischen den in ihnen vertretenen Akteuren und Institutionen, sei es im Regierungs-, sei es im Oppositionslager: Hier gilt es, 84 Vgl. den Beschluß von Bundestag und Bundesrat zur Einsetzung der Kommission, BT-Drs. 15/1685 vom 14. Oktober 2004 bzw. BR-Drs. 750/03 vom 17. Oktober 2004, abgedruckt in: Bundestag / Bundesrat (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, S. 17 ff.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
echte föderale Interessen mit politischen Interessen zu versöhnen, um zu einer gemeinsamen Willensbildung des Verbundes gegenüber dem anderen Verbund zu gelangen. Dabei handelt es sich um verbundinterne-föderale Konflikte. In materieller Hinsicht geht es bei diesen um Sachthemen, die aufgrund der Unbegrenztheit der Politikfelder inhaltlich nicht näher gegliedert werden können. Sie steigen nur aufgrund der Zustimmungstatbestände, insbesondere des Art. 84 Abs. 1 GG, zu föderalen Konflikten auf. In diesen Streitigkeiten erscheint der demokratische Bundesstaat (unten im Schema III.). Es existieren Streitigkeiten bei Gesetzgebungsverfahren, die parteipolitischem und gleichzeitig föderalem Streit unterliegen. Hier verläuft eine Loyalitätsgrenze, die darüber entscheidet, ob die Länder sich infolge parteipolitischer Loyalität vom Bund in die Pflicht nehmen lassen oder ob ein Land aus dem Verbund ausscheidet und nach eigenen Länderinteressen entscheidet. Diese Konflikte können z. B. auf dem Wege des informellen Konfliktlösungsverfahrens der sachfremden Seitenzahlungen gelöst werden. Auch aus der Existenz dieses Durchgriffs der Bundesregierung auf die Länder ergibt sich, die (partei-)politische Unitarisierung des demokratischen Bundesstaates und die Finanzverfassung näher zu untersuchen, da das Aushandeln unter politischer Beteiligung statt verfassungsrechtlicher Institutionen oder Verfahren, etwa dem Vermittlungsausschuß, erfolgt und die Finanzverfassung vertikale Zahlungen offenbar nach Belieben zuläßt. Zu föderalen Streitigkeiten können diese Gesetzgebungsvorhaben freilich erst werden, weil die Zustimmungstatbestände die Mitwirkung des Bundesrates eröffnen. Auf sie ist daher im folgenden Abschnitt näher einzugehen. Weiterhin ist mit diesem Konfliktlösungsmechanismus eine Erscheinung gefunden, die auf den Bundesstaat in ganz besonderer Weise zutrifft: der Informalisierung. Eine verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Erfassung der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat muß daher auch das Phänomen des „informalen Verfassungsstaates“ 85 mitberücksichtigen. Schließlich gibt es noch die Konflikte, die sich nur innerhalb einer bundesstaatlichen Ebene zwischen Regierung und Opposition abspielen, also im Bundestag und in den Landtagen (im Schema II.). Diese Streitigkeiten haben keinen föderalen Bezug. In ihnen kommt das demokratisch-parlamentarische Prinzip zum Tragen. Es ergibt sich abschließend damit folgende Übersicht der Konfliktlinien im demokratischen Bundesstaat:
85
Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Föderale Konflikte (rechtlich-formell) Bundesstaatsprinzip 1. zwischen Bund und den Ländern 2. zwischen den Ländern: a) arme gegen reiche Länder b) regional-kulturelle Konflikte c) große und leistungsstarke gegen kleine und leistungsschwache Länder d) Flächen- gegen Stadtstaaten e) alte gegen neue Länder II. Parteipolitische Konflikte Demokratieprinzip 1. Bund: Regierung vs. Opposition 2. Länder: Regierung vs. Opposition III. Parteipolitisch-föderale Konflikte (politisch-informell) Prinzip des 1. zwischen dem Bund und den Ländern demokratischen Bundesstaates a) parteipolitische Konflikte: A-Verbund vs. B-Verbund („klass.“ Streitfall)
I.
b) verbundintern-föderale Konflikte: (1) Bund / A-Regierung vs. Länder / A-Regierung (2) Bund / B-Opposition vs. Länder / B-Opposition 2. zwischen den Ländern: A-Länder vs. B-Länder
↑Loyalitätsgrenze
Die Erörterung der Interessenlagen und die Übersicht zeigen, daß es föderale, also rechtlich-formelle und parteipolitisch-föderale, und damit politischinformelle Konflikte gibt. Diese sind aber nicht immer voneinander zu trennen oder bestehen parallel zueinander. Vielmehr sind diese Konflikte im jeweiligen Einzelfall miteinander verschränkt und ergeben ein Geflecht von Konfliktlinien. Diese Tatsache bestätigt das bereits verfassungstheoretisch gefundene Ergebnis, daß das demokratisch-parlamentarische und das föderale Prinzip des Grundgesetzes nicht einander gegenübergestellt werden dürfen. Das Grundgesetz und die es ausfüllende Verfassungspraxis sind nur als demokratischer Bundesstaat zu verstehen.
B. Gründe der Konfliktlagen im einzelnen Soeben wurde festgestellt, daß Streitigkeiten zwischen den Ländern und dem Bund entweder auf parteipolitischen Differenzen beruhen oder auf echte föderale Konflikte zurückzuführen sind. Bei letzteren ist eine Schematisierung insofern möglich, als es sich dabei entweder um finanzpolitische, Verwaltungs- oder Kompetenzstreitigkeiten handelt. Politische Streits über sonstige Sachfragen, die in ihrer Gänze naturgemäß nicht erfaßt werden können, können einen Streit zwischen den beiden gliedstaatlichen Ebenen nur dann auslösen, wenn Mitwirkungstatbestände des Grundgesetzes erfüllt sind. Es kommt also auch auf die Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen an. Daher ist sich zunächst der partei-
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
politischen Durchdringung des demokratischen Bundesstaates zuzuwenden (II.) sowie den Ursachen der hohen Zustimmungsbedürftigkeit (III.) und anschließend der Finanzverfassung (IV.) sowie dem Prinzip der Verwaltungszuständigkeit (V.). I. Recht und Politik in den Ursachen föderaler Konflikte Da diese möglichen Ursachen vor dem Hintergrund von Recht und Politik betrachtet werden sollen, sei an die für diesen Gegenstand ermittelte Unterscheidung von Recht und Politik erinnert. Hier war eine Differenzierung zugrunde zu legen, die unter Politik die Verfassungspraxis versteht. Es soll ermittelt werden, ob die soeben vorgestellten Gründe (II.-V.) tatsächlich Ursachen föderaler Konflikte sind und ob sie wiederum auf das Verfassungsrecht oder die Politik im Sinne der Verfassungspraxis zurückzuführen sind. II. Die parteipolitische Unitarisierung des demokratischen Bundesstaates Um die parteipolitische Unitarisierung des demokratischen Bundesstaates näher zu bestimmen, ist sich dem Ort zuzuwenden, an dem sie offen zutage tritt: dem Bundesrat. Diese Frage näher zu untersuchen bedeutet, sie zu zerlegen. Sie setzt sich aus zwei Problemen zusammen, einem rechtlichen und einem tatsächlichen. Zunächst stellt sich die Frage, wie es zu parteipolitischem Verhalten im Bundesrat überhaupt kommt und ob es zulässig ist (1.). Dann fragt sich, welche Auswirkungen diese Parteipolitisierung zeitigt: Sind die Parteien „Sand oder Öl“ im Getriebe des demokratischen Bundesstaates (2.)? Aus beiden Teilfragen ergeben sich dann rechtliche und rechtspolitische Konsequenzen. 1. Die rechtliche Zulässigkeit (partei-)politischen Verhaltens im Bundesrat Trotz seines parlamentsähnlichen Charakters 86 kennt der Bundesrat keine Fraktionen wie etwa der Bundestag, in dem sich die gewählten Volksvertreter zu Fraktionen mit gleicher parteipolitischer Ausrichtung zusammenschließen. Vielmehr sind die Mitglieder des Bundesrates entsprechend der sie entsendenden Länder zusammengeschlossen, was auf die Konstruktion des Bundesrates als Länderkammer und Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG zurückzuführen ist, nach dem die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können. Mitglieder des Bundesrates sind Mitglieder der Landesregierungen (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG), 86
Vgl. dazu ausführlich Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 94 und Ziller / Oschatz, Der Bundesrat S. 117 f.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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es ist das „Parlament der Regierenden“ 87. Das heißt aber nicht, daß parteipolitische Gesichtspunkte keine Rolle spielen. Vielmehr ergab sich aus den eingangs erörterten Theorien, daß trotz dieser Zusammensetzung des Bundesrates eine „parteipolitische Überlagerung“ 88 des Bundesstaatsprinzips erfolgt. Auch daher ergab sich die Notwendigkeit, sich mit der Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat auseinanderzusetzen. Diese wird häufig als Ursache von Reformblockaden genannt. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, verstärkt aber seit den ersten divergierenden Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat Ende der sechziger Jahre, ist die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat umstritten. Heute herrscht eine eher pragmatische, die Staatspraxis respektierende Auffassung vor 89, welche eine Zulässigkeit befürwortet 90. Angesichts dieser dominanten Meinung im Schrifttum scheint die Debatte erledigt zu sein. Dementsprechend wurde sogar vorgetragen, die Frage sei unstreitig 91. Doch sind gerade in jüngster Zeit weitere Beitrage erschienen, welche sich mit der Thematik auseinandersetzen, darunter auch Monographien 92. Es finden sich darunter auch junge Autoren 93, welche die vergessen geglaubte, aber noch in beachtlicher Zahl vertretene Mindermeinung 94 der politischen Neutralität des Bundesrates vertreten. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, daß in letzter Zeit der Föderalismus 87
Herles, Das Parlament der Regierenden, passim. Leibholz / Hesselberger, Bundesrat und Parteiensystem, S. 99 (111). 89 Blanke, Jura 1995, S. 57 (60). 90 Bandorf, Der Bundesrat, S. 31 ff.; Herzog, HbStR III, § 57, Rn. 16; Bauer, in: Dreier, GG, Art. 50, Rn. 19; Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 95 ff., 115; Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (15); Fromme, ZRP 1976, S. 201 (205); Frowein, Beziehungen des Bundesrates, S. 115 (119 f.); ders., VVDStRL 31 (1973), S. 13 (22); Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 316; Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 204 f.; Hendrichs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 51, Rn. 22; Klein, DÖV 1971, S. 325 (329); Korioth, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 50, Rn. 17 f. m.w. N.; Leibholz / Hesselberger, Bundesrat und Parteiensystem, S. 99 (111); Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (634); Pfitzer, Der Bundesrat, S. 64 ff.; Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 70; Risse, in: Seifert / Hömig, GG, vor Art. 50, Rn. 3; Rührmair, Der Bundesrat, S. 40 ff.; Klein, AöR 108 (1983), S. 329 (358 ff.); ders., DÖV 1971, S. 325 ff; Rudolf, Funktion und Stellung des Bundesrates, S. 27 f.; Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (48); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, Art. 50, Rn. 8; Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. i); ders., Staatsrecht II, § 27 II. 3.; Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (191); Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 118, 124; Zippelius / Würtenberger, Staatsrecht, § 14, Rn. 14; differenzierend Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 113; politikwissenschaftlich Laufer, ZParl 1970, S. 318 (327); Laufer / Münch, Föderatives System, S. 195. 91 Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (15). 92 Rührmair, Der Bundesrat, S. 33 ff.; Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 95 ff. 93 Hebeler, Jura 2002, S. 164 (166); Merten, Der Bundesrat in Deutschland und Österreich, S. 13 (15); Schubert, Jura 2003, S. 607 (610); Wassermann, NJW 2003, S. 331; Wilms, ZRP 2003, S. 86 (89 f.); krit. a. Blanke, Jura 1995, S. 57 (60). 88
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und der Bundesrat für „Reformblockaden“ verantwortlich gemacht wurden. Die Diskussion ist daher nach wie vor offen und scheint den demokratischen Bundesstaat weiter zu begleiten. Dies nimmt auch nicht wunder, da der deutsche Föderalismus von vielen Mißverständnissen begleitet wird, wie sich insbesondere an der „Blockadediskussion“ zeigt. Nur die oben beschriebene Deutung des Grundgesetzes als demokratischer Bundesstaat schafft befriedigende Lösungen und vermag seinem Bestandteil Bundesrat gerecht zu werden. Daher kann diese Deutung auch die hier aufgeworfene Frage der Parteipolitisierung des Bundesrates klären. Oben wurde ausgeführt, daß auch im Bundesrat die (Parteien-)Demokratie auf das Bundesstaatsprinzip abfärbt. Damit beeinflußt sie auch den Bundesrat. Der Bundesrat besteht aus „Mitgliedern der Regierungen der Länder“ (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG). Diese werden von den Landesparlamenten gewählt, welche wiederum aus demokratischen Wahlen hervorgehen. Dabei wirken auch die politischen Parteien mit. Es bestehen also auch in den Ländern parlamentarische Regierungssysteme mit Parteiendemokratie. Dies ergibt sich aus den Länderverfassungen, die sich ausnahmslos für das parlamentarische Regierungssystem entschieden haben bzw. aus dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG. Es findet eine repräsentativ-demokratische Landeswillensbildung statt, zu deren Mitwirkung auch die Parteien berufen sind (vgl. Art. 20 Abs. 1, 21, 28 Abs. 1 GG). Art. 21 GG sichert den Parteien eine verfassungsrechtliche Stellung, indem das Grundgesetz die Parteien als Faktum und als Mittler zwischen dem Volk und den Verfassungsorganen anerkennt 95. Das jeweilige Landesvolk tritt nach Parteien gegliedert in Erscheinung. Dies geschieht in den Landesparlamenten durch die Fraktionsbildung. Dazu ermächtigt die Parteien der Art. 21 GG, welcher auch für die Länder gilt. Die Landesregierungen sind nun von der sie tragenden (parteipolitischen) Mehrheit abhängig und ihr verantwortlich. Sie haben die politischen Ziele ihrer Mehrheit durchzusetzen. Dies wirkt sich auch auf das Abstimmungsverhalten im Bundesrat aus. Die Parteien sind bundesweit organisiert und haben sich der föderalen Struktur angepaßt, indem sie sich in Landesverbände gegliedert haben. Damit sind die 94
Insbesondere Maunz, Die Rechtsstellung der Mandatsträger im Bundesrat, S. 193 (209 f.); Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 50, Rn. 25; Hablitzel, BayVBl. 1979, S. 39 (40); Knies, DÖV 1977, S. 575 (577 f.); Jahn, Bundesrat gegen Bundestag, S. 370 (371); ders., ZParl 1976, S. 291 ff.; Lange, Die Legitimationskrise des Bundesrates, S. 181 (194 f.); v. Münch, Staatsrecht I, Rn. 735; Schubert, Jura 2003, S. 607 (610); Wassermann, NJW 2003, S. 331; Wilms, ZRP 2003, S. 86 (89f.); krit. auch Badura, Der Bundesrat in der Verfassungsordnung, S. 317 (321); Blanke, Jura 1995, S. 57 (60); Hebeler, Jura 2002, S. 164 (166). 95 Preuß, AK-GG, Art. 21, Rn. 14; zum Verfassungsrang der Parteien vgl. a. BVerfGE 41, 399 (416).
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Mitglieder der Landesregierungen nicht nur Landes-, sondern auch Parteipolitiker. Sie stehen somit im Austausch und in Abhängigkeit zur bundespolitischen Parteienkonstellation 96. Dieses Phänomen der Verfassungspraxis ist Folge der verfassungsrechtlichen Konstruktion, insbesondere von Art. 21, 28 GG, welche die Parteien als „verfassungsrechtlich notwendige Instrumente für die politische Willensbildung des Volkes anerkannt, in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben“ 97 und in der parteienstaatlichen Demokratie zu integrierenden Bestandteilen des politischen Lebens gemacht hat 98. Dies gilt gem. Art. 28 Abs. 1 GG auch in den Ländern. Da dem Bundesrat Mitglieder der demokratisch gewählten Landesregierungen angehören, spiegelt der Bundesrat die in den Landesregierungen wirksamen politischen Parteien wider. Daher wirkt die Parteipolitik bzw. das parteienstaatliche Prinzip in den Bundesrat hinein. Es bleibt aber nicht bei einer bloßen „Überlagerung des föderativen Prinzips durch das parteienstaatliche“ Prinzip, wie Leibholz / Hesselberger formulierten 99. Dies übergeht die Vielzahl von Autoren 100, die deren Formulierung oft zitiert. Auch umgekehrt besteht eine Wirkungsrichtung: Das Parteiengesetz (§ 7 PartG) sieht eine Gliederung der Parteien in Gebietsverbände vor und geht mit dem Landesverband als dem Regelfall der föderativen Gliederung in Parallele zum staatlichen Aufbau aus. Aus dieser Ablehnung eines bundesweiten Einheitsmodells als Organisationsform für die Parteien resultiert materiell eine (auch) landesbezogene Programmatik des Landesverbandes. Die Wahrnehmung von Länderinteressen ist deshalb bei Entscheidungen des Bundesrates, die parteipolitisch beeinflußt sind, nicht a priori ausgeschlossen 101. Gleichzeitig werden föderative Elemente in die Parteien dadurch hineingetragen, daß das Element Land durch die Landesverbände in die Bundesorganisation der Parteien inkorporiert ist und durch Landespolitiker, insbesondere durch die „Landesfürsten“, bei der Festlegung der Parteilinie präsent ist 102. Insoweit wird das föderative Prinzip durch das demokratisch-parteienstaatliche Prinzip verstärkt. Es besteht also eine wechselseitige Beeinflussung beider Prinzipien in beide Richtungen, weder überlagert ausschließlich das Parteienstaatsprinzip das föderale 103, noch ist es aus96 Badura, Der Bundesrat in der Verfassungsordnung, S. 317 (321); Ehard, BayVBl. 1961, S. 1 (3); ders., Aufgabe und Bewährung des Bundesrates, S. 95 (111); Neunreither, Der Bundesrat zwischen Politik und Verwaltung, S. 107; Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (633); Rührmair, Der Bundesrat, S. 41. 97 BVerfGE 41, 399 (416). 98 BVerfGE 1, 225; 2, 73; 4, 28; 5, 133; 11, 242 (273); Blanke, Jura 1995, S. 57 (60). 99 Leibholz / Hesselberger, Bundesrat und Parteiensystem, S. 99 (111). 100 Z. B. Blanke, Jura 1995, S. 57 (60); Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 115; Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 109; Rührmair, Der Bundesrat, S. 54. 101 Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 74. 102 Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 74. 103 Leibholz und die in seinem Gefolge zitierten Autoren.
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schließlich umgekehrt 104. Auch insoweit bestätigt sich die Verschmelzung beider Grundsätze zum demokratischen Bundesstaat. Er ist nur als solcher zu verstehen. Das, was überwiegend als Spannungsverhältnis zwischen beiden Prinzipien gedeutet wird und mit Abwertungen einhergeht, ist Teil der verfassungsrechtlichen Konstruktion: die (auch politische) Mitwirkung der Länder auf Bundesebene und die Möglichkeit divergierender Mehrheitsverhältnisse mit samt dem daraus resultierenden (partei-)politischen Konflikt. Bereits aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß die Parteipolitisierung des Bundesrates zwangsläufige Folge des demokratischen Bundesstaates ist. Sie ist also Teil der verfassungsrechtlichen Konstruktion und kann daher nicht unzulässig sein. Dies bestätigt die Verfassungsgeschichte. Wie oben dargelegt ergab sich eine Entwicklung vom monarchischen zum demokratischen Bundesstaat. Dementsprechend entwickelte sich der Bundesrat vom aristokratischen Repräsentant der Länder zum demokratischen Vertreter der Landesvölker. Während er früher aufgrund der dynastischen Verbindung noch als neutral gelten konnte, mußte sich dies mit dem Wechsel zur Parteiendemokratie ändern. Auch kann nicht eine angeblich minderwertige und bloß indirekte demokratische Legitimation des Bundesrates gegen eine Zulässigkeit (partei-)politischen Verhaltens im Bundesrat angeführt werden 105. Diese Annahme geht davon aus, daß nur demokratische und nur direkte Vermittlung Legitimation herstellen könne und damit eine minderwertige Legitimation des Bundesrates bestehe. Dieser Sichtweise ist zu widersprechen. Ein solches Legitimationsdefizit läßt sich gerade nicht feststellen. Denn zum ersten – so wurde oben erörtert – geht der demokratische Bundesstaat nicht von einem volksdemokratischen Demokratiebegriff aus und die Willensbildung erfolgt nicht nur einheitlich demokratisch, sondern auch bundesstaatlich. Der bundesstaatlichen Komponente an der Willensbildung eine mindere demokratische Qualität zuzusprechen, stellte sich oben als unzulässiger Vergleich mit verschiedenen Verfassungstraditionen dar. Diesem Irrtum unterliegen auch diejenigen, die ein demokratisches Defizit beim Bundesrat zu entdecken glauben. Dementsprechend ist es auch nicht statthaft, den Bundesrat als Föderativorgan an rein für die Demokratie geltenden Maßstäben und an Kriterien für eine Volksvertretung zu messen. Das Grundgesetz hat kein rein parlamentarisches, sondern ein bundesstaatlich-parlamentarisches Regierungssystem geschaffen. Der Bundesrat ist nicht nur demokratisch, sondern auch bundesstaatlich legitimiert. Zum zweiten haben die obigen Überlegungen zur Legitimation der Länderkammer ergeben, daß der Bundesrat eine mittelbare und damit ausreichende demokratische Legitimation besitzt. Es gibt keine 104
So aber Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 74. So aber Hablitzel, BayVBl. 1979, S. 39 (40); Knies, DÖV 1977, S. 575 (577 f.); Lange, Die Legitimationskrise des Bundesrates, S. 181 (194 f.); Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (191); politikwissenschaftlich: Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531). 105
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weniger legitimierende Wirkung einer mittelbaren Legitimation. Man kann sich allenfalls über Für und Wider oder die Länge einer Legitimationskette streiten 106. Eine minderwertige Legitimation eines Organs läßt sich daraus nicht ableiten und wäre dem Grundgesetz auch fremd. Denn sie würde eine „schizophrene Verfassung“ 107 unterstellen, welche zwar einerseits die demokratische Legitimation aller Staatsgewalt fordert, andererseits jedoch mit dem Bundesrat ein undemokratisches Organ schafft. Vielmehr ist der Bundesrat als demokratisches und bundesstaatlich legitimiertes Organ konstruiert. Aus einer weniger direkten Legitimation eine Grenze politischen Handelns zu entnehmen, entspricht zwar einer verbreiteten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und gewiß auch zum Teil politischem Kalkül, ist aber verfassungsrechtlich nicht haltbar. Bereits nach diesen grundsätzlichen Überlegungen 108 steht also fest, daß parteipolitisches Verhalten im Bundesrat zulässig und eine Konsequenz des demokratischen Bundesstaates ist. Dabei kann eine umfassende Betrachtung jedoch nicht stehenbleiben, denn es stellt sich weiterhin die Frage nach den tatsächlichen Auswirkungen dieser Praxis. Sind die Parteien Ursache für Streitigkeiten und damit für einen angeblichen Immobilismus im Bundesstaat verantwortlich oder können sie helfen, Konflikte zu lösen? 2. Die tatsächliche Wirkung der Parteien im demokratischen Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe? Während die juristische Legitimationslehre 109 die Frage der Zulässigkeit beantworten kann, ist sie zur Beantwortung der Frage nach der tatsächlichen Rolle der Parteien und den Folgen ihres Handelns nicht ohne weiteres in der Lage. Dazu ist die politikwissenschaftliche Forschung berufen, welche die Ergebnisse dieser Prozesse in den Mittelpunkt rückt und Vor- und Nachteile 110 sowie die tatsächlichen Auswirkungen untersucht. Hier wird eine Diskussion geführt, die sich unter dem Titel „Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?“ 111 106
Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 197. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 197. 108 Vgl. zu Details der Parteipolitisierung umfassend die Monographien Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 95 ff.; Rührmair, Der Bundesrat, S. 37 ff. 109 Vgl. dazu Mehde, Kooperatives Regierungshandeln, AöR 127 (2002), S. 655 (662); ders., Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, S. 298 f. m.w. N.; zu der Frage, ob das Rechtsystem auf die Entscheidungsalternative rechtmäßig / rechtswidrig beschränkt ist vgl. Kaufmann, StWStPr 8 (1997), S. 161 (162 ff.); demgegenüber Morlok, VVDStRL 62, S. 39 (55). 110 Vgl. Morlok, VVDStRL 62, S. 39 (41, Fn. 7). 111 Renzsch, Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?, S. 93 ff. 107
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zusammenfassen läßt. Sie beschäftigt sich mit der Position des Bundesrates im Gesetzgebungsprozeß und der Kritik, der Föderalismus und seine parteipolitische Überlagerung sei verantwortlich für Stillstand und Immobilismus in der (Reform-)Gesetzgebung. Sie steht unter dem Stichwort „Reformstau“ im Zentrum politikwissenschaftlicher Föderalismusforschung. Die Debatte ist keineswegs neu 112. Bereits Mitte der siebziger Jahre wurde sie geführt. Anlaß waren die seit Ende der sechziger Jahre erstmals bestehenden unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. So kritisierte Lehmbruch in seinem viel beachteten, aber nicht unumstrittenen Werk vom „Parteienwettbewerb im Bundesstaat“ die Behinderung des sozial-liberalen Reformprozesses durch den Bundesrat 113. Bis heute ist diese Frage Gegenstand der Forschung, immer wieder werden Beiträge dazu veröffentlicht 114. Sie kann daher bis heute als unbeantwortet betrachtet werden. Letztlich ist diese Ungeklärtheit ein Bestandteil des Bundesstaates und seiner Föderalismusforschung, was dafür sprechen kann, daß der Bundesstaat und seine Interpretation durch die Lehre in der Tat entwicklungsoffen ist und es nie ein festes Bild vom (deutschen) Bundesstaat gibt. a) Stand der Forschung Zu der Frage, ob die Parteien Ursache für Immobilismus im föderalen Staat sind, ob sie also als „Sand oder Öl im Getriebe“ gelten können, stehen sich zwei Lager gegenüber. Nach einer verbreiteten und öffentlichkeitswirksamen Auffassung sind die Parteien „Sand im Getriebe“ des demokratischen Bundesstaates 115. Die „föderalen Politikmuster [würden] maßgeblich zu Blockaden und Prozessen der Verlangsamung von Entscheidungen oder gar zur politischen Paralyse beitragen“ 116. Diese 112
Vgl. dazu näher Leunig, ZParl 2003, S. 778 (778 f.) m.w. N.; ders. u. a., ZParl 2003, S. 508 (511 m. Fn. 3). 113 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1. Auflage 1976, S. 36 ff. 114 Z. B. jüngst Leunig, ZParl 2003, S. 778; fünf Aufsätze in APuZ 29 –30/2003; Leonardy, ZParl 2002, S. 180; mehrere Beiträge in den Heften 3 und 4 der ZParl 2004. 115 Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung, S. 20 ff., 225 ff.; Scharpf, PVS 26 (1985), S. 323; ders., Interaktionsformen, Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, S. 315 ff.; ders., Die Theorie der Politikverflechtung; Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1. Aufl. 1976, S. 36 ff. (modifiziert aufrechterhalten ab der 2. Aufl.); v. Arnim, RuP 2000, S. 83 (86 f.); Becker, FAZ v. 2. Februar 1998, S. 10; v. Beyme, International Political Science Review 5 (1984), S. 381 ff; Bothe, Konkurrenz, Kooperation oder Konflikt?, S. 20 (34); Hennis, FAZ v. 27. September 1997; ders., Auf dem Weg in den Parteienstaat, S. 155 (159); Höreth, OWG 2005, S. 50; König, ZParl 1998, S. 478 ff.; ders. / Bräuninger, ZParl 1997, S. 605 ff.; ders. u. a., ZParl 2003, S. 508 (509); Lijphart, Democracy in Plural Societies, S. 50 ff.; ders., Democracies, S. 169 ff.; Luthardt, APuZ 13/1999, S. 12 (14); Margedant, APuZ 29 – 30/2003, S. 6; Schultze, StWStPr 4 (1993), S. 225 (238). 116 Luthardt, APuZ 13/1999, S. 12 (14).
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Auffassung wird insbesondere von Scharpf in Form seiner Immobilismusthese, von Lehmbruch und ihm folgend von einigen anderen 117 als Inkongruenzthese vertreten. Die Lehmbruch’sche Variante dieser Auffassung ist seine bereits in den siebziger Jahren entwickelte Strukturbruch- oder Inkongruenzthese. Danach komme es zu Blockaden des Gesetzgebungsprozesses, wenn bei divergierenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat gepaart mit politisch aufgeladenen Situationen, wie ein bevorstehender Wahlkampf, die Entscheidungsfindung im Bundesrat weniger von Landesinteressen als von (bundes-)parteipolitischen Erwägungen dominiert werde. Diese Entstehung von Blockaden führt er darauf zurück, daß die Handlungslogiken des parlamentarischen und des bundesstaatlichen „Subsystems“ nicht kongruent seien. Während die föderale „Arena“ durch das Konfliktlösungsmuster des Aushandelns von Kompromissen und durch Einstimmigkeit gekennzeichnet sei, werde die parlamentarische Arena durch Mehrheitsentscheidungen und durch die Konkurrenz der Parteien geprägt 118. Werde der föderale Aushandlungsprozeß dann durch den parteipolitischen Wettbewerb überlagert, führe diese Konkurrenz zu einem konfrontativen Verhalten von Opposition und Regierung. Zum strukturellen Problem werden die unterschiedlichen Handlungslogiken dann, wenn die beiden Teilsysteme ihre eigene Handlungslogik in das jeweils andere System zu erstrecken suchen und sie dies damit blockieren 119. Voraussetzungen für die Inkongruenz seien zweierlei. Zum einen die jeweilige Parteienkonstellation: Zum Wettbewerbsmodus tendiere ein Parteiensystem erst dann, wenn es sich in zwei klar konkurrierende Blöcke spalten könne. Ein Vielparteiensystem hingegen füge sich gut in das Verhandlungssystem zwischen parlamentarischer Regierung und föderalen Akteuren ein. Zum anderen setze die Inkongruenz hinzutretend voraus, daß sich in Bund und Ländern keine überlappenden Koalitionen hielten, da politisch kongruente Koalitionen sich gegenseitig unterstützen und ins Kalkül ziehen könnten 120. Nach seiner Auffassung muß ein flexibles und differenziertes Vielparteiensystem und eine losere Kopplung beider Subsysteme gefunden werden, wenn die Reformfähigkeit des politischen Systems gesteigert werden soll. Die Immobilismusthese nach Scharpf sieht in parteipolitischen Blockaden einen (von mehreren) gravierenden Grund für die mangelnde Effizienz des politischen Prozesses in Deutschland. Sein Konzept der Politikverflechtung ist bis 117 Hennis, Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, S. 203 (238, Fn. 29); Mayntz, StWStPr 1 (1990), S. 283 ff.; Benz, Postparlamentarische Demokratie?, S. 201 ff.; Lijphart, Democracies, S. 169 ff., 219: „Deutschland als „majoritär-föderale Kategorie“, „zwei logisch entgegengesetzte Demokratiemodelle“. 118 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 27 ff. 119 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 27, 143 ff. 120 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 37 ff.
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heute außerordentlich wirkmächtig 121, und sein Begriff der Verflechtung ist in der Wissenschaft wie mittlerweile auch in der allgemeinen Berichterstattung zur Standardbeschreibung des bundesdeutschen Föderalismus geworden, wie sich an der unendlichen Zahl der Zitate ablesen läßt. Ähnlich wie Lehmbruch geht er von der Inkongruenz der Konfliktlösungsmuster von parlamentarischem Parteienwettbewerb und föderalen Aushandlungsprozessen aus und spitzt dies so zu: „Ein politisches System, in dem die Politiker im Bundestag aufeinander einschlagen sollen wie im britischen Unterhaus, im Bundesrat aber miteinander verhandeln sollen wie in der Schweizer Konkordanzdemokratie, kann nicht funktionieren“ 122. Während Lehmbruch jedoch eher einen parteiorientierten Ansatz verfolgt, konzentriert sich Scharpf mehr auf die föderale Struktur. Dementsprechend bildet die Analyse der institutionellen Struktur den Kern seiner Analyse. Es ist zentrale Prämisse der Theorie, daß diese institutionelle Struktur Einfluß auf den Prozeß und die Ergebnisse der Politik habe. Es ist dieser Zusammenhang von Struktur, Prozeß und Ergebnis, welcher das Grundgerüst der Politikverflechtungstheorie bildet. Die Struktur sieht Scharpf durch die „Fragmentierung der Handlungskompetenzen“ gekennzeichnet: einerseits in horizontaler Hinsicht, also zwischen den verschiedenen Ressorts und Zentralorganen, wie dem Kanzleramt, andererseits in vertikaler Hinsicht zwischen den bundesstaatlichen Ebenen 123. Diese Struktur erhalte ihr besonderes Merkmal durch die funktionale Kompetenzverteilung: Die materielle Gesetzgebungskompetenz liege beim Bund, die Verwaltungszuständigkeit trügen die Länder. Es bestehe eine „funktionale Kompetenzverflechtung“. Es ist diese institutionelle Anlage, welche dem politischen System das ihr eigentümliche Handlungsmuster beschere: die Politikverflechtung 124. Politikverflechtung läßt sich als ein Entscheidungsmuster umschreiben, bei dem „das Entscheidungsverhalten dezentraler Einheiten im Interesse des umfassenderen Kollektivs“ 125 gesteuert wird, strukturell veranlaßt durch eine „funktionale Kompetenzverflechtung und ausgetragen maßgeblich durch politisch-administrative Instanzen“ 126. Das zentrale Strukturproblem der Politikverflechtung sei, daß sie „statt zur effektiven Problemverarbeitung zu einer Selbstblockierung des politischen Systems“ 127 führe. 121 Es existiert eine außerordentlich große Menge an Literatur zu dieser Theorie, statt vieler: Benz, Föderalismus als dynamisches System, passim; ders., Der deutsche Föderalismus, 135 ff.; Klatt, VerwArch 78 (1987), S. 186 ff.; Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, HbStR IV, § 105; Mayntz, AöR 115 (1990), S. 223 ff.; zum folgenden und ausführliche Darstellung der Politikverflechtungstheorie bei Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, S. 146 ff; König u. a., ZParl 2003, S. 508 (511). 122 Scharpf, FAZ v. 5. Juni 1997, S. 35. 123 Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung, S. 18 ff. 124 Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung, S. 19. 125 Scharpf, Die Theorie der Politikverflechtung, S. 21 (23). 126 Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung, S. 18 f. 127 Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung, S. 54.
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Darauf aufbauend entwarf Scharpf die „Politikverflechtungsfalle“, die immer dann zuschnappe, wenn die untere Ebene der Landesexekutiven ihre Eigeninteressen auf der oberen Ebene des Bundes unter Konsenszwang verfolgen müsse. Diese Falle zeige besonders ihre Wirkung, wenn: a) die Möglichkeit parteipolitischer Blockaden über den Bundesrat bestehe, b) bundespolitische Entscheidungsprozesse schwerfällig und intransparent seien und c) die Handlungsspielräume der Landesregierungen durch bundespolitische Elemente, wie den Steuerverbund oder den Länderfinanzausgleich, durch horizontale und vertikale Politikverflechtung eingeschränkt würden 128. Reformen dieser institutionellen Schranken seien eher ausgeschlossen, da Sachkompromisse Priorität haben sollten und keiner der Akteure Interesse am Verlust der eigenen Vetoposition habe 129. Nach der Gegenauffassung tragen die politischen Parteien zur Konfliktbewältigung bei und sind daher als „Öl im Getriebe“ anzusehen 130. Nachdem in den siebziger und achtziger Jahren überwiegend der Blockadevorwurf erhoben wurde (s. o.), haben sich inzwischen viele Untersuchungen damit beschäftigt. Die Auffassung, daß der Bundesrat sich nicht als „Blockierer“ erweise, kann inzwischen als herrschend bezeichnet werden. Dazu hat insbesondere Renzsch zahlreiche Ergebnisse vorgelegt. Er kommt zu dem Schluß, daß die konkurrierenden politischen Parteien entscheidend dazu beitragen, daß das deutsche föderale System überhaupt arbeitsfähig ist. Es sei von der Fähigkeit der Parteien zur Konfliktlösung durch Integration auszugehen, nicht von der Blockierung des Bundesstaates durch die Parteien 131. Vielmehr sei es gerade die bundesstaatliche Struktur der 128
Scharpf, Föderale Politikverflechtung, MPIfG, Arbeitspapier 99/3, vor 1. Scharpf, PVS 26 (1985), S. 323 ff.; ähnlich zur Reformunwilligkeit v. Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie, S. 145 ff., der meint, die Parteieliten seien am Bestand der Politikverflechtung interessiert, weil sie sich so der Verantwortung gegenüber den Wählern entziehen und nach Art eines Kartells ihre Macht gegenüber gesellschaftlichen Interessengruppen und den Bürgern erhalten oder vergrößern könnten. 130 Renzsch, Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?, S. 93 (96); ders., Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54); ders., FAZ v. 21. September 1999, S. 12; Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (192 ff.); seit der 2. Aufl. auch Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, S. 178, 195; Johne, APuZ 50 – 51/2004, S. 10 (13); Münch, Der Bundesrat im Kontext neuer Regierungsprogramme, S. 133 (142 f.); Riker, Federalism, S. 93 (133 ff.); Steffani, ZParl 1999, S. 980 (998); Stüwe, APuZ 50 –51/2004, S. 25 (29 f.): Konkordanzdemokratie statt Blockade; grundsätzlich auch Leunig, ZParl 2003, S. 778 (790); ders., Föderale Verhandlungen, S. 249 ff.; rechtswissenschaftlich: Böckenförde, Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, S. 182 (190 f.); Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze, S. 13; Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (246); Pasemann, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung, S. 89; Rührmair, Der Bundesrat, S. 50, 52, 54; Ziller, Das Parlament v. 18. September 1998, S. 14. 131 Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93. 129
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politischen Parteien, die „Tendenzen zu Blockaden, die aus der föderalen Verflechtung erwachsen können“ 132, überwinden könne. Den Parteien und dem auch den Bundesrat (mit-)prägenden Bundesrat wird also eine „positive Systemfunktion“ 133 zugesprochen. Die Konfliktlösungsfähigkeit der Parteien sieht Renzsch in drei Gesichtspunkten begründet: Erstens handele es sich bei den Parteien um ebenenübergreifende Organisationen. Sie liegen „quer“ zu den bundesstaatlichen Ebenen und überlagerten damit die vertikale Gewaltenteilung des Bundesstaates. Damit erfüllten sie eine Integrationsfunktion 134. Dies sei möglich, weil die Parteien sich der bundesstaatlichen Struktur angepaßt und eine Untergliederung in Bundes- und Landesverbände vorgenommen hätten 135. Eine solche ebenenübergreifende Gliederung der Parteien habe nur deshalb Bestand, weil sie Ebenenkonflikte intern verarbeiten könne 136. Zweitens beruhe die konfliktlösende Funktion der Parteien darauf, daß die Parteienkonkurrenz dazu zwinge, sich „im Interesse des parlamentarischen Machterwerbs und -erhalts möglichst geschlossen darzustellen und zu handeln“ 137. Dadurch wachse die innerparteiliche Bereitschaft zu Zugeständnissen 138. Daher sei es notwendig, eine Vielzahl konkurrierender Interessen zu vermitteln. Zu diesen Interessen gehören auch solche der institutionellen Art, also Interessen der bundesstaatlichen Glieder. Diese würden, wie auf der institutionellen Ebene zwischen Bund und Ländern, ausgehandelt, also auf konsensualer Basis, getroffen und könnten dann geschlossen gegenüber anderen vertreten werden. Drittens würde im „Parteienstaat“ – im Unterschied zu einem „Koalitionsbildungsstaat“, in dem einzelfallweise Koalitionen gebildet werden müssen (z. B. USA) – aufgrund parteipolitischer Loyalitäten permanente und verläßliche Machtstrukturen geschaffen: „Man weiß, mit wem man verhandeln muß“ 139.
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Ders., Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54). Leunig, ZParl 2003, S. 778 (780). 134 Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93; ders., Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54, 74). 135 Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93 (94) mit Verweis auf Gabriel, Föderalismus und Parteiendemokratie, S. 97. 136 Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54) mit Verweis auf den ebenfalls parlamentarischen Bundesstaat Kanada, wo die Parteien in „provincial“ und „federal parties“ zerbrochen seien; ders., Bifurcated and Integrated Parties in Parlamentary Federal Systems, S. 11 ff. 137 Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93. 138 Münch, Der Bundesrat, S. 133 (143). 139 Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (74). 133
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b) Hintergrund der Debatte Bevor zu diesen Lehrmeinungen Stellung zu nehmen ist, soll kurz der Hintergrund dieser Diskussion aufgehellt werden. Der Streit um die Eigenschaft der Parteien als Sand oder Öl im Getriebe des Bundesstaates ist letztlich eine politikwissenschaftliche Fortsetzung der verfassungsrechtlichen und -theoretischen Debatte um die Vereinbarkeit von Bundesstaat und Demokratie. Auch in der Politikwissenschaft wird dieses Problem erörtert. Die Frage nach der Funktion der Parteien ist eine Frage der Verfassungspraxis und damit ein praktischer Anwendungsfall der theoretischen Debatte. Dies ergibt sich insbesondere aus den Beiträgen von Lehmbruch, Scharpf, Renzsch, aber auch von Leunig, der jüngst einen Beitrag zu Verhandlungen im Bundesstaat geleistet hat. So vertritt Lehmbruch die Ansicht, die Verbindung von Demokratie und Föderalismus könne nicht funktionieren, da diese beiden Prinzipien inkongruente Entscheidungsmuster (Mehrheit vs. Verhandlung) kennen. Folglich sorgten die Parteien für eine unitarische Unterwanderung des Bundesstaates und höben dessen Arbeitsweise auf. Auch nach Scharpf sind die Parteien Sand im Getriebe des Bundesstaates, da durch die Verbindung von Demokratie und Föderalismus eine parteibegründete Blockade des Bundesstaates erfolge. Diese beiden Autoren analysieren die Vereinbarkeit abstrakt und kommen damit auch zur Funktion der Parteien. Umgekehrt Renzsch. Er kommt nach der Analyse der Funktion der Parteien zu dem abstrakten Problem der Vereinbarkeit und erfaßt es damit ebenfalls. Es könne weder die Rede davon sein, daß sich das föderale Prinzip gegenüber dem parlamentarischen Prinzip durchgesetzt habe, noch umgekehrt, daß beide zur Funktionsfähigkeit des parlamentarisch-föderalen Systems beitrügen 140. Auch Leunig kommt zu der Vereinbarkeitsdebatte „von Parteienwettbewerb und Bundesstaat“ 141. Zu diesem Ergebnis kommt er offenbar unbewußt oder zumindest als Nebenprodukt, denn Gegenstand seiner Untersuchung ist die praktische Ebene der Funktionen von Parteien in „föderalen Verhandlungen“. Dabei lehnt er sich in der Begrifflichkeit an Lehmbruch an und nimmt dessen Rede vom „Parteienwettbewerb im Bundesstaat“ ganz wörtlich. In grundsätzlicher Zustimmung zu Renzsch, wandelt er dessen Meinung dahin ab, daß die föderale Struktur der Parteien zur Problemlösungsfähigkeit des deutschen Verfassungssystems beitrage, während ihr Wettbewerb untereinander eine Einigung eher verhindere 142. Damit steht, wie gesagt, auch hinter dieser Frage die alte Vereinbarkeitsdiskussion von Demokratie und Föderalismus, diesmal in der politikwissenschaftlichen Variante. Sie ist daher für konkrete Anwendungsfälle im demokratischen Bundesstaat von Bedeutung. Weiterhin zeigt sich, daß sie trotz ihres Alters offenbar 140 141 142
Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (75). Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 251 (Hervorhebung im Original). Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 251.
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nicht nur in der normativen, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur nicht gänzlich bewältigt ist. c) Stellungnahme Die Beantwortung dieser Frage kann theoretisch und statistisch (dazu sogleich) erfolgen. Die Inkongruenzthese Lehmbruchs hat etwas Einnehmendes. Denn sie besitzt aufgrund ihres Kernes, der unterschiedlichen Konfliktregelungsmuster des demokratischen und des bundesstaatlichen Systems, etwas bestechend Einfaches. Es sind aber Bedenken angebracht. Dazu kann auf die oben angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Bundesstaat und Demokratie zurückgegriffen werden. Lehmbruch und Scharpf unterliegen, wie manch anderer, dem Fehler, die deutsche Föderaldemokratie des Grundgesetzes mit rein parlamentarischen Systemen, wie etwa dem Großbritanniens, zu vergleichen, anstatt das Grundgesetz aus sich heraus zu interpretieren. Es ist wenig überzeugend, eine Verfassung grundsätzlich zu akzeptieren, die Konsequenzen ihrer Kompetenz- und Verfahrensstrukturen dann jedoch anhand von Maßstäben in Frage zu stellen, die schwerlich die dieser Verfassung sind 143. Wie oben dargestellt, haben wir es mit einem demokratischen Bundesstaat zu tun und nicht etwa mit einem demokratischen Einheitsstaat, wie in Großbritannien, oder einem präsidentiellen Bundesstaat, wie in der Schweiz 144. Im demokratischen Bundesstaat stehen sich nicht etwa Bundesstaat und Demokratie – und demzufolge ihre ihnen eigenen „Handlungslogiken“ – gegenüber. Der demokratische Bundesstaat ist ein Gebilde eigener Art, in dem sich Demokratie und Bundesstaatsprinzip gegenseitig beeinflussen und zu etwas Neuem verschmelzen. Dies wurde oben ausführlich dargestellt. Daraus erwächst auch das System der doppelten Mehrheit, wie bei einem Zwei-Kammer-System, das eine Zustimmung von Bundestag und Bundesrat und damit Kompromiß- und Kooperationsfähigkeit für das Zustandekommen von (zustimmungsbedürftigen) Gesetzen erfordert. Diese Konstruktion verlangt der Politik viel ab, was ebenfalls oben hergeleitet wurde. Möglicher Immobilismus oder Einflußnahme des Bundesrates auf die Gesetzgebung ist daher entgegen Lehmbruch nicht abhängig von einer möglichen Inkongruenz verschiedener Handlungslogiken, sondern vom Umgang mit dem demokratischen Bundesstaat, von Kompromiß- und Kooperationsfähigkeit, Stil und Haltung der Politik sowie eher von den „technischen“ Bedingungen, wie der Anzahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze. Sie setzt damit für Veränderungen hohe Hürden, nimmt das Scheitern von Gesetzen in Kauf und gewährleistet gleichzeitig Stabilität, freilich um den Preis, daß es das schwierige Gelingen der Anpassungsleistungen in die Hände der Politik gibt. 143 144
Steffani, ZParl 1985, S. 219 (229). Beispiele nach Steffani, ZParl 1999, S. 980 (993).
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Sofern Lehmbruch 145 und Scharpf 146, aber auch andere 147, vortragen, die (politische) Einflußnahme des Bundesrates führe zu einer Verwässerung des parlamentarischen Mehrheitsprogramms, einer informellen Großen Koalition 148 oder einem „Allparteienföderalismus“ 149 und zu einer Verwischung der Verantwortlichkeiten, ist dem zu widersprechen. Diese Einwände verkennen die Konstruktion des Grundgesetzes, das – nochmals – eben kein reines parlamentarisches System zugrunde liegt, sondern ein demokratischer Bundesstaat, in dem die demokratische durch eine bundesstaatliche Komponente ergänzt wird. Diese Gegenstimmen tragen dem Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses nicht Rechnung, das gerade darin besteht, der Bundestagsmehrheit die alleinige Entscheidungsmacht vorzuenthalten 150. Sie soll ihr Programm nicht einseitig durchsetzen. Vielmehr sind Kompromisse erforderlich, die mäßigend wirken. Mäßigung ist damit eine Eigenart des demokratischen Bundesstaates. Es wird dabei nicht verkannt, daß die mit jedem Kompromiß verbundene Mäßigung ambivalent ist, da sie zukunftsträchtige Neuansätze ebenso treffen kann wie Fehlentscheidungen. Doch nähert sich eine auf breiter Basis getroffene Entscheidung dem – für die Demokratie maßgeblichen 151 – Ideal allseitigen Einverständnisses, weil die überstimmte Minderheit klein ist 152. Verantwortung wird auch nicht verwischt, sondern gemeinsam getragen. Es geht dabei nicht um eine dauerhafte Regierungsmehrheit, sondern um eine sachbezogene Gesetzgebungsmehrheit im Einzelfall, wie sie auch für echte Zwei-Kammer-Systeme üblich ist. Im Rahmen der gemeinsamen Verantwortung für ein Zustimmungsgesetz bleibt es den Beteiligten unbenommen, deutlich zu machen, wie weit der eigene programmatische Anspruch verwirklicht werden konnte oder zurückgestellt werden mußte 153. Dies belegt das Beispiel der Gesundheitsreform 2004, der die oppositionelle Union zugestimmt hat, wogegen sie bei anderen Gesetzen der damaligen rot-grünen Bundesregierung dies nicht tat. Es handelte sich dabei – wenn man die öffentlichkeitswirksamen Gesetzesvorhaben zugrunde legt – um einen Einzelfall. Diese Zustimmung ließ sich in der Folgezeit in der öffentlichen Berichterstattung 145
Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976, S. 136. Scharpf, PVS 25 (1985), S. 323 (335). 147 Etwa Bothe, Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, S. 175 (221); Rennert, Der Staat 1993, S. 269 (280); Wildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik, S. 92. 148 Battis / Gusy, Einführung in das Staatsrecht, Rn. 170; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 148; Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (214); Starck, JZ 1999, S. 473 (479). 149 Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (214). 150 Wie hier Sachs, VVDStRL 58 (1999) S. 39 (59). 151 Sachs, GG, Art. 20, Rn. 21; Maihofer, HbVerfR, § 12, Rn. 76 m.w. N.; Jochum, Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie, S. 38 ff., 50 f. 152 Ebenso Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (59). 153 Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (59). 146
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auch stets darstellen. Selbst wenn im geheim tagenden Vermittlungsausschuß ein Kompromiß erzielt wird, läßt sich der eigene Anteil noch darstellen. Kritik ist allerdings insoweit berechtigt, als sie an der steigenden Zahl von Zustimmungstatbeständen und der Kompetenzanhäufung beim Bund Anstoß nimmt. Lehmbruchs These des Systembruchs, die Grundlage ist für seine Deutung der Parteien als Sand im Getriebe, ist also bereits aus theoretischen Erwägungen abzulehnen. Sie unterliegt aber auch empirischen Bedenken. Denn die reine Anzahl an verabschiedeten Gesetzen spricht nicht dafür, die Parteien als Sand im Getriebe bezeichnen zu können. Damit ist der rein statistische Weg zur Beantwortung der Frage „Parteien – Sand oder Öl?“ eröffnet 154. Bereits hier zeigt sich, daß von einer „Immobilismus-Falle“ (Scharpf ) keine Rede sein kann. Betrachtet man die Zahl der gescheiterten Gesetze, so ergibt sich folgendes 155: Von 1949 bis September 2003 hat der Bundestag 6107 Gesetzesbeschlüsse an den Bundesrat weitergeleitet. Davon gehörten 3184 (53,2%) zur Gruppe der Zustimmungsgesetze, also solche, die zum Zustandekommen einer doppelten Mehrheit von Bundestag und Bundesrat bedürfen. Die Zahl der davon endgültig gescheiterten Gesetzesvorhaben beträgt lediglich 66. Der Bundesrat hat also in 54 Jahren bloß bei 1,08 % der Gesetzesbeschlüsse seine Zustimmung verweigert. Fast 99 % aller bisher ergangenen Gesetze hat der Bundesrat im Sinne der Bundestagsmehrheit passieren lassen. Selbst wenn man nur die Zustimmungsgesetze berücksichtigt, bleibt es bei einem niedrigen Anteil verweigerter Zustimmungen von 2,1 %. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den dem Bundesrat zugeleiteten Rechtsverordnungen. Um die Frage der Rolle der Parteien im Bundesrat statistisch genauer beantworten zu können, sind nur diejenigen Werte zugrunde zu legen, die in Zeiten divergierender Mehrheiten erhoben worden sind. Hier ergibt sich kein eindeutiges Bild 156. In einigen Legislaturperioden hat es mehr Vetosituationen gegeben als in anderen. Der Anteil „blockierter“ Gesetze betrug in der Zeit der sozialliberalen Koalition 2,5%. Während der Regierung Kohl nach 1990 betrug er 1,8%. Von einer andauernden Blockadehaltung der Länderkammer und einer grundsätzlichen parteipolitischen Bremsereigenschaft des Bundesrates kann somit keine Rede sein, ebensowenig von einer tendenziellen Zunahme der verweigerten Zustimmungen. Die Zustimmungspflicht des Bundesrates läßt bereits bei rein statistischer Betrachtung die Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat als konkordanzpolitischen Prozeß erscheinen. Dies wird schon daran deutlich, daß 154 Statt vieler Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53; Rührmair, Der Bundesrat, S. 60; Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (58); Schneider, NJW 1997, S. 3757 (3759); differenzierend Stüwe, APuZ 50 – 51/2004, S. 25 (29, 30). 155 Zum folgenden Stüwe, APuZ 50 – 51/2004, S. 25 (29). 156 Dazu ebenfalls Stüwe, APuZ 50 – 51/2004, S. 25 (29).
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in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland über 90 % aller Gesetze einvernehmlich verabschiedet wurden, selbst ohne den Vermittlungsausschuß einzuschalten 157. Die restlichen Gesetzesvorhaben, die nicht zu den wenigen „blockierten“ gehören, konnten offenbar nach erfolgreicher Konfliktlösung entgegen vieler Literaturstimmen einem Ergebnis zugeführt werden: einem Kompromiß. Auch insoweit liegt ein konkordanzdemokratisches Element vor. Bei dieser rein quantitativen Betrachtung darf man jedoch nicht stehenbleiben, um die Rolle der Parteien im Bundesrat zu ermitteln. Allein dieses Vorgehen wäre methodischen Bedenken ausgesetzt 158. Denn eine bloß statistische Untersuchung erfaßt nicht alle Aspekte der Gesetzgebung. Sie sieht nicht die Bedeutung eines verhinderten Gesetzes, etwa ob es sich um ein wichtiges Reformvorhaben oder ein Prestigeobjekt der jeweiligen Bundesregierung handelte. Eine rein quantitative Untersuchung sagt ferner nichts über die Gründe einer verweigerten Zustimmung aus, etwa ob die Zustimmung aus parteitaktischen Motiven oder aus echter Überzeugung erfolgte. Die Statistik äußert sich nicht zu denjenigen Gesetzesvorschlägen, die aufgrund der bereits im Vorfeld signalisierten Verweigerung über den Zustand einer Initiative nicht hinausgekommen sind. Erst recht trifft sie keine Aussage zu den Konfliktstrukturen im demokratischen Bundesstaat. Dazu haben Renzsch und Leunig qualitative Fallstudien vorgelegt, in denen sie die Rolle der Parteien bei föderalen Konflikten untersuchen. Anhand der Untersuchung verschiedener konkreter Gesetzgebungsvorhaben weist zunächst Renzsch schlüssig nach, daß die theoretischen Befürchtungen insbesondere Scharpf s, es komme im demokratischen Bundesstaat zu einem Immobilismus des Systems, nicht berechtigt sind. In Zeiten gleichgerichteter Mehrheiten können die Bundes- und Landesverbände einer Partei föderale Interessen erfolgreich vermitteln. Anhand der Steuerreform 1990 (sog. Albrecht-Initiative) und der Gesundheitsreform 1988 ließ sich zeigen, daß Gremien der großen Regierungspartei – hier der CDU – erfolgreich zur Lösung eines föderalen, d. h. ebenenübergreifenden Problems genutzt werden konnten. Durch die Beschränkung der Beteiligten wurde das Aushandeln vereinfacht. Durch das Verhandeln unter Parteifreunden stand das gemeinsame Interesse, sich gemeinsam als handlungsfähig darstellen zu können, im Vordergrund. Dies ermöglichte auch die Bereitschaft zu Zugeständnissen, da sie hinter verschlossenen Türen stattfanden und gegenüber einem Parteifreund statt nach öffentlicher Festlegung gegenüber einem politischen Gegner 159. In Zeiten divergierender Mehrheiten ist das Verhandeln erheblich schwieriger geworden, da die Zahl der Teilnehmer und der zu berücksichtigenden Interes157
Schneider, NJW 1997, S. 3757 (3759). Bedenken auch bei Stüwe, APuZ 50 – 51/2004, S. 25 (30); Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 251 f.; Johne, APuZ 50 – 51/2004, S. 10 (13). 159 Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93 (96). 158
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sen anstieg. Nicht mehr die gemeinsame Problemlösungskompetenz stand im Vordergrund, sondern der Wunsch, gegenüber der eigenen Klientel eine eigene Handschrift deutlich werden zu lassen 160. Verhandlungen allein innerhalb der Regierungsparteien reichen nicht mehr aus, um die doppelte Mehrheit in Bundestag und Bundesrat zu erreichen. Es mußte die konkurrierende große Partei in den Entscheidungsprozeß einbezogen oder versucht werden, fallweise einzelne SPDgeführte Landesregierungen für Gesetzesvorhaben zu gewinnen. So verhandelte man Bund-Länder-Konflikte nicht mehr vor Beginn des eigentlichen Gesetzgebungsprozesses zwischen Kanzler und Unions-Ministerpräsidenten aus, vielmehr brachte die Bundesregierung ihre Position zunächst ohne Berücksichtigung von Landesinteressen ein, um Spielräume für Kompromisse nicht bereits bei den parteipolitisch nahestehenden Landesregierungen zu „verbrauchen“ 161. Damit war letztlich der verfassungsrechtlich vorgegebene Weg der formalen Konfliktlösung wieder betreten worden. Dennoch wurden in der Öffentlichkeit infolge der Veränderung der Strategie die Bund-Länder-Konflikte als parteipolitische Auseinandersetzungen wahrgenommen, was die Kompromißbildung erschwerte. Möglich wurden Konfliktlösungen dennoch, „weil das parlamentarische Prinzip der Mehrheitsbildung durch Parteien zur Geltung kam“ 162. Trotz der divergierenden Mehrheiten bestätigt dies der empirische Befund: die hohe Anzahl an schwierigen und kontroversen Gesetzgebungsvorhaben 163. Renzsch kann damit erfolgreich aufzeigen, daß der Vorwurf eines ineffizienten politischen Prozesses 164 übertrieben ist. Die wechselseitigen Interessen an einer Verständigung führen im Regelfall zu einer Konfliktlösung zwischen Bundestag und Bundesrat 165. Im Regelfall führt erst eine komplexe Mischung aus föderalen, ressort- und parteipolitischen Konfliktelementen zum Scheitern eines Gesetzesbeschlusses des Bundestages im Bundesrat 166. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, daß solche Fälle öffentlichkeitswirksam, aber höchst selten sind. 160
Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (66). Renzsch, FAZ v. 21. September 1999, S. 12. 162 Renzsch, FAZ v. 21. September 1999, S. 12. 163 Z. B. Solidarpakt 1993 mit Einbeziehung der neuen Länder, die Novellierung des Asylrechts, die Neugestaltung des Art. 23 GG als Europaartikel, die Bahn- und Postreform, die Jahressteuergesetze 1996 und 1997, die Reform des Sozialhilferechts, das Kindschaftsreformgesetz, das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, das Bundesnaturschutzgesetz, die Steuerreform 1998/99 (Beispiele nach Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 [53 f.]; ders., Parteien im Bundesstaat, S. 93 [98]). 164 Scharpf, Föderale Politikverflechtung, MPIfG, Arbeitspapier 99/3. 165 Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93 (99). 166 Renzsch, Parteien im Bundesstaat, S. 93 (98); differenzierend ebenfalls v. Blumenthal, Zwischen Unitarisierung und politischer Vielfalt, S. 83 (102). 161
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Diese Ergebnisse Renzschs hat Leunig mit einer ausführlichen Fallstudie überprüft 167. Er setzt sich ausführlich mit ihnen auseinander und kommt nach sorgfältiger Auswahl und Analyse des Untersuchungsmaterials zu schlüssigen Ergebnissen. Sie bestätigen im wesentlichen die Resultate Renzschs. Beide unterscheiden sich nur in Einzelheiten. In Auseinandersetzung mit der offenbar noch immer wirkmächtigen 168, aber aus den genannten Gründen abzulehnenden These Lehmbruchs, befassen sich beide mit der hier nur für die Politikwissenschaft bedeutenden und eher begriffstechnisch anmutenden Frage, welche Bedeutung gerade der Wettbewerb bei der „Verbindung von Parteienwettbewerb und Bundesstaat“ 169 besitzt. Entscheidend ist die grundlegende Übereinstimmung in den praktischen Ergebnissen. Leunig gelingt es überzeugend nachzuweisen und Renzschs These dahin zu modifizieren, daß (auch) im Falle divergierender Mehrheiten die föderale Gliederung der Parteien zur Konfliktlösung beitragen kann. Dies gesteht Renzsch letztlich schon selbst ein, indem er sagt, die Kompromißfindung werde zwar nicht unmöglich gemacht, aber zweifellos erschwert 170. Bei föderal-politischen Mischkonflikten ist eine Problemlösung allerdings nur solange möglich, wie die „Orientierung der Akteure egozentriert oder sogar kooperativ ist“. Bei konfrontativer Einstellung ist also auch eine Konfliktlösung durch Parteien nicht mehr möglich. Dies muß aber nicht zum gänzlichen Scheitern des Gesetzes führen, wie Leunig an einem Beispiel zeigen kann 171. So gibt es unter Umständen die Möglichkeit, durch Abtrennung des zustimmungspflichtigen Teils eines Gesetzes durch die „Hintertür“ die eigene Politik durchzusetzen. Wenn also ein parteipoltisch-föderaler Konflikt vorliegt, der sich durch hohe Parteipolitisierung und hohe Konfrontationsbereitschaft der Handelnden auszeichnet, erfolgt die Konfliktlösung nicht durch die Parteien, sondern durch andere Konfliktlösungsmechanismen. Die Parteien und ihre föderale Gliederung sind damit kein genereller Garant für Erfolg (so Renzsch), aber auch kein Bremser (so Scharpf ). Dies gesteht Renzsch letztlich selbst bereits ein, wenn er sagt, die parteipolitische Koordinierung „trägt dazu bei“ 172, das Zuschnappen der Verflechtungsfalle 167 Leunig, ZParl 2003, S. 778 (780); ders., Föderale Verhandlungen, S. 249 ff.; rechtswissenschaftlich jüngst Pasemann, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung, S. 89, die zu demselben Ergebnis kommt. 168 Vgl. Nachweise in folgender Anmerkung; ferner jüngst Johne, APuZ 50 –51/2004, S. 10 (14); v. Blumenthal, Zwischen Unitarisierung und politischer Vielfalt, S. 83 ff. 169 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 251 (Hervorhebung im Original); Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (73). 170 Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (60). 171 Rüstungsexportgesetz 1992 (Leunig, ZParl 2003, S. 778 [789]; ders., Föderale Verhandlungen, S. 205). 172 Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (73); vgl. a. v. Blumenthal, Zwischen Unitarisierung und politischer Vielfalt, S. 83 (102).
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zu verhindern. Leunig differenziert also insofern, als sie die rigorose Annahme des Immobilismus („Sand“; Scharpf u. a.) ablehnt, den bundesstaatlich gegliederten Parteien die (bloße) Möglichkeit der Konfliktminderung zuschreibt („Öl“, Renzsch), aber keinen generellen Konfliktlösungsmechanismus sieht. Entscheidend ist das Ergebnis, daß ein möglicher Immobilismus kein grundsätzlicher – abgesehen von den noch zu erörternden Mißbildungen, wie der Erhöhung der Zustimmungsgesetze – Systemfehler der rechtlichen Konstruktion des demokratischen Bundesstaates ist, sondern Resultat der politisch Handelnden. Es bleibt dabei: Der demokratische Bundesstaat ist eine hochentwickelte Verfassung, welche der Politik viel abverlangt. Es entscheidet die Politik über die Auswahl zwischen Blockade oder Kompromiß. Der deutsche demokratische Bundesstaat funktioniert, weil sich die Parteienkonkurrenz und föderale Aushandlungsmuster verschränken, sich gegenseitig begrenzen und moderieren: Auf der einen Seite konkurrieren politische Parteien ebenenübergreifend um politische Macht und streben innerparteiliche Geschlossenheit an, andererseits aber sind diese Parteien keine monolithischen Blöcke oder hierarchische Organisationen 173, sondern vereinen unter einem Dach eine Vielzahl verschiedener, teilweise gegensätzlicher Interessen. „Im bundesstaatlichen Willensbildungsprozeß werden nicht nur horizontal die verschiedenen Interessen einzelner innerparteilicher Gruppierungen, sondern auch vertikal die unterschiedlichen Interessen von Akteuren auf Bundes- und Landesebene deutlich“ 174. Entscheidungsprozesse im Bund-Länder-Verhältnis, auch wenn sie bis in den Vermittlungsausschuß führen, lassen sich daher nicht bloß als zwischenparteiliche oder koalitionsähnliche Verhandlungen begreifen, sondern in diesen Prozessen sind die Parteien selbst Mehrebenensubsysteme 175 im Bundesstaat geworden. Sie agieren als parteipolitisch verbündete Regierungen von Bund und Ländern bzw. von Opposition auf Bundesebene und verbündeten Landesregierungen: in den o. g. Verbünden. Konkret: Der demokratische Bundesstaat funktioniert, weil der (Partei-)Politisierung ihrerseits politische Grenzen gezogen sind (dazu sogleich) und es eine Vielzahl insbesondere informaler Konfliktlösungsmechanismen und Aushandlungsstrategien gibt, zu denen auch die Parteien gehören. Parteien sind nicht das, sondern eines von vielen Schmiermitteln im demokratischen Bundesstaat. Um sie vorweg zu nennen: informelle Gespräche vor Beginn des Gesetzgebungsverfahrens, Aufspaltung von Gesetzen in einen zustimmungspflichtigen und -freien Teil, Verzicht auf zustimmungsbedürftige Regelungen, Schnüren 173 Lösche / Walter, Die SPD, passim; Wiesendahl, Parteien in Perspektive, passim; zum folgenden Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54). 174 Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54). 175 Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (54).
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von Gesetzgebungspaketen bestehend aus inhaltlich ganz verschiedenen Gesetzen, Kopplungsgeschäfte, Ausgleichszahlungen, Ausklammern streitiger Teile, Einfügung von relativierenden Elementen in ein Gesetz. Diese praktische Gesetzgebungsarbeit im demokratischen Bundesstaat soll später im einzelnen näher betrachtet werden. So wie der demokratische Bundesstaat im allgemeinen, zeigt sich auch hier im besonderen, daß er sich der reinen Lehre entzieht: Die Frage, ob Sand oder Öl, kann nicht undifferenziert beantwortet werden. Parteien sind grundsätzlich Öl im Getriebe des demokratischen Bundesstaates, welches aber – um im Bilde zu bleiben – je nach politischer Wetterlage seine Schmierfähigkeit gänzlich verlieren kann. Auch eine Antwort auf die praktische Frage, welche Rolle den Parteien dabei zukommt, ist nicht einer absoluten Lehre zu entnehmen. Die hier gefundene differenzierende Antwort entspricht der Eigenschaft des demokratischen Bundesstaates als Verfassung des Maßes, der aufgrund seiner innewohnenden Verpflichtung zur Verständigung Entscheidungen des rechten Maßes produziert. Ferner kann im Ergebnis auch unter politikwissenschaftlichem Blickwinkel eine generelle Unvereinbarkeit von Demokratie und Bundesstaat nicht festgestellt werden. Vielmehr tragen grundsätzlich die Parteien zum Funktionieren des demokratischen Bundesstaates bei. Umgekehrt trägt die bundesstaatliche Gliederung des Staates und in dessen Folge die der Parteien zum Funktionieren der Parteiendemokratie bei (Stichwort: Personalrekrutierung; Entwicklung von Politikalternativen; Experimentiermöglichkeit; Verstärkung der Opposition; Integration von Minderheiten). Beide Prinzipien ergänzen und tragen sich daher gegenseitig. Auch in sozialwissenschaftlicher Hinsicht bestätigt sich daher das normative Ergebnis, daß der Föderalismus des Grundgesetzes nur als demokratischer Bundesstaat denkbar ist. Leider gehen Renzsch und Leunig nicht diesen konsequenten Schritt und ziehen aus richtigen Ergebnissen den notwendigen Schluß. Sie bleiben der Theorie Lehmbruchs verhaftet und der (alten) Denkweise eines Antagonismus von Demokratie und Bundesstaat, anstatt das Grundgesetz aus sich heraus zu deuten und als demokratischen Bundesstaat zu verstehen 176. In ihm sind Spannungen zwischen Bundestag und Bundesrat und das Gebot der Kompromißbildung nicht Ausdruck der Verbindung gegenläufiger Prinzipen, sondern folgerichtige Bestandteile der verfassungsrechtlichen Konstruktion mit historisch gewachsenen Vorläufern. 176 Zwar wendet sich auch Renzsch gegen den Vergleich mit einem reinen WestminsterModell und spricht richtigerweise auch vom „parlamentarischen Bundesstaat“ (Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 [63]), beschäftigt sich aber zum Schluß doch „mit der Frage, ob die Entscheidungslogiken von Föderalismus und Parlamentarismus ‚inkongruent‘ seien“ (S. 73). Auch Leunig versucht, die Ergebnisse seiner Untersuchung zur Beantwortung der (von Lehmbruch) aufgestellten Frage von „Parteienwettbewerb und Bundesstaat“ heranzuziehen (Föderale Verhandlungen, S. 249, 251).
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3. Die Grenzen der (Partei-)Politisierung des demokratischen Bundesstaates Bei der Diskussion über die politische Unitarisierung wird also nicht nur häufig übersehen, daß nur die wenigsten – hochpolitischen – Gesetzgebungsvorhaben scheitern, sondern auch, daß der Politisierung des Bundesrates Grenzen gesetzt sind. Hier sind politische und rechtliche Grenzen zu unterscheiden. Ab wann ein politisch motiviertes Verhalten im Bundesrat verfassungswidrig ist (dazu unter b), wird von den rechtlichen Grenzen parteipolitischen Verhaltens bestimmt. Die politische Grenze ist dann überschritten, wenn es für eine Partei nicht mehr sinnvoll oder sogar kontraproduktiv ist, über den Bundesrat ein Gesetz scheitern zu lassen (dazu unter a). a) Die politischen Grenzen der (Partei-)Politisierung Dieser Aspekt der Arbeit des Bundesrates wird selten und nur am Rande beschrieben 177. Überwiegend widmet sich die Literatur 178, aber auch die Poli177 Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531); Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 76; Rührmair, Der Bundesrat, S. 54 f.; Renzsch, Die Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?, S. 93 (95); ders., Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55 f., 62 f.), Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 127. 178 Str.; zulässig h.M. Abromeit, ZParl 1982, S. 462 ff.; Bandorf, Der Bundesrat als Instrument der Parteienpolitik, S. 157 f; Bauer, in: Dreier, GG, Art. 50, Rn. 19; Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 128 ff.; Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 10 (15), der diese Frage zu Unrecht als unstreitig bezeichnet; Fromme, ZRP 1976, S. 201 (205); Frowein, VVDStRL 31 (1973), S. 12 (22); ders., Bemerkungen zu den Beziehungen des Bundesrates zu Bundestag, Bundesregierung und Bundespräsident, S. 119 ff.; Hablitzel, BayVBl. 1979, S. 1 ff., 39 ff.; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 314 ff.; Hendrichs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 51, Rn. 22; Herzog, HbStR III, § 57, Rn. 34 ff.; Hrbek, Der Bundesrat, S. 14 ff.; Klein, DÖV 1971, S. 325; ders., AöR 108 (1983), S. 329 (358 ff.); Knies, DÖV 1977, S. 575 ff.; Korioth, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 50, Rn. 17; Lange, Die Legitimationskrise des Bundesrates, S. 226 (239); Laufer, ZParl 1970, S. 318; ders., APuZ 4/1972, S. 3 ff.; Leibholz / Hesselberger, Die Stellung des Bundesrates und das demokratische Parteiensystem, S. (99) 101 ff.; Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (634); Meyer, Der Bundesrat, S. 33 (37); Pfitzer, Der Bundesrat, S. 64 ff.; Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 67, 70 ff.; Risse, in: Seifert / Hömig, GG, vor Art. 50, Rn. 3; Robbers, in: Sachs, GG, Art. 50, Rn. 16; Rudolf, Funktion und Stellung des Bundesrates, S. 27 f.; Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (48); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, Art. 50, Rn. 8; Stern, Staatsrecht I, § 19 III. 8. i), Staatsrecht II, § 27 II. 3. b); Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (191); Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 117 ff.; Zippelius / Würtenberger, Staatsrecht, § 14, Rn. 14.; a. A.: Badura, Der Bundesrat in der Verfassungsordnung, S. 317 (321); Blanke, Jura 1995 S. 57 (60); Hebeler, Jura 2002, S. 164 (166); Jahn, Bundestag gegen Bundesrat, S. 370; Maunz, Die Rechtsstellung der Mandatsträger im Bundesrat, S. 193 (207, 209 f.); Schindler, ZParl 1972, S. 148 ff.; ders., ZParl 1974, S. 157 ff.; Schubert, Jura 2003, S. 607 (610);
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tik 179, dem – auch spektakuläreren – Problem der Politisierung dieses Organs. Zu Unrecht, denn für die politisch Handelnden sind die Gründe, die sie von einem „Blockieren“ Abstand nehmen lassen, mindestens ebenso wichtig, wie die Gründe für das „Blockieren“ 180. Die wissenschaftliche Diskussion ist daher einseitig. Zunächst sind einer parteipolitischen Instrumentalisierung des Bundesrates durch die Bundesopposition insofern Grenzen gesetzt, als ihren Interessen die Interessen des über die Partei verbundenen Landes gegenüberstehen. Ihre gemeinsamen Landesinteressen verbinden die Länder ohne Rücksicht auf parteipolitische Orientierung. Die Landesregierungen gemeinsam mit der Bundesregierung haben im Unterschied zu oppositionellen Parlamentariern in vielen Fällen ein konkretes Interesse an einer gesetzlichen Regelung. Das ist für das Regieren im Land oft wichtiger als andere Erwägungen, weshalb gilt: „Regierungsinteressen haben eine eher höhere Bedeutung als Parlamentsinteressen“ 181. Zudem hat für einen Ministerpräsidenten die Wahl im Land Vorrang vor der Solidarität mit der Partei auf der Bundesebene; während der Legislaturperiode besteht eine Verantwortung gegenüber dem eigenen Wahlvolk 182. Für die Opposition im Parlament zählt der tagespolitische Erfolg, die Landesregierungen haben hingegen in der Regel ein über den Tag hinausreichendes Interesse. Dazu kommen die Länderinteressen, die oben ausführlich beschrieben wurden 183. So steht als weiteres Landesinteresse der Parteipolitisierung des Bundesrates das Bedürfnis der Länder entgegen, Übergriffe des Bundes (mittlerweile auch der EU), etwa in die Kompetenzen oder in die Verwaltung, abzuwehren. Weiterhin haben die Länder ein Interesse an der Sicherung ihrer Finanzquellen. Dies kann dazu führen, daß die Bundesratsmehrheit ein Gesetz, welches die Bundesopposition ablehnen möchte, entgegen parteipolitischer Bindung ablehnt bzw. ihm zustimmt. Aus diesem Grunde war es bei der Steuerreform 2000 politisch möglich, einige unionsgeführte Länder aus ihrer parteipolitischen Front herauszukaufen. Diesen zweifelhaften Vorgang jedoch als „eigenständige Entscheidung der Mitglieder des Bundesrates“ 184 zu Wassermann, NJW 2003, S. 331; Wilms, ZRP 2003, S. 86 (89 f.); DVParl, ZParl 1976, S. 291 ff. 179 Vgl. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 68; Schindler, ZParl 1972, S. 148 f.; Zitate aus der Politik bei Rührmair, Der Bundesrat, S. 46; vgl. Fromme, Gesetzgebung im Widerstreit, S. 21 ff.; Jahn, ZParl 1976, S. 291; Herzog, ZParl 1976, S. 298 ff. 180 Vgl. die das Für und Wider abwägende Darstellung der Interessenlage der Union bei Feldmeyer, FAZ v. 18. Oktober 1999, S. 1. 181 Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55). 182 Vgl. Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55); Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531). 183 s.o. A. IV. 2. 184 Rührmair, Der Bundesrat, S. 61, vgl. a. S. 53, 58.
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loben oder zu billigen, „welche Kompromisse gefunden werden können“ 185, erscheint allein angesichts der stets unterfinanzierten und damit erpreßbaren Länder („institutionelles Selbsterhaltungsinteresse der Länder“ 186), abgesehen vom staatspolitischen Stil der damaligen Bundesregierung und der rechtlichen Zulässigkeit 187, nicht angebracht.
Weiterhin wirken der Parteipolitisierung gleiche Problem- und Interessenlagen entgegen, die unabhängig von Parteigrenzen mehrere Länder gemeinsam berühren. Sie führen zu Sachkoalitionen, etwa in der Landwirtschaftspolitik, beim Küstenschutz oder in der Weinwirtschaft 188. Die Auflockerung der Parteifronten wird ferner dadurch bewirkt, daß es im Bundesrat wegen der vom Grundgesetz vorgeschriebenen einheitlichen Stimmabgabe keine Fraktionen gibt. Parteipolitische Koordinierungen werden so erschwert. Die Regierungen in den Ländern sind häufig Koalitionsregierungen, bei denen einer der Partner auf Bundesebene im „anderen Lager“ als auf Landesebene – sei es in der Regierung, sei es in der Opposition – steht. Darauf haben die Bundesopposition wie auch die jeweilige Landesregierung bei ihrem Verhalten im Bundesrat Rücksicht zu nehmen. Weiterhin steht die – vom Grundgesetz gewollte – Einwirkung der Verwaltung (der „Bürokratie“) auf die Gesetzgebung einer Politisierung der Länderkammer entgegen 189. Im Bundesrat, insbesondere in seinen Ausschüssen, werden die Sachentscheidungen vornehmlich vom „Sachverstand“ der Experten geprägt. Dadurch bilden sich bei den einzelnen Beratungsgegenständen „Fachbruderschaften“ ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit. Darüber hinaus beugt der „Landesfürsten-Effekt“ 190 einer übermäßigen Parteipolitisierung des Bundesrates vor. Er besteht darin, daß sich die Regierungschefs der Länder häufig bewußt dafür entschieden haben, in ihrer Landeshauptstadt der Erste anstatt im Bund der Zweite zu sein und gestützt durch das Votum ihrer Wähler auch auf Bundesebene dementsprechend unabhängig auftreten.
185
Sturm, Föderalismus, S. 65. Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531). 187 Dazu unten 7. Kap., C. III. 188 Dazu und zum folgenden Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 91. 189 Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531); Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 76. 190 Herzog, HbStR III, § 57, Rn. 21: „eigentlicher Grund für die vergleichsweise große Unabhängigkeit des Bundesrates“; Neunreither, Der Bundesrat zwischen Politik und Verwaltung, S. 112; Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 76; vgl. a. zum Verhalten der Ministerpräsidenten zwischen Landesinteressen und Parteiraison Schneider, Ministerpräsidenten, S. 241 ff. 186
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Hinzu kommt ein weiteres, erst in der jüngsten Zeit aufgetretenes Phänomen: die Entideologisierung der Parteien 191. Parteiideologien liefern heute nur noch selten eine glaubwürdige Begründung für Konfrontationsstrategien. Angesichts dieses Bedeutungsverlustes von Weltanschauungen tritt eher die „Problemlösungskompetenz“ 192 in den Vordergrund. Daher kann es unter diesen Umständen oftmals sicherer sein, im Bundesrat zuzustimmen, zumindest dann, wenn man kein schlagkräftiges Argument für eine Ablehnung hat. Denn das gilt leicht als Opposition um der Opposition willen. „Nicht nur Regieren, auch Opposition bedarf der Akzeptanz, der Legitimation“ 193. Der Blockadevorwurf ist für die Opposition kaum weniger gefährlich als das Scheitern von Gesetzesinitiativen für die Regierung. Es ist daher zweifelhaft, ob eine Blockadestrategie im Bundesrat der oppositionellen Partei nützt. In Wahlkampfsituationen jedoch kann sich dies ändern. Hier wird die Konfrontation gesucht, um Anhänger zu motivieren und die Regierung als handlungsunfähig darzustellen. Hier können sich die „oppositionellen“ Landesregierungen nicht gänzlich entziehen, da sie Sanktionen für regierungsfreundliches bzw. Belohnungen für oppositionsfreundliches Verhalten erwarten. In diesem Sinn wird landespolitische Interessenwahrnehmung nicht aufgegeben, sondern unter bestimmten Umständen können sich auch im Hinblick auf den Machterwerb oppositionelle bundespolitische und landespolitische Regierungsinteressen decken 194. Diese große Anzahl verschiedener Umstände zeigt auf, daß der Politisierung des Bundesrates bereits auf politische Weise Grenzen gesetzt sind. Das unterstreicht die zuvor gewonnene Erkenntnis, daß der demokratische Bundesstaat viel verlangt und daß Kooperationsbereitschaft, Kompromißfähigkeit, politische Klugheit und Stil gefordert sind. Die institutionellen Strukturen des demokratischen Bundesstaates sprechen eher für „Kooperation als Regelfall, Konfrontation als Ausnahme“ 195. Vereinzelt wurde vorgetragen, auch die „weniger direkte Legitimation der Bundesratsvertreter der Länder, die nicht aus direkten Wahlen hervorgehen“ 196, setze parteipolitischen Ansinnen Grenzen. Abgesehen davon, daß die Verfassungspraxis sich von einer faktisch bestehenden Handlungsmöglichkeit aufgrund solcher theoretischer Erwägungen nicht abhalten ließe, geht diese Sichtweise auch sonst 191
Dazu und zum folgenden Renzsch, Die Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?, S. 93 (95 f.); ders., Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55 f.). 192 Gluchowski / v. Wilamowitz-Möllendorf, Sozialstrukturelle Grundlagen des Parteienwettbewerbs in der Bundesrepublik Deutschland, S. 179 (208). 193 Renzsch, Die Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?, S. 93 (96). 194 Renzsch, Die Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?, S. 93 (96). 195 Renzsch, Die Parteien im Bundesstaat: Sand oder Öl im Getriebe?, S. 93 (95). 196 Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531).
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fehl, da ein Legitimationsdefizit des Bundesrates nicht feststellbar ist, wie oben erörtert wurde. b) Die rechtlichen Grenzen der (Partei-)Politisierung Zu klären bleibt, welche rechtlichen Grenzen der politischen Instrumentalisierung des Bundesrates gesteckt sind, und abschließend, wie sich das Verhältnis von Recht und Politik in diesem Zusammenhang darstellt. Die grundsätzliche Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat sagt noch nichts über ihre Reichweite aus. Gesucht ist also die Linie zwischen politischem und politisch mißbrauchtem 197 Bundesrat. Es fragt sich daher, inwieweit die Parteien der Bundestagsopposition über die mit ihnen parteipolitisch verbundenen Länder von ihrer Möglichkeit der Parteipolitik im Bundesrat Gebrauch machen dürfen, bis eine rechtlich relevante Grenze überschritten ist. Diese Frage zu beantworten setzt freilich voraus, die politische Obstruktion überhaupt rechtlich bewerten zu können. So wird bisweilen vorgetragen, diese Frage sei mit rechtlichen Kriterien nicht zu beantworten 198 und in den Bereich des Politisch-Psychologischen 199 zu verweisen. Sie gehöre „weitgehend zur Diskussion der gebotenen politischen Kultur, nicht aber zu der des verfassungsrechtlich Zulässigen“ 200. Überwiegend hingegen wird parteipolitische Obstruktion als verfassungswidrig erachtet 201. Diesem kleinen, kaum wahrgenommenen und geräuschlos arbeitenden Nebenkriegsschauplatz der Bundesstaatsdebatte mangelt es auf beiden Seiten an ausreichender Argumentation. Es wird mehr behauptet als begründet. Insbesondere die Gegner einer rechtlichen Prüfbarkeit stellen ihre Position nur dar. Hier
197
Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50 GG, Rn. 68; vgl. a. Schmidt, DÖV 2005, S. 973 ff.; Versuch der Definition von „Blockade“ bei Diekmann, Das Verhältnis des Bundesrates zu Bundestag und Bundesregierung, S. 117 ff., der dies aber nicht für möglich hält. 198 Starck, JZ 1999, S. 473 (478); v. Arnim, Das föderative System, S. 19 (24). 199 Herzog, BayVBl. 1966, S. 181 (186). 200 Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, Band 2, Art. 50, Rn. 6. 201 Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 44 Abs. 1, Rn. 54 ff.; Blumenwitz, in: BK-GG, Art. 50, Rn. 57; Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 127; Füßlein, in: Seifert / Hömig, GG, vor Art. 50, Rn. 3; Klein, HbStR VII, § 168, Rn. 19; Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. c); Scholz, AöR 105 (1983), S. 564 (600); Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (72); Rührmair, Der Bundesrat, S. 63; Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (191); Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 91 ff.; Schubert, Jura 2003, S. 607 (610); Deecke, Stimmenverteilung im Bundesrat, S. 28 f.; Lange, Die Legitimationskrise des Bundesrates, S. 181 (194 f.); Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 122.
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wird noch nicht einmal mit dem Charakter des Verfassungsrechts als politischem Recht argumentiert, welches der Staatspraxis breiten Raum eröffnet 202. Aber selbst diese Argumentation würde die Bedeutung und Notwendigkeit der verfassungsrechtlichen Begrenzung des Politischen verkennen, welche notwendig ist, um die einheitsstiftende Wirkung der Verfassung und die Rechtsstaatsbindung des Staates zu gewährleisten. Alle Staatsgewalt, auch die Gesetzgebung, ist an Recht und Gesetz gebunden. Der Rahmencharakter der Verfassung 203 beinhaltet nun einmal nicht nur den Freiraum, sondern auch die Begrenzung. Trotz der o. g. hohen politischen Hürden gegen eine Obstruktion bedarf es einer letzten, einer rechtlichen Sicherung, um wenigstens ein Mindestmaß an Loyalität und Kooperation zu gewährleisten. Dagegen spricht auch nicht, daß es – soweit erkennbar – bisher noch nicht zu einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts wegen einer möglichen Obstruktionspolitik im Bundesrat gekommen ist. Denn zum einen vermag bereits die Kenntnis von einer derartigen Möglichkeit sehr wohl Effizienz zu entfalten 204. Zweitens wäre eine selbstauferlegte Zurückhaltung bei der rechtlichen Beurteilung 205 dem Bürger, der einen Anspruch auf einen funktionsfähigen Staat besitzt, schwer vermittelbar. Schließlich hat im Fall der Steuerreform 2000 die Opposition, nachdem sie im Bundesrat die Abstimmung gegen die Bundesregierung verloren hatte, sehr wohl an rechtliche Schritte gedacht. Da jedoch der Verlust bereits als politische Niederlage der Oppositionsführerin galt, wollte man diesen Mißerfolg nicht weiter in der Öffentlichkeit halten 206. Da das Grundgesetz in der Frage der Grenzen der Parteipolitisierung keine ausdrückliche Regelung trifft 207, sind vergleichbare Vorschriften auszulegen und ist auf ungeschriebene Verfassungsgrundsätze zurückzugreifen. Dazu stehen der Grundsatz der Verfassungsorgantreue und Art. 77 Abs. 2 GG zur Verfügung. Die von Rechtsprechung 208 und Lehre 209 entwickelte und seitdem anerkannte Verfassungsorgantreue verpflichtet alle Verfassungsorgane zu gegenseitiger 202 Vgl. dazu z. B. Isensee, HbStR VII, § 162, Rn. 158 ff.; ders., Der Bundesstaat, S. 719 (724). 203 Isensee, Der Bundesstaat, S. 719 (724). 204 Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 35. 205 Im anglo-amerikanischen Raum „judicial-self-restraint“. Dazu näher sowie zu Recht krit. zur Übernahme dieses Amerikanismus Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. c). 206 So ein Mitglied der CDU / CSU-Bundestagsfraktion in einem Gespräch mit dem Verfasser. 207 Zahlreiche verfassungspolitische und verfassungspraktische Lösungsversuche jüngst bei Diekmann, Das Verhältnis des Bundesrates zu Bundestag und Bundesregierung, S. 181 ff. 208 BVerfGE 35, 193 (199); 36, 1 (15); 45, 1 (39). 209 Grundlegend im Schrifttum Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 26 ff.; Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 44 Abs. 1, Rn. 54 ff.; Blumenwitz,
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Achtung, Rücksichtnahme und Kooperation bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Ihre Quellen liegen in der analogen Begriffsbildung zur Bundestreue, im Gewaltenteilungsgrundsatz, den sie als Komplementärprinzip ergänzt, sowie in der der einheitsstiftenden Wirkung der Verfassung, d. h. dem Gebot der staatlichen Integration und dem Schutz vor einem Zerfall des Staates in sich unter Umständen gegenseitig blockierende und obstruierende Machtzentren, sowie der Integration der Gesellschaft in den Staat 210. Wie schon oben beim Interpretationstopos der Einheit der Verfassung erläutert, bildet die Verfassung eine Einheit, weshalb Verfassungsvorschriften nicht isoliert voneinander ausgelegt werden dürfen. So strebt das Grundgesetz nach der Integration der von ihm kreierten Wertentscheidungen und Verfassungsprinzipien. Um die Einheit der Verfassung zu gewährleisten, reicht dies aber nicht aus. Daher zielt das Grundgesetz auch auf die Integration der von ihm geschaffenen Organe. Vor diesem Hintergrund sind die Verfassungsorgane wechselseitig zur Rücksichtnahme und Kooperation verpflichtet. Folglich haben sich die Staatsorgane zueinander so zu verhalten, daß sie ihre verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten verantwortlich und gewissenhaft, frei von Zeitnot und Pressionen ausüben können 211. Verfassungsverantwortliche Wahrnehmung von Aufgaben bedeutet Aufgabenerfüllung mit Blick auf das Gesamtwohl, Bereitschaft zu Kooperation und Kompromiß. Sie enthält die Verpflichtung, die von der Verfassung vorgesehenen Verfahren mit dem Ziel einer das staatliche Funktionieren sichernden Entscheidung einzuhalten bzw. auf diesen Weg zurückzukehren 212. Für das parteipolitische Verhalten im Bundesrat bedeutet dies folgendes: Grundsätzlich ist es zulässig, da es dem demokratischen Bundesstaat systemimmanent ist (s. o.). Überrumpelungen, Blockaden und gegenseitiges Ausspielen hingegen wären rücksichtsloses Verhalten, hemmen die Funktion des Staates und führen letztlich sogar zur Desintegration der Gesellschaft vom Staat, in der öffentlichen Debatte als Politikverdrossenheit bezeichnet. Damit würde der Bundesrat ein ihm eingeräumtes Recht mißbrauchen. Obstruktionspolitik im Bundesrat wäre daher nicht nur eine Frage schlechter politischer Kultur und mangelnden staatspolitischen Stils, sondern als Rechtsmißbrauch verfassungswidrig. Eine Rechtsverletzung kann sich ferner aus einem Verstoß gegen Sinn und Zweck von Art. 77 Abs. 2 GG ergeben. Diese Vorschrift regelt das Verfahren des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat. Ziel dieses Verfahin: BK-GG, Art. 50, Rn. 57; Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, S. 127; Füßlein, in: Seifert / Hömig, GG, vor Art. 50, Rn. 3; Klein, HbStR VII, § 168, Rn. 19; Maurer, Staatsrecht, § 10, Rn. 54; Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. c); Scholz, AöR 105 (1983), S. 564 (600). 210 Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. c); Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 26 ff., 96 ff.; Scholz, AöR 105 (1983), S. 564 (600). 211 Stern, Staatsrecht I, § 4 III. 8. c). 212 Klein, HbStR VII, § 168, Rn. 19.
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rens ist es, bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundestag und Bundesrat einen Interessenausgleich zu finden 213. Dessen Ergebnis ist der vom Grundgesetz angestrebte Regelfall des Kompromisses. Diesem Ziel dient das Vermittlungsverfahren. Mit der Schaffung eines Organs zur Auflösung von Interessenkonflikten hat das Grundgesetz die Beseitigung von Gesetzgebungsblockaden institutionalisiert. Daher kann dem Verfassungstext ein Grundgedanke der Verhinderung von Entscheidungsblockaden durch Kompromißbildungen entnommen werden. Dem Grundgesetz wohnt eine konstruktiv-produktive Grundhaltung inne. Dies ergibt sich auch aus der oben bereits aus mehreren Gesichtspunkten gewonnenen Eigenart des Grundgesetzes, von der Politik viel abzuverlangen. Zum Abverlangten gehört auch Kompromißfähigkeit. Umgekehrt bedeutet das, daß es Kompromißlosigkeit nicht duldet. Diesem Gedanken widerspricht eine Obstruktionshaltung im Bundesrat, die daher rechtlich erfaßbar und verfassungswidrig ist. c) Recht und Politik als Grenzen parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat Die Gesamtheit der politischen Restriktionen und der rechtlichen Grenzen ergibt eine beträchtliche Anzahl von Umständen, welche dem politischen Mißbrauch des Bundesrates vorbeugen. Recht und Politik ergänzen sich hier zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung. Der Vergleich beider Sphären in diesem konkreten Anwendungsfall ergibt freilich ein Übergewicht der politischen Umstände gegenüber dem Recht. Eher sie beschneiden die parteipolitische Kompetenzüberschreitung als das Recht. Eine rechtliche Begrenzung ist gleichwohl erforderlich; ein freies Spiel der politischen Kräfte nicht ausreichend. Auch hier wird das Verfassungsrecht seinem Charakter als politisches Recht und politische Rahmenordnung 214 gerecht. Es nimmt seine ermöglichende Funktion wahr und hält der Verfassungspraxis weite Spielräume offen, innerhalb derer sie sich aber auch selbst Grenzen setzt. Hier zeigt sich die planmäßige Unvollständigkeit 215 des Verfassungsrechts. Jedenfalls für die hier behandelte Frage gibt sich die Politik mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten Regeln, mit denen sie fehlende positiv-rechtliche Regeln ersetzt. 4. Ergebnis Im Ergebnis ist festzustellen, daß im demokratischen Bundesstaat die Parteipolitisierung keine grundsätzliche Ursache von Blockaden ist; vielmehr sind 213
Vgl. BVerfG, NJW 2005, S. 203 (205); Bryde, ParlRParlPr, § 30, Rn. 49. Vgl. dazu Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatswissenschaft, S. 317 (322 f.); Gusy, ÖZöR 35 (1984), S. 81 (110 f.); Eichenberger, ZSR 110 (1991), S. 143 (232 ff.); Starck, HbStR VII, § 164. 215 Isensee, HbStR VII, § 162, Rn. 51. 214
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die Parteien Beteiligte am Gesetzgebungsprozeß, die aufgrund dieser gewollten Beteiligung in den meisten Fällen zur Problemlösung beitragen. Auch auf der konkreteren Ebene der Gesetzgebung und nicht nur abstrakt bei der Erörterung des demokratischen Bundesstaates erweist sich, daß nicht von zwei Prinzipien auszugehen ist, die in einem Spannungsverhältnis stehen, sondern daß die Gesetzgebung im „demokratischen Bundesstaat“ stattfindet, bei der Meinungsverschiedenheiten angesichts der Pluralität seiner Leitungsgewalt gewollt, normal und systemimmanent sind. In diesen wenigen Fällen der politischen Differenz tritt die Diversität der demokratischen Legitimationssubjekte zutage, die aufgrund der verschiedenen demokratischen Legitimationskörper unterschiedliche Auffassungen besitzen können. Daher nimmt das Grundgesetz im Einzelfall auch das Scheitern eines Gesetzes in Kauf. Die Parteien als solche sind keine Ursache für angebliche Blockaden oder Interessenkonflikte. Sie wirken in den meisten Fällen konfliktauflösend oder -verhindernd. Entscheidend ist das Handeln der politisch Verantwortlichen. Fälle von Blockaden finden statt, sind öffentlichkeitswirksam, aber die Ausnahme. Damit zeigt sich, daß nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis die Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat nur einem differenzierenden Modell zugänglich ist; jede Pauschalisierung verbietet sich. Auch insoweit ist das Grundgesetz eine Verfassung des Maßes. Da die Entscheidungen, die in seinem Rahmen ergehen, letztlich überwiegend Kompromisse sind, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird, korrespondieren die Theorie der Gesetzgebung des demokratischen Bundesstaates und sein „Output“: Sie sind gemäßigt. Dies gilt freilich nur für die Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat als solche. Nur sein Grundprinzip ist vor vielen Eiferern in Schutz zu nehmen. Das bedeutet nicht, daß es nichts zu verbessern gäbe, im Gegenteil. Im Laufe der Zeit hat sich viel verändert, hat es viele Auswüchse gegeben. Es ist also weiteren Ursachen für das hohe Maß an Konflikten nachzuspüren. Als solche wurde oben die hohe Anzahl an Zustimmungstatbeständen genannt. III. Recht oder Politik? Erhöhung der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen als Ursache häufiger föderaler Streitigkeiten? Da Streitigkeiten zwischen den beiden Gesetzgebungsorganen Bundestag und Bundesrat nur dann auftreten können, wenn ein Zustimmungstatbestand die Beteiligung auch der Länderkammer fordert, ist, nachdem der Bereich der Parteien untersucht wurde, nun auf dem Gebiet der Kompetenzverteilung zu ermitteln, wann und warum ein hohes Maß an Zustimmung und damit auch Verflechtung in der Gesetzgebung besteht. Dabei kommen rechtliche und politische Gründe in Betracht.
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1. Erhöhung der Zustimmungsvorbehalte durch Verfassungsänderungen? Spätestens seit den sechziger Jahren ist ein ständiger Begleiter der Bundesstaatsdebatte die Auffassung, daß die Erhöhung der Zustimmungstatbestände im Grundgesetz letztlich für die sog. „Blockaden“ und das hohe Maß an Politikverflechtung verantwortlich ist. Bis heute ist dies herrschende Meinung 216. Zur Begründung wird im wesentlichen ausgeführt, daß der historische Verfassungsgeber das Zustimmungsgesetz nur als Ausnahmefall gewollt habe. Das RegelAusnahme-Verhältnis habe sich jedoch durch eine Reihe von Grundgesetzänderungen umgekehrt, da die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes erheblich erweitert und die Zustimmungstatbestände vermehrt worden seien 217. Die Zustimmung zu Verfassungsänderungen haben sich die Länder mit dem Zugeständnis der Zustimmungspflichtigkeit seitens des Bundes abkaufen lassen. Diese Auffassung verweist damit auf die Zahlen: Die Anzahl der Zustimmungstatbestände sei von anfangs 13 auf beinahe 60 angewachsen 218. Der Verlust der Länder an eigenständiger Gesetzgebungskompetenz mehre die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und verstärke so zwangsläufig die Mitwirkung des Bundesrates und damit die Einflußnahme der Länder auf die Willensbildung im Gesamtstaat. Dadurch werde jedoch eine echte Kompensation für die Länder erreicht, da sie nicht an Gewicht verlören, sondern eine Staatlichkeit neuer, aber nicht weniger bedeutsamer Qualität erlangten 219. Dabei richtet sich die Kritik bei einer Spielart dieser Auffassung nicht gegen die Zustimmungsgesetzgebung an sich 220, sondern dagegen, daß das Ausmaß der 216 Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 77, Rn. 21; Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (217); Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (621); Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (15); Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 253 (255); Grimm, Das Grundgesetz nach 50 Jahren, S. 295 (315); Wassermann, NJW 2003, S. 331 (332); Lerche, Zustimmungsgesetze, S. 183 (187); ders., Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 39; Leisner, DÖV 1968, S. 389 (390); Schneider, NJW 3757 (3759); Ossenbühl, DVBl. 1989, S. 1230 (1232); Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, S. 363 (385); politikwissenschaftlich: Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (107 f.); Jun, Der Bundesrat, S. 349 f. 217 Statt vieler etwa Maurer, Der Bundesrat, S. 615 (621); Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (15); Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 253 (255); Grimm, Das Grundgesetz nach 50 Jahren, S. 295 (315). 218 Grimm, Das Grundgesetz nach 50 Jahren, S. 295 (315); Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (61); Volkmann, DÖV 1998, S. 613 (618); von ursprünglich 30 spricht Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (217); Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (15). 219 Klein, Die Legitimation des Bundesrates, S. 95 (98); ferner Braun, StWStPr 7 (1996), S. 101 (107 f.); Bocklet, Föderalismus heute, S. 37 (38); Jun, Der Bundesrat, S. 349 f.; Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 22; Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 39; Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 15. Auch das BVerfG spricht von „Ausgleich“: BVerfGE 37, 363 (379 f.); 55, 274 (319). 220 Vgl. Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (60).
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zustimmungsbedürftigen Gesetze die parlamentarische Mehrheit so sehr einenge 221, daß sie zu einer „unechten Minderheitsregierung“ 222 und der Bundesrat als „Gegenregierung“ aufgefaßt werde. Das wird auch deutlich an Bemerkungen, daß „zum Ausgleich für den Verlust echter Kompetenz“ die Länder zum „Mitregenten der bundesrepublikanischen Demokratie“ 223 erhoben worden seien. Die Auffassung ist damit unter ihren beiden Begründungen, nämlich hinsichtlich der Interpretation des statistischen Materials und der Einschränkung des Parlaments, zu prüfen. Was die vorgetragene Einschränkung des Parlaments betrifft, so ist die Sichtweise unter den oben aufgestellten Grundsätzen des demokratischen Bundesstaates zurückzuweisen. Diese Auffassung verkennt seine Konstruktion, die eben keine reine parlamentarische Demokratie, sondern eine bundesstaatliche darstellt, in der die Pluralität der Leitungsgewalt verfassungsimmanent ist. Konkreter, auf die Ebene des Gesetzgebungsverfahrens bezogen, wird damit nicht berücksichtigt, daß zumindest im Bereich der Zustimmungsgesetzgebung der Bundesrat zwar nicht strukturell, aber funktional eine gleichberechtigte zweite Kammer darstellt, deren Zweck unter anderem die bewußte (föderale) Beschneidung der Entscheidungsbefugnisse des (unitarischen) Parlaments ist. Der Bundesrat ist keine „Fehlkonstruktion“ 224, sondern folgerichtiges Organ des demokratischen Bundesstaates und konsequente Fortschreibung deutscher Verfassungstradition. Rechtspolitisch betrachtet ist daher auch im Senatsmodell als Alternative 225 keine erfolgversprechende Lösung zu sehen. Die These, der Bundesrat sei auch heute noch, wie der Bundesrat von 1871, ein Bollwerk gegen die Parlamentarisierung der Regierung, verkennt, daß der Parlamentarische Rat eine Wahl des Kanzlers auch durch den Bundesrat abgelehnt hat, um die Verantwortlichkeit des Bundestages nicht zu durchlöchern. Diese Auffassung – keine Seltenheit – stellt einen unzulässigen Vergleich mit reinen Demokratien dar und leugnet den Charakter des Grundgesetzes als demokratischen Bundesstaat, der eben nicht nur als reine parlamentarische Demokratie, sondern auch als Bundesstaat organisiert ist. Dies hat sich schon in der Theorie des demokratischen Bundesstaates gezeigt. Ein Mehr an Demokratie wäre aufgrund der demokratischen Legitimation des Bundesrates nicht erforderlich und auch nicht zu erwarten, da die Senatoren kraft ihres freien Mandats jeder Kontrolle durch die Landtage enthoben wären, 221 Z. B. Lehmbruch, Parteienwettbewerb 1976, S. 165 f.; v. Arnim, ZRP 1998, S. 140 ff. 222 Meyer, VVDStRL 33 (1975), S. 69 (118, LS 45). 223 Wassermann, NJW 2003, S. 331 (332). 224 Hennis, FAZ v. 14. August 1997. 225 So etwa Scharpf, Entwicklungslinien des bundesdeutschen Föderalismus, S. 146 (147); Nordrhein-Westfälische Kommission bundesstaatliche Ordnung, Bericht, Teil 1 S. 257; Laufer, Bundesrat, S. 57 f.
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eine Verdopplung der parlamentarischen Rede auch gar nicht notwendig wäre und deren Qualitätssteigerung auch nicht zu erwarten wäre 226. Der sachliche Stil des Bundesrates ist da weit mehr zweckdienlich und eine echte Alternative gegenüber der politisch-parlamentarischen Debatte. Weiterhin vermag die exekutivische Prägung der Bundesratsmitglieder, die nicht nur einen kleinen Mitarbeiterzirkel, sondern ganze Ministerien im Hintergrund haben, dem ohnehin übermächtigen Bund mehr entgegenzusetzen als bloße Abgeordnete. Schließlich muß man sich über die Radikalität dieses Vorschlags im Klaren sein, der stark in gewachsene Strukturen und die Verfassungstradition Deutschlands eingreifen würde. Was die Interpretation des statistischen Materials betrifft, ist hier die These der Kompensation durch Mitbestimmung wiederum in zweierlei Hinsicht zu überprüfen. Zum einen, ob tatsächlich eine echte Kompensation stattgefunden hat, zum anderen, ob die erhöhte Anzahl an Zustimmungstatbeständen wirklich verantwortlich für den Anstieg an Zustimmungsgesetzen ist. Als Hintergrund zur Kompensationsthese ist zunächst zu bemerken, daß es sich dabei um einen nicht überwundenen Spätausläufer Hesses, aber auch Böckenfördes Beteiligungsföderalismus handelt, der oben ausführlich dargestellt wurde. Dort wurde auch dargelegt, daß beide im Beteiligungsföderalismus eine neue und nicht mindere Form des Föderalismus erblicken, in dem er durch die „Mehrung des Gewichts des Bundesrates [...] nicht einen Abbau, sondern eine Verstärkung der bundesstaatlichen Ordnung bewirkt“ 227. Auch in diesem konkreten Anwendungsfall ist diesen Modellen zu widersprechen, da aus mehreren Gründen von echter Kompensation nicht die Rede sein kann. Da nach den oben ausgestellten Grundsätzen des demokratischen Bundesstaates die Länder Zentren eigenständiger demokratischer Legitimation und autonomer politischer Willensbildung sind, die durch Selbständigkeit und Staatlichkeit gekennzeichnet sind, ist das Tauschgeschäft von Selbstbestimmung gegen Mitbestimmung keine echte Kompensation, sondern eine Einbuße. Insbesondere trifft dieser Verlust an Autonomie die Landesparlamente, welche die Kompetenz zur Gesetzgebung einbüßen. Insbesondere durch diese politische Gestaltungsmöglichkeit und eine echte demokratische Legitimationsvermittlung zeichnet sich die Länderstaatlichkeit aus. Obwohl der Annahme zu widersprechen ist, daß der exekutivisch besetzte Bundesrat demokratisch unzureichend legitimiert sei und die Landesparlamente kaum einen Einfluß auf ihre Landesregierungen haben 228, geht damit auch 226
Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (50). Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 22. 228 Hablitzel, BayVBl. 1979, S. 39 (40); Knies, DÖV 1977, S. 575 (577 f.); Lange, Die Legitimationskrise des Bundesrates, S. 181 (194 f.); Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (191); politikwissenschaftlich Schüttemeier / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (531); vgl. a. Kadelbach, VVDStRL 66 (2006), S. 7 (10). 227
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
ein Verlust an demokratischer Selbstbestimmung einher. Weiterhin kann schon „rechnerisch“ von einer Kompensation nicht gesprochen werden, da der Bundesrat als Bundesorgan den Machtzuwachs des Bundes gerade nicht ausgleicht, sondern ihn angesichts seiner Ausrichtung am gesamtstaatlichen Interesse noch verstärkt 229. Hinzu kommt, daß jedes Land – im Bundesrat letztlich „nur eines unter vielen“ – bei Mehrheitsentscheidungen unterliegen kann, sein Wille sich mithin nicht durchsetzt. Daß die Länder insgesamt die Entscheidung des Bundesorgans mitbestimmen, kann dies nicht ausgleichen 230. Schließlich wird der Spielraum der Länder dadurch eingeschränkt, daß sich die Ratio des politischen Handelns im Umgang der Länder miteinander wandelt, wenn das Mehrheitsprinzip an die Stelle der Freiwilligkeit einheitlichen Handelns durch Selbstkoordinierung tritt, wie sie den Ländern im Bereich originärer Landeszuständigkeiten zusteht 231. Die hohe Anzahl an Zustimmungsgesetzen kann daher keine Kompensation für verlorengegangene Selbstbestimmung bedeuten. Zu klären bleibt nun, ob sie auf der gestiegenen Zahl an Zustimmungstatbeständen beruht, wie überwiegend angenommen wird. Daß die Erhöhung der Anzahl von Zustimmungstatbeständen auch mehr zustimmungspflichtige Gesetze zur Folge hat, bezweifelt eine seit kurzem im Vordringen befindliche Auffassung 232, die in den siebziger Jahren bereits, aber nur sehr vereinzelt 233 geäußert wurde. Nebenbei bemerkt ist dieses Detail der Bundesstaatsdebatte ein weiteres Beispiel dafür, daß die heutigen Probleme im Bundesstaat nicht neu sind und daß sich in der Diskussion um den deutschen Föderalismus nur sehr wenig und langsam etwas ändert. Entsprechend haben viele Darstellungen wiederholenden Charakter. Nach dieser Auffassung können die Anzahl und der Anstieg der Zustimmungstatbestände nicht für eine ebenfalls hohe Anzahl an zustimmungspflichtigen Gesetzen verantwortlich gemacht werden. 229
Rührmair, Der Bundesrat, S. 123; vgl. Bauer, in: Dreier, GG, Art. 50, Rn. 16, Fn. 94; Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 50, Rn. 17. 230 Wie hier Rührmair, Der Bundesrat, S. 123; vgl. Karpen, ZG 1991, S. 356 (363); Schenke, ParlRParlPr, § 55, Rn. 52; Klein, DVBl. 1981, S. 661 ff. 231 Rührmair, Der Bundesrat, S. 123, unter Berufung auf Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (218). 232 Dästner, ZParl 2001, S. 290 (291, 308); Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (61); Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 316 ff.; Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (227); auch Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (15); vgl. a. Lücke, in: Sachs, GG, Art. 77, Rn. 17 f.; Stettner, in: Dreier, GG, Art. 77, Rn. 12; einen neuen Aspekt führt Reutter, ZParl 2007, S. 437 ff. in die Diskussion ein. Danach werde über den Streit über die Zustimmungsbedürftigkeit vergessen, die Dauer von Gesetzgebungsverfahren als Reformhemmnis zu untersuchen. 233 Fromme, Gesetzgebung, S. 159; Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 253 (265 f.); Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (242); krit. zu dieser frühen Praxis Held, AöR 80 (1955/56), S. 50 (55 f.); Rohwer-Kahlmann, AöR 79 (1953/54), S. 208 (209 ff.); dazu Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 161.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes habe eine hohe Zustimmungsquote von 41,8 % bestanden 234. Diese sei zwar in den ersten drei Wahlperioden angestiegen 235, seitdem aber konstant zwischen 50 und 60 %. Es sei damit nur ein allmählicher Anstieg zu verzeichnen 236. Richtigerweise ist dieser Auffassung zu folgen. Denn die Verbindung von erhöhten Zustimmungstatbeständen und Zustimmungsquote beruht auf einer reinen Nennung von Zahlen ohne deren Interpretation. Es besteht ein Unterschied zwischen Zustimmungstatbeständen und Zustimmungsquote. Jene eröffnen lediglich die Zustimmungsgesetzgebung, die Quote erst sagt etwas über den tatsächlichen Anteil an Zustimmungsgesetzen aus. Es ist sicher richtig, daß eine hohe Anzahl an zustimmungseröffnenden Vorschriften zu vermehrter Zustimmungsgesetzgebung führen kann und auch geführt hat. Zuzugestehen ist ebenfalls, daß der schnelle Schluß der herrschenden Meinung von Tatbeständen auf Quote auf das Fehlen einer offiziellen Statistik 237 zurückzuführen ist, die über den Umfang der einzelnen, die Zustimmung des Bundesrates auslösenden Bestimmungen des Grundgesetzes Auskunft geben könnte. Ausschlaggebend für die Entscheidung dieser Streitfrage ist, daß ein Zusammenhang zwischen Anstieg der Zustimmungstatbestände und -quote zwar rein nach den Zahlen naheliegt, tatsächlich aber nicht besteht. Die einzelne Durchsicht sämtlicher zustimmungsauslösender Normen ergibt, daß in fast 90 % aller Fälle die Zustimmungsbedürftigkeit auf bereits 1949 im Grundgesetz enthaltene Bestimmungen zurückzuführen ist 238. Spätestens ab der 2. Wahlperiode (49,8 %) ist die Zustimmungsquote relativ stabil. In der 3. Wahlperiode beträgt sie 55,7 %. Nach dem höchsten Stand in der 10. Wahlperiode mit 60 % lag sie 2004 bei 52,1 % und 2008 bei 50,6% 239. Sie bewegt sich damit in dem konstanten Bereich von 50 bis 60 % 240. Selbst wenn man die ersten drei Wahlperioden außer acht läßt, ergibt sich ein Durchschnittswert von 54,6 % von 1961 bis 2000. Diese 234
Dästner, ZParl 2001, S. 290 (293). 1. WP: 41, 8 %; 2. WP: 49, 8 %; 3. WP: 55, 7 %; die höchste Zustimmungsquote wurde in der 10. WP erreicht: 60 %; die geringste seit der 3. WP wurde in der 5. WP erreicht: 49,9 %; vgl. Bundesrat (Hrsg.), Handbuch des Bundesrates 2000/01, S. 290. 236 Dästner, ZParl 2001, S. 290 (293); Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 317. 237 Vgl. Dästner, ZParl 2001, S. 290 (292). 238 Dästner, ZParl 2001, S. 290 (295 ff., zusammenfassend 308). 239 Bundesrat (Hrsg.), Handbuch des Bundesrates 2004/05, S. 305. 235
240
WP
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Ø
% 41,8 49,8 55,7 53,4 49,4 51,7 53,2 53,7 52,2 60,0 55,2 57,2 59,5 54,6 50,6 53,1
Quelle: Bundesrat (Hrsg.), Handbuch des Bundesrates 2000/01, S. 290; Handbuch des Bundesrates 2004/05, S. 305. Zur Zustimmungsbedürftigkeit nach der Föderalismusreform I vgl. Risse, Die Neuregelung der Zustimmungsbedürftigkeit, S. 271 ff.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
relative Stabilität der Zustimmungsquote macht es bereits unwahrscheinlich, daß ein Zusammenhang zwischen ihr und einem von der herrschenden Meinung konstatierten Anstieg der Zustimmungstatbestände von 13 auf 60 besteht, da sich Zunahme von Zustimmungsquote und -tatbeständen nicht entsprechen. Ansonsten müßte auch ein erheblicher Anstieg der Zustimmungsquote feststellbar sein. Es ist aber nur ein sehr allmählicher Anstieg und dieser über viele Jahre gegeben 241. Für den Zeitraum von 1981 bis 1999 gehen lediglich 11,5 % der zustimmungsbedürftigen Gesetze auf Verfassungsänderungen zurück, die neue zustimmungsauslösende Tatbestände eingeführt haben. Über 88 % beruhen hingegen auf Vorschriften, die bereits bei der Entstehung des Grundgesetzes existierten 242. Ließe man die durch Verfassungsänderungen neu eingeführten Zustimmungstatbestände außer Betracht, läge der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze für diesen Zeitraum bei knapp 54% und damit trotz identischer Anzahl an Zustimmungstatbeständen wesentlich über den 41,8% der ersten Wahlperiode 243. Dies bestätigt die nähere Betrachtung der Verteilung von Zustimmungstatbeständen auf die Zustimmungsgesetze. Danach leitet sich die Zustimmungsbedürftigkeit zu 58,1 % aus Art. 84 Abs. 1 GG und zu weiteren 28, 5 % aus Art. 105 Abs. 3 GG ab 244. Damit beruhen insgesamt 81,6% auf Vorschriften, welche die Behördeneinrichtung und das Verwaltungsverfahren im Bereich der landeseigenen Verwaltung bzw. Steuern betreffen, deren Aufkommen den Ländern oder Gemeinden ganz oder zum Teil zufließen. Bei Zugrundelegung der 1949 enthaltenen Zustimmungsnormen ergibt sich ein Anteil von 85,8 % von Gesetzen, die Verwaltung und Steuern regeln. Der hohe Anteil an Zustimmungstatbeständen bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes spricht übrigens für die hier gefundene Konstruktion des demokratischen Bundesstaates und die Gleichberechtigung von Demokratie und Bundesstaat, Bundestag und Bundesrat und den Willen des historischen Verfassungsgebers zu dieser Konstruktion. Die Annahme vieler Autoren, der Bundesrat sollte nach dem ursprünglichen Willen des Parlamentarischen Rates nur in Ausnahmefällen zustimmen und daher untergeordnete Bedeutung haben 245, ist daher unzutreffend. Es mag sein, daß im Parlamentarischen Rat irrtümlich andere Vorstellungen herrschten 246, der Verfassungslage entsprachen sie jedoch nicht. 241
Vgl. Bundesrat (Hrsg.), Handbuch des Bundesrates 2000/01, S. 290. Dästner, ZParl 2001, S. 290 (295 ff.); Aufzählung dieser Vorschriften ebd., Fn. 16. 243 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 318. 244 Dästner, ZParl 2001, S. 290 (296); alle übrigen Prozentsätze der anderen Zustimmungstatbestände bewegen sich im unteren einstelligen Bereich. 245 Statt vieler Dolzer, VVDStRL 58 (1999), S. 7 (11); Rührmair, Bundesrat, S. 28; Hanf, Bundesstaat ohne Bundesrat, S. 40; Morsey, Die Entstehung des Bundesrates, S. 70 (75). 242
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 84 Abs. 1 GG (Einheitsthese)? Ein weiterer Grund für die Erhöhung des Zustimmungserfordernisses und damit der Eröffnung weiterer föderaler Interessenkonflikte ist auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 247 zurückzuführen. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen zu Art. 84 Abs. 1 GG muß diese Judikatur gegenüber der überwiegenden Darstellung in der Literatur 248 relativiert werden, verliert entgegen vereinzelter Aussagen 249 aber nicht gänzlich an Bedeutung. Nach der Einheitsthese des Bundesverfassungsgerichts muß der Bundesrat einem ganzen Gesetz zustimmen, wenn auch nur eine einzelne Vorschrift zur Behördenorganisation oder zum Verwaltungsverfahren enthalten ist 250. Daneben sind Gesetze, die zustimmungsbedürftige Gesetze ändern, ihrerseits zustimmungspflichtig, wenn sie mittelbar auch die Vorschrift erfassen, welche ursprünglich die Zustimmungsbedürftigkeit ausgelöst hat 251. Aufgrund der gefestigten Rechtsprechung und der überwiegenden Zustimmung der Lehre 252 kann diese Frage als geklärt gelten. An der Einheitsthese ist trotz einzelner Angriffe festzuhalten. Auch wären von ihrer Aufgabe keine nennenswerten Entflechtungseffekte zu erwarten, da bereits jetzt – ebenfalls durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – dem Gesetzesinitiant die Möglichkeit zur Aufspaltung in einen zustimmungspflichtigen und -freien Teil besteht. Auf diese Weise wirkt die Aufspaltungsbefugnis als Kompensation 253 für die Einheitsrechtsprechung. Die Praxis macht davon regen Gebrauch. 246 Vgl. Rührmair, Bundesrat, S. 28; Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (242); Friesenhahn, Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen, S. 251 (265). 247 Übersichten über die Rechtsprechung des BVerfG zum Bundesstaatsprinzip bei Becker / Karpen, JZ 1990, S. 579 ff.; dies., JZ 2001, S. 966 ff.; Fiedler, Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, S. 64 ff.; Backert, BayVBl. 2006, S. 129 ff. 248 Z. B. Hendler, ZG 1987, S. 210 (213 ff.). 249 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 321. 250 BVerfGE 1, 76, (79); 8, 274 (294 f.); 24, 184 (194 f.); 55, 274 (319 ff., 326 f.). Dies gilt auch für Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 2 GG): BVerfGE 28, 66 (76 ff.) und Verwaltungsvorschriften: BVerfGE 26, 338 ff. 251 BVerfGE 37, 363 (383); 48, 127 (177 f.). 252 Antoni, AöR 113 (1988), S. 329 (336 f.); Groß, in: Friauf / Höfling, GG, Art. 84, Rn. 26; Hömig, in: Seifert / Hömig, GG, Art. 78, Rn. 4; Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 26; Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (62); krit. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 84, Rn. 34; Trute, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 84, Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (395 ff.); ablehnend Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (224 ff.); Kisker, Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, S. 23 (34). 253 Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (223); ebenso Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (62).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Zu erwägen ist allenfalls rechtspolitisch, ob nicht zur Vereinfachung und der Ehrlichkeit halber von vornherein das durch diese Rechtsprechung entstandene Geflecht – ein System von Grundsatz, Ausnahme und Rückausnahme – aufgelöst werden sollte, indem Einheitsthese und Aufspaltungsbefugnis aufgegeben werden. Neben den sonstigen Gründen, die für die Betrachtung des Gesetzes als Einheit sprechen 254, ist unter den Grundsätzen des demokratischen Bundesstaates daran festzuhalten, da nach dem oben Gesagten, die demokratische Legitimation bei gemeinschaftlicher Gesetzgebung von Bund und Ländern von beiden bzw. 17 Legitimationssubjekten ausgeht, alle daher das Gesetz zu verantworten haben. 3. Ergebnis Die hohe Zustimmungsquote beruht damit nicht auf Verfassungsänderungen oder der Rechtsprechung, sondern auf dem zustimmungsauslösenden Art. 84 Abs. 1 GG und Art. 105 Abs. 3 GG. Art. 84 Abs. 1 GG ist daher zu Recht als „Einfallstor“ 255 – ein Begriff der in der Föderalismusliteratur ständig zitiert wird –, ja sogar als „Schleuse“ 256 für die Zustimmungsgesetzgebung bezeichnet worden. Art. 84 Abs. 1 GG wirft damit die Frage nach der Verantwortung des Verbundsystems des Grundgesetzes für das hohe Ausmaß föderaler Konflikte auf, in dem gem. Art. 84 GG die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen (dazu sogleich unter IV.). IV. Recht oder Politik? Das Verbundsystem als Ursache häufiger föderaler Streitigkeiten? In den Theorien zu Demokratie und Föderalismus hatte Kaufmann bereits auf eine Besonderheit des Deutschen Reichs hinsichtlich seines bundesstaatlichen Aufbaus hingewiesen. Ein Merkmal, das den Bundesstaat des Grundgesetzes ebenfalls auszeichnet: das Verbundsystem. Es liegt in der bundesstaatlichen Verfassungstradition Deutschlands und stellt eine Besonderheit unter den Bundesstaaten dar. 1. Hintergrund: Verbund vs. Trennsystem Das sog. Verbundsystem 257 nimmt die Zuständigkeitsverteilung nach Kompetenzarten vor. Während der Zentralstaat in erster Linie für den Bereich der 254 BVerfGE 8, 274 (294 f.); 24, 184 (194); 37, 363 (383); 55, 274 (318); auch Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 39; Stern, Staatsrecht II, § 27 IV. 2. b) α). 255 So das ständig zitierte Wort von Schneider, DVBl. 1953, S. 257. 256 Lerche, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 84, Rn. 10.
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Gesetzgebung zuständig ist, liegt der Vollzug der Gesetze fast ausschließlich bei den Gliedstaaten. Grundsatznorm für die Kompetenzverteilung ist Art. 30 GG. Danach sind die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben grundsätzlich den Ländern vorbehalten, sofern das Grundgesetz keine andere Regelung trifft. Konkretisiert wird dieser Grundsatz für die drei staatlichen Hauptfunktionen in Art. 70 GG für die Gesetzgebung, in Art. 83 GG für die Verwaltung und in Art. 92 GG für die Rechtsprechung. Das Verbundsystem (funktionale Kompetenzaufteilung) kann oftmals zu einer Schwächung der unteren Ebene führen, da die Gesetzgebungskompetenz, wie in der Bundesrepublik Deutschland, zum größten Teil beim Bund liegt und somit die Gestaltungsspielräume der Länder klein sind. Zum Ausgleich werden die Länder freilich über ein Organ, wie in Deutschland der Bundesrat, an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt. Dazu kommt, daß es durch diese Aufgabenteilung, bei der die Länder die Bundesgesetze ausführen, zwangsläufig zu einer Zusammenarbeit zwischen beiden Ebenen kommt 258. Dadurch ist ein solches System mehr auf Konsens und Kooperation angelegt. Die Integration ist stärker als bei dem Trennmodell. Das bedeutet jedoch nicht, daß das Grundgesetz einen derart hohen Verflechtungsgrad, unzählige Gremien des kooperativen Föderalismus, eine Dominanz des Bundes bei der Gesetzgebung und eine hohe Zustimmungsquote erfordert. Soeben wurde Art. 84 Abs. 1 GG als die Vorschrift ausgemacht, die am meisten Zustimmungsvorbehalte auslöst. Rechtspolitisch ist daher die Frage zu stellen, ob ein hoher Verflechtungsgrad, eine hohe Zustimmungsquote und damit häufige föderale Streitigkeiten auf dem Verbundsystem beruhen. Insbesondere deshalb, weil mit dem Trennsystem, etwa der USA, eine Alternative zu Verfügung steht, die einen geringeren Gehalt an konstruktionsbedingter Verflechtung aufweist. Bei dem sog. Trennsystem 259 wird die Aufteilung der Kompetenzen nach Politikbereichen vorgenommen. Auf den Gebieten dieser Materien hat dann die jeweils zuständige Ebene sowohl die gesetzgebende als auch die vollziehende sowie die rechtsprechende Gewalt inne. Die staatlichen Ebenen arbeiten deshalb nach dem Konkurrenzprinzip. Der Integrationseffekt dieser Konstruktion ist in 257 Oder auch intrastaatlicher Föderalismus (Schultze, ZParl 1990, S. 475 [480]) oder vertikale Aufteilung (Vogel, HbVerfR, § 22, Rn. 36.); Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 235; Laufer / Münch, Föderatives System, S. 23 f.; Pietzcker, HbStR VI, § 134, Rn. 8 ff. 258 Vgl. Hesse, Aspekte des kooperativen Föderalismus, S. 141 (150); Klatt, Das föderative System, S. 41 (43 f.); Laufer / Münch, Föderatives System, S. 141; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 405; Pietzcker, Länderbericht Bundesrepublik Deutschland, S. 17 ff.; Rudolf, HbStR IV, § 105, Rn. 18; Schenke, ParlRParlPr, § 55, Rn. 64; früh bereits Köttgen, JöR n.F. 3 (1954), S. 67 (81 f.). 259 Oder interstaatlicher Föderalismus (Schultze, ZParl 1990, S. 475 [480]) oder horizontale Aufteilung (Vogel, HbVerfR, § 22, Rn. 36); vgl. auch die Konstruktionen Trennund Verbundmodell im Rahmen der Finanzverfassung; dazu sogleich.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
der Regel wesentlich schwächer als bei anderen Varianten des Föderalismus 260. Klassisches Beispiel für dieses Modell sind die USA. Zu klären ist somit im folgenden die Rolle des Verbundsystems und des Art. 84 Abs. 1 GG in der Gesetzgebung. 2. Art. 84 Abs. 1 GG oder die Tendenz des Bundes zur Regelung der Behördeneinrichtung und des Verwaltungsverfahrens? Sinn und Zweck des Zustimmungsvorbehalts in Art. 84 Abs. 1 GG ist es, daß der Bund zumindest nicht ohne Zustimmung des Bundesrates die Möglichkeit haben soll, den Ländern für die ihnen zustehende Ausführung der Bundesgesetze Vorschriften über die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren zu machen. Es geht damit in der Tat um Länderbelange, also Gesichtspunkte, in denen der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt wird, so das Kriterium des Bundesverfassungsgerichts 261. Nur wenn in einem Gesetz die Einrichtung von Behörden oder das Verwaltungsverfahren durch den Bund geregelt werden, besteht die Zustimmungspflicht. Das wiederum bedeutet, daß Bundestag und Bundesregierung die Wahl haben, ob sie die Zustimmungspflicht herbeiführen wollen oder nicht, wenn sie einen Gesetzesentwurf einbringen. Verfassungsrechtlich sind sie dazu in keiner Weise gezwungen. Im Ergebnis können Bundestag und Bundesrat bei der Ausarbeitung ihrer Gesetzentwürfe die Zustimmungspflicht in erheblichem Maße steuern 262. Das Grundgesetz sieht ein Regel-Ausnahme-Prinzip vor, de facto besteht eine Wahlfreiheit, ob der Bund eine hohe Regelungsdichte oder ein nicht zustimmungspflichtiges Gesetz will. Dagegen vermag auch nicht angeführt zu werden, daß sich Gesetze häufig nicht sauber in formelles und materielles Recht trennen ließen, daß zur Durchsetzung politischer Ziele die bundesgesetzliche Fixierung der Umsetzungsbedingungen erforderlich 263 und Bundesgesetze ohne gleichzeitige Verfahrens- und Organisationsregelungen kaum denkbar seien 264. Diese Sichtweise widerspricht der verfasungsrechtlichen Konstruktion der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder (Art. 83 GG). Das Grundgesetz sieht eben nicht vor, daß der Bund die Behördeneinrichtung und das Verwaltungsverfahren bestimmt, sondern überläßt das Wie der Gesetzesausführung den Ländern 265. Außerdem bestehen weithin 260
Kilper / Lhotta, Föderalismus, S. 61. BVerfGE 1, 76 (79); 37, 363 (381); s. a. Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (61); Lücke, in: Sachs, GG, Art. 77, Rn. 13. 262 So auch Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 319. 263 Dästner, ZParl 2001, S. 290 (307); ähnlich Böckenförde. 264 Scholz, ZG 1991, S. 26 (30); Rührmair, Der Bundesrat, S. 121. 265 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 320. 261
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übereinstimmende Verwaltungsverfahrensgesetze 266, formelle Regelungen für eine möglichst optimale Durchsetzung sind also nicht unbedingt erforderlich. Verfassungsrechtlich jedenfalls besteht keine Verpflichtung zu solchen Vorschriften. Sie ergibt sich auch nicht etwa aus Art. 72 Abs. 2 GG oder dem Sozialstaatsgebot. Selbst wenn man diese Gebote berücksichtigte, würde ihnen mit dem materiellen Gehalt eines Gesetzentwurfes hinreichend Rechnung getragen. Allein für die hier relevante Problematik des möglichen Erfordernisses formeller Regelungen verhält es sich rein rechtlich gesehen vielmehr umgekehrt: Verfahrensregelungen in Bundesgesetzen sollen nicht die Regel sein. Die Konstruktion des Art. 83 GG, nach dem die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, und des Art. 84 Abs. 1 GG, der eine Zustimmung des Bundesrates verlangt, falls von diesem Grundsatz abgewichen wird, spricht dafür, daß der Übergriff des Bundes in die Behördenorganisation und das Verwaltungsverfahren rechtlich eine Ausnahme darstellt. Politisch hingegen läßt sich der hohen Zustimmungsquote bei Art. 84 Abs. 1 GG entnehmen, daß das Hineinregieren des Bundes in die Kompetenzen der Länder zur Regel geworden ist. 3. Ergebnis Die hohe Zustimmungsquote ist damit politisch begründet. Sie liegt an einer Grundstimmung der Politik, grundsätzlich der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG a.F.) statt der Freiheit für eigene Landesumsetzungen Vorrang zu geben. „Dieses Hineinregieren in die Verwaltungszuständigkeit der Länder hat seinen Grund auch in fehlender Akzeptanz einer unterschiedlichen Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder – und damit auch der genau dies ermöglichenden Kompetenzordnung des Grundgesetzes“ 267. Aus diesem Grund sind Bundesgesetze ohne Verwaltungsregelungen „kaum noch denkbar“, nämlich im Sinne einer Gewöhnung, nicht etwa weil es erforderlich wäre. „Bundestag und Bundesregierung sind nicht Leidtragende einer durch die Länder und das Bundesverfassungsgericht verursachten Fehlentwicklung, sondern verursachen die Zustimmungspflicht zu einem ganz erheblichen Teil selbst“ 268. Die Anzahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze hängt also davon ab, ob Bundestag und Bundesregierung Regelungen zum Verwaltungsverfahren und der Behördenorganisation treffen wollen oder nicht. Sie ist damit politisch, nicht rechtlich determiniert. Eine Verbesserung dieser Situation, sprich: eine Senkung der Zustimmungsquote, muß daher politisch gewollt werden. Dabei reicht es nicht, die Entwürfe in einen zustimmungspflichtigen und in einen zustim-
266 267 268
Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (62). Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 321. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 321.
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mungsfreien Teil zu trennen 269. Der Hauptanteil wäre damit nicht zu erreichen. Auf zustimmungsauslösende Vorschriften in den Gesetzesentwürfen seitens der Bundesregierung oder des Bundesrates zu verzichten 270, wäre die konsequente Lösung, ihre Realisierbarkeit jedoch eine naive Vorstellung. Die Politik wird darauf nicht verzichten. Erforderlich ist, daß die Bundespolitik eine größere Unterschiedlichkeit in der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder akzeptiert und nicht auf einheitlichen Verwaltungsregelungen besteht. Da davon nicht auszugehen ist, kann nur durch Verfassungsänderungen dieser Mißstand beseitigt werden. Hier zeigt sich abermals, daß der demokratische Bundesstaat auf einen verantwortungsvollen Umgang angewiesen ist. Ein auf Unterschiedlichkeit angelegter Bundesstaat, hier die landeseigene Verwaltung, vereinbart sich nicht mit einer Politik der Einheitlichkeit. Dies führt zu Funktionsschwierigkeiten, nicht die verfassungsrechtliche Konstruktion als solche. Rechtspolitisch betrachtet ist das deutsche bundesstaatliche Verbundsystem in der Verwaltung aufgrund eines Kooperationsbedarfs als solches zwar für einen hohen Verflechtungsgrad allenfalls mitursächlich, aber nicht etwa wegen eines angeblichen Regelungsbedarfs der Behördenorganisation oder des Verwaltungsverfahrens. Hauptverantwortlicher für die Auslösung des Zustimmungsvorbehaltes ist die Politik des Bundes. Rechtspolitisches Heil ist daher in einem Trennsystem, wie es etwa in den USA besteht, nicht zu finden, abgesehen davon, daß eine derartige Änderung außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit läge. V. Recht oder Politik? Verschiebungen in der Kompetenzordnung Föderale Streitigkeiten entstehen ferner über Differenzen hinsichtlich der Kompetenzverteilung. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern stark geändert. Die Gewichte haben sich im Laufe der Zeit in einem Maße zugunsten des Bundes, d. h. weg von den Landesparlamenten und hin zu Bundestag und Bundesrat, verschoben, so daß das tatsächliche Schwergewicht der Gesetzgebungskompetenzen beim Bund liegt. Die Feststellung und Klage über diesen Befund gehört mittlerweile seit Jahrzehnten zu fast jeder Publikation zum Thema Bundesstaat in der Lehre 271, aber auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 272, 269
So aber Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 322. Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (61). 271 Badura, Staatsrecht, D, Rn. 70; Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (215); Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 343 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 244; Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn. 545; Isensee, Der Bundesstaat, S. 719 (725); ders., AöR 115 (1989), S. 250 f.; ders., HbStR IV, § 98, Rn. 198 ff.; Kunig, in: ders. / Kunig, GG, Rn. 5; Jarass / Pieroth, GG, Art. 70, Rn. 1; Karpen / Becker, JZ 2001, S. 966; Katzenstein, DÖV 270
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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obwohl letzteres zu einem nicht unerheblichen Teil zu dieser Entwicklung selbst beigetragen hat. Einzige Bewegung in diese sich stets wiederholende Befunddarstellung und das zirkuläre Zitieren ist dadurch gekommen, daß im Laufe der Zeit die herrschende Feststellung der (bloßen) Kompetenzverlagerung und Abkehr von der ursprünglichen Konstruktion des Grundgesetzes 273 in Frage gestellt wurde. Teile des Schrifttums 274 gingen dazu über anzumerken, daß auch bei Entstehen des Grundgesetzes der Katalog der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bereits umfangreich gewesen sei. Die Verschiebung der Gewichte ist jedenfalls nicht zu leugnen. Trotz dieser häufigen Darstellung des Problems ist eine nennenswerte Besserung nicht eingetreten. Mit den Verfassungsänderungen von 1994 zu Art. 72 und 75 GG wurde zwar ein Versuch unternommen. Er hat aber nur begrenzten Effekt gehabt 275. Die Gewichtsverschiebung beruht jedenfalls auf dem Verhalten der Bundespolitik (dazu sogleich 1.) und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2.). 1. Erweiterung des Kompetenzkataloges des Bundes durch die Bundespolitik Grundregel für die Verteilung der Rechtssetzungsbefugnisse ist Art. 70 Abs. 1 GG. Danach haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund die Gesetzgebungsbefugnis verleiht. Rechtstechnisch wird damit in der Verfassung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der Länder begründet. In der Verfassungswirklichkeit liegt aber, wie zu Recht betont wird, das Schwergewicht beim Bund.
1958, S. 593 (594); Kisker, Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, S. 23 (29); Klotz, APuZ 52 – 53/1993, S. 39; Papier, 50 Jahre Bundesstaatlichkeit nach dem Grundgesetz, S. 341 (342 f.); Zippelius / Würtenberger, Staatsrecht, § 45, Rn. 6; Rennert, Der Staat 1993, S. 269 (275); Leisner, DÖV 1968, S. 398 (390); Rührmair, Der Bundesrat, S. 118 f.; Sannwald, ZG 1994, S. 134; Schneider, StWStPr 4 (1993), S. 3; Scholz, ZG 1991, S. 26 (28); Schulz, bei: Kelm, ZG 1991, S. 73 (74); Schwanengel, DÖV 2004, S. 553 (554); Stern, Staatsrecht I, § 19 III. b) β); Stettner, in: Dreier, GG, Art. 70, Rn. 39; politikwissenschaftlich: Laufer / Münch, Föderatives System, S. 133; Backert, BayVBl. 2006, S. 129 ff. 272 BVerfGE 37, 363 (390) etwa spricht von einer „weitgehenden und im Laufe der Verfassungsentwicklung zunehmenden Konzentration der Gesetzgebungszuständigkeiten beim Bund“. 273 Etwa Blanke, ZG 1990, S. (1) 3 ff.; Calliess, DÖV 1997, S. 889 (890); Scholz, ZG 1991, S. (26) 28; Grawert, Der Staat 1979, S. 229 (248); Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 349 f.; Ossenbühl, Länderbericht Deutschland, S. 117 (152)¸ Scholz, ZG 1991, S. 26 (28). 274 Z. B. Bullinger, AöR 96 (1971), S. 237 (239); Hendler, ZG 1987, S. 210 (212); Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 406; Papier, 50 Jahre Bundesstaatlichkeit, S. 341 (342); früh bereits Geiger, Mißverständnisse um den Föderalismus, S. 23. 275 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 344; Huber, Gutachten, S. D 15.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Gründe dafür liegen in der Übergangsregelung des Art. 125 GG, der die Fortgeltung alten Reichsrechts im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung vorsah, und seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht 276, nach der dieses Reichsrecht eine Sperrwirkung gegenüber der Landesgesetzgebung entfaltete. Damit waren entscheidende Weichenstellungen zuungunsten der Länder vorgenommen worden 277. Dazu kamen dann die zahlreichen Änderungen des Grundgesetzes, durch welche die Kompetenzkataloge der Art. 73, 74, 75 GG jahrzehntelang kontinuierlich zugunsten des Bundes erweitert worden sind 278. Durch 35 Verfassungsänderungen hat der verfassungsändernde Gesetzgeber Kompetenzen der Länder auf den Bund übertragen (vgl. z. B. Art. 74 Nr. 4a, 10a, 11a, 19a, 24 GG sowie Art. 74a GG) 279. Auf der anderen Seite hat der Bund von den ihm grundsätzlich offenstehenden Kompetenzen extensiv Gebrauch gemacht 280. Nahezu alle wichtigen Gesetzgebungskompetenzen liegen beim Bund. Den Ländern sind nur wenige Materien verblieben. Dabei handelt es sich inhaltlich meistens um politisch wenig bedeutsame oder auf Ausfüllung beschränkte Gebiete 281. Dies betrifft rechtlich insbesondere die konkurrierende, aber auch die vormalige Rahmengesetzgebung. Deren Kataloge waren ursprünglich dazu gedacht, den Ländern einen angemessenen Raum eigener Gesetzgebung zu bewahren. Art. 72 Abs. 2 GG war ein Versuch, eine Barriere gegen eine Zentralisierung der Gesetzgebung zu errichten 282. Diese Bemühungen wurden vom Bundesgesetzgeber – unterstützt vom Bundesverfassungsgericht – erfolgreich unterlaufen. Die Kompetenzkatalo276
BVerfGE 1, 283. Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 419 f., 202 ff. 278 Battis / Gusy, Staatsrecht, S. 174, 183; Bülow, HbVerfR, § 30, Rn. 22; Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (215); Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 50, Rn. 16; Maunz / Papier, Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht, Rn. 26; Papier, NJW 1997, S. 2841 (2847); Ossenbühl, DVBl. 1989, S. 1230 (1233); Rennert, Der Staat 1993, S. 269 (275); Rührmair, Der Bundesrat, S. 118; Schenke, ParlRParlPr, § 55, Rn. 61; Volkmann, DÖV 1998, S. 613 (618). 279 Schaub, Der verfassungsändernde Gesetzgeber, S. 202 ff., 258 ff.; Huber, Gutachten, S. D 15 spricht von 19 relevanten Änderungen; vgl. a. Hofmann, HbStR I, § 9, Rn. 74 ff.; Robbers, NJW 1989, S. 1325 ff. 280 Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (215); Ossenbühl, DVBl. 1989, S. 1230 (1233); Rührmair, Der Bundesrat, S. 118; Sannwald, ZG 1994, S. 134 (134 f.); Schenke, ParlRParlPr, § 55, Rn. 61; Scholz, ZG 1991, S. 26 (28); Schulz, bei: Kelm, ZG 1991, S. 73 (74). 281 Dazu zählen nur noch die Zuständigkeit für den Aufbau und das Verfahren ihrer Behörden, das Kommunalrecht, die Kultur (Medien, Schulen u. s.w.), das Polizei- und Ordnungsrecht, das Bauordnungsrecht, das Denkmalschutz- und Umweltrecht; vgl. Pernice, in: Dreier, GG, Art. 30, Rn. 18; Rennert, Der Staat 1993, S. 269 (275) m.w. N.; Bülow, HbVerfR, § 30, Rn. 22. 282 BVerfGE 106, 62 (142) m.w. N.; Ossenbühl, DVBl. 1989, S. 1230 (1233); Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 231. 277
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ge der Länder sind daher weitgehend ausgehöhlt. Dies betrifft die Landtage, denen ihre ureigenen demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten genommen werden. Zu Recht ist von einem Bedeutungsverlust der Landesparlamente die Rede. Offenbar haben die Landesregierungen bei der Zustimmung zu Kompetenzverschiebungen „ihre“ Parlamente nicht hinreichend geschützt. Die ständige Klage in der Literatur erfolgte und erfolgt daher zu Recht. Rechtspolitisch ist daher zu erwägen, an kompetentiellen Verfassungsänderungen diejenigen zu beteiligen, die faktisch betroffen sind: die Landtage. Dies könnte mit einer Zustimmungspflicht der Parlamente in den Ländern geschehen 283. An dieser Stelle tritt eine weitere Differenz in der Bewertung dieses Sachverhalts durch Recht und Politik zutage. Die Politik teilt nicht die juristische Klage über den Bedeutungsverlust der Landesparlamente und die angebliche Kompensation durch die Mitbestimmung im Bundesrat. Dies ist aus Sicht der Landesregierungen durchaus attraktiv 284, denn sie erhält ein Mitspracherecht bei der Bundesgesetzgebung, ohne mit den eigenen Landesparlamenten aufwendige Gesetzgebungsprozesse durchführen zu müssen. Man muß nicht so weit gehen und den Landesregierungen die Ausschaltung der Volksvertretung 285 im Lande unterstellen. Jedoch kann es für die Politik bequemer sein, die von den jeweiligen Ministerialbürokratien auf der dritten Ebene zwischen Bund und Ländern vorbereiteten Gesetzentwürfe zwischen den Exekutiven anstatt mit dem eigenen Parlament zu verhandeln. Entscheidender ist die finanzielle Komponente. Aufgrund der Übernahme von Kosten durch den Bund kamen Kompetenzverschiebungen und das Ausschöpfen der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund den Ländern gelegen. Der Vorwurf der Kompetenzerosion, der in der Literatur auch an die Regierungspolitik in den Ländern gerichtet wird 286, ist im Ergebnis zum Teil berechtigt, muß aber aufgrund der finanziellen Sachzwänge, in denen die Ministerpräsidenten stecken, relativiert werden. Es besteht daher auch unter diesem Gesichtspunkt ein Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und Finanzverfassung. Angesichts dieses Befundes zur Kompetenzerosion durch das Verhalten des einfachen Gesetzgebers und damit der Politik stellt sich die Frage nach deren Umgang mit dem Verfassungsrecht (dazu sogleich). Einen geneigten Unterstützer 283
So der Vorschlag der Konferenz der Präsidenten der Landesparlamente vom 14. Januar 1983, ZParl 1983, S. 358; ferner Meyer-Teschendorf, DÖV 1994, S. 771 f.; Nordrhein-Westfälische Kommission Bundesstaatliche Ordnung, Teil 2, S. 66; ebenso Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 39 (55); umfassend dazu jüngst Grimm / Hummrich, DÖV 2005, S. 280 ff. 284 Heitsch, Ausführung der Bundesgesetze, S. 198; Ellwein, Der Entscheidungsprozeß im Bundesrat, S. 215 (232); Ellwein / Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 108, 298; vgl. a. Sachs, VVDStRL 58 (1999), S. 37 (55). 285 Ellwein, Der Entscheidungsprozeß im Bundesrat, S. 215 (232). 286 Z. B. Ellwein, Der Entscheidungsprozeß im Bundesrat, S. 215 (232).
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fand die Politik zeitweise im Bundesverfassungsgericht, das seine Aufgabe als Hüter der Verfassung jedenfalls im Bereich des Bundesstaatsrechts phasenweise einseitig zugunsten des Bundes wahrgenommen hat. 2. Verschiebungen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt kein einheitliches Bild. Dies zeigen übereinstimmend verschiedene Untersuchungen 287. Das gilt grundsätzlich auch für die Gesetzgebung. Hier läßt sich aber nachweisen, daß Unitarisierungstendenzen im Bereich der Legislative erheblichen Einfluß auf das Gesamtgefüge des Bundesstaates haben 288. Dazu kommt, daß das Bundesverfassungsgericht keinen Beitrag zu einer Bundesstaatslehre unter dem Grundgesetz geleistet hat. Die wird von Seiten der Literatur bisweilen bemängelt. Zu Unrecht, da es Aufgabe des Gerichts ist, Einzelfälle zu entscheiden. Die entscheidende Entwicklung des Bundesstaatsrechts und damit die unitarische Verformung gingen weniger vom Bundesverfassungsgericht als vielmehr von der Politik aus. Das Gericht begünstigte aber diese Entwicklung. Selbst wenn das Gericht eine Theorie entworfen hätte, müßte diese noch keine Auswirkungen auf das Ergebnis des jeweiligen Urteils haben. Denn es lassen sich viele Urteile finden, in denen das Gericht theoretische Ausführungen macht, um aber im Ergebnis sich nicht an diese zu halten 289. Allein daher kann auf die theoretischen Ausführungen, die als etwa länderfreundlich gewertet werden, nicht viel gegeben werden. Entscheidend ist das Ergebnis, das eine politische Entscheidung sanktioniert oder duldet. Unterschiedlich sind freilich die Auswirkungen. Deswegen hilft auch eine rein quantitative Betrachtung durch eine Gegenüberstellung von im Ergebnis länderund bundesfreundlichen Urteilen nicht weiter. Die größte Bedeutung hat die Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F., der vormaligen Bedürfniskeitsklausel. Sie hat einen großen unitarischen Schub ausgelöst, da diese Norm öfter 287 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 185 ff.; 329 ff.; Karpen / von Rönn, JZ 1990, S. 579 ff.; Karpen / Becker, JZ 2001, S. 966 ff.; Hendler, ZG 1987, S. 210 (218); Benda, Föderalismus in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 71 ff.; Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, S. 252 f.; Korioth, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundesstaat, S. 391 ff.; Backert, BayVBl. 2006, S. 129 ff. 288 Hendler, ZG 1987, S. 210 (227). 289 So im Altenpflege-Urteil, vgl. dazu Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 351 ff.; auf den Unterschied zwischen Begründung und Ergebnis weist auch Oeter, Integration und Subsidiarität S. 230 hin. Ebenso die Rechtsprechung zur Rahmengesetzgebung, die einerseits den bloßen Rahmencharakter aufrechterhält, aber doch nichtkonkretisierungsfähige Regelungen zuläßt (s. u.).
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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zur Anwendung gelangt als etwa ein Kompetenztitel. Dieser Vorschrift, die als föderative Bremse ursprünglich konzipiert war 290, nahm die Rechtsprechung in der Verfassungspraxis faktisch die Bedeutung, indem sie sie als nicht justiziabel bewertete. Die Bedeutung dieser Rechtsprechung tritt auch in folgendem Umstand zutage: Die Politik wurde in der Begründung des Bedarfs nach bundeseinheitlicher Regelung zunehmend nachlässiger und begnügte sich damit, das Bedürfnis zu behaupten, anstatt es zu begründen 291. Dies nimmt auch nicht wunder, wenn die Rechtsprechung es in ihr Ermessen stellt: Ermessen wird damit zum Belieben. An bedeutsamer Rechtsprechung zur Unitarisierung der Gesetzgebung ist hier die Judikatur zu Art. 72 Abs. 2 GG a. F., zur Rahmengesetzgebung, zu den ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen sowie die bundesfreundliche Auslegung der einzelnen Zustimmungstatbestände zu nennen. a) Die ständige Rechtsprechung Die Tendenz des Bundes, Gesetzgebungskompetenzen an sich zu ziehen, wurde unterstützt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG a. F. Nach dieser Vorschrift durfte der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nur dann tätig werden, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestand. Zu dieser sog. Erforderlichkeitsklausel entschied das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, daß sie „ihrer Natur nach nicht justiziabel sei und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen“ 292 ist. Damit begab es sich der Möglichkeit, die bundesstaatliche Ordnung und die Länderkompetenzen zu schützen, und gab die Vorschrift dem Zugriff des Bundes preis. Die ursprüngliche Funktion der Vorschrift, die Länderkompetenzen zu schützen, wurde damit aufgegeben. Mit Änderung des Art. 72 GG a. F. 293 und Einfügung von Art. 94 Abs. 1 Nr. 2a 290 BVerfGE 106, 62 (142) m.w. N.; Ossenbühl, DVBl. 1989, S. 1230 (1233); Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 231. 291 Schmehl, DÖV 1996, S. 724 (729). 292 BVerfGE 33, 224 (229); ferner z. B. BVerfGE 2, 213 (224 f.); 4, 115 (127 f.); 10, 234 (245); 13, 237 (239); 26, 338 (382 f.); 33, 224 (229); 65, 1 (63); 67, 299 (327); aus der Literatur zu Art. 72 I GG a.F. vgl. Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 72, Rn. 24; Jarass / Pieroth, Art. 93, Rn. 28; Kenntner, Justitiabler Föderalismus, S. 156; Krüger, BayVBl. 1984, S. 545 (548 ff.); Müller, Auswirkungen der Grundsatzrevision, S. 64 f.; Sturm, in: Sachs, GG, Art. 93, Rn. 50; Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, S. 252 (260 ff.); Oeter, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 72, Rn. 114; Engels, Chancengleichheit und Bundesstaatsprinzip, S. 101. 293 Vgl. dazu Calliess, DÖV 1997, S. 889 ff.; Rybak / Hofmann, NVwZ 1995, S. 230 ff.; Knorr, Die Justitiabilität der Erforderlichkeitsklausel, passim; Kröger / Flemming, BayVBl. 1997, S. 705 ff.; Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, passim; Schmehl, DÖV 1996, S. 724 ff.
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GG, nach dem das Bundesverfassungsgericht „bei Meinungsverschiedenheiten [entscheidet], ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. entspricht“, strebte der verfassungsändernde Gesetzgeber eine Revision dieser Rechtsprechung an. Mit dem sog. Altenpflegeurteil vom 24. Oktober 2004 294 hat das Gericht seine bisherige Rechtsprechung zu Recht aufgegeben. In die Judikatur zu Art. 72 Abs. 2 GG a. F. fällt auch die Bestimmung des Umfangs der Sperrwirkung von Bundesrecht. Um die Sperrwirkung herbeizuführen, muß der Bund dem Bundesverfassungsgericht zufolge die Materie „regeln“, mithin selbst und materiell alles oder etwas bestimmen, einschließlich solcher Bestimmungen, nach denen Teile der Materie ungeregelt bleiben sollen 295. Es reicht also bloß eine inhaltliche Vorschrift des Bundesgesetzgebers aus, um eine volle Sperrwirkung zugunsten des Bundesrechts zu entfalten. Auch die Rechtsprechung zur Rahmengesetzgebung begünstigte den Bund und benachteiligte die Länder. Obwohl der Bund hier grundsätzlich nur den Rahmen für die Landesgesetzgebung vorgeben soll, ist er nach dem Bundesverfassungsgericht befugt, auch Einzelheiten zu regeln 296 und damit nicht auf eine Art Richtliniengesetzgebung beschränkt. Daß das Gericht gleichzeitig betont, es müsse den Ländern „etwas von substantiellem Gewicht“ und „Raum für Willensentscheidungen in der sachlichen Rechtsgestaltung“ belassen werden, ändert nichts an der verfassungsgerichtlichen Genehmigung von Aktivitäten des Bundes, konkrete Detailregelungen zu treffen, die nicht weiter konkretisierungsfähig sind. Die Rahmengesetzgebung hat sich damit zu einer verkappten Vollgesetzgebungskompetenz für den Bund entwickelt 297. Zur Vollständigkeit des Bildes gehört aber auch, daß in der Auslegung der einzelnen Kompetenztitel weder eine Bevorzugung des Bundes noch eine länderfreundliche Rechtsprechung erfolgt. Es lassen sich Beispiele für die eine oder andere Richtung finden. Dementsprechend finden sich auch unterschiedliche Beurteilungen im Schrifttum 298. Eine durchgängige Tendenz ist nicht erkennbar 299. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, daß eben auch eine länderfreundliche Rechtsprechung fehlt. Angesichts der seit langem bestehenden Tendenz der 294
BVerfGE 106, 62 (135 ff.). BVerfGE 20, 238 (248 ff.); BVerfG, NJW 1988, S. 1899. 296 BVerfGE 4, 155 (127 ff.); 66, 270 (285 m.w. N.). 297 Rührmair, Der Bundesrat, S. 119, Scholz, Deutschland, S. 157; ferner Hendler, ZG 1987, S. 212 (217). 298 Hendler, ZG 1987, S. 212 (218); weite Auslegung der Titel nach Auffassung von Katz, Staatsrecht, Rn. 426; Majer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 41; länderfreundlich gedeutet bei Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 236. 299 Hendler, ZG 1987, S. 212 (218); Scholz, Ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, S. 250 (257): „Weite oder enge Kompetenzauslegungen wechseln fast ständig“. 295
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Aushöhlung bestünde noch Spielraum des Gerichts, sich als Hüter der bundesstaatlichen Ordnung zu betätigen. b) Exkurs: Die neue Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG n.F. Mit dem Altenpflegeurteil gab das Gericht seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich auf. „Ein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Spielraum besteht nicht“ 300. Das grundsätzlich bestehende Gesetzgebungsrecht der Länder dürfe nur unter „bestimmten tatsächlichen Voraussetzungen beschränkt werden“ 301. Gleichzeitig urteilte es aber auch: „Die Reichweite gerichtlicher Nachprüfung der Tatbestandsmerkmale hängt von ihrer Konkretisierungsfähigkeit und der Weite eines dem Bundesgesetzgeber einzuräumenden Einschätzungsspielraums bei der Ermittlung von Tatsachen und bei Prognosen tatsächlicher Entwicklungen ab“ 302. Für „die Feststellung künftiger Entwicklungen, von denen die Erforderlichkeit i. S.v. Art. 72 Abs. 2 GG abhängt, hat der Gesetzgeber einen Prognosespielraum“ 303. Diese Rechtsprechung hat das Gericht im Kampfhunde-Urteil vom 16. März 2004 304 ausdrücklich bestätigt. Im Ladenschluß-Urteil 305 (9. Juni 2004) und in der Entscheidung zu Studiengebühren 306 (26. Januar 2005) prüft es demgemäß, ob die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen. Auch das Urteil zur Juniorprofessur vom 27. Juli 2004 307 bestätigt ausdrücklich den Wechsel zu Justitiabilität der Norm. Diese Rechtsprechung behält auch nach der Föderalismusreform ihre Gültigkeit, da Art. 72 Abs. 2 GG n.F. in seinen inhaltlichen Voraussetzungen unverändert bleibt, wenn er auch in seinem Anwendungsbereich auf dort aufgezählte Materien des Art. 74 Abs. 1 GG beschränkt wurde 308. In der Tat besteht ein Bedürfnis an einer hohen Kontrolldichte. Nur auf diese Weise können die Gesetzgebungskompetenzen der Länder vor weiterer Auszeh300 BVerfGE 106, 62 (135); Anmerkungen dazu aus der Literatur: Jochum, NJW 2003, S. 28; ebenfalls zustimmend Calliess, EuGRZ 2003, S. 181 (193); differenzierend Faßbender, JZ 2003, S. 332 (338), der „nur, aber immerhin von einer Absichtserklärung“ spricht; abwartend auch Huber, Gutachten, S. D 16.; skeptisch hingegen Brenner, JuS 2003, S. 852 (854); Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 353; Depenheuer, ZG 2003, S. 185; vgl. auch Korioth, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundesstaat, S. 391 ff. 301 BVerfGE 106, 62 (143). 302 BVerfGE 106, 62 (143). 303 BVerfGE 106, 62 (151). 304 BVerfGE 110, 141 (175). 305 BVerfGE 111, 10 (28 ff.). 306 BVerfGE 112, 226 (244 ff.). 307 BVerfGE 111, 226 (255). 308 Vgl. BT-Drs. 16/813, S. 11.
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rung bewahrt werden. Dagegen vermag auch nicht eingewendet zu werden, die Tatbestandsmerkmale von Art. 72 Abs. 2 GG seien inhaltlich unbestimmt, weshalb den „zur Konkretisierung berufenen politischen Instanzen de facto große Spielräume in der Auslegung und Konkretisierung“ 309 zukämen; mit hoher Kontrolldichte würde die Verlagerung von gestalterisch-politischer Entscheidungsverantwortung auf die Ebene des Verfassungsrechts“ 310 fortgesetzt. Gerade in diesem Fall tritt neben der ermöglichenden Funktion deutlich die Begrenzungsfunktion des Verfassungsrechts gegenüber der Politik hervor. Hier ist die Begrenzungsfunktion von großer Bedeutung, da die Politik offenbar nicht zu einer Selbstbeschränkung in der Lage ist. VI. Recht oder Politik? Die Finanzverfassung als Verflechtungsursache in der Gesetzgebung 1. Zum Zusammenhang von Gesetzgebung und Finanzverfassung im demokratischen Bundesstaat Nach Art. 84 Abs. 1 GG wurde Art. 105 Abs. 3 GG mit 28,5 % als zweithäufigste die Zustimmung auslösende Vorschrift genannt. Danach bedürfen Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) ganz oder zum Teil zufließt, der Zustimmung des Bundesrates. Im Gegensatz zu Art. 84 Abs. 1 GG jedoch besteht hier kein Spielraum des Bundesgesetzgebers hinsichtlich der Zustimmungspflicht, da die in Art. 105 Abs. 3 GG genannten Gesetze verfassungsrechtlich bestimmt sind. Weil sich das Zustimmungserfordernis „über“ Steuern erstreckt, also schlechterdings alle Bundesgesetze erfaßt sind 311, die sich mit auch nur einer dieser Steuern befassen, wird dieses Zustimmungserfordernis sehr schnell ausgelöst. Es handelt sich bei Art. 105 Abs. 3 GG um eine der sonstigen Vorschriften, bei denen – im Gegensatz zu Art. 84 Abs. 1 GG – das Gesetz aufgrund seines materiellen Gehalts selbst, nicht aufgrund formeller Regelungen, zustimmungsbedürftig ist. Von diesen Normen stellt Art. 105 Abs. 3 GG die wichtigste dar. Um die Zustimmungsquote und damit die Verflechtung zu senken, muß neben Art. 84 Abs. 1 GG auch hier angesetzt werden. Im Fall des Art. 105 Abs. 3 GG ist die Zustimmung des Bundesrates allerdings unverzichtbar, weil der Bund auf die Finanzen der Länder einwirkt. Verfassungspolitisch wäre daher eine Abschaffung oder Relativierung des Zustimmungsvorbehaltes als solchem in Art. 105 Abs. 3 GG 309 Oeter, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 72, Rn. 113; ferner Isensee, Der Bundesstaat, S. 719 (744 f.); Selmer, Bund-Länder-Streit, S. 563 (582 f.); Behmenburg, Kompetenzverteilung in der Berufsausbildung, S. 170, 197. 310 Neumeyer, Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, S. 166. 311 Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 105, Rn. 63.
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nicht wünschenswert und mit Grundaussagen der Bundesstaatsverfassung nicht vereinbar. Die einzige Lösung kann daher nur in der Finanzverfassung liegen. Erforderlich ist die Abschaffung des steuerlichen Verbundsystems, das derzeit für mehr als zwei Drittel 312 aller Steuern gilt. Denn Bundesgesetze über Steuern, die Ländern oder Gemeinden zufließen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Bei Wegfall dieser Mischsteuern würde auch die Zustimmungspflicht entfallen. Nahezu alle Steuergesetze sind Bundesgesetze. Die Länder verfügen über keine bedeutsame Steuerhoheit. Da die bundesstaatliche Finanzverfassung derzeit als Verbundsystem organisiert ist, in dem die Steuern zum Teil Bund und Ländern gemeinsam zufließen, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und Finanzverfassung. Er ist (verfassungs-)rechtlicher Natur. Im Falle der eingangs genannten Steuerreform 2000 gelang es dem Bund, mittels Ergänzungszuweisungen einige Bundesländer auf seine Seite zu ziehen. Dieser Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und Finanzverfassung ist ein politischer, kein zwangsläufiger und damit rechtlicher. Die Finanzverfassung ist offenbar so ausgestaltet, daß eine finanzielle Abhängigkeit der Länder vom Bund besteht und Gelder letztlich nach Belieben zwischen beiden Ebenen hin- und hertransferiert werden können. Von eigenständigem Entscheidungsspielraum der Länder und Lossagung von Parteipolitik im Bundesrat 313 kann daher nicht die Rede sein. Weder eine hohe Zustimmungsquote noch eine Abhängigkeit können wünschenswert sein. Rechtspolitische Überlegungen im Bereich der Gesetzgebung haben sich daher an diesem Zusammenhang zu orientieren. Reformen nur in einem Bereich sind aufgrund des Zusammenhangs nicht zielführend und nicht ausreichend.
Es besteht ein weiterer Zusammenhang zwischen Finanzverfassung und Gesetzgebung. Oben wurde darauf hingewiesen, daß aufgrund der Kostenübernahme durch den Bund den Ländern der Verzicht auf eigene Kompetenzen gelegen kam. Bereits in den 50er Jahren mischte sich der Bund zunehmend in Landeskompetenzen ein, z. B. indem er Vorhaben finanzierte, die außerhalb seiner Zuständigkeit lagen. Möglich war dies aber nur, weil einige Länder auf Zuschüsse angewiesen waren und sich die Landespolitiker wenig sensibel hinsichtlich der föderativen Balance zeigten 314. Der Tausch Kostenübernahme gegen Kompetenzen spricht freilich nicht für die Zentralisierung der Gesetzgebung, sondern gegen die Finanzverfassung, die den Ländern kaum eigenen finanziellen Spielraum eröffnet und mittelbar eigene demokratische Willensbildung beschränkt. Daß eine schlechte Finanzausstattung den Willen und die Fähigkeit zu eigener Gesetzgebung und damit originärer demokratischer Willensbildung unterdrückt, ergibt sich auch umgekehrt aus der Tatsache, daß die wirtschaftlich starken Län312
75, 8 % (Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 106, Rn. 12; Scholz, Deutschland, S. 159). So aber z. B. Rührmair, Der Bundesrat, S. 61. 314 Münch, APuZ 13/1999, S. 3 (8); Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich, S. 89, 170, 175. 313
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
der, die der Hilfe des Bundes entbehren können, wie etwa Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder Bayern, gegen die Abwanderung originärer Gesetzgebungskompetenzen zugunsten von Mitbestimmung im Bund protestieren. In diesen Ländern besteht der Wille zu Selbstverantwortung und damit zu eigener demokratischer Willensbildung. Der Vorwurf der Kompetenzverschiebung geht daher neben dem Bund und den Länderexekutiven auch an die defizitäre Finanzverfassung, die auch unter dem Aspekt der Kompetenzverschiebung Auswirkungen auf die Gesetzgebung und damit die Demokratie besitzt. Dem läßt sich auch nicht mit weiterer finanzieller Umverteilung im bundesstaatlichen Finanzausgleich begegnen. Denn der Verflechtungsgrad in der Finanzverfassung ist bereits jetzt kaum noch zu steigern und weitere Umverteilung nähme den Ländern jeden Anreiz zu selbstverantwortlichem staatlichen und wirtschaftlichen Handeln. Die hohe Zustimmungsquote ergibt sicht damit entweder aus der Regelungswut des Bundes beim Verwaltungsverfahren, ist also politisch begründet, oder aus der Finanzverfassung (Ausgestaltung der Steuern), also eine rechtliche Ursache. Die aber ihrerseits durch Verfassungsänderungen politisch begründet ist. Die Kompetenzerosion hat zum Teil politische Ursachen, ist gleichzeitig aber eine zwangsläufige Folge der Finanzverfassung. Die anhand der Zustimmungsquoten ermittelte Bedeutung von Verwaltungsverfahren und Finanzgesetzgebung bestätigt damit den obigen Befund, nach dem diese beiden Bereiche ursächlich für föderale Interessenkonflikte im demokratischen Bundesstaat sind. 2. Zum Zusammenhang von Geld und Macht im Bundesstaat Die Finanzverfassung ist damit in mehrerer Hinsicht für Qualitätsverluste in der Gesetzgebung (mit-)verantwortlich. Sie begünstigt politisch und finanziell gesehen rationales, unter bundesstaatsrechtlichem und demokratischem Blickwinkel bedenkliches Handeln. Die Kompetenzerosion hat politische Ursachen und wird begünstigt durch die Finanzverfassung. Die hohe Zustimmungsquote beruht neben den Eingriffen des Bundes in die Verwaltungshoheit der Länder (Art. 84 Abs. 1 GG) auf Art. 105 Abs. 3 GG, der Steuern regelt, die Bund und Ländern gemeinsam zufließen. Die Möglichkeit der fallweisen Bundesergänzungszuweisungen ermöglicht es dem Bund, nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten den Ländern Gelder zukommen zu lassen und dies von Gegenleistungen abhängig zu machen. Dabei kann es sich um die Zustimmung zu Gesetzesvorhaben im Bundesrat handeln. Aufgrund der schlechten finanziellen Lage einiger Länder, bleibt ihnen keine andere Wahl, als sich auf den Handel einzulassen. Daher besteht keine echte Entscheidungsfreiheit der betreffenden Bundesratsmitglieder. Mittelbar begünstigen die Finanzverfassung und ein schlechter politischer Stil den Qualitätsverlust des Gesetzgebungsverfahrens. Als Qualität des Gesetzgebungsverfahrens läßt sich die Gesamtheit der Anforderungen der Gesetzgebungslehre verstehen, die an die Methodik der Gesetzge-
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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bung gestellt werden. Dazu zählt auch der Grundsatz sorgfältiger und rationaler Entscheidungsfindung, der eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist 315. Die Methodik der Gesetzgebung stellt nicht etwa nur ein sozialwissenschaftliches Postulat, sondern eine Verfassungspflicht 316 dar. Auch im Bundesstaatsrecht ist Geld ein Mittel zur Lenkung der Staatstätigkeit. Die finanzielle Ausstattung dient der Zuweisung realer Handlungsmöglichkeiten und damit letztlich von Macht. Der Grad der Ausstattung von Handlungseinheiten mit Finanzmitteln ist mitbestimmend für ihr Machtpotential. Neben die Ermächtigung zum Erlaß von Normen tritt so, rechtlich und politisch gleichwertig, die Ermächtigung, Geld einzunehmen und es für beliebige Staatszwecke auszugeben. Diese für das Haushaltsrecht und die Verwaltungswissenschaften anerkannten Grundsätze 317 gelten auch für den demokratischen Bundesstaat und das Verfassungsrecht. Zwar werden Mittel nicht durch einen Haushaltsplan, sondern durch die Finanzverfassung zugewiesen, die Rechtsbefehle sind keine Verordnungen oder Verwaltungsakte und die Ermächtigung zu diesen erfolgt nicht durch einfaches, sondern durch Verfassungsrecht. Die Prinzipien gelten aber auch hier. Insbesondere die Gleichung Geld = Macht. Eine schlechte Finanzausstattung läßt die Länder schneller einer Kompetenzverlagerung zustimmen. Die Möglichkeit der Finanzzuweisungen ermöglicht den Stimmenkauf im Bundesrat. Die Gemeinschaftsaufgaben erzeugen eine erhebliche Anzahl zustimmungsbedürftiger Gesetze. All dies bewirkt eine Unitarisierung und Verflechtung des Bundesstaates und die Machtsicherung des Bundes gegenüber den Ländern. Insofern besteht nicht nur eine „Anziehungskraft des größeren Etats“ 318, sondern auch die Macht des größeren Etats. Die Auswirkungen sind im Bundesstaatsrecht beträchtlich. Es steht die Verletzung von Verfassungsrecht zu befürchten. Durch den Zusammenhang zwischen Finanzverfassung und Gesetzgebung besteht erhebliche Ausstrahlungswirkung auf die Staatsfundamentalnormen des Grundgesetzes: Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat. Für die Untersuchung des Falles Steuerreform 2000 kommen nach dem Gesagten als verletzte Verfassungsnormen das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das 315 Hill, Jura 1986, S. 286 (292); Lerche, Mitbestimmungsgesetz und Rationalität, S. 437; Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 173, der das Rationalitätsgebot aber dem Demokratieprinzip entnimmt; ähnlich Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 267: „in enger Verbindung mit dem Demokratieprinzip“. Dazu näher unten 7. Kap., C. III. 3. b). 316 Hill, Jura 1986, S. 286 (291) mit Verweis auf Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 173 ff.; Goerlich, JR 1977, S. 89; Breuer, Der Staat 1977, S. 40; Lerche, Ausgleich durch gesetzgeberisches Verfahren, S. 97 (109 ff., 114); Scholz / Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 53. 317 Vogel / Waldhoff, in: BK-GG, Vorbem. zu Art. 104a-115, Rn. 314; vgl. v. Mutius, Die Steuerung des Verwaltungshandelns, S. 191 ff.; Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, S. 326 ff. 318 Popitz, Der Finanzausgleich, S. 338 (348 f.).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Bundesstaatsprinzip, das Prinzip der rationalen und sorgfältigen Entscheidungsfindung in Frage. Das wird bei der Begutachtung des Falles eingehend zu untersuchen sein.
3. Rechtspolitische Konsequenzen Rechtspolitisch kommt daher der Entmischung der Finanzverfassung auch im Hinblick auf die Qualität der Gesetzgebung große Bedeutung zu. Daß die Hoffnungen nicht allzu berechtigt sind, zeigt das Beispiel der Gemeinschaftsaufgaben in den Verhandlungen der Föderalismuskommission. Als das Thema behandelt werden sollte, waren sich Vertreter der Länder wie Vertreter des Bundes sehr schnell darin einig, daß man diese doch nicht abschaffen sollte 319. Die Länder fürchteten finanzielle, der Bund kompetentielle Einbußen. Weder der Bund wollte also mit dem Geld Macht abgeben, noch wollten die Länder auf Geldzuweisungen und damit eine komfortable Finanzquelle verzichten. Der Verflechtungsgrad der Finanzverfassung verleiht aber auch den Ländern eine erhebliche Machtposition, denn sie nutzen die Zustimmungspflicht aus Art. 105 Abs. 3 GG, um finanzielle Konzessionen des Bundes zu bekommen 320. Das gegenwärtige System der Finanzverfassung führt zwangsläufig zu gegenseitigen „Blockaden“ und zu Versuchen, den eigenen Vorteil auf Kosten anderer durchzusetzen. Der Bund kann mit direkten Zahlungen Macht ausüben, die Länder mit dem Zustimmungsvorbehalt zu Geldleistungen. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine Abschaffung der Mischfinanzierung geboten. Bereits im Interesse der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat (Senkung der Anzahl der Zustimmungsgesetze; kein Anreiz, einer Kompetenzabwanderung zuzustimmen; keine sittenwidrigen Kopplungsgeschäfte) ist das Steueraufkommen entweder dem Bund oder den Ländern zuzuschreiben und den Ländern eine eigene Steuerhoheit zu gewähren. Diese Maßnahme würde auch die Länder als Glieder demokratischer Legitimation in ihrer Eigenständigkeit und als Staaten wieder stärken. Die Beseitigung der heutigen Finanzverflechtung wäre im übrigen keine verfassungspolitische Neuerung, sondern eine Rückkehr zu der Situation von 1949, in der noch das Trennsystem bestand, aber bald unterlaufen wurde 321. Der gegenwärtige Zustand der Finanzverfassung ist eine Fehlkonstruktion 322 und wieder zugunsten eines Trennsystems abzuändern. Damit sind nicht nur positive Effekte auf die Eigenständigkeit der Länder, ihre Wirtschaftlichkeit und demokratische Legitimation zu erwarten, sondern auch auf die Qualität der Gesetzgebung. 319
Scholz, Deutschland – in guter Verfassung, S. 158. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1997/98, Tz. 345. 321 Vgl. Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich, S. 63 ff.; Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1997/98, Tz. 341. 322 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 341. 320
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Demgegenüber wird bisweilen behauptet, eine Neugliederung der Bundesländer könnte eine wirtschaftliche und damit finanzielle Gleichstellung der Bundesländer bewirken. So gesehen, könnten die verfassungspolitischen Vorbehalte armer Länder, die finanzielle Einbußen befürchten, vermieden werden. Diesem technokratischen Vorschlag, der an die Planbarkeit allen sozialen Lebens glaubt, ist nach den oben aufgestellten Grundsätzen des demokratischen Bundesstaates zu widersprechen. Denn er ist selbst durch seine Absicht der radikalen Egalisierung aller Länder Teil derjenigen Modelle vom Bundesstaat, welche die Unterschiedlichkeit im Bundesstaat verkennen und damit einseitig sind. Sie lösen den Bundesstaat von seinen tatsächlichen Grundlagen, den regionalen Unterschieden und der Tradition der regionalen Selbstbestimmung, die Voraussetzung des Bundesstaates ist. Es muß verwundern, daß nach über 50 Jahren Grundgesetz und der Identifikation – selbst mit den ehedem „künstlichen“ Ländern – diese Forderung noch immer aufgestellt wird. Den unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten ist im Bundesstaat mit einem Finanzausgleich unter den Ländern zu begegnen, der auf einen reinen Spitzenausgleich zu beschränken ist. Um die Anziehungskraft des größeren Etats und abermals eine Zentralisierung zu verhindern, sollte auf den horizontalen Finanzausgleich verzichtet werden. VII. Unitarische Vorprägung der Eliten als Ursache föderaler Streitigkeiten Oft werden die Kompetenzerosion und der extensive Gebrauch der dem Bund zur Verfügung stehenden Gesetzgebungsbefugnisse als Ursachen für Verflechtung und Unitarisierung genannt 323. Diese Sichtweise greift zu kurz und übersieht, daß diese Entwicklungen auf politischen Entscheidungen beruhen. Sie sind daher nicht Ursache, sondern Folge. Eine Gegenüberstellung von Recht und Politik ist dabei nicht ganz einfach. Recht und Politik beeinflussen sich gegenseitig. Recht ist das Produkt von Politik, gleichzeitig aber auch ihr Maßstab. Dies gilt etwa für die Verursachung unerwünschter Entwicklungen durch das Verfassungsrecht. In seiner heute vorliegenden Form ist es Produkt des verfassungsändernden Gesetzgebers und damit der Politik. Die Sphären von Recht und Politik lassen sich nicht ganz sauber trennen. Dies gilt z. B. für die deformierte Finanzverfassung oder die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben. Tatsächliche Ursache ist die unitarische Vorprägung von Gesellschaft und Rechtskultur und damit der Eliten in Politik, Rechtsprechung und Lehre, denen der demokratische Bundesstaat anvertraut ist. Allen drei Bereichen liegt die Annahme zugrunde, die einheitliche Lösung sei die bessere. Dabei können die einheitlichen Lösungen besser oder schlechter sein.
323
Z. B. Rührmair, Der Bundesrat, S. 118 f.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
1. Politik Die Politik wurde von einem Willen zu größerer Einheitlichkeit geleitet. Dabei wechseln die Motive, die Auswirkungen bleiben gleich. Stand am Ende des 19. Jahrhunderts und bis in die Weimarer Zeit die nationale Einheit im Vordergrund, ist es heute die soziale Gleichheit, die den Bundesstaat unitarisch verformt. Sämtliche politische Richtungen haben dazu beigetragen. Bereits vom Bestehen der Bundesrepublik Deutschland an ist eine zentralistische Tendenz des Bundes festzustellen 324. Dabei hatte die Verfassungspraxis unbewußt die Vorbehalte des 19. Jahrhunderts und die Vorbildwirkung älterer – einheitsstaatlicher – Demokratien ebenso im Gepäck, wie – unter anderem aufgrund personeller Kontinuitäten – das Vorverständnis der Weimarer Reichsverfassung, die wesentlich zentralistischer konstruiert war als das Grundgesetz. So kam es in den ersten zwei Jahrzehnten des Grundgesetzes infolge einer aggressiven Politik des Bundes gegenüber den Ländern zu einer Verschiebung der Gewichte zugunsten des Zentralstaates, insbesondere im Bereich der Gesetzgebung und der Finanzverfassung 325. Das bundesstaatlich wenig sensible Verhalten der 50er und 60er Jahre wurde fortgesetzt von seiten derer, die das Ende der Adenauer-Ära mit weitreichenden Umgestaltungen der inneren Strukturen der Bundesrepublik Deutschland festschreiben wollten 326. Die bestehende unitarische Verfassungspraxis wurde in den sechziger Jahren durch Verfassungsänderungen legitimiert. Dazu zählt etwa die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben. Zu diesen Verfahrensfragen gesellten sich materielle, teils ideologisch begründete Politikziele, wie etwa in der Bildung, deren „soziale Öffnung“ betrieben werden sollte, und die nur vordergründig als verfassungsrechtlicher Streit daherkamen, und viele Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu Bund-Länder-Fragen verursachten 327. Vorherrschend wurde das Ziel der Gleichheit gegenüber der Freiheit und damit der Uneinheitlichkeit. Das gilt bis heute. Nur haben die Motive und Ursachen gewechselt. Oben wurde dazu dies bereits ausgeführt: Stets stand der Einheitsstaat als das angeblich bessere Mittel gegenüber, angefangen von der Bewältigung der Nachkriegsprobleme bis heute zur sog. Globalisierung oder abermals der Bildungspolitik 328 oder jüngst zum Nichtraucherschutz 329. Der Einheitsstaat biete den Vorzug der Einfachheit, der Kosteneinsparung, der Transparenz, der Rationalität und der sozialen Gerechtigkeit. Dazu kam die herrschende Rede, der Trend 324
Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 9, 157 ff.; Münch, APuZ 13/1999, S. 3 (8). Details bei Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 9, 157 ff., 229, 567; Münch, APuZ 13/1999, S. 3 (8). 326 Ellwein, Krisen und Reformen. 327 Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 328. 328 Vgl. dazu die Vorhaben der Bundesregierung 1998 –2005 zur Juniorprofessur oder zu Ganztagsschulen; vgl. Knopp, NVwZ 2006, S. 1216 ff. 329 Vgl. Wendtland, DÖV 2007, S. 647 ff.; FAZ v. 9. Dezember 2007, S. 1 f. 325
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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gehe in Richtung Unitarisierung und Bildung größerer, übernationaler Einheiten 330. Doch vereinheitlichende Entscheidungen waren keinesfalls zwangsläufig, wie der Vergleich mit anderen Verfassungsräumen zeigt. Auch das Grundgesetz weist keinen Weg in den Unitarismus, selbst wenn man einige Entwicklungsstränge als in der Verfassung angelegt sieht, wie etwa im Sozialstaatsgebot 331, in der unitarisierenden Wirkung der Bundesgrundrechte 332 oder im Verbundsystem der Verwaltungsorganisation (s. o.): Das hohe Maß an Vereinheitlichung war nicht zwingend. Auch für den Bereich der Behördenorganisation und des Verwaltungsverfahrens, was den Zustimmungstatbestand des Art. 84 Abs. 1 GG auslöst, wurde bereits erwähnt, daß die Bundespolitik meint, auch diese Fragen regeln zu müssen. Unterschiedlichkeit wird offenbar noch nicht einmal in Verwaltungs- und Verfahrensfragen anerkannt. Der Kern der Problematik des deutschen Bundesstaatsrechts ist – abgesehen vom Sonderfall Bayern – das Mißtrauen der Eliten gegenüber der Partikulargewalt 333. Die Wahrnehmung der Landesgewalten als rechtfertigungsbedürftiger „Partikulargewalt“, denen der Bund als Wahrer von „Einheit“ und „Gemeinwohl“ gegenübersteht, ist eine in der Geschichte des deutschen politischen Denkens zutiefst verwurzelte Grundhaltung. Föderalisten haben es in der Tat in Deutschland schwer. Oft wird gesagt, diese in die Unitarisierung führenden Entscheidungen der Politik und damit des Gesetzgebers entsprächen dem Willen der Bevölkerung 334 oder der moderne Industriestaat verlange nach Vereinheitlichung 335. Sofern man diesen Argumenten mangels eindeutiger Nachweisbarkeit und außerrechtlichen Ursprungs überhaupt rechtliche Bedeutung beimessen will, sind sie nur zum Teil richtig, da sie die Haltung des Volkes zum Bundesstaat nur unvollständig beschreiben. So besteht nicht nur ein Wunsch nach weitgehender Egalisierung, sondern auch der hohe Identifizierungsgrad mit dem eigenen Bundesland, der Wille nach Erhalt der subnationalen Gliederung 336. Auch hier zeigt sich abermals die ambivalente Eigenart des deutschen Föderalismus, der auch in diesem Aspekt keine eindeutige Haltung zuläßt. Nochmals: Einer reinen Lehre ist er nicht zugänglich.
330
Isensee, Einheit in Ungleichheit, S. 139 (149). Zacher, HbStR I, § 25, Rn. 82 ff. 332 Herdegen, HbStR VI, § 129, Rn. 73; Leisner, Die bayerischen Grundrechte, S. 122. 333 Ähnlich Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 378, der dies allerdings nicht auf die Eliten beschränkt. 334 Papier, 50 Jahre Bundesstaatlichkeit, S. 341 (343); ders., FAZ v. 5. November 1998, S. 10; vgl. a. Bülow, HbVerfR, § 30, Rn. 22; ihm folgend Rührmair, Der Bundesrat, S. 120. 335 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 14, 21. 336 Grube, Föderalismus in der öffentlichen Meinung, S. 101 (113); ebenso die Umfrageergebnisse bei Reuter, Föderalismus, S. 148 f.; vgl. Leuprecht, „FöderalismuskulturBanausen“, S. 269 ff. 331
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
2. Rechtsprechung Auch in der Rechtsprechung sind unitarische Perioden erkennbar. Die Rechtsprechung agiert nicht im luftleeren Raum, sondern ist von Grundstimmung und Rechtskultur beeinflußt und prägt sie gleichzeitig. Es lassen sich bundes- wie länderfreundliche Zeiten in der Geschichte der Rechtsprechung ablesen 337. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Bilanz durchaus gemischt. Einerseits scheint in vielen Urteilen das Dogma der Wahrung der Rechtseinheit durch, auch wenn andererseits im Ergebnis zugunsten der Länder entschieden wurde. Dies lag jedoch an den extremen Fällen, die zu entscheiden waren, in denen der Bund die Länder mehrfach überfahren hatte. Sie wären nicht anders zu entscheiden gewesen. Das Gericht ging sogar so weit, den Bundesstaat als „labil“ 338 zu bezeichnen. Diese Auffassung hat das Gericht auch in späteren Entscheidungen nie aufgegeben. Es ließ deutlich erkennen, daß das Bundesstaatsprinzip als solches gegenüber den anderen Staatsstrukturprinzipien eine eher untergeordnete Rolle spielt 339. Auch hier war Ursache der unitarische Zeitgeist der Juristen, die von der wesentlich zentralistischeren Weimarer Verfassung geprägt waren. In den siebziger Jahren, in denen eine Fülle an Grundsatzentscheidungen gefällt wurde, war die Rechtsprechung deutlich unitaristischer geprägt. Dies ist auf den Reformdrang der ausgehenden sechziger Jahre zurückzuführen. In den achtziger Jahren hingegen setzte sich eine Rechtsprechung durch, welche die Erosion der Kompetenzen einzudämmen versuchte. Oben wurde bereits die besonders starke unitarisierende Wirkung der Judikatur zu Art. 72 Abs. 2 GG a. F. herausgestellt. Hier zeigt sich ein zentralistisches Vorverständnis des Gerichts. Es hat entschieden, daß den „politischen Instanzen“ ein Beurteilungsspielraum in der Frage zustehe, ob eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich sei. Mit den „politischen Instanzen“ könnten aufgrund des gleichwertigen Nebeneinanderstehens der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern ebensogut wie der Bundestag die Landesparlamente gemeint sein. Es wird aber in den Urteilen nie die Frage gestellt, welcher politischen Ebene dieser Beurteilungsspielraum zustehen soll 340. Die Länder werden in diesem Zusammenhang als eigenständige Zentren demokratischer Legitimation nicht wahrgenommen. Da das Grundgesetz bei der konkurrierenden Gesetzgebung eine materielle Vorentscheidung zugunsten des Bundes nicht trifft 341, vielmehr 337
Zum Ganzen Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 230 ff., 329 ff. BVerfGE 1, 14 (48) – Südweststaat-Urteil; 5, 34 (38). 339 Fiedler, Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, S. 67 mit Verweis auf Rudolf, Die Bundesstaatlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 233 (234). 340 Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 349 f.; ferner Schmehl, DÖV 1996, S. 724 (728); Waechter, Die Verwaltung 1996, S. 47 (69). 341 Siehe dazu im einzelnen Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 349 f. 338
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Art. 70 GG den Ländern die grundsätzliche Zuständigkeit zur Rechtsetzung verleiht, offenbart sich hier das unitaristisch-zentralistische Vorverständnis der Rechtsprechung. Dieses Vorverständnis ist in vielen Urteilen nachweisbar 342, auch wenn in den Ergebnissen die Länderposition gestärkt wurde. 3. Lehre Mittelbar erfolgte die unitarische Verformung aber auch durch die Rechtslehre. Daß die herrschende Lehre eine unitarische Vorprägung besitzt, wurde oben im Zusammenhang mit den Bundesstaatstheorien bereits erörtert. Der Bundesstaat erwies sich in diesen Modellen als reines Organisationsprinzip, als bloße Möglichkeit innerstaatlicher Gliederung. Der Bundesstaat wird überwiegend als Hilfsprinzip für andere Verfassungsgrundsätze gesehen und damit auf den Zentralstaat hin gedeutet. Entscheidende Ebene war stets der Bund. Die großen, eigentlich entgegengesetzten Denkschulen der deutschen Staatsrechtslehre deuteten den Bundesstaat entweder von der Integration oder von der Einheit her. Im Ergebnis sind sie sich damit gleich: die Betonung der Einheitlichkeit und damit die Stärkung der Bundesebene. In dieser Perspektive muß die Möglichkeit der Unterschiedlichkeit aus dem Blick geraten. Dabei stellt sich der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes trotz aller Deformierungen noch immer als Ordnung dar, welche die Pluralität politischer Leitungsgewalt vorsieht. Pluralität bedeutet dabei auch Unterschiedlichkeit. 4. Ergebnis Bemerkenswert ist die Verteilung der Verantwortung von Politik und Recht beim Umgang mit dem Bundesstaat. Im Ergebnis trifft die Politik die Hauptverantwortung für die Unitarisierung des Bundesstaates. Sie wird durch die Rechtsprechung zum Teil mitverantwortet, begünstigt oder nachgezeichnet, zum Teil wird ihr entgegengewirkt. Diese traditionell zentralistische Rechtskultur Deutschlands von Politik, Rechtsprechung und Lehre steht dabei in einem Widerspruch zu der föderalen Tradition Deutschlands. Die jeweils bestehenden Verfassungen haben stets das Bundesstaatsprinzip vorgesehen, mal stärker, mal schwächer ausgeprägt. Dabei hat sich das Grundgesetz als diejenige Verfassung herausgestellt, die von ihrer Grundkonstruktion her – mit Ausnahme der ungeeigneten Finanzverfassung – ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Einheitlichkeit und Unterschiedlichkeit jedenfalls ermöglicht. Es besteht aber auch noch unter dem Grundgesetz eine Diskrepanz zwischen Recht und Politik, zwischen Verfassungsrecht und Verfas342
Z. B. BVerfGE 15, 1 (7); 22, 180 (210); 26, 281 (294, 297); 26, 246 (254 ff.); 26, 338 (379 ff.); 33, 303 (352 f., 356f.).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
sungspraxis: Eine unitarische Grundeinstellung der Verfassungspraxis trifft auf eine Verfassung, in der gleichzeitig Einheitlichkeit und Unterschiedlichkeit angelegt sind und die daher auf die Balance zwischen diesen beiden Polen angewiesen ist. Diese Diskrepanz von Verfassungsrecht und Verfassungspraxis erzeugt ein Spannungsverhältnis, das sich in Formulierungen, wie „Bundesrat als Blockadeinstrument“, „Föderalismus als Reformbremse“ und „Demokratiedefizit“, äußert. Ein solches Spannungsverhältnis bestünde auch bei einseitiger Betonung der Partikularität. Dieses Spannungsverhältnis, nicht etwa eines zwischen Demokratie und Föderalismus, ist Ursache für Funktionsverluste und Legitimationsdefizite im Bundesstaat. Ohne mehr Willen zur Unterschiedlichkeit und Pluralität in Recht und Politik entstehen widersprüchliche Bundesstaatskonzepte und hohe Kosten, die dem Bundesstaat die Legitimation zu entziehen scheinen. Die Verfassung ist daher klüger als ihr Interpret. Daß der Bundesstaat aufgrund der unitarischen Grundhaltung der deutschen Politik- und Rechtskultur und der daraus resultierenden Entscheidungen, die nicht anders als kurzsichtig und fahrlässig bezeichnet werden können, deutliche pathologische Züge trägt, zeigt abermals, wie empfindlich er ist und daß er auf einen verantwortungsvollen Umgang angewiesen ist. Daraus folgt, daß im Bereich der Bundesstaatsverfassung eine hohe Regelungsdichte erforderlich ist. Sofern diese nicht besteht, ist eine Selbstbeschränkung des Bundesverfassungsgerichts als Hüter auch der Bundesstaatsverfassung abzulehnen und deren Vorschriften – wie etwa Kompetenztitel, das Zustimmungserfordernis – sind eng auszulegen.
C. Ergebnis, rechtspolitische Konsequenzen und Bewertung der Föderalismusreform Als Gründe für Konfliktlagen haben sich überwiegend politische, aber auch rechtliche Faktoren herausgestellt, die sich zum Teil gegenseitig bedingen. Überwiegend ist eine für bundesstaatliche Belange wenig sensible Politik für die föderalen Fehlentwicklungen verantwortlich. Dies betrifft die Ausschöpfung und Überdehnung der konkurrierenden Gesetzgebung, die Regelung des Verwaltungsverfahrens und die zentralistischen Verfassungsänderungen. Begünstigt wurde dies durch die Rechtsprechung und mittelbar die Staatsrechtslehre. Es läßt sich damit eine überwiegend unitarische Ausrichtung der Eliten feststellen, die im Gegensatz zum ursprünglich ausbalancierten Grundgesetz steht. Diese Gründe sind gleichzeitig Ursachen für die Unitarisierung des demokratischen Bundesstaates. Weiterhin haben die vorstehenden Betrachtungen ergeben, daß nicht die Grundentscheidung für den demokratischen Bundesstaat mit ihren einzelnen Ausprägungen, wie dem Verbundsystem oder dem politischen Verhalten im Bundesrat, für Dysfunktionen verantwortlich sind. Vielmehr hat der einheitsorientierte Umgang mit dem ursprünglich ausgewogenen Bundesstaat zur Unitarisierung und damit zu erhöhten Konflikten geführt. Das bedeutet, daß
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ein „unitarischer Bundesstaat“ nicht lebensfähig ist. Nur der Bundesstaat, der eine weitgehende Selbständigkeit beider Ebenen vorsieht, die im Bundesstaat verbunden sind, und damit ausgewogen ist, ist funktionsfähig. Erforderlich ist es, dem Bundesstaat die richtige Balance zwischen Einheitlichkeit und Verschiedenheit, Unitarismus und Pluralismus, Integration und Subsidiarität (wieder-)zugeben. Nur dieses dialektische Zusammenwirken, der Kompromiß zwischen widerstreitenden Prinzipien, ermöglicht einen funktionsfähigen Bundesstaat. Es ist daher der Kern eines Bundesstaatsmodells. Auch daher sind reine Lehren abzulehnen, die den Bundesstaat nur in eine Schieflage bringen würden. Nicht nur auf der verfassungstheoretischen, sondern auch auf der verfassungsrechtlichen Ebene hat sich gezeigt, daß die Lehre des Widerstreitens von Demokratie und Föderalismus nicht angebracht ist. Vielmehr hat das Grundgesetz den demokratischen Bundesstaat entworfen, in dem Demokratie und Bundesstaat zu einem neuen Verfassungstyp verschmelzen. Nochmals: Darin liegt keine Apologie des Verbundföderalismus, erst die unitarische Verformung führt zu Funktionsstörungen, die aber nicht auf einer angeblich unmöglichen Verbindung von Bundesstaat und Demokratie beruhen. Weiterhin zeigte sich auch im konkreten Verfassungsrecht, daß der demokratische Bundesstaat die reine Lehre nicht zuläßt. Stets nur führten differenzierende Urteile über ihn und seine Verfahren zu einem Bild, das ihm vollständig gerecht wird. Er ist ein gemäßigter und hochentwickelter Staat. Dem entspricht es, daß er gemäßigte Entscheidungen produziert. Bemerkenswert ist das Verhältnis von Recht und Politik in bezug auf die Ursachen von Konflikten im demokratischen Bundesstaat. Hauptquell von Deformierungen ist das Verhalten des einfachen Gesetzgebers – etwa bei der ausschöpfenden Inanspruchnahme von konkurrierender, Rahmen- oder ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen – und des verfassungsändernden Gesetzgebers, wie etwa bei der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben, und damit der Politik. Dies ist bei allen rechtspolitischen Überlegungen zu berücksichtigen: Verfassungsänderungen im Bundesstaatsrecht sind so vorzunehmen, daß möglichst wenig Spielraum für eine unitarische Politik eröffnet wird. Flankiert wurde die wenig bundesstaatsfreundliche Politik zum Teil durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Beide, Politik und Rechtsprechung, sind nicht die Ursache der Vereinheitlichung, sondern die Folge einer unitarischen Grundstimmung der Eliten, die sich rechtlich und politisch bemerkbar macht. Gegenbewegungen sind in den Modellen des Wettbewerbsföderalismus erkennbar. Hierin spiegelt sich die neoliberale Politikmode des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Aber auch hierin kann keine Lösung liegen. Abgesehen davon, daß sich nicht alle Lebensbereiche, weder im Privaten, noch im Staatlichen, für Marktmodelle eignen, ist gerade auch der Bundesstaat
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
auf bundesfreundliches Verhalten und damit auf Übereinstimmung angewiesen. Da eine reine Lehre dem Konzept des demokratischen Bundesstaates nicht innewohnt, wird eine reine Lehre ihm auch nicht zur Besserung verhelfen. Erfolgversprechend wird damit allein ein „solidarischer Wettbewerbsföderalismus“ sein. Hier wird es die Hauptaufgabe sein, das richtige Gleichgewicht zu finden. Rechtspolitisch ergeben sich daraus folgende Forderungen: Es sind – allgemein formuliert – radikale Veränderungen, die grundlegende Entscheidungen des Grundgesetzes in Frage stellen, nicht geboten, da das Grundgesetz als eine Verfassung der Ausgewogenheit konstruiert wurde; die Veränderungen müssen jedoch insoweit „radikal“ sein, als sie das im Laufe der Jahre gewachsene Geflecht vollständig beseitigen. Zu den beizubehaltenden Grundentscheidungen gehören das Verbundsystem, das Bundesratsmodell, die gemeinsame Legitimation staatlicher Entscheidungen von Bund und Ländern. Wenn nun aber der Grund für Interessenkonflikte im Bundesrat nicht die zulässige Parteipolitisierung ist, auch nicht die hohe Anzahl an Zustimmungstatbeständen und nur in einem geringen Umfange die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nicht das Verbundsystem, sondern die hohe Regelungsdichte im Verwaltungsverfahren und der Behördenorganisation und eine Selbstbeschränkung der Politik nicht zu erwarten ist, so bleibt als Lösungsansatz, um dem oben entwickelten Entflechtungsgebot zu entsprechen und die Interessenkonflikte im demokratischen Bundesstaat zu minimieren, nur die überwiegende Trennung der Gesetzgebungszuständigkeiten, da dann eine Zustimmung des Bundesrates entfällt. Dabei sind Art. 30, 70 GG zu berücksichtigen, so daß die Gesetzgebungszuständigkeiten überwiegend den Ländern zurückgegeben werden müssen. Da sich als zweite Ursache die Fehlkonstruktion Finanzverfassung erwiesen hat, sind auch unter gleichzeitiger Zuweisung eigener Steuerhoheiten an die Länder die Finanzen von Bund und Ländern vollständig zu trennen. Die Ursachen für die föderalen Streitigkeiten haben sich als unitarisierende Erscheinungen dargestellt. Nochmals: Ein Bundesstaat, der einseitig nur auf Integration ausgerichtet wird, ist nicht überlebensfähig. Der unitarische Bundesstaat ist daher keine Lösung bundesstaatlicher Probleme, sondern deren Ursache. Fraglich ist, ob die Föderalismusreform das genannte Erfordernis der Entflechtung unter Rückgabe der Kompetenzen an die Länder und des Abbaus der Mischfinanzierungen geleistet hat. Dabei soll es hier gar nicht auf die einzelnen Neuerungen ankommen. Dazu sei auf die bisher erschienene Literatur verwiesen, die das Ergebnis der Bemühungen zu Recht überwiegend skeptisch bis ablehnend beurteilt 343. Aus dem Blickwinkel von Recht und Politik ist grundsätzlicher Zweifel angebracht. Ziel der Verfassungsnovelle war es, „die Handlungs- und 343
Benz, Föderalismusreform in der Verflechtungsfalle, S. 180 (189); Degenhart, NVwZ 2006, S. 1209 ff.; Henneke, NdsVBl. 2006, S. 158 ff.; Ipsen, NJW 2006, S. 2801 ff.;
6. Kap.: Konfliktlagen bei der gemeinsamen Gesetzgebung
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Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern“ 344. Diese Zielsetzung der Politik läßt ein grundlegendes Verständnis für den sensiblen Bundesstaat vermissen, indem sie nicht die Ausbalancierung des föderalen Gleichgewichts anstrebt, sondern den Bundesstaat überwiegend unter dem Effizienzgesichtspunkt sieht und dies auch noch ausdrücklich erwähnt. Zweck des Staates ist aber nicht primär, effizient zu sein, sondern gutes Recht zu setzen 345; dazu bedarf er guten (Verfassungs-)Verfahrens- und Bundesstaatsrechts. Letztlich begab sich die Politik mit der Verfassungsreform auf einen unlauteren Weg, da sie die von ihr selbst herbeigeführte Misere (hohe Zustimmungbedürftigkeit, „Blockaden“) nicht mit einer Verhaltensänderung (Verzicht auf Regelung von Verwaltungsverfahren und Behördeneinrichtung), sondern mit einer Anpassung des Rechts zu beheben versuchte. Hier bestätigt sich, daß vorpositive Grundlagen ihren Nutzen entfalten können und die reine Rechtsdogmatik nicht weiterhilft, da das jederzeit beliebig änderbare Recht als geronnene Politik sich als nicht beständig genug erweist. Besonderen Anstoß nahm dabei der verfassungsändernde Gesetzgeber an der hohen Anzahl zustimmungspflichtiger Gesetz und der sog. Blockademöglichkeit des Bundesrates. Daher schaffte er die in Art. 84 Abs. 1 GG vorgesehene Zustimmungspflicht ab, die besteht, wenn der Bund das Verwaltungsverfahren und die Behördeneinrichtung regelt. Statt dessen führte er eine neue Art der Gesetzgebung ein: die Abweichungsgesetzgebung 346. Danach können die Länder in einem solchen Falle von der bundesgesetzlichen Regelung abweichen (Art. 84 Abs. 1 Satz 2 GG). Damit ist der Bund aber weiterhin nicht gehindert, von seiner Kompetenz nach Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG erneut Gebrauch zu machen. Ob dieser Weg erfolgversprechend sein wird, ist in Zukunft auch keine Frage des Rechts mehr, sondern der Politik. Denn es bedarf zunächst einer politischen Entscheidung, abweichend tätig zu werden. Ob und wie weit ein Bundesland von seiner Abweichungsbefugnis Gebrauch machen wird, hängt von mehreren Faktoren ab: etwa vom Willen der politischen Führung, von der finanziellen Fähigkeit oder vom Selbstbewußtsein des Landes. Die Politik als verfassungsändernder GesetzKesper, NdsVBl. 2006, S. 145 ff.; Kämmerer, NJW-Editorial 29/2006; Knopp, NVwZ 2006, S. 1216 ff.; Klein / Schneider, DVBl. 2006, S. 1549 ff.; Löwer, NJW-Editorial 14/ 2006; Merk, BayVBl. 2006, S. 298 ff.; Nierhaus / Rademacher, LKV 2006, S. 385 ff.; Mulert, DÖV 2007, S. 25 ff.; Rengeling, DVBl. 2006, S. 1537 ff.; Smith, Kommunaldienst 1/2007, S. 1 ff.; positiv Häde, ZG 2009, S. 1 (16); politikwissenschaftlich: Hrbek, JBFöd 2006, S. 139 ff.; Scharpf, APuZ 50/2006, S. 6 (10 f.); zuversichtlich zur Abweichungsgesetzgebung Mammen, DÖV 2007, S. 376 (380). 344 BT-Drs. 16/813, S. 1. 345 Vgl. dazu unten 7. Kap., C. III. 1. 346 Dazu Selmer, ZG 2009, S. 33 ff; Franzius, NVwZ 2008, S. 492 ff.; Beck, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder, passim; Klein / Schneider, DVBl. 2006, S. 1549 ff.; Mammen, DÖV 2007, S. 376 ff.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
geber hat Recht geschaffen, das wiederum Einfallstor für das Politische ist. Es ist also an den Ländern, von ihrer neuen Kompetenz Gebrauch zu machen. Die Verantwortung für die Beseitigung des Unitarismus, die Wiederherstellung des bundesstaatlichen Gleichgewichts und die Aufwertung der Länder liegt damit nach wie vor auch bei der Landespolitik. In Art. 84 GG findet sich ein weiteres Einfallstor für zentralistischen Einfluß der Bundespolitik, das durch die Föderalismusreform neu geschaffen wurde. Nach Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG bedürfen solche Gesetze der Zustimmung des Bundesrates, in denen in Ausnahmefällen der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regelt (vgl. Art. 84 Abs. 1 Satz 4 GG). Diese Ausnahmeklausel zugunsten bundeseinheitlicher Regelungen erinnert an die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a.F., welche das Bundesverfassungsgericht als nicht justitiabel bewertet und damit den politischen Spielraum des Bundes erhöht hat. Hier besteht ebenfalls die Gefahr, daß der Bund seine Ermächtigung ausdehnt und die rechtlich als Ausnahme konstruierte Klausel politisch zur Regel werden läßt. Ebenso in die Hände des Bundes und damit in die der Politik ist schließlich die sog. Rückübertragungsbefugnis nach Art. 74 Abs. 4 GG gelegt. Danach kann durch Bundesgesetz bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die keine Erforderlichkeit nach Art. 72 Abs. 2 GG mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann. Gleiches bestimmt Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG für Bundesgesetze, die vor der Verfassungsreform 1994 verabschiedet wurden. Damit ist die Frage, ob die Länder bestimmte Zuständigkeiten (wieder) erhalten, in das Belieben des Bundes und damit der Politik gelegt. Zwar gibt es zur Kontrolle dieser Noch-Erforderlichkeit ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (Kompetenzkontrollverfahren – Art. 93 Abs. 2 Satz 3 GG), um die Länder nicht in die volle Abhängigkeit der Politik des Bundes geraten zu lassen. Allerdings ist dieser Antrag erst dann zulässig, wenn eine Gesetzesvorlage nach Art. 72 Abs. 4 GG abgelehnt und / oder nicht beraten bzw. eine entsprechende Gesetzesvorlage im Bundesrat abgelehnt worden ist (Art. 93 Abs. 2 Satz 2 GG). Daß der Bund nicht bereit ist, Kompetenzen zurückzugegeben, zeigt die Debatte um den Ladenschluß. Die Verweigerungshaltung des Bundes führte zu dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 347. Es bestehen also nach wie vor Einfallstore für unitarischen Einfluß der Bundespolitik. Da sich aber die Politik als Hauptursache des föderalen Ungleichgewichts darstellt, darf es im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes möglichst keine Regelungen geben, die dem Politischen allzu großen Spielraum eröffnen. Dem ist die Föderalismusnovelle nicht gerecht geworden. 347
BVerfGE 111, 10.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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7. Kapitel
Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat Oben wurde festgestellt, daß die Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat als plurale Willensbildung zu verstehen ist. Sofern es um die hier allein in Rede stehende Zustimmungsgesetzgebung geht, legitimieren 17 demokratische Legitimationssubjekte (Bund und Länder) die staatliche Entscheidung. Sie befinden sich auf zwei Ebenen, auf der Bundes- und der Landesebene. Zwischen den Ebenen, aber auch zwischen den einzelnen Legitimationssubjekten, bestehen Interessenunterschiede, die im vorigen Kapitel erläutert wurden. Es kann sich dabei um föderale, politische und politisch-föderale Interessenkonflikte handeln. Diese Konflikte müssen gelöst werden, um zu einem gemeinsamen Willen zu gelangen. Zur Lösung von Konflikten im Verfahren der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat sind daher Mechanismen der Konfliktregelungen erforderlich.
A. Die formelle und inhaltliche Gesetzgebung als Konfliktlösung: Verfassungsverfahrensrecht und materielle Verhandlung Konfliktlösung besteht aus zwei Teilen. Zunächst ist der Bereich der Verfahren, der Gremien und der Beteiligten zu nennen. Eine Vielzahl derer ist denkbar und kommt auch in der Praxis vor. Bekanntes Beispiel ist der Vermittlungsausschuß. Es handelt sich dabei um ein (verfassungs-)rechtlich vorgegebenes Gremium, mit vorgegebenen Beteiligten und einem vorgegebenen Verfahren. Ebenso bekannt ist eine Vielzahl von nicht rechtlich definierten Gesprächsrunden, deren „Verfahren“ und Teilnehmerkreis politisch ausgehandeltt werden. Diese Ebene reicht zur erfolgreichen Konfliktlösung nicht aus. Denn damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, wie der Konflikt inhaltlich gelöst wird. Hier stellt sich die Frage, nach welchem theoretischen Muster die Verhandlungen verlaufen und welche Verhandlungsstrategien in der Praxis vorkommen. Auch hier ist zu vermuten, daß eine Systematisierung der materiellen Konfliktlösungsstrategien möglich ist. Die Konfliktlösung besteht also aus zwei Schritten: Sie lassen sich als formelle und inhaltliche Konfliktlösung bezeichnen. Zur Annäherung an eine Systematisierung der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat sei im folgenden das Beispiel der Steuerreform 2000 herangezogen. Dieser Fall beinhaltet alle Aspekte der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
I. Annäherung an die Definition der formellen und inhaltlichen Konfliktlösung: Problemaufriß 1. Die „formelle“ Konfliktlösung Die formelle Konfliktlösung beinhaltet bei erster Annäherung alle gleichsam von außen sichtbaren Methoden zur Beilegung von föderalen Streitigkeiten. Dazu gehören das (Gesetzgebungs-)Verfahren, die Gremien und Beteiligten. Sie soll vorerst formelle Konfliktlösung genannt werden. Sie stellt damit den technischorganisatorischen Rahmen dar, innerhalb dessen erst in der Sache verhandelt wird. Innerhalb dieser Kategorie ist wiederum zwischen jeweils normierten und nicht normierten Verfahren, Gremien und Beteiligten zu unterschieden. Zu den Verfahren gehört zunächst das Gesetzgebungsverfahren des Grundgesetzes. Es sieht die institutionalisierte Konfliktlösung zwischen Bund und Ländern vor, etwa durch den ersten Durchgang beim Bundesrat nach Art. 76 Abs. 2 Satz 1 GG. Auch bestimmte Gremien sieht die Verfassung vor. An dieser Stelle mag zunächst der Vermittlungssausschuß als bekanntes Beispiel ausreichen. Bei seiner Besetzung trifft das Grundgesetz auch die Entscheidung über die Beteiligten. Weiterhin gibt es die Geschäftsordnungen, die Regelungen zum Gesetzgebungsverfahren enthalten. Neben diesen rechtlich bestimmten Kategorien gibt es eine Vielzahl informeller Verfahren, Gremien und Beteiligten, entweder als Neuschöpfungen oder als Modifikationen des rechtlichen Verfahrens. Insofern sollen rechtliche und politische Konfliktregelung unterschieden werden. Als solche gelten etwa Kanzlerrunden, Kamingespräche oder Treffen der Ministerpräsidenten, die derselben politischen Partei angehören. 2. Die „inhaltliche“ Konfliktlösung Als zweiter Schritt besteht daneben die inhaltliche Konfliktlösung. Darunter ist bei kursorischer Betrachtung die Streitbeilegung in der Sache zu verstehen, die innerhalb der formellen Konfliktlösungsmechanismen stattfindet. Sie zu systematisieren und zu interpretieren bedeutet herauszufinden, mit welchen Methoden eine Meinungsverschiedenheit in der Sache beigelegt wird. II. Ähnlichkeiten im Schrifttum Die zwei Schritte der Konfliktlösung weisen eine Ähnlichkeit zu der Unterscheidung des Gesetzgebungsverfahrens durch die Gesetzgebungslehre auf. Sie unterscheidet zwischen dem äußeren und inneren Gesetzgebungsverfahren 1. Das äußere stellt danach den Ablauf, insbes. Zeitpunkt, Umfang und Verfahren der Beteiligung einzelner Gesetzgebungsorgane nach Art. 76 ff., 82 GG dar. Dazu
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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gehört dann auch die Beteiligung des Bundesrates (vgl. Art. 77 GG). Unter dem inneren Gesetzgebungsverfahren versteht die Gesetzgebungslehre den Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß bei der Entstehung eines Gesetzes. Der innere Teil betrifft die Methodik der Entscheidungsfindung bei der Vorbereitung und dem Erlaß eines Gesetzes. Er finde insbesondere in den Ausschüssen und Fraktionen des Bundestages statt. Hier habe der Gesetzgeber die Daten richtig und vollständig heranzuziehen, aufzuarbeiten und die sich so ergebenden Lösungsmöglichkeiten politisch-wertend gegeneinander abzuwägen 2. Eine weitere Parallele besteht zu den Erkenntnissen der Soziologie. So unterscheidet Luhmann zwischen Verfahrensordnung und Entscheidungsprozeß 3. Diese Einteilung des Gesetzgebungsverfahrens ähnelt den zwei Ebenen der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat: Die Ähnlichkeit liegt in der Unterscheidung eines technisch-organisatorischen Ablaufplans (äußeres Verfahren) und einer inhaltlichen Debatte (inneres Verfahren). Der Vorgang der Konfliktlösung im Bundesstaat – mit seinem äußeren und inneren Teil – findet im Modell der Gesetzgebungslehre keine Erwähnung. Wollte man beides zusammenführen, fände die föderale Konfliktlösung innerhalb des äußeren Gesetzgebungsverfahrens statt. Dies würde aber den Eindruck erwecken, im Rahmen der Bundesratsbeteiligung – insbesondere bei der Zustimmung – würde in der Sache nicht entschieden. Dies ist aber nicht der Fall. Das Modell der Konfliktlösung und das der Gesetzgebung i. S. d. Gesetzgebungslehre liegen daher auf anderen Ebenen und lassen sich nur bedingt miteinander kombinieren. Gleichzeitig bleiben mit diesem Forschungsstand der Gesetzgebungslehre Fragen offen. Zunächst deutet sie das Verfahren der Gesetzgebung nicht weiter und berücksichtigt die Funktion der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat nicht näher. Schließlich bleiben der Prozeß der Informalisierung und damit das Verhältnis von Recht und Politik ausgespart. Das äußere Gesetzgebungsverfahren reduziert sie auf das verfassungsrechtlich vorgesehene Verfahren der Art. 76 ff., 82 GG und bringt das Modell damit um die genaue Analyse von Beteiligten und Gremien sowie der inhaltlichen Entscheidungen, die mit der Bundesratsbeteiligung getroffen werden. III. Eigene Definition: Innere und äußere Konfliktlösung Dennoch können die Erkenntnisse der Gesetzgebungslehre für die vorliegende Untersuchung insofern fruchtbar gemacht werden, als sie die Unterscheidung von 1 Hill, Gesetzgebungslehre, S. 62 ff.; ders., Jura 1986, S. 286 (291); ders., Jura 1986, S. 57 (60 ff.) unter Berufung auf Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 173 (183). 2 Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 173 (183). 3 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 174 f., 205 f.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Verfahren und materieller Entscheidung betreffen, da beide Modelle diese Unterscheidung gemein haben. Dies gilt etwa für grundsätzliche Eigenschaften eines jeden Verfahrens und eines jeden inhaltlichen Entscheidungsprozesses sowie für die rechtlichen Anforderungen an beide Bereiche. Daher soll im folgenden die zunächst als formell bezeichnete Konfliktlösung als „äußere Konfliktlösung“ bezeichnet werden. Dies ist auch bereits deshalb notwendig, weil sie formelle und informelle Mechanismen umfaßt. Mit der Bezeichnung „äußere“ werden Verwechslungen somit vermieden. Die inhaltliche Konfliktlösung lautet nunmehr „innere Konfliktlösung“. Die Konfliktlösung ist freilich kein Selbstzweck. Weshalb ist der Mechanismus der Konfliktlösung erforderlich? Zwischen welchen Gruppen ist zu vermitteln? Welcher Zusammenhang besteht zum demokratischen Bundesstaat? Die Konfliktlösung ist zunächst logische Konsequenz des demokratischen Bundesstaates. Eine Verfassung, welche die Pluralität der Legitimationssubjekte vorsieht, muß Möglichkeiten bereithalten, wie Meinungsunterschiede zwischen ihnen beigelegt werden können. Vordergründig ist zwischen den Verfassungsorganen Bundestag und Bundesrat zu vermitteln. Mit Rückblick auf die oben vorgenommene Darstellung der Interessenlagen im demokratischen Bundesstaat vervielfältigt sich das Vermittlungserfordernis. So sind zunächst im Bundesrat die 16 Bundesländer vertreten. Sie sind gleichrangig. Unter ihnen kann es Meinungsunterschiede aus föderalen und politischen Gründen geben. Denn das Grundgesetz konstituiert eben – wie im ersten Teil beschrieben – einen demokratischen und damit einen parteipolitischen Bundesstaat. Angesichts dieses vielfältigen Interessengeflechts besteht eine größere Notwendigkeit der Konfliktlösung als in Einheitsstaaten. In der pluralen Demokratie an sich ist die geregelte und friedliche Streitbeilegung ohnehin schon von großer Bedeutung. Sie ist noch wichtiger im demokratischen Bundesstaat, der nicht nur die Pluralität der Meinungen (auf einer Ebene), sondern auch die Pluralität der Legitimationssubjekte kennt. Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat ist daher äußere und innere Konfliktlösung.
B. Die äußere Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat zwischen Recht und Politik: Gremien – Verfahren – Beteiligte Nach dem oben Gesagten handelt es sich also bei der äußeren Konfliktlösung um den technisch-organisatorischen Rahmen, bestehend aus den Verfahrensabschnitten des Gesetzgebungsverfahrens, den Gremien und beteiligten Organen und Personen, innerhalb dessen in der Sache verhandelt wird. Das Grundgesetz sieht selbst einige Mechanismen der Konfliktregelung vor. Die Verfassungspraxis hat eine Vielzahl weiterer Mechanismen entwickelt. Anders formuliert: Es bestehen (verfassungs-)rechtliche und politische Verfahren, Gremien und Beteiligte der Streitbeilegung. Um politische und rechtliche Konfliktlösung im demo-
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kratischen Bundesstaat überhaupt unterscheiden zu können, war eine Auseinandersetzung mit den Begriffen von Recht und Politik notwendig, deren Ergebnis zunächst wiederholt werden soll (I.). Anschließend werden die Mechanismen der äußeren Konfliktlösung im einzelnen betrachtet: Gremien, Verfahren, Beteiligte (II. bis IV.). I. Nochmals: Recht und Politik in der Konfliktlösung Zur Erinnerung: Es wurde festgestellt, daß sich Recht und Politik nicht allgemeingültig voneinander abgrenzen lassen. Nur im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt lassen sich Definitionen von Recht und Politik finden. Im folgenden soll nun die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat unter dem Blickwinkel des Rechts bzw. der Politik beleuchtet werden. Dabei ließ sich oben bereits feststellen, daß hierbei diejenigen Definitionen zur Verfügung stehen, die Recht und Politik anhand der Normiertheit unterschieden. Rechtliche Streitbeilegung ist die verfahrensmäßig vorentschiedene Streitbeilegung, politische ist die Konfliktlösung nach freier, diesmal auch im Verfahren und den Methoden freier schöpferischer Streitbeilegung. Hier besteht eine Parallele zu der im Schrifttum geäußerten Lehre vom informalen Verfassungsstaat nach Schulze-Fielitz. Danach ist die Staatspraxis von einer Vielzahl nicht-rechtlich normierter Verfahrensweisen geprägt, die sich nach Regeln ordnen lassen. Informale Verfassungsregeln ergänzen als ungeschriebene, nichtrechtliche Organisations- und Verfahrensregeln die Verfassung 4. Daher kann im folgenden von politisch-informaler Konfliktlösung gesprochen werden. In dieser Unterscheidung von rechtlich-formaler und politisch-informaler Konfliktlösung kommt zum Ausdruck, daß in der Gesetzgebung politische und rechtliche Elemente eng miteinander verwoben sind; nicht nur in der parlamentarischen Gesetzgebung 5, sondern auch in der gesamten Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat. Da also die politisch-informalen Konfliktlösungsmechanismen notwendige Folge der engen Verquickung von Recht und Politik sind, was wiederum auf dem Sinn des Verfassungsrechts als Recht für das Politische beruht, sind sie grundsätzlich als systembedingt zulässig. Die Konfliktlösung kann ferner mit der Gegenüberstellung von dynamischen und statischen Verfahren verdeutlicht werden. Zwar spricht gegen die These vom Statisch-Rationalen und Dynamisch-Irrationalen, daß das Recht als geronnene Politik noch immer irrationale Elemente enthält. Dies ist zwar streng logisch argumentiert, aber ein wenig formalistisch. Denn die These enthält einen wahren Kern: Daß das Recht – neben seiner die Politik ermöglichenden Funktion – „die vitalen, nicht kalkulierbaren politischen Kräfte kalkulierbar zu machen und damit zu bändigen sucht“ 6, entspricht allgemeiner und rechtssoziologischer 4 5 6
Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, S. 15 ff. Schoch, HbStR III, § 37, Rn. 146; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 70 ff. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 168 ff.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Erkenntnis 7. Die Erkenntnis wird noch deutlicher, wenn man diese Definition rein formell und auf die Handlungsmuster bezogen versteht und nicht (auch) auf materielle Gehalte. So stellte bereits Jellinek fest, daß die realen politischen Kräfte sich nach ihren eigenen Gesetzen bewegen, die von allen juristischen Formen unabhängig wirken, und daß diese bestrebt sind, die Macht, welche die Rechtsordnung den bestehenden Institutionen zuweist, an sich zu ziehen 8. Dies gelingt freilich nicht immer. Zu Recht schreibt Grimm: „Nirgends aber vermag das Recht die Politik völlig einzuhegen. Das Netz von Normen, das der Politik regulierend übergeworfen wird, hat beträchtliche Maschen. Es ist nie gelungen, alle politischen Maßnahmen zu planen und damit kalkulierbar zu machen“ 9. Durch eine Reduktion auf die äußeren Handlungsmuster kann die These auch für den hiesigen Untersuchungsgegenstand genutzt werden und zur Differenzierung der Konfliktlösungsmechanismen beitragen. Die rechtlichen, von der Verfassung vorgesehenen Konfliktlösungsmechanismen sollen die Streitbeilegung zwischen den Kräften im föderalen Bundesstaat kalkulierbar machen und diese Kräfte bändigen. Sie bewegen sich in vorgegebenen Bahnen und sind in diesem Sinne statisch. Die politische Streitbeilegung ist dynamisch, indem sie Konflikte in freien Bahnen und ungebunden löst. Dies ist allerdings rational insofern, als das Machbare versucht wird. Gleichzeitig werden die rechtlichen Konfliktlösungsmechanismen von der Politik umgangen, modifiziert oder selbst Objekt von Verhandlungen. Auch dies zeigt einerseits die unbändigen Kräfte, die dynamische Eigenschaft der Politik und die Unmöglichkeit, die Politik durch Recht ganz einzuhegen, andererseits die gegenseitige Durchdringung von Recht und Politik auch auf der konkreten Ebene der Konfliktlösungsmechanismen. Weiterhin ist es möglich zu unterscheiden, ob etwa das Vermittlungsverfahren nach dem Grundgesetz durchgeführt wird oder ob die Anrufung des Vermittlungsausschusses selbst zur Verhandlungsmasse wird. Auch auf hiesiger Ebene sind Recht und Politik zwar nicht trennbar, aber unterscheidbar. Diese Differenzierung von Trennbarkeit und Unterscheidbarkeit von Recht und Politik läßt es gleichzeitig zu, daß auch die politische Streitbeilegung rechtlichen Kriterien unterworfen werden kann. Dem entspricht auch die Entscheidung des Grundgesetzes für eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Politik erscheint stets in Begleitung von Recht. Die Notwendigkeit, auf eine lückenlose Verrechtlichung der Politik zu verzichten, zeigt sich auch auf der Ebene der Streitbeilegung im demokratischen Bundesstaat. Völlig starre Mechanismen könnten die unvorhergesehenen und wechselnden Konfliktlagen gar nicht bearbeiten. Völlig verrechtlichte Politik wäre Verwaltung. Immerhin erfolgt die Konfliktlösung nicht zwischen auf Ver7 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 225 unter Berufung auf Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 395 ff., 486 ff.; Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 419 ff. 8 Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 72. 9 Grimm, JuS 1969, S. 501 (505).
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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waltungseinheiten reduzierten Ländern in einem unitarischen Bundesstaat, sondern zwischen mehreren Teilsouveränen, die demokratisch legitimiert sind und plural plurale Interessen vertreten. Diese formell und materiell plurale Zusammensetzung des demokratischen Bundesstaates erfordert eine Flexibilität in der Konfliktbearbeitung. Sie zeigt sich in der Vielzahl von Konfliktlösungsmechanismen in der Praxis. Da das Grundgesetz um die Notwendigkeit der Streitbeilegung weiß, stellt es aber auch selbst rechtliche Streitbeilegungsmechanismen zur Verfügung. Da also nach rechtlichen und politischen Konfliktlösungsmechanismen unterschieden werden kann, soll diese Unterscheidung auch bei der Analyse zugrunde gelegt werden. Bei der äußeren Konfliktlösung handelt es sich, wie gesagt, um den technisch-organisatorischen Rahmen, in dem Streitigkeiten beigelegt werden. Er besteht aus den bestimmten Gremien, innerhalb derer Konflikte gelöst werden (II.), dem Gesetzgebungsverfahren (III.) und den beteiligten Organen und Personen, die an der Streitbeilegung beteiligt sind (IV.). Dieser rechtliche Rahmen wird in der Praxis politisch-informell ergänzt. Innerhalb dieses Rahmens wiederum wird dann in der Sache verhandelt (dazu unten C.). II. Gremien der Konfliktlösung 1. Verfassungsrechtliche Konstruktion Da das Grundgesetz von den widerstreitenden Interessen im demokratischen Bundesstaat weiß, hat es selbst Gremien der Konfliktregelung geschaffen. Dies sind für die Gesetzgebung der Vermittlungsausschuß (a) sowie für alle den Bundesstaat betreffenden Fragen die Verfassungsgerichtsbarkeit (b). a) Vermittlungsausschuß Das Gremium zur Interessenvermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat schlechthin ist der Vermittlungsausschuß. Hier kann es nicht darum gehen, dieses Organ 10 und seine Verfahren in Gänze vorzustellen 11. Es ist nur insoweit zu behandeln, wie es auf seine Rolle und Funktion in der Konfliktlösung ankommt. Seine Geschäftsordnung nennt ihn Vermittlungsausschuß, nicht das Grundgesetz, das ihn als den „aus Mitgliedern des Bundestages und Bundesrates für die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildete[n] Ausschuß“ (Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG) beschreibt. Wie sich aus dieser Vorschrift entnehmen läßt, ist seine Aufgabe, 10 Ob der Vermittlungsausschuß Organqualität besitzt, ist umstritten; vgl. dazu die Nachweise bei Cornils, DVBl. 2002, S. 497, Fn. 2. 11 Vgl. dazu die umfangreiche Literatur, z. B. sehr praxisorientiert: Dietlein, ParlRParlPr, § 57; Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß; Kluth, HbStR III, 3.A., § 60.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
eine streitige Gesetzesvorlage mit dem Ziel eines Einigungsvorschlages für die beiden Gesetzgebungskörperschaften zu beraten. Zweck ist es also, zwischen beiden Organen zu vermitteln und einen Kompromiß zu erarbeiten. Der Vermittlungsausschuß ist damit ein Organ verfassungsrechtlich institutionalisierter Konfliktlösung durch Kompromißbildung. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, der Vermittlungsausschuß habe zwar keine Entscheidungskompetenz, wohl aber eine den Kompromiß vorbereitende, ihn aushandelnde und faktisch gestaltende Funktion 12. Das Vermittlungsverfahren habe den „Zweck, das Gesetzgebungsziel soweit wie möglich zu verwirklichen, ohne auf der Grundlage einer erneuten Gesetzesinitiative, die den Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundestag und Bundesrat Rechnung trägt, das Gesetzgebungsverfahren nochmals durchlaufen zu müssen. Um der Effizienz der Gesetzgebung willen eröffnet das Grundgesetz die Möglichkeit, die Beratung von Vorlagen einem Ausschuß zu übertragen, der nach seiner Zusammensetzung und seinem Verfahren besonders geeignet ist, einen Kompromiß zu erarbeiten. Entscheidungskompetenzen sind dem Vermittlungsausschuß nicht eingeräumt“ 13. Diese Erklärung ist weiter erläuterungsbedürftig: Die Einschaltung des Vermittlungsausschusses soll verhindern, daß es aufgrund mangelnder Übereinstimmung zwischen Bundestag und Bundesrat zum Scheitern eines Gesetzgebungsvorhabens kommt. Neben dieser Grundfunktion schreibt das Gericht dem Verfahren auch eine Effizienzfunktion zu. Das Gericht spielt ferner auf die Besetzung des Ausschusses an. Sie wird von Art. 77 Abs. 2 GG geregelt, der die Besetzung mit Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat vorschreibt. Daraus folgt zweierlei: Zum einen ist er paritätisch mit Mitgliedern des Bundesrates und des Bundestages besetzt. In dieser gleichgewichtigen Besetzung drücken sich organisatorisch die Gleichwertigkeit von Demokratie und Bundesstaatsprinzip und die gemeinsame Legitimation von Entscheidungen im demokratischen Bundesstaat aus. Nochmals: Eine grundsätzliche Präponderanz des einen Verfassungsgrundsatzes gibt es damit nicht. Sie ergibt sich erst aus der Art des zur Vermittlung anstehenden Gesetzes, ob Zustimmungs- oder Einspruchsgesetz 14. Zum anderen ergibt sich aus der Vorschrift die Besetzung mit Vertretern der Politik. Das Grundgesetz strebt damit keine rechtliche, sondern eine politische Einigung an. Das weist auf den Charakter des Vermittlungsausschusses als politisches Organ 12
BVerfG, Urt. v. 15. Januar 2008 – 2 BvL 12/01, NVwZ 2008, S. 665 ff. BVerfGE 72, 175 (188). Das Ziel des Kompromisses unterstreicht auch das herrschende Schrifttum: Bryde, ParlRParlPr, § 30, Rn. 49; Dästner, GeschO VermA, Einleitung, Rn. 3; Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 5; Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, S. 37 f.; Kloepfer, Jura 1991, S. 169 (172); Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 363; Stettner, in: Dreier, GG, Art. 77, Rn. 15; Jekewitz, AKGG, Art. 77, Rn. 11; ähnlich Ziller, Zum Spannungsverhältnis zwischen Bundestag und Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren, S. 135 (149); ders. / Oschatz, Der Bundesrat, S. 72: „Ausgleich“; Kluth, HbStR III, § 60, Rn. 11: „Ausgleichsfunktion“. 14 Ebenso Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 3. 13
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hin. Dies hebt auch die Vorschrift des Art. 77 Abs. 2 Satz 3 GG vor, nach der die Mitglieder des Ausschusses an Weisungen nicht gebunden sind. In der Literatur und der Praxis wird der Vermittlungsausschuß auch durchweg als politisches Organ beschrieben 15. Es ist kein Expertengremium und unterscheidet sich insoweit von dem ersten Durchgang (Art. 76 Abs. 1 Satz 1 GG). Das Vermittlungsverfahren dient weniger gesetzestechnischen Verbesserungen und damit einem perfekten Regelwerk, sondern der politischen Durchsetzbarkeit 16. Der Vermittlungsausschuß ist demnach ein Garant der Regierbarkeit; damit der Stabilität und letztlich der Sicherheit. Jedenfalls folgt nicht zwangsläufig daraus, dem Bundesstaat und dem Vermittlungsausschuß einen materiellen Allparteienkompromiß einer informellen großen Koalition zu bescheinigen und das Grundgesetz als die „Verfassung der Kungler“ zu bezeichnen 17. Die besondere Eignung, die das Gericht dem Verfahren zur Kompromißbildung zuspricht, ist daher nicht das rechtlich-technische, sondern das politische Verfahren. Nur der politische Kompromiß ermöglicht das spätere Passierenlassen in den beiden Legislativorganen, Bundestag und Bundesrat, da dort eine (politische) Mehrheit gefunden werden muß. Das „Kriterium politischer Durchsetzbarkeit“ ist daher von entscheidender Bedeutung für das Vermittlungsverfahren. Ein möglicher Gesetzgebungsstillstand soll auf politischem Wege verhindert werden. Damit ist nicht nur das Gesetzgebungsverfahren an sich vor Obstruktion (weitgehend 18) geschützt, auch das Vermittlungsverfahren selbst ist es. Denn jeder Anrufungsberechtigte kann den Vermittlungsausschuß bei einem Einspruchsgesetz nur ein einziges Mal einschalten (Art. 77 Abs. 2 GG) 19. Damit beugt das Grundgesetz erstens einer taktischen Verzögerung, Verschleppung oder „Begrabung“ im Ausschußverfahren vor 20. Zweitens stellt die Regelung klar, daß der Vermittlungsausschuß Konfliktlösung um jeden Preis nicht kennt. Das Grundgesetz strebt also keine Einigung um jeden Preis an. Die Anrufung des Vermittlungs15 Etwa Bryde, ParlRParlPr, § 30, Rn. 52; Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 5; aus Perspektive der Politik Vogel, Der Vermittlungsausschuß, S. 213 (214, 216). 16 Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, S. 37 f.; ebenso Vogel, Der Vermittlungausschuß, S. 213 (215), der die ausschließliche Eignung von Politikern zur Besetzung des Ausschusses betont. Bei ihm handelt es sich freilich selbst um einen solchen. 17 Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, S. 182 (190 f.); Franßen, Der Vermittlungsausschuß, S. 273 (277): „Allparteienbundesstaat“; Kisker, Ideologische und theoretische Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, S. 23 (33); krit. auch Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 364; weitere pejorative Bezeichnungen des Vermittlungsausschusses bei Vogel, Der Vermittlungsausschuß, S. 213 (220). 18 Politisch motivierte Obstruktion ist freilich immer möglich. Sie ist aber eine Ausnahme, was die hohe Erfolgsquote an Vermittlungsvorschlägen (85%, Klein, AöR 108 [1983], S. 329 [364]) bestätigt. 19 Bei Zustimmungsgesetzen bis zu dreimal, vgl. Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 25. 20 Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, S. 36.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
ausschusses ist nicht obligatorisch. Sie ist keine zwingende Station im Gesetzgebungsverfahren. Sehen die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten eine Materie nicht als vermittlungsfähig an, ist die Anrufung des Vermittlungsausschusses nicht erforderlich. Die Verfassung kennt bei Kompromißunwilligkeit oder unvereinbaren Positionen keine Zwangsschlichtung 21. Das Grundgesetz weiß daher um die Möglichkeit des Scheiterns eines Gesetzentwurfs. Das Scheitern eines Gesetzes ist normale Folge des demokratischen Bundesstaates. Das Scheitern eines Gesetzes ist keine pathologische Folge des demokratischen Bundesstaates. Auch in rein parlamentarischen Systemen können Gesetze scheitern, ohne daß die Lehre auf die Idee käme, daß es sich dabei um eine Pathologie handeln würde. Ausgleich wird durch das Vermittlungsverfahren nicht nur in der Sache gefunden, sondern auch zwischen den Beteiligten im Verfahren bewirkt. Während bei zustimmungspflichtigen Gesetzen der Bundesrat seine Zustimmung direkt verweigern und der Vermittlungsausschuß durch Bundestag und Bundesregierung angerufen werden kann, damit diese ihr jeweiliges Gesetzesvorhaben retten können, ist bei Einspruchsgesetzen die Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat eine zwingende Verfahrensvoraussetzung für die Einlegung eines Einspruches. Die Anrufung des Vermittlungsausschusses stärkt mithin den jeweils schwächeren Partner. Bei Zustimmungsgesetzen wird das absolute Veto des Bundesrates relativiert, bei Einspruchsgesetzen die Einflußnahme des Bundesrates gegenüber dem Bundestag verstärkt 22. Das Vermittlungsverfahren sucht danach in Verfahren und Inhalt den Ausgleich. Die reine Gesetzgebungsidee kann sich nicht durchsetzen. Es wird eine gemäßigte Lösung produziert, die Interessen beider Seiten zusammengeführt und damit die allgemeine Akzeptanz erhöht. Der Vermittlungsausschuß ist damit der Kristallisationspunkt der Produktion eines gemäßigten Ertrags im demokratischen Bundesstaat. Der Vermittlungsausschuß ist Ausdruck der gemischten Verfassung, indem er Ausgleich zwischen der föderalen und der demokratischen Willensbildung schafft. Die hier entstehenden Kompromisse sind die moderaten und maßvollen Ergebnisse der Mischverfassung. Eine Mischung zeigt sich auch bei den Konfliktlösungsmodi im Vermittlungsausschuß. Das Gremium beschließt mit der Mehrheit seiner anwesenden Mitglieder (§ 8 GO-VermA). Damit kommt das Mehrheitsprinzip zur Anwendung. Dem geht freilich die Kompromißfindung durch Verhandlungen voraus. Außer 21 Wie hier Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 165; Dagtoglou, DÖV 1971, S. 38; Isensee, zit. n. Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 165. 22 Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 77, Rn. 60; ihm folgend Kluth, HbStR III, § 60, Rn. 10, Fn. 35, der aber entgegen der hier vertretenen Ansicht, das Zitat nicht dahingehend mißverstanden wissen will, das Bundestag und Bundesrat gleichberechtigt wären.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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dem Konfliktlösungsmodus „Urteil“ kommen damit zwei von drei möglichen Entscheidungsvarianten des Bundesstaates im Vermittlungsausschuß vor. Welche Bedeutung hat das Vermittlungsverfahren nun für die Konflikte im demokratischen Bundesstaat? Die Betonung des Politischen im Vermittlungsverfahren, ausgehend vom Grundgesetz, unterstrichen von Rechtsprechung und Schrifttum, legt den Verdacht nahe, daß überwiegend politische, im föderalen Gewand erscheinende Konflikte gelöst werden. Grundsätzlich kann der Bundesrat allgemeinpolitische, aber auch rechtliche und finanzpolitische Gesichtspunkte zur Geltung bringen 23, also unechte und echte föderale Interessen vertreten. Eine empirische Betrachtung der Anrufungsgründe ergibt, daß die Funktion parteipolitischer Vermittlung dominiert. Die die Länder betreffenden Belange sind von untergeordneter Bedeutung 24, also diejenigen Belange, die das Zustimmungsbedürfnis eigentlich verfassungsrechtlich rechtfertigen: rechtliche und finanzielle Gründe. Die Bedeutung des Ausschusses in Zeiten unterschiedlicher und gleichgerichteter Mehrheiten bestätigt dies. In Phasen divergierender Mehrheitsverhältnisse wird der Vermittlungsausschuß öfter angerufen 25. Aber auch bei parteipolitisch gleichgerichteten Mehrheiten behält der Vermittlungsausschuß seine kompromißfördernde Rolle. Der Verzicht auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses wird Teil von (Verfahrens-)Kompromissen 26. Dieser Vorgang gehört aber bereits in die Kategorie der informalen Verfassungspraxis. Der Vermittlungsausschuß dient also hauptsächlich zur Beilegung unechter föderaler, also politischer Meinungsverschiedenheiten. Echte föderale Streitigkeiten werden freilich auch behandelt. Das unterscheidet ihn vom ersten Durchgang. Der Vermittlungsausschuß ist damit ein politisches Instrument und ein Instrument der Politik. Eine allgemeine Regel, nach der politische Streitigkeiten in informellen Gremien gelöst werden, bestätigt sich damit nicht. Die Dominanz der politischen Anrufungsgründe durch den Bundesrat gepaart mit der niedrigen Quote an verhinderten Gesetzen 27 unterstreicht in Zahlen die Rolle des Bundesrates und damit der ihn tragenden Länder als Mitgestalter und Mitverantwortlicher der (Zustimmungs-)Gesetzgebung. Diese Gesetze werden zweifach legitimiert und von beiden Ebenen politisch gestaltet.
23 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 363; Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates, S. 55 ff.; 63 ff., 79, 87 ff., 165. 24 Limberger, Die Kompetenzen des Bundesrates, S. 63; Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 364; ferner Lehmbruch, Parteienwettbewerb, S. 144; Abromeit, ZParl 1982, S. 462 (468). 25 Dästner, GeschO VermA, Einleitung, Rn. 2; Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, S. 285; Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 364. 26 Dietlein, ZRP 1985, S. 325 f. m.w. N. 27 Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 51; Klein, AöR 108 (1983), S. 329 (364).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Der Vermittlungsausschuß steht im Zentrum der (partei-)politischen Auseinandersetzung zwischen Interessenkonflikten der Länder(-Mehrheit) und dem Bund, zwischen auseinandergehenden parteipolitischen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sowie mittelbar auch zwischen den divergierenden Länderinteressen untereinander. Er ist in jeder Hinsicht eine Erscheinungsform verfassungsrechtlich institutionalisierter Kompromißbildung 28. b) Verfassungsgerichtsbarkeit Der Konfliktschlichter im demokratischen Bundesstaat schlechthin ist das Bundesverfassungsgericht. Es ist in allen bundesstaatlichen Konfliktfällen berufen, damit auch in der Gesetzgebung. Da die Verfassung mit dem Bundesstaat einen räumlich pluralen Staatsaufbau und eine plurale Willensbildung vorsieht, sind Interessenunterschiede nicht zu verhindern. Um diese föderalen Streitigkeiten zu schlichten, um die mögliche Schwerfälligkeit der Politik zu vermeiden, um die Funktionsfähigkeit des Bundesstaates zu erhalten, insbesondere in der Gesetzgebung, muß es eine Institution geben, welche über Konflikte zwischen den Bundesgliedern entscheiden kann. Zugespitzt: Die Wahrung der bundesstaatlichen Regeln, insbesondere der Kompetenzordnung, wird zur „politischen Überlebensfrage“ 29 für den Bundesstaat. Deshalb sehen die meisten Bundesstaaten ein unabhängiges Gericht vor. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit wird bei den im übrigen streitigen Definitionen des Bundesstaates überwiegend als dessen Bestandteil angesehen 30. Umgekehrt sind die bundesstaatsrechtlichen Streitigkeiten das „Urbild der Verfassungsstreitigkeiten“ 31 überhaupt. Die Ursprünge der deutschen Staatsgerichtsbarkeit reichen bis zurück zu den Reichsgerichten des Heiligen Römischen Reiches, die über föderale Konflikte zu entscheiden hatten 32. Es besteht damit in zwei Richtungen eine Verbindung von Bundesstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Darin zeigt sich eine „typisch deutsche, historisch gewachsene Affinität zwischen dem Phänomen Verfassungsgerichtsbarkeit und Bundesstaatlichkeit“ 33. 28 Ähnlich wie hier Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 363. 29 Aufbauend auf Löwer, HbStR III, § 70, Rn. 29: „politische Lebensfrage“. 30 Schultze, Föderalismus, S. 127 (128); Hempel, Der demokratische Bundesstaat, S. 192, Fn. 33; Heitsch, Ausführung der Bundesgesetze, S. 95. 31 Maunz, in: ders. u. a., BVerfGG, § 13, Rn. 43; zust. Leisner, Der Bund-Länder-Streit, S. 260 (262); Löwer, HbStR III, § 70, Rn. 28; krit. Stern, in: BK-GG, Art. 93, Rn. 329; verfahrensrechtlich zu den föderativen Streitigkeiten Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 98 ff. 32 Löwer, HbStR III, § 70, Rn. 28; umfassend verfassungshistorischer Rückblick zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit als Streitschlichter bei Fiedler, Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, S. 20 ff. 33 Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 13, Rn. 69.
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Im Gegensatz zu den Konfliktregelungsmechanismen „Vermittlungsausschuß“ und „erster Durchgang“ wird hier der Konflikt nicht zwischen den streitenden Parteien ausgetragen. Mit der gerichtlichen Streitschlichtung ist ein Dritter eingeschaltet, der als Neutraler entscheidet. Der Streit wird hier nicht im Wege der Verhandlung entschieden, sondern durch das Gericht als Dritten qua seiner Autorität. Diese hat ihm die Verfassung verliehen. Konfliktlösungsmodus ist das Urteil. Die Kategorie, nach der es entscheidet, ist die des Rechts, nicht der Politik. „In einer Auseinandersetzung zwischen zwei durch die Verfassung geschaffenen Organen ist es die Verfassung, welche die Maßstäbe enthält, nach denen der Dissens entschieden wird“ 34. Die Streitigkeiten über die Regeln der Verfassung können nur anhand der Verfassung selbst, also nach rechtlichen Regeln entschieden werden. Auch dies unterscheidet die o. g. Schlichtungsmechanismen von der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Gericht ist dabei nicht gänzlich frei von der Politik. Oben wurde gezeigt, daß es von den gesellschaftlichen und politischen Strömungen nicht unberührt bleibt. Es zeichnet diese Entwicklungen nach, entschärft bisweilen Auswüchse. Es kommt dem Gericht damit weniger eine gestalterische Funktion zu. Dies, obwohl die Literatur vom Gericht nicht nur die Streitentscheidung, sondern auch die „Anpassung des Grundgesetzes an veränderte Rahmenbedingungen“ 35 fordert, und obwohl die Politik brisante Entscheidungen bisweilen „nach Karlsruhe“ abgibt und damit ihrer Aufgabe, der Gestaltung, nicht nachkommt. Hier zeigt sich, daß Politik und Recht nicht in einem unüberwindlichen Gegensatz zueinander stehen, sondern miteinander verwoben sind 36. „In der Verfassung begegnen sich Recht und Politik“ 37. Politik lebt in der Verfassung, nicht gegen sie. 2. Politische Praxis In der politischen Praxis des demokratischen Bundesstaates existiert eine Fülle von politisch-informellen Gremien. An dieser Stelle interessieren nicht die so oft angeführten Kooperationen der Länder auf der Dritten Ebene oder auch Bund-Länder-Gremien des kooperativen Föderalismus, sondern nur diejenigen informalen Versammlungen, die sich um das Gesetzgebungsverfahren ranken. 34
Vgl. dazu Preuß, Der Begriff der Verfassung, S. 7 (8). Laufer / Münch, Das föderative System, S. 112; ähnlich Löwer, HbStR III, § 70, Rn. 29 m.w. N.: Aufgabe, „über die punktuelle Prüfung [...] hinaus, stets im Blick zu halten, ob den Ländern noch ein genügendes kompetentiell gesichertes Eigengewicht verbleibt, um ihnen das Proprium der Staatlichkeit attestieren zu können“. 36 So die heute herrschende Auffassung in Rechts- und Sozialwissenschaft Stern, Staatsrecht I, § 1 V. 2. b); Preuß, Der Begriff der Verfassung, S. 7 (8); Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 4; politikwissenschaftlich: Oberreuther, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 741 (746); entgegen prototypisch Schmitt, Verfassungslehre, S. 223 ff.; ders., Der Hüter der Verfassung, S. 156 ff. 37 Preuß, Der Begriff der Verfassung, S. 7 (8). 35
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Diese „Schnittstellen“ hat aus Sicht eines Praktikers Leonardy zusammengestellt 38. Sofern sie für die Gesetzgebung und Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat von Bedeutung sind, werden diese Gremien im folgenden vorgestellt 39. a) Parteistrukturen im Bundesrat (1) Länderrunden im Bundesrat Eine Gruppe politisch-informeller Gremien in der Substruktur des Bundesrates sind die Länderrunden. Dabei handelt es sich um regelmäßige Treffen der über die Parteizugehörigkeit verbundenen Bundesländer. Sie setzen sich – ungeachtet der Unterschiede bei den Parteien im Detail 40 – aus politischem und beamtetem Personal zusammen. In diesen Runden werden die Bundesratssitzungen vorbereitet. Die Teilnehmer sprechen ihre Strategien ab und koordinieren die Umsetzung der politischen Direktiven. Ihre Termine richten sich nach den Plenarsitzungen des Bundesrates. Sie sind fester und regelmäßiger Bestandteil der Bundesratsarbeit der Parteien. Für jede Partei, genauer für die A- bzw. BLänder, haben sich gleichsam „individuelle“ Termine, Teilnehmerkreise und Verfahren entwickelt. Leonardys detaillierte Darstellung, die bis in die Benennung von Sitzungstagen geht, zeigt auf, wie sich hier ein informelles politisch-föderales Verfahrensgeflecht entwickelt hat, das zwar rechtlich nicht normiert, aber in seinen Regelmäßigkeiten, seinem Verfahren, seiner ja fast vorschriftenartigen Praxis einer rechtlichen Normierung sehr nahe kommt. Diese nicht normierten Normen und diese Koordinationspraxis sind bei den A- und B-Ländern am stärksten ausgeprägt. Die Länder, in denen die Grünen an der Regierung beteiligt sind oder waren, sind nicht derart geordnet organisiert. (2) Vorbesprechungen zu Bundesratsausschüssen Die Ausschüsse des Bundesrates tagen – mit Ausnahme der sog. politischen Ausschüsse 41 – auf der Beamtenebene. Daher bedürfen sie der politischen Koordinierung und Vorbereitung. Den weitaus meisten Ausschüssen gehen daher 38
Leonardy, ZParl 2002, S. 180 ff. Seine Darstellung wird im folgenden übernommen sofern es sich um die reine Beschreibung, nicht deren Deutung handelt. Die Eigenschaft als Schnittstellen dieser Gremien betonen auch Kropp, Verhandeln und Wettbewerb, S. 151; Münch, Der Bundesrat, S. 133 (142); Benz, Verhandlungssysteme, S. 83 ff. 39 Leonardys Darstellung ist noch viel umfangreicher und erfaßt auch die Scharniere im Gesamtstaat und auf der dritten Ebene zwischen den Ländern: vgl. sehr instruktiv ders., ZParl 2002, S. 180 (189 ff.). 40 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (184 f.). 41 Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung (treten nur selten zusammen), Finanzausschuß; vgl. Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (185).
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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politisch sog. Vorbesprechungen voraus, in denen die beamteten Mitglieder der jeweiligen Ausschüsse in getrennten Gruppen der A- und B-Länder (nicht auch der Grünen- und FDP-Länder) zusammentreten. Hier werden die Strategien und politischen Abstimmungsanweisungen koordiniert, die sich auf die Tagesordnung der üblicherweise eine Stunde später beginnenden Ausschußsitzung beziehen. Die einzigen Ausschüsse, für welche diese Regel der Vorbesprechungen nicht gilt, sind der Rechtsausschuß (der solche Besprechungen in getrennten Gruppen nur sehr selten kennt) sowie der Agrar- und Wohnungsbauausschuß (zu dem solche Vorbesprechungen nicht regelmäßig durchgeführt werden) 42. (3) Vorbesprechungen und Begleitgespräche zum Vermittlungsausschuß Weitere informell-politische Gremien sind die Vorbesprechungen zum Vermittlungsausschuß. In getrennten Gruppen sprechen die Vertreter der A- und BLänder (nur selten auch der Grünen und FDP-Länder) ihr Vorgehen ab. Dies ist angesichts der im Vermittlungsausschuß bevorstehenden Verhandlungen, die nicht nur in Kontroverse mit einem anderen Verfassungsorgan, sondern auch zu einem anderen politischen Lager stattfinden, nur eine folgerichtige Konsequenz des demokratischen Bundesstaates. Anders als die Vorbesprechungen zu den Bundesratsausschüssen und aufgrund der strikt politischen Besetzung des Vermittlungsausschusses selbst, der ohne Teilnahme von Beamten tagt, umfaßt dementsprechend auch dieser informelle Vorbereitungszirkel ausschließlich politische Vertreter. Sie entstammen sowohl dem Bundestag wie auch dem Bundesrat 43. Neben den Vorbesprechungen der A- und B-Länder, also der über die Parteipolitik verbundenen Länder, existieren Gesprächsrunden sonstiger, durch gemeinsame (echte föderale) Interessen verbundener Verantwortungsträger 44. Es besteht also nicht nur die recht öffentlichkeitswirksame parteipolitische Gliederung. Die echten föderalen Interessen finden auch in der informellen Gremienstruktur Ausdruck. Hier zeigen sich die oben dargestellten Interessenlagen praktisch und konkret in informellen Gremien. Ferner gibt es Gesprächskreise während des laufenden Vermittlungsverfahrens. Sitzungsunterbrechungen dienen dazu, unter politisch oder durch Interessen verbundenen Ausschußmitgliedern oder auch über diese Grenzen hinweg nach Einigungsmöglichkeiten in der Sache oder dem Verfahren zu suchen. Solche vorbereitenden oder begleitenden Besprechungen ergeben sich ohne strenges 42
Darstellung nach Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (185). Darstellung nach Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (185) mit weiteren Details; Dietlein, ParlRParlPr § 57, Rn. 34. 44 Vgl. Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 34. 43
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Reglement oft erst aus den konkreten Erfordernissen des jeweiligen Vermittlungsverfahrens 45. Schließlich bildet der Vermittlungsausschuß Ad-hoc-Arbeitsgruppen 46. In diese werden Einzelprobleme aus dem Vermittlungsausschuß zur Kompromißbildung verlagert. So schnell, wie der Name es suggeriert, finden sie aber nicht zusammen. Sie werden von Fachbeamten der Bundes- und Landesministerien und Referenten der Fraktionen vorbereitet und unterstützt 47. Hier zeigt sich eine Möglichkeit der Kompromißfindung, wie sie die Verhandlungsforschung ergeben hat. Das Problem wird „kleingearbeitet“ 48, wodurch die Kompromißfindung erleichtert wird. b) Ländergliederungen im Bundestag (1) Landesgruppen innerhalb der Fraktionen In allen Bundestagsfraktionen existieren die sog. Landesgruppen. Dabei handelt es sich um Zusammenschlüsse von Abgeordneten der jeweiligen Fraktion, die entweder ihre Wahlkreise in einem bestimmten Land innehaben oder auf der Liste dieses Landes in den Bundestag gewählt worden sind 49. Diese Gruppen kommen regelmäßig an einem bestimmten Tag in den Sitzungswochen des Bundestages zusammen. An deren Sitzungen nehmen gelegentlich auch Vertreter aus den politisch zugehörigen Landtagsfraktionen sowie Beamte aus den Landesvertretungen teil, die selbst Mitglieder der betreffenden Partei sind. Zu den Aufgaben dieser Treffen gehört es, die Wahrnehmung der regionalen Interessen sowohl innerhalb der Bundestagsfraktion wie auch gegenüber dem Bundesrat zu koordinieren 50. (2) Sonderfall CSU Einen Sonderfall innerhalb dieser Landesgruppen stellt die Position der CSU innerhalb der CDU / CSU-Bundestagsfraktion dar. CDU und CSU bilden zusammen eine gemeinsame Bundestagfraktion aufgrund förmlicher Vereinbarung. Danach ist die CSU zu proportionaler Vertretung sowohl innerhalb der Strukturen der gemeinsamen Fraktion wie auch in bezug auf alle parlamentarischen Ämter (wie etwa Ausschußvorsitze) berechtigt, auf welche die CDU / CSU-Fraktion als 45 46 47 48 49 50
Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 34. Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (185). Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (185). Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 441. Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (186). Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (186).
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Ganzes innerhalb der Gesamtstruktur des Bundestages einen Anspruch hat. Darüber hinaus enthält die Vereinbarung auch eine Klausel, welche der CSU-Landesgruppe ein internes Vetorecht bei allen Entscheidungen im Zusammenhang mit den Grundlagen des bundesstaatlichen Systems verbürgt. Die Landesvertretung von Bayern unterhält traditionell enge Kontakte mit der CSU-Landesgruppe, um auf diese Weise die politischen und regionalen Interessen ihrer Landesregierung zu sichern 51. c) Scharniere zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung (1) Bundesratsrunden der Parteien Die Bundesratsrunden der Parteien sind die wichtigsten Scharniere zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Während in diesen Gremien beamtetes Personal teilnimmt, sind an Angelegenheiten des Vermittlungsausschusses politische Vertreter der Bundesregierung beteiligt. (2) Teilnahme von Ländervertretern an Sitzungen der Bundestagsfraktionen Eine weitere Scharnierfunktion stellt die regelmäßige Teilnahme der Bevollmächtigten der A- und B-Länder an den Sitzungen der SPD- bzw. CDU / CSUBundestagfraktionen dar. Gleiches gilt für FDP und Grüne, sofern diese an Koalitionen in den Ländern beteiligt sind 52. (3) Teilnahme von Ländervertretern an Sitzungen der Arbeitsgruppen Alle Bundestagsfraktionen haben ständige fachspezifische Arbeitsgruppen, die nach dem Ressortprinzip und der aus ihm folgenden Ausschußstruktur des Bundestages organisiert sind (z. B. Arbeitsgruppe Recht, Arbeitsgruppe Verteidigung). An diesen Gremien nehmen regelmäßig Beamte aus jenen parteipolitisch verbundenen Landesvertretungen teil, die für das jeweilige Ressortfeld zuständig sind und in dieser Eigenschaft ihre Länder in den Bundestagsausschüssen vertreten. Dies gilt allerdings nur, wenn sie Mitglieder derselben Partei sind oder wenn sie, falls das nicht der Fall ist, dennoch von der Arbeitsgruppe als Sitzungsteilnehmer akzeptiert werden. In dieser Eigenschaft dienen diese Beamten als Verbindungsglieder zwischen den Fraktionsarbeitsgruppen und den Länder-
51 52
Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (186). Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (186).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
ministerien in dem jeweiligen Ressortfeld, sowohl in bezug auf die Arbeit des Bundestages als auch auf die des Bundesrates 53. d) Bundesstaatliche Strukturen in den Bundesparteien Auch in den Bundesparteien finden Koordinierungsprozesse zwischen Bund und Ländern und damit eine föderale Konfliktlösung statt. Auf der Bundesebene der Parteien stellen die Parteivorstände das wichtigste organisatorische Scharnier zwischen Bundes- und Landesebene dar. Denn die Ministerpräsidenten und / oder Minister der Länder sind oft auch Vorstandsmitglieder der Bundesparteien 54. Die Parteien haben daneben auch entsprechende Strukturen gebildet. So hat die SPDBundestagsfraktion eine „Bund-Länder-Koordinierungsstelle“ eingerichtet, oder die CDU hält regelmäßige „Strategietreffen“ ab 55. Auch hier auf dem Feld des Parteiwesens zeigt sich, wie sich im demokratischen Bundesstaat die vormals eigenständigen Prinzipien vereinigen. Hier hat das Bundesstaatsprinzip die Parteien als Teil des demokratischen Prinzips durchdrungen. Daß die Parteien ihre Vorstandssitzungen oder ihre sonstigen Treffen zur Koordinierung nutzen, zeigt ferner, daß – selbst in Zeiten kongruenter Mehrheiten in beiden Kammern 56 – keine automatische Interessenkongruenz herrscht. Die Länder vertreten nach wie vor ihre Interessen. Auch unter dem Aspekt der informellen Konfliktlösung zeigt sich, daß eine vollständige Parteipolitisierung des Bundesstaates nicht stattgefunden hat. e) Ergebnis In den Gremien der Konfliktlösung ist der informale Verfassungsstaat und das, was diesen kennzeichnet, gut erkennbar: Seine Gremien und Verfahren sind nicht normiert, aber regelmäßig und in ihrer Praxis und Tradition so fest, daß sie in ihrer Bindungswirkung faktisch rechtlichen Regelungen gleichkommen. Die Gremien sind organisatorische Verbindungen der bundesstaatlichen und parteipolitischen Komponente des demokratischen Bundesstaates. Sie bilden ein Gesamtbild des demokratischen Bundesstaates, das sich aus rechtlichen und politischen Gremien zusammensetzt. Es zeigt sich hier konkret, was oben abstrakt beschrieben wurde: Die Parteien sind die Scharniere zwischen den staatlichen Ebenen 57. Die Parteien sind überwiegend Öl im Getriebe des demokratischen Bundesstaates. Die informelle Verfassung ergänzt die formelle. Politisch entwickelte Gremien ergänzen die rechtlichen. 53 54 55 56 57
Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (187). Münch, Der Bundesrat, S. 133 (142). Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (188 f.) mit Details zu den einzelnen Parteien. Darauf weist Münch, Der Bundesrat, S. 133 (142) hin. Wie hier Münch, Der Bundesrat, S. 133 (142).
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Es bestätigt sich ferner die wechselseitige theoretische Durchdringung und Verschmelzung von Demokratie und Bundesstaat auf praktischer Ebene. Dies ergibt sich aus den oben dargestellten Gremien: Im Bundestag existieren innerhalb der Fraktionen die Landesgruppen. An den Fraktionssitzungen nehmen (partei-) politisch befreundete Ländervertreter teil. Die Parteien besitzen am Bundesstaat orientierte Gremien. Insoweit ist das eine föderale Anreicherung des demokratisch-parlamentarischen Systems. Im Bundesrat finden Gesprächsrunden gegliedert nach (partei-)politischer Zugehörigkeit statt. Darin liegt eine Anreicherung des bundesstaatlichen Systems durch das parlamentarisch-demokratische Prinzip. Quer dazu liegen die sonstigen, durch echte föderale Interessen verbundenen Gremien, etwa der Bundesrat. In dieser Zweigleisigkeit der Gremien (politische und sonstige Interessen) spiegelt sich die oben erarbeitete Interessenlage im demokratischen Bundesstaat auf praktischer Ebene wider. Dem komplexen Interessengeflecht in der Theorie des demokratischen Bundesstaates entspricht eine komplexe Koordinierungspraxis. Die politische informelle Praxis ist nicht Zeichen des „unbestreitbaren Bedarfs an ‚Versöhnung‘ des verfassungsmäßig organisierten föderalen Prinzips mit dem Parteienprinzip“ 58. Diese Sichtweise führt noch die Lehre von der Unvereinbarkeit beider Prinzipien mit sich. Die beschriebene Praxis ist dem demokratischen Bundesstaat eigen und bestätigt auf praktischer Ebene die Eigenschaft des demokratischen Bundesstaates als Verfassungstyp sui generis. Gelegentliche Zusammenstöße sind nicht Ausprägung der Notwendigkeit zur Aussöhnung 59, sondern fester Bestandteil des demokratischen Bundesstaates, der aufgrund seiner komplexen, demokratisch-pluralen und bundesstaatlich-pluralen Legitimation ein Scheitern in Einzelfällen in Kauf nimmt. Dies ist kein beklagenswertes, sondern ein dem demokratischen Bundesstaat immanentes Phänomen. III. Verfahren zur Konfliktlösung Das äußere Gesetzgebungsverfahren ist nur in den Grundzügen in Art. 76 ff. GG geregelt, ergänzende und ausführende Bestimmungen enthalten die Geschäftsordnungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Unterorgane 60. Die verbleibenden Räume sind anderweitig zu füllen. Die politische Praxis füllt sie mit einer Vielzahl an informellen Verfahren, Abläufen, Gremien und bezieht beliebige Personen, Gruppen oder Organe ein. Innerhalb des Bereiches Gesetzgebungsverfahren dienen der Interessenregulierung im demokratischen Bundesstaat der sog. Erste Durchgang nach Art. 76 58
So aber Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (192, Anführung im Original). So aber Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (193). 60 GO-BT, GO-BR; GO-VermA, GGO II; diese Vorschriften sollen hier beiseite gelassen werden; vgl. dazu Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, S. 162 ff. 59
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Abs. 1 Satz 1 GG (1.) sowie die Beteiligung des Bundesrates bei Zustimmungsgesetzen (2.) und das Verfahren um den Vermittlungssauschuß (3.). 1. Das Verfahren nach Art. 76 Abs. 1 Satz 1 GG (sog. Erster Durchgang) a) Verfassungsrechtliche Konstruktion Als förmliches verfassungsrechtliches Verfahren zur Konfliktregelung zwischen Bundestag und Bundesrat kommt im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zuerst die Regelung des Art. 76 Abs. 1 Satz 1 GG zur Anwendung. Danach sind Gesetzesvorlagen der Bundesregierung zunächst dem Bundesrat zuzuleiten. Nach Art. 76 Abs. 1 Satz 2 GG ist der Bundesrat berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen. Erst danach werden die Vorlagen beim Bundestag eingebracht. Dieses Verfahren wird seit jeher in Praxis und Wissenschaft „Erster Durchgang“ genannt 61. Zum Teil wurde er auch als „politischer Durchgang“ bezeichnet 62. Dieses Verfahren hat eine Vielzahl von Funktionen. Diese können in zwei Gruppen eingeteilt werden 63: die Funktion der antizipativen Konfliktvermeidung 64 sowie die Funktion der Ausnutzung des im Bundesrat vorhandenen exekutiven Sachverstands 65. Diese Funktionen lassen sich aber auch aus dem Blickwinkel der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat sowie unter den Gesichtspunkten Recht und Politik betrachten. Zunächst die Funktionen des Ersten Durchganges im einzelnen 66:
61 Nachweise bei Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45; krit. zu diesem Begriff Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 76, Rn. 112. 62 Laufer, ZParl 1970, S. 318 (339); ders. / Münch, Föderatives System, S. 168. 63 Anders aber Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 76, Rn. 17, der von diesen zwei Funktionen ausgeht. Dabei handelt es sich aber um Oberbegriffe, die einzelne Funktionen aufnehmen; vgl. a. die nicht gegliederte Übersicht bei Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (58 f.). 64 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 513; Katzenstein, DÖV 1958, S. 593 (598); Kirn, ZRP 1974, S. 1 (3); Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 76, Rn. 85 f.; Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (58); Stein, Staatsrecht, § 14 III 1; Stern, Staatsrecht II, § 37, III. 4. b); Stettner, in: Dreier, GG, Art. 76, Rn. 22; Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 28. 65 Blumenwitz, in: BK-GG, Art. 50, Rn. 20; Ensslin, Der Ausgleich zwischen erster und zweiter Kammer im Gesetzgebungsverfahren, S. 67; Kirn, ZRP 1974, S. 1 (3); Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 76, Rn. 85 f.; Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 302; Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (58); Stern, Staatsrecht II, § 37, III. 4. b); Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 30. 66 Zur folgenden Aufzählung Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 301 ff.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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− Auf gesetzestechnischer Ebene überprüfen Fachleute aus den Länderexekutiven den Gesetzentwurf auf legislatorische Fehler der Bundesministerien. Solche Anregungen besitzen keinen politischen Hintergrund und werden von der vorlegenden Bundesregierung regelmäßig aufgenommen. Es handelt sich dabei um einen rechtlich-technischen Zweck, der weder sachpolitische noch föderale Anteile besitzt. − Weiterhin fließt die Verwaltungserfahrung der Länder in die Gesetzentwürfe des Bundes, der keinen eigenen Verwaltungsunterbau und dementsprechend keine Erfahrung besitzt, ein. Daher werden die Referentenentwürfe des Bundes den zuständigen Landesministerien zugeleitet und von ihnen geprüft. Die Änderungen werden entweder aufgenommen, oder es läßt sich zumindest die Reaktion des Bundesrates vorhersagen. Damit liegt ein rechtlich-technischer Zweck vor. Er dient aber gleichzeitig auch der Konfliktvermeidung und damit der antizipativen Lösung eines föderalen Konflikts, der vorliegt, weil Interessen der Länder berührt sind. − Die Länder versuchen auch, ihre „egoistischen“ Länderinteressen gegen die Bundespolitik geltend zu machen. Zu solchen Fragen gehören die Auswirkungen auf die Landesbehörden und das Verwaltungsverfahren. Aber auch die Zustimmungsbedürftigkeit 67 und die finanziellen Folgen 68 gehören hierher. Auch diese Kategorie ist Teil der Gruppe der föderalen Konflikte 69 und ist damit der Sphäre des Rechts zugeordnet, das einen Bundesstaat und damit föderale Konflikte konstruiert. − Sachpolitisch-materieller Natur sind hingegen die Stellungnahmen, die der Bundesrat in fundamentalen (auch partei-)politischen Grundsatzfragen, insbesondere bei parteipolitisch gegenläufigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat abgibt. Diese Stellungnahmen sind politischer Natur. Das Verfahren nach Art. 76 Abs. 1 Satz 1 GG erfaßt damit auch unechte, d. h. sachpolitische Konflikte. Das Verfahren ist damit, neben den technischen Zwecken, die es erfüllt, ein Konfliktregelungsmechanismus, der bereits im Vorfeld der Gesetzgebung wirkt. Es wird damit einer „frühzeitigen konsensualen Einigung“ der Weg bereitet. Gelöst werden überwiegend föderale, weniger politische Streitigkeiten, wie es sich an den Reaktionen von Bundesregierung und Bundestag ablesen läßt. Die gesetzestechnischen und verwaltungspraktischen Vorschläge des Bundesrates werden 67 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 302; Schmidt-Jortzig / Schünemann, in: BK-GG, Art. 76, Rn. 272; Jekewitz, AK-GG, Art. 76, Rn. 14. 68 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 303; Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 29. 69 Entgegen Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 303, der diese als politisch qualifiziert.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
in der Regel vom Bundestag, d. h. der die Regierung tragenden Mehrheit, übernommen. Das gilt nicht für die politischen Stellungnahmen und Wünsche des Bundesrates 70. Die Bezeichnung „politischer Durchgang“ für das Verfahren nach Art. 76 Abs. 2 GG ist daher und in Gegenüberstellung zum Vermittlungsverfahren nicht passend. b) Politische Praxis Die politische Praxis zeigt erwartungsgemäß Unterschiede zur rechtlichen Konstruktion auf. Rechtlich gesehen ist der Bundesrat zu keiner Stellungnahme verpflichtet. Unter politischem Blickwinkel hingegen ist es eine andere Frage, ob er tatsächlich von seinem Votum absehen sollte. Denn damit kann die Schmälerung seines politischen Einflusses verbunden sein 71. Ein eindeutiges Votum, entweder zu föderalen oder zu politischen Streitigkeiten, festigt die eigenständige und mitverantwortliche Position des Bundesrates mehr als ein Schweigen. Daher macht der Bundesrat in nahezu allen Fällen von seinem Stellungnahmerecht Gebrauch. Demzufolge wird das Verfahren nach Art. 76 Abs. 2 GG als die arbeitsintensivste Mitwirkung 72 des Bundesrates gesehen und ihm eine große Bedeutung zugesprochen 73. Rechtliche und politische Unterschiede zeigen sich weiterhin in der Bindungswirkung der Stellungnahmen des Bundesrates. Seine Äußerung hat keine rechtserhebliche Bedeutung für das weitere Gesetzgebungsverfahren und bindet weder ihn selbst noch andere Verfassungsorgane 74. Dies schließt es jedoch nicht aus, daß eine politische Bindungswirkung bestehen kann. Wenn der Bundesrat auf längere Sicht eine konsequente und berechenbare Linie vermissen läßt, könnte für ihn ein Verlust an politischer Autorität die Folge sein 75. Die Praxis versucht, die erste Stellungnahme zu umgehen. Dazu gibt es politische „Tricks“. So versucht die Bundesregierung bei Gesetzesinitiativen, den Ersten Durchgang zu umgehen, indem sie die Vorlage „aus der Mitte des Bundestages“ – d. h. über die ihr parteipolitisch verbundene (Mehrheits-)Frak70
Ziller / Oschatz, Der Bundesrat, S. 30. Schmidt-Jortzig / Schünemann, in: BK-GG, Art. 76, Rn. 269. 72 Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 19. 73 Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 131; Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 568. 74 BVerfGE 3, 12 (17 f.); Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 76, Rn. 19; Goppel, Die Rechtsstellung des Bundesrates und des bayerischen Senats bei der Gesetzesinitiative, S. 110; Jekewitz, AK-GG, Art. 76, Rn. 14; Lücke, in: Sachs, GG, Art. 76, Rn. 16; Schmidt-Jortzig / Schünemann, in: BK-GG, Art. 76, Rn. 272; Stettner, in: Dreier, GG, Art. 76, Rn. 23; Stern, Staatsrecht II, § 37 III. 4. b) β); Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Art. 76, Rn. 17. 75 Ebenso Schmidt-Jortzig / Schünemann, in: BK-GG, Art. 76, Rn. 269. 71
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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tion – einbringen läßt 76. Dies erfolgt entweder anstatt einer eigenen Initiative oder gleichzeitig mit einer eigenen (sog. Parallelinitiative 77). Die Gründe dafür sind vielfältig 78. Entscheidender Grund dürfte die Zeitersparnis sein, die sich erzielen läßt, wenn sich sofort das Parlament mit dem Entwurf beschäftigen kann und sich nicht erst der Bundesrat damit befassen muß. Diese Praxis findet auch Anwendung, wenn nach eingeleitetem Verfahren aufgrund des Diskontinuitätsgrundsatzes am Ende der Wahlperiode ein Gesetzentwurf nicht zu Ende beraten werden kann. Bei gleichen Mehrheitsverhältnissen nach der Wahl werden so Wiederholungen im Verfahren vermieden. Die Umgehung des Ersten Durchganges stellt insoweit auch ein Instrument zur partiellen Umgehung des Diskontinuitätsgrundsatzes dar 79. Neben diesen praktischen gibt es politisch-taktische Gründe. Dazu zählt der Prestigegewinn, den sich die Mehrheitsfraktionen (etwa bei populären Maßnahmen) erhoffen, oder der gegenteilige Umstand, daß die Bundesregierung nicht mit einem Gesetzesvorhaben identifiziert werden will. Die Umgehung kann aber auch ein Mittel darstellen, bei Unschlüssigkeit oder Uneinigkeit innerhalb der Regierung, den Fraktionen die Konsensbildung zu überlassen. Die Umgehung ermöglicht weiterhin, daß ein Ressortminister seinen Entwurf nicht mit dem Koalitionspartner oder anderen Ressorts abstimmen muß. Daneben kann die Umgehung auch ein Mittel sein, um frühzeitig einen breiten parlamentarischen Konsens zu finden, möglicherweise unter Einbindung der Opposition. Schließlich kommt es vor, daß die Regierung formell nicht als Initiativträger genannt werden möchte, etwa aus diplomatischen Gründen 80. Die Praxis der Umgehung des Ersten Durchganges wird im Schrifttum häufig kritisiert 81, findet aber ebenso viele Verteidiger 82. Bewegung ist in dieser ausführlich behandelten Streitfrage, die bereits unter der Weimarer Reichsverfas76
Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 ff.; Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 76, Rn. 21. 77 Schulze-Fielitz, Das Parlament als Organ der Kontrolle, S. 81; Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (50); Niemann, Die bundesstaatliche Bedeutung des Bundesrates, S. 239; Laufer, ZParl 1970, S. 339, Fn. 149; v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 76, Rn. 49. 78 Eine Zusammenstellung findet sich bei Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (47 ff.) m.w. N. 79 Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (48); vgl. Versteyl, DVBl. 1973, S. 161 (163). 80 Zum Vorstehenden Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (48 f.) m.w. N. 81 Verfassungswidrig: Achterberg, Grundzüge des Parlamentsrechts, S. 51, Fn. 152; Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S. 619; Fiedler, ZRP 1977, S. 9 (11, Fn. 19); Hamann / Lenz, GG, Art. 76, Erl. B 2, S. 533; Kirn, ZRP 1974, S. 1 (2, 4 ff.); Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 76, Rn. 100 ff.; Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 96; Scholl, Der Bundesrat in der deutschen Verfassungsentwicklung, S. 95; Scholl, Der Bundesrat in der deutschen Verfassungsentwicklung, S. 111; Stettner, in: Dreier, GG, Art. 76, Rn. 13; Stern, Staatsrecht II, § 37 III. 4. b) γ); Goppel, Die Rechtsstellung des Bundesrates und des bayerischen Senats bei der Gesetzesinitiative, S. 140 ff.; Laufer, ZParl 1970, S. 339; Kutscher, DÖV 1952, S. (710) 712; Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (185), wenn Umgehung Zweck; Ziller, Zum Spannungsverhältnis zwischen Bundes-
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
sung erörtert wurde 83, nicht zu erwarten. In den letzten Jahren ist hierzu kaum Schrifttum erschienen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher nicht ausdrücklich dazu geäußert 84. Richtigerweise werden einige Bedenken zu Recht erhoben. Sinn und Zweck der Vorschrift – die Konfliktvermeidung und Berücksichtigung des Ländersachverstandes (s. o.) – werden so umgangen. Andererseits ist das Initiativrecht unbegrenzt 85. Im Ergebnis ist eine Verletzung von Verfassungsrecht nicht nachzuweisen. Die Umgehung stellt prototypisch eine flexible Handhabung der rechtlichen Möglichkeiten durch die Politik dar. Die aufgezeigten unterschiedlichen Motive, die zu einer Umgehung führen können, spiegeln nur die unbegrenzten Anforderungen des (politischen) Lebens wider, auf die das (Verfassungs-)Recht nicht in Gänze eingestellt sein kann. Das Verfassungsrecht ist es jedoch insofern, als es der Politik einen bestimmten, wenn auch nicht unbegrenzten, Spielraum überläßt. Es ist aber nicht nur die Bundesregierung, die versucht den Spielraum der Verfassung beim Ersten Durchgang zu nutzen. So versucht umgekehrt auch der Bundesrat, den Ersten Durchgang dazu zu gebrauchen, statt einer eigenen Gesetzesinitiative, sachlich nur sehr mittelbar mit einem Gesetz in Zusammenhang stehende eigene Vorschläge anzufügen oder grundlegende systemändernde Neuregelungen eines Gesetzes im Rahmen eines scheinbar nur ergänzenden Änderungsvorschlages unterzubringen. Solche Überrumpelungsversuche sind in aller Regel erfolglos; sie können aber im Vermittlungsverfahren erzwungen werden 86.
tag und Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren, S. 135 (141); ders., Der Bundesrat, S. 23; verfassungsrechtlich bedenklich: Blumenwitz, in: Berliner Kommentar, Art. 50, Rn. 20; Handschuh, Gesetzgebungsprogramm und Verfahren, S. 54; Hill, Gesetzgebungslehre, S. 89; Ley, DVP 1981, S. 49 (50); Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, S. 356, Fn. 10; Schmidt-Jortzig, 40 Klausuren aus dem Staats- und Völkerrecht, S. 50; Wyduckel, DÖV 1989, S. 181 (185). 82 Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn. 226; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 76, Rn. 14; Partsch, VVDStRL 16 (1958), S. 103 f.; Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (63); Püttner / Kretschmer, Die Staatsorganisation, S. 78; Schröder, Gesetzgebung und Verbände, S. 61, Fn. 118; Versteyl, Der Einfluß der Verbände auf die Gesetzgebung, S. 36; andererseits DVBl. 1973, S. 161 (163); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 440; Ensslin, Der Ausgleich zwischen der ersten und der zweiten Kammer im Gesetzgebungsverfahren, S. 68; Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 76, Rn. 21; Ossenbühl, HbStR III, § 63, Rn. 23; Seifert / Hömig, GG, Art. 76, Rn. 6; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hopfauf, GG, Art. 76, Rn. 39; Jarass / Pieroth, GG, Art. 76, Rn. 3; Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 58, 118 ff. 83 Vgl. dazu Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (50 f.). 84 Vgl. BVerfGE 30, 250 (261 f.); Schürmann, AöR 115 (1990), S. 45 (53) m.w. N. 85 Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 76, Rn. 21, 5. 86 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 304 m.N. aus der Praxis.
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2. Beteiligung des Bundesrates Der Interessenregulierung im demokratischen Bundesstaat dient ferner die Beteiligung des Bundesrates. Der Bundesrat ist die Schnittstelle zwischen Bund und Ländern. Er ist das Organ zur Teilnahme der Länder an der Willensbildung des Bundes. So formuliert Art. 50 GG: „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und der Verwaltung und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit“. Seine Aufgabe ist es, die Gliedstaaten zu repräsentieren und es ihnen zu ermöglichen, ihre Interessen gegenüber denen des Gesamtstaates zu wahren. Dazu sieht das Grundgesetz in bestimmten vorgeschriebenen Fällen die Zustimmung des Bundesrates vor. a) Verfassungsrechtliche Konstruktion Die Zustimmungstatbestände sind nicht geschlossen im Grundgesetz aufgeführt, sondern finden sich verteilt im Verfassungstext, geregelt im Zusammenhang mit der sachlichen Gesetzgebungskompetenz. Bei der Erörterung der Zustimmungstatbestände 87 ergab sich, daß eine Zustimmungspflicht des Bundesrates meist dann ausgelöst wird, wenn es um die Einflußnahme des Bundes auf die Landesverwaltungen geht und die Finanzverteilung betroffen ist. b) Politische Praxis In der politischen Praxis versucht der Bund oft, die Zustimmungspflicht des Bundesrates zu umgehen; in seltenen Fällen auch, sie herbeizuführen. (1) Vermeidung des Zustimmungserfordernisses (a) Teilung von Gesetzen Das klassische Mittel zur Vermeidung des Zustimmungserfordernisses ist die Teilung eines Gesetzes in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil. Es ist beliebt in der Staatspraxis und war in der Lehre lange umstritten. Heute gilt es als anerkannt, daß eine Teilung zulässig ist 88. Auch das Bundesverfassungsgericht hat zugunsten der Staatspraxis entschieden 89. Grenzen sind nur für Mißbrauch gesetzt 90. 87
s.o. 6. Kap., B. III. Jarass / Pieroth, GG, Art. 77, Rn. 4; Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 77, Rn. 23; Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 40 ff.; Hömig, in: Seifert / Hömig, GG, Art. 78, Rn. 5; Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 77, Rn. 52; Antoni, AöR 113 (1988), S. 329 (338 f.); krit. Stern, Staatsrecht II, § 27 IV. 2. b) α). 89 BVerfGE 37, 363 (382); 39, 1 (35). 88
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
(α) Deutung der Gesetzesteilung Angesichts dieses feststehenden rechtlichen Befundes ist es sinnvoller, sich nicht ihm sondern der Interpretation der Gesetzesteilung und der politischen Praxis zuzuwenden. Die Zulässigkeit der Teilung ist die Entsprechung der Einheitsthese des Bundesverfassungsgerichts, nach der sich die Zustimmungspflicht einer zustimmungspflichtigen Vorschrift auf das ganze Gesetz erstreckt 91. Nur vor dem Hintergrund der Einheitsthese wird verständlich, warum bereits eine zustimmungsbedürftige Vorschrift die Zustimmungsbedürftigkeit des ganzen Gesetzes auslöst. Erst dadurch entsteht aus der Sicht des Gesetzesinitianten die Notwendigkeit, ein Gesetz aufzuteilen, wenn er dessen materiellen Gehalt unverändert lassen will. Die Gesetzesteilung wäre nicht notwendig, wenn die Zustimmungspflicht nur einer zustimmungsbedürftigen Norm nicht das ganze Gesetz zustimmungspflichtig machen würde und der Bundesrat damit nicht auch materiellrechtliche Regelungen beanstanden dürfte. Die Gesetzesteilung ist gleichsam die Reaktion der politischen Praxis auf die Einheitsrechtsprechung des Gerichts. Sie ist ein weiteres Beispiel, wie rechtliche Regeln bzw. Rechtsprechung umgangen werden. Die Gesetzesteilung wird in der Literatur zum Teil als Versuch der Bundesregierung und des Bundestages interpretiert, der Entwicklung gegenzusteuern, daß entgegen der ursprünglichen Konstruktion des Grundgesetzes heute die Zustimmungs- und nicht die Einspruchsgesetze die Regel seien 92. Diese Deutung ist idealistisch. Eine derartige Umsicht wird man der Politik nicht unterstellen dürfen. Vielmehr handelt es sich lediglich um den Versuch der (Bundes-)Politik, sich eines weiteren Einflußfaktors – des Bundesrates – zu entledigen. Im übrigen konnte oben festgestellt werden, daß die (Bundes-)Politik für die hohe Zustimmungsquote selbst verantwortlich ist, da sie nicht auf Verwaltungsvorschriften und Regelungen zur Behördeneinrichtung verzichten will (vgl. Art. 84 Abs. 1 GG). Die Zustimmungspflicht des Bundesrates ist daher nicht durch Spaltung der Gesetze zu vermeiden, sondern durch Verzicht auf zustimmungsbedürftige Regelungen. Es wäre darüber hinaus umsichtig und bundesstaatlich verantwortlich, wenn die (Bundes-)Politik auf diese Regelungen in ihren Bundesgesetzen verzichtete und mehr Ungleichheit auch in der Ausführung der Gesetze akzeptieren würde. Ungleichheit auch in der Ausführung der Gesetze ist nämlich ein charakteristisches Merkmal des deutschen Bundesstaates mit seiner funktionalen Aufgabenteilung, welche die Ausführung der Gesetze den Ländern zuweist.
90 Jarass / Pieroth, GG, Art. 77, Rn. 4; BVerfGE 24, 184 (199 f.), 39, 1 (35); 77, 84 (103). 91 Dazu 6. Kap., B. III. 2. 92 Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 40; Herzog, Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes, S. 235 (245); vgl. a. BVerfGE 37, 363 (382).
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(β) Praxis der Gesetzesteilung Die Staatspraxis kennt eine Reihe von Anwendungsvarianten der Gesetzesteilung. Die Fälle lassen sich in zwei Gruppen aufteilen, je nachdem ob eine Aufspaltung von Anfang an – also vor Einbringung in den Gesetzgebungsprozeß – oder erst später als Antwort auf eine Stellungnahme des Bundesrates erfolgt. Diese Fallgruppen werden aktive und reaktive Teilung genannt 93. Dabei muß allerdings klar sein, daß es sich nur um eine äußere, eine formelle Beschreibung handelt. Denn eine Teilung von Anfang an ist zwar formell aktiv, materiell jedoch letztlich reaktiv, da sie nur eine vorweggenommene Reaktion auf eine erwartete Stellungnahme des Bundesrates ist. Sinnvoller ist es daher, von ursprünglicher und formell-reaktiver Gesetzesteilung zu reden 94. Die ursprüngliche Teilung von Gesetzen trägt sich in der Sphäre des Gesetzesinitianten zu. Denn mit dem Einbringen des Entwurfs bei einem weiteren Organ ist die Planungsphase abgeschlossen, und es kann nur noch eine formellreaktive Teilung vorgenommen werden 95. Solange sich der Gesetzentwurf in der Sphäre des Initianten befindet, ist er der Öffentlichkeit noch verborgen. Die Teilung findet daher in weitgehend verborgenen Sphären statt. In der Praxis sind zwei Varianten erkennbar: Die Teilung in zwei oder mehrere allein materielle Teilgesetze sowie die Trennung materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Vorschriften. Das getrennte Initiieren von materiellem Recht und von dieses Recht exekutierenden und daher zustimmungsbedürftigen (Art. 84 Abs. 1 GG) Vorschriften ist die häufigste Variante in der Staatspraxis 96. „Formell-reaktiv ist jede Aufspaltung einer zunächst in einem einheitlichen Entwurf zusammengefaßten Gesetzesvorlage in Teilgesetze als Antwort auf eine kritische Stellungnahme des Bundesrates. Sie kann – je nach Stadium des Legislaturaktes – vom Initianten oder vom Bundestag vorgenommen werden“ 97. Bei der formell-reaktiven Teilung sind wesentlich mehr Varianten denkbar. Denn Teilungen finden in jeder Phase des Gesetzgebungsverfahrens statt. Die erste Möglichkeit der Teilung ergibt sich nach dem Ersten Durchgang beim Bundesrat (Art. 76 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Bundesregierung verfährt nach 93 Die Begriffe gehen zurück auf Pestalozza, ZRP 1976, S. 153 ff.; Fritz, Teilung von Gesetzen, S. 90; ferner Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 70 ff.; Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 41 f.; ebenso, aber ohne die Verwendung der Begriffe Janson, DVBl. 1978, S. 318 ff.; aus der Rechtsprechung BVerfGE 3, 12 (17); 24, 184 (199 f.). Krit. zu den Begriffen „aktiv“ und „reaktiv“ Fritz, Teilung von Gesetzen, S. 90 ff. 94 So Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 90 ff., der noch weitergehend fallbezogen eine Einteilung vornehmen will, dann aber doch in der Gliederung der Fälle die genannte Zweiteilung anwendet, vgl. S. 92 ff., 129 ff. Zum Folgenden ders., ebd. 95 Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 92. 96 Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 95 ff., 102 ff. 97 Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 129.
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einer Beanstandung von materiellrechtlichen Vorschriften durch den Bundesrat so: Sie teilt den ursprünglichen Entwurf auf und faßt die beanstandeten Vorschriften in einem zustimmungsfreien Teil zusammen. Die infolge der Aufspaltung entstandenen Teilgesetze bringt sie gleichzeitig oder zeitlich versetzt in das Gesetzgebungsverfahren ein 98. Dann gibt es die Gesetzesteilung im Verlauf der parlamentarischen Beratungen. Hier ist wiederum zu unterscheiden. Es finden Teilungen durch den Bundestag statt, wenn er das Gesetz nicht initiiert hat. Weiterhin werden im Laufe des parlamentarischen Verfahrens Gesetze durch den Initianten geteilt: durch den Bundestag selbst und die parlamentsexternen Initianten Bundesregierung und Bundesrat. Für eine Gesetzesaufteilung in diesem Verfahrensstadium kommen unterschiedliche Motivationen in Betracht: Der Verlauf der parlamentarischen Debatte oder die Beratungsergebnisse können den Gesetzentwurf oder seine Akzeptanz verändern und damit seine Chancen im Bundesrat verringern. Insbesondere bei Gesetzesentwürfen, die der Bundestag initiiert hat, wird eine ablehnende Haltung des Bundesrates mangels des ersten Durchganges möglicherweise erst im Verlauf der Parlamentsdebatte durch Bundesratsredner signalisiert oder durch politische Äußerungen der Länderregierungen und der sie tragenden Parteien angekündigt 99. Zur Gesetzesteilung durch den Initianten selbst ist aber anzumerken, daß die Eigenschaft als Initiant keine Privilegien hinsichtlich des Einflusses auf die Teilung bringt, was durchaus denkbar wäre. Denn eine Teilung kann geschäftsordungsrechtlich nur als „normaler“ Antrag (§ 82 Abs. 1 GO-BT) abgewickelt werden; er bedarf dafür also der Mehrheit des ganzen Hauses und ist folglich nur konsensual mit der (ganzen) Parlamentsmehrheit – und nicht mit dem Kreis der Unterzeichner – möglich. Noch geringere Einflußchancen haben die parlamentsexternern Initianten Bundesregierung und Bundesrat: Vertreter dieser Organe besitzen allenfalls Zutritts- und Rederechte, aber keine Beschlußkompetenzen und nur in beschränktem Umfange Beteiligungsrechte 100. Die Gesetzesvorlage löst sich also mit der Einbringung in den Bundestag schnell aus dem Einflußbereich des Initianten. Er kann aus seiner Urheberschaft keine besonderen Neugestaltungsrechte ableiten. Aufgrund dieses Umstandes ist schließlich oft auch die Variante anzutreffen, daß der Initiant das Gesetz ganz zurückzieht und Teilgesetze neu einbringt. Eine weiterer Anlaß für diese Variante der Teilung liegt darin, daß erst im Laufe der Parlamentsberatungen Kritik des Bundesrates bekannt wird und der Bundestag der Anregung der Bundesregierung auf Gesetzesteilung nicht nachkommt 101. 98
Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 132. Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 140. 100 Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 143, 145. 101 Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 147. 99
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Eine weitere Kategorie ist die Aufteilung nach dem parlamentarischen Verfahren, d. h. nach dem förmlichen Beschluß des Bundestages und vor der Stellungnahme des Bundesrates. Die Notwendigkeit dazu besteht, wenn der Bundesrat seine Meinung nicht früher artikulieren konnte, weil einer Vorlage erst in der dritten Lesung eine Tendenz gegeben wurde, die dem Willen der Länder zuwiderläuft, oder der Bundesrat verfassungsrechtlich noch nicht zu einer Stellungnahme berufen war, weil das Gesetz vom Bundestag initiiert wurde. Ein weiterer Anlaß für eine Aufteilung besteht für den Initianten, wenn er aus Zeitmangel an einer schnellen Verabschiedung interessiert ist und ein Nein des Bundesrates vermutet 102. Die nächste Variante ist die Aufteilung nach Ablehnung durch den Bundesrat, sei es, daß er Einspruch einlegt, sei es, daß er die Zustimmung verweigert. Hier liegt dann eine eindeutige Ablehnung vor; das Gesetz ist vorläufig gescheitert. Die Teilung dient in einem solchen Fall dazu, das Gesetz ohne Zugeständnisse an den Bundesrat zu verwirklichen. Der Initiant kann auch dann Interesse an einer Aufteilung haben, wenn der Einspruch des Bundesrates mit Zweidrittelmehrheit erfolgte und im Bundestag keine entsprechend qualifizierte Mehrheit zu dessen Zurückweisung erreichbar ist 103. Schließlich gibt es die Gesetzesaufteilung im Vermittlungsverfahren. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus Sicht der Initianten, wenn im Vermittlungsverfahren kein Kompromiß gefunden werden konnte. (b) Verzicht auf zustimmungsbedürftige Regelungen Die Zustimmungsbedürftigkeit wird nicht nur durch die Aufspaltung von Gesetzen vermieden. Vielfach ist gleichzeitig das Bemühen der Regierungsmehrheit zu beobachten, in Gesetzen möglichst auf Regelungen zu verzichten, die eine Zustimmungsbedürftigkeit auslösen könnten. Eine derartige Strategie ließ sich 1996 bei der Behandlung einer Reform des Bundessozialhilferechts und der Arbeitslosenhilfe beobachten. Auch die rot-grüne Bundesregierung konstruierte 2001 ein recht kunstvolles Gesetzgebungspaket, um ohne Konsens mit der Opposition in der Sache das sog. Lebenspartnerschaftsgesetz zu verabschieden 104. Damit zeigt sich, daß die oben im Theorieteil geforderte Zurückhaltung des Bundes bei Verfahrensregelungen zur Vermeidung des Zustimmungserfordernisses möglich ist und den Zweck erfüllt. Es kommt auf den politischen Willen an.
102 103 104
Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 154 f. Fritz, Die Teilung von Gesetzen, S. 162 f. Stüwe, APuZ 50 – 51/2004, S. 25 (29).
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(c) Interpretation des rechtlichen Zustimmungserfordernisses durch die Politik Ob ein Gesetz der Zustimmung des Bundesrates überhaupt bedarf oder ob es sich um ein bloßes Einspruchsgesetz handelt, ist oftmals Gegenstand von politisch-föderalen Streitigkeiten. Das liegt daran, daß die Zustimmungstatbestände der Interpretation bedürfen 105. Sie treten etwa im Ersten Durchgang, aber auch während des Vermittlungsverfahrens auf. Hier stehen sich Bundesrat auf der einen und Bundesregierung und Bundestag auf der anderen Seite gegenüber. So ist der Bundesrat meist der Auffassung, er müsse zustimmen, während die Bundesregierung ihm bloß ein Einspruchsrecht gewähren will 106. Die Haltung zu dieser Frage entspricht naturgemäß den Interessen des betreffenden Organs bzw. der betreffenden bundesstaatlichen Ebene und der handelnden Personen. Sie ist daher eine echte föderale Streitigkeit. Diese Streitigkeiten können letztlich nur vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden. Da das Vorliegen der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen nicht Gegenstand eines Vermittlungsverfahrens 107 oder als solches 108 nicht Gegenstand einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht sein kann, kann der Bundesrat nicht direkt vorgehen. Vielmehr muß er in der Praxis eine der folgenden Möglichkeiten nutzen 109. Der Bundesrat kann das Gesetz für zustimmungsbedürftig halten und die Zustimmung verweigern. Teilen Bundestag und Bundesregierung diese Ansicht nicht und halten es für ein Einspruchsgesetz, leiten sie das Gesetz dem Bundespräsidenten zur Ausfertigung zu. Ist auch er anderer Auffassung als der Bundesrat, fertigt er das Gesetz aus. Der Bundesrat kann dann ein Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG; §§ 63 ff. BVerfGG) anstrengen, die Landesregierungen ein abstraktes Normenkontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; §§ 76 ff. BVerfGG). Ist der Bundespräsident der Auffassung, es handele sich um ein Zustimmungsgesetz, verweigert er die Ausfertigung. Bundesregierung und Bundestag können dann ein Organstreitverfahren einleiten. Ratsamer ist es für den Bundesrat, die Zustimmung zu verweigern und hilfsweise Einspruch einzulegen. Grundsätzlich ist der Bundesrat auf die Alternativen Einspruch oder Zustimmung zu verweisen. Ausnahmsweise ist ein solcher Hilfs105
BVerfGE 28, 66 (79). Vgl. Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 76; Masing, in: Dreier, GG, Art. 77, Rn. 105; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 77, Rn. 20 ff.; Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 556; Schmidt-Jortzig / Schürmann, in: BK-GG, Art. 76, Rn. 272; Stern, Staatsrecht II, § 27 IV. 2. b) γ) m.w. N.; Bryde, ParlRParlPr, § 30, Rn. 42: „Ansprüche des Bundesrates“. 107 Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 76; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 77, Rn. 22. 108 Sie muß sich aus einem konkreten Rechtsverhältnis ergeben: Jarass / Pieroth, GG, Art. 93, Rn. 25. 109 Dazu Stern, Staatsrecht I, § 37 III. 8. c); Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 76 f. 106
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antrag jedoch zulässig, wenn Streit über die Zustimmungsbedürftigkeit besteht 110. Dann muß sich der Bundestag gem. Art. 77 Abs. 4 GG erneut mit der Frage befassen und evtl. den Einspruch zurückweisen. Dann (erst) ist dem Bundesrat der Weg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet. Schließlich kann der Bundesrat den Vermittlungsausschuß anrufen und eine inhaltliche Anpassung des Gesetzes anstreben. Die Prüfung der Zustimmungsbedürftigkeit kann – wie gesagt – nicht Gegenstand des Vermittlungsverfahrens werden, da sie sich aus dem Grundgesetz ergibt und nicht der Verfügung der Gesetzgebungsorgane unterliegt. Ist der Änderungsversuch des Bundesrates erfolgreich, kann er zustimmen und den Einspruch zurücknehmen. (d) Abfassung des Gesetzestextes Vor Einbringung eines Regierungsentwurfes werden regierungsintern alle Gesetze generell auf ihre Zustimmungsbedürftigkeit geprüft 111. Sie werden daraufhin von vornherein so formuliert, daß die Zustimmungsbedürftigkeit – insbesondere aufgrund von Art. 84 Abs. 1 GG – entfällt. Diese Praxis hat Auswirkungen auf die Gesetzesqualität. Sie hat zur Folge, daß zweckmäßigere oder bessere Gestaltungsalternativen von vornherein schon aus diesen formellen Gründen ausgeschieden wurden 112. Damit soll nicht nur die Zustimmungsbedürftigkeit als solche vermieden werden. Die Bundesregierung oder die Mehrheitsfraktionen wollen damit weiterhin umgehen, daß der Bundesrat oder die Oppositionsparteien (über den Bundesrat) ihre inhaltlichen, politischen Interessen in eine Änderung des Gesetzes einbringen können. Dies wird durch die Einheitsthese des Bundesverfassungsgerichts ermöglicht, nach der das ganze Gesetz und damit auch sachliche Inhalte und nicht nur der die Zustimmung auslösende Teil, etwa die Gesetzesausführung, der Zustimmung bedürfen. Darauf wird nicht verzichtet, obwohl die Zustimmung auch noch während des parlamentarischen Verfahrens möglich ist, wie sogleich zu zeigen ist. Daher stellt diese Praxis im vorparlamentarischen Gesetzgebungsverfahren „eine selbstveranlaßte Einengung der Gestaltungsfreiheit des Bundesgesetzgebers dar, die der Qualität der Gesetze nicht zugute kommt“ 113.
110 BVerfGE 37, 363 (396); Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 77, Rn. 22; Stern, Staatsrecht I, § 37 III. 8. c); Kokott, in: BK-GG, Art. 77, Rn. 77. 111 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 368; Fritz, Teilung von Gesetzen, S. 17 ff. 112 Wie hier Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 368 f. 113 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 369.
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(e) Beseitigung des Zustimmungserfordernisses erst während des parlamentarischen Verfahrens Auch noch während der Beratung im Bundestag versucht die politische Praxis, die Zustimmungsbedürftigkeit zu verhindern, und beseitigt die entsprechenden Regelungen 114. Dies ist ein übliches Verfahren, das in den Ausschüssen des Bundestages stattfindet. Oft wird die Zustimmungsbedürftigkeit buchstäblich in letzter Minute beseitigt. Zum Teil verfährt die Praxis auch noch anders und bringt ein im Bundesrat gescheitertes Gesetz noch einmal in einer zustimmungsfreien Version ein 115. (2) Herbeiführung des Zustimmungserfordernisses Überwiegend versucht die Politik also, die Zustimmung des Bundesrates zu umgehen. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Zustimmungsbedürftigkeit herbeigeführt wird, obwohl es gar nicht notwendig ist, den Bundesrat in Form der Zustimmung zu beteiligen. Dies kann absichtlich und unabsichtlich erfolgen. (a) Absichtlich: Zustimmungsgesetz zur Einbeziehung der Opposition So war ein Fall zu beobachten, in dem die Bundesregierung eine Materie durch Rechtsverordnung hätte regeln können. Im Rahmen der sog. Hartz-IVGesetzgebung zur Reform des Arbeitsmarktes entschloß sich die damalige Bundesregierung, den Auszahlungstermin des Arbeitslosengeldes II nicht per Verordnung des zuständigen Ministers, was möglich und üblich gewesen wäre, sondern per Gesetz zu ändern. Der damalige SPD-Vorsitzende Müntefering forderte die Opposition auf, „sich nicht in die Büsche zu schlagen“ 116. Die Bundesregierung hätte also schlicht durch eine ministerielle Verordnung handeln können. Sie hat aber statt dessen ein förmliches Gesetz eingebracht, das der Zustimmung des Bundesrates bedurfte. Da zu dieser Zeit im Bundesrat die von Bundesoppositionsparteien geführten Länder die Mehrheit innehatten, war eine Einigung mit diesen Parteien erforderlich. Aus diesen Gründen kann davon ausgegangen werden, daß die Bundesregierung aus politisch-taktischen 114 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 269; Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 322; Gramm, AöR 124, S. 212 (227). 115 Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (227) mit Beispielen. 116 Handelsblatt, ; N24, Artikel v. 12. August 2004, (letzter Zugriff jeweils: 16. April 2006).
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Gründen die Opposition in die Regelung des Sachverhaltes einbeziehen und ihr damit Mitverantwortung zuweisen wollte. Dafür spricht auch die Formulierung Münteferings. Dieser Fall ist im übrigen ein weiteres Beispiel dafür, daß die vom demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes vorgesehene, gemeinsam zu tragende Verantwortung bei der Zustimmungsgesetzgebung, auch von der Politik und damit der Praxis so gesehen wird. Es kann sich aber dabei auch um politische Grundsatzfragen handeln, in welche die „loyale Opposition“ 117 einbezogen wird. Daneben gibt es die Einbeziehung von Anfang an, namentlich durch interfraktionelle Gesetzesinitiativen 118. (b) Unabsichtlich: Zufällige Bündelung Eine häufig verwendete Kompromißtechnik ist das Gesetzgebungspaket. Darin werden verschiedene Gesetzesvorhaben, die gleichzeitig entscheidungsreif sind, inhaltlich aber keinen Sachzusammenhang aufweisen, zusammen verhandelt. Eine Einigung kommt hierbei dadurch zustande, daß ein Partner in der einen Sache zustimmt, der andere in einer anderen. Hierbei werden Materien zufällig gebündelt, wobei angesichts des Einigungszwanges übersehen wird, daß das ganze Artikelgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf, obwohl die Änderung einzelner Teile auch ohne eine solche Zustimmung hätte zustande kommen können 119. Es wird also eine überflüssige Zustimmungsbedürftigkeit erzeugt. (3) Praxis der Stimmabgabe im Bundesrat Das Grundgesetz sieht vor, daß die Stimmen des jeweiligen Landes nur einheitlich abgegeben werden dürfen (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG). Diese Regelung entspricht deutscher Verfassungstradition und der Repräsentation der Länder im Bundesrat 120. Diese rechtliche Vorgabe hat bedeutende politische Konsequenzen. Der Entscheidungsprozeß im Bundesrat und in der auf ihn zuführenden Willensbildung wird dadurch geprägt. Denn die Entscheidungsfindung in den jeweiligen Landeskabinetten steht damit unter erheblichem Druck 121. Würden sie keine einheitliche Meinung herstellen, würde eine gespaltene Stimmabgabe als ungültig gewertet und die Landeskabinette, aber auch evtl. die (partei-)politisch verbundene Bundesregierung in erhebliche Schwierigkeiten bringen, da evtl. die Mehrheit für ein Gesetz nicht zustande kommt. 117 Kirchheimer, Deutschland oder der Verfall der Opposition, S. 58 ff.; zit. n. Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, S. 54; krit. Schneider, Die parlamentarische Opposition, S. 106 ff. 118 Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, S. 54 f., mit Beispielen. 119 Kirchhof, FAZ v. 4. September 2002, S. 8. 120 s.o. 4. Kap., B. II. 2. vor a); Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 185 ff. 121 Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (183).
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Um diese rechtliche Regelung hat sich eine politische Praxis entwickelt. Einige Praktiken suchen die genannten Schwierigkeiten zu vermeiden (a – b). Daß dies nicht immer möglich ist, zeigt ein Fall aus der Staatspraxis (c). (a) Abstimmungsverhalten im Bundesrat als Gegenstand von Koalitionsvereinbarungen in den Länderregierungen Da im Bundesrat die Landesregierungen vertreten sind und in der parlamentarischen Demokratie mit dem Verhältniswahlrecht die Regierungsbildung in der Regel Koalitionsbildung bedeutet, müssen sich die Koalitionspartner in den Ländern auf ein gemeinsames Vorgehen im Bundesrat einigen. Denn sobald ein Teil einer Landeskoalition parteipolitisch zur Regierungskoalition im Bund gehört, entsteht das parteipolitische Interesse dieser Partei, im Bundesrat nach Parteipolitik abzustimmen. Schwierigkeiten können entstehen, weil die Stimmen im Bundesrat nur einheitlich abgegeben werden können (Art. 51 Abs. 2 Satz 2 GG), die Koalitionäre in den Ländern sich aber auf ein einheitliches Vorgehen nicht einigen können. Die (partei-)politisch verbundene Bundesregierung wird es kaum zulassen, daß die Stimmen des Landes gegen sie abgegeben werden 122. Da diese Problematik bekannt ist, sehen die Koalitionsverträge diesbezügliche Vereinbarungen vor (sog. Bundesratsklausel 123). Sie sehen Verhaltensregelungen vor für den Fall, daß es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionspartnern hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat kommt. Dies kann durch Übertragung der Stimmführerschaft an den Koalitionspartner, der auch an der Bundesregierung beteiligt ist, geschehen, durch Entsendung des Koalitionspartners in den Vermittlungsausschuß, durch eine von Fall zu Fall auszuhandelnde Stimmführung oder durch grundsätzliche Stimmenthaltung 124, was überwiegend der Fall ist 125. Ausnahme geblieben ist die rheinland-pfälzische Ver-
122
Laufer / Münch, Föderalismus, S. 192. Auch „Koalitionsklausel“ genannt, etwa Gebauer, Interessenregelung im föderalistischen System, S. 67 (78). 124 Beispiel für eine Bundesratsklausel, in der Stimmenthaltung vereinbart wurde: Klausel der Landesregierung Nordrhein-Westfalen 2005 –2010 (CDU-FDP-Koalition): „Die Landesregierung wird sachbezogen und konstruktiv an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken und dabei die Interessen Nordrhein-Westfalens wirksam vertreten. Die Koalitionspartner vereinbaren, bei Festlegungen des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat nur übereinstimmende Entscheidungen zu treffen. Kommt eine Einigung über das Abstimmungsverhalten nicht zustande, wird sich das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat der Stimme enthalten.“ (Koalitionsvertrag vom 20. Juni 2005). 125 Politikwissenschaftlich: Laufer / Münch, Föderalismus, S. 192 f.; Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (183); vgl. a. Kropp / Sturm, APuZ 19/1999, S. 37 (43); Schneider, Ministerpräsidenten, S. 218 ff.; rechtswissenschaftlich: v. Münch, Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsvereinbarungen; Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 50, Rn. 75; Zuck, NJW 1997, S. 297 ff.; Bandorf, ZRP 1977, S. 81 (82). 123
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einbarung von 1996, nach der das Los entscheidet 126. Die meisten Regierungsbündnisse heben hervor, daß bei Verhandlungen der Koalitionspartner über das Stimmverhalten im Bundesrat die Interessen des Bundeslandes absoluten Vorrang haben – gleichsam eine wechselseitige Versicherung der Koalitionsparteien, daß sich die Legitimität der Landesregierung eben nicht vorrangig aus dem Willen der Bundesparteien und bundespolitischen Gesichtspunkten speise 127. Es gab aber auch Landesregierungen, die politisch mit der Koalitionskonstellation auf Bundesebene übereinstimmten und in ihren Koalitionsvereinbarungen die Unterstützung der Bundesregierung im Bundesrat vereinbart hatten 128. Bei Koalitionsverträgen besteht in ihrer Einordnung und Bindungswirkung ein Unterschied zwischen Recht und Politik. Rechtlich gesehen haben Koalitionsverträge keine Bedeutung. Es handelt sich um bloße politische Absprachen ohne rechtliche Verbindlichkeit 129. Anders hingegen ist die politische Bedeutung. Die Koalitionsvereinbarungen und damit die Bundesratsklauseln erzeugen eine Bindungswirkung, die einer rechtlichen nahekommen kann. Aber sie erreicht sie dennoch nie, wie viele Beispiele gebrochener Vereinbarungen zeigen. Insofern bleiben sie stets dem Politischen verhaftet. Der „Verstoß“ gegen solche Vereinbarungen führt dann keine rechtliche Sanktion herbei, sondern politische Konsequenzen, die von einer Regierungskrise bis zur Auflösung der Koalition reichen können. Dies läßt sich anhand des Verstoßes gegen die Bundesratklausel zeigen. Rechtlich gesehen ist eine weisungswidrige Stimmabgabe gültig 130. Wenn die Stimmführer im Bundesrat die Klausel ignorieren und sich über den Koalitionspartner hinwegsetzen, so signalisiert eine solche Verhaltensweise jedoch politisch gesehen in aller Regel die Abkehr von einer am Konsens orientierten Zusammenarbeit 131. Koalitionsvereinbarungen und damit auch die Bundesratsklausel sind ein weiteres Beispiel für die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat – hier nach dem Muster der Verhandlung. Die Verhandlung ist aber gerichtet auf das Konfliktlösungsmuster der Entscheidung durch Abstimmung: im Landesparlament bezüglich der Verabschiedung des Koalitionsvertrages oder bzgl. einer Abstimmung im Bundesrat. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, daß sich die 126
Vgl. dazu Jutzi, ZRP 1996, S. 380 ff.; Zuck, NJW 1997, S. 297 ff. Kropp / Sturm, APuZ 19/1999, S. 37 (43 f.). 128 Vgl. Kropp / Sturm, APuZ 19/1999, S. 37 (43 f.). 129 Degenhart, Staatsrecht, Rn. 428; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 178; Badura, Staatsrecht, E, Rn. 95; Schenke, in: BK-GG, Art. 65, Rn. 25 ff.; v. Münch, Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsvereinbarungen, S. 20, 25 f.; a. A.: verfassungsrechtlicher Vertrag Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65, Rn. 18; Sasse, JZ 1961, S. 719 ff.; Friauf, AöR 88 (1963), S. 257 (307 ff.). 130 Blumenwitz, in: BK-GG, Art. 51, Rn. 16; Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 51, Rn. 14; Jarass / Pieroth, GG, Art. 51, Rn. 6. 131 Kropp / Sturm, APuZ 19/1999, S. 37 (43) mit Beispielen. 127
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Entscheidungsmuster Verhandeln und Mehrheit im demokratischen Bundesstaat gegenseitig ergänzen. Es zeigt sich abermals, daß ein Entscheidungsprinzip nicht gegen das andere ausgespielt werden kann. Bei der Bundesratsklausel handelt es sich um ein Konfliktlösungsmuster, das die politische Praxis „sich geschaffen“ hat. Sie ergänzt die rechtlichen Regelungen und sorgt als „Öl“ für „Schmierung“ im demokratischen Bundesstaat. Die Notwendigkeit dieser Handlungsvereinbarung ergibt sich aus der Eigenart des demokratischen Bundesstaates, in dem parlamentarische Demokratie und Bundesstaat sich vereinigen. (b) Flucht in die Enthaltung Eine der genannten Möglichkeiten für das Abstimmungsverhalten politisch uneiniger Landeskabinette ist die Flucht in die Enthaltung im Bundesrat. Kann sich eine Landesregierung, die aus einer Koalition gebildet wurde, nicht auf einen einheitlichen Kurs im Bundesrat einigen, besteht die Möglichkeit, sich der Stimme zu enthalten. Dieses Vorgehen ist allerdings sehr riskant. Die Wirkung einer Enthaltung kann ganz unterschiedlich sein. Nach Art. 52 Abs. 3 GG erfordern Entscheidungen des Bundesrates (die immer über eine positive Abstimmungsfrage herbeigeführt werden müssen) immer eine absolute Mehrheit aller Bundesratsstimmen. Das heißt, daß bei den gegenwärtig insgesamt 69 Stimmen für jede Entscheidung 35 positive Stimmen benötigt werden. Dies hat zur Folge, daß Enthaltungen faktisch die Wirkung von Nein-Stimmen haben 132. Eine Enthaltung kann z. B. aber auch dazu führen, daß eine kritische Stellungnahme des Bundesrates nicht zustande kommt; der Entwurf wird dann ohne Anmerkungen dem Bundestag zugeleitet 133. Wegen dieser schwer zu kalkulierenden Folgen muß der Gebrauch dieser Möglichkeit stets genau auf ihre weitere Auswirkung geprüft werden, denn sie beinhaltet das Risiko einer Schädigung des Landesund / oder Parteiinteresses 134. Hier können Landespolitiker in einer Zwickmühle stecken: Da sie nicht nur Landesvertreter, sondern auch Parteimitglieder sind, ist die Schädigung einer der beiden Sphären zumindest wahrscheinlich. Die politisch-informellen Gremien der parteipolitisch-föderalen Koordination können hier helfen, Schaden zu vermeiden. (c) Uneinheitliche Stimmabgabe im Bundesrat (Streit um das Zuwanderungsgesetz) Am 22. März 2002 ereignete sich der Streit im Bundesrat um das sog. Zuwanderungsgesetz. Bei der Abstimmung über dieses Gesetzesvorhaben antwortete 132 Statt vieler Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (183); Gebauer, Interessenregelung im föderalistischen System, S. 67 (78). 133 Gebauer, Interessenregelung im föderalistischen System, S. 67 (78). 134 Leonardy, ZParl 2002, S. 180 (183).
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der Innenminister als Vertreter des Landes Brandenburg auf die Frage des Bundesratspräsidenten mit „Ja“, der Ministerpräsident als weiterer Vertreter mit „Nein“. Der Bundesratspräsident stellte daraufhin fest, daß das Land nicht einheitlich abgestimmt habe. Auf weitere Nachfrage antwortete der Ministerpräsident Brandenburgs „als Vertreter seines Landes“ mit „Ja“, der Innenminister „Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident“. Der Präsident wertete die Stimmabgabe schließlich als gültige Zustimmung 135. Der Vorfall wurde in der Literatur kontrovers diskutiert. Herrschend war dabei die Auffassung, daß die Stimme des Landes Brandenburgs ungültig war und es keine Mehrheit für das Gesetz im Bundesrat gab 136. Bereits vor dem Fall wurde ganz überwiegend vertreten, daß eine uneinheitliche Stimmabgabe die Stimme ungültig mache 137. Nur vereinzelt wurde in der Literatur die Abgabe der Stimme durch den Stimmführer für das ganze Land als zulässig und damit gültig angesehen 138. Auch der Fall des Zuwanderungsgesetzes wurde unterschiedlich beurteilt. Überwiegend urteilte das Schrifttum, die Stimme des Landes Brandenburg sei uneinheitlich abgegeben worden und damit ungültig 139. Andere Autoren sind der Auffassung, die Stimmabgabe sei gültig und das Gesetz formell ordnungsgemäß zustande gekommen 140. Das Bundesverfassungsgericht 135 Sachverhaltsbeschreibung mit Auszug aus dem Sitzungsprotokoll bei Dörr / Wilms, ZRP 2002, S. 265; Kramer, JuS 2003, S. 645 f.; BVerfGE 106, 310 (310 ff.). 136 Vgl. dazu die Beiträge in dem Sammelband Meyer (Hrsg.), Abstimmungskonflikt im Bundesrat im Spiegel der Staatsrechtslehre; eine Zusammenfassung der Kontroverse findet sich auch in ZParl 2003, S. 596 ff. 137 Bauer, in: Dreier, GG, Art. 51, Rn. 22; Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 510; Herzog, HbStR III, § 59, Rn. 23; Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn. 343; Jekewitz, AKGG, Art. 51, Rn. 10; Korioth, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Band 2, Art. 51, Rn. 21; Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 51, Rn. 13; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 51; Rn. 27, Fn. 1; ders., Die Rechtsstellung der Mandatsträger im Bundesrat, S. 193 (207); v. Münch, Staatsrecht I, Rn. 725; Jarass / Pieroth, GG, Art. 51, Rn. 6; Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art. 51 GG, Rn. 51; Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 67; Robbers, in: Sachs, GG, Art. 51, Rn. 15; Scholl, Bundesrat, S. 54. 138 Stern, Staatsrecht II, § 27 III. 2. b) α); etwas unklar, wohl Stern folgend Blumenwitz, in: BK-GG, Art. 51, Rn. 29. 139 Bauer, Verfassungspoker im Bundesrat, S. 119 (132); Wilms, bei Dörr / Wilms, Verfassungsmäßigkeit der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz?, S. 76 (79 f.); Schenke, Die verfassungswidrige Bundesratsabstimmung, S. 18 (30); Bienert, Zur Frage unterschiedlichen Abstimmungsverhaltens, S. 53 (58); Ipsen, Gespaltenes Votum bei Abstimmungen im Bundesrat, S. 68 (73); Herzog, Die Welt v. 25. März 2002, S. 6; Lerche, BayVBl. 2002, S. 577 (578); ders., Stolpes mißlungener Zaubertrick, S. 12 (13); Gröschner, Das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat, S. 84 (95); Renner, NJW 2003, S. 332 f.; Hoppe, Das Schweigen von Innenminister Schönbohm im Bundesrat, S. 74 (75); Tschäpe, VR 2003, S. 109 (133 f.); Starck, ZG 2003, S. 81 (89); ders., FAZ v. 26. März 2002, S. 4; Kramer, JuS 2003, S. 645 (649). 140 Die Begründungen für die Auffassung sind jedoch unterschiedlich: Dörr, bei ders. / Wilms, Verfassungsmäßigkeit der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz?, S. 76
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hat aufgrund dieses Falles die offene Frage entschieden 141. Zu Recht hat es geurteilt, daß das sog. Zuwanderungsgesetz formell verfassungswidrig zustande gekommen ist. Es gebe unter den Bundesratsmitgliedern, d. h. den Vertretern eines Landes, keinen Stimmführer. Der Inhaber einer landesrechtlichen Richtlinienkompetenz habe keine bundesverfassungsrechtlich hervorgehobene Stellung. Die Nachfrage nach der Stimme des Landes habe keine Bedeutung. Zwar habe der Präsident als Sitzungsleiter ein Recht zur Nachfrage; dies entfalle jedoch, wenn ein erkennbarer Landeswille nicht bestehe 142. Die rechtliche Streifrage ist mit dem Urteil entschieden und bedarf daher keiner weiteren Erörterung. Für die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat jedoch ist der gesamte Vorfall von seinen Anfängen bis zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht von Interesse. Das Urteil steht in Einklang mit dem demokratischen Bundesstaat hiesiger Lesart. Die einheitliche Stimmabgabe sieht das Grundgesetz vor, weil sie dem – einheitlichen – Willen des Landes, der zuvor auf Landesebene gebildet wurde, entspricht. Dieser Wille ist die Teilhabe eines Landes an der gemeinsamen Legitimation gesamtstaatlicher Entscheidungen (sofern es um die Zustimmungsgesetzgebung geht). Hätte das Gericht anders entschieden, hätte es das Bundesstaatsprinzip zugunsten von Parteiinteressen 143 und des demokratischen Prinzips geschwächt. Dem demokratischen Prinzip wurde aber bereits durch die Entscheidungsfindung und Legitimation auf Landesebene hinreichend Rechnung getragen. Die Meinungsbildung muß im demokratisch-parlamentarischen System auf Landesebene erfolgen. Defizite der Politik auf dieser Ebene dürfen nicht auf die Bundesebene verlagert werden, allein weil es sich um zwei getrennte Verfassungssphären handelt. Ein Bundesorgan muß nicht ausgleichen, was auf Landesebene versäumt wird. Der Fall zeigt auf, welche Folgen eine unterbliebene informelle Konfliktlösung haben kann. Gerade das Scheitern des Gesetzesvorhabens belegt, daß der demokratische Bundesstaat ansonsten geräuschlos funktioniert. Er belegt ferner das oben bereits beschriebene Phänomen, daß überwiegend bei politischideologischen Grundsatzfragen eine Parteipolitisierung des Bundesrates erfolgt. (78 f.): Stimmen sind jedenfalls nicht ungültig; Pestalozza, Laienspiel im Bundesrat, S. 14 f.: Unklarheit konnte und mußte durch Nachfrage beseitigt werden; Denninger, Der Spiegel Nr. 13/2002, S. 24: Der Ministerpräsident habe den Innenminister mit seiner Richtlinienkompetenz überstimmt; Mahrenholz, Des Bundesrates theatralische Sendung, S. 323 f.; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 51, Rn. 6: Uneinheitlichkeit mache alle Stimmen ungültig; der Bundesratspräsident sei zur Nachfrage verpflichtet; Morlok, Persönlich gesprochen, S. 16 f.; v. Mutius / Pöße, Offener Verfassungsbruch im Bundesrat?, S. 96 (105 f.): einheitliche Stimmabgabe durch Ministerpräsidenten, kein ausdrückliches „Nein“ durch Innenminister. 141 BVerfGE 106, 310. 142 BVerfGE 106, 310 (330 ff.). 143 Tschäpe, VR 2003, S. 109 (112); vgl. a. Gröschner, Das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat, S. 84 (95).
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„Normalerweise“ sind selbst politische Grundsatzfragen über die politisch-informellen Konfliktlösungsmechanismen in Ausgleich zu bringen. Daß dies hier nicht gelang, ist Ausdruck der hier noch stärker ausgeprägten materiellen Grundsätzlichkeit, die hinter dem formellen Problem lag (Ausländerpolitik). Daß kein Ergebnis erzielt werden konnte, ist keine Folge der Behinderung des Bundestages durch den Bundesrat, sondern ein Ausdruck der Zwiespältigkeit des Landes in einem inhaltlichen Problem. Dies sollte man zur Kenntnis nehmen und anerkennen. Das Gesetzgebungsverfahren des sog. Zuwanderungsgesetzes ist ferner Folge des komplexen Systems demokratischer Bundesstaat, in dem eine Reihe von Entscheidungen getroffen werden müssen, bevor eine endgültige Willensbildung des Gesamtstaates erfolgt. Diese Entscheidungen verlaufen nach den Mustern Verhandeln und Mehrheit. Im Fall der Zustimmungsgesetzgebung erfolgt auf der Landesebene die Willensbildung durch Verhandlung; gegebenenfalls entscheidet der Ministerpräsident aufgrund seiner Richtlinienkompetenz, die freilich auf Bundesebene unbeachtlich ist. Insoweit kommt auch das Entscheidungsmuster Hierarchie zum Tragen. Auf der Bundesebene im Bundesrat stimmen die Länder nach dem Prinzip der Mehrheit ab. Ferner zeigt der Fall die soeben beschriebene Konsequenz auf, die eintritt, wenn eine Landeskoalition sich über den Koalitionsvertrag hinwegsetzt. Jede andere Koalition wäre wohl zerbrochen. Nur durch das letztlich nicht ganz durchschaubare, offenbar abgestimmte Verhalten von Ministerpräsident und Innenminister im Bundesrat und durch deren unbedingten Willen, an der Koalition im Lande festzuhalten, sowie das persönlich gute Verhältnis der beiden Führer konnten die starken Spannungen nach der Abstimmung unterdrückt und ein Auseinanderbrechen der Koalition verhindert werden. Schließlich ist der Fall ein Lehrbeispiel für den Stil in der Politik. Der damalige Bundesratspräsident hat entgegen der Zuarbeit des Direktors des Bundesrates gehandelt, der die Problematik in einem Rechtsgutachten lege artis begutachtet und dem Präsidenten eine entsprechende Handlungsempfehlung gegeben hatte 144. Der Bundesratspräsident handelte nicht als neutraler Sitzungsleiter, sondern als Parteipolitiker. Kaum besser ist da die in der Sache zwar berechtigte, aber inszenierte Empörung der Oppositionsländer.
144 FAZ v. 26. März 2002, S. 5; Einlassung des Direktors des Bundesrates in einem dpaGespräch, dpa 2679 vom 25. März 2002; Jekewitz, Der Streit um das Zuwanderungsgesetz, S. 134 (135, Fn. 10) weist darauf hin, daß „pikanterweise“ der Nachfolger des Direktors in dieser Sitzung gewählt wurde.
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(d) Stimmabgabe nach Parteien (Politisierung des Bundesrates) Die wohl bekannteste und umstrittenste politische Praxis des Bundesrates ist die Stimmabgabe im Bundesrat nach Parteien. Sie hat die Diskussion um die Parteipolitisierung des Bundesrates ausgelöst. Dies wurde oben bereits umfassend erörtert. An dieser Stelle sei nur nochmals darauf hingewiesen, daß die Stimmabgabe nach (partei-)politisch verbundenen Ländern zulässig ist, weil sie eine logische Folge des demokratischen Bundesstaates ist. Es ist ferner nochmals anzumerken, daß die Stimmabgabe nach Parteien im Bundesrat die Ausnahme und nicht die Regel ist. Sie findet nur bei wenigen, politisch polarisierenden Grundsatzfragen statt. Im übrigen herrscht im Bundesrat ein sachliches, an föderalen Interessen ausgerichtetes Arbeiten. 3. Das Verfahren des Vermittlungsausschusses Der Vermittlungsausschuß ist bei der Untersuchung der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Zum einen als verfassungsrechtliches Gremium der Konfliktlösung, dem eine Vielzahl von anderen, politisch-informalen Gremien zur Seite steht. Dies wurde bereits dargestellt. Zum anderen ist das Verfahren der Anrufung des Vermittlungsausschusses zu betrachten. Um dieses Verfahren soll es an dieser Stelle gehen. a) Verfassungsrechtliche Konstruktion Das Grundgesetz trifft nur wenige Aussagen zum Vermittlungsausschuß. Zu Recht wird in der Literatur stets darauf hingewiesen 145. Weitere Regelungen trifft die Geschäftsordnung, aber auch diese enthält nur Bestimmungen für den äußeren Rahmen des Verfahrens (Zusammensetzung, Beschlußfähigkeit, Beschlußfassung und Verfahrensabschluß). Die innere Gestaltung des Verfahrens ist dagegen bewußt den Ausschußmitgliedern überlassen 146. Das entspricht dem Charakter des Vermittlungsverfahrens als politischer Einigungsinstanz. Einerseits ist es sinnvoll, eine solche Aufgabe nicht innerhalb eines starr schematischen Rahmens zu bewältigen 147. Das Verfahren kann den politischen Bedürfnissen flexibel angepaßt werden. Andererseits liegt eine Gefahr dieser Offenheit darin, daß der durch die Verfassung gesteckte Rahmen durch die politische Praxis überlagert
145 Z. B. Kluth, HbStR III, § 60, Rn. 40; Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 17; Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 7; vgl. a. Dästner, GeschO VermA, Einleitung, Rn. 3: „offene Regelungskonzeption“. 146 Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, S. 108; Wessel, AöR 77 (1951/52), S. 283 (286). 147 Möller, Vermittlungsausschuß, S. 51 f.; Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 20.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
297
und verformt wird 148 und daß unklare Verfahrenssituationen mehr unter dem Druck konkreter politischer Interessen als nach rechtlichen Vorgaben entschieden werden 149. Die fragmentarische Regelung des Vermittlungsausschusses ist ein Grund dafür, daß sich eine Reihe politisch-informeller Verfahren und Gremien um den Vermittlungsausschuß ranken. Sofern jedoch Regelungen getroffen wurden, ist zu beobachten, daß die Ausschußpraxis davon erheblich abweicht 150. Es besteht also in der Interessenvermittlung ein großes Bedürfnis nach vielseitigen Verfahrensmöglichkeiten. Ein vollständiges Bild entsteht daher erst mit dem rechtlichen und dem politisch-informellen Verfahren. Das Grundgesetz schreibt vor, daß der Bundesrat binnen drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses verlangen kann, daß ein aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates gebildeter Ausschuß für die gemeinsame Beratung von Vorlagen einberufen wird. Den Rest überläßt die Verfassung einer Geschäftsordnung (Art. 77 Abs. 2 Satz 1, 2 GG). Als rechtlich normierte Verfahrensschritte sind der GO-VermA neben der wirksamen Anrufung und Ladung (§ 7 GO-VermA) nur die Abhaltung einer und höchstens dreier Sitzungen (§ 12 GO-VermA) sowie weitere Vorgaben für das Verfahren in Bundestag und Bundesrat (§§ 10, 11 GO-VermA) zu entnehmen. Das Entsendungsverfahren ist in der jeweiligen Geschäftsordnung des Bundestages bzw. Bundesrates geregelt (§§ 54 Abs. 2, 12 GO-BT; § 11 Abs. 4 GO-BR). Das Verfahren der Anrufung ist dort ebenfalls normiert (§ 89 GO-BT; §§ 30 f. GO-BR). b) Politische Praxis Die politische Praxis weicht von diesem verfahrensrechtlichen Kern zum Teil erheblich ab und ist vielfältig (1). Sie reicht von einer fast ausschließlichen Verlagerung der Gesetzgebung in dieses Gremium bis zu seiner völligen Umgehung (2). Dazwischen finden sich eine Reihe weiterer politischer Praktiken (3)-(6). (1) Die Verfahrensstadien in der Praxis Sofern sich in der Praxis eigenständige Gremien um den Vermittlungsausschuß gebildet haben, wurden diese im Abschnitt „Gremien der Konfliktlösung“ beschrieben 151. Hier geht es zunächst um die Modifikation des Verfahrens. Die Staatspraxis hat zum Teil feste Verfahrensgrundsätze entwickelt. Es lassen sich bis zu acht verschiedene Verfahrensschritte unterscheiden 152:
148 149 150 151
Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 20. Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 8; ders., ZRP 1987, S. 227 f. Kluth, HbStR III, § 60, Rn. 40. B.II.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
(a) Technische Ingangsetzung des Verfahrens durch Bestimmung der Berichterstatter und Vorberatungen der Parteien; (b) halboffizielle Kontaktaufnahme der beiden Seiten; (c) Aufnahme der offiziellen Ausschußberatungen (= erste formelle Sitzung); (d) offizielles Zwischenverfahren nach dem Ergebnis der ersten Verhandlungen; soweit diese ohne Ergebnis blieben, durch gruppeninterne Beratungen; (e) Fortsetzung der Ausschußberatungen (= zweite formelle Sitzung); (f) gegebenenfalls dritte Ausschußsitzung; (g) politische Umsetzung des Einigungsergebnisses im parlamentarischen Raum und in den Länderkabinetten; (h) formelle Abschlußabstimmungen in Bundestag und Bundesrat. Diese Liste ist eine Aufzählung der formellen und der informellen Schritte des Vermittlungsverfahrens der Reihe nach. Sie ist gleichsam ein Längsschnitt durch das Vermittlungsverfahren, berücksichtigt aber noch nicht die sonstigen Verfahrensschritte, die im Umfeld des Vermittlungsverfahrens stattfinden, die sozusagen quer dazu liegen. Solche Gespräche begleiten das Verfahren und bestimmen sich nach politischen, föderalen Gesichtspunkten und sonstigen Interessen (z. B. Finanzen, Gemeinsamkeiten zwischen Bundesländern). Sie entsprechen damit den Konfliktlagen im demokratischen Bundesstaat. So finden regelmäßig bereits vor dem Vermittlungsverfahren politische Vorbesprechungen in getrennten Zirkeln der A- und B-Länder (nur selten auch der kleinen Parteien) statt 153. Auch erfolgen Besprechungen sonstiger durch gemeinsame Interessen verbundener Verantwortungsträger 154. Ferner wird das förmliche Vermittlungsverfahren durch Begleitgespräche informell flankiert und damit erweitert. Auch hier stimmen sich politische oder durch anderweitige Interessen verbundene Lager ab. Diese Gesprächsrunden wurden oben 155 bereits näher erläutert. (2) Vom „Überparlament“ zur „Verfassungsinstitution im Wartestand“ Die Beanspruchung des Vermittlungsausschusses in der Praxis variierte im Laufe der Zeit. Es sind Wahlperioden erkennbar, in denen er oft eingeschaltet wurde, und solche, in denen von ihm kaum Gebrauch gemacht wurde. Besonders auffällig sind die Wahlperioden der siebziger und frühen achtziger Jahre (WP 7 bis 9) und der mittleren bis späteren achtziger Jahre (WP 10 und 11). In der 7. Wahlperiode erreichte die absolute Zahl der Anrufungen mit 104 einen Höhepunkt. In der 8. Wahlperiode betrug sie immerhin noch 77 156. Nach dem 152 Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, S. 200 ff.; Kluth, HbStR III, § 60, Rn. 40; Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 17. Vgl. a. Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 8, 34. 153 s.o. II. 2. a) (3). 154 Vgl. Dietlein, ParlRParlPr, § 57, Rn. 34. 155 B.II.2.a) (3). 156 Bundesrat (Hrsg.), Handbuch des Bundesrates 2000/01, S. 291.
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Regierungswechsel im Oktober 1982 ging die Zahl der Anrufungen stark zurück. In den nachfolgenden drei Jahren wurde der Vermittlungsausschuß nicht ein einziges Mal angerufen 157. Die Anrufungsquote schwankte damit von 21,8 % (8. WP [1976 – 1980]) und 1,9% (10. WP [1983 –1987]) 158. Er wurde von einem „Überparlament“ 159 zu einer „Verfassungsinstitution im Wartestand“ 160. Wie ist eine solche Schwankung zu erklären? Ein Grund liegt in den divergierenden Mehrheiten zwischen Bundestag und Bundesrat. In solchen Zeiten treten verstärkt politisch-föderale Konflikte auf, die gelöst werden müssen. In Zeiten gleichgerichteter Mehrheiten ist es möglich, föderale Vermittlungen in ad-hoc-Gremien und dem Parteipräsidium der im Bund dominierenden Partei stattfinden zu lassen 161. Dabei handelt es sich letztlich um einen rechtlichen Grund, da divergierende Mehrheiten zwischen beiden Legislativorganen zwangsläufige Folge des demokratischen Bundesstaates sind 162. Dies kann aber nicht der einzige Grund 163 sein, wie die Praxis der frühen Regierung Kohl zeigt. Es gibt noch einen politischen Grund: Die damalige Bundesregierung hatte den Wunsch, durch Verständigung mit den ihr parteipolitisch verbundenen Landesregierungen, die Anrufung des Vermittlungsausschusses zu vermeiden 164. Damit ist der politische Stil, die Eigenart eines Regierungschefs ebenfalls eine Ursache. Dieses Vorgehen wurde aber auch ermöglicht, weil eben die Mehrheitsverhältnisse in beiden Kammern im Vorfeld der Gesetzgebungsverfahren Abstimmungen unter politisch Verbundenen erleichtert haben. Ein weiterer Grund liegt darin, daß der Verzicht auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses bereits Teil von (Verfahrens-)Kompromissen wurde 165. Eine Anrufung ist dann nicht mehr notwendig. Schließlich ermöglicht solches Vorgehen, sich gegenüber dem politischen Gegner und in der Öffentlichkeit als handlungsfähig darzustellen, es 157 158
Dietlein, ZRP 1985, S. 322. Anrufungsquote gemessen an den dem Bundesrat zugeleiteten Gesetzesvorlagen: WP
1.
2.
3.
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6.
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9. 10. 11.
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14.
15.
Ø
% 13,4 12,5 11,4 9,1 8,5 9,9 20,2 21,8 14,4 1,9 3,5 16,8 16,3 13,8 25,4 13,3
Quelle: Eigene Berechnungen aufgrund Bundesrat (Hrsg.), Handbuch des Bundesrates 2000/01, S. 291 und ders., Handbuch des Bundesrates 2004/05, S. 305 f. 159 Diese Bezeichnung erfolgt im Schrifttum ohne Quellenangabe. Eine mögliche Quelle ist die Presse oder die Politik selbst. Dietlein, NJW 1983, S. 80, Fn. 3 gibt als einziger Autor eine Quelle an: Bischof, Münchener Merkur v. 13. Mai 1982; Hauenschild, Erfolgserlebnisse, Hannoversche Allgemeine v. 15. Mai 1982. 160 Dietlein, ZRP 1985, S. 322. 161 Vgl. Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 242. 162 s. o. 2. Kap., B. II. 1. 163 So aber Dästner, GeschO VermA, Einleitung, Rn. 2: Grund „vor allem in den unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen“. 164 Posser, HbVerfR, § 24, Rn. 101 a.E.; Renzsch, ZParl 1989, S. 331 ff. 165 Ausführlich dazu sogleich unten C. II. 8.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
versteckt parteiinterne Differenzen, es stärkt die innerparteiliche Bereitschaft zu Zugeständnissen und bildet die Voraussetzung, im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens eine einheitliche Position von Bundesrats- und Bundestagsmehrheit bzw. Bundesregierung zu präsentieren 166. Mit dieser Verfassungspraxis der Umgehung des Vermittlungsausschusses sind nicht nur Vorteile, sondern auch rechtliche und politische Gefahren verbunden. Sie ist bedenklich, weil eine Station des Gesetzgebungsverfahrens umgangen wird und Mängel der Gesetzesbeschlüsse auftreten können 167. Sie ruft auch politische Gefahren für die Bundesregierung hervor. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat ergeben, daß sich die Bundesregierung parteipolitisch von den „eigenen Leuten“ erpreßbar macht, wenn sie auf bloße politisch-informelle Konfliktregulierung setzt 168. Denkbar ist ferner bei dieser Praxis, daß die „eigenen“ Bundesländer bevorzugt werden. Daß dies nicht unbedingt der Fall sein muß, hat die Sozialwissenschaft ebenfalls gezeigt. Innerparteiliche Koordinierungsprozesse können, müssen aber nicht die Schlechterstellung der Länder bedeuten, die dem anderen politischen Lager angehören 169. Gerade weil sich die Interessen der parteipolitisch verbundenen Länder bei diesen föderalen Konflikten nicht parteipolitisch scheiden, sondern eine Trennung innerhalb dieser Gruppe aufgrund echter föderaler Interessen erfolgt (z. B. finanzschwache gegen finanzstarke Länder), ist es möglich, daß ein derart ausgehandelter Kompromiß auch dem anderen parteipolitischen Lager, etwa dessen finanzschwachen Ländern, annehmbar erscheint. In diesem Fall steigern die innerparteilichen Koordinationsprozesse die Effizienz des föderativen Aushandlungsprozesses 170. Mit dem umgekehrten Fall, der hohen Beanspruchung des Vermittlungsausschusses, verbinden einige Autoren ebenfalls Gefahren. In der Verlagerung des gesetzgeberischen Schwerpunkts auf den Vermittlungsausschuß liege eine Stärkung des exekutiven gegenüber dem legislativen Element und damit eine Gouvernementalisierung des Gesetzgebungsverfahrens 171. Die parlamentarische Willensbildung des Bundestages werde aufgeweicht und unterlaufen 172. Der Vermitt-
166
Münch, Der Bundesrat, S. 133 (142 f., 141). Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 358 ff. und Dietlein, ZRP 1985, S. 322 (326). 168 Renzsch, ZParl 1989, S. 331 ff. 169 Münch, Der Bundesrat, S. 133 (143); Renzsch, Föderalstaatliche Konfliktlösung durch parteipolitische Kartellbildung?, unveröff. Manuskript, zit. n. Münch, Der Bundesrat, S. 133 (143); Renzsch, ZParl 1989, S. 331 (338 ff.). 170 Münch, Der Bundesrat, S. 133 (143). 171 Schenke, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses, S. 43; Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 26; ders., RuP 1982, S. 70 (72). 172 Franßen, Der Vermittlungsausschuß, S. 273 (280); Jekewitz, RuP 1982, S. (70) 72. 167
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lungsausschuß sei letztlich undemokratisch 173. Daher werten diese Vertreter das Vermittlungsverfahren als in seinen Kompetenzen zu beschränkende Ausnahme. Die Sichtweise der Entdemokratisierung der Gesetzgebung geht davon aus, daß nur demokratische Gesetzgebung gute Gesetzgebung ist. Sie erblickt letztlich in der Ergänzung der demokratischen Willensbildung durch die bundesstaatliche eine unzulässige, wenigstens aber unerwünschte Durchbrechung des demokratischen Prinzips. Damit wird der Bundesstaat (wieder / immer noch) in Gegensatz zum Demokratieprinzip gebracht. Diese Auffassung verkennt damit die Konstruktion des demokratischen Bundesstaates, in dem die Willensbildung eben nicht nur demokratisch, sondern auch bundesstaatlich erfolgt. Die Beeinflussung des einen Prinzips durch das jeweils andere ist Teil des grundgesetzlichen Plans. Kritik daran ist allenfalls rechtspolitisch, nicht aber rechtlich zu üben. Diese wechselseitige Durchdringung und Gleichwertigkeit beider Prinzipien macht sich im Vermittlungsausschuß bemerkbar. Sie bleibt nicht theoretisch, sondern wird mit diesem Organ konkret. Sie zeigt sich auch innerhalb des Vermittlungsausschusses: Die Gleichgewichtigkeit des föderalen und des demokratischen Prinzips zeigt sich etwa in dem Doppelvorsitz des Ausschusses, der aus einem Mitglied des Bundestages und einem des Bundesrates gebildet wird (§ 2 GO-VermA). Der Vermittlungsausschuß ist aus all diesen Gründen keine Ausnahme oder eine „auf Krisensituationen zugeschnittene Ausnahme“ 174, sondern notwendiger Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens im demokratischen Bundesstaat. (3) Neue Angebote im Vermittlungsausschuß Eine weitere Praxis des Vermittlungsausschusses ist die Erweiterung des Gesetzgebungsgegenstandes in den Verhandlungen während des laufenden Verfahrens. Die Staatspraxis ist hier großzügig. Sie geht bislang davon aus, daß alle Materialien des laufenden Gesetzgebungsverfahrens einschließlich der Stellungnahmen des Bundesrates im ersten Durchgang zur Verhandlungsmasse gehören, wobei es nicht darauf ankommt, inwieweit diese im Gesetzesbeschluß des Bundestages Niederschlag gefunden haben 175. Dieses Vorgehen entspricht „jahrzehntelanger Praxis im Vermittlungsausschuß“ 176, ist aber nicht unumstritten. Hierbei stellt sich die Frage, wann eine vom Vermittlungsausschuß vorgeschlagene 173 Schenke, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses, S. 22. 174 Schenke, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses, S. 22. 175 Huber / Fröhlich, DÖV 2005, S. 322 (329); Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 77 Abs. 2, Rn. 85. 176 Henseler, NJW 1982, S. 849 (851); ebenso Frenßen, Der Vermittlungsausschuß, S. 273 (280); Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, S. 476; Wessel, AöR 77 (1951/52), S. 283 (296).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Regelung noch eine zulässige Änderung oder Ergänzung des ursprünglichen Gesetzesbeschlusses darstellt und wann sie in einen unzulässigen Vorschlag für ein neues Gesetz umschlägt. Verfassungsrechtlich ist das deshalb fraglich, weil die Organe, denen ein Initiativrecht zusteht, auf Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat begrenzt sind (Art. 76 Abs. 1 Satz 1 GG). Diese Frage ist umstritten 177 und war lange offen 178. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Frage nicht beantwortet 179 bzw. nicht grundsätzlich Stellung dazu bezogen 180. Erst 1999 hat sich das Gericht dazu geäußert 181 und 2008 diese Position bestätigt und fortentwickelt 182. Der Bundesrat dürfe nicht durch die Beteiligung des Vermittlungsausschusses so auf die Gesetzgebung Einfluß nehmen, daß es nicht zu einer Debatte im Bundestag komme. „Der Vermittlungsausschuß darf deshalb eine Änderung, Ergänzung oder Streichung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur vorschlagen, wenn und soweit dieser Einigungsvorschlag im Rahmen des Einigungsbegehrens verbleibt“. Dies zieht freilich die Frage nach sich, wie dieses Anrufungsbegehren zu definieren ist. Dazu schreibt das Gericht: „Das zum Anrufungsbegehren führende Gesetzgebungsverfahren wird durch die in dieses eingeführten Anträge und Stellungnahmen bestimmt. Stellungnahmen des Bundesrates sind auch dann in den Vermittlungsvorschlag [...] einzubeziehen, wenn diese vom Bundestag in seinem Gesetzesbeschluß nicht berücksichtigt worden sind. [...] Der Vermittlungsvorschlag ist deshalb in dem Rahmen gebunden, der nach den bisherigen Beratungen im Bundestag inhaltlich und formal vorgezeichnet ist“ 183. Diese Entscheidungen werden zwar überwiegend als Aussage des Bundesverfassungsgerichts zu den Kompetenzgren177 Für eine weite Auslegung Dietlein, NJW 1983, S. 80 (89); ders., AöR 106 (1981), S. 525 (537); Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuß, S. 37, 49; Henseler, NJW 1982, S. 849 (851); Cornils, DVBl. 2002, S. 497 (507); krit. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 370; ders., NVwZ 1983, S. 709 (713 f.); Jekewitz, AK-GG, Art. 77, Rn. 24; ders., RuP 1982, S. 70 (72); Bryde, ParlRParlPr, § 30, Rn. 56; Schenke, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses, S. 20 ff.; 27 ff.; 69; Frenßen, Der Vermittlungsausschuß, S. 273 (280 ff.), Huber / Fröhlich, DÖV 2005, S. 322 (328 f.). 178 Zu Unrecht erklären Huber / Fröhlich, DÖV 2005, S. 322 (323), daß diese Frage immer wieder Gegenstand kritischer Betrachtungen gewesen ist. Sie wurde Anfang der achtziger Jahre in der Literatur kontrovers diskutiert. Erst ab 2003 sind wieder einzelne Beiträge zu verzeichnen. Dies ergibt deren eigene – zutreffende – Literaturübersicht: Huber / Fröhlich, DÖV 2005, S. 322, Fn. 1. 179 BVerfGE 72, 175 (187 ff., 190). 180 BVerfGE 78, 249 (271), wonach es zulässig ist, Gesetzentwürfe einzubeziehen, die nicht Gegenstand des Einberufungsverlangens sind und vom Bundestag noch nicht in zweiter und dritter Lesung behandelt worden sind. 181 BVerfGE 101, 297 (306 f.). 182 BVerfG, NVwZ 2008, S. 665 ff.; dazu Desens, NJW 2008, S. 2892 ff.; Palm, NVwZ 2008, S. 633 ff. 183 BVerfGE 101, 297 (306 f.); bestätigt in BVerfG, NVwZ 2008, S. 665 ff.
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zen des Vermittlungsausschusses wahrgenommen, indem ihm das „Initiativrecht“ versagt wird; für die hiesige Frage ist jedoch eine andere Facette von Bedeutung. Denn das Bundesverfassungsgericht hat durch die Zulassung von Gegenständen, die nicht Teil des ausdrücklichen Gesetzesbeschlusses geworden sind, die Verfassungspraxis im wesentlichen bestätigt. Erforderlich, aber auch ausreichend ist es, daß eine Vermittlungsmaterie Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens war, nicht unbedingt ausformuliert zu sein braucht und Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten gewesen sein muß 184. Dem ist zuzustimmen, denn durch die Erörterungen hat ein ausreichender parlamentarischer Diskurs stattgefunden, und ein Demokratiedefizit, wie es zum Teil festgestellt wird, liegt ebenfalls nicht vor. Dies gilt im hiesigen Zusammenhang mit dem demokratischen Bundesstaat für die Aspekte des Gesetzgebungsverfahrens, die der Bundesrat eingebracht hat. Sie sind nach Auffassung des Gerichts nicht zu beanstanden. Einer anderen Sichtweise liegt die bereits oben in verfassungstheoretischer und zuvor in staatsrechtlicher Hinsicht erörterte Fehldeutung des demokratischen Bundesstaates und seiner Gesetzgebung zugrunde, die dem bundesstaatlichen Teil des Gesetzgebungsverfahrens eine unzulässige Beeinträchtigung der einheitlich-demokratischen Entscheidung bescheinigt. (4) Vermittlungsausschuß als Verfahrenskompromiß Eine weitere politische Modifikation des Verfassungsrechts, hier des Vermittlungsausschusses, liegt in einer Veränderung seiner Funktion durch die Verfassungspraxis. Während er rechtlich als Instrument der materiellen Konfliktlösung konstruiert ist, wird er in der politischen Praxis zum Verfahrenskompromiß. Danach ist ein Verzicht auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses oder die Drohung mit der Anrufung ein Teil des Verhandelns und der Kompromißfindung. Materielle Gesichtspunkte werden also in der Verhandlungspraxis mit Verfahrensfragen verknüpft. Der Vermittlungsausschuß wirkt damit in der Praxis eher präventiv: Die Kompromißfindungsprozesse verlagern sich trotz vorhandener Gründe für eine Anrufung noch stärker auf das informale Vorfeld des Vermittlungsverfahrens 185. Dies ist aber nicht auf gleichgerichtete Mehrheiten beschränkt 186. Es ist steter Teil der politisch-informalen Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in beiden Kammern.
184
BVerfG, NVwZ 2008, S. 665 (666 f.). Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 365; a. Dietlein, ZRP 1985, S. 322 (327). 186 Anscheinend aber doch Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 365. 185
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(5) Der unechte Einigungsvorschlag In der 13. Wahlperiode (1994 –1998) zeichnete sich eine Entwicklung in der politischen Praxis des Vermittlungsausschusses ab, die zu einem neuen Institut geführt hat: dem unechten Einigungsvorschlag 187. Dieser bis dahin noch nicht praktizierte Vorgang zeigte sich erstmals anhand des Haushaltsgesetzes 1995, zu dem der Bundesrat den Vermittlungsausschuß anrief. Der Vermittlungsausschuß verabschiedete mit seiner Mehrheit einen Einigungsvorschlag, der das Haushaltsgesetz tatsächlich im Sinne des Bundesrates änderte. Der Vorschlag kam gegen die Stimmen der Bundeskoalition zustande. Der Bundestag lehnte diesen Vermittlungsvorschlag daraufhin mit der Koalitionsmehrheit ab und überstimmte auch mit der Kanzlermehrheit den Einspruch des Bundesrates. Dieser Vorschlag gegen die Bundeskoalition, d. h. zugunsten der Bundesopposition, war möglich geworden, weil die Mehrheitsverhältnisse in parteipolitischer Hinsicht auseinanderfielen. Die Bundesratsbank und die Vertreter der Bundestagsopposition im Vermittlungsausschuß hatten eine Mehrheit zustandebringen können. Normalerweise kommen Einigungsvorschläge im Vermittlungsausschuß durch Kompromisse zustande. 188 Demgegenüber läßt sich der unechte Vermittlungsvorschlag als Vorschlag definieren, der im Vermittlungsausschuß ohne Zustimmung der die Regierungsmehrheit tragenden Koalitionspolitiker zustande kommt 189. Aufgrund der klaren Mehrheitsverhältnisse im Vermittlungsausschuß entstand eine Einigung, die in der Sache keine Einigung war. Da der Bundestag letztlich unproblematisch den Vorschlag ablehnen und den Einspruch zurückweisen konnte, stellt sich die Frage nach dem Zweck des Handelns des Bundesrates bzw. der Bundesopposition. Er kann nur in einer propagandistischen Wirkung 190 zu sehen sein. Offenbar wollte die Bundesopposition ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Wie läßt sich der unechte Einigungsvorschlag in den demokratischen Bundesstaat und die Sphäre von Recht und Politik einordnen? Er ist nicht durch die Konfliktlösungsstrategie des Verhandelns, sondern durch die Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip entstanden. Beide Strategien finden im Vermittlungsausschuß Platz. Sie sind nur in der falschen Sache angewendet worden. Ein echter Kompromiß kommt nur durch Verhandeln und gegenseitiges Nachgeben in der Sache zustande. Er wird dann mit der Mehrheit des Vermittlungsausschusses verabschiedet. Nur echter Konsens hat im demokratischen Bundesstaat eine Chance, wie im obigen Fall die Zurückweisung im Bundestag zeigt. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, daß die Entscheidungsmechanismen „Verhandeln“ und „Mehr187 188 189 190
Dazu Dästner, ZParl 1999, S. 26 ff. Danach auch das folgende Beispiel. Dazu ausführlich unten C. I. 3. Dästner, ZParl 1999, S. 26 (27 f.). Dästner, ZParl 1999, S. 26 (27 f.).
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heit“ im demokratischen Bundesstaat vorkommen und keines der beiden Verfahren gegeneinander ausgespielt werden kann. Fraglich ist, ob es sich bei dem unechten Vermittlungsvorschlag um ein „Rechtsinstitut“ 191 handelt, wie Dästner schreibt. Dafür spricht, daß es sich der Form nach um einen ordentlichen, da mit der Mehrheit des Vermittlungsausschusses verabschiedeten Vorschlag handelt. Dagegen spricht zunächst sein rein politischer Zweck, die Bundesregierung in die Enge zu treiben und eine Propagandawirkung zu erzielen. Damit liegt letztlich ein Mißbrauch des Organs Vermittlungsausschuß vor. Es sollte kein Recht geschaffen, sondern Politik betrieben werden. Schließlich spricht gegen eine Einordnung als Rechtsinstitut, daß die von der Verfassung konkludent vorgegebene Konfliktlösungsstrategie der Verhandlung nicht angewendet wurde. Der unechte Einigungsvorschlag ist formell ein Rechtsinstitut, materiell gehört er dem Bereich des Politischen an. Er bewegt sich damit im Grenzbereich von Recht und Politik. 4. Ergebnis Die drei Verfahren zur Interessenregulierung im Bundesstaat (Erster Durchgang, Zustimmung des Bundesrates, Vermittlungsausschuß) sind institutionalisierte Ausprägungen des demokratischen Bundesstaates. Sie sind notwendige Folge der Verknüpfung der Demokratie mit dem Bundesstaat zum demokratischen Bundesstaat. In ihnen werden nicht nur die Strukturelemente Demokratie und Bundesstaat in einen schonenden Ausgleich gebracht 192. In dieser Sichtweise steckt noch immer die Theorie, daß beide Prinzipien unvereinbar sind. Weitergehend sind sie vielmehr der in Organen festgeschriebene Ausdruck des demokratischen Bundesstaates, der als (neuer) Verfassungstyp sui generis eigene rechtliche und politische Verfahren kreiert. Die gemischte Verfassung bringt Organe und Verfahren hervor, in denen beide Elemente enthalten sind. IV. Beteiligte an der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat 1. Verfassungsrechtliche Konstruktion: Die Verfassungsorgane Bei der Erörterung der Verfahren und der Gremien der Konfliktlösung traten bereits die Beteiligten des Gesetzgebungsverfahrens in Erscheinung. Die Beteiligten werden zunächst vom Grundgesetz, also rechtlich bestimmt. Art. 77 Abs. 1 191 192
(324).
Dästner, ZParl 1999, S. 26. Vgl. Franßen, Der Vermittlungsausschuß, S. 273 (281); Dietlein, ZRP 1985, S. 322
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Satz 1 GG schreibt vor, daß der Bundestag die Gesetze beschließt. Gesetzesvorlagen werden von der Bundesregierung, dem Bundestag und dem Bundesrat eingebracht (Art. 76 Abs. 1 GG). Der Bundesrat ist zum Einspruch berechtigt (Art. 77 Abs. 3 Satz 1, 78 GG) bzw. muß bei Zustimmungsgesetzen seine Zustimmung erteilen (vgl. Art. 78 GG). Die Beteiligten sind danach Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Ein Teil des demokratischen Bundesstaates ist jedoch auch die parlamentarische Parteiendemokratie. Daher verbleibt es nicht bei diesen rechtlich bestimmten Beteiligten. Neben diesen treten die Parteien als Beteiligte der föderalen Verhandlungen in Erscheinung. Sie sind zwar auch in der Verfassung erwähnt (Art. 21 GG) und genießen daher einen besonderen Rang, aber nicht als Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren. Ihre Rolle wurde oben ausführlich erörtert. Danach tragen politische Parteien überwiegend dazu bei, daß der demokratische Bundesstaat funktioniert. Im übrigen kann die parteipolitische Überformung des Bundesrates aber auch Gesetzesvorhaben zum Scheitern bringen. Dies ist allerdings nur bei wenigen hochpolitischen Gesetzesvorhaben der Fall und notwendige Folge der Konstruktion des Grundgesetzes als demokratischer Bundesstaat (s. o.). Ferner wirkt sich die Parteiendemokratie auf die Rolle des Bundestages in föderalen Verhandlungen aus. An den Verhandlungen ist der Bundestag als solcher nicht beteiligt. Das Parteiwesen bewirkt die Gliederung des Plenums nach Parteien in Fraktionen. Diese sind es, die als Beteiligte in den Verhandlungen auftreten. So ist es auch beim Bundesrat. Nicht der Bundesrat als Ganzes tritt in den Verhandlungen als Beteiligter im Gesetzgebungsverfahren auf, wie es das Grundgesetz vorsieht, sondern dessen Untergliederungen, die Landesregierungen. Es besteht insofern in beiden Organen ein Unterschied zwischen Recht und Politik. 2. Politische Praxis: Untergliederungen der Verfassungsorgane nach politischen und föderalen Gesichtspunkten Damit sind also die Gesetzgebungsorgane aufgeführt, die das Verfassungsrecht vorsieht. Soweit kann die Rechtswissenschaft die Beteiligten erörtern. Die Sozialwissenschaft untersucht die Verfassungspraxis weiter. Sie spricht von „Akteuren“ bzw. „Verhandlungsakteuren“. Darunter versteht Leunig in seiner bereits erwähnten Untersuchung föderaler Verhandlungen sowohl einzelne Personen als auch Personengruppen bzw. Organisationen, die am politischen Prozeß teilnehmen 193. Dabei handele es sich meistens um kollektive bzw. korporative Akteure, da nur diese über hinreichende Verhandlungsmacht oder Vetomacht verfügten.
193
Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 37.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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Ähnlich wie soeben die Differenzierung zwischen Recht und Politik vorgenommen wurde, deutet Leunig den Bundestag lediglich als „Arena“, während die Akteure andere seien: Im Bundesrat die Landesregierungen, im Bundestag die Fraktionen. Dabei handele es sich um korporative Akteure. Darunter versteht er „Organisationen mit innerer Willensrepräsentation“ 194. Diesen stellt er die kollektiven Akteure gegenüber, die durch übereinstimmende Interessen oder Präferenzen gekennzeichnet seien 195. Auf dieser Grundlage ließen sich in Bundestag und Bundesrat eine Reihe von Akteuren finden, die – je nach Konfliktlage – weiter differenziert werden müßten und sich auch zu Interessenkoalitionen verbinden können. Eine weitere Unterscheidung nimmt Leunig vor, indem er zwischen den genannten Akteuren und deren Repräsentanten differenziert. Da die Akteure selbst nicht handeln könnten, bedürften sie der Repräsentanten. Gemeint ist damit das politische Personal. Hier läßt sich auch die Verbindung zu dem Akteur „Partei“ herstellen. Nahezu alle Mitglieder der Akteure „Fraktion“, „Bundesregierung“ und „Landesregierung“ würden erst als Kandidat einer Partei Mitglied des jeweiligen Organs. Weiterhin seien die Mitglieder der Organe hohe Repräsentanten der Parteien. Bei diesen „Doppelrepräsentanten“ könne es zu Interessenkonflikten zwischen ihren Funktionen kommen, etwa wenn der Ministerpräsident eines Landes in einem unechten (also sachpolitischen) föderalen Konflikt als Ministerpräsident andere Interessen vertreten muß als er dies in der Funktion als Parteimitglied tun würde. Dies stellt die oben bereits erörterte Rolle der Parteien im Bundesstaat dar. Die Erörterung kam zu dem Ergebnis, daß die Parteien überwiegend als „Öl“ im Bundesstaat fungieren. Ferner ließ sich feststellen, daß die Landespolitiker überwiegend zuerst die Interessen ihres Landes und dann erst die ihrer (Bundes-)Partei vertreten. Die Sozialwissenschaft kann auf dieser Grundlage nun nach empirischer Untersuchung einzelner Gesetzgebungsverfahren die Zuordnung der Konfliktarten zu den Akteuren leisten. Entgegen der theoretischen Annahme, daß bei echten föderalen Konflikten die Parteien und Bundestagsfraktionen eine eher geringe Rolle spielen könnten, nehmen sie doch häufig bei dieser Konfliktart die Rolle von Vermittlern ein. Umgekehrt läßt sich bei unechten (parteipolitisch) föderalen Konflikten eine vergleichsweise geringe Aktivität der Fraktionen und Parteien feststellen 196. Es ist durch die empirischen Untersuchungen ferner zu belegen, daß es Unterschiede in der Beteiligung des politischen Personals je nach Verhandlungs194
Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 38 mit Verweis auf v. Prittwitz, Politikanalyse,
S. 14. 195 196
Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 38. Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 85, 242.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
stadium gibt. Die theoretische Annahme, daß nur in einer späten Phase der Verhandlungen hohe politische Repräsentanten die Gespräche führen, bestätigt die Praxis nicht ganz. In einer frühen Phase der Verhandlungen werden zwar die Gespräche von mittleren Vertretern (Staatssekretäre, Abgeordnete) geführt. Je nach Bedeutung des Gesetzgebungsvorhabens schalten sich führende Politiker (Ministerpräsidenten, Minister, Bundeskanzler) früher oder später in diese Gespräche ein 197. 3. Ergebnis Die Erweiterung des Kreises der Beteiligten am Gesetzgebungsverfahren infolge einer nicht nur rechtlichen, sondern auch politischen Deutung fördert erhebliche Unterschiede zutage. Dies gilt erst recht, wenn man diese Betrachtung um empirische Forschungsergebnisse der Sozialwissenschaft ergänzt. Die Verhandlungspraxis im demokratischen Bundesstaat erscheint als ein komplexes Gebilde, mit einer Vielzahl an Beteiligten, Verfahren, Konflikten und Gremien. In ihm lassen sich nur vorsichtig Regeln aufstellen, die oft Ausnahmen und Ergänzungen erfahren. Auch die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen bestätigen damit das Ergebnis, daß die reine Lehre sich in der Praxis des demokratischen Bundesstaates nicht verwirklichen kann. V. Die Behandlung von Verfahrensfehlern in der rechtlich determinierten Konfliktlösung Die äußere Konfliktlösung wurde oben beschrieben als ein Prozeß mit verfassungsrechtlich vorgegebenen Beteiligten sowie Verfahren und Gremien zur Streitbeilegung. Es fragt sich, wie Fehler in dieser Verfahrensphase zu behandeln sind. Zur rechtlichen Beurteilung dieser Frage gibt es eine Rechtsprechung, die dazu herangezogen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich verschiedentlich mit der rechtlichen Beurteilung formeller Verfahrensfehler im Gesetzgebungsverfahren zu befassen. 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Obwohl das grundgesetzlich geregelte Verfahren, soweit es in den Art. 76 ff. GG vorgeschrieben ist, der vollen verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt 198, ist das Bundesverfassungsgericht zurückhaltend, bei Verfahrensverstößen die Verfassungswidrigkeit und damit die Nichtigkeit eines Gesetzes festzustellen. Zur Begründung werden zwei Varianten angeführt. Überwiegend argumentiert das 197 198
Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 85, 242. Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 77, Rn. 24.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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Gericht so: Ein Verstoß gegen grundgesetzliche Verfahrensbestimmungen führt nur dann zur Ungültigkeit eines Gesetzes, wenn der Fehler evident war 199. Es begründet dies mit der Rücksicht auf die Rechtssicherheit und dem allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsatz, daß rechtswidrige Verwaltungsakte nur bei entsprechender Evidenz nichtig sind. In anderen Entscheidungen soll die Ungültigkeit eines Gesetzes dann angenommen werden, wenn bei dem Gesetzgebungsverfahren eine zwingende Verfahrensvorschrift mißachtet wurde und der Gesetzesbeschluß auf diesem Verstoß beruhe. Verstöße gegen bloße Ordnungsvorschriften begründen dagegen generell nicht die Nichtigkeit eines Gesetzes 200. 2. Die Aufnahme der Rechtsprechung in der Literatur Diese Rechtsprechung wird von der Kommentarliteratur übernommen 201. Im übrigen Schrifttum trifft sie auf teils erhebliche Kritik 202. Dem Verfahren komme eine erhebliche Bedeutung bei der Gesetzgebung zu, weshalb Verfahrensverstöße besonders ernst genommen werden müßten und die Zurückhaltung des Gerichts bei der Beurteilung dieser Verstöße aufgegeben werden solle 203. Das Argument der Rechtssicherheit gelte gleichermaßen für inhaltliche Mängel wie für Verfahrensfehler. Eine Privilegierung von Sachmängeln lasse sich daher damit nicht begründen 204. Das Gericht lasse ferner offen, was unter Evidenz zu verstehen sei: Muß der Fehler „offenkundig“ sein?, und für wen?, oder können auch schwerwiegende Fehler die Evidenz auslösen 205? 3. Stellungnahme: Anforderungen an das äußere Gesetzgebungsverfahren Die Kritik der Literatur ist berechtigt. Die offenbar von Zweckmäßigkeitserwägungen getragene Rechtsprechung verkennt insbesondere die Bedeutung von 199 BVerfGE 1, 14 (19 f., 38); 31, 47 (53); 34, 9 (25); 91, 148 (175); BVerfG, DVBl. 1995, S. 96 (100), NVwZ 2008, S. 665 (667). 200 BVerfGE 10, 226; 44, 308 (313); BayVerfGH, NVwZ 1986, S. 464 (466). 201 Masing, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 77, Rn. 24; Stettner, in: Dreier, GG, Art. 76, Rn. 6; Nolte / Tams, Jura 2000, S. 158 (159 f.). 202 Bryde, JZ 1998, S. 115 (119 f.); ders., Verfassungsentwicklung, S. 176 ff., 327; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, S. 86 ff.; Papier, Der verfahrensfehlerhafte Staatsakt, S. 21 ff.; Pestalozza, JuS 1974, S. 212 (213); Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, S. 506 f.; Walter, DVBl. 1973, S. 135; Palm, NVwZ 2008, S. 633 (635); Graßhof, Die Vollstreckung von Normenkontrollentscheidungen, S. 240 f. 203 Bryde, JZ 1998, S. 115 (120); Pestalozza, JuS 1974, S. 212 (213, Fn. 13); Hesse, EuGRZ 1978, S. 427 ff.; Benda, DÖV 1979, S. 467 ff. 204 Pestalozza, JuS 1974, S. 212 (213, Fn. 13); Bryde, JZ 1998, S. 115 (120); Palm, NVwZ 2008, S. 633 (635). 205 Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, S. 88.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Verfahrensregelungen schlechthin, insbesondere damit auch den Zweck des Verfahrens für die Gesetzgebung. Es gibt allgemeine staats- und verwaltungsrechtliche Zwecke, also Zielsetzungen, denen jede Art von Verfahren dient. Daher kann hier für den Fall der Konfliktregelung auf diese allgemeinen Grundsätze der Rechtswissenschaft zurückgegriffen werden. Das Verfahren dient zunächst der Durchsetzung des Demokratieprinzips. Oben wurde dazu gesagt, daß es einen präexistenten Willen und ein a priori bestehendes Gemeinwohl nicht gibt. Andererseits bildet die Gemeinschaft mehr als nur die Summe aller Einzelwillen; aus ihnen lassen sich ein Gemeinwohl und ein geltender Wille ermitteln. Dem dient das Institut des Verfahrens. Es ist damit zum einen Mittel zur Gemeinwohlfindung. Auch Schulze-Fielitz, der Gesetzgebung als materiales Verfassungsverfahren versteht, sieht das Gesetzgebungsverfahrens als ein „Gemeinwohlverfahren“ im demokratischen Verfassungsstaat an. Es erzeugt durch die geregelte Aufnahme der Interessen und der Beteiligung der Betroffenen eine bestmögliche Annäherung an die inhaltliche Richtigkeit 206, wobei diese aus dem Kompromißfähigen besteht. Es besteht daher ein Zusammenhang zwischen Verfahren und Inhalt 207. So entsteht „Legitimation durch Verfahren“ 208 (Luhmann). Das formelle Verfahren besitzt daher eine legitimierende Wirkung. Neben diesem allgemeinen Zweck von Verfahren liegt die Bedeutung des äußeren Verfahrens bei der Gesetzgebung in der Wahrung der Kompetenzen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten einzelnen Gesetzgebungsorgane und der Rechte sonstiger Beteiligter sowie in der möglichst sorgfältigen und rationalen Entscheidungsfindung 209. Insofern stellt die Methodik der Gesetzgebung nicht nur ein sozialwissenschaftliches, insbesondere entscheidungstheoretisches Postulat, sondern auch eine Verfassungspflicht dar 210. Dies gilt auch für die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat, da sie Teil des Gesetzgebungsverfahrens ist. Da nach dem oben Gesagten das äußere Gesetzgebungsverfahren nur in groben Zügen rechtlich geregelt ist, so daß davon politische „Verfahren“ zu unterscheiden sind, kommt diesen wenigen Vorschriften eine besondere Bedeutung für die Richtigkeitsgewähr eines Gesetzes zu. Sie sind daher streng und nicht privilegiert zu prüfen. Dem läßt sich auch nicht entgegenhalten, daß die 206
Wahl, Verfahren, StLex, Sp. 628. Bethge, NJW 1982, S. 1 ff. 208 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, passim; zum Gesetzgebungsverfahren S. 174 ff. 209 Vgl. Hill, Jura 1986, S. 286 (291) für das äußere Gesetzgebungsverfahren. 210 Vgl. Hill, Jura 1986, S. 286 (291); Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 173 ff.; Goerlich, JR 1977, S. 89; Breuer, Der Staat 1977, S. 40; Lerche, Ausgleich durch gesetzgeberisches Verfahren, S. 97 (109 ff., 114); Scholz / Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 53. 207
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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Einbindung in Verfahrensvorschriften den Gesetzgeber in seiner gestalterischen Freiheit einschränkt 211. Denn die formellen Verpflichtungen des Gesetzgebers sagen nichts über seine materielle Bindung aus. Vielmehr ist eine strengere Kontrolle des politischen Prozesses unter Zurücknahme der Kontrolle bei dessen Ergebnissen angezeigt 212. Dies ist doch – bei Zugrundelegung der oben erörterten Vereinfachung – die eigentliche Verteilung rechtlicher und politischer Zuständigkeit. Rechtliche Gebundenheit der Politik im Verfahren, politische Freiheit im Inhalt. Die Gestaltung durch die Politik und die Bewahrung durch das Recht. Zu einem umgekehrten Ergebnis kommt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Es läßt sich nachweisen, daß das Gericht auf dem Wege ist, in weiten Teilen seiner Rechtsprechung zu Verfahrensfehlern dem Gesetzgeber verfahrensmäßige Pflichten aufzuerlegen, die nicht etwa dazu dienen, die demokratisch rechtsstaatlichen Grundvoraussetzungen des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses zu sichern, sondern die die „richtigen“ Inhalte garantieren sollen 213. Aufgrund ihrer legitimierenden Bedeutung für das Parlamentsgesetz müssen Verstöße gegen das formelle Gesetzgebungsverfahren ebenso wie ein materieller Verfassungsbruch zur Nichtigkeit eines Gesetzes führen. Formelle Verfahrensfehler wiegen daher nicht leichter als materielle Verfassungsverstöße. Dies gilt insbesondere in den formellen äußeren Konfliktlösungsmechanismen im demokratischen Bundesstaat, da hier die Interessen zweier demokratischer Legitimationsebenen zusammentreffen und ausgeglichen werden müssen. Dem Argument des Gerichts, die Rechtssicherheit gebiete die Privilegierung, ist zweierlei entgegenzuhalten. Das Problem der Rechtssicherheit tritt auch bei materiellen Verstößen auf 214. Es kann daher pauschal eine Privilegierung von Verfahrensfehlern nicht rechtfertigen. Richtig ist daher, die Nichtigkeitsfolge sowohl bei materiellen als auch bei das Verfahren betreffenden Verstößen gegen das Gebot der Rechtssicherheit abzuwägen. Dabei gilt folgendes: Wenn der Verfahrensverstoß mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Einfluß auf den Inhalt der Norm hatte, ist dem Gebot der Rechtssicherheit Vorrang zu gewähren 215. Da nach dem oben Gesagten das Verfahren der Wahrung der Kompetenzen der Organe und sonstiger Beteiligter dient, muß der Verfahrenssicherheit der Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit in der Abwägung gegeben werden, wenn Verfahrensstationen, Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte wegfallen. Dem Gebot der Rechtssicherheit kann ferner dadurch Rechnung getragen werden, daß das Bun211
Etwa Bülow, HbVerfR, § 30, Rn. 53. Ebenso Bryde, JZ 1998, S. 115 (119 f.); ders., Verfassungsentwicklung, S. 176 ff.; Hesse, EuGRZ 1978, S. 427 ff.; Benda, DÖV 1979, S. 467 ff.; Mengel, ZG 1989, S. 193 (210 ff.). 213 Mengel, ZG 1989, S. 193 (210 f.); Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 94: „Kontrollschwerpunkt eindeutig beim Produkt der Gesetzgebung“. 214 Pestalozza, JuS 1974, S. 212 (213, Fn. 13); Bryde, JZ 1998, S. 115 (120). 215 Ähnlich Bryde, JZ 1998, S. 115 (120). 212
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
desverfassungsgericht die Nichtigkeit für die Zukunft und nicht, wie üblich, für die Vergangenheit ausspricht. Dies ist gerade für den Fall der Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit möglich 216. Dem Bundesverfassungsgericht steht ferner eine andere Möglichkeit der Tenorierung zur Verfügung. Es kann die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz feststellen. Ein solcher Ausspruch kann die Übergangszeit bis zum Inkrafttreten einer neuen verfassungsmäßigen Regelung bestimmen. Der Gesetzgeber kann dann das bisher fortgeltende Gesetz rückwirkend oder für die Zukunft aufheben 217. Verfahrensfehler in der Gesetzgebung, d. h. in der äußeren formellen Konfliktlösung zwischen den die beiden bundesstaatlichen Ebenen repräsentierenden Organen Bundestag und Bundesrat, sind also gerichtlich überprüfbar. Dabei ist ihnen die gleiche Bedeutung beizumessen wie materiellen Verstößen. Die hohe Bedeutung der formellen äußeren Konfliktlösungsmechanismen erwächst aus ihrer Rolle als Vorschriften eines Erkenntnis- und Entscheidungsverfahrens zwischen den Trägern der originären demokratischen Legitimation und der sie repräsentierenden Organe.
C. Die innere Konfliktlösung Unter innerer Konfliktlösung ist die materielle Streitbeilegung zwischen Bund, Ländern und Parteien in der Sache im Rahmen der äußeren Konfliktlösungsmechanismen zu verstehen. Die innere Konfliktlösung bei föderalen Streitigkeiten erfolgt durch Verhandlungen, die im Rahmen der äußeren Konfliktlösung stattfinden. Der Weg der Verhandlung ist Ausdruck der Staatsqualität der Länder und damit ihrer Gleichrangigkeit. Das innere Verfahren betrifft die Methodik der Entscheidungsfindung durch Verhandlungstechniken bei der Einigung auf einen bestimmten Gesetzesinhalt. Es betrifft die folgenden Fragen: Wie wird verhandelt? Was können die Verhandlungsparteien als Verhandlungsmasse austauschen? Welche Mittel der Einigung gibt es? Welche Tauschgeschäfte finden statt? Der Zweck gerade des inneren Verfahrens der Streitbeilegung ergibt sich – neben den o. g. Zielen der Konfliktlösung im Bundesstaat überhaupt – aus dem Demokratie- und dem Bundesstaatsprinzip und deren Kombination zum demokratischen Bundesstaat. Da in ihm zwei Ebenen der demokratischen Legitimation bestehen, haben die Vertreter beider Ebenen ihre jeweilige Ebene so zu vertreten, daß durch unsachgemäße innere Streitbeilegung die demokratische Rückkopplung zum eigenen Legitimationssubjekt nicht unterbrochen wird. Dies gilt etwa 216 BayVerfGH 28, 143 in Anlehnung an BVerfGE 32, 199; 33, 303; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 23, Rn. 112. 217 Smeddinck, Integrierte Gesetzesproduktion, S. 231 f.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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für Täuschungen oder Überrumpelungen. Dadurch würde ebenfalls die föderale Balance und Gleichrangigkeit der Verhandlungspartner gefährdet. Die Entscheidung verlöre auch ihre föderale Legitimation. Insofern ergibt sich der Zweck des inneren Verfahrens auch aus dem Bundesstaatsprinzip. Weiterhin eröffnet sich im Hinblick auf die Überzeugungskraft und Akzeptanz bei den Betroffenen ein weiterer Zweck: Nicht nur die Einhaltung äußerer Verfahrensregeln oder formaler Verfahrensgebote, wie etwa Transparenz, Öffentlichkeit u.s.w., ist erforderlich, sondern auch insbesondere eine einwandfreie Entscheidungsfindung, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit hinsichtlich des Inhalts der Entscheidung 218 und der Politik überhaupt zu begründen. Um den Ablauf der inneren Konfliktlösung in der vorliegenden Untersuchung zu erfassen, sind eine praktische und eine theoretische Ebene zu unterscheiden. So soll zunächst in der Theorie ermittelt werden, ob es ein abstraktes Modell geben kann, das die föderalen Verhandlungen beschreibt (I.). Die Praxis der Verhandlungstechniken wird anschließend beschrieben (II.). I. Theorie der inneren Konfliktlösung 1. Konzeptualisierungen in der Literatur Die Rechtslehre sieht zum Teil die Gesetzgebung als eine Form vertraglicher oder vertragsähnlicher Konsensfindung an 219. Dies gelte für die Gesetzgebung insgesamt, also für die Konfliktlösung zwischen Parteien, innerhalb von Koalitionen, Regierung und Opposition, Regierung und Interessenverbänden, aber auch zwischen Ländern sowie zwischen Bund und Ländern. Demgemäß ließe sich die Konfliktlösung als Vertrag auffassen. Andere Teile der Lehre betrachten die Gesetzgebung als institutionalisierte Kompromißfindung 220. Die Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes seien auf die Herstellung und Darstellung von 218
Vgl. Hill, Jura 1986, S. 286 (291). Badura, Parlamentarische Gesetzgebung, S. 9 (16, 31); ders., Die parlamentarische Demokratie und die Gesetzgebung, S. 20; Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 239 f.; Scheuner, Konsens und Pluralismus, S. 65 mit Bezugnahme auf Wildhaber, ZSchwR N.F. 94 I (1975), S. 113 (120 f., 122 ff.); Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 89; Marcic, Die Koalitionsdemokratie, S. 9 f.; für die Weimarer Republik Kirchheimer, Strukturwandel des politischen Kompromisses, S. 213 (224 f.). 220 Gusy, ZRP 1985, S. 291 (298); Karpen, ZG 1986, S. 5 (26); Mengel, ZG 1990, S. 193 (212, Fn. 82); Badura, Parlamentarische Gesetzgebung, S. 9 (30); ders., Die parteienstaatliche Demokratie und die Gesetzgebung, S. 20; Kretschmer, Enquetekommission, S. 261 ff.; Lerche, Zustimmungsgesetze, S. 183 (197); Zeh, Vollzugskontrolle und Wirkungsbeobachtung, S. 194 ff.; Hill, Jura 1986, S. 286 (291); Hugger, Gesetze, S. 107; Rolinski, Argumentationsfiguren, S. 101 (102 ff.); Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 404 ff. 219
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Kompromissen abgestellt. Im Kompromißzwang liege ein wichtiger Zweck der Gesetzgebung, die Integrationswirkung. Schließlich wird auch das Urteil als Konfliktlösungsmechanismus angeführt 221. Es ist der Modus der Gerichtsbarkeit, in Verfassungsfragen und damit auch politischen Konflikten der Modus der Verfassungsgerichtsbarkeit. Gerade für föderale Systeme wird wegen möglicher Kompetenzstreitigkeiten eine Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl als notwendig als auch als Definitionsmerkmal des Bundesstaates angesehen 222. Für die Politikwissenschaft ist die Gesetzgebung ein Anwendungsfall der abstrakteren Frage nach Entscheidungsfindung und Konfliktlösung, die überall Politikergebnisse hervorbringen könne, z. B. in internationalen Verhandlungen oder innerhalb föderaler Systeme 223. Faßt man den heutigen Stand der politikwissenschaftlichen Forschung zusammen, lassen sich mehrere idealtypische Entscheidungsregeln unterscheiden: Los, Hierarchie, Mehrheit und Verhandeln 224. Zuletzt sind Ansätze dazugekommen, die auf Elster zurückgehen und dem Verhandeln das Argumentieren entgegengesetzt bzw. zur Seite gestellt haben 225. Auf die Frage, was unter Verhandlungen und Verhandeln zu verstehen ist, gibt es eine Fülle von Antworten 226. Nach Elster wird beim Verhandeln (bargaining) der Verhandlungspartner durch Drohung, Warnungen, Versprechungen oder die Abbruchoption dazu veranlaßt, Konzessionen zu machen und die Forderungen des anderen zu akzeptieren. Unter Argumentieren (arguing) versteht er das Überzeugen eines Gegenüber durch die Kraft des besseren Arguments 227. Während Elster Verhandeln und Argumentieren als ein dichotomes Begriffspaar sieht, geht die überwiegende sozialwissenschaftliche Literatur infolge theoretischer 228 und empirischer Studien 229 inzwischen davon aus, daß es sich nicht um 221
Gebauer, Interessenregelung im föderalistischen System, S. 67 (85). Statt vieler Laufer / Münch, Föderatives System, S. 112 ff. m.w. N.; Schultze, Föderalismus, S. 127 (128). 223 Vgl. Saretzki, Wie unterscheiden sich Argumentieren und Verhandeln?, S. 19.; rechtswissenschaftlich vgl. a. Thiele, Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen, insbes. S. 116 ff. 224 Eberlein / Grande, Entscheidungsfindung und Konfliktlösung, S. 131 (133 ff.) m.w. N. 225 Elster, Arguing und Bargaining, S. 2; ders., Die Schaffung von Verfassungen, S. 37 (52 f.); Saretzki, Wie unterscheiden sich Argumentieren und Verhandeln?, S. 19 ff., von Prittwitz, Verhandeln im Beziehungsspektrum eindimensionaler und mehrdimensionaler Kommunikation, S. 41 ff.; Risse, „Let’s argue!“, International Organisation 54, S. 1 ff.; vgl. zu Elster Offe, Die Genetische Entschlüsselung der politischen Ordnung, S. 33 ff. 226 Nachweise bei Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 26, Fn. 16. 227 Elster, Arguing und Bargaining, S. 2. 228 Benz, Kooperative Verwaltung; ders., Kooperativer Staat?, S. 88 (94); Gehring, PVS 36 (1995), S. 197 (209); ders., Arguing und Barganing in internationalen Verhandlungen, S. 207 (221 ff.); Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 54. 229 Holzinger, PVS 42 (2001), S. 414 ff. 222
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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entgegengesetzte Modi handelt, sondern daß sie meist in Verbindung miteinander auftreten, kaum trennbar und keine alternativen Lösungsmechanismen sind. „Verhandlungen verlaufen immer in einer Mischung aus ‚bargaining‘, d. h. strategischem Einsatz von Drohungen und Taktiken mit dem Ziel eines möglichst hohen Gewinns (positionsorientiertes Verhandeln) und ‚arguing‘, d. h. dem Austausch allgemein akzeptierbarer Argumente (verständigungsorientiertes Verhandeln)“ 230. Diese beiden Modi ließen sich als Aushandeln und Argumentieren bezeichnen. Denkbar wäre daher – die zahlreichen Definitionen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht –, daß es das Ziel von Verhandlungen ist, Interessenkonflikte zwischen politischen Akteuren mit den Mitteln Aushandeln und Argumentieren konsensual zu lösen 231. Weiterhin betont die Politikwissenschaft die Zugehörigkeit der Gesetzgebung zur Verhandlungsdemokratie. Darunter versteht sie ein politisches System, in dem die Entscheidungsfindung durch Verhandlung an Bedeutung gewinnt gegenüber Konfliktlösungsmustern nach dem Mehrheitsprinzip, der Hierarchie (Befehl) und dem Markt (Preis) 232. Für den Bereich des Bundesstaates brachte Lehmbruch das Konzept der Verhandlungsdemokratie mit den Aushandlungszwängen im Bundesstaat in Zusammenhang 233. Wie in segmentierten Gesellschaften könnten die meisten und wichtigsten Entscheidungen nur durch Verhandlungen gelöst werden. Auch danach läßt sich die Konfliktlösung als Verhandlung verstehen. Diese Konzeptualisierungen widersprechen sich allerdings nicht. Vielmehr lassen sie sich – zusammengefügt – als ein Gesamtkonzept der inneren Konfliktlösung verstehen, das aus mehreren Schritten besteht, die sich aus den einzelnen Konzepten zusammensetzen. Oberbegriff kann das Bild des Vertrages sein. Dieser kommt durch Verhandlungen und Argumentieren zustande, an deren Ende der Kompromiß steht 234. Dies scheint auch bei den einzelnen Autoren durch, wenn sie bei der Darstellung ihres Konzeptes in der Wortwahl auf den jeweils anderen Begriff zurückgreifen (müssen), etwa, wenn der Mehrheitsentscheid dem Kompromiß als Teil der Verhandlung gegenübergestellt wird 235 oder das Ende von Aushandlungsprozessen eines Vertrages als Kompromiß beschrieben wird 236. Je nach Autor liegt die Betonung mal auf Vertrag, mal auf Kompromiß, 230
Benz, Kooperativer Staat?, S. 88 (94). Aufbauend auf Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 26 f. 232 Vgl. Czada, Dimensionen der Verhandlungsdemokratie, S. 23; Lehmbruch, Parteienwettbewerb, S. 24 ff.; Grundlegend Lehmbruch, Proporzdemokratie, passim, und Lijphart, Typologies of democratic systems, in: CPS 1. 233 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, passim. 234 Zum Argumentieren Holzinger, PVS 42 (2001), S. 414 (419 f.). 235 Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat; vgl. dazu die Darstellung bei Czada, Dimensionen der Verhandlungsdemokratie, S. 23 (24). 236 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 239; vgl. a. Badura, Parlamentarische Gesetzgebung, S. 9 (16, 31). 231
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mal auf Verhandlung. Keines der Konzepte kommt aber – jedenfalls in der Beschreibung – ohne das jeweils andere aus. Nach bisherigem Stand stellt sich die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat als kompromißhafte Vertragsverhandlung dar 237. Damit kann sich die Untersuchung den einzelnen Bestandteilen zuwenden. 2. Muster: (Vertrags-)Verhandlung Ausgangspunkt des Vertragsmodells ist die statusrechtliche Gleichberechtigung der Verhandlungspartner. Dies gilt für Verhandlungen zwischen den Ländern außerhalb der Gesetzgebung 238 (etwa im kooperativen Föderalismus) sowie zwischen Bund und Ländern in der Gesetzgebung. Eine andere, später zu erörternde Frage ist die der tatsächlichen Verhandlungsmacht. Weiterhin gilt aufgrund der Gleichberechtigung der Verhandlungspartner der Grundsatz der Einstimmigkeit. Um ein Ergebnis zu erzielen (hier: Zustimmungsgesetz), müssen die Beteiligten übereinstimmen. Es herrscht also das Konsensprinzip 239. Das Bild des Vertrages macht plausibel, daß die Gesetzgebung (unter dem Blickwinkel des demokratischen Bundesstaates) empirisch gesehen ein permanenter Aushandlungs- und Kommunikationsprozeß zwischen Bund und Ländern und den Ländern untereinander ist 240. Durch sein Element der Gleichberechtigung der Verhandlungspartner wird die Staatsqualität von Bund und Ländern erfaßt. Am Ende der (Vertrags-)Verhandlungen steht dann das Gesetz, das gemeinsam ausgehandelt wurde und damit Vorstellungen beider Seiten in sich trägt. Dieses gemeinsame Aushandeln und der daraus entstehende Kompromiß entsprechen der gemeinsamen Legitimation des (Zustimmungs-)Gesetzes durch Bund und Länder im demokratischen Bundesstaat. Das Bild des Vertrages vermag daneben das Modell der Verhandlung und die Ergebnisse der Verhandlungsforschung zu integrieren. Damit ein Interessenkonflikt auf dem Verhandlungsweg gelöst werden kann, müssen nicht nur widerstreitende Interessen vorhanden sein, sondern auch ein gemeinsames Interesse an einer konsensualen Lösung. Dies ist auf die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern in der Gesetzgebung zu übertragen. Die unterschiedlichen Interessen wurden oben herausgearbeitet 241: Es handelt 237
Ähnlich Schulze-Fielitz, Das Parlament als Organ der Kontrolle, S. 90, der allerdings für die Gesetzgebung als Ganzes, d. h. nicht nur für die föderalen Verhandlungen alle drei Aspekte verarbeitet. 238 Dazu Gebauer, Interessenregelung im föderalistischen System, S. 67 (82 ff.). 239 Vgl. Luthardt, Konsensmodell, S. 16: „Konsens bedeutet Einstimmigkeit“; vgl. a. Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 54; Scharpf, Verhandlungssysteme, S. 70; Grande, Regieren in verflochtenen Verhandlungssystemen, S. 327 (335). 240 Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 240. 241 s.o. 6. Kap., A. IV.
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sich um echte föderale (Kompetenzen, Finanzen, landesspezifische Interessen) und um politisch-föderale (Sach- und Parteipolitik) Interessen. Zwischen diesen Interessen muß jeweils, aber auch in Kombination, ein Ausgleich gefunden werden. Das gemeinsame Interesse an einer Konfliktlösung im Verhandlungswege ist – rein verfassungsrechtlich betrachtet – bei der Zustimmungsgesetzgebung vorhanden, wenn beide Seiten ein gemeinsames Ziel haben, etwa ein Gesetz verabschieden wollen. Es besteht nur ein einseitiges Interesse, wenn nur eine Seite ein Interesse an dem Gesetz hat: der Gesetzesinitiant. In der Sprache der Verhandlungsforschung ausgedrückt: Ein gemeinsames Interesse an einer Verhandlungslösung besteht dann, wenn ein anderer Weg, eigene Interessen (zumindest teilweise) durchzusetzen, nicht vorhanden ist, etwa, wenn eine einseitige Interessendurchsetzung mittels hierarchischer Entscheidung oder Mehrheitsbeschluß (verfassungs-)rechtlich ausgeschlossen ist 242. Ein gemeinsames Interesse kann sich auch daraus ergeben, daß sich die Verhandlungspartner verständigen müssen. Im Falle der Gesetzgebung im Bundesstaat ist dies die Zustimmungsgesetzgebung. Hier ist der Bund von der Zustimmung des Bundesrates abhängig, insoweit entsteht aus dieser verfassungsrechtlichen Konstruktion 243 ein Zwang zur Verständigung und damit ein gemeinsames Interesse, auch wenn in der Sache eventuell nur eine Seite ein Interesse daran hat. Solche Verhandlungen, bei denen ein Akteur bei Nichteinigung auch nicht allein entscheiden kann, bezeichnet Scharpf als Zwangsverhandlungen 244. Das bedeutet freilich nicht, daß es einen Zwang gäbe, die Verhandlung auch zu einem erfolgreichen Ende führen zu müssen. Insofern ist der Begriff mißverständlich 245. Daher scheint es zweckmäßiger, von entscheidungsnotwendigen Verhandlungen zu sprechen. Denn die erfolgreiche Verhandlung und damit Einigung mit einem anderen ist Voraussetzung für eine Entscheidung. Ein Zwang besteht nur hinsichtlich des gemeinsamen Vorgehens, nicht hinsichtlich des Ergebnisses, da den Beteiligten ein Abbruch der Verhandlungen jederzeit offensteht. Die Möglichkeit des Verhandlungsabbruchs führt zu der Frage, wer die Verhandlungsmacht bei föderalen Gesetzesverhandlungen besitzt. Da die Akteure nicht zwangsläufig ein gleich hohes Interesse an einem erfolgreichen Verhandlungsende haben, beeinflußt dies ihre Verhandlungsmacht. Der an einem positiven Ergebnis interessierte Akteur wird potentiell weniger Verhandlungsmacht besitzen als ein Beteiligter, der daran weniger interessiert ist. Diese Schwäche kann sich freilich dann relativieren, wenn der weniger interessierte Verhand242
Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 28. Entscheidungsnotwendige Verhandlungen können sich nicht nur aus rechtlichen, sondern auch aus tatsächlichen Gründen ergeben, etwa wenn ein für beide Seiten vorteilhaftes Vorhaben nur durch gemeinsames Handeln verwirklicht werden kann (mit Beispielen Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 [62], Fn. 14). 244 Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (62 ff.). 245 Ebenso Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 28. 243
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lungspartner ein vom Gegenstand der Verhandlungen unabhängiges Interesse an Verhandlungen hat, etwa wenn ihm an einer dauerhaften Kooperation liegt (sog. Reziprozität 246). Oder, weil er die Chance sieht, in den Verhandlungen eigene andere Vorhaben durchzusetzen 247. Zu den Faktoren von Verhandlungsmacht in föderalen Verhandlungen hat Leunig eine empirische Studie vorgelegt. Danach hängt die Verhandlungsmacht von der (Un-)Attraktivität der Abbruchoption, der Größe der jeweiligen Bundesratsmehrheit und von der Mobilisierung organisierter Interessen und der Massenmedien ab 248. Als weitere Faktoren müssen die finanzielle Macht des Bundes und der Faktor Zeit zu diesen drei Punkten ergänzt werden. Da nach dem oben Gesagten die Möglichkeit des Verhandlungsabbruchs besteht, wird derjenige, der am Gelingen der Verhandlungen interessiert ist, unter Druck gesetzt. Ein Faktor für Verhandlungsmacht ist daher die Möglichkeit des Verhandlungsabbruchs. Bei föderalen Verhandlungen in der Gesetzgebung liegen die Dinge freilich etwas komplizierter: Die Attraktivität bzw. Unattraktivität der Abbruchoption hängt von der Art des Konfliktes und der Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat ab. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, daß der Gesetzesinitiant stets ein großes Interesse an der Verwirklichung seiner Vorstellungen besitzt. Ob für die Gegenseite die Abbruchoption attraktiv ist, hängt von der Konfliktart ab. Bei parteipolitischen Konflikten (unechte föderale Konflikten) kann man dies annehmen. Bei partei- und koalitionsinternen Konflikten (ebenfalls unechte föderale Konflikte) sowie bei echten föderalen Konflikten ist auf beiden Seiten ein Interesse am Erfolg der eigenen Partei oder Koalition bzw. des eigenen Landes oder des Bundes vorhanden, so daß die Möglichkeit des Verhandlungsabbruchs eher unattraktiv erscheint. Für die Verhandlungsmacht bedeutet dies, daß sie auf beiden Seiten in etwa gleich groß ist, sofern nicht noch andere Machtfaktoren (dazu sogleich) hinzutreten. Aber auch bei parteipolitischen Konflikten und divergierenden Mehrheiten kann sogar der Gesetzesinitiant die Abbruchoption nutzen; wer die größere Verhandlungsmacht hat, hängt dann von anderen Faktoren ab: Zum Beispiel davon, ob die Regierung (wenn sie das Gesetz initiiert hat) die Möglichkeit hat, nach einem ersten Verhandlungsabbruch die Gespräche mit einem anderen Akteur (bzw. Teilakteur bei Verhandlungsgruppen) – erfolgreich – durchzuführen oder dem Verhandlungspartner durch Veränderungen am Gesetzestext die Grundlage für seine Verhandlungsmacht zu entziehen. Das kann z. B. durch die Aufspaltung des Gesetzes in einen zustimmungspflichtigen und einen einspruchsfähigen Teil geschehen.
246 s.u. 4.; vgl. dazu Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 241 ff.; Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (84 f.). 247 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 28. 248 Dazu und zum folgenden Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 236 f.
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Die Fallstudien Leunigs zeigen, daß die Gefahr eines Verhandlungsabbruchs bei gleichgerichteten Mehrheiten geringer ist als bei divergierenden Mehrheiten 249. Wer die Verhandlungsmacht hat, hängt weiterhin von der Größe der Bundesratsmehrheit ab 250. Dazu ergibt die Fallstudie Leunigs, daß Verhandlungen nur dann zwingend notwendig werden, wenn die Bundesregierung einer Ländergruppe gegenübersteht, die über eine stabile Stimmenmehrheit im Bundesrat verfügt. Ist dies nicht der Fall, wird die Verhandlungsposition der Länder schwächer. Für die Verhandlungsposition der einzelnen Länder ist entscheidend – unabhängig von Konfliktart und Mehrheitsverhältnissen – wie groß ihre Vetomacht ist. Kann ein einzelnes Land mit seiner Stimme das Zustandekommen des Gesetzes verhindern, ist seine Verhandlungsmacht groß. Als dritter Faktor, der die Macht in föderalen Verhandlungen beeinflußt, kommt die Mobilisierung der Massenmedien und der organisierten Interessen hinzu 251. Wenn z. B. der „Gang an die Öffentlichkeit“ angekündigt wird, kommt dem bereits ein Drohpotential zu. Fallstudien zeigen, daß solche Ankündigung Verhandlungsmacht begründen kann, aber nicht muß. So können Gegendrohungen ausgesprochen werden oder die Drohung geht schlicht ins Leere. Schließlich zeigen die Fälle Steuerreform 2000, Bundeswehr 1996 und Finanzreform 1967, daß Verhandlungsmacht von der finanziellen Ausstattung der Verhandlungspartner abhängt. Dies gilt insbesondere für die Richtung Bund – Länder. Durch finanzielle Zusagen vermag der Bund Verhandlungsdruck auf einzelne Bundesländer aufzubauen. Ob diese Länder diesem Druck standhalten oder nachgeben, hängt von ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit ab. Große und wirtschaftlich starke Länder sind für solche Bevormundungen nicht empfänglich, kleine und verschuldete Länder können kaum anders, als auf den Tausch Zahlung gegen Stimme einzugehen. Die finanziellen Verhältnisse einiger Länder sind dabei so desolat, daß sich eine faktische Steuerungsmöglichkeit des Bundes ergibt. Er kann mit Geld über Stimmen verfügen. Die vom Grundgesetz rechtlich vorgesehene Zustimmungspflicht, wird durch die tatsächlichen Machtverhältnisse unterlaufen. Solche Gesetze werden faktisch zustimmungsfrei. Ein weiterer Faktor von Macht in Verhandlungen kann der Faktor Zeit sein 252. Es gibt einen strukturellen Vorteil für die Partei, die den status quo nicht ver249
Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 237. Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 237 f. 251 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 238 f.; ebenso Perschke-Hartmann, Die doppelte Reform, S. 103. 252 Dazu und zum folgenden Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 409 f.; zu den verfassungsrechtlichen Auswirkungen etwa Schneider, Der Niedergang des Gesetzgebungsverfahrens, S. 421 (425 ff.); vgl. a. Kloepfer, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (68); a. A. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 354 ff.; zum Wandel des Kompromisses in verschiedenen Gesellschaftsformen Kirchheimer, Strukturwandel des politischen Kompromisses, S. 213 ff., insbes. S. 223 ff. 250
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ändern will und keinen Handlungsbedarf sieht. Sie kann nicht unter Zeitdruck gesetzt und damit zu Kompromissen gezwungen werden. Umgekehrt schwächt bei dieser Asymmetrie seine eigene Position, wer sich zusätzlich selbst unter zeitlichen Druck setzt. 3. Ziel: Kompromiß Ziel der Verhandlungen ist der Kompromiß. Für den Bereich der Gesetzgebung hat Schulze-Fielitz das Institut Kompromiß aus der soziologischen Theorie aufbereitet und für die Verfassungstheorie fruchtbar gemacht 253. Es läßt sich damit auch für die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat anwenden. Unter einem Kompromiß versteht er eine „Entscheidung, durch die zur Überbrückung eines Gegensatzes zwischen zwei oder mehreren, einander widersprechenden Zielvorstellungen diese nur teilweise berücksichtigt werden. Nicht erforderlich ist es, daß bei dem Konflikt zwischen zwei Zielen, durch beiderseitiges Nachgeben, an beiden Abstriche vorgenommen werden müssen. Schon in der (abstrakten) Hoffnung bzw. Inaussichtstellung auf ein Entgegenkommen in der Zukunft oder in der Berücksichtigung eines früheren Entgegenkommens der anderen Seite auch in anderen Fragen kann der Grund für ein freiwillig-einseitiges Nachgeben liegen; es handelt sich dann um einen ‚hinkenden‘ Kompromiß“ 254. Die Kompromißarten können weiter unterschieden werden. So existiert der Begriff des echten Kompromisses. Als echt sehen etwa Carl Schmitt und andere 255 eine Sachentscheidung an (im Unterschied zum dilatorischen Formelkompromiß); dem ähnlich z. B. Böckenförde, der ein „wirkliches“ Zugeständnis aus Überzeugung als echt betrachtet (im Gegensatz zum taktischen Kompromiß) 256; weiterhin Sontheimer, der ein beiderseitiges Entgegenkommen (im Unterschied zum einseitigen Nachgeben bzw. einseitigen Diktat) fordert 257. Schulze-Fielitz lehnt diese Begriffe als Ideal ab und unterscheidet zwischen einem Kompromiß in der Sache und dem Verfahrenskompromiß 258. Darunter sei ein Aufschieben oder Ausklammern der Entscheidung zu verstehen. Dies entspreche eher der differenzierten Kompromißwirklichkeit und könne regelungstheoretisch ebenso klug sein. In der Tat ist es so, daß die Kompromisse – auch bei föderalen Verhandlungen – oft in Verfahrenskompromissen bestehen. Die (Verfassungs-)Praxis der 253
Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 404 ff.; vgl. a. ders., Der politische Kompromiß, S. 290 ff. 254 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 408. 255 Schmitt, Verfassungslehre, S. 31 f.; Zuck, NJW 1979, S. 1681 (1685); Mühleisen, Kompromiß, StLex, Sp. 606 (608): „fauler Kompromiß“. 256 Böckenförde, Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche, S. 218 (225). 257 Sontheimer, in: Handbuch des deutschen Parlamentarismus, 1970, S. 245. 258 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 408 f.
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inneren Konfliktlösung wird zeigen, daß ein empirisch nachweisbarer Konfliktlösungsmechanismus im Ausklammern und Verschieben liegt. Das bedeutet, daß nicht nur Sach-, sondern auch Verfahrenskompromisse grundsätzlich anerkannt werden können. Richtig ist auch, daß Verfahrenskompromisse in einer Parallele zu der oben angesprochenen Erkenntnis anerkannt werden können, daß die Gemeinwohlgerechtigkeit nicht nur vom Entscheidungsinhalt, sondern auch vom Entscheidungsverfahren abhängig ist 259, weshalb ja das Verfahren gerichtlich überprüfbar sein kann und muß (s. o.). Schließlich kann zur Beurteilung dieser Begriffe auf die Verfassungstheorie des demokratischen Bundesstaates zurückgegriffen werden: Zur Herkunft von Schmitts dilatorischem Formelkompromiß ist zu sagen, daß in seinem auf Rousseau zurückgehenden Konzept der identitären Demokratie, das auf einen einheitlichen Willen und damit auf Entscheidungskonsens zwischen Regierenden und Regierten angelegt ist, Kompromisse zwischen unterschiedlichen Willen ein Fremdkörper sind. Sein Modell, sowie die Lehre Rousseaus, sind damit tendenziell kompromißfeindlich 260. Da dem demokratischen Bundesstaat hingegen ein pluralistisches Konzept eigen ist (s. o.), das unterschiedliche – zum Teil auch unüberbrückbare – Willen anerkennt, kann in ihm keine Kompromißdefinition existieren, die eine radikaldemokratische Herkunft besitzt. Verfahrens- und damit auch Formelkompromisse sind daher im demokratischen Bundesstaat anzuerkennen. Dieses Anerkenntnis von Sach- und Verfahrens- / Formelkompromissen beinhaltet aber nicht, daß zwischen Kompromissen mit unterschiedlicher Qualität nicht unterschieden werden darf. Ebenso wie die Verfassungswirklichkeit nicht Maßstab, sondern Gegenstand rechtlicher Überprüfung ist 261 (Bundesverfassungsgericht), kann auch die gesellschaftliche Wirklichkeit – hier der Kompromiß – in ihrer soziologischen Akzeptanz und damit nach Qualitätsstufen unterschieden werden. Letztlich geht Schulze-Fielitz auch selbst vom „Ideal sachlicher Entscheidungen“ aus, wenn er sagt, davon müsse es im Gesetzgebungsprozeß zugunsten von verfahrensorientierten Kompromissen „Abstriche“ geben 262. Interessanterweise belegen sogar Politiker, also Personen der Verfassungspraxis, Kompromisse, wie Kopplungsgeschäfte, mit pejorativen Begriffen („Kuhhandel“) 263. Ein seltener Fall, in dem die Praxis strenger ist als die Lehre. Schließlich spricht für die qualitative Unterscheidbarkeit von Kompromissen, daß das (unter Umständen mehrfache) Verschieben einer Entscheidung sowie ein bloßer Formelkompromiß auf eine ganz allgemeine sprachliche Formulie259
Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 409. Vgl. Günther, Politik des Kompromisses, S. 23 ff. 261 BVerfG, DVBl. 1995, S. 96 (100). 262 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 409. 263 Vgl. Kropp, Verhandeln und Wettbewerb, S. 151 (173); Holtmann, Gesetzgebung, S. 105 (125). 260
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rung eher ein Zeichen für die Nichtlösbarkeit eines Konflikts sein kann 264. Daher kennt auch der Weg zum Kompromiß die Möglichkeit eines Scheiterns. Ein starker Kompromiß ist eine Entscheidung, die von beiden Seiten getragen wird, daher große Akzeptanz auf beiden Seiten besitzt und demzufolge eine hohe Legitimierung aufweist. Primärer Zweck des Kompromisses ist es mithin, in der Sache eine Einigung zu erzielen. Primär zielt die Legitimation im demokratischen Bundesstaat, die – bei der Zustimmungsgesetzgebung – eine gemeinsame von Bund und Ländern ist, auf eine gemeinsame Entscheidung in der Sache. Dafür kann ein Verschieben sinnvoll sein. Dies schließt weder Verschieben noch einseitiges Nachgeben in Erwartung späterer Entgegenkommen des anderen aus. Daher ist politische Gestaltung durch Gesetzgebung gerade im Bundesstaat ein dauerhafter Verhandlungsprozeß, in dem vergangene und zukünftige Entscheidungen im Zusammenhang stehen 265. Für den einzelnen Kompromiß ist es jedoch möglich, seine Qualität zu bestimmen. Zusammengefaßt läßt sich Gesetzgebung in der vertragsgeprägten Verhandlungsdemokratie des demokratischen Bundesstaates als institutionalisierte Kompromißbildung 266 verstehen. Letztlich ist der demokratische Bundesstaat in seiner gemischten Verfassung selbst ein Kompromiß. In ihr hat das Grundgesetz verschiedene Prinzipen zu einem Staatstyp sui generis zusammengefügt, weshalb beide Prinzipien nicht in ihrer Reinform auftreten, sondern geprägt durch den jeweils anderen erscheinen und damit letztlich als Kompromiß auftreten. Diese Verfassung verlangt damit folgerichtig auch kompromißhafte Entscheidungen und produziert dadurch einen gemäßigten Staat. Die Kompromißbildung ist von verschiedenen Umständen abhängig und beeinflußbar 267. So beeinflussen zunächst die Machtverhältnisse der Verhandlungspartner (für föderale Verhandlungen: Abbruchoption, Bundesratsmehrheit, Interessenmobilisierung, Geld, Zeit) die Kompromißbildung. Die Gleichwertigkeit der Verhandlungspartner in föderalen Verhandlungen ist verhandlungstheoretisch und verfassungsrechtlich gewollt und ideal, tatsächlich aber nicht immer gegeben. Ein materielles Wesensmerkmal des Kompromisses ist, daß er auf einem (nicht unbedingt ausgewogenen) gegenseitigen Nachgeben zugunsten der ande264
Vgl. Mühleisen, Kompromiß, StLex, Sp. 606 (608). Aufbauend auf Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 409. 266 Aufbauend auf Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 405; dieser mit Verweis auf Wilhelm, Traktat über den Kompromiß, S. 142 f.; Zeh, JbRSoz 11 (1986), S. 194 ff.; Badura, Die parteienstaatliche Demokratie und die Gesetzgebung, S. 18; ders., Parlamentarische Gesetzgebung, S. 9 (30 f.). 267 Darstellung im folgenden nach und aufbauend auf Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 409 ff. 265
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ren Position beruht. Das eigene Zugeständnis wird erleichtert durch den Trost, auch die andere Seite habe Abstriche an ihren eigenen Positionen hinnehmen müssen 268. In dieser Gegenseitigkeit gründet die friedenstiftende Funktion von Kompromissen. Schwache Kompromisse sind daher etwa solche, bei denen eine Seite der anderen „zähneknirschend“ zustimmt, ohne etwas verändert zu haben. Das Ausmaß des gegenseitigen Nachgebens kann daher die Qualität eines Kompromisses bestimmen. So liegt etwa bei dem Konfliktlösungsmechanismus Seitenzahlung kein echtes Nachgeben beider Seiten vor. Bei heterogenen Gesetzespaketen besteht das Nachgeben nur in einer jeweils anderen Sache, die nur zufällig mit einer bzw. mehreren anderen verbunden ist. Sie sind bedenklich, weil sie sachwidrig miteinander verknüpft sind und Kompromisse im sachlichen Detail nicht fördern. Voraussetzung ist eine gewisse Transparenz der Interessenlagen. Nur wenn alle wesentlichen Streitpunkte Gegenstand der Kompromißverhandlungen waren, kann das Verhandlungsergebnis auch im Hinblick auf das befriedigend wirken, was nicht zum Gegenstand des Kompromisses geworden ist. Deshalb ist im Hinblick auf die Kompromißgerechtigkeit die Öffentlichkeit des Gesetzgebungsverfahrens ein zentraler Qualitätsgarant im Verfassungsstaat. Diese Transparenz ist nicht gegeben, wenn in Gesetzespaketen sachlich vollkommen verschiedene Materien miteinander verknüpft sind, etwa das Seemannsgesetz mit Änderungen im Firmenübergang 269. Der Bürger kann die Neuregelungen nicht finden, die Ressortverantwortlichkeit ist nicht mehr gegeben und die Rationalität des Kompromißverfahrens wird unterlaufen. Weitere Voraussetzung für einen Kompromiß ist die objektive Kompromißfähigkeit der konträren Positionen. Sie fehlt in Fragen, die sich einem Kompromiß der Sache nach entziehen, etwa wenn es um fundamentale weltanschauliche Glaubensgewißheiten oder ideologische Grundpositionen geht 270. Voraussetzung ist weiterhin eine subjektive Kompromißwilligkeit der Beteiligten. In diesem Zusammenhang ist auch ein weiterer Umstand zu sehen, der die Kompromißbildung erschwert: die Existenz von „Veto-Positionen“ 271. Darunter sind inhaltliche Standpunkte zu verstehen, die für nicht verhandelbar erklärt werden, weil sie die politische Identität einer (politischen) Partei berühren oder sich im Laufe verhärteter Verhandlungen ergeben haben und nur noch mit „Gesichtsverlust“ aufzugeben wären. 268 Dies betonen auch Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (71) und ihm folgend Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 51. 269 Weitere Beispiele bei Kirchhof, FAZ v. 4. September 2002, S. 8. 270 Neben Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 410, betont dies auch Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (70) und Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 53. 271 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 411.
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Kompromißfähigkeit setzt deshalb weiter voraus, daß die Verhandlungsextreme sich nicht zu weit und zu verfestigt von einer (fiktiven) Mitte entfernen. Bei einer extremen Haltung einer Partei, die weit vom gesellschaftlichen Konsens entfernt ist, z. B. der Opposition, besteht für die andere Partei, etwa die Regierungsmehrheit, keine Veranlassung, sich darauf zu zu bewegen, mit der Folge, daß sie ihrerseits ideologisch rein und kompromißlos handeln kann. Eine starke Opposition bzw. knappe Mehrheitsverhältnisse mit einer nicht unwahrscheinlichen Aussicht auf einen Mehrheitswechsel fördern ein sachliches Entgegenkommen der Regierungsparteien bzw. Kompromisse gegenüber der Opposition. In diesem Zusammenhang steht auch die Verhandlungstechnik, eine „extreme“ Position zunächst zu vertreten, um Verhandlungsmasse zu erreichen, dann aber ein Zugeständnis zu machen, das in Wahrheit keines ist. 4. Mittel: Tausch und Reziprozität Der in der Literatur am meisten genannte Verhandlungsmechanismus zur Lösung eines Interessenkonfliktes ist der Tausch 272. Beim Tausch begründen die Parteien ein (vertragliches) Verhältnis, in dem sie sich zum Austausch von Leistungen verpflichten. Dies erfolgt nach dem Prinzip do ut des. In den Verhandlungen dazu bestimmen die Parteien die auszutauschenden Leistungen im voraus 273. Die Leistungen in föderalen Verhandlungen sind Zugeständnisse in Sachpositionen oder Verfahrensschritten, Geld oder die Zustimmung zu einem Vorhaben der anderen Seite. Die Tauschgeschäfte erfolgen in der Praxis der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat in den Mechanismen Kopplungsgeschäft, Paketlösung und Seitenzahlung, Änderung des Entwurfes, Ausklammern / Verschieben, Beseitigung von Gesetzesfolgen, Alternativlösungen und Übernahme von Positionen 274. Daneben existiert in der rechtswissenschaftlichen Literatur das Institut der Reziprozität, das sie aus der Soziologie übernommen hat. Es ist das Prinzip der Gegenseitigkeit. Bereits Aristoteles hat es als das grundlegende Prinzip sozialer Beziehungen beschrieben 275. Reziprozität ist das Prinzip, daß empfangene Leistungen zu erwidern sind, sei es im Nachgang als Dankesschuld, sei es im Vorhinein als Fremdbindungsinstrument, um andere zu Gegenleistungen zu bringen 276. Im Unterschied zum Tausch des do ut des ist hier der Leistungsaustausch 272
Nachweise bei Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 50, Fn. 90. Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 241 f. 274 Ausführlich dazu sogleich II. 275 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, VIII 15; vgl. dazu Ritter, Gegenseitigkeit, Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 119 (122 ff.). 276 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 241 m.w. N. 273
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nicht im voraus genau bestimmt. Reziprozität ist zeitlich, gegenständlich und personal asymmetrisch und bildet nur eine Hintergrunderwartung der Gegenseitigkeitsbeziehungen 277. Reziprozität setzt voraus, daß eine rechtlich tragfähige Struktur geschaffen werden kann, durch die zumindest das institutionalisierte Gedächtnis für erbrachte Vorleistungen und die Bereitschaft zu künftigen Verhandlungen auch über allfällige Regierungs- und Personenwechsel hinweg gesichert wird 278. Reziprozitätsorientierte Verhandlungen gibt es auch im Verhältnis Bund – Länder, sei es im Vermittlungsausschuß, sei es in informalen politischen Verhandlungen 279. So stimmte im Jahre 1984 das Land Bremen im Bundesrat mit den „CDU-Ländern“ für die frühzeitige Pensionierung von 1500 Bundeswehroffizieren, „um sich auf diesem Umweg eine günstige Ausgangsstellung für die Wünsche des Küsten-Stadtstaates im Hinblick auf Strukturhilfen nach dem Muster des Saarlandes zu verschaffen“ 280. Dieses Beispiel zeigt, daß Seitenzahlungen nicht unbedingt in direkten Tauschverhandlungen erfolgen müssen. 5. Zusammenfassung und Bewertung Die innere Konfliktlösung bei der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat läuft nach dem Muster von Vertragsverhandlungen ab, an deren Ende ein Gesetz als Kompromiß infolge eines Tausches oder von Hintergrunderwartungen steht. Anders formuliert: Verhandlungsabschluß durch Gesetz als kompromißhafter, durch Tauschvereinbarungen ermöglichter Vertrag auf Zeit 281. Da Gesetzgebung eine Möglichkeit politischer Steuerung ist, sind also Verhandlungen – neben Argumentieren und Mehrheit – ein Konfliktlösungsmodus der Politik. Verhandlungen lösen politische Interessenkonflikte nach dem Konsensprinzip. Am Ende der Verhandlungen steht ein Kompromiß: ein gegenseitiges, nicht unbedingt ausgewogenes Entgegenkommen beider Seiten, das sich auf den Inhalt oder das Verfahren beziehen kann. Der Kompromiß ist zentrales Legitimitätsmerkmal einer Entscheidung. Seine Qualität kann unterschiedlich sein. Der Kompromiß ist sichtbare Ausprägung und tatsächliche Ermöglichung des Gedankens, daß (Zustimmungs-)Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat eine gemeinschaftliche Legitimation von Bund und Ländern ist.
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Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, S. 246 ff., 258 ff.; Schmid, Zur sozialen Wirklichkeit des Vertrages, S. 89 f., 94; ihnen folgend Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 242. 278 Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (84 f.); ähnlich SchulzeFielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 242 ff. 279 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 279, 409. 280 So die FAZ v. 21. Februar 1985, S. 2 (Hervorhebung vom Verfasser); zit. n. SchulzeFielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 279. 281 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 240.
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Aus verhandlungstheoretischer Sicht hat sich gezeigt, daß das Scheitern von Verhandlungen zwingend dazugehört. Gesetze dürfen daher im Bundesstaat scheitern. Eine Verfassung, die wie das Grundgesetz (unter anderem!) auf Verhandlungen setzt, kalkuliert das Scheitern mit ein. Während die drei Verhandlungsmachtfaktoren Abbruchoption, Bundesratsmehrheit und Medien sich in etwa die Waage halten und ein einigermaßen austariertes – wenngleich auch sehr kompliziertes – System darstellen, führt doch die Verhandlungsmacht durch finanzielle Potenz dazu, den Unitarisierungsprozeß und das Gestaltungsmonopol des Bundes weiter zu verstärken. Rechtspolitisch ist der finanziellen Verhandlungs-(über-)macht des Bundes mit der Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben und der Ergänzungszuweisungen zu begegnen. Aus den o. g. Gründen 282 ist eine Neugliederung der Länder, die nach einigen Stimmen eine wirtschaftliche und damit finanzielle Gleichgerichtetheit bewirken soll, abzulehnen. Was den Modus des Politischen betrifft, kommen bei der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat sowohl das Verhandeln als auch das Argumentieren, aber auch das Prinzip Mehrheit vor. Das Argumentieren dürfte in erster Linie bei fachlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bürokratien und bei verbundinternen Streitigkeiten zu finden sein, wenn es um die Sache geht bzw. eine vergleichbar große Basis gemeinsamer politischer Interessen besteht. Hingegen wird bei politisch umstrittenen und brisanten Vorhaben das Verhandeln zwischen den Verbünden überwiegen 283. Bei der abschließenden Abstimmung im Bundesrat über einen Gesetzentwurf, also im allgemeinen Bundesratsverfahren 284, findet schließlich der Entscheidungsmodus Mehrheit Anwendung. Hinsichtlich der Modelle der inneren Konfliktlösung stellt sich das Grundgesetz als gemischte und gemäßigte Verfassung dar. Es sieht mit den Konfliktregelungsmustern Verhandeln, Argumentieren und Mehrheit verschiedene Wege der Streitschlichtung im Politischen vor. Dies gilt auch für die Entscheidungsmuster Los, Hierarchie und Urteil, die zwar nicht für den hiesigen Untersuchungsgegenstand, die innere Konfliktlösung, aber für den Bundesstaat als Ganzes Anwendung finden: Das Los bei Bundesratsklauseln in Koalitionsverträgen auf Landesebene, die Hierarchie in den Bürokratien und das Urteil bei (föderalen) Verfassungsstreitigkeiten. Der Bundesstaat läßt sich daher nicht von Theorien vereinnahmen, welche die Muster Verhandlung und Konkordanz einseitig bevorzugen und sich – bisweilen unterschwellig – gegen die Prinzipien Hierarchie und Mehrheit wenden 285. Auch in den Mitteln Kompromiß und Mehrheit, Hierarchie 282
4. Kap., E. II. Vgl. Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 65. 284 Gebauer, Interessenregelung im föderalistischen System, S. 67 (84). 285 Diese Auffassung ist in der Politikwissenschaft weit verbreitet, s. etwa Guggenberger / Offe, APuZ 47/83, S. 3 (6); Guggenberger, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 283
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und Gleichheit, Konkurrenz und Konkordanz, Dissens und Konsens, Macht und Entgegenkommen, Kooperation und Konfrontation zeigt sich die Eigenschaft des Grundgesetzes als gemischte Verfassung. Sie gehören alle zum Grundgesetz und haben ihren Platz und Wert, ohne daß das eine gegen das andere ausgespielt werden kann oder dem einen ein höherer Wert zukommt als dem anderen. Auch hier zeigt sich: die reine Lehre ist nicht Sache des Grundgesetzes und des demokratischen Bundesstaates. Das Grundgesetz beinhaltet damit nicht nur in einer verfahrensbezogenen Hinsicht ausgewogene Entscheidungsformen, sondern auch inhaltlich produziert es ausgewogene stabile Entscheidungen, weil sie auf Kompromissen beruhen. Diese Vorteile des Kompromisses lassen sich auch als Vorteile des demokratischen Bundesstaates lesen. Gleiches gilt für die Nachteile von Kompromissen. So wird oft vertreten, sie behinderten Reformen und sog. „Innovationen“; sie zwingen zum Abweichen von der klaren Linie; die Gesetzgebung sei nur die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner 286. Dazu ist aber anzumerken, daß dem Grundgesetz „reine“ Entscheidungen fremd sind. Das hat sich an vielen Stellen dieser Untersuchung gezeigt. Im demokratischen Bundesstaat des Pluralismus müssen die verschiedensten Interessen zum Ausgleich und damit zu einem Gemeinwohl gebracht werden. Der Vorteil der Stabilität ist nicht ohne den Preis einer etwas schwerfälligen Veränderbarkeit zu haben. Auch hierin, in den Auswirkungen der Verfassung, zeigt sich, daß das Grundgesetz eine gemischte Verfassung ist. Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Grundgesetz der Politik und allen am öffentlichen Leben Beteiligten viel abverlangt. Die Kritik ist daher an diese Personen und nicht an das Grundgesetz zu richten. „In Gefahr und größter Not / Bringt der Mittelweg den Tod“ (Friedrich von Logau). Dieser Satz gilt für den Kompromiß und den demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes nicht. Es ist nicht auf die Ausnahmesituation angelegt. Das Grundgesetz ist eine Verfassung für den Frieden, für den Wohlstand und die Zivilisiertheit. Der Staat des Grundgesetzes kann es sich leisten, die zum Teil längeren Entscheidungswege zu gehen. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, daß in Not- und Ausnahmezeiten verkürzte Entscheidungsverfahren notwendig sind. Hier ist eine komplexe, hochzivilisierte, pluralistische Demokratie schwerfällig. Aber auch hierfür hat das Grundgesetz Vorsorge getroffen und verkürzte Entscheidungswege vorgesehen (vgl. Art. 115d GG ff.).
S. 184 (193); Abromeit, Mehrheitsprinzip, S. 132 ff.; vgl. a. dies., Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz, S. 53 ff., 221 ff. 286 Statt vieler Ellwein, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, S. 1093 (1117); Kisker, Ideologische und theoretische Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, S. 23 (31); Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung, 18 ff.; 225 f.; Zuck, NJW 1979, S. 1681 (1685); Gusy, AöR 106 (1981), S. 343; Lendi, Konsens – Fähigkeit zum Dissens, S. 487 (492, 500); Gramm, AöR 124 (1999), S. 212 (228).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Sofern – zu Recht – von Nachteilen des Kompromisses (und damit mittelbar auch des Bundesstaates) die Rede ist, können diese durch einige Regeln zu guten Kompromissen im Gesetzgebungsprozeß“ abgemildert werden, welche die Gesetzgebungslehre entwickelt hat 287: Kompromisse werden erleichtert, wenn Konflikte „kleingearbeitet“ werden. Die Kompromißfindung im Detail sollte hierarchisch von unten nach oben (von der sachnächsten zur politiknächsten Ebene) verlaufen, weil im umgekehrten Falle politische Entscheidungen als Vorgaben nahezu irreversibel wirken. Weiterhin sollten die verhandelnden Gremien klein sein. Kompromisse werden um so schwieriger, je mehr Macht- und Prestigeträger an ihrer Ausarbeitung beteiligt sind. Bei Wertkonflikten kann ein Verfahrenskompromiß von Vorteil sein. Denn je tiefer die Interessenkonflikte die Grundsatzpositionen der Parteien betreffen, desto schwieriger wird der Konsens. Ob der ausdrückliche Vorschlag allerdings, eine delegierende Problemverschiebung auf neutrale Instanzen, wie die Gerichtsbarkeit, vorzunehmen, von Vorteil ist 288, darf bezweifelt werden. Zu grundlegenden Entscheidungen ist die Politik verpflichtet (sie sind ihr nicht nur erlaubt). Die Justiz hingegen ist zur Schlichtung von Einzelfällen berufen. Auf der Ebene des Verfassungsrechts mußte schon oft das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen treffen, für die der Politik der Mut oder die Einigungsbereitschaft fehlte. Nochmals: Das Grundgesetz stellt hohe Anforderungen. Außerdem muß anerkannt werden, daß einige Konflikte sich nicht lösen lassen. Wenn Regelungen eine gänzlich neue Verwaltungspraxis begründen, sind sie schwer gegen Interessen in der Verwaltung durchzusetzen. Unklare Kompromißformeln schwächen dann den Regelungsanspruch, wenn er gegen mächtige Betroffene durchgesetzt werden soll. Je umfangreicher Gesetzentwürfe werden, desto häufiger lassen sich im Bundestag Kampfabstimmungen feststellen und desto leichter können sachlich völlig unabhängige Materien zu sachwidrigen Kompromißpaketen verknüpft werden. Grundsätzlich sollten sich deshalb Gesetzentwürfe inhaltlich auf einen Regelungsbereich beschränken. Artikelgesetze mit sachfremden Inhalten fördern schlechte Kompromisse. Zeitdruck ist bei der Kompromißsuche zu vermeiden, da er eine Quelle von Gesetzesmängeln ist. Je grundsätzlicher und irreversibler eine Entscheidung ist, ein desto größerer Konsens ist erforderlich. In solchen Fällen mit lebenslanger-individueller oder 287 Im folgenden ausführlich die Vorschläge von Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 441 ff. m.w. N. 288 So aber Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 442.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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kollektiv-generationenübergreifender Langzeitwirkung (z. B. Rentenreform) sind Kompromisse, die Einmütigkeit zwischen den Parteien schaffen, Voraussetzung für eine „gute“ Gesetzgebung. II. Praxis der Verhandlung: Techniken der Kompromißbildung Zunächst stellt sich also bei der materiellen Konfliktlösung die Frage, ob hier diese Verhandlungsmechanismen erkennbar, unterscheidbar, kategorisierbar und katalogisierbar sind. Auch dazu liegen Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung vor 289. Danach lassen sich verschiede Strategien der Konsensfindung ausmachen. 1. Kopplungsgeschäfte und Paketlösungen Die häufigste Variante föderaler Konfliktlösungsmechanismen sind Kopplungsgeschäfte und Paketlösungen. Ein Kopplungsgeschäft liegt vor, wenn der Verhandlungspartner I auf die Durchsetzung im Bereich X verzichtet und der Verhandlungspartner II ihm die Durchsetzung seiner Position im Bereich Y zugesteht. Dementsprechend verzichtet II im Bereich Y auf eigene Vorstellungen und erreicht dadurch die Durchsetzung im Bereich X 290. Wenn der Bund und die Länder über mehrere Gesetzesvorhaben und damit mehrere Themen gleichzeitig verhandeln, werden Kompromisse dadurch gefunden, daß jede Seite auf die Zieldurchsetzung in dem Bereich verzichtet, den sie für geringer bewertet, um dafür in wichtigeren und für sie höher bewerteten Fragen ein Nachgeben der Gegenseite zu erreichen 291. Kopplungsgeschäfte finden bspw. auch in Koalitions289 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 230 ff.; Benz, DÖV 1993, S. 85 (89 ff.); ders., Verhandlungssysteme und Mehrebenenverflechtung im kooperativen Staat, S. 83 ff.; ders., StWStPr 2 (1991), S. 46 ff.; Grande, Regieren in verflochtenen Verhandlungssystemen, S. 327 (360); Heritier, Die Koordination der Interessenvielfalt im Europäischen Entscheidungsprozeß, S. 260 ff.; Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 ff.; ders., Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat, S. 25 ff.; ders., Zur Theorie von Verhandlungssystemen, S. 11 ff.; vgl. aber auch Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 415 ff., der ebenfalls eine empirische Studie zu Kompromißarten allein im Bundestag bzw. zwischen Bundestag und Bundesregierung durchgeführt hat. 290 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 50 f.; Heritier, Die Koordination der Interessenvielfalt im Europäischen Entscheidungsprozeß, S. 260 (269); Scharpf, Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat, S. 25 (30); ders., Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (71); ders., Zur Theorie von Verhandlungssystemen, S. 24; Benz, Verhandlungssysteme, S. 86; ders., DÖV 1993, S. 85 (89). 291 Vgl. Benz, DÖV 1993, S. 85 (89), der aber die „Formen der Zusammenarbeit zwischen den Ländern“, nicht die Konfliktlösungsmechanismen im Bundesrat betrachtet.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
verhandlungen statt, bei denen beide Seiten nur dann bereit sind, manche „Kröte zu schlucken“, wenn sichergestellt ist, daß die andere Seite gleichwertige Opfer bringen muß 292. Werden bei solchen Kopplungsgeschäften „mehrere Verhandlungsgegenstände mit jeweils asymmetrischer, aber unterschiedlicher Nutzenverteilung zu einem insgesamt ausgewogenen Verhandlungspaket verschnürt“, spricht man von einer Paketlösung 293. Typisch für Paketlösungen ist die Verbindung von inhaltlich verschiedenen Fragen 294, die gar nichts miteinander zu tun haben. Deren Gemeinsamkeit besteht allein darin, daß sie im selben Zeitraum verhandelt werden. Auch diese Möglichkeit der Kompromißfindung ist andernorts bekannt. Sie findet z. B. Anwendung in internationalen Rüstungskontroll- oder Seerechtsverhandlungen, aber auch im Rahmen der EU oder im US-Kongreß 295. In die Verhandlungsmasse werden auch oft nicht zustimmungsbedürftige Gesetzentwürfe hineingezogen. Das Regierungslager kann sich dem nicht immer entziehen, wenn die Länderseite dies zur Bedingung für eine Kompromißfindung bei den zustimmungspflichtigen Vorlagen macht. Die Zahl der Gesetzesvorlagen, die nicht ohne die Zustimmung des Bundesrates zustande kommen, erfährt damit faktisch eine Erhöhung 296. Das Kompromißpaket ist eine schwache Form des Kompromisses. Es ist in der Regel nur in Gänze mehrheitsfähig; ein Aufschnüren ist nicht mehr möglich. Die Paketlösung bedeutet in vielen Fällen, daß das Paket, bestehend aus mehreren Gesetzen, zwar die Gesetzgebungshürden in Bundestag und Bundesrat nimmt, jedes einzelne Gesetz für sich genommen aber nicht von vornherein mit einer Mehrheit in beiden Kammern hätte rechnen können. Die politischen und parlamentarischen Mehrheiten sind daher nicht in jedem Fall Mehrheiten aus fachlicher und politischer Überzeugung 297.
292 Scharpf, Koordination, S. 71; Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 51; vgl. a. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 410, 413 ff., 430. 293 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 51; Grande, Regieren in verflochtenen Verhandlungssystemen, S. 327 (344); Johne, APuZ 50 – 51/2004, S. 10 (13); Scharpf, Koordination, S. 71; Heritier, Die Koordination der Interessenvielfalt im Europäischen Entscheidungsprozeß, S. 260 (262); Zitat bei Scharpf, Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat, S. 25 (30). 294 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 51; Grande, Regieren in verflochtenen Verhandlungssystemen, S. 327 (339); Benz, StWStPr 2 (1991), S. 46 (66). 295 Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (71) m.w. N. und Beispielen. Zur Verhandlung in der EU Heritier, Die Koordination der Interessenvielfalt im Europäischen Entscheidungsprozeß, S. 260 ff. 296 Johne, APuZ 50 – 51/2004, S. 10 (13). 297 Wie hier Johne, APuZ 50 – 51/2004, S. 10 (13).
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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2. Seitenzahlungen Sind in einer Verhandlungssituation Paketlösungen nicht möglich, werden monetäre Seitenzahlungen 298 zur Konfliktlösung angewandt. In diesen Fällen bietet die eine der anderen Seite die Zahlung einer Geldsumme an, um ihr Zugeständnis in einem Kompromiß zu erreichen. Inhaltlich besteht kein Zusammenhang zwischen Zahlung und gesetzlich zu regelnder Materie. Der hiesige Referenzfall der Steuerreform 2000 ist ein Beispiel für eine solche Seitenzahlung. Sie diente dazu, den Ländervertretern die Zustimmung zu dem Gesetz der Bundesregierung zu „erleichtern“. Die Steuerreform und die Zahlung für die Hauptstadtkosten von Berlin sowie die Kosten für ein Gaskraftwerk in MecklenburgVorpommern haben nichts miteinander zu tun.
Es entspricht mehr dem dahinterstehenden Sachverhalt, diese Finanztransfers als Seitenzahlungen zu bezeichnen und sie nicht Ausgleichs- oder Kompensationszahlungen 299 zu nennen. Denn der Begriff Ausgleichszahlungen suggeriert einen inneren Zusammenhang zwischen einem Gesetzesvorhaben und dem dafür benötigten Geld oder einem Ausgleich für eine Aufwendung oder einen Verlust im Zusammenhang mit dem zu verabschiedenden Gesetz. Das einzige jedoch, was die Länder verlieren ist ihre Glaubwürdigkeit, ihre Stimme und ihren inhaltlichen Einfluß. Einen inneren Zusammenhang zwischen Zahlung und Gesetz gibt es jedoch nicht. Es besteht nur ein äußerer Anlaß, die Stimmabgabe im Bundesrat. Die Zahlung hat einzig und allein den Zweck, die Stimmabgabe der Länder zugunsten des finanziell stärkeren Bundes zu ermöglichen. Die Zahlung erfolgt gleichsam nebenher, unterderhand. Weiterhin sollte die Begrifflichkeit eine Verwechslung mit (tatsächlichen) Augleichszahlungen vermeiden. Ausgleichs- und Kompensationszahlungen sind etwa im Verhältnis von Gebietskörperschaften bekannt. So werden zwischen Hamburg und seinen Nachbarländern bzw. deren Kommunen Ausgleichszahlungen getätigt, etwa für die Nutzung defizitärer UBahn-Strecken oder Krankenhäuser am Stadtrand 300. Sie gibt es aber auch zwischen Bund und Ländern, etwa für Gesetzesfolgen. Bei diesen Finanztransfers handelt es sich um echte Ausgleichsmaßnahmen 301. Dies ist bei der Konfliktlösung in der Gesetzgebung nicht der Fall. Hier ermöglicht die Seitenzahlung bloß 298 Vgl. Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 52; Grande, Regieren in verflochtenen Verhandlungssystemen, S. 327 (344); Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (68 f.); ders., Zur Theorie von Verhandlungssystemen, S. 21; Heritier, Die Koordination der Interessenvielfalt im Europäischen Entscheidungsprozeß, S. 260 (269); Benz, Verhandlungssysteme, S. 86; ders., DÖV 1993, S. 85 (90). 299 So die Bezeichnung bei Benz, DÖV 1993, S. 85 (89 f.) und Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 234 ff. 300 Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme, S. 51 (69) mit weiteren Beispielen. Vgl. a. Benz, DÖV 1993, S. 85 (90). 301 Dies verkennt Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 52 bei und in Fn. 103, wenn er den Begriff „Ausgleichszahlung“ verwendet und sich dabei auf Scharpf, Koordination
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
die Überwindung des Willens der jeweiligen Ländervertreter. Es ist aus diesen Gründen die Bezeichnung Seitenzahlung für den Konfliktlösungsmechanismus im Bundesrat zu verwenden und Ausgleichs- bzw. Kompensationszahlung bei der Kooperation zwischen Ländern. Auch die Seitenzahlung führt zu einem schwachen Kompromiß, da weder in der Sache noch im Verfahren ergeht. Der bezahlte Verhandlungspartner stimmt einer Regelung zu, die er inhaltlich ablehnt oder der er bestenfalls gleichgültig gegenübersteht. Ohne die Zahlung hätte der Gesetzentwurf keine Mehrheit im Bundesrat bekommen. Hinzu kommt das Odium der Anrüchigkeit durch wenigstens den Verdacht der Käuflichkeit. 3. Änderung der ursprünglichen Entwurfsformulierung Eine Möglichkeit der Kompromißfindung besteht in der Änderung der ursprünglichen Entwurfsformulierung. Vor allem bei Streitfragen, die sich innerhalb des Politikfeldes des Gesetzes befinden, wird ein Kompromiß auf diese Weise erzielt 302. Beispielweise wurde bei der Gesundheitsreform 1992 im Konfliktfeld „Organisationsreform der Krankenkassen“ die Position der Ländermehrheit weitgehend übernommen und in den Gesetzentwurf eingefügt. Überall dort, wo teilbare Summen oder Differenzbeträge im Spiel waren (Zeiträume, Geldmengen oder Prozentanteile), erfolgt ein Kompromiß innerhalb der strittigen Regelung durch eine „quantitative Mittelungslösung“ 303. In den meisten Fällen einigen sich die Verhandlungspartner auf den Mittelwert der Summe. So wurde bei der Steuerreform 1990 folgender Konsens erzielt: Festlegung der Summe des Strukturhilfefonds (Forderung Länder: 5 Milliarden DM; Position Bund: keine Zahlung; Einigung auf 2,45 Milliarden DM); Steuerbefreiung von Jahreswagen (Forderung Länder: 5%; Position Bund: 3 %; Ergebnis: 4 %). Diese Kompromißtechnik findet oft Anwendung 304. Die Quantifizierbarkeit von Streitfragen erleichtert zwar die Kompromißbildung, sie kann aber ungewünschte Nebenwirkungen hervorrufen. Die Kehrseite bei finanzieller Teilbarkeit ist etwa, daß Geld auf sehr unterschiedliche Verantwortungsträger übergewälzt werden kann. So wurden Zahlenwerte in Renten- und Krankenversicherung miteinander verrechnet und damit einem Kompromiß zugeführt 305. durch Verhandlungssysteme, S. 51 (69) bezieht, um dessen Beispiel für solche Zahlungen zu nennen. Dem liegt offenbar eine Verwechslung von Seiten- und Ausgleichszahlungen zugrunde. 302 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 231; vgl. ders. zu den folgenden und weiteren Beispielen. 303 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 416. 304 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 416; Donner, ZRP 1985, S. 327 (331); grds. Galtung, Institutionalisierte Konfliktlösung, S. 113 (158 f.).
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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4. Milderung und Beseitigung von Gesetzesfolgen Für den Fall, daß die Bundesregierung zu einer Änderung der strittigen Entwurfsformulierung nicht bereit ist, lassen sich Fälle kategorisieren, in denen die Regierung anbot, die von der Länderseite befürchteten Folgen durch die Einfügung von neuen Bestimmungen zu relativieren oder ganz zu beseitigen 306. So waren etwa beim Steueränderungsgesetz 1992 die Länder bereit, eine Senkung der Gewerbeertragsteuern und Erleichterungen bei der betrieblichen Vermögensteuer mitzutragen, wenn die Bundesregierung im Gegenzug für den Ersatz der kommunalen Einnahmeausfälle sorgen würde. Um hier keine Verwechslung mit relativierenden Formulierungen, Formelkompromissen oder bloßen politischen Erwartungen aufkommen zu lassen, sollte diese Kategorie nicht „Einfügung von relativierenden Elementen“ 307 genannt werden. Dem wird auch die Kraft dieser Kompromißform nicht gerecht. Da hier ein echter Ausgleich für einen Verlust gegeben wird, besitzt diese Konfliktlösungsform eine starke Kompromißfähigkeit. 5. Übernahme von Positionen Häufiger als es zu vermuten wäre, wird auch die Gegenposition vollständig übernommen 308. So wurde bei der Kronzeugenregelung 1989 die von RheinlandPfalz geforderte Streichung des § 130b StGB von der Bundesregierung durchgeführt. Auch wenn die Übernahme der Gegenposition oft im Zusammenhang mit Entgegenkommen der anderen Seite in anderen Punkten des jeweiligen Gesetzes zu sehen ist, ist dies doch nicht immer der Fall gewesen. So ist bspw. ein Entgegenkommen der CSU bei ihren Forderungen zur Steuerreform 1990 im Ausgleich zur Übernahme einiger Positionen durch die Bundesregierung nicht zu erkennen 309. 6. Alternativlösungen Ein weiterer Konfliktlösungsmechanismus ist der vollständige Verzicht auf einen ursprünglichen Gesetzesentwurf bzw. eines Entwurfsteils zugunsten einer Alternativlösung, bei der das mit dem Gesetz gewünschte Ergebnis ebenfalls 305 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 417 mit weiteren Beispielen und Nachweisen. 306 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 232. 307 So aber Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 232. Zu relativierenden Formulierungen, Formelkompromissen oder bloßen politischen Erwartungen vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 415 f., 422. 308 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 232 f. 309 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 233.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
erzielt werden soll. Ein Beispiel dafür ist die in der Literatur weithin beachtete „Albrecht-Initiative“. Hier wurde das ursprünglich initiierte Gesetz zugunsten eines neuen Gesetzes vollständig zurückgenommen, mit dem das Ziel, den finanzschwachen Ländern Bundesmittel zukommen zu lassen, ebenfalls erreicht wurde 310. 7. Ausklammern / Verschieben Ferner kann die Kompromißfindung durch Ausklammern und Verschieben der strittigen Frage erfolgen. Dieser Konfliktlösungsmechanismus wurde etwa bei der Organisationsreform der Krankenkassen angewandt. Dieses Vorhaben wurde beim Gesundheitsreformgesetz 1988 zunächst verschoben und dann beim Gesundheitsstrukturgesetz 1993 durchgeführt. Es sind aber auch Beispiele zu finden, in denen dieses Vorgehen zwar vorgeschlagen, aber nicht durchgeführt wurde, weil die Gegenseite darauf nicht einging. Ein möglicher Grund für die Ablehnung dieser Konfliktlösungsmöglichkeit besteht darin, daß ihre Voraussetzung nicht vorlag: Sie wird dann gewählt, wenn sich die Akteure einer Seite selbst uneins sind 311. Es handelt sich um einen „Kompromiß durch ausdrückliche Nicht-Entscheidung“, der nicht nur in föderalen Verhandlungen, sondern auch ansonsten in der Gesetzgebung Anwendung findet 312. Ihre Einigung beschränkt sich – im Unterschied zum völligen Nicht-Handeln – auf die Übereinstimmung, (jetzt zumindest vorerst) überhaupt nicht gesetzgeberisch aktiv zu werden, ohne daß eine Seite ihre Vorstellungen einseitig durchsetzt. Mit dieser Strategie können nicht nur ganze Gesetze, sondern auch einzelne Streitfragen „gelöst“ werden. Hierbei handelt es sich nicht um einen eigentlichen inhaltlichen Konfliktlösungsmechanismus, sondern um einen Verfahrenskompromiß, da nicht in der Sache verhandelt, sondern das streitige Thema (nur) verschoben wird. 8. Drohung mit bzw. Verzicht auf Vermittlungsausschuß und Zustimmungsverweigerung Gleichfalls eine Verfahrenskomponente weist die Möglichkeit auf, in föderalen Verhandlungen mit dem Vermittlungsausschuß oder mit der Zustimmungsverweigerung zu drohen oder als Zugeständnis auf dessen Anrufung zu verzichten 313. Damit werden eine inhaltliche und verfahrensbezogene Konfliktlösungsvariante 310 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 233 f.; zur Albrecht-Initiative aus politikwissenschaftlicher Sicht Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat, S. 53 (55); vgl. a. die Fallstudien dazu ders., ZParl 1989, S. 331 ff.; dazu aus rechtlicher Sicht Patzig, DÖV 1989, S. 330 ff. 311 Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 233. 312 Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 420; Zitat ebd.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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miteinander kombiniert. Dieser Drohung kann wiederum damit begegnet werden, daß als „Gegenstrategie“ 314 das zu verabschiedende Gesetz in einen zustimmungsbedürftigen und einen nicht zustimmungsbedürftigen Teil aufgeteilt wird, sofern davon nicht von vornherein Gebrauch gemacht wurde. 9. Bewertung: Janusköpfiger Charakter der Konfliktlösungsmechanismen Die meisten der vorgenannten Konfliktlösungsmechanismen sind solche, die nicht spezifisch bundesstaatliche sind. Sie finden auch in der Konfliktlösung innerhalb des Bundestages und zwischen Bundestag und Bundesregierung oder bei Koalitionsverhandlungen statt. Kopplungsgeschäfte und Paketlösungen finden sich auch auf internationaler Ebene. Ein typisch bundesstaatlicher Konfliktlösungsmechanismus ist hingegen die Seitenzahlung. Bei der Bewertung dieser Mechanismen stellt sich die Frage, ob und welche Gefahren mit ihnen verbunden sind und ob Verfassungsrecht verletzt wird. Bei Gesetzgebungspaketen ist es häufige Praxis, daß Gesetzgebungsmaterien, die nichts miteinander zu tun haben, verfahrensrechtlich miteinander verbunden werden oder die eine in einem anderen Gesetz untergebracht wird. So wird etwa das Steuerrecht außerhalb der Steuergesetze geändert, in Gesetzen, die mit dem eigentlichen Regelungsgegenstand inhaltlich nichts verbindet: der Seeschiffahrt, der Familienförderung, des Sozialgesetzbuches usw. 315. Hier fehlt jeder Sachzusammenhang, die Ressortverantwortlichkeit wird unterlaufen, das vom Sachgegenstand abhängige Verfahren durchbrochen, die Auffindbarkeit und Verständlichkeit der Neuregelung verschleiert 316. Die Kompromißfindung in der Sache wird unberechenbar. Diese Kritik erhebt bemerkenswerterweise auch die Politik selbst 317. Ferner wird durch Gesetzespakete mit unterschiedlichen Inhalten eine Zustimmungsbedürftigkeit erzeugt, die ohne Bündelung gar nicht notwendig gewesen wäre. Diese Pakete sind schließlich auch deshalb bedenklich, weil sie den Kompromiß in der Sache verhindern, aber auch noch nicht einmal einen Verfahrenskompromiß darstellen. Zutreffenderweise bemerkt Schulze-Fielitz 318: Es handelt sich um eine zufallsbe313 Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 365; Dietlein, ZRP 1985, S. 325 f.; vgl. a. Johne, APuZ 50 –51/2004, S. 10 (13); Leunig, Föderale Verhandlungen, S. 236. 314 Johne, APuZ 50 – 51/2004, S. 10 (13). 315 Weitere Beispiele bei Kirchhof, FAZ v. 4. September 2002, S. 8 und Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 438. 316 Wie hier Kirchhof, FAZ v. 4. September 2002, S. 8. 317 Holtmann, Gesetzgebung, S. 105 (125); Kropp, Verhandeln und Wettbewerb, S. 151 (173). 318 Schulze-Fielitz, Das Parlament als Organ der Kontrolle, S. 90 f.; vgl. a. dens., Der informale Verfassungsstaat, S. 134 ff.; ebenfalls krit. Kirchhof, NJW 2001, S. 1332 (1333);
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
dingte und von parteipolitischen, nicht mehr von Sachüberlegungen geleitete Verknüpfung der entscheidungsreifen Probleme zu „Kompromißpaketen“ und die Verschiebung der Kompromißfindung auf die höchste (und oft sachfernste) Ebene der Parteivorsitzenden, ohne daß die legislatorische Rationalität der Kompromißbildung dabei noch beachtet würde; der Kompromiß wird zum Selbstzweck, oder er wird nicht von der Sache her, sondern von der verfahrenen inter-parteilichen Koalitionsdynamik her gesteuert. Mit dieser politischen Praxis sind rechtliche Gefahren verbunden. Zu nennen sind hier die Arkanisierung der Entscheidungsprozesse, die Verlagerung der Kompetenz- und Verantwortungszuweisungen, die Abwertung des Verfassungsverfahrensrechts, die Schwächung der Gewaltenteilung, des Demokratie-, des Rechtsstaats- und des Bundesstaatsprinzips, die Delegitimierung des Vermittlungsverfahrens und des Kompromißgedankens, aber auch das Ansehen der Politik in der Öffentlichkeit. Ob diese Gefahren sich verwirklichen, ist im Einzelfall zu prüfen. Die Maßstäbe, welche das Recht bietet, werden unten vorgestellt und der Fall der Steuerreform 2000 als Beispielsfall erörtert. Auch die Föderalismusreform hat an dieser Staatspraxis nichts geändert. Solange es zustimmungspflichtige Gesetze gibt, werden auch Seitenzahlungen geleistet und Gesetzgebungspakete geschnürt werden. Zum Teil werden diese Bedenken abgetan und die Konfliktlösungsmittel als zweckmäßige sowie effiziente Wege der Verfassungspraxis bewertet 319. Dazu besteht aber keine Berechtigung. Richtig ist zwar, daß Verhandeln ein elementarer Modus des Politschen ist. Richtig ist auch, daß das Recht Konfliktlösung ermöglichen soll. Es ist aber auch die Aufgabe des Rechts, die Politik zu kontrollieren, indem es ihr einen Rahmen setzt. Alles staatliche Handeln ist an Recht und Gesetz gebunden. Effizienz ist stets – insbesondere heute – ein wohlfeiles Argument, das letztlich versucht, die Methode des Wettbewerbs auf den Staat zu übertragen. Dies ist aber aus den genannten Gründen 320 nicht möglich. Effizienz ist primär eine Kategorie der Wirtschaft, nicht des Rechts. Mit pauschaler Anwendung des Arguments der Effizienz begibt man sich auf die schiefe Bahn. Noch effizienter wäre der Staat ohne die Demokratie oder das Rechtsstaatsprinzip. Die hiesige Position kennt die Verfassungswirklichkeit des verflochtenen Bundesstaates und ist sich auch der Notwendigkeit von Effizienz, etwa zur Legitimierung des Systems oder aufgrund des internationalen Wettbewerbs, bewußt. Das hindert aber nicht das Recht an seiner ureigensten Aufgabe 321, der Kontrolle der Politik. „Es gibt keinen Reservatbereich des Politischen gegenüber dem normativen Leitungsanspruch der Verfassung und der Reichweite der Verfassungsexegese“ 322. ders., FAZ v. 4. September 2002, S. 8; Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 276 ff.; Isensee, HbStR § 98, Rn. 156; a. A. Herdegen, VVDStRL 62 (2004), S. 7 (18); politikwissenschaftlich: Rausch, Parlamentsreform, S. 143 (155). 319 Etwa Herdegen, VVDStR 62 (2004), S. 7 (18). 320 s.o. 4. Kap., E. II. 321 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 165. 322 Isensee, HbStR VI, § 126, Rn. 165.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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Diese bisher negative Analyse bliebe freilich unvollständig, wenn die grundsätzliche rechtliche Zulässigkeit und die tatsächliche Funktion der Konfliktlösungsmechanismen unterschlagen würden: Bei der Erörterung von Recht und Politik in der Gesetzgebung im demokratischen Bundesstaat wurde festgestellt, daß politische und rechtliche Elemente eng miteinander verwoben sind, weshalb die politisch-informalen Konfliktlösungsmechanismen notwendige Folge dieser engen Verquickung von Recht und Politik sind. Da dies wiederum auf dem Sinn des Verfassungsrechts als Recht für das Politische beruht, sind sie grundsätzlich als systembedingt zulässig zu erachten. Die Frage ist nur, wo die Grenze des Zulässigen verläuft. Die inneren (aber auch die äußeren) Konfliktlösungsmechanismen sorgen ferner schlicht dafür, daß der demokratische Bundesstaat funktioniert. Der demokratische Bundesstaat als kompliziertes Gebilde ist auf flexible Konfliktlösungsmechanismen angewiesen. Er bedarf politischer Konfliktlösungsmechanismen, d.h. der Freiheit in der Wahl, Anwendung und Kreation der Mittel. Dies gilt insbesondere für die Gesetzgebung. Die Vielzahl der Interessen, die politischen und föderalen, müssen in Ausgleich gebracht werden. Eine starre Verbindung von Demokratie und Bundesstaat ließe deren Verbindung nicht zu und würde eine Verschmelzung zum demokratischen Bundesstaat unmöglich machen. Diese Ergänzung des formalen Verfassungsrechts um das Informale 323 ist daher gerade im Bundesstaat von großer Bedeutung. Diese informale Dimension und die Bedeutung des Politischen muß die rechtliche Bewertung der Konfliktlösungsmechanismen berücksichtigen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Funktionsfähigkeit – und erst recht Effizienz, als gesteigerte Form der Funktionsfähigkeit – gibt es im Rechtsstaat, in dem alles staatliche Handeln an Recht und Gesetz gebunden ist, nicht um jeden Preis. Die Konfliktlösungsmechanismen in der Gesetzgebung sind daher ein janusköpfiges Element des demokratischen Bundesstaates. Sie sind notwendig zum Gelingen der Gesetzgebung, beinhalten gleichzeitig verfassungsrechtliche Gefahren. Welches ihrer Gesichter Vorrang genießt, kann nicht pauschal entschieden werden, sondern ist im Einzelfall zu beurteilen. Sie sind ein weiterer Grund dafür, daß der demokratische Bundesstaat einer einseitigen Deutung und damit der reinen Lehre nicht zugänglich ist. III. Die rechtliche Beurteilung von „Verfahrensfehlern“ bei der inneren Konfliktlösung Die innere Konfliktlösung, also die materielle Streitbeilegung, ist rechtlich nicht geregelt, sondern vollzieht sich im Raum des Politisch-Informalen. Das 323
Vgl. grds. dazu Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, passim.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
führt zu der Frage, ob und inwieweit mögliche Verfahrensfehler bei der Streitbeilegung einer rechtlichen Kontrolle unterliegen können. 1. Ergebnis- oder Verfahrenskontrolle? In Literatur und Rechtsprechung wird eine Streitfrage erörtert, die auf die Methodik der (inneren) Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat übertragbar sein könnte. Sie betrifft das inhaltliche Zustandekommen der Gesetze und die inhaltliche Auseinandersetzung der Entscheidungsträger mit der zu regelnden Materie. Zwei Lager ringen um die Frage, ob der Gesetzgeber zu einer „optimalen Methodik der Gesetzgebung“ verpflichtet sei (Schwerdtfeger) oder ob er „gar nichts anderes als das Gesetz“ schulde (Schlaich). Die Kontroverse beschäftigt sich damit, ob die Methodik der Entscheidungsfindung bei der Vorbereitung und dem Erlaß eines Gesetzes der rechtlichen Kontrolle unterliegt oder in politischer Freiheit ergehen kann. Die Debatte wird freilich nur für die Entscheidungsfindung innerhalb des Bundestages und seiner Ausschüsse geführt 324. Sie müßte sich daher auf die vorliegende Kategorie der Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat übertragen lassen. Denn auch hier interessiert die Frage, ob es allein auf das Ergebnis eines Entscheidungsvorganges ankommt oder ob die Streitbeilegung zwischen den gesetzgebenden Organen im Bundesstaat auch rechtlichen Bindungen unterworfen ist. Zunächst ist die Konfliktlösung Teil des Gesetzgebungsprozesses, an dem im demokratischen Bundesstaat eben nicht nur das demokratische Parlament, sondern auch die bundesstaatlich-demokratisch legitimierte Länderkammer teilnimmt. Bei der Zustimmungsgesetzgebung geht die Legitimation von Bund und Ländern gemeinsam aus 325. Wie die Entscheidungsfindung im Parlament zur Gesetzgebung gehört, ist auch die Konfliktlösung Teil des Gesetzgebungsprozesses. Die derzeitigen Debatte ist also zunächst insoweit übertragbar, als sie sich mit dem gesamten Gesetzgebungsprozeß befaßt und die Konfliktlösung Teil dieses Gesetzgebungsprozesses ist. Sie müßte weiterhin auch inhaltlich übertragbar sein. Die Streitfrage weist eine vergleichbare Regelungslage zur Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat auf. Auch dabei geht es um eine Entscheidungsfindung. Wo und zwischen welchen Akteuren der Entscheidungs- und Abwägungsvorgang sowie die Kompromißsuche stattfinden ist unerheblich. Es kommt auf deren Inhalt und Ablauf an. Dies kann innerhalb des Parlaments aber auch zwischen den am Gesetzgebungsprozeß beteiligten Verfassungsorganen stattfinden. Das Substrat der Diskussion läßt sich daher ebenfalls auf die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat übertragen.
324 325
Hoffmann, ZG 1990, S. 97 (98, 102), Schneider, Gesetzgebung, § 2, Rn. 2. s.o. 4. Kap., B. II., III.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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Gegen eine Übertragbarkeit der Debatte könnte schließlich sprechen, daß es Unterschiede in der Rechtsstellung der Abgeordneten des Bundestages als Parlament und der Mitglieder des Bundesrates als Exekutivorgan 326 gibt. Dies bezieht sich aber vorwiegend auf die Rechte in Art. 46 bis 48 GG, die für Bundesratsmitglieder nicht gelten, sowie auf das Zutrittsrecht zum Bundestag. Entscheidend ist der diskursive Charakter der Debatten in beiden Organen. Auch der Bundesrat ist kein unpolitisches Organ. Die derzeitigen Debatten sollen zur Willensbildung führen. Da diese anhand der Methodik der Entscheidungsfindung geprüft und verbessert werden soll, kommt es auf den unterschiedlichen Status der Mitglieder nicht an. Auch der Bundesrat besitzt Elemente mit parlamentarischem Charakter 327. Im Folgenden kann mithin von der Übertragbarkeit ausgegangen werden. Maßstäbe der inneren Gesetzgebung werden daher in den nachstehenden Überlegungen direkt dargestellt und ohne den Schritt der Analogie auf die Konfliktlösungsmechanismen angewendet. a) Reine Ergebniskontrolle Nach der herkömmlichen Auffassung, für die Schlaich zuvor stellvertretend mit seinem vielzitierten Ausspruch genannt wurde, kommt es auf den inhaltlichen Entscheidungs- und Abwägungsprozeß nicht an 328. Ausschlaggebend sei, daß das Gesetz als Endprodukt verfassungsgemäß sei. Dieser Auffassung liegt ein Verständnis der Art. 76 ff. GG zugrunde, nach der diese Vorschriften ein reines Entscheidungs- und keinerlei Erkenntnisverfahren darstellen. Die Abgeordneten seien daher zu keinerlei Tatsachenermittlung und Abwägung verfassungsrechtlich relevanter Umstände verpflichtet. So erklärt sich der Ausspruch, daß der Gesetzgeber nichts weiter als das Gesetz schulde.
326
Zu diesen Unterschieden vgl. Jarass / Pieroth, GG, Art. 51, Rn. 3. Er kann ähnlich dem Bundestag die Anwesenheit eines jeden Mitglieds der Bundesregierung verlangen; die Bundesregierung hat den Bundesrat über die Regierungsgeschäfte zu informieren (Art. 53 GG); die Geschäftsordnungsautonomie entspricht parlamentarischen Prinzipien (Art. 52 Abs. 2 Satz 2 GG); das Recht zur Einberufung des Bundesrates durch seinen Präsidenten (Art. 52 Abs. 2 GG); der Grundsatz der Öffentlichkeit der Plenarverhandlungen (Art. 53 Abs. 3, 4 GG); die Beschlußfassung nach dem Mehrheitsprinzip (Art. 53 Abs. 3 Satz 1 GG). 328 Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (109); ders., JuS 1982, S. 597 (602 f.); ders. / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 503 ff., 506; Dopatka, RuP 1984, S. 9 (15 f.); Ennuschat, DVBl. 2004, S. 986 (994) m.w. N.; Gusy, ZRP 1985, S. 291 (298); ders., ParlRParlPr, § 60, Rn. 35; Henseler, ZG 1986, S. 76 (85); Hölscheid / Menzenbach, DÖV 2008, S. 139 (145); Koch, DVBl. 1983, S. 1125 (1130); Karpen, ZG 1986, S. 5 (22); Meessen, NJW 1979, S. 833 (836); Merten, Verfassungsrechtliche Anforderungen an Stil und Methode der Gesetzgebung, S. 51 (54); Roßnagel, Das Beendigungsgesetz, S. 305 (315); Vogel, Das BVerfG und die übrigen Verfassungsorgane, S. 207. 327
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
b) Optimale Methodik des Gesetzgebungsverfahrens Die auf Schwerdtfeger ursprünglich zurückgehende und im Vordringen befindliche Gegenmeinung unterwirft auch die Entscheidungsfindung rechtlichen Maßstäben und fordert ein möglichst optimales Verfahren der Gesetzgebung 329. Der Prozeß der Entscheidungsfindung – das innere Gesetzgebungsverfahren – müsse von der Analyse der Ausgangslage über die Zielfindung und Mittelzuordnung bis zur abschließenden Entscheidung insgesamt und in jeder Hinsicht methodisch einwandfrei ablaufen 330. c) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Meinung des Bundesverfassungsgerichts, das die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes auszusprechen hat. Die Rechtsprechung des Gerichts zur eigenständigen rechtlichen Kontrolle des Entscheidungsprozesses ist allerdings nicht ganz eindeutig 331. So ist im Schrifttum angesichts dieses Befundes bereits davon die Rede, daß die Rechtsfolge von Mängeln im Gesetzgebungsverfahren davon abhinge, welches Entscheidungsergebnis das Gericht bevorzuge 332. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unterliegen die Anforderungen an das innere Verfahren der Gesetzgebung grundsätzlich der verfassungsge329 Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 171 ff.; Breuer, Der Staat 1977, S. 40 ff.; Cremer, Anwendungsorientierte Verfassungsauslegung, S. 181 ff.: („die Güte des parlamentarischen Verfahrens“); Di Fabio bei Keller, ZG 2004, S. 400; Gebauer, Nachdenken als Verfassungsauftrag, S. 1139 (1144 ff.); Goerlich, JR 1977, S. 89; Hill, Jura 1986, S. 286 (292); Hoffmann, ZG 1990, S. 97 (109 f.); Kloepfer, DVBl. 1995, S. 441 (448); ders., ZG 1988, S. 289 (298 ff.); ders., VVDStRL 40 (1982), S. 63 (89 f.); Lerche, Mitbestimmung und Rationalität, S. 437; ders., Ausgleich durch gesetzgeberisches Verfahren, S. 97 (114); Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 257 ff., 263; Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 75 (94 f.); ders., VVDStRL 40 (1980), S. 189; Pestalozza, NJW 1981, S. 2081 (2086); H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2103 (2107); H. Schneider, Der Niedergang des Gesetzgebungsverfahrens, S. 421 (432 ff.); Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, S. 439 f.; Schulze-Fielitz, NVwZ 1983, S. 709 (711); Smeddinck, DVBl. 2003, S. 641 (643); Stern, Staatsrecht II, § 37 IV. 5. g) (zurückhaltend); auf Schwerdtfeger Bezug nehmend, aber zurückhaltender Benda, ZRP 1977, S. 1 ff. 330 Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 171 (176); zu Qualitätsanforderungen an verfassungsgemäße Gesetze Fliedner, Qualitätskriterien für die Bundesgesetzgebung und für Bundesgesetze, passim, zu seinem Untersuchungsgegenstand S. 12.; wohl auch Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NordrheinWestfalen, Optimierung der Gesetzgebung, S. 8 f. 331 Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 341 ff.; Benda, DÖV 1979, S. 467 f.; Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, S. 436 ff. 332 H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2103 (2107, 2109); Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 95 ff.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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richtlichen Kontrolle 333. So prüft es einerseits etwa bei Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers 334, bei schwierigen Sachverhaltsermittlungen 335, unbestimmten Rechtsbegriffen 336 sowie dem Finanzausgleich 337 weniger das Ergebnis der Gesetzgebung, sondern den Weg dorthin und fordert eine rationale Maßstabsbildung bei gesetzgeberischen Entscheidungen: „... die Prognose des Gesetzgebers ist vertretbar. Dieser Maßstab verlangt, daß der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat. Er muß die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelungen so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen das Verfassungsrecht zu vermeiden. Es handelt sich also eher um Anforderungen des Verfahrens. Wird diesen Genüge getan, so erfüllen sie jedoch die Voraussetzungen inhaltlicher Vertretbarkeit; sie konstituieren insoweit die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die das Bundesverfassungsgericht bei seiner Prüfung zu beachten hat“ 338. Mit diesen Entscheidungen kann die Tendenz des Gerichts festgestellt werden, nicht nur das Produkt politischen Handelns – das Gesetz –, sondern den politischen Weg dorthin einer rechtlichen Prüfung zugänglich zu machen. Es erkennt den politisch-gestalterischen Willen des Gesetzgebers an, stellt aber Verfahrensanforderungen an dessen Beurteilungsspielraum. Daher steht eine rechtliche Kontrolle des Entscheidungs- und Willensbildungsprozesses nicht grundsätzlich im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Andererseits hat das Gericht geurteilt, mit der formalen Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens sei es nur schwer zu vereinbaren, wenn Willensbildungsmängel einzelner Abgeordneter zur Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes führen könnten 339. Mängel beim Zustandekommen des Gesetzes, wie Täuschung oder Irrtum, Gedankenlosigkeit, subjektive Willkür des Gesetzgebers, Zeitdruck oder unsachgemäße Entscheidungsmotive des Gesetzgebers führen nach dieser Rechtsprechung nicht zur Verfassungswidrigkeit, wenn das Gesetz materiell mit der Verfassung vereinbar ist 340. 333 Vgl. BVerfGE 30, 202 (316); 36, 47 (64); 50, 290 (334); 57, 139 (160); 65, 1 (55); dazu auch Hill, Jura 1986, S. 286 (291); Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, S. 22 f., 44 ff. 334 BVerfGE 50, 290 (332 ff.): Auswirkungen der Mitbestimmung von Arbeitnehmern. 335 BVerfGE 95, 115 (142 ff.): Festlegung von sicheren Herkunftsländern (Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG). 336 BVerfGE 79, 311 (343 ff.): gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht (Art. 115 I 2 Hs. 2 GG). 337 BVerfGE 101, 158 ff. 338 BVerfGE 50, 290 (333 f.). 339 BVerfGE 16, 82 (88). 340 BVerfGE 2, 266 (281); 18, 38 (45); 29, 221 (234); 48, 227 (237); 57, 139 (161); 75, 246 (268).
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Hier ist ein mit dem Ausgangsfall der Steuerreform 2000 ähnlicher Fall von Bedeutung, den das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte 341. Die Beschwerdeführer rügten, die übertriebene Eile im Bundestag habe die Abgeordneten in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeengt und – darauf kommt es nun an – der Bundesrat habe sich durch eine Zusage der Bundesregierung zur Zahlung von 130 Millionen DM für finanzschwache Länder leiten und damit die Zustimmung abkaufen lassen. Eine solche Motivlage stelle die Gültigkeit des Zustimmungsbeschlusses in Frage. Durch das Gesetzgebungsverfahren seien ungeschriebene Verfassungsgrundsätze des demokratisch-parlamentarischen, rechtsstaatlichen und föderalen Staates verletzt worden 342. Dem schloß sich das Gericht nicht an. Weder vermochte es in dem Zeitdruck, unter dem die Abgeordneten standen, einen relevanten Verfahrensverstoß zu erkennen, noch betrachtete es die Motivation, unter der sich die Bundesratsmitglieder zur Zustimmung entschlossen, als bedenklich. Vielmehr verwies es diese Mißstände in den Bereich des Politischen, in dem sie zu rügen seien. d) Stellungnahme: Verfahrenskontrolle durch Verfassungsbindung Das Gericht sowie die Vertreter aus der Literatur, die eine rein ergebnisorientierte Prüfung befürworten, bedenken nicht, daß auch der parlamentarische Gesetzgeber, wie alle Staatsgewalt, an die Verfassung gebunden ist. Seine Tätigkeit muß demokratischen und rechtsstaatlichen Anforderungen genügen. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Art. 20 Abs. 2 GG). Da auch die Entscheidungsfindung dazu zählt, ist auch sie daran zu messen. Darin liegt auch keine Fesselung der Politik durch das Recht. Wer dies so sieht, verkennt die oben dargelegten Funktionen des Verfahrens 343. Sie liegen in der freiheitssichernden Wirkung, die rechtliche Verfahrensregelungen in einer Demokratie besitzen. Verfahrensregelungen sind Bedingung und Folge demokratischer 344 und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur. Eine Fesselung des Gesetzgebers in inhaltlicher Hinsicht ist damit gerade nicht verbunden. Deshalb spricht auch nicht der Einwand der Gewaltenteilung 345 gegen eine rechtliche Bindung des Gesetzgebungsverfahrens. Denn die Gerichtsbarkeit greift nicht in die inhaltliche Gestaltung des Gesetzgebers hinein, sie kontrolliert nur das Verfahren. Recht ist nur Rahmen, nicht Fessel der Politik.
341
BVerfGE 29, 221. Dazu das Gutachten von Hans Schneider BVerfGE 29, 221 (225); ders., Der Niedergang des Gesetzgebungsverfahrens, S. 421 ff. 343 Wie hier Mengel, ZG 1990, S. 193 (195). 344 Mengel, ZG 1990, S. 193 (195). 345 So aber Hesse, Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 261 ff.; vgl. a. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 542. 342
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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Aber auch die zurückhaltende Judikatur des Bundesverfassungsgerichts steht im Einklang mit seiner Grundauffassung, die entgegengesetzte Urteile überlagert und die in dem Ergebnis der Zulässigkeit der Verfahrensüberprüfung zum Ausdruck kommt 346: die Bindung an Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Indem es die Bewältigung des Zeitdrucks und des Vorwurfs der Käuflichkeit der Politik zuweist, verkennt es, daß es neben dem spärlich geregelten Gesetzgebungsverfahren noch diese Bindungen gibt, obwohl es sie an anderer Stelle ausdrücklich anerkennt 347. Soweit das Gericht darauf verweist, daß Motive und Vorstellungen der Beteiligten am Gesetzgebungsverfahren irrelevant seien, ist dem entgegenzuhalten, daß die Anforderungen an das innere Verfahren der Gesetzgebung nicht eine Auslegung des Norminhalts nach Absicht des Gesetzgebers erreichen wollen, sondern die Art und Weise des methodischen Vorgehens bei der Sammlung und Auswahl des Entscheidungsmaterials sowie eine rationale Bildung und Bewertung von Entscheidungsalternativen betreffen 348. Selbst wenn man die Motivlage der Abgeordneten aus der Kontrollbefugnis herauslassen will und nur Grenzen der Motivation der Zustimmung zu einem Gesetz anerkennt 349, ist zu prüfen, ob diese nicht überschritten werden. Auch dazu dient der im folgenden zu entwickelnde Maßstäbekatalog. Wenn das Gericht und die Teile des Schrifttums Fehler in der Willensbildung als irrelevant ansehen, weil jedenfalls das Ergebnis der Entscheidungsfindung verfassungsgemäß sei, muß erwidert werden, daß das Grundgesetz auch Verfahrensvorschriften enthält, dem das Gesetz genügen muß. In diesem Stadium beruht die Legitimation des Gesetzes nicht primär auf einem bestimmten verfassungsrechtlich programmierten Gesetzesinhalt, sondern gerade auf einem ordnungsgemäßen Verfahren, in dem das Gesetz zustande gekommen ist. Der Hinweis auf die inhaltliche Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kann das Defizit an Legitimation im Verfahren nicht ersetzen 350. Um dem politischen Gestaltungsspielraum und der Flexibilität im Verfahren, deren es angesichts immer wechselnder Lagen bedarf, genüge zu tun, ist keine optimale Methodik des Gesetzgebungsprozesses zu fordern, sondern (nur, aber immerhin) der Willensbildungsprozeß demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen zu unterwerfen. Andererseits kommt aus den genannten Gründen eine reine Ergebniskontrolle nicht in Frage 351. 346
Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 353; ähnlich Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, S. 437. 347 BVerfGE 29, 221 (234); Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 353. 348 Hill, Jura 1986, S. 286 (292). 349 Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 351: „... obwohl es auch hier sicherlich Grenzen gibt, die aufzuzeigen, die Behauptung, daß der Bundesrat sich die Entscheidung habe abkaufen lassen, Anlaß genug gewesen wäre“. 350 Vgl. Papier, Der verfahrensfehlerhafte Staatsakt, S. 30; ihm folgend Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, S. 438.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Da also der Prozeß der Willensbildung an rechtliche Maßstäbe gebunden ist und nach dem oben Gesagten die Verfahrenkontrolle auch die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat erfaßt, ist auch der Willenbildungsprozeß im Bundesrat am 14. Juli 2000 der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich. Die Zusage von Finanzzuweisungen des Bundes fällt damit nicht in den Bereich des Politischen.
Angesichts der Scheu vieler Autoren, den Gesetzgebungsprozeß rechtlichen Bindungen zu unterwerfen und nur dessen Ergebnis zu betrachten, stellt sich die Frage nach deren Gesetzesverständnis. Weite Teile der Lehre scheinen das Gesetz als ein von einem transzendenten Wesen kraft höherer Macht geschaffenes Werk zu betrachten, das herab auf die Erde gegeben würde und damit nur das fertige Gesetz und nicht seine Entstehung untersucht werden dürfe. Es mutet ferner an, als ob durch die Zurückhaltung gegenüber dem Zustandekommen von Gesetzen noch positivistische Ideen nachklingen, welche das Entstehen von Gesetzen allein der Politik zuordnen. Eine magische, geheimnisvolle und zugleich servile Überhöhung der Gesetzesentstehung durch die Jurisprudenz kommt ferner in der devoten Rede vom „Gesetzgeber“ zum Ausdruck, welcher vorgebe, womit jene sich zu beschäftigen habe. Dazu besteht keinerlei Anlaß. „Den Gesetzgeber“ als Einheit und höheren Sinnstifter gibt es nicht. Gesetze werden nicht vom Himmel auf die Erde gereicht. Gesetze werden von Menschen gemacht. Gesetzgebung ist ein Prozeß. An ihm sind viele Akteure beteiligt. Der politische Verlauf der Entstehung von Gesetzen und die Vielzahl der Handelnden sind rechtlichen Bindungen unterworfen 352. 2. Grundsatz: Föderaler und politischer Verhandlungsdruck Die Frage nach der Zulässigkeit politischen Verhandlungsdrucks läßt sich aus dem Verhältnis von Recht und Politik beantworten. Grundsätzlich resultiert politischer Verhandlungsdruck aus der engen Verküpfung von Recht und Politik im Verfassungsrecht und somit aus der Gesetzgebung. Daher ist politischer Druck der systemimmanente und somit zulässige Anteil am Normsetzungsverfahren. Systembedingt ist ebenfalls der föderale Druck. Da im Bundesstaat föderale Interessen bestehen und dabei auch gegenläufig sein können, ist föderaler Verhandlungsdruck ebenfalls als zulässig hinzunehmen. Allerdings fragt sich – bezogen auf die inneren Konfliktlösungsmechanismen –, ab wann eine relevante Rechtsverletzung vorliegt. Dazu ist zu prüfen, inwieweit in föderalen Verhandlungen zulässiger politischer Druck auf die Gegenseite ausgeübt werden darf und ab wann dieser in unzulässige Pression umschlägt und Verfassungsrecht verletzt. Es kann zwischen allgemeinem „Verhandlungsdruck“, parteipolitischem und finanziellem Druck unterschieden werden: 351
Ähnlich wie hier vermittelnd Mengel, ZG 1990, S. 193 (195). Wie hier Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 171 (177); Noll, Gesetzgebungslehre, S. 14 f., 58 ff. 352
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Die innere Konfliktlösung wurde oben als vertragsähnliche Verhandlung beschrieben. Dabei bietet jede Seite der anderen etwas an. Es gehört zu den notwendigen und natürlichen Eigenarten von Verhandlungen und dem Herbeiführen einer Tauschgerechtigkeit, daß jede Seite der anderen etwas anbietet, Verhandlungsmasse zurückhält oder zu taktischen Zwecken in die Verhandlung einführt. Es herrscht der Grundsatz „do ut des“. Dies gilt für zivilrechtliche wie für föderale Verhandlungen. Bei privatrechtlichen Verhandlungen ist es etwa der Preis einer Leistung. Bei föderalen Verhandlungen sind dies Inhalte und Zustimmungsvorbehalte. Wie der Rückgriff auf die Verhandlungsforschung gezeigt hat, gehört es zu Verhandlungen, daß Forderungen erhoben, Drohungen vorgebracht und Versprechungen gemacht werden 353. Damit wird Druck aufgebaut, der aus der Natur von Verhandlungen resultiert und daher grundsätzlich zulässig ist, verfassungsrechtliche Grenzen aber nicht überschreiten darf. Dies ist im Einzelfall zu prüfen, z. B. beim Tausch von wechselseitigen Zustimmungen. Betroffen sind die Konfliktlösungsmechanismen „Gesetzgebungspakete“, „zufallsbedingte Gesetzgebungspakete“ und „Drohung, den Vermittlungsausschuß anzurufen“. Weiterhin ist politischer Druck, also die politische Einflußnahme über die Parteizugehörigkeit, eine weitere denkbare und ständige Verfassungspraxis bei föderalen Verhandlungen. Die Bundesregierung bewegt bei gleichgerichteten Mehrheitsverhältnissen die Ländervertreter, mit denen sie über die politische Partei verbunden ist, dazu, einem Gesetzesvorhaben zuzustimmen. Dazu wird entweder Druck ausgeübt, oder es werden im Rahmen der Konfliktlösung Kompromißpakete geschnürt. Dieses Vorgehen spiegelt die Parteipolitisierung des Bundesrates wider, die oben ausführlich erörtert wurde: Parteipolitische Betätigung im Bundesrat ist zulässig, weil sie notwendige Folge des demokratischen Bundesstaates ist, der als Parteiendemokratie in Bund und Ländern (Art. 38, 28 Abs. 2 GG) konstruiert ist. Es ist daher grundsätzlich zulässig, über die Parteipolitik Druck in föderalen Verhandlungen aufzubauen. Schließlich ist es möglich, finanziellen Druck auf die Länder auszuüben. Dies betrifft die Konfliktlösungsmechanismen „Seitenzahlung“ und „Kopplungsgeschäft“. Die Entscheidungsfreiheit der Ländervertreter kann bei dem Angebot von Finanzzuweisungen gegen Null schrumpfen. Denn angesichts der chronisch unterfinanzierten Haushalte von zumindest „ärmeren“ Ländern bleibt ihnen nichts anderes übrig, als aus Gründen der Landesraison die Zahlung gegen Stimmen im Bundesrat anzunehmen. Hier wird die Loyalitätsgrenze zwischen Parteibindung und Landesinteressen überschritten. Daher kann nicht pauschal die Rede davon sein, daß der Bundesrat von der Bundesregierung nicht so leicht unter Druck gesetzt werden könne 354. Dies gilt für die parteipolitische Variante 353 Vgl. Elster, Arguing and bargaining, S. 2; Saretzki, Wie unterscheiden sich Argumentieren und Verhandeln?, S. 19 (23, 27 f.). 354 So aber Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, S. 320.
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
der Druckausübung, weil dieser föderale Interessen entgegenstehen, nicht aber für die finanzielle Druckausübung, die aufgrund der Länderfinanzlage föderalen Interessen entgegenkommt. Die parteipolitische Variante rechtfertigt sich aus der Konstruktion des demokratischen Bundesstaates, als den das Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland errichtet hat. Dies gilt aber nicht für eine chronische Verschuldung und Unterfinanzierung, die über Generationen politisch zu verantworten, nicht aber wie die Parteien verfassungsrechtlich legitimiert sind. Zu prüfen ist im jeweiligen Falle daher, ob finanzieller Druck die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen überschreitet. Diese drei unterschiedlichen Möglichkeiten, Druck auf den Bundesrat auszuüben, zeigen, daß es bei der Rechtmäßigkeitsprüfung der inneren Konfliktlösungsmechanismen nicht nur auf die im Bundesrat abstimmenden Länder und deren möglicherweise bestehendes oder nicht bestehendes Alternativverhalten ankommt, sondern auch auf das Handeln der Bundesregierung. Auch sie ist Beteiligte an der Konfliktlösung. Für die drei Möglichkeiten der Druckausübung durch die Bundesregierung werden im folgenden Prüfungsmaßstäbe aufgezeigt, anhand derer einzelne Fälle föderaler Streitigkeiten auf ihre rechtmäßige innere Konfliktlösung untersucht werden können. Als Beispielsfall dient weiterhin die Entscheidung des Bundesrates vom 14. Juli 2000 zur Steuerreform, der die Länder Berlin und Mecklenburg-Vorpommern nach Zusage von Bundesergänzungszuweisungen zugestimmt haben.
3. Grenzen: Maßstäbe der Verfahrenskontrolle Im Gegensatz zu den oben erörterten äußeren rechtlichen Konfliktlösungsmechanismen bestehen für die äußere politische und die innere Konfliktlösung keine festen Verfahrensregeln. Da das Recht nun aber unter anderem Rahmen der Politik ist, gelten auch für diese rechtliche Maßstäbe. Sie sind nur nicht so deutlich abzulesen, wie im rechtlich ausdrücklich geregelten Gesetzgebungsverfahren. Sie sind mit Hilfe der Analogie und mit Ableitungen aus den Verfassungsgrundsätzen, ungeschriebenen Verfassungsinstituten und Grundsätzen des Verwaltungsrechts herauszuarbeiten, um damit ungeregelte Bereiche zu erfassen. Maßstäbe setzen das Rechtsstaatsprinzip, das Demokratieprinzip, das Bundesstaatsprinzip, die Finanzverfassung, die Verfassungsorgantreue und der Gewaltenteilungsgrundsatz sowie die aus dem Verwaltungsrecht entlehnte Ermessensfehlerlehre. Diese Prinzipien, Lehren und Grundsätze hat die Gesetzgebungslehre für die innere Gesetzgebung im Parlament zum Teil ausgewertet. Im folgenden sind sie auf die Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat zu übertragen, was nach dem oben Gesagten möglich ist und weshalb eine Darstellung der Analogiefähigkeit bei jedem einzelnen Verfassungsprinzip unterbleiben kann. Ein Verstoß gegen eines oder mehrere dieser Verfassungsprinzipien oder Rechtsinstitute wird im Bereich der Konfliktlösung im Bundesstaat nur schwer
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festzustellen sein. Die Konfliktlösung befindet sich im Graubereich zwischen Recht und Politik, wenn Gesetzgebungspakete geschnürt oder Seitenzahlungen um der Zustimmung im Bundesrat willen getätigt werden. Was ist schlechter Stil, was ein Rechtsbruch? Dies allgemein abzugrenzen, ist schwierig, die Grenzen sind fließend. Das Recht darf aber diesen Graubereich nicht gänzlich aus seiner Verantwortung entlassen, dem Bereich des Politischen zuordnen und schlimmstenfalls Verstöße gegen diese Prinzipien nur als Stilbruch werten. Es ist daher im Einzelfall zu entscheiden und zwischen der Berücksichtigung des Politischen, den Grundsätzen des informalen Verfassungsstaates und den verletzten Prinzipien abzuwägen. So wie sich die Sachverhalte in einem Graubereich befinden, müssen sie durch eine flexible Abwägungslehre erfaßt werden. Anhaltspunkte für die Prüfung der inneren Konfliktlösungsmechanismen sind etwa: − − − − − − − − − − − − − − − − − − −
Sachfremdheit der Materien in einem Gesetzgebungspaket, Kausalität / zeitliche Nähe Zahlungsangebot – Zustimmung, Willkür, Einigungszwang, Grad der Machtausübung und des Drucks durch einen Verhandlungspartner (z. B. durch Finanzen, Verweigerungshaltung), Durchsetzungswillen Einzelner / von Gruppen / Organen, Sachnähe / -ferne der Verhandelnden (z. B. Parteivorsitzender vs. Fachpolitiker), die Auffindbarkeit der geänderten Materie in Gesetzgebungspaketen, Brisanz / politische Bedeutung des Gesetzgebungsvorhabens für eine Seite, der Grad der Vorfestlegung durch informelle Gespräche, der Grad der Einwirkungsmöglichkeit nach Vorfestlegung, Entfernung des politischen Machtkampfes von der Materie, Grad der Unterlegenheit des Bundeslandes (z. B. Höhe der Verschuldung, Wirtschaftskraft), Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, „Verfahrenheit“ des politischen Machtkampfes, Selbstzweckhaftigkeit des Kompromisses, die Vermittlungsfähigkeit gegenüber dem Bürger, Grad der Irrationalität des Streits, im Gesetzgebungsverfahren frühe oder späte Politisierung.
Diese Aufzählung ist nicht vollständig und kann es auch nicht sein. Die Kriterien passen auch nicht zu jedem Konfliktlösungsmechanismus, nicht zu jedem Fall und nicht zu jedem Verfassungsprinzip. Sie sind je nach Fall und Beurteilungsmaßstab auszuwählen. Ferner bedarf es auch nicht jeden Kriteriums bei jeder Prüfung. Bei Seitenzahlungen und Kopplungsgeschäften besteht eine (widerlegliche) Vermutung der Sachfremdheit, da die Gewährung von Finanzmitteln im Sinne von Seitenzahlungen in der Regel nichts mit dem Inhalt des Gesetzes zu
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tun hat. Der Sachzusammenhang liegt umgekehrt dann vor, wenn Änderungen an Gründe für den Gesetzentwurf oder Ziele des Gesetzentwurfes unmittelbar anknüpfen 355. Anhand dieser Kriterien kann der Einzelfall auf eine Verletzung eines Verfassungsprinzips überprüft werden. a) Demokratieprinzip Das Demokratieprinzip, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 GG), ist ein der Auslegung und Fortbildung zugängliches Verfassungsprinzip. Seine Vielschichtigkeit ist oben bereits angesprochen worden. Auch an dieser Stelle der Untersuchung kann es nicht darum gegen, diesen Grundsatz in Gänze darzustellen; vielmehr sind ausschließlich die für die Gesetzgebung relevanten Ausprägungen und Fortschreibungen des Demokratieprinzips zu prüfen, die Rechtsprechung und Literatur entwickelt haben. Aus dem Demokratieprinzip im demokratischen Bundesstaat folgt nach dem oben Gesagten, daß ein präexistenter Wille nicht besteht, sondern der Wille und damit das Gemeinwohl nach Maßgabe der demokratischen Vorgabe des Volkes konkretisiert werden muß. Gesetzgebung ist daher Konkretisierung des Gemeinwohls. Da dieses nicht von vornherein feststeht, und auch in seinem Ergebnis nur beschränkt nachprüfbar ist, muß vor allem das Verfahren der Entscheidungsfindung unterliegen, und zwar nicht nur das äußere Verfahren der Entstehung eines Gesetzes, sondern auch die Art und Weise der Entscheidungsfindung selbst. Überträgt man diese aus der Gesetzgebungslehre stammenden Überlegungen 356 zum inneren Gesetzgebungsverfahren innerhalb des Parlaments auf die bundesstaatliche Konfliktlösung, so muß auch diese sich am Demokratieprinzip messen lassen. Auch hierfür kann auf die Aufbereitung des Demokratieprinzips durch die Gesetzgebungslehre zurückgegriffen werden, welche das Demokratieprinzip für die innere Konfliktlösung untersucht und nutzbar gemacht hat. (1) Entscheidungsfreiheit Zunächst leiten die Rechtsprechung 357 und die Literatur 358 die Entscheidungsfreiheit der Entscheidungsträger aus dem Demokratieprinzip ab. Der Gedanke 355 Kretschmer, Verfahrensweisen und Strukturprobleme der Gesetzesberatung im Bundestag, S. 167 (173); Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 359. 356 Hill, Jura 1986, S. 286 (292); weiterhin Schulze-Fielitz, NVwZ 1983, S. 709 (711), ders., Parlamentarische Gesetzgebung, S. 179 f.; Mengel, Regeln guter Gesetzgebung, S. 115 (116); Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 251; v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 48, die Gesetzgebung als Gemeinwohlverfahren verstehen. Auch das Bundesverfassungsgericht führt das Gemeinwohl an: BVerfGE 39, 210 (226); vgl. a. BVerfGE 36, 60.
7. Kap.: Theorie und Praxis der Konfliktlösung bei der Gesetzgebung
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der Entscheidungsfreiheit tritt auch in gesetzlichen Regelungen zutage: Dazu gehören das Bannmeilengesetz, die Garantie ausreichender materieller Versorgung, Offenlegungspflichten über Abhängigkeiten außerhalb des Parlaments 359. „Diese Hauptrolle im Gesetzgebungsverfahren verlangt, daß sich das Parlament unabhängig entscheidet. Wenn es ohne eigene Abwägung, Diskussion und Meinungsbildung Daten anderer Staatsgewalten übernimmt, hat es seine Rechtsetzungsaufgabe verfehlt“ 360. Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit läßt sich ferner der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnehmen. So urteilt das Gericht, es werde nicht hinnehmen, wenn vor den Gesetzesberatungen „vollendete Tatsachen in dem Sinne geschaffen werden, daß von einer freien und unabhängigen Entscheidung der Abgeordneten nicht mehr gesprochen werden könnte“ 361. In einer anderen Entscheidung heißt es, der Gesetzgeber dürfe „seine Rechtsetzungsmacht nicht zu sachfremden Zwecken mißbrauchen und nicht auf unsachliche, auf Druck von Interessenten zurückführende Einflüsse bestimmt werden“ 362. Andernorts wiederum stellt das Gericht Prüfungsmaßstäbe für die Prüfung von Gesetzen auf und will diese unter anderem an „sachgerechten und vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls“ 363 prüfen. Diese Entscheidungen lassen sich nicht eins zu eins übertragen, da sie auf die Präjudizierung von Abgeordneten und die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Gesetzesmaterie gerichtet sind. Ihnen läßt sich aber ein Rechtsgedanke entnehmen. Der Weg dazu ist die Abstraktion 364. Aus den Entscheidungen läßt sich folgern, daß das Gericht eine Entscheidungsfreiheit fordert, die über bloße Zustimmung hinausgeht und daher Handlungsalternativen zumindest denkbar sein müssen. Ausschlaggebend ist eine Präjudizierung der Entscheider. Es kommt auf die Einengung deren Entscheidungsspielraums an, ohne den von einer echten Entscheidung nicht mehr gesprochen werden kann. Die freie Entscheidung des Abgeordneten nach dem Willen des Volkes ist unter dem Eindruck finanzieller Zuwendung nicht mehr möglich. Durch die Aussicht auf Geld erleiden die Entscheider gleichsam eine „bewußtseintrübende 357 BVerfGE 29, 221 (234 f.); BVerwGE 45, 309 (317) rügt die Bindungen durch Vorentscheidungen. 358 Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 280; ders., Regeln guter Gesetzgebung, S. 115 (124); Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung, S. 173 (175); Pestalozza, NJW 1981, S. 2081 (2084 f.); Häberle, ZfP 1969, S. 273 ff.; Pasemann / Baufeld, ZRP 2002, S. 119 (121 f.), die den Grundsatz der Entscheidungsfreiheit aber aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. 359 Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, S. 280 f. 360 Pestalozza, NJW 1981, S. 2081 (2084 f.). 361 BVerfGE 29, 221 (234 f.). 362 BVerfGE 39, 210 (225 ff.), ebenso 30, 316. 363 BVerfGE 39, 210; 36, 60; 39, 230. 364 Kloepfer, DVBl. 1995, S. 441 (443).
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2. Teil: Konflikte und Streitbeilegung zwischen Recht und Politik
Störung“, die eine übliche Entscheidungsfindung unmöglich macht. Das demokratisch-repräsentative System erleidet einen Funktionsverlust. Die Verfassu