Komplikationen in der Geburtshilfe: Aus Fällen lernen [1 ed.] 978-3-662-53872-2, 978-3-662-53873-9

Dieses am Klinkalltag für den Klinikalltag ausgerichtete Buch richtet sich an alle Weiterbildungsassistenten im Fach Fra

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German Pages XV, 383 [389] Year 2018

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Komplikationen in der Geburtshilfe: Aus Fällen lernen [1 ed.]
 978-3-662-53872-2,  978-3-662-53873-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Fetales Wachstum (Alexander Strauss)....Pages 1-16
Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch (Axel Schäfer)....Pages 17-40
Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes (Werner Rath)....Pages 41-62
Akuter Herzstillstand unter der Geburt (Werner Rath)....Pages 63-76
Blutungen während der Spätschwangerschaft (Alexander Strauss)....Pages 77-90
Septischer Verlauf im Wochenbett (Dietmar Schlembach)....Pages 91-109
Vorzeitige Wehentätigkeit (Holger Maul)....Pages 111-128
Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio (Werner Rath)....Pages 129-143
Überwachung der Geburt (Alexander Strauss)....Pages 145-161
Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht (Alexander Strauss)....Pages 163-180
Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio (Werner Rath)....Pages 181-192
Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel (Alexander Strauss)....Pages 193-209
Krampfanfall in der Schwangerschaft (Werner Rath)....Pages 211-224
Akutes Abdomen in der Schwangerschaft (Alexander Hendricks, Jan-Hendrik Egberts)....Pages 225-236
Oberbauchschmerzen unter der Geburt (Werner Rath)....Pages 237-250
Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft (Christine Morfeld, Elvira Miller)....Pages 251-262
Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot (Philipp von Hundelshausen)....Pages 263-273
Der psychiatrische Notfall im Wochenbett (Almut Dorn, Anke Rohde)....Pages 275-287
Verkehrsunfall einer Schwangeren (Jan-Thorsten Gräsner, Alexander Strauss)....Pages 289-299
Sepsis in der Schwangerschaft (Holger Maul)....Pages 301-313
Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter? (Ioannis Mylonas)....Pages 315-329
Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand (Alexander Strauss)....Pages 331-344
Mehrlingsschwangerschaft und -geburt (Franz Bahlmann)....Pages 345-366
Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin (Henning Ohnesorge)....Pages 367-376
Back Matter ....Pages 377-383

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Komplikationen in der Geburtshilfe

Werner Rath Alexander Strauss Hrsg.

Komplikationen in der Geburtshilfe Aus Fällen lernen mit 60 teils farbigen Abbildungen unter Mitarbeit von Tanja Groten

Herausgeber Werner Rath Klinik für Gynäkologie u. Geburtsmedizin RWTH Aachen Aachen Deutschland

Alexander Strauss Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Kiel Deutschland

ISBN 978-3-662-53872-2    ISBN 978-3-662-53873-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlaggestaltung: deblik Berlin/ Fotonachweis Umschlag: © DVD, Sonja Werner/ Zeichner: CGK Grafik Christine Goerigk, Abb. 15.15, 8.3 a, b Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer-Verlag GmbH Deutschland Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Vorwort Komplikationen in der Geburtshilfe – Aus Fällen lernen Jeder in der Geburtshilfe Tätige wird immer wieder unerwartet mit schweren Komplikationen konfrontiert, die ärztlicherseits oft jahrelang im Gedächtnis lebendig bleiben und den Berufsweg begleiten. Unsere jahrzehntelangen Erfahrungen haben gezeigt, dass man praxisbezogen am besten »aus Fällen lernen« kann – einerseits um in schwierigen Situationen rasch und zielgerecht zu handeln, andererseits um Fallstricke rechtzeitig zu erkennen, Fehler zu vermeiden und Lösungsstrategien unmittelbar abrufen zu können. Die kritische Analyse von Fällen wird somit für alle, die sich in der Ausbildung befinden, eine einprägsame Vorbereitung für die Beherrschung von mitunter auch nichtalltäglichen Notfallsituationen. Im Gegensatz zu den meisten Büchern zum Thema mit schematischer Darstellung des Wissens, wird der Leser/die Leserin in Form von spannenden, als Kurzgeschichten dargestellten Kasuistiken direkt in den Kreißsaal geführt, zu der betroffenen Schwangeren mitgenommen und vor die Frage gestellt: »Was würden Sie in dieser klinischen Akutsituation tun?« Als Anregung für dieses Format diente das im Springer-Verlag erschienene Werk Komplikationen in der Anästhesie, herausgegeben von M. Hübler und T. Koch. Anders als in gängigen Falldarstellungen werden die geburtshilflichen Komplikationen aus der Sicht der Betroffenen (Patientin, Arzt, Hebamme) geschildert und inhaltlich kontinuierlich weiterentwickelt. Dabei wird der Leser/die Leserin im Sinne eines interaktiven Dialogs im Verlauf des Kapitels durch gezielte Fragestellungen in die Problemlösung und Entscheidungsfindung mit einbezogen. Der kritischen Analyse der Situation unter Berücksichtigung von entitätsbezogenen Risikofaktoren, der Interpretation und Gewichtung klinischer und laborchemischer Befunde, der Abgrenzung zu wichtigen Differenzialdiagnosen und der Einbindung in praktische, evidenzbasierte Empfehlungen zum diagnostischen und therapeutischen Vorgehen aus aktuellen Leitlinien kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Am Ende jeder Kasuistik liefert eine kritische Nachbetrachtung zu organisatorischen, ärztlichen oder Kommunikationsfehlern praxisnahe Hinweise zu deren Vermeidung. Die gestalterische Form ihrer Kapitel wurde den Autoren überlassen, um eine individuelle »Lebendigkeit« und Vielfalt der Beiträge zu ermöglichen und den Leserinnen und Lesern auf langjährigen eigenen klinischen Erfahrungen beruhende Tipps und Tricks an die Hand zu geben. Sämtliche Kapitel wurden bezüglich ihrer Praxisnähe von Frau Priv.-Doz. Dr. med T. Groten, geschäftsführende Oberärztin der Klinik für Geburtsmedizin Universitätsklinikum Jena, im kritischen, konstruktiven Dialog mit den Autoren bearbeitet. Das vorliegende Buch wendet sich an Ärztinnen und Ärzte sowohl in der Fachweiterbildung als auch in der Weiterbildung im Schwerpunkt »Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin«, an Hebammen und an Lernende. Es soll ihnen Ratgeber und Hilfe für ihre tägliche Arbeit sein, um geburtshilfliche Komplikationen rasch und sicher zu erkennen und zu behandeln.

VI Vorwort

Wir danken dem Springer-Verlag, insbesondere Frau Dr. Sabine Höschele und Frau Ina Conrad, für ihre unermüdliche Unterstützung bei der Erstellung dieses Buches. Frau Karin Dembowsky danken wir für die exzellente Bearbeitung der Manuskripte. Werner Rath, Alexander Strauss,

Aachen und Kiel, im Herbst 2017

VII

Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2

2 2.1 2.2

3 3.1 3.2

4 4.1 4.2

Fetales Wachstum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    1 Alexander Strauss Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    2 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15

Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17 Axel Schäfer Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 Werner Rath Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 Akuter Herzstillstand unter der Geburt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 Werner Rath Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  64 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  74 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  76

5.1 5.2

Blutungen während der Spätschwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  77 Alexander Strauss Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  78 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  87 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  90

6

Septischer Verlauf im Wochenbett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  91

6.1 6.2

Dietmar Schlembach Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  93 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  108 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109

5

7 7.1 7.2

Vorzeitige Wehentätigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 Holger Maul Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  112 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127

VIII Inhaltsverzeichnis

8 8.1 8.2

9 9.1 9.2

10 10.1 10.2

11 11.1 11.2

12 12.1 12.2

13 13.1 13.2

14 14.1 14.2

15 15.1 15.2

Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio. . . . . . . . . . . . . .  129 Werner Rath Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  130 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  140 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  142 Überwachung der Geburt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  145 Alexander Strauss Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  146 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161

Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  163 Alexander Strauss Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  165 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  178 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  180 Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio. . . . . . . . . . . . . . . .  181 Werner Rath Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  182 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  190 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  192 Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193 Alexander Strauss Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  207 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  208 Krampfanfall in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  211 Werner Rath Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  212 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  222 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  223 Akutes Abdomen in der Schwangerschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  225 Alexander Hendricks, Jan-Hendrik Egberts Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  227 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 Oberbauchschmerzen unter der Geburt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  237 Werner Rath Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  238 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  248 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  249

IX Inhaltsverzeichnis

16 16.1 16.2

17 17.1 17.2

18 18.1 18.2

19 19.1 19.2

20 20.1 20.2

21 21.1 21.2

22 22.1 22.2

23 23.1 23.2

Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  251 Christine Morfeld, Elvira Miller Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  252 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  261 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  261 Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 Philipp von Hundelshausen Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  264 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  272 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  272

Der psychiatrische Notfall im Wochenbett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  275 Almut Dorn, Anke Rohde Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  276 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  286 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  287 Verkehrsunfall einer Schwangeren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  289 Jan-Thorsten Gräsner, Alexander Strauss Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  290 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  297 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  298 Sepsis in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  301 Holger Maul Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  302 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  312 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  313 Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  315 Ioannis Mylonas Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  316 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  328 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  329 Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  331 Alexander Strauss Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  332 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  343 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  344 Mehrlingsschwangerschaft und -geburt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  345 Franz Bahlmann Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  346 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  364 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  365

X Inhaltsverzeichnis

24

24.1 24.2



Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  367 Henning Ohnesorge Falldarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  368 Fallnachbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  376 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  376

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  377 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  378

XI

Die Herausgeber Univ. Prof. Dr. med. Dr. hc Werner Rath  war von 1994–2008 Direktor der Universitätsfrauenklinik Aachen und anschließend in Forschung, Lehre und Weiterbildung in Aachen und seit 2016 am Universitätsklinikum Kiel tätig. Die Umsetzung klinischer Forschung in die Praxis auf dem Gebiet der Physiologie und Pathophysiologie der Schwangerschaft sowie mütterlicher Erkrankungen und geburtshilflicher Notfälle war und ist für ihn bis heute steter Anspruch und Herausforderung. Seine jahrzehntelangen klinischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Kenntnisse an die Leser weiterzugeben, ist seine Motivation für das vorliegende Buch. Univ.-Prof. Dr. med. Alexander Strauss, 

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Mit Neugierde begleitet er seit Jahrzehnten die Entwicklung von Geburtshilfe und Pränatalmedizin. Langjährige Erfahrung, verbunden mit dem Anspruch einer konsequenten praktischen Umsetzung etablierter wie auch neuer Erkenntnisse, hat in seiner klinischen Tätigkeit, aber auch im stets intensiven wissenschaftlichen Gedankenaustausch profunden Niederschlag gefunden.

Unter Mitarbeit von PD Dr. med. habil. Tanja Groten 

studierte in Aachen Medizin, wo sie im September 1997 zur Doktorin der Medizin promovierte. Ihre wissenschaftliche und klinische Karriere führte sie über Ulm und Chicago nach Jena, wo sie sich 2014 zur Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Präeklampsie habiliterte. Für die Habilitation erhielt sie 2015 den Credé-Preis der Gesellschaft für Perinatale Medizin für wissenschaftliche Leistungen im Bereich der Perinatalmedizin. Ihr Herz gehört auch der praktischen Geburtsmedizin, und sie ist stolz, den Autoren dieses Buches beratend zu Seite gestanden haben zu dürfen.

Abkürzungen AEDF AFI AIDS ANS ARDS ART ATD ATS AU AVPU BE BEL BGA BIP BMI BNP BS BV BZ CIN CMV C-PAP CRP CTAS CTG DCC DCM DD DIC DM EDA EDD EEG EF EFV EK EKG ELISA EPDS ESI ET EUG FBA FGFR FHF FIGO FRC FRO FSH FWE GBS

absent end diastolic flow Amniotic-Fluid-Index Acquired Immune Deficiency Syndrome antenatale Steroidprophylaxe acute respiratory distress syndrome antiretrovirale Therapie abdominaler transversaler Durchmesser Australasian Triage Scale Abdomenumfang alert-voice-pain-unresponsive Base-Excess Beckenendlage Blutgasanalyse biparietaler Durchmesser Body-Mass-Index B-natriuretisches Peptid Bishop-Score Blutverlust Blutzucker zervikale intraepitheliale Neoplasie Zytomegalievirus continuous positive airway pressure C-reaktives Protein Canadian Triage and Acuity Scale Kardiotokographie delayed cord clamping dilatative Kardiomyopathie Differenzialdiagnose disseminierte intravasale Gerinnung Diabetes mellitus Epiduralanästhesie enddiastolischer Durchmesser Elektroenzephalogramm Ejektionsfraktion Efavirenz Erythrozytenkonzentrat Elektrokardiogramm enzyme-linked immunosorbent assay Edinburgh Postnatal Depression Scale Emergency Severity Index Entbindungstermin Extrauteringravidität Fetalblutanalyse Fibroblastenwachstumsfaktor-­ Rezeptor fetale Herzfrequenz Fédération de Gynécologie et Obstétrique funktionelle Residualkapazität frontookzipitaler Durchmesser follikelstimulierendes Hormon Fruchtwasserembolie Gruppe-B-Streptokokken

GCS GDM GFP Hb HbF HBV hCG HCV HIV Hk HPV HSV IAI ICC ICD

Glasgow Coma Scale Gestationsdiabetes mellitus gefrorenes Frischplasma Hämoglobin fetales Hämoglobin Hepatitis-B-Virus humanes Choriongonadotropin Hepatitis-C-Virus humanes Immundefizienz-Virus Hämatokrit humanes Papillomvirus Herpes-simplex-Virus intraamniale Infektion immediate cord clamping implantierbarer Cardioverter-­ Defibrillator ICSI intrazytoplasmatische ­Spermieninjektion IMC Intermediate Care INI Integraseinhibitor ITN Intubationsnarkose IUFT intrauteriner Fruchttod IUGR intrauterine growth restriction IUGR intrauterine Wachstumsrestriktion IUP Intrauterinpessar IVA Immunfluoreszenz-Assay IVF In-vitro-Fertilisation IVH intraventrikuläre Hämorrhagie KI Konfidenzintervall KOF Körperoberfläche KS Klopfschall KU Kopfumfang LE Lungenembolie LMP letzte Menstruationsperiode LV linksventrikulär LWS Lendenwirbelsäule MAC minimale alveoläre Konzentration MBU Mikroblutuntersuchung MCH mittlerer korpuskulärer ­Hämoglobingehalt MCV mittleres korpuskuläres Volumen MEOWS Modified Early Obstetric Warning Score MI Mitralklappeninsuffizienz MTS Manchester-Triage-System MTX Methotrexat NEC nekrotisierende Enterokolitis NIPD nichtinvasive Pränataldiagnostik NNRTI nichtnukleosidischer Reverse-­ Transkriptase-Inhibitor NRTI nukleosidischer Reverse-­TranskriptaseInhibitor Nt-pro-BNP N-terminales pro B-natriuretisches Peptid OR Odds Ratio

XIII Abkürzungen

p. m. PCR PDA PGE2 PI PPCM PPD PPH PPH PPROM PPSB PsychKG PTBS PTT PVL QF RDS RG RI ROTEM RR RSV RV SD SGA SIH SIRS SOP SOS SPA SpM SSL SSW STD TAPS 3TC TDF TEE THQ TRAP TSH TVT UKOSS VEGF ZDV ZNS ZVK

Punctum maximum Polymerasekettenreaktion Periduralanästhesie Prostaglandin E2 Pulsatility-Index peripartale Kardiomyopathie postpartale Depressivität peripartale Hämorrhagie postpartale Blutung vorzeitiger Blasensprung (preterm premature rupture of membranes) Prothrombinkomplex-Konzentrat Psychisch-Kranken-Gesetz posttraumatische Belastungsstörung partielle Thromboplastinzeit periventrikuläre Leukomalazie Querfinger Atemnotsyndrom (respiratory distress syndrome) Rasselgeräusche Resistance-Index Rotationsthrombelastometrie Blutdruck respiratory syncytial virus (Pneumovirus) rechtsventrikulär Standardabweichung small for gestational age schwangerschaftsinduzierte ­Hypertonie systemic inflammatory response syndrome standard operating procedures Sepsis in Obstetrics Score Spinalanästhesie Schläge pro Minute Scheitel-Steiß-Länge Schwangerschaftswoche sexuell übertragbare Erkrankungen twin anemia polycythemia sequence Lamivudin Tenofovir transösophageale Echokardiographie Thoraxdurchmesser twin reversed arterial perfusion Thyreoidea-stimulierendes Hormon tiefe Beinvenenthrombose UK Obstetric Surveillance System vascular endothelial growth factor Zidovudin zentrales Nervensystem zentraler Venenkatheter

Autorenverzeichnis Bahlmann, Franz, Prof. Dr. med.

Hundelshausen von, Philipp, Dr. med.

Frauenklinik, Bürgerhospital Nibelungenallee37–41 60318 Frankfurt/M [email protected]

Institut für Prophylaxe u. Epidemiologie d. Kreislaufkrankheiten Klinikum d. Universität München, LMU München Pettenkoferstraße 8a & 9 80336 München [email protected]

Dorn, Almut, Dr. phil. Besslerstraße 8 22607 Hamburg [email protected]

Egberts, Jan-Hendrik, Prof. Dr. med. Klinik für Allgemeine, Viszeral-, Thorax-, Transplantations- u. Kinderchirurgie, UKSH Campus Kiel, Haus 808 Arnold-Heller-Straße 3 24105 Kiel [email protected]

Gräsner, Jan-Thorsten, Priv.-Doz. Dr. med. Institut für Rettungs- und Notfallmedizin, UKSH Campus Kiel, Haus 18 Arnold-Heller-Straße 3 24105 Kiel [email protected]

Tanja, Groten, Priv.-Doz. Dr. med. Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin Universitätsfrauenklinik Jena Bachstraße18 07740 Jena [email protected]

Maul, Holger, Priv.-Doz. Dr. med. Chefarzt Frauenklinik Geburtshilfe und Perinatalmedizin Asklepios Klinik Barmbeck/Asklepios Klinik NordHeidelberg Rübenkamp 220 22307 Hamburg [email protected]

Miller, Elvira, Dr. med. Diakovere Henriettenstift Schwemannstraße 17 30559 Hannover [email protected]

Morfeld, Christine, Dr. med. Diakovere Henriettenstift Schwemannstraße 17 30559 Hannover [email protected]

Mylonas, Ioannis, Prof. Dr. med. Dr. h.c. Pindou 34 15432 Athen, Griechenland [email protected]

Hendricks, Alexander Klinik für Allgemeine Chirurgie, Viszeral-, Thorax-, Transplantations- und Kinderchirurgie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Arnold-Heller-Straße 3 24105 Kiel [email protected]

Ohnesorge, Henning, Dr. med. Klinik f. Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin, UKSH Campus Kiel, Haus 808 Arnold-Heller-Straße 3 24105 Kiel [email protected]

XV Autorenverzeichnis

Rath, Werner, Univ.-Prof. Dr. med. Dr. hc. Medizinische Fakultät, Gynäkologie und Geburtshilfe Universitätsklinik Schleswig-Holstein, Campus Kiel Arnold-Heller-Straße 3 24105 Kiel [email protected]

Rohde, Anke, Prof. Dr. med. Abteilung für Gynäkologische Psychosomatik Universitätsfrauenklinik Bonn Sigmund-Freud-Straße 25 53105 Bonn [email protected]

Schäfer, Axel, Prof. Dr. med. Frauenklinik, Charité Virchow Augustenburger Platz 1 13353 Berlin [email protected]

Schlembach, Dietmar, Priv.-Doz. Dr. med. Chefarzt Klinik für Geburtsmedizin Vivantes Klinikum Neukölln Rudower Straße 48 12351 Berlin [email protected]

Strauss, Alexander, Univ.-Prof. Dr. med. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Düsternbrooker Weg 45 24105 Kiel [email protected]

1

Fetales Wachstum Alexander Strauss

1.1

Falldarstellung – 2

1.1.1

Wie fassen Sie eine vorläufige geburtshilflich relevante Kurzanamnese der Patientin zusammen? – 2 Welche Untersuchungsinhalte sind im Rahmen dieses ersten Termins vorzusehen? – 2 Sprach- und/oder Verständnisbarriere: Wie ist damit umzugehen? – 3 Wie valide ist diese Terminfestlegung im Vergleich zu alternativen Methoden der Schwangerschaftsdatierung? – 4 Wie bewerten und kategorisieren Sie den Wachstumsverlauf des Feten? – 5 Welche Ursachen kommen als Auslöser für eine IUGR infrage? – 7 Welche geburtshilflichen Interventionsstrategien stehen Prof. Eidgenosse nun zur Verfügung? – 8 Mit welcher pränataldiagnostischen Untersuchungsmethodik und in welchen Kontrollintervallen ist bei den unterschiedlichen Graden von Plazentainsuffizienz vorzugehen? – 9 Um welche Untersuchungsmodalität handelt es sich? Welcher Befund ist in . Abb. 1.3 dargestellt? – 12 Welches geburtshilfliche Vorgehen wird Prof. Albert Eidgenosse aus diesen Befunden ableiten? – 12

1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.1.7 1.1.8

1.1.9 1.1.10

1.2

Fallnachbetrachtung – 13

1.2.1 1.2.2

Besteht ein Zusammenhang zwischen den Nabelschnurumschlingungen und den geburtshilflichen Befunden? – 13 Zusammenfassung – intrauterine Wachstumsrestriktion – 14



Weiterführende Literatur – 15

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_1

1

2

42 1

Kapitel 1 · Fetales Wachstum

1.1 Falldarstellung

Die Vorgeschichte … Im Oktober 2015 war es Junis Laji nach einer nach einer schier endlosen Flucht gelungen, über die Türkei nach Griechenland und in der Folge den Balkan bis nach Deutschland zu gelangen. 2 Monate war es nun schon her, dass die Großfamilie in Aleppo entschieden hatte, den jungen Mann – bevor es zur vollständigen Zerstörung ihrer Heimat käme – auf die gefährliche Fluchtroute nach Europa zu schicken. Da die zu erwartenden Schleuserkosten nur für eine Person aufgebracht werden konnten, wurde ein Plan gefasst: Junis, das jüngste erwachsene männliche Familienmitglied, sollte zunächst versuchen, alleine in Deutschland Fuß zu fassen, um dann den Rest der Familie nachzuholen. Es war für Junis die schwerste Entscheidung seines Lebens, Eltern und Verwandte, v. a. aber Mina, seine 19-jährige Frau, mit ihren beiden 18 und 5 Monate alten Töchtern in dem verheerenden Kriegsgeschehen in Syriens Norden zurückzulassen. Die Einsamkeit der Flüchtlingsunterkunft, immer wieder enttäuschte Hoffnungen und Heimweh bestimmten zunächst sein Leben in einem Deutschland, in welches er mit so großer Zuversicht aufgebrochen war. Nach 5 Monaten – endlich! – war es dann tatsächlich so weit: Mina und die Kinder konnten nachreisen. Die Familienzusammenführung in der südhessischen Flüchtlingseinheit, in welcher die kleine Familie untergebracht wurde, verlief höchst emotional und tränenreich. Das Leben der Familie war durch den Krieg völlig auf den Kopf gestellt worden – fremdes Land, fremde Kultur, fremde Sprache, unklare Aussichten … –, sodass die Zeichen, dass ein drittes Kind unterwegs war, von Mina Laji erst nach mehreren Wochen in Form von Kindsbewegungen wahrgenommen wurden.

1.1.1

Wie fassen Sie eine vorläufige geburtshilflich relevante Kurzanamnese der Patientin zusammen?

44Familienanamnese: unbekannt 44Eigenanamnese: unbekannt

44Geburtshilfliche Anamnese: Z. n. zwei unkomplizierten Geburten in Syrien vor 2 Jahren bzw. knapp einem Jahr 44Aktuelle Schwangerschaft: Verzögerte klinische Selbst-Feststellung der jetzigen Schwangerschaft im 2. Schwangerschafts-Trimenon durch Kindsbewegungen 44Zyklusanamnese: unbekannt 44Gestationsalter/errechneter Entbindungstermin (ET): unklar 44Schwangerschaftsvorsorge: bisher keine … schwanger … Trotz aller Aufregung in ihrer Familie über ein drittes Kind gerade in der aktuellen Situation war Mina auf dem Boden ihrer Erfahrungen, wie Schwangerschaften und Geburten in ihrem Land verlaufen und beobachtet werden, ganz gleichmütig. Da sich die Neuigkeit in der Erstaufnahmeeinrichtung allerdings langsam herumsprach, wurde Junis nach 2 Wochen zur Leitung der Flüchtlingsunterkunft bestellt und nach der Schwangerschaft seiner Frau befragt: Mina müsse doch zum Frauenarzt, Untersuchungen seien überfällig. Die aktuelle Schwangerschaft sei so wie bei seinen beiden Töchtern. Alles sei gut, und er und die Familie würden sich von den Deutschen nicht verrückt machen lassen, war die verständnislose Antwort von Junis Laji. Nach mehreren Tagen und wiederholtem Drängen diverser Betreuer war Mina schließlich doch bereit, sich untersuchen zu lassen, allerdings unter einer Bedingung: Durchführung aller Maßnahmen nur durch eine Ärztin.

1.1.2

Welche Untersuchungsinhalte sind im Rahmen dieses ersten Termins vorzusehen?

44Erstuntersuchungen im Rahmen der Schwangerschaftsfeststellung: RR, Puls, Körperhöhe und -gewicht, Temperatur, Laborbestimmungen (Hb, Urin), Blutgruppenanalyse inkl. Antiköperbestimmung, serologische Untersuchungen (Röteln, Lues), Zytologie, HIV(-Beratung), Chlamydien 44Terminfestlegung (LMP – letzte Menstruationsperiode, ggf. Sonographie) 44Anlage eines Mutterpasses

1

3 1.1 · Falldarstellung

44Äußere körperliche Untersuchung: 44Leopold-Handgriffe 44Inspektion der Michaelis-Raute (des knöchernen Beckens) 44Inspektion von Varizen, Ödemen, Striae, Exanthemen, Mammae 44Auskultation von Herz/Lunge 44Vaginale Tastuntersuchung der Cervix uteri und des kleinen Beckens (+ vaginale pH-Wert-Bestimmung) 44Ultraschalluntersuchung: 44Vitalität und Anzahl der Embryonen/ Feten (bei Mehrlingen Festlegung von Eihautverhältnissen) 44Plazenta (Sitz, Auffälligkeiten) 44Fruchtwassermenge 44Fetale/embryonale Biometrie 44Auffälligkeiten … 5 Tage später … Bevor die Hebammenschülerin Teresa das Ehepaar auch nur in den Untersuchungsraum des Kreiskrankenhauses begleiten kann, wird sie von Junis Laji mit einem Wortschwall überschüttet. »Meine Frau immer gesund. Ganze Familie nie krank. Auch bei letzte Schwangerschaft alles immer Ordnung! Baby ist Sache von Frauen. Und jetzt … ich nicht verstehe. Warum wir müssen jetzt alle Probleme? Wir nicht schon genug traurig?« Durch die zunehmende Lautstärke aufmerksam geworden, streckt Justine Siegemund, die zuständige Hebamme, den Kopf mit der unausgesprochen Frage, ob Hilfe erforderlich sei,

durch die Tür. »Die Frau versteht nur Arabisch und mich gar nicht. Ich weiß gar nicht, wie ich mit der Patientin umgehen soll!«, lautet die ratlose Rückmeldung der Schülerin. In Anbetracht der Aufregung von Junis verspricht Hebamme Justine, die Ärztin zu rufen, damit sie sich der Fragen der Patientin und ihres Ehemanns annehme.

1.1.3

Sprach- und/oder Verständnisbarriere: Wie ist damit umzugehen?

Die Basis einer rechtsgültigen Aufklärung ist im Gelingen einer bidirektionalen Arzt-PatientinnenKommunikation begründet. Neben kognitiven und intellektuellen Elementen ist zur erfolgreichen Aufklärung auch auf ein voluntatives Moment wie auch adäquate Sprachfähigkeiten der Patientin zurückzugreifen (. Abb. 1.1). Zur Rechtswirksamkeit der Betreuung/Aufklärung ist eine ungestörte Kommunikation zwischen Arzt und Patientin sicherzustellen. Adäquates Sprachverständnis der Patientin ist hierbei von zentraler Bedeutung. Die sprachliche Laienverständlichkeit von Kommunikation ist bei fremdsprachigen Patientinnen, falls erforderlich, durch entsprechende Übersetzung herbeizuführen. Als Dolmetscher können folgende Personengruppen fungieren: Angehörige Mitunter problematisch, da häufig jugendliches Alter (Kinder) und bei ggf. späteren

Einwilligungsfähigkeit

. Abb. 1.1  Prinzipien der Aufklärung fremdsprachiger Patientinnen

Kognitives Moment

Intellektuelles Moment

Voluntatives Moment

Laienverständlichkeit Rechtswirksamkeit eines auf Deutsch geführten Aufklärungsgesprächs = ausreichende Sprachkenntnisse (§ 8 MBO-Ä) (Aufklärungsbögen in Fremdsprachen = Unterstützung, keinesfalls Ersatz) Beurteilung/Sicherstellung des Sprachverständnisses= Verantwortung des Aufklärers

4

42 1

Kapitel 1 · Fetales Wachstum

juristischen Auseinandersetzungen in der Ex-postSicht potenziell nicht unvoreingenommen. Putzhilfe o. ä.  Ausreichend, wenn die medizinische Situation vom Laienstandpunkt aus sprachlich adäquat dargestellt werden kann. Pflegepersonal  Geeignet, sollte dabei in der Lage

sein, medizinische Zusammenhänge zu erfassen und entsprechend darstellen zu können.

Untersuchungsgang beginnen. Dabei ergibt sich aufgrund der fehlenden Erinnerung des Datums einer letzten Menstruationsblutung wie auch der erst späten Entdeckung der Schwangerschaft die Erfordernis der Bestimmung des Gestationsalters (21. SSW) anhand der aktuellen Zweittrimester-Ultraschallbiometriebefunde – Kleinhirnhemisphärenbreite 50. Perzentile (Perz.), BIP 50. Perz., FRO 25. Perz., KU 40. Perz., AU 35. Perz., Femur 50. Perz., jeweils bezogen auf die 21. SSW (Querlage, Fruchtwassermenge normal, Fundus-Plazenta).

Offizieller Dolmetscher  Geeignet, aber nicht gefor-

dert; es genügt eine sprachkundige Person, die in

der Lage ist, der Patientin die notwendigen Informationen in ihrer Sprache – Laienverständlichkeit – zukommen zu lassen. Unter Umständen können sich, auch und gerade bei »offiziell bestellter Übersetzung« fehlende medizinische Kenntnisse (Fachausdrücke) nachteilig auswirken. Kommunikation mit nichtdeutschsprechenden Patienten 55Kommunikation – richtet sich in ihrem Verständlichkeitsniveau an die Patientin 55Die Verantwortung für die Beurteilung der Erfordernis und die Organisation von adäquater Übersetzung liegt bei den Therapeuten (cave: Unwirksamkeit des Behandlungsvertragsverhältnisses) 55Anfallende Kosten (Dolmetscher) gehen zu Lasten der Seite der Patientin (werden vom Versicherer/Sozialamt getragen) 55Dokumentation – richtet sich an den Fachkollegen und muss dem Laien (fremdsprachige Patientin) nicht auf Anhieb verständlich sein (Fachjargon, Abkürzungen, Kurzschrift wie auch Landessprache sind, wenn eindeutig, zulässig)

… die Ärztin … Schon bald ist die an diesem Tag für die Schwangerenambulanz eingeteilte Assistenzärztin Nora Grünhorn vor Ort und kann in ihrer freundlichen Art die Emotionen besänftigen und nach Erklärungen »mit Händen und Füßen« den vorgesehenen

1.1.4

Wie valide ist diese Terminfestlegung im Vergleich zu alternativen Methoden der Schwangerschaftsdatierung?

Die reguläre Dauer der (Einlings-)Schwangerschaft post menstruationem (p. m.) beträgt im Mittel 280 Tage/40 Wochen/10 Lunarmonate (= 28 Tage). Post conceptionem (p. c.) sind dies dagegen 266 Tage/38 Wochen/9,5 Lunarmonate. 3,9% aller Geburten sind tatsächlich am ET zu erwarten. 26,4% der Entbindungen erfolgen dagegen innerhalb eines Intervalls von einer Woche, 66,6% innerhalb von 3 Wochen und 88% während 4 Wochen um den ET. Eine Terminfestlegung/Festlegung der aktuellen Tragzeit kann anamnestisch unter Berücksichtigung geburtshilflicher Einflussfaktoren erfolgen (Beginn der letzten Menstruation, Zyklusanamnese, ggf. Konzeptionstermin). Mögliche Störgrößen sind hierbei u. a. selektiven Erinnerungs- und Aufmerksamkeitsprozessen der Mutter geschuldet (. Tab. 1.1). Die Berechnung des Gestationsalters kann erfolgen mithilfe von: . Tab. 1.1  Subjektive Bevorzugung bestimmter Daten eines Monats durch die zur Retrospektive aufgeforderte Patientin (digit preference) 15. des Monats

Faktor 2,2

1. des Monats

Faktor 1,6

5. des Monats

Faktor 1,5

20. des Monats

Faktor 1,5

29. des Monats

Faktor 0,5

5 1.1 · Falldarstellung

44Naegele-Regel (erweitert): ET = 1. Tag der letzten Menstruation – 3 Monate + 7 Tage + 1 Jahr ± x (x = Abweichung vom 28-tägigen Menstruationszyklus), 44Gravidarium oder elektronischem Rechenalgorithmus (EDV, App), 44Transvaginalsonographie (Scheitel-SteißLänge [SSL]): höchste Genauigkeit (Konfidenzintervall [KI] 3–5 Tage) bei SSL < 35 mm/ Gestationsalter 10 +3 SSW). Somit ist eine sonographisch determinierte Terminkorrektur erst > 5 Tage zulässig. Im 1. Schwangerschafts-Trimenon besteht eine nahezu lineare Beziehung zwischen Gestationsalter und Körperlänge (SSL). Diese Korrelation verliert mit zunehmendem Schwangerschaftsalter sukzessive an Treffsicherheit (z. B. 20 + 0 SSW: KI 21 Tage). Dabei ist den transabdominalsonographisch erhobenen knöchernen Maßen (KU, BIP, FRO, Femur) verglichen mit den abdominalen Messwerten (AU, THQ) eine geringere individuelle Schwankungsbreite zu eigen. Bis zur 25. SSW kommt daher der Kleinhirnhemisphärenbreite die führende Bedeutung zur Datierung des Schwangerschaftsalters zu.

»

»In Nichts ist der Ruf eines Frauenarztes so gefährdet, als in der korrekten Bestimmung des Geburtstermins.« (Gerard van Swieten, 1700–1772 – Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia von Österreich)

… ambulante Betreuung … Nach Rücksprache bzgl. der Befunde mit ihrer Oberärztin Frau Dr. Tausendsassa wird Frau Laji durch Frau Grünhorn und die Hebamme Siegemund ganz allgemein zur Lebensführung während der Schwangerschaft und im Speziellen zu den deutschen Mutterschaftsrichtlinien beraten und zu einer weiteren Kontrolle in 8–10 Wochen eingeladen. Eine im Kreißsaal tätige Putzhilfe fungiert dabei als Übersetzerin. 9 Wochen später wird, auf Betreiben der ehrenamtlichen Betreuerin der Asylbewerbereinrichtung, Mina Laji neuerlich in der Ambulanz des Kreiskrankenhauses zur Kontrolle vorstellig. Da sie dieses Mal nicht von ihrem Ehemann begleitet wird, versteht sie vom Untersuchungsablauf und deren Ergebnissen so gut wie gar nichts. Lediglich die besorgten

1

Gesichtsausdrücke von Frau Grünhorn und Dr. Tausendsassa verursachten bei ihr ein unspezifisches Gefühl der Unruhe. Wieder zurück in der Asylbewerberunterkunft, kann Mina Laji ihrem Ehemann auf seine Fragen zur Untersuchung keine substanziellen Antworten geben. Dies nährt die Unruhe in Familie Laji noch zusätzlich. Nach mehreren Tagen gelingt es Junis schließlich, mit der Betreuerin zu sprechen. Dabei erfährt er, dass eine weitere Ultraschalluntersuchung in 8 Tagen stattfinden soll. Die Zeit bis zu diesem Termin zieht sich wie Kaugummi. Dieses Mal will Junis dabei sein, um aus erster Hand Informationen zu erhalten, warum sein Kind so häufig untersucht wird. In Syrien waren überhaupt keine Sonographien vorgenommen worden, und alles war »wie am Schnürchen« gelaufen. Es ist endlich soweit: los zur Klinik und hinein in den Kreißsaal. Dr. Milli Tausendsassa öffnet die Tür zum Ultraschallraum und sieht sich dem Ehepaar Laji gegenüber. Mina und Junis sind skeptisch. Gefühlt sind die Kontrolltermine so häufig geworden, dass die beiden den Eindruck haben, sie seien bald häufiger beim Arzt als zu Hause. Herr Laji ist nur schwer zu beruhigen, damit er mit seinen ungerichteten Fragen nicht den gesamten Untersuchungsablauf auf den Kopf stellt.

Die erhobenen Ultraschallbefunde gibt . Tab. 1.2 wieder. 1.1.5

Wie bewerten und kategorisieren Sie den Wachstumsverlauf des Feten?

z SGA oder IUGR?

Wird das Kollektiv der Feten mit vermindertem Wachstum betrachtet, ist eine Differenzierung zwischen small for gestational age – SGA und intrauterine growth restriction – IUGR insofern bedeutsam, als SGA die zunächst medizinisch wertfreie Beschreibung eines im Vergleich zum Erwartungshorizont im Normalkollektiv verminderten Wachstums des Feten/Neugeborenen darstellt. Die IUGREntwicklung, als Adaptationsprozess des Feten an ein pathologisches pränatales Milieu, führt dagegen zu mitunter schwerwiegenden Veränderungen im kurzoder langfristigen Outcome des Kindes.

6

42 1

Kapitel 1 · Fetales Wachstum

. Tab. 1.2  Sonographische Schwangerschaftsüberwachung im 2. und 3. Trimester Ultraschallbefunde

32. SSW (aktuelle Sonographie)

30. SSW (Befunde der Untersuchung vor 2 Wochen)

21. SSW (Erstuntersuchung)

Poleinstellung

BEL

BEL

Querlage

Plazenta

Fundus/rechte Seitenwand

Fundus/rechte Seitenwand

Fundus

Fruchtwassermenge (amniotic fluid index, Vier-QuadrantenMethode)

Oligohydramnion (35 mm), Harnblase mäßig gefüllt

Untere Norm (55 mm), Harnblasenfüllung nicht gegeben

Normal

Biometrie

BIP 30. Perz.

BIP 40. Perz.

BIP 50. Perz.

FRO 10. Perz.

FRO 15. Perz.

FRO 25. Perz.

KU 25. Perz.

KU 35. Perz.

KU 40. Perz.

Dopplersonographie

AU 3. Perz.

AU 10. Perz.

AU 40. Perz.

Femur 40. Perz.

Femur 65 Perz.

Femur 60. Perz.

A. umbilicalis AEDF

A. umbilicalis RI 0,81



Aorta fetalis RI 0,95

A. cerebri media RI 0,41

A. cerebri media RI 0,39 A. uterina links RI 0,52, kein notching A. uterina rechts RI 0,69, notching

A. uterina links RI 0,54, kein notching



A. uterina rechts RI 0,73, notching Ductus venosus PI 1,98, A-Welle positiv





BEL Beckenendlage, BIP biparietaler Durchmesser, AEDF absent end diastolic flow, RI Resistance-Index, PI Pulsatility-Index.

Im Fall einer nichtphysiologischen fetalen Wachstumsverminderung – IUGR (Charakteristikum: Perzentilenflüchtigkeit) sind im Weiteren zwei unterschiedliche Wachstumsmuster zu unterscheiden: 44Wachstumsbeeinträchtigung im 1./2. Trimenon durch eingeschränkte zelluläre Proliferation aller Organe und Gewebe → symmetrische intrauterine Wachstumsrestriktion (gleichförmige Verminderung der abdominellen wie auch der knöchernen Maße) – 20–30% der Fälle. 44Abnahme der Wachstumsgeschwindigkeit im 3. Trimenon infolge einer fetalen Anpassungsreaktion an eine Plazentainsuffizienzentwicklung → asymmetrische

intrauterine Wachstumsrestriktion (deutliche

Diskrepanz des Abdomens im Vergleich zu den Kopfmaßen) – 70–80% der Fälle.

Zur numerischen Wachstumsbeurteilung von Feten ist die möglichst exakte Kenntnis des Gestationsalters von überragender Bedeutung. Daneben spielt allerdings auch der Wachstumsverlauf (relative Wachstumsentwicklung – Perzentilenkonformität) eine maßgebliche Rolle zur Längsschnittinterpretation der Biometrieparameter. Im Fall von Frau Laji ist die initiale Festlegung des Schwangerschaftsalters zwar mit einer nicht unerheblichen Unsicherheit behaftet, bei Festhalten an der einmal getroffenen Festlegung liefert der Wachstumsverlauf allerdings unabhängig von seinem Ausgangspunkt eine valides Abbild der

7 1.1 · Falldarstellung

Dynamik der nutritiven Situation des Feten währen der Gravidität. Aufgrund der fetalen Wachstumsverminderung, vorwiegend der abdominalen Maße, begleitet von einer signifikanten Fruchtwasserverminderung im späten 2. und 3. Trimenon ist bei Frau Laji von einer plazentainsuffizienzbedingten asymmetrischen IUGR zu sprechen. … unterschiedliche Auffassungen … Nun sind die Lajis nicht mehr zu bremsen: »Am Anfang gesagt, Kind zu klein. Schlechte Versorgung. Dann bei nächster Kontrolle Ultraschall unsere Sohn Fruchtwasser zu klein und kleine Blase. Gelobt sei Gott bei nächste Ultraschall Harnblase wieder Bisschen groß. Warum immer Untersuchung, warum? Von alle Sorgen meine Frau jetzt Kopfschmerzen, schon Wochen!«, empört sich Junis. Frau Dr. Tausendsassa, eigentlich nicht leicht in die Defensive zu drängen, tut sich schwer, überhaupt zu Wort zu kommen und dem Ehepaar Laji Erklärungen in verständlicher Form nahezubringen.

1.1.6

Welche Ursachen kommen als Auslöser für eine IUGR infrage?

Ätiologie und Pathogenese der unterschiedlichen Formen der IUGR sind heterogen. Die Ursachen wie auch die einzelnen Mechanismen ihrer Entwicklung überschneiden sich z. T. und bleiben in anderen Fällen unbekannt.

Maternale, plazentare und fetale Ursachen einer IUGR Präplazentar (maternal): 55Chronische Gefäßstörungen (Hypertonie, Diabetes mellitus, Nierenerkrankungen, Kollagenosen) 55Hyperkoagulabilität (Thrombophilie, Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom) 55Persistierende Hypoxie (Höhenlage, pulmonale/kardiale Erkrankung, Hyperthermie, schwere Anämie) 55Toxine (Tabak, Alkohol, Drogen, Medikamente, Strahlung)

1

55Uterine Fehlbildung/Tumore 55Unterernährung Plazentar: 55Abnorme Trophoblasteninvasion (Präeklampsie, Eklampsie, HELLP-Syndrom) 55Plazentare Infarzierung 55Placenta praevia 55Plazentationsstörung (Placenta accreta/ increta/percreta) 55Placenta cirumvallata 55Chorangiom 55Insertio velamentosa 55Plazentare (umbilikale) Gefäßanomalien Postplazentar (fetal): 55Genetische Anomalien (Trisomie 13, 18 oder 21, Mosaike, Deletionen, Ringchromosomen) 55Syndromale Krankheitsbilder 55Kongenitale Fehlbildungen 55Intrauterine Infektionen (Zytomegalie, Parvo-B19, Röteln, Toxoplasmose, Herpes, HIV, Malaria)

Bei gesicherter exogener Nährstoffzufuhr durch die Mutter spielt die gestörte Plazentafunktion die wesentlichste Rolle in der Pathogenese der intrauterinen Wachstumsrestriktion. Eine inadäquate Plazentaperfusion (eingeschränkte mütterliche Zirkulation im intervillösen Raum und mangelhafte Angiogenese auf plazentarer Ebene) verbunden mit einer Entwicklungsstörung oder die Dysfunktion der Chorionzotten (Störung der sekundären Zytotrophoblasteninvasion) wird dabei zum funktionellen Ausgangspunkt der Entwicklung einer Plazentainsuffizienz bei Präeklampsie. Die sich in der Folge entwickelnde asymmetrische Wachstumsverzögerung spiegelt dabei den Kompensationsversuch (Zentralisierung) eines Feten, mit chronisch negativer Nährstoffbilanz umzugehen, wider. Die zugrundeliegende Gefäßfunktionsstörung variabler Genese führt dabei zu umso stärkerer Wachstumsdiskrepanz, je früher und ausgeprägter die Plazentafunktion ihre Beeinträchtigung erfährt.

8

42 1

Kapitel 1 · Fetales Wachstum

… Chefentscheidung …

44Kardiotokographie (u. U. computerunter-

Frau Dr. Tausendsassa bittet das Ehepaar, noch einen Moment im Wartebereich Platz zu nehmen, da sie die Befunde noch mit dem Chefarzt besprechen will. Mit den Unterlagen in der Hand passt sie Prof. Albert Eidgenosse vor dem OP ab. »Syrische Flüchtlinge, drittes Kind, asymmetrische IUGR mit AU Wachstumswerte < 10. Perzentile in fortgeschrittenem Schwangerschaftsalter (spätes 3. Trimenon) bedeuten nicht in allen Fällen hohe intrauterine Gefahr (neonatale Morbidität/Mortalität) und bedingen nicht in allen Fällen ein unmittelbares aktives geburtshilfliches Vorgehen.

… Sprach- und Kulturverwirrung … Mina ist am Boden zerstört: Ihr Ehemann dolmetscht ihren Kummer: »Kind … normal Geburt … ! Andere in Syria auch keine Problem! Warum? Keine Probleme in Aleppo, beide! In Schwangerschaft von meine Töchter keine Arzt, alles normal, normal.« Die Ärztinnen versuchen wortreich, dem Ehepaar die Bedrohlichkeit der Plazentainsuffizienz, welche die

1

aktuelle Schwangerschaft überschattet, zu erklären. Allerdings müssen beide, Frau Grünhorn wie auch Frau Dr. Tausendsassa, nach gut bemessenen 45-minütigen Erklärungsversuchen zunehmend einsehen, dass heute mit Mina und Junis kein auf Verständnis basierendes Einvernehmen zur intrauterinen Gefährdung ihres dritten Kindes zu erzielen ist. Zum Ende des emotionalen Diskurses wird nach Ablehnung einer stationären Überwachung mit/zur Durchführung einer antenatalen Steroidprophylaxe Junis Laji zumindest dringlich zu Kontrollterminen dreimal pro Woche geraten. Mina ist zu diesem Zeitpunkt so erregt, dass sie mit Gesprächsinhalten/ Empfehlungen gar nicht mehr zu erreichen ist und unentwegt weint. Das Ehepaar verlässt – laut arabisch diskutierend – die Ambulanz …

1.1.8

Mit welcher pränataldiagnostischen Untersuchungsmethodik und in welchen Kontrollintervallen ist bei den unterschiedlichen Graden von Plazentainsuffizienz vorzugehen?

Eine IUGR ist durch die longitudinale Befundanalyse biometrischer Parameter des Feten zu diagnostizieren. Bei V. a. gestörte Wachstumsdynamik sind metrische Kontrollen der kindlichen Maße in Intervallen nicht kleiner als 10(–14) Tage angezeigt. Bei häufigerer Messung übersteigt die Messungenauigkeit das Wachstumspotenzial im gegebenen Zeitfenster. Als indirekter Plazentafunktionsparameter ist die Fruchtwassermenge semiquantitativ als gut zugängliche Verlaufsgröße im Abstand von 7 Tagen valide zu beurteilen. Zusätzliche Kurzzeitinformationen zum kindlichen Zustand sind aus kardiotokographischen und mütterlich subjektiven (Kindsbewegungen) Befunden zu gewinnen. Die Untersuchungsmethode der Wahl zur Risikobeurteilung und zum Monitoring der Plazentafunktion ist dem Pränatalmediziner allerdings mit der Dopplersonographie in die Hand gegeben. Der Algorithmus zur geburtshilflichen Dopplersonographie (. Abb. 1.2) gibt den empfohlenen Untersuchungsablauf in Abhängigkeit von geburtshilflichen Dopplerbefunden (Funktionsdiagnostik zur Beurteilung des Grades an Plazentainsuffizienz) bezogen auf das jeweilige Gestationsalter wieder (. Tab. 1.3).

Entbindung

A. cerebri media

Entbindung

≥ 32 + 0 SSW

Tägliche Kontrolle Antenatale Steroidprophylaxe

Kontinuierlicher Vorwärtsfluss

Tägliche Kontrolle bis zur Komplettierung der antenatalen Steroidprophylaxe ggf. Entbindung

Entbindung, wenn möglich, nach Komplettierung der antenatalen Steroidprophylaxe

Diastolische Rückwärtsflusskomponente

< 5. Perzentile

Entbindung, wenn möglich, nach Komplettierung der antenatalen Steroidprophylaxe

Ductus venosus

Normaler Flusswert

Kontinuierlicher Vorwärtsfluss

< 5. Perzentile

A. cerebri media

28 + 0-32 + 0 SSW

Diastolische Rückwärtsflusskomponente

Ductus venosus

Normaler Flusswert

A. cerebri media

24 + 0–2 8+ 0 SSW

Vollständiger diastolischer Flussverlust oder diastolischer Rückwärtsfluss

. Abb. 1.2  Dopplersonographie bei V. a. Plazentainsuffizienz: Untersuchungssequenzen und geburtshilfliche Konsequenzen

Täglich Kontrolle bis zur Komplettierung der antenatalen Steroidprophylaxe ggf. Entbindung

< 32 + 0 SSW

Entbindung

Ductus venosus

Diastolische Rückwärtsflusskomponente

≥ 35 + 0 SSW

< 35 + 0 SSW

< 5. Perzentile

≥ 37 + 0 SSW

> 95. Perzentile

< 37 + 0 SSW

Kontrolle alle 2-3 Tage, ggf. antenatale Steroidprophylaxe

Kontinuierlicher Vorwärtsfluss

Wöchentliche Kontrolle beider Gefäße

Normaler Flusswert

Keine weiteren Kontrollen Bei Fortbestand der biometrischen bzw. Fruchtwasserpathologie: Kontrolle nach 10-14 Tagen

Normaler Flusswert

A. umbilicalis

Entbindung, < 34 +0 SSW ggf. antenatale Steroidprophylaxe

Kontinuierlicher Vorwärtsfluss

Ductus venosus

Entbindung

< 5. Perzentile

Entbindung < 34 + 0 SSW ggf. antenatale Steroidprophylaxe

Diastolische Rückwärtsflusskomponente

Normaler Flusswert

A. cerebri media

≥ 32 + 0 SSW

10 Kapitel 1 · Fetales Wachstum

42 1

11 1.1 · Falldarstellung

. Tab. 1.3  Kontrollintervalle/geburtshilfliche Konsequenzen pathologischer dopplersonographischer Flussmuster Gefäße

Kontrollintervalle/geburtshilfliches Vorgehen

A. umbilicalis RI > 95. Perzentile

Wöchentlich

Brain-sparing (A. umbilicalis RI > 95. Perzentile + A. cerebri media < 5. Perzentile)

2- bis 3-mal pro Woche (ggf. stationäre Aufnahme, tägliche CTG-Kontrollen)

A. umbilicalis (end) diastolischer Nullfluss/reverse flow (ARED-flow)

A. umbilicalis ARED-flow + Ductus venosus PI > 95. Perzentile

< 32. SSW

Täglich im Rahmen einer engmaschigen stationären Kontrolle und ggf. rasche Entbindung (ANS)

> 32. SSW

Großzügige Indikation zur Entbindung (keine ANS)

< 28. SSW

CTG unauffällig

CTG auffällig

A. umbilicalis ARED + Ductus venosus PI > 95. Perzentile

28.–32. SSW

CTG unauffällig

CTG auffällig

Positive A-Welle

Täglich im Rahmen einer engmaschigen stationären Kontrolle (ANS)

Negative A-Welle

Entbindung dringend (ANS abwägen)

Positive A-Welle

Täglich im Rahmen einer engmaschigen stationären Kontrolle – Entbindung dringend (ANS abwägen)

Negative A-Welle

Entbindung sofort (keine ANS)

Positive A-Welle

Täglich im Rahmen einer engmaschigen stationären Kontrolle (ANS)

Negative A-Welle

Entbindung sofort (keine ANS)

Positive oder negative A-Welle

Entbindung sofort (keine ANS)

ARED absent or reversed enddiastolic flow, ANS antenatale Steroidprophylaxe, PI Pulsatility-Index, RI Resistance-Index.

… die Akutsituation … Wieder in die Flüchtlingsunterkunft zurückgekehrt, liefert die Erregung bei den Lajis noch tagelang Gesprächsstoff. Nach mehreren Telefonaten mit ihrer Mutter und ihrer Tante in Aleppo – beide hatten jeweils mehr als 6 Kinder geboren – ist Mina mehr denn je davon überzeugt, dass die Ärzte in Deutschland von diesem »Frauenvorgang« keine Ahnung hätten. Da es ihr gut geht, ist man in ihrem Familienund Freundeskreis der Meinung, dass alles in Ordnung und Besorgnis übertrieben sei. Der geplante Kontrolltermin verstreicht.

Samstagnacht in der darauffolgenden Woche weckt Mina Junis mitten in der Nacht. »Der ganze Bauch tut mir schrecklich weh. Ich kann gar nicht schlafen.« In Angst um Frau und Kind verständigt Junis die Leitung der Flüchtlingsunterkunft, und Mina wird als geburtshilfliche Notfallpatientin unter der Verdachtsdiagnose vorzeitiger Wehen in der 34. SSW durch den Rettungsdienst in die Klinik gebracht. Die Aufnahmeuntersuchung (33 + 4 SSW) durch den in dieser Nacht diensthabenden Chefarzt ergibt bei Fetus in Beckenendlage leichte unregelmäßige Wehentätigkeit und im Rahmen der vaginalen

1

12

42 1

Kapitel 1 · Fetales Wachstum

Untersuchung eine erhaltene Cervix uteri mit geschlossenem Muttermund. Die von Prof. Eidgenosse vorgenommene Ultraschalluntersuchung weist einen Wachstumsstillstand bei nun vollständig fehlendem Fruchtwasser und eine zum Vorbefund unveränderte arterielle Dopplersonographie-Konstellation aus. Zusätzlich erfolgt Ultraschallfunktionsdiagnostik an weiteren Gefäßen.

1.1.9

Um welche Untersuchungsmodalität handelt es sich? Welcher Befund ist in . Abb. 1.3 dargestellt?

1.1.10 Welches geburtshilfliche

Vorgehen wird Prof. Albert Eidgenosse aus diesen Befunden ableiten?

Befundkonstellation 

44Aktuelle Beschwerdesymptomatik ohne negative Auswirkungen auf die ­Schwangerschaft (zwar schmerzhafte unregelmäßige, nicht muttermundwirksame Kontraktionen), 44Early-onset-IUGR mit Wachstumsstillstand in der 34. SSW, 44Anhydramnion, 44Sukzessive zunehmende dopplersonographische Pathologie der Plazentafunktionsdiagnostik mit letztlich AED-flow, brain sparing und hochpathologischem

Widerstandsverhältnissen im venösen Blutkreislauf (negative A-Welle), 44Beckenendlage (BEL). Geburtshilfliche Konsequenzen 

44Unmittelbare Entbindung trotz fehlender antenataler Steroidprophylaxe (Ablehnung durch die Patientin vor 8 Tagen) und der aktuell zu bedrohlichen Situation des Feten vor dem Hintergrund der bereits erreichten Tragzeit, 44Entbindungsmodus: Sectio caesarea aufgrund von Frühgeburt, hochgradiger Plazentainsuffizienz, Beckenendlage.

… endet in einer eiligen ­Kaiserschnittentbindung Der Schock durch das von Prof. Eidgenosse kurz und knapp gehaltene Gespräch zu den Befunden wie auch den sich daraus ergebenden perinatologischen Folgen versetzt das Ehepaar Laji in einen Zustand der Lähmung. Junis übersetzt, so gut es geht, für seine Frau. Die unmittelbar nach Ende der Aufklärung beginnende Kaiserschnittvorbereitung nimmt Mina kaum noch wahr. Ruckzuck ist sie im Operationssaal, und der Eingriff beginnt. Im Rahmen der Sectio wird neben der Bestätigung der IUGR (Geburtsgewicht1520 g) bei BEL zusätzlich eine doppelte Nabelschnurumschlingung um den kindlichen Hals festgestellt. Der kleine Mohammed wird unmittelbar vom anwesenden Pädiater betreut. Junis Laji, welcher unglaublich nervös vor der Kreißsaaltür auf und ab tigert, schickt der Familie eine SMS: »Der ganze Tag war für uns ein einziger Schrecken.« Als schließlich alles gut gegangen

. Abb. 1.3  Spektraldopplersonographie: Blutflussdarstellung im Ductus venosus. Befund: Widerstandswert (PI) des Blutflusses im Ductus venosus > 95. Perzentile mit zusätzlich negativer A-Welle. Diese Parameter beschreiben eine unmittelbar vor der Dekompensation stehende nutritive Plazentainsuffizienz

13 1.2 · Fallnachbetrachtung

ist und er seinen doch noch sehr kleinen Sohn auf dem Weg zur Kinderstation begleiten darf, wird ihm erstmals eine Ahnung davon vor Augen geführt, in welcher prekären Situation sich sein Stammhalter befunden hatte. Jetzt wird mit Syrien telefoniert: Gute Nachrichten in zutiefst bedrückenden Zeiten. Diese werden, wie überall sonst auf der Welt auch, am besten direkt übermittelt.

1.2 Fallnachbetrachtung 1.2.1

Besteht ein Zusammenhang zwischen den Nabelschnurumschlingungen und den geburtshilflichen Befunden?

Die Nabelschnur vermittelt mit zwei Arterien und einer Vene, umgeben von gallertartigem Bindegewebe und bedeckt von Amnionepithel, die (lebens-) entscheidende Gefäßverbindung zwischen Mutter und Fetus. Der bindegewebige Anteil, die Wharton-Sulze, ist zum Großteil aus Hyaluronsäure, Proteoglykanen und feinen Kollagenfibrillen aufgebaut. Dieser schützt mit seinen thixotropischen Eigenschaften die Nabelschnurgefäße vor Kompression. Zusätzlich zum gallertigen Anteil der Nabelschnur wirkt sich die umbilikale Wendelstruktur mit 40, typischerweise linksgewandten Windungen protektiv gegenüber Abknickungs- und Kompressionskräften aus. Der helikale Verlauf der Umbilikalarterien um die zentral gelegene Vene bedingt zudem verbesserte Voraussetzungen für einen laminaren Blutfluss im Verlauf der Nabelschnurgefäße. Nabelschnurumschlingungen werden in wissenschaftlichen Untersuchungen in Abhängigkeit von den Einschlusskriterien sowie der Dokumentationsgüte bei 18–37% aller Geburten (bei Beckenendlage bis knapp 50%) beobachtet. 60% aller Feten weisen zumindest zu einem Zeitpunkt während der Schwangerschaft eine Nabelschnurumschlingung auf. Die Wahrscheinlichkeit der »Entschlingung« sinkt dabei mit der Anzahl der vorhandenen Nabelschnurschlingen. Obwohl eine Umschlingung prinzipiell jeden fetalen Körperteil betreffen kann, findet sich der Großteil (ca. 70%) um den kindlichen Hals gewunden. Die einfache Umschlingung kommt mit

1

22% deutlich häufiger vor als Mehrfachumschlingungen: doppelte Umschlingung – 2,5–3,7%, Dreifachumschlingung – 0,2–0,9%, Vier-/Fünffachumschlingung – jeweils < 0,1%. Beschrieben sind bis zu neun Umschlingungen. Als Folge einer Nabelschnurumschlingung kann eine Nabelschnurkompression mit Beeinträchtigung der umbilikalen Zirkulation auftreten. Dies betrifft bei leichterem Druck nur den Fluss in der Umbilikalvene, da diese aufgrund ihrer Wandstruktur leichter komprimierbar ist als die beiden muskelwandstarken Arterien. Durch verminderte Vorlast kann es zum kindlichen Blutdruckabfall mit nachfolgendem, ischämisch-hypoxisch bedingtem Abfall der fetalen Herzfrequenz kommen. Dieser »parasympathische« Effekt wird über O2-reagible Chemorezeptoren in Aortenbogen, Carotissinus und der Medulla oblongata vermittelt. Ist die Kompression der Nabelschnurgefäße kräftig genug, sodass auch der Blutfluss in den Umbilikalarterien beeinträchtigt wird, steigt der Widerstand im arteriellen Schenkel des fetalen Kreislaufs akut an, und die CO2-Abgabe an die Plazenta wird behindert. Unmittelbare Folge ist eine ebenfalls vagal, in diesem Fall aber durch Barorezeptorenstimulation in den Gefäßwänden der Arterien von Hals und Thorax vermittelte Bradykardie. Bei kurz dauernder Kompression bzw. bei genügend langen Pausen zwischen hämodynamisch wirksamen Kompressionsphasen erholt sich die fetale Herzfrequenz folgenlos und das vermehrt anfallende CO2 diffundiert rasch über die Plazenta ab. Häufige oder lang andauernde Nabelschnurkompressionen (> 3 Minuten) führen dagegen durch die Einschränkung des Gasaustauschs zur respiratorischen Azidose mit erhöhtem pCO2, welche sich in der Folge durch die metabolische Gegensteuerung des fetalen Organismus über eine gemischte Form zum Vollbild der metabolischen Azidose wandeln kann. Diverse Kompensationsmechanismen (erhöhte O2-Affinität von HbF, Erhöhung des Hämoglobingehalts im Schwangerschaftsverlauf, Kreislaufzentralisationsmöglichkeit, hypoxiebedingte Erhöhung der O2-Ausschöpfung durch Verminderung des myokardialen O2-Verbrauchs) erlauben es dem Feten, mit Beeinträchtigungen der Nabelschnurzirkulation innerhalb eines gewissen Rahmens folgenlos umzugehen. Zur Abschätzung der klinischen Folgen

14

42 1

Kapitel 1 · Fetales Wachstum

einer Nabelschnurumschlingung ist somit hinsichtlich der Zeitdauer (kurzfristig oder chronisch) wie auch der Intensität (venös oder venös + arteriell) einer möglicherweise resultierenden Kompression zu unterscheiden: Dauerhafte Einschränkung nur des venösen Blutflusses → zirkulatorische Stauung in der Plazenta

→ fetale Hypovolämie und Anämie → fetale Gegenregulation = Verminderung O2-verbrauchender Prozesse (z. B. Proteinbiosynthese) → IUGR.

Dauerhafte Einschränkung des venösen + arteriellen Blutflusses → vagal vermittelte fetale Brady-

kardie → venöse (in der Folge auch arterielle) Stase/ Thrombenbildung → fataler Ausgang für den Feten (Extremfall). Klinische Konsequenzen  44Eine intrauterine Nabelschnurumschlingung ist ein häufiges, zufälliges und meist reversibles Ereignis. 44Die Komplikationsfrequenz wie auch der Schweregrad negativer Auswirkungen auf den Feten sind von der Anzahl, der Straffheit und der Dauer von Nabelschnurumschlingung(en) abhängig. 44Eine Beeinflussung des kindlichen Geburtsgewichts ist für die einfache Nabelschnurumschlingung nicht beschrieben. Obgleich ein solcher Effekt durch multiple Nabelschnurumschlingungen zwar gegeben ist, bleibt dieser in der Relativbetrachtung der Geburtsgewichtentwicklung, mit einem Verlassen des Perzentilenranges um 10 Werte nach unten, nur gering ausgeprägt. 44Die drastische fetale Gedeihstörung (IUGR < 3. Perzentile) basiert auf einer schwerwiegenden und frühzeitig im Schwangerschaftsverlauf beginnenden Nutritionsverminderung. Unter anderen Faktoren kann eine persistierende Nabelschnurumschlingung (> 4 Wochen) im seltenen Einzelfall (0,1% aller IUGR-Fälle) zur Einschränkung des intrauterinen kindlichen Wachstums führen. Allerdings reicht die vorhandene Datenlage, trotz einer Tendenz bei mehrfacher Nabelschnurumschlingung, nicht für eine statistisch belastbare Beziehung des Zusammenhangs Nabelschnurumschlingung – schwere IUGR aus.

44Eine (Mono-)Kausalität einer schweren IUGR (< 3. Perzentile) zum beobachteten Nabelschnurbefund bleibt somit nicht nur ein sich auf den Boden eines Ausschlussdiagnoseverfahrens gründendes »Verdacht auf« und, wenn als solche definiert, selten. 1.2.2

Zusammenfassung – intrauterine Wachstumsrestriktion

Die Bedeutung einer sorgfältigen Erhebung der fetalen Biometriedaten (Abdomenumfang, Kopfumfang und Femurlänge) und deren Einordnung in populationsbasierte Wachstumskurven kann aufgrund der Häufigkeit von Normabweichungen (4–8% aller Schwangerschaften) gar nicht überbetont werden. Zur frühzeitigen Identifizierung gefährdeter Feten ist einzig die wiederholte Perzentilenkonformitätsprüfung des fetalen Wachstums geeignet. Abweichungen in Verlaufskontrollen stellen das entscheidende und einzige Kriterium zur sicheren Diagnose wie auch zur Klassifikation einer fetalen Wachstumsrestriktion dar. Als Basis dieses Longitudinalvergleichs von sonographischen Messwerten der einzelnen Körperpartien des Feten im gesamten Schwangerschaftsverlauf ist eine unumstößliche Festlegung des Gestationsalters im 1. Trimenon (präziser Frühultraschall, bilddokumentierte SSL < 35 mm), und damit deutlich vor der Manifestation individueller Wachstumscharakteristika, essenziell. Die Sensitivität und Spezifität der sonographischen Vorhersage eines Geburtsgewichts < 10. Perzentile beträgt dabei 85–95% bzw. 60–90%. Die perinatalen Mortalitäts- und Morbiditätsraten (Frühgeburt – 30%) liegen bei IUGR 6- bis 10-mal höher als bei Normalgewichtigen. Dabei besteht eine Abhängigkeit von Beginn und Ursache der Störung (je früher, umso schwerer), Zeitpunkt der Diagnose und den Möglichkeiten der perinatalen Betreuung. Im Rahmen der Entwicklung einer intrauterinen Wachstumsrestriktion ist ein 3-phasiger Ablauf zu beobachten (. Tab. 1.4). Prognostisch wirken sich die vorgeburtlich durch Plazentadysfunktion erworbenen Risiken für die Neugeborenen in Form einer »fetalen Programmierung« kurz-, aber auch langfristig (bis in das Erwachsenenalter) aus:

15 Weiterführende Literatur

1

. Tab. 1.4  Ablauf einer intrauterinen Wachstumsrestriktion Phase

Pathophysiologie

Sonographie

Präklinische Phase

Beginn der Einschränkung der fetalen Wachstumsprozesse

Biometriewerte (noch) im Normbereich, fetoplazentare Dopplerparameter unauffällig

Klinische Phase

Fetale Anpassungsvorgänge an den Zustand der chronischen Malnutrition (u. a. Stoffwechsel, kardiovaskuläre Alterationen, [Bewegungsmuster])

Asymmetrische Perzentilenflüchtigkeit, (beginnende) Widerstandserhöhung im Bereich der fetoplazentaren Zirkulation

Dekompensationsphase

Adaptationsversagen an den Nährstoffmangel (u. a. metabolische Veränderungen [Azidämie, Störung zentraler Organfunktionen], CTG-Veränderungen, Störung des Bewegungsmusters, IUFT)

Deutliche Abflachung/Stillstand des Wachstumsverlaufs, massive Abweichung (< 2 SD bzw. < 3. Perzentile) aller Biometriewerte von der gestationsaltersentsprechenden Norm, hochgradige Dopplerpathologie im arteriellen und in der Folge im venösen fetoplazentaren Kreislauf

SD Standardabweichung.

44Bei 75–80% der reif geborenen Kinder mit milder IUGR (Late-onset-IUGR) ist die ­körperliche Entwicklung beginnend unmittelbar nach der Geburt bis zum Ende des 2. Lebensjahrs dadurch gekennzeichnet, dass sich die Unterschiede der Kindsgewichte ausgeglichen haben. 44Bei schwerwiegender IUGR (< 3. Perzentile oder verminderter Kopfumfang) sinkt der Anteil der Kinder mit vollständiger Gewichtskompensation auf < 50%. Besteht die Wachstumsverlangsamung über den 2. Geburtstag des Kindes hinaus, ist es unwahrscheinlich, dass sich dies im weiteren Verlauf noch ausgleicht. 44Für 10% der Kinder mit IUGR besteht ein erhöhtes Risiko einer verminderten Körperhöhe im Erwachsenenalter. 44Bei ehemals untergewichtigen Neugeborenen ist im späteren Leben gehäuft mit Insulinresistenz, Diabetes mellitus Typ II, Hypertonie, erhöhten Blutfettwerten (metabolisches Syndrom) sowie psychomotorischen Folgezuständen zu rechnen. In Abhängigkeit vom Manifestationszeitpunkt der IUGR ist eine erhöhte Vulnerabilität der Nervenentwicklung vor der 28. SSW (Early-onset-IUGR) zu beachten.

Insgesamt drückt sich das Risiko, ein ehemaliges IUGR-Neugeborenes zu sein, in einer erhöhten Sterblichkeitsrate durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter aus.

Weiterführende Literatur Boers KE, Vijgen SM, Bijlenga D et al, DIGITAT study group (2010) Induction versus expectant monitoring for intrauterine growth restriction at term: randomised equivalence trial (DIGITAT). BMJ 341: 7087–7094 Boulet SL, Alexander GR, Salihu HM et al (2006) Fetal growth risk curves: defining levels of fetal growth restriction by neonatal death risk. Am J Obstet Gynecol 195: 1571–1577 Gulmezoglu M, de Onis M, Villar J (1997) Effectiveness of interventions to prevent or treat impaired fetal growth. Obstet Gynecol Surv 52: 139–148 Jacobsson B, Ahlin K, Francis A et al (2008) Cerebral palsy and restricted growth status at birth: population based case-control study. Br J Obstet Gynecol 115: 1250–1255 Jarvis S, Glinianaia SV, Torrioli MG et al (2003) Surveillance of Cerebral Palsy in Europe (SCPE) collaboration of European Cerebral Palsy Registers. Cerebral palsy and intrauterine growth in single births: European collaborative study. Lancet 362: 1106–1111 Ogueh O, Al-Tarkait A, Vallerand D et al (2006) Obstetrical factors related to nuchal cord. Acta Obstet Gynecol Scand 85(7): 810–814

16

42 1

Kapitel 1 · Fetales Wachstum

Speer R, Dudenhausen JW (2009) Diagnostik und Management bei intrauteriner Wachstumsrestriktion. Frauenarzt 50(9): 760–768 Strauss A (Hrsg) unter Mitarbeit von Müller-Egloff S, Müller T (2016) Ultraschallpraxis in Geburtshilfe und Gynäkologie, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Strauss A (2017) Kann eine intrauterine straffe ­Nabelschnurumschlingung zu Intrauteriner ­Wachstumsrestriktion (IUGR) führen (< 3. Perzentile)? Gynäkol Praxis (im Druck) van Wyk L, Boers KE, van der Post JA et al,(2012) DIGITAT Study Group Effects on (neuro)developmental and behavioral outcome at 2 years of age of induced labor compared with expectant management in intrauterine growth-restricted infants: long-term outcomes of the DIGITAT trial. Am J Obstet Gynecol 206(5): 406e 1–7

17

Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch Axel Schäfer

2.1

Falldarstellung – 19

2.1.1

Wie häufig ist eine HIV-Infektion bei Frauen in Deutschland? Wie viele Frauen wissen bisher nichts von ihrer HIV-Infektion? – 19 Wie ist der durchschnittliche Verlauf einer HIV-Infektion bis zur AIDS-Symptomatik? – 20 Welche gynäkologischen Symptome können bei HIV-infizierten Frauen häufiger auftreten und betreffen auch Marion? – 20 Wie häufig kann eine HIV-Infektion auf sexuellem Weg auf Frauen übertragen werden? – 21 Welche natürlich vorkommenden Varianten oder HIV-Typen lassen sich bei HIV-infizierten Patienten nachweisen? – 21 Welche Bedeutung könnten andere Übertragungswege in der Ausbreitung von HIV haben? – 22 Welche Gründe gibt es für einen HIV-Test bei Frauen? Was spricht im Interesse von HIV-infizierten Frauen und Männern für eine möglichst frühe Diagnose der HIV-Infektion? – 22 Wieso ist es obligat, bei einer Kinderwunschbehandlung einen HIV-Test bei beiden Partnern durchzuführen? Wieso kann dieser – anders als in der Schwangerschaft – nicht abgelehnt werden? – 24 Wie sicher schützen Kondome gegen die Übertragung einer HIV-Infektion und anderer sexuell übertragbarer Erkrankungen? Wie sicher sind sie bei der Vermeidung von ungewollten ­Schwangerschaften? – 25 Welche Untersuchungen sind in der Frühschwangerschaft als Teil der Schwangerenvorsorge vorgeschrieben? – 26

2.1.2 2.1.3

2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7

2.1.8

2.1.9

2.1.10

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_2

2

2.1.11 2.1.12

2.1.13 2.1.14

2.1.15 2.1.16 2.1.17 2.1.18

Welche Bedeutung hat die Zwillingsschwangerschaft in Kombination mit einer HIV-Infektion? – 28 Unter welchen Umständen und nach welchen Rechtsgrundlagen ist ein Abbruch einer Schwangerschaft in Deutschland möglich? – 28 Wie sicher ist das Ergebnis eines HIV-Antikörpertests? – 29 Welche Laboruntersuchungen, die über eine übliche Vorsorge hinausgehen, sind bei HIV-infizierten Schwangeren erforderlich? – 32 Birgt eine Schwangerschaft für eine HIV-infizierte Frau ein erhöhtes Risiko für ein Genitalkarzinom? – 34 Warum bestehen im Falle einer HIV-Infektion der Mutter Risiken bei invasiver pränataler Diagnostik? – 35 Wie sieht eine ART in der Schwangerschaft aus? – 35 Wie wird eine HIV-Infektion beim Neugeborenen gesichert oder ausgeschlossen? Welche Risiken bestehen, wenn eine HIV-infizierte Mutter ihr Kind stillt? – 38

2.2

Fallnachbetrachtung – 39



Weiterführende Literatur – 39

19 2.1 · Falldarstellung

2.1 Falldarstellung

Die Vorgeschichte Vorgestellt wird der Fall einer jungen Frau, 35-jährig, nennen wir sie Marion Kessler, die HIV-infiziert ist, was sie anfangs nicht wusste. Sie fühlte sich wohl, hatte keine Beschwerden oder hinweisende Symptome und auch keine besonderen Expositionsrisiken. Das heißt, sie hatte keine Anamnese eines i.v.-Drogenkonsums, wissentlich keinen HIVinfizierten Partner, sie betrieb keine gewerbliche Prostitution und hatte auch keinen häufig wechselnden Geschlechtsverkehr. Marion war seit eineinhalb Jahren in einem Medienunternehmen in Berlin tätig. Zuvor hatte sie als Produktionsassistentin bei einem Privatsender gearbeitet und war danach für 4 Jahre bei einer Filmfirma in Los Angeles beschäftigt gewesen. Marion war bis auf einige Erkältungen in den letzten Jahren nie ernsthaft krank gewesen. Sie achtete auch nicht auf kleinere Störungen der Befindlichkeit. Sie zeigte keinen Nachtschweiß oder Fieber, keine Durchfälle oder Gewichtsverlust. Marion fielen keine Lymphknotenschwellungen auf, und sie hatte weder einen Herpes Zoster noch chronischen Husten oder Schluckbeschwerden. Marion hat in ihrer gynäkologischen Anamnese eine Loop-Konisation vor 2 Jahren wegen eines CIN III. Aktuell ist sie wegen einer erneut aufgetretenen suspekten Zervix-Zytologie wieder in ärztlicher Kontrolle. Vor 3 Monaten wurde sie wegen einer genitalen Pilzinfektion behandelt. Aktuell ist ihr etwas übel, sie hat keinen Appetit, was aber, wie sich herausstellen wird, eine andere Ursache hat: sie ist schwanger. Marion hatte über Jahre ungeschützten Sexualverkehr. Der wahrscheinlichste Infektionszeitpunkt in ihrer Zeit in Kalifornien. Insgesamt hatte sie dort mit 3 Männern Kontakt gehabt. Da sie mit einem der damaligen Partner noch in Verbindung stand, konnte dieser durch einen negativen HIV-Test als Überträger ausgeschlossen werden. Ein weiterer war bereits vor einem Jahr infolge eines Verkehrsunfalls verstorben, und der aktuelle Aufenthaltsort des Dritten war nicht mehr festzustellen.

2

Natürlich will Marion wissen, ob der Mann, der die Infektion auf sie übertragen hat, zweifelsfrei zu ermitteln sei, denn grundsätzlich besteht die Möglichkeit, über eine phylogenetische Stammbaumanalyse einen infrage kommenden Überträger zu identifizieren (7 Abschn. 2.1.5). Der Überträger und letztlich auch die Art der Übertragung blieben allerdings unklar, und so wurden später auch andere Infektionsrisiken im Fall von Marion erwogen, aber die sexuelle Übertragung blieb als Infektionsweg am wahrscheinlichsten.

2.1.1

Wie häufig ist eine HIVInfektion bei Frauen in Deutschland? Wie viele Frauen wissen bisher nichts von ihrer HIV-Infektion?

Nach Schätzung des RKI von 2014 sind bei Frauen in Deutschland etwa 15.100 HIV-Infektionen zu erwarten. Davon wurde bei ca. 12.800 die Diagnose bereits gestellt. Bei den Männern werden ca. 68.400 Infektionen erwartet, wobei bei ca. 57.400 die Diagnose bereits bekannt ist. Das heißt, das Verhältnis von HIV-infizierten Männern zu Frauen liegt etwa bei 4:1. Schätzungsweise 2300 Frauen in Deutschland sind HIV-infiziert, ohne dass bisher eine Diagnose gestellt wurde. Die Betroffenen ahnen oft nichts von ihrer HIV-Infektion. Hinzu kommt, dass bei Frauen etwa 460 Neuinfektionen pro Jahr zu erwarten sind. Bei der Diagnose weisen heute jedoch nur noch ein Drittel der betroffenen Frauen ein Risiko wie z. B. einen i.v.-Drogengebrauch auf, zwei Drittel werden durch heterosexuellen Kontakt infiziert. Allerdings wird bei Frauen die Diagnose einer HIV-Infektion oft erst spät im Verlauf der Erkrankung gestellt. Bei Männern wird von etwa 10.900 HIV-Infektionen ausgegangen, bei denen die Diagnose bisher noch nicht bekannt ist. Die Geschichte von Marion Kessler ist leider kein Einzelfall. Die Betroffenen und auch deren behandelnde Ärzte ahnen meist nichts von einer HIVInfektion. Eine HIV Infektion wird erst dann in Erwägung gezogen, wenn klinische Symptome auf

20

2

Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

einen Übergang zur AIDS-Symptomatik hinweisen und die Folgen einer HIV-Infektion nicht mehr zu übersehen sind. Deshalb wird die Diagnose oft spät gestellt. Es kann sich hinziehen, und in der Zwischenzeit können unbemerkt Jahre vergehen, in denen die Infektion weiter auf andere Personen verbreitet werden kann. 2.1.2

Wie ist der durchschnittliche Verlauf einer HIV-Infektion bis zur AIDS-Symptomatik?

Nach der Primärinfektion treten bei bis zu 20% der Betroffenen 2–8 Wochen nach der Virusübertragung grippeähnliche Symptome auf. In dieser Phase sind die Betroffenen kurzfristig sehr infektiös. Daran schließt sich eine asymptomatische Phase an, die 2–10 Jahre dauern kann. Ein kleiner Teil (< 10%) der Betroffenen kann als long-term nonprogressor auch längere Verläufe zeigen. Folgen einer beginnenden Einschränkung der Immunabwehr können sich bei infizierten Frauen durch meist unspezifische Symptome wie eine Zunahme von genitalen Dysplasien zeigen, und die Infektiosität bei sexuellen Kontakten nimmt langsam zu. Es kann eine variable Lymphadenopathie auftreten, die nur wenige Lympknotenstationen betrifft oder häufiger generalisiert ist. Da aber die Lymphknoten nicht schmerzhaft sind, wird dies meist nicht als mögliches Symptom wahrgenommen. Erst im letzten Stadium, dem AIDS-Vollbild, entwickeln sich die Symptome eines AIDS mit den typischen opportunistischen Infektionen. Diese sind v. a. 44Pneumonie durch Pneumocystis carinii, 44Hirntoxoplasmose, 44Soor-Ösophagitis, 44labiale oder auch genitale Herpes-simplex-Rezidive, 44Zytomegalie-Retinitis, 44Tuberkulose, 44HIV-Enzephalopathie. Ohne Therapie ist das AIDS-Vollbild bei der Hälfte der Betroffenen nach etwa 10 Jahren Verlauf der Infektion zu erwarten. Bei Neugeborenen kann können Symptome eines AIDS unbehandelt bereits nach einem Jahr auftreten.

2.1.3

Welche gynäkologischen Symptome können bei HIVinfizierten Frauen häufiger auftreten und betreffen auch Marion?

44HIV-infizierte Frauen zeigen eine erhöhte Prävalenz von genitalen humanen Papillomvirustypen (HPV). Neben zumindest z. T. erhöhten Expositionsrisiken ist hier auch eine Persistenz von HPV-Typen durch eine beginnende Immunsuppression bedeutsam. Eine ähnliche Disposition findet sich auch bei Frauen mit eingeschränkter Immunabwehr aus anderen Gründen, die z. B. Immunsuppressiva als Transplantatempfängerinnen oder wegen rheumatoider Erkrankungen erhalten. Entsprechend ist bei HIV-infizierten Frauen das Risiko für eine zervikale intraepitheliale Dysplasie (CIN) und ein Zervixkarzinom Leertaste erhöht. Derartige Veränderungen können bereits vor anderen Symptomen eines AIDS-Vollbilds im asymptomatischen Stadium auftreten. 44Außerdem finden sich bei HIV-infizierten Frauen häufiger vulväre, vaginale und perianale Dysplasien, die durch die HIV-­induzierte Immunsuppression ebenfalls schneller zu einem Karzinom progredieren können. 44Auch genitale Candida-Mykosen treten bei HIV-infizierten Frauen häufiger auf, sie sind jedoch auch bei altersgleichen Frauen ohne HIV-Infektion häufig. 44Infektion mit Herpesvirus 1 oder 2 (HSV-1, HSV-2) können als Rezidiv eines Herpes genitalis bei HIV-infizierten Frauen häufiger und auch mit schwereren klinischen Symptomen auftreten. 44In vielen Studien zeigen HIV-infizierte Frauen erhöhte Prävalenzen von HPV, HSV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen (STD) wie Infektionen mit Chlamydia trachomatis und Trichomonas vaginalis. Oft besteht ein Zusammenhang zur Anzahl der Sexualpartner in den letzten Jahren. Dieser Zusammenhang ist epidemiologisch wichtig, aber im Einzelfall nicht zielführend.

21 2.1 · Falldarstellung

Es gibt zwar Studien, die über Störungen der Menstruation wie Menometrorrhagien, Amenorrhö und eine frühere Menopause bei HIV-infizierten Frauen berichten, aber die Ergebnisse sind uneinheitlich und können durchaus auch andere Ursachen haben. > Generell können die genannten gynäkologischen Beschwerden zwar Zeichen einer beginnenden Einschränkung der Immunabwehr sein, aber sie sind in der altersgleichen Durchschnittsbevölkerung zu häufig, um als Hinweis gewertet werden zu können.

Marions aktuelle Beziehungssituation Nachdem Marion über 10 Jahre die Pille genommen hatte, traten oft Kontaktblutungen und Zwischenblutungen auf. Zusätzlich waren subseröse und intramurale Myome nachweisbar. Durch Veröffentlichungen über Thromboserisiken hatte sie die Pille vor über 6 Monaten abgesetzt. Nach Absetzen der Pille zeigten sich erneut unregelmäßige Blutungen bis zu Schmierblutungen, sodass sie meinte, ihr »Hormonsystem« müsse sich erst einmal normalisieren. Kurz nach ihrer Ankunft in Berlin hatte sie ihren jetzigen Freund Peer Grohmann, einen 45-jährigen Photographen und Kameramann, kennengelernt. Sie waren vor 9 Monaten in eine gemeinsame Wohnung in der Schönhauser Allee gezogen. Da Peer durch die Dreharbeiten für eine Fernsehserie ohnehin ständig unterwegs war, trafen sich die beiden eher selten. Sie hatten deshalb beschlossen, zur Verhütung Kondome verwenden.

2.1.4

Wie häufig kann eine HIVInfektion auf sexuellem Weg auf Frauen übertragen werden?

Die Häufigkeit einer Übertragung durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr von einem infizierten Mann auf eine Frau wird mit 0,2–2,5% angegeben. Allerdings haben dabei zusätzliche Risiken eine Bedeutung: eine hohe HIV-RNA-Viruslast infolge einer fortgeschrittenen HIV-Infektion des Überträgers oder auch dessen akute Serokonversion. Die Infektionsübertragung wird zusätzlich durch lokale Faktoren wie andere genitale Infektionen

2

begünstigt und kann durch kleinste genitale Verletzungen verstärkt werden. Aber auch eine Ektropie des Muttermundes oder eine Menstruationsblutung begünstigen eine Infektionsübertragung. Während Oralverkehr keinen Einfluss hat, bildet Analverkehr ein bekanntes Risiko. HIV wird nicht durch Speichel oder Kontakt mit kontaminierten Gegenständen übertragen. Generell bestimmt die Anzahl der Sexualpartner in einem Zeitraum das Risiko und nicht die Dauer der jeweiligen Beziehung, denn Zusatzfaktoren wie eine hohe Viruslast des Überträgers und Blutungen oder lokale Verletzungen, die leicht bei einer Ektropie der Zervix entstehen können, erhöhen das Risiko. Dies kann im Fall von Marion angenommen werden. 2.1.5

Welche natürlich vorkommenden Varianten oder HIV-Typen lassen sich bei HIV-infizierten Patienten nachweisen?

Unabhängig von der Unterscheidung in die Typen HIV-1 und HIV-2 lassen sich für HIV-1 diverse Subtypen nachweisen, die sich auch biologisch unterscheiden. Nachdem v. a. in Europa und Nordamerika eine homogene Ausbreitung von B-Subtypen beobachtet wurde, ist inzwischen auch ein Anstieg von Non-B-Subtypen erkennbar. Obwohl sie weder in der Übertragbarkeit noch in der Progredienz differieren, sind Non-B-Subtypen offenbar mehr mit einer heterosexuellen Übertragung verbunden und finden sich häufiger bei Frauen und heterosexuellen Männern. Unter den Non-B Subtypen scheinen die Typen C und D eher zu einer Progression zu führen, sie zeigen aber keinen Unterschied in der Ansprechbarkeit gegenüber einer antiretroviralen Therapie (ART). Allerdings sollen einige Non-B-Typen leichter eine Resistenz entwickeln können.

Kann anhand von Sequenzanalysen ein potenzieller HIV-Überträger nachgewiesen werden? Durch die hohen Mutationsraten von RNA-Viren und die dabei entstehenden Varianten der Virustypen ist der Nachweis von potenziellen Überträgern

22

2

Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

von HIV zwar nicht einfach, er wird aber inzwischen mit Erfolg eingesetzt. Obwohl bei einer sexuellen Übertragung nur wenige Viren, mitunter wohl nur ein Virus, übertragen werden, entstehen in dem Betroffenen schon in kurzer Zeit durch Mutationen eine Fülle von Varianten. Eine Untersuchung weniger RNA-Abschnitte im Vergleich zu anderen Infizierten der Region kann allerding helfen, über eine phylogenetische Analyse den Überträger zu identifizieren. Dies ist unter forensischen Aspekten bei Schadensersatzforderungen relevant. Nach einem 2016 vor einem deutschen Gericht anhängigen Prozess entwickelte eine Frau nach nur dreimaligem Sexualverkehr mit einem Mann eine akute HIV-Infektion. Obwohl der Mann anzweifelte, als alleiniger Überträger infrage zu kommen, wurde er anhand eines Gutachtens überführt und verurteilt. 2.1.6

Welche Bedeutung könnten andere Übertragungswege in der Ausbreitung von HIV haben?

Eine parenterale Übertragung von HIV durch Blut oder Blutprodukte ist in Deutschland und den anderen Industrienationen durch die entsprechenden Untersuchungen bei Spendern nur noch in Ausnahmefällen (< 0,0001%) zu erwarten. Für medizinisches Personal stellen allerdings Stichverletzungen mit Hohlnadeln ein gewisses Risiko dar (< 0,3%). Die Übertragung durch gemeinsam benutztes Spritzbesteck bei i.v.-Drogengebrauch beinhaltet ein sehr hohes Risiko, ist aber zumindest in Deutschland rückläufig. Sie spielt v. a. in osteuropäischen Ländern eine erhebliche Rolle, da hier bei den i.v.-Drogennutzern bis 70% HIV-Infektionen nachzuweisen sind. Eine maternofetale Transmission ist als prä- und v. a. als peripartale Übertragung in 15–40% der Fälle ohne antiretrovirale Prophylaxe zu erwarten. Hinzu kommt, dass HIV postpartal durch Stillen in 9% der Fälle auf das Neugeborene übertragen wird. In vielen Ländern mit unzureichender medizinischer Versorgung ist deshalb eine hohe Sterblichkeit bei Kleinkindern zu verzeichnen. Fraglos entsteht mit der Diagnose einer HIV-Infektion eine außerordentliche Belastung. Zwar hat die HIV-Infektion durch die Möglichkeiten einer

ART viel von ihrem Schrecken verloren, aber einfach unbeschwert weiterzuleben wie bisher, ist für meisten Betroffenen nicht mehr möglich. 2.1.7

Welche Gründe gibt es für einen HIV-Test bei Frauen? Was spricht im Interesse von HIV-infizierten Frauen und Männern für eine möglichst frühe Diagnose der HIV-Infektion?

Bestimmungen für HIV-Tests 55Gesetzlich vorgeschrieben sind HIV-Tests bei Blut-und Organspendern, um mögliche Übertragungen auf diesem Weg auszuschließen 55Ein HIV-Test ist auch vor einer Kinderwunschbehandlung bei beiden Partnern durchzuführen 55Nach den Mutterschaftsrichtlinien muss jeder Schwangeren ein HIV-Test zumindest angeboten werden 55Grundsätzlich sollte ein HIV-Test auch bei besonderen Expositionsrisiken durchgeführt werden, wenn z. B. der Sexualpartner HIV-infiziert ist oder im Fall einer Vergewaltigung durch einen Täter mit unklarem HIV-Status 55Bei ärztlichem Personal sollte im Fall von Nadelstichverletzungen oder Schnittwunden bei OP von Patienten mit unklarem Status sofort ein HIV-Test durchgeführt werden, um eine Serokonversion zu dokumentieren

Für Menschen, die vermeintliche Risikokontakte hatten, steht bei Gesundheitsämtern und staatlichen Gesundheitseinrichtungen ein breites Angebot von Testmöglichkeiten zur Verfügung. In einer Praxis ist ein HIV-Test außerhalb einer Schwangerschaft nur als individuelle Gesundheitsleistung möglich, er muss also selbst bezahlt werden. Wenn allerdings anhand klinischer Symptome eine HIV-Infektion nahe liegt, besteht eine Indikation.

23 2.1 · Falldarstellung

Damit stellt sich auch die Frage, welche Bedeutung die frühe Diagnose einer HIV-Infektion für die Betroffenen haben kann. Die Frage ist auch, welchen Vorteil sich HIV-Infizierte davon erhoffen können. > Eine möglichst frühe Diagnose einer HIV-Infektion liegt im Interesse der Patienten, denn eine rechtzeitige antiretrovirale Therapie (ART) gestattet ein weitgehend normales und beschwerdefreies Leben.

Nach dem Auftreten erster Symptome eines AIDS kann trotz optimierter antiretroviraler Therapie die Lebenserwartung bereits einschränkt sein. Leider wird die Diagnose einer HIV-Infektion bei bis zu einem Drittel der betroffenen Frauen sehr spät gestellt, d. h., es besteht bereits eine manifeste AIDS-Erkrankung oder zumindest ein deutlicher Immundefekt mit einer CD4+-Zellzahl < 200 Zellen/µl. Außerdem wird durch eine effektive antiretrovirale Therapie bei einer frühzeitigen Diagnose der HIV-Infektion auch das Risiko für weitere HIVTransmissionen deutlich eingeschränkt. Für den Geburtsmediziner eröffnet das die Möglichkeit zur Senkung der maternofetalen Übertragung von HIV auf das Neugeborene. Aber auch die Übertragung auf sexuellem Weg wird deutlich eingeschränkt, was nicht als Empfehlung verstanden werden darf, auf Kondome zu verzichten. Ungewollte und gewollte Schwangerschaften … Es ist ein Dienstag Anfang Juni, als Marion Kessler wie jeden Morgen an ihrem Schreibtisch in ihrem Berliner Büro sitzt. Gerade kommt die Angestellte des Catering-Service aus der Cafeteria mit ihrem mobilen Frühstücksstand in Marions separates Office. Francis, die junge Frau vom Catering, stellt wie jeden Morgen Orangensaft und einen Kaffee auf Marions Schreibtisch. Als sie fragend auf einen Teller mit einem Buttercroissant deutet, winkt Marion ab. Schon seit einigen Tagen hat sie v. a. morgens keinen Appetit. Francis betrachtet Marion mit einem seltsam anteilnehmenden Blick und schiebt dann wortlos den Servierwagen aus dem Büro. Marion sieht noch kurz die eindrucksvollen Tattoos und die Narben auf den Unterarmen von Francis.

Der Tag vergeht. Marion stellt einige neue Filmbeiträge bei einem Redaktionstreffen vor. Als sie wieder in ihr Büro zurückkommt, sitzt dort Kati, eine Kollegin aus der Nachrichtenabteilung. Die beiden verstehen sich gut und holen sich nachmittags oft einen kleinen Snack aus der Cafeteria. Diesmal hat Kati für Marion und sich selbst Milchkaffee und zwei Muffins mitgebracht. Aber Marion hat noch immer keinen Appetit. Sie fühlt sich abgeschlagen. Marion nimmt einen kleinen Schluck Milchkaffee aus dem Pappbecher, aber vom Muffin kann sie nicht abbeißen. Ihre Freundin Kati sieht sie mit jenem vielsagenden Blick an, der nichts Gutes verheißt. Marion kann den Weg, den Katis Gedanken nehmen, förmlich spüren, denn seit Kati an einem Kinderwunschprogramm teilgenommen hat, redet sie ständig über das Thema Schwangerschaft, und ihre ganze Wahrnehmung hat sich darauf ausgerichtet. Marion weiß, dass sich Kati sehnlichst ein Baby wünscht. Und richtig! Kati stellt die unvermeidliche Frage: »Sag mal, Marion, was ist denn mit Dir los? Du wirkst in den letzten Tagen irgendwie verändert. Du bist müde, hast keinen Appetit. Kann es sein, dass Du schwanger bist?« In Marion flackern einige Leuchtfeuer auf. Was, wenn Kati Recht hat? Im Gegensatz zu Kati, die wie Marion 35 Jahre alt ist, wünscht sich Marion kein Kind. Sie kann sich das einfach nicht vorstellen. Deshalb lenkt sie erst einmal mit einer Gegenfrage zu Katis Lieblingsthema ab, indem sie sich nach dem Stand von Katis Kinderwunschprogramm erkundigt und nach Fortschritten fragt. Kati seufzt nur und erzählt von einer bevorstehenden künstlichen Befruchtung, die noch aussteht. Dazu beklagt sie sich über die ewigen Untersuchungen! Manchmal sei das Spermiogramm von ihrem Freund Gerald unzureichend: wahrscheinlich, weil er früher zu viel geraucht hat und immer noch heimlich raucht. Und das Ganze sei langsam auch ein finanzielles Problem, denn die Krankenkasse übernimmt bei unverheirateten Paaren die Kosten nicht. Die Stimulation der Eierstöcke mit Clomifen sei zwar nicht teuer, hätte aber bisher nichts gebracht, und wenn es dann klappen würde, bekäme man öfter sogar Zwillinge. »Zumindest wissen wir jetzt«, fährt Marion fort, »dass anatomisch bis auf Geralds bisweilen fragliches Spermiogramm bei uns beiden alles in Ordnung ist, dass mein Zyklus regelmäßig ist,

2

24

2

Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

meine Hormone normal sind, dass ich regelmäßig Eizellen wie ein Huhn Eier produziere und dass wir beide keine HIV Infektion haben.« Marion sieht Kati erstaunt an. Sie versteht nicht, wieso bei einer Kinderwunschbehandlung ein HIV-Test durchgeführt werden muss.

2.1.8

Wieso ist es obligat, bei einer Kinderwunschbehandlung einen HIV-Test bei beiden Partnern durchzuführen? Wieso kann dieser – anders als in der Schwangerschaft – nicht abgelehnt werden?

heißt, es muss sichergestellt werden, dass bei der Insemination nur aufgereinigtes Sperma verwendet wird, das durch PCR Nachweis eindeutig kein Virus enthält. 44Ist nur die Frau HIV-infiziert, muss sowohl der Schutz des HIV-negativen Mannes als auch das Risiko einer maternofetalen Infektion des Kindes berücksichtigt werden. 44Sind sowohl die Frau als auch der Mann HIV-infiziert, steht das Risiko einer maternofetalen Infektion des Kindes im Vordergrund, aber auch die Möglichkeit einer Übertragung von Virusvarianten zwischen den Partnern muss beachtet werden. ... so geht es weiter

Ein HIV-Test in der Schwangerschaft muss zwar angeboten werden, ist aber freiwillig, er bedarf der Zustimmung der Schwangeren und kann auch abgelehnt werden. Im Gegensatz dazu ist der HIVTest bei Kinderwunsch jedoch Voraussetzung für eine Behandlung, denn in diesem Fall besteht eine andere Ausgangslage, die am ehesten mit einer Samenspende oder Organspende vergleichbar ist. Wenn der Mann oder der Samenspender HIV-infiziert ist, dann kann die Frau durch die Insemination infiziert werden. Aber auch eine infizierte Frau kann ihren nichtinfizierten Partner bei ungeschütztem Sex anstecken. > Deshalb wird für eine Kinderwunschbehandlung der Nachweis eines negativen HIV-Tests, der nicht älter als 3 Monate sein darf, gefordert. Außerdem muss bei Frauen ein Immunschutz gegen Röteln vorliegen.

Wenn der HIV-Test bei einem Partner oder bei beiden Partnern eine HIV-Infektion zeigt, dann kann das Paar – allerdings nur unter bestimmten Sicherheitsmaßnahmen – an einer Kinderwunschbehandlung teilnehmen. Im Zusammenhang mit einer HIV-Infektion kann eine diskordante Infektion vorliegen, bei der nur ein Partner betroffen ist, oder eine konkordante, bei der beide Partner infiziert sind. 44Ist nur der Mann HIV-infiziert, muss vorrangig der Schutz vor einer Transmission von HIV auf die HIV-negative Frau beachtet werden. Das

Eine Stimme aus dem Hintergrund kommentiert die Frage: unbemerkt ist Francis, die Frau vom Catering, in das Büro gekommen, um Geschirr abzuräumen, und hat einen Teil des Gesprächs gehört. »Ein HIVTest ist schon wichtig. Allerdings zum Glück nicht mehr, um Paare, bei denen ein Partner HIV-infiziert ist, von der Kinderwunschbehandlung auszuschließen, sondern weil Vorsichtsmaßnahmen erforderlich sind, um die Infektion eines nichtinfizierten Partners auszuschließen. Nach Schätzungen sind gut drei Viertel der HIV-Infizierten in Deutschland unter 40 Jahre alt. Verständlicherweise besteht da natürlich auch der Wunsch nach einer Familie. Durch die Fortschritte bei den verfügbaren Medikamenten gegen HIV-können auch HIV-infizierte Paare heute ein normales Leben führen und ein gesundes, nicht HIV-infiziertes Kind bekommen, selbst wenn eine HIV-Infektion der Mutter oder des Vaters vorliegt.« Kati und Marion schauen Francis erstaunt an. Francis lächelt nur über die Frage, ob sie eine HIV-Infektion habe. Ihr Mann sei infiziert. Die Diagnose sei schon vor 10 Jahren gestellt worden, als sie sich in einer Therapieeinrichtung kennengelernt hatten. Sie selbst habe keine HIV-Infektion, aber eine Hepatitis C. Sie zeigt auf die Narben an den Armen unter den Tattoos. Ja, sie sei früher drogenabhängig gewesen. Und inzwischen seien sie beide auch in einer Kinderwunschbehandlung. Auch bei ihr hätten Inseminationen nach Aufreinigung des Spermas und negativem HIV-RNA-Nachweis keinen Erfolg gezeigt. Deshalb sei jetzt ein Embryotransfer nach ICSI geplant. Aber auch für sie sei es ein finanzielles Problem,

25 2.1 · Falldarstellung

obwohl sie verheiratet sind und die Kasse die Hälfte der Kosten übernehmen würde. Kati will natürlich wissen, ob Francis nicht Angst hat, über ihren Mann angesteckt zu werden. Francis lacht verhalten: »Komisch, diese Frage stellen alle. Aber ich kann Dich beruhigen. Das Risiko ist sehr gering, da die Viruslast meines Mannes durch eine antiretrovirale Therapie unter der Nachweisgrenze liegt. Außerdem benutzen wir konsequent Kondome, auch damit er nicht doch noch eine Hepatis C bekommt. Dennoch lasse ich mich jährlich auf HIV untersuchen.« Kati fragt sich leicht deprimiert, ob sie, so wie sie hier zusammen sind, in der Zukunft jemals schwanger werden. Da schaut Francis Marion an und sagt nur: »Aber, Marion ist bereits schwanger. Ich beobachte sie schon einige Tage. Die Appetitstörungen, die gesteigerte Empfindlichkeit gegen Gerüche und die Müdigkeit … « Marion schreckt verstört hoch, als Kati sie wieder mit ihrem forschenden Blick mustert. »Das kann nicht sein! Ich habe zwar vor 6 Monaten mit der Pille aufgehört, aber dann fast immer Kondome benutzt!« Was denn das nun wieder heißen solle, will Francis wissen: fast immer. Mit Kondomen kennt sie sich aus; die sind sicher und können auch vor einer Schwangerschaft schützen. Kati ergreift die Initiative und holt einen der Schwangerschaftstests, die sie beim letzten Urlaub in Spanien preiswert gekauft hat. Marion wird, obwohl sie noch protestiert, von den beiden resolut zur Toilette geschickt. Nach sachgerechter Anwendung kommt sie mit den zwei gut sichtbaren roten Linien auf den Teststreifen zurück. Marion schüttelt nur den Kopf, und Francis sagt mit einem gewissen Stolz, dass sie es ohnehin gewusst hätte. Dann geht Kati um den Schreibtisch herum und umarmt Marion, und die beiden Frauen sprechen ihr Mut zu. »Komm, das wird alles gut. Sprich erst einmal mit Peer darüber, und dann lass Dich untersuchen, ob alles in Ordnung ist. Ich beneide Dich jedenfalls. Denk doch einmal daran, was ich hier alles anstelle, und du wirst einfach mal eben schwanger und weißt das nicht einmal.« Francis schließt sich dem an und sagt nur: »Marion, ich habe nun wirklich viel erlebt. Du musst Deine Entscheidungen für Dich treffen. Aber Du hast jetzt etwas, nach dem wir uns sehnen und für das wir viele Schwierigkeiten

2

auf uns nehmen würden, da es für uns eben nicht so einfach ist.«

2.1.9

Wie sicher schützen Kondome gegen die Übertragung einer HIV-Infektion und anderer sexuell übertragbarer Erkrankungen? Wie sicher sind sie bei der Vermeidung von ungewollten Schwangerschaften?

Die Schutzwirkung von Kondomen wurde in vielen Studien mit HIV-diskordanten Paaren untersucht. Dabei wurde die Effektivität der Verhinderung einer Infektionsübertragung belegt. Erwartungsgemäß reduzieren Kondome auch die Übertragung anderer sexuell übertragbarer Erkrankungen. Allerdings ist hier die Aussagekraft nicht so überzeugend wie für HIV, was am Studiendesign und auch anderen Faktoren liegen kann. Grundsätzlich bilden Latex-Kondome eine Sperrschicht gegen den Kontakt mit genitalem Sekret aus der Urethra oder Vagina und damit eine Schutzwirkung gegen Trichomonas vaginalis, Chlamydia trachomatis und Neisseria gonorrhoeae, aber es besteht auch ein Schutz gegen das Hepatitis-B-Virus (HBV) und auch gegen Zika-Viren in der Samenflüssigkeit infizierter Männer. Die Schutzwirkung gegen sexuell übertragbare Infektionen kann aus verschiedenen Gründen eingeschränkt sein: 44Ein bekanntes Beispiel sind Kondome mit einer Spermizidbeschichtung aus Nonoxynol-9. Diese erhöhen die Übertragbarkeit von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen und sollten deshalb unter dem Gesichtspunkt des Infektionsschutzes nicht eingesetzt werden. 44Darüber hinaus ist die Schutzwirkung unzureichend, wenn Hautareale im Genitalbereich betroffen sind, die außerhalb der Kondomabdeckung liegen. Dies gilt für HPV-assoziierte Condylomata acuminata, Herpes genitalis, syphilitische Ulzera (Ulcus durum) und andere infektionsbedingte Ulzerationen. Allerdings kann durch Kondome auch bei

26

Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

diesen Erkrankungen das Transmissionsrisiko reduziert werden.

2

2.1.10 Welche Untersuchungen sind

in der Frühschwangerschaft als Teil der Schwangerenvorsorge vorgeschrieben?

Termin bei Dr. Kurz Marion hat keinen Kinderwunsch und ist trotzdem schwanger. Es kränkt sie, dass sie offenbar aus eigener Achtlosigkeit und auch Dummheit mitten in die Fortpflanzungsfalle getappt ist. »Wie konnte ich nur so dämlich sein«, fragt sie sich immer wieder. »Da leite ich hier eine ganze Abteilung und denke überhaupt nicht über mich und meinen Körper nach!« Katis Trost und das Verständnis von Francis tun zwar gut, aber helfen im Moment auch nicht weiter. Sie braucht jetzt eine gynäkologische Untersuchung, um zumindest zu wissen, in welcher Schwangerschaftswoche sie ist. Dabei geht sie davon aus, dass ihr ohnehin nicht viel Zeit für irgendwelche Überlegungen bleiben wird. Marion greift zum Telefon und wählt die Nummer ihrer Frauenärztin. Marion schildert der Sprechstundenhilfe ihr Problem und die Dringlichkeit. Die Helferin bemerkt, dass sie für eine zytologische Kontrolle ohnehin einen Termin in 14 Tagen hat. Aber Marion beharrt auf einem früheren Termin. Schließlich bietet ihr die Helferin an, dass sie übermorgen, am Donnerstag, zur Blutentnahme für die Vorsorgeuntersuchungen kommen könnte. Und am Montag würde sie sie dann irgendwie dazwischenschieben. Marion übererlegt nicht lange und sagt zu. Danach fragt sie sich, ob ihren Freund Peer verständigen soll. Aber was sollte sie ihm sagen? »Joho, ich bin wahrscheinlich schwanger. Du wirst vielleicht Vater! Freu dich!« Sie hält das zum jetzigen Zeitpunkt noch für keine gute Idee. Am Donnerstag betritt Marion um 8:30 Uhr die Frauenarztpraxis von Dr. Ramona Kurz. Marion reicht den beiden Helferinnen ihre Patientenkarte. Eine Helferin fragt nach der letzten Regelblutung. Marion gibt irgendeinen Termin vor Anfang April an. Der Computer errechnet daraus eine Schwangerschaftswoche 10 + 2. Für den Fall, dass Marion tatsächlich einen Abbruch der Schwangerschaft will, ist also noch ein wenig Zeit. Jedenfalls wird Marion gebeten, erst einmal für eine Urinprobe zur Toilette zu gehen. Anschließend muss sie im Labor für eine Blutentnahme Platz nehmen.

Nach der Feststellung der Schwangerschaft erfolgen die Anlage eines Mutterpasses und die Blutentnahme, deren Untersuchungsergebnis später in den Mutterpass eingetragen wird. Vorgeschriebene Laboruntersuchungen 55Bestimmung der Blutgruppe mit Rhesusfaktor 55Antikörpersuchtest 55Blutbild und Hämoglobin-Bestimmung 55Untersuchung auf Röteln-Antikörper und Antikörper gegen Treponema pallidum 55Antikörpertest auf HIV 55Nachweis auf Chlamydien-DNA im Urin

Was ist beim HIV-Test in der Schwangerschaft von den zuständigen Ärzten besonders zu beachten? Zu Beginn der Schwangerschaft muss jeder Schwangeren ein HIV-Test angeboten werden, dessen Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. > Ein HIV-Test darf allerdings nur durchgeführt werden, wenn die Schwangere der Untersuchung zustimmt. Ein HIV-Test gegen den Willen einer Patientin bedeutet einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und kann Konsequenzen für den Arzt haben.

Obwohl eine schriftliche Einverständniserklärung nicht erforderlich ist, sollte die Zustimmung dokumentiert werden. Da in der Praxis eine weitere ausführliche Beratung häufig unterbleibt, muss in jedem Fall sichergestellt werden, dass die Patientin über den geplanten HIV-Test informiert wird, damit die Möglichkeit zur Ablehnung besteht. Dieses entspricht der von CDC (U.S. Centers for Disease Control and Prevention) vorgeschlagenen Opt-outForm einer Zustimmung durch Verzicht auf eine Ablehnung.

27 2.1 · Falldarstellung

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Was muss beachtet werden, wenn eine Schwangere einen HIV-Test für nicht erforderlich hält oder ablehnt?

mit einer HIV-Diagnose Hemmungen und fühlen sich oft ausgegrenzt.

In diesem Fall muss die Ablehnung und der Grund dafür eindeutig in der Patientenakte dokumentiert werden. Dabei sollte auch der Hinweis nicht fehlen, dass mit der Schwangeren über die Möglichkeit gesprochen wurde, dass im Fall einer HIV-Infektion die Mehrzahl der Übertragungen auf das Kind durch rechtzeitige Maßnahmen in und nach der Schwangerschaft zu verhindern sind, sodass die erwartete Rate der maternofetalen Übertragung von einem Viertel auf < 2/50 gesenkt werden kann. Bei den gerichtlich anhängigen Verfahren war meist die Unterschätzung des Risikos durch Zugehörigkeit zu einer gehobenen sozialen Schicht durch den behandelnden Arzt der Grund dafür, dass ein HIV-Test für nicht erforderlich gehalten wurde. Eine weitere Gruppe, die einen HIV-Test eventuell ablehnen, besteht aus Patientinnen, die sprachlich und auch kulturell nicht angemessen aufgeklärt werden können, obwohl sie aus Endemiegebieten stammen. Hier ist die Hinzuziehung eines Dolmetschers erforderlich.

... so geht es weiter

Wie wird ein HIV-Test im Mutterpass dokumentiert? Warum wird das Ergebnis des HIV-Tests nicht im Mutterpass aufgeführt? > Anders als bei anderen Untersuchungen wird nicht das Ergebnis des HIV-Tests, sondern nur dessen Durchführung im Mutterpass verzeichnet.

Diese Sonderbehandlung der HIV-Untersuchung hat historische Gründe: Anfangs war die Durchführung eines HIV-Tests, vor allem dann, wenn das Ergebnis eine Infektion bestätigte, mit der Angst vor sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung verbunden. Gerade schwule Männer hatten nicht unberechtigte Befürchtungen. Das Argument für eine Verweigerung der Untersuchung war damals, dass man sowieso nichts tun könnte. Mit der Einführung der antiretroviralen Therapie hat die HIV-Infektion in vieler Hinsicht ihre Schrecken verloren. Dennoch haben auch heute noch viele Menschen im Umgang

In Fall von Marion erfolgt, wie in der Routine üblich, nur ein Hinweis, aber keine adäquate Aufklärung über einen HIV-Test. Nach der Blutentnahme wird Marion noch einmal an die Rezeption gebeten. Die Arzthelferin fragt nach einigen Daten und bereitet einen Mutterpass für Marion vor. Anschließend fährt Marion in ihre Firma zur Redaktionsbesprechung, die den ganzen restlichen Tag in Anspruch nimmt. Am nächsten Tag, es ist Freitag, erhält Marion gegen 10 Uhr einen Anruf aus der Praxis von Frau Dr. Kurz. Eine der Sprechstundenhilfen ist am Telefon und bittet Marion, doch möglichst heute noch einmal vorbeizukommen, da noch einmal eine Blutentnahme durchgeführt werden müsse, um einen Wert erneut zu kontrollieren. Außerdem sei heute ein Termin ausgefallen, sodass die Ärztin die Zeit hätte, Marion zu untersuchen und mit ihr zu sprechen. Also fährt Marion in die Praxis und lässt sich erneut Blut abnehmen. Anschließend wird sie von einer der Sprechstundenhilfen in das Untersuchungszimmer gebeten, in dem die Ärztin schon auf Marion wartet. Frau Dr. Kurz – eine etwas untersetzte energische Frau Mitte 40, weißblond gefärbte Haare, die ein wenig abstehen – war Marion, als sie nach Berlin gezogen war, von ihrer Kollegin Kati empfohlen worden. Sie steht neben dem Schreibtisch, begrüßt Marion freundlich, fragt nach ihrem Befinden. Marion erzählt kurz von den Umständen ihrer Schwangerschaft und fügt hinzu, dass sie sich das noch immer nicht vorstellen könne. Frau Dr. Kurz unterbricht sie und bittet sie erst einmal auf den Untersuchungsstuhl, um den ohnehin erforderlichen zytologischen Abstrich durchzuführen und die Schwangerschaft mit dem Ultraschall zu bestätigen. Nach der Durchführung des zervikalen Zellabstrichs tastet die Ärztin kurz die Oberkannte des Uterus oberhalb der Symphyse bei bekannten Myomen durch die Bauchdecken. Als die Bilder der vaginalen Ultraschallsonde auf dem Bildschirm erscheinen, stockt beiden Frauen der Atem. Selbst Marion erkennt unschwer zwei getrennte Fruchthöhlen, in denen sich zwei Feten munter bewegen und bereits Arme und Beine schwenken. Die Schwangerschaft ist weiter fortgeschritten, als vermutet. Dr. Kurz konstatiert eine diamniale und dichoriale

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Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

Gemini-Schwangerschaft, die ca. der 13+2 SSW entspricht. Dazu kommen ein 5 cm großes Fundus-Myom und zwei transmurale Myome. Die Zervixlänge wird bei Z. n. Konisation mit 3,7 cm gemessen. Marion bleibt nach der Untersuchung erst einmal auf dem Untersuchungsstuhl sitzen. Dann steht sie auf und geht langsam hinter den Paravent, um sich wieder vollständig anzuziehen. Danach setzt sie sich an den Schreibtisch zu Frau Dr. Kurz, die den Befund in die Akte tippt, und fragt, womit die von ihr ja ungewollte Zwillingsschwangerschaft zusammenhängen könnte. Sie vermutet einen Zusammenhang zum Absetzen der Pille, was Frau Dr. Kurz aber klar verneint. Für sie ist das Alter entscheidend, denn Frauen, die zum ersten Mal mit 35 Jahren oder mehr schwanger werden, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, zweieiige Zwillinge zu bekommen. Bereits die Tatsache, schwanger zu sein, hatte wie eine Last auf Marion gelegen. Aber nun als werdende Zwillingsmutter! Sie sieht sich schon mit einem riesigen Doppelkinderwagen neben all den »PrenzlauerBerg-Müttern« auf einem der Spielplätze in Diskussionen über vegane Babynahrung und Stuhlkonsistenz. Deshalb wendet sie sich kurzum an Frau Dr. Kurz und fragt, ob und wann ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden könnte. Frau Dr. Kurz weist Marion darauf hin, dass nach der gesetzlichen Lage die Frist bis zur 12. SSW überschritten sei. Natürlich bestünden Risiken wie eine Aneuploidie in ihrem Fall bei Zwillingen und auch die Gefahr einer Frühgeburt. Grundsätzlich könne jedoch auch zu einem späteren Zeitpunkt ein Abbruch vorgenommen werden, wenn eine Gefährdung der Mutter vorliege. Eine Indikation wegen Gefährdung des Kindes durch einen genetischen Schaden oder durch eine Infektion sei jedoch nicht statthaft. Deshalb sollten erst einmal die weiteren Untersuchungen, v. a. der Laboruntersuchungen, abgewartet werden. Marion will noch den Grund für die erneute Laboruntersuchung wissen, was Frau Dr. Kurz mit einem kontrollbedürftigen Wert begründet, der vom Labor wiederholt werden müsse. Erst wenn alle Befunde vorlägen, könne die ganze Situation beurteilt werden. Bei ihrem Termin am Montag könnten sie dann über alles reden. Das Ganze kommt Marion zwar etwas merkwürdig vor, aber da sie schon spät dran ist und wieder in die Redaktion gehen muss, verlässt sie die Praxis.

Das Wochenende ist sonnig; Marion sitzt mit ihrem I-pad auf dem Sofa und sieht sich im Netz die Seiten über Schwangerschaften an. Sie bleibt gegenüber der Tatsache, dass sie Schwanger ist, ambivalent. Trotz gewisser Bedenken telefoniert sie mit Peer und teilt ihm die neue Situation mit. Peer ist zu M ­ arions Erstaunen freudig überrascht und will sofort nach Berlin kommen. Da Marion zuerst noch einmal mit ihrer Ärztin alles besprechen will, kommen sie überein, dass Peer versuchen wird, ab Montag oder Dienstag für einige Tage nach Berlin zu kommen. Man verständigt sich jedoch darauf, das freudige Ereignis erst einmal nicht weiter zu kommentieren oder mitzuteilen. So vergeht das Wochenende mit Lesen, Recherchen im Netz und einigen Videos.

2.1.11 Welche Bedeutung hat die

Zwillingsschwangerschaft in Kombination mit einer HIVInfektion?

Generell erhöhen Zwillingsschwangerschaften das Risiko für eine Frühgeburt. Im Fallbeispiel besteht eine Verkürzung der Zervix durch Konisation, die zusätzlich das Frühgeburtsrisiko erhöht. In der Konstellation mit einer HIV-Infektion stellt eine Frühgeburt ein Risiko für eine maternofetale HIV-Transmission dar, was bei der Betreuung berücksichtigt werden muss. 2.1.12 Unter welchen Umständen und

nach welchen Rechtsgrundlagen ist ein Abbruch einer Schwangerschaft in Deutschland möglich?

Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland zwar grundsätzlich rechtswidrig, bleibt aber unter bestimmten Voraussetzungen straffrei (§ 218a Abs. 1, § 219 StGB). > Ein Schwangerschaftsabbruch ist nicht strafbar, wenn die betroffene Frau den Vorgaben der sog. Beratungsregelung folgt.

29 2.1 · Falldarstellung

Die Schwangere, die den Eingriff verlangt, muss dem Arzt, der den Eingriff vornehmen soll, eine Bescheinigung vorlegen, dass sie mindestens 3 Tage vor dem Eingriff an einem Beratungsgespräch in einer staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle teilgenommen hat. Außerdem muss ein Arzt, der nicht an der Beratung teilgenommen hat, den Schwangerschaftsabbruch innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis vornehmen. Die Rechtswidrigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs ist ausgeschlossen, wenn eine medizinische Indikation (§ 218a Abs. 2 StGB) vorliegt. Das bedeutet, dass Lebensgefahr oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren besteht. Ferner ist dieser nicht rechtswidrig im Fall einer kriminologischen Indikation, weil die Schwangerschaft auf einem Sexualdelikt (§§ 176–179 StGB) beruht. Die Diagnose Am Montag früh betritt Marion die Praxis und geht gleich zur Rezeption. Eine Patientin steht bereits am Tresen, und die beiden Sprechstundenhilfen sind damit beschäftigt, irgendwelche Eingaben in den Computer zu machen. Als eine der Damen aufblickt und Marion erkennt, stößt sie ihre Kollegin an, die daraufhin aufsteht und in das Sprechzimmer geht. Als sie wieder herauskommt, bittet sie Marion gleich direkt in das Untersuchungszimmer. »Heute geht das aber schnell«, denkt Marion. Frau Dr. Kurz verschiebt einige Ausdrucke von Laborbefunden auf ihrem Schreibtisch, vor ihr liegt außerdem der Mutterpass. Sie bittet Marion Platz zu nehmen. Sie zögert, so als ob sie die passenden Worte suche. Sie sagt, sie habe Marion etwas mitzuteilen. Im Gegensatz zu ihrer sonst eher forschen Art scheint sie merkwürdig betroffen und zögert erneut, bevor sie endlich spricht: »Es hat mit dem Ergebnis der Laboruntersuchungen zu tun. Vielleicht haben Sie sich ja gewundert, dass wir Sie am Freitag noch einmal zu einer Blutentnahme einbestellt haben. Aber das Labor musste einen Befund noch einmal überprüfen, um ganz sicher zu gehen, dass das Ergebnis auch zutrifft und kein Fehler oder eine Probenverwechselung vorliegt. Das Ergebnis wurde vom Labor jetzt erneut bestätigt, und ich habe die Befunde heute früh erhalten.« Marion schaut ihre

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Ärztin etwas irritiert an und zieht die Augenbrauen hoch. Dann sagt die Ärztin: »Kurz gesagt, Sie haben eine HIV-Infektion.« Für einen Moment sehen sich die beiden Frauen schweigend an. Marion kann die Mitteilung kaum einordnen. Deshalb fragt sie nach, ob sie richtig verstanden hat. Frau Dr. Kurz zeigt ihr den Befund. Woher sie denn die HIV-Infektion habe, will Marion wissen. Dr. Kurz schüttelt nur den Kopf und weist darauf hin, dass ihr Partner auf jeden Fall auch einen HIV Test durchführen lassen sollte. Wie sicher denn das Testergebnis sei, will Marion wissen. »Sehr sicher«, sagt die Ärztin. Marion will noch wissen, wie häufig es denn vorkommt, dass Frauen wie sie einen positiven HIV-Test in der Schwangerschaft haben. Die Ärztin denkt nach. Sie hat seit Übernahme der Praxis zwar zwei Schwangere mit bekannten HIV-Infektionen mitbetreut, aber bisher hat sie noch nie eine vorher nicht bekannte HIV-Infektion im Screening diagnostiziert. Dann fragt Marion noch einmal nach der Sicherheit des HIV-Tests, denn sie hatte gehört, dass es mehr falsch-positive Ergebnisse bei Screening-Untersuchungen geben würde, als dann tatsächlich bestätigte HIV-Infektionen. Frau Dr. Kurz erklärt Marion ausführlich die hier eingesetzten Testverfahren und erläutert anschließend auch die viel seltenere Problematik eines falsch-negativen HIV-Tests und die Bedeutung des diagnostischen Fensters bei einer Serokonversion.

2.1.13 Wie sicher ist das Ergebnis eines

HIV-Antikörpertests?

Der HIV-Test wird als sequenzieller Test oder Stu-

fentest durchgeführt.

44Der als erstes durchgeführte HIV-Suchtest besteht aus einem Immunoassay (enzymelinked immunosorbent assay, ELISA), bei dem Antikörper aus der Patientenprobe gegen ein Gemisch aus Virusproteinen von HIV nachgewiesen werden. Die zugelassenen Suchtests erfassen alle bekannten HIV-Typen 1 und 2 sowie die HIV-Subtypen. 44Wenn der HIV-Suchtest eine Reaktion und damit ein positives Ergebnis zeigt, muss im Anschluss ein HIV- Bestätigungstest

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Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

durchgeführt werden. Dabei wird die Spezifität der Antikörper nachgewiesen. Bei dieser als Western Blot bezeichneten Methode werden Antikörper aus dem Patientenserum mit auf einem Teststreifen voneinander getrennten Virusproteinen gebunden und identifiziert. Durch die Bestätigung einer spezifischen Reaktion von Antikörpern aus dem Patientenserum gegen mehrere Virusproteine ist der Antikörpersuchtest bestätigt, und das Vorliegen einer HIV-Infektion ist als sicher anzusehen. > Erst mit dem Vorliegen eines Bestätigungstests darf ein Befund über eine HIV-Infektion erstellt werden. Zur Sicherheit und um eventuelle präanalytische Fehler wie die Verwechselung von Patientenproben auszuschließen, wird man immer den ersten Befund durch eine erneute Untersuchung nach einer zweiten Blutentnahme bestätigen. Wie sollte ein positiver HIV-Befund der Betroffenen mitgeteilt werden?  Bei einem negativen Ergebnis

kann die Mitteilung auch telefonisch erfolgen, wenn sicher ist, dass die Patientin die Bedeutung dieser Angabe auch richtig versteht. Die Diagnose einer HIV-Infektion sollte dagegen nur in einem persönlichen Gespräch durch den Arzt mitgeteilt werden. Bei einem reaktivem Suchtest mit negativem Ergebnis im Bestätigungstest muss dieses auch persönlich besprochen werden, um die Möglichkeit einer akuten Infektion zu erörtern.

Wie häufig sind falsch-positive Testergebnisse beim HIV-Suchtest zu erwarten? Beim HIV-Suchtest kann es, wie auch bei anderen serologischen Untersuchungen, zu falsch-positiven und damit unspezifischen Ergebnissen kommen. Allgemein sind bei den eingesetzten HIV-1/2Testantikörpern der 3. und 4. Generation hohe Sensitivitäten und Spezifitäten zu erwarten. Bei Schwangeren mit einer geringen Prävalenz von HIV kann dies sogar die Anzahl der tatsächlich infizierten Frauen übersteigen. Generell ist der positive prädiktive Wert eines HIV-Tests in der Schwangerschaft niedriger. Allerdings werden derartige unspezifisch-positive

Ergebnisse durch einen negativen Western Blot erkannt; dabei kann allerdings ein unbestimmtes Ergebnis die Situation komplizieren. Für einen positiven HIV-ELISA mit einen negativen oder v. a. unspezifischen Western Blot kann neben einem falsch-reaktiven Test auch eine akute HIV-1- oder HIV-2-Infektion in der Phase des diagnostischen Fensters (Serokonversion) verantwortlich sein. Auch dies macht Untersuchungen wie einen Vergleich mit anderen Testsystemen oder eine HIVRNA-PCR erforderlich (s. unten). Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Erstdiagnose einer bisher unbekannten HIV-Infektion bei der Screening-Untersuchung von Schwangeren für die Frauenärzte ein seltenes Ereignis ist. Selbst wenn man von einer Praxis mit einer sehr hohen Zahl von 500 betreuten Schwangeren pro Jahr ausgeht, so wäre bei einer Seroprävalenz von 0,01% eine Diagnose in 20 Jahren zu erwarten. Diese unspezifischen Reaktionen werden meist durch Komponenten oder Antikörper im Serum der Patientin ausgelöst, die nichts mit HIV zu tun haben. Sie können durch eine Stimulierung des Immunsystems aus anderen Ursachen auch in der Schwangerschaft zu reaktiven Suchtestergebnissen führen.

Wie häufig sind falsch negative Testergebnisse beim HIV-Suchtest zu erwarten? Auch bei der Verwendung HIV-Tests der 4. Generation, die nicht nur HIV-1+2-Antikörper, sondern auch Virusproteine wie p24 erkennen können, sind falsch-negative Testergebnisse trotz der frühen Virämie in der frühen Phase einer akuten HIV-Infektion möglich. Allgemein dauert es zwischen 2–6 Wochen, bevor ausreichend Antigen und Antikörper für den Kombinationstest gebildet worden sind. Deshalb sollten Schwangere mit einem Expositionsrisiko, wie z. B. einem i.v.-Drogengebrauch oder Kontakt mit einer HIV-infizierten Person, in jedem Trimemon erneut in einen HIV-Test einbezogen werden (. Abb. 2.1). Eine Serokonversion in der Schwangerschaft erhöht in der akuten Phase durch die hohe Viruslast das Risiko einer maternofetalen Transmission. Sollte allerdings ein positiver Suchtest der 3. und 4. Generation mit indifferentem oder negativem

31 2.1 · Falldarstellung

. Abb. 2.1  HIV-1-Serokonversion in der Gravidität. Testergebnisse aus der 24., 30., 32. und 36. SSW

Western Blot oder Immunfluoreszenz-Assay (IFA) verbunden sein, sollte – v. a. bei Risiken – eine erneute Untersuchung nach 2–3 Wochen durchgeführt werden. Außerdem kann eine Bestimmung der HIV-Viruslast (HIV-RNA-PCR) und auch eine Evaluation für eine HIV-2-Infektion vorgenommen werden. ... so geht es weiter … Dann geht Dr. Kurz auch darauf ein, welche weiteren Untersuchungen erforderlich sind, um erst einmal Informationen zum Ausmaß der durch die HIV-Infektion verursachten Immunsuppression zu bekommen. Entsprechende Untersuchungen seien bereits bei der Blutentnahme am Freitag veranlasst worden, und die Ergebnisse würden am Mittwoch vorliegen. Eventuell bestehe bereits eine Indikation zur sofortigen Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten. Außerdem müsse der Abstrich vom Muttermund noch einmal genau überprüft werden, da HIV-infizierte Frauen ein Risiko für Genitalkarzinome haben. Hinzu komme, dass durch die Zwillingsschwangerschaft das altersbedingte Risiko für eventuelle Chromosomenveränderungen erhöht sei und auch hier die besondere Situation einer HIV-Infektion bei einer invasiven Diagnostik

berücksichtigt werden müsse. Das beträfe auch das höhere Risiko für vorzeitige Wehen und Frühgeburten. Deshalb schlägt die Ärztin einen Termin bei Dr. Lang vor, der sich auf die Betreuung von Schwangeren mit HIV- und anderen Infektionen spezialisiert hat. Marion sitzt eine ganze Weile fast teilnahmslos da. Sie hat das Gefühl, dass sich ihr Leben vor ihr wie ein Kartenhaus aus Risiken auftürmt, aus dem die unteren Karten eine nach der anderen herausgezogen werden. HIV, Zwillinge, Trisomie, Frühgeburt, Genitalkrebs: eine Liste, die mit einem unbeschwerten Leben schwer vereinbar scheint. Frau Dr. Kurz bittet Marion noch einmal dringend, zuerst Dr. Lang in der Klinik aufzusuchen und sich von ihm beraten zu lassen. Marion dreht sich gedankenverloren um, verlässt schweigend den Behandlungsraum und die Praxis. Wieder auf der Straße, verharrt Marion wie benommen vor dem Eingang. Irgendwann geht sie zu ihrem Auto. Es vergeht einige Zeit, bis sie losfährt. Zuerst kurvt sie richtungslos durch die Straßen, sie weiß nicht, wohin sie fahren soll. Sie will nur eines: zurück in ihr altes Leben. Und irgendwann steht sie dann vor dem Gebäude ihrer Produktionsfirma Sie steigt aus und begrüßt auf dem Weg ins Büro die bekannten Gesichter, freundlich wie immer. Aber sie fühlt sich wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper. Im Büro versucht sie, irgendwie zu arbeiten. In diesem Moment klingelt ihr Mobilphon. Es ist Peer. Er meldet sich vom Flughafen und will wissen, wann er Marion treffen kann. Marion will sofort mit ihm sprechen. Sie befürchtet, dass Peer auch HIV-infiziert sein könnte. Vielleicht ist er ja auch der Überträger der Infektion gewesen. Als Marion später nach Hause in die Wohnung kommt, kommt ihr Peer aus der Küche entgegen. Er umarmt Marion, und die beiden setzten sich an den Küchentisch. Peer merkt Marion sofort ihre Verzweiflung an und hält erst einmal ihre Hand fest. Zögernd beginnt Marion, die Situation zu schildern. Peer lässt sie einfach reden, er hörte schweigend zu. Danach blieben die beiden am Tisch sitzen. Peer scheint nachzudenken und sagt endlich mit gefasster Stimme: »Marion! Wir müssen jetzt erst einmal wissen, woran wir sind. Dazu gehören auch eine Einschätzung der HIV-Infektion bei Dir und die

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Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

Gefahr für unsere Kinder. Es sind unsere, also Deine und meine Kinder. Wir müssen uns klar machen, dass eine HIV-Infektion für uns nicht das Ende aller Tage bedeutet. Ich habe einige Freunde, die HIV-infiziert sind und damit durchaus zurechtkommen. Auf keinen Fall dürfen wir jetzt in Panik geraten und unüberlegte Entscheidungen treffen.« Peer hat den Arm um Marions Schultern gelegt und hält sie fest an sich gedrückt. Manchmal können einfache Gesten mehr ausdrücken als viele Worte. »Aber Du musst unbedingt auch einen HIV-Test machen. Vielleicht sind wir ja beide infiziert. Vielleicht habe ich Dich infiziert.« »Nein, das hast du nicht. Wir haben vor einem Monat vor unseren Dreharbeiten in Marokko einen Gesundheitscheck für alle Teilnehmer durchführen lassen. Dabei wurde bei mir auch ein HIV-Test gemacht. Der war zu dem Zeitpunkt negativ. Und jetzt bekommen wir Kinder. Nur das zählt jetzt.« Termin bei Dr. Lang Marion steht am nächsten Morgen vor 9:00 Uhr am Eingang zur Frauenklinik. Peer begleitet sie. Sie gehen direkt zur Anmeldung der Klinikambulanz. Im Warteraum sitzen bereits einige Frauen, doch endlich ist Marion an der Reihe. Nach Etwa 10 Minuten kommt ein hochgewachsener Mann Mitte 40 mit randloser Brille und einer beginnenden Stirnglatze den Gang entlang. Er stellt sich Marion und Peer vor und bittet sie, in das Sprechzimmer einzutreten. Sie setzten sich, und Dr. Lang legt einige Befunde auf die Schreibtischablage. Er erwähnt, dass Marions Ärztin ihn bereits am Freitag im Vorfeld angerufen und auf seinen Rat hin einige zusätzliche Laboruntersuchungen veranlasst hat, die jetzt vorliegen. Marion will wissen, ob es irgendwelche Zweifel an der HIV-Infektion gäbe: »Keine«, sagt Dr. Lang. Es sei eindeutig. Auch eine Viruslast sei mit 10.000 Kopien/ ml nachweisbar. Ob für sie denn schon die Gefahr einer AIDS-Symptomatik bestehe, fragt Marion. »Noch nicht«, antwortet er, »obwohl die CD4+-Lymphozyten mit 320 Zellen/µl etwas erniedrigt sind. Deshalb sollte in jedem Fall mit einer ART begonnen werden.« Einmal könne so eine weitere Progredienz verhindert werden, v. a. aber wäre damit ein Schutz für die Kinder gegeben. Aus diesem Grund seien auch noch einige zusätzliche Maßnahmen erforderlich, die sich aber im Wesentlichen an der normalen Schwangerenvorsorge orientieren würden.

2.1.14 Welche Laboruntersuchungen,

die über eine übliche Vorsorge hinausgehen, sind bei HIVinfizierten Schwangeren erforderlich?

Zusätzliche Untersuchungen bei HIV-­ infizierten Schwangeren 55Bestimmung der CD4+-Zellzahl und der HIV-RNA-Viruslast: –– Durchführung alle 2 Monate, v. a. in Entbindungsnähe –– Neben einer Verlaufskontrolle ergibt sich dadurch die Indikation zum Therapiebeginn, der Nachweis der Wirksamkeit und das Erkennen der Unwirksamkeit, die einen Therapiewechsel erforderlich machen würde –– Ziel ist die Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze bei Geburt 55Monatliche Kontrollen des Blutbildes, um Anämien und Thrombozytopenien v. a. bei antiretroviraler Therapie mit Zidovudin zu erkennen 55Kontrolle von Leber- und Nierenwerten, v. a. bei antiretroviraler Therapie, um eine Hepato-und Nephrotoxizität auszuschließen 55Untersuchung auf HBV und HCV, empfehlenswert ist auch die Untersuchung auf CMV, eine Untersuchung auf Toxoplasmose sollte erfolgen und muss bei negativem Resultat in jedem Trimenom wiederholt werden 55Neben einer zytologischen Untersuchung sollte eine Untersuchung auf HPV erfolgen, da HIV-infizierte Frauen hier eine Risikodisposition zeigen; bei der genitalen Untersuchung ist eine mikroskopische Untersuchung der Flora, eine Messung des Scheiden-pH und eine kulturelle Untersuchung anzuraten 55Zusätzlich werden unabhängig vom Altersrisiko für eine Aneuploidie zum

33 2.1 · Falldarstellung

Ausschluss von Fehlbildungen ein frühes Organscreening mit Messung der Nackentransparenz zwischen der 11/0 13/6 SSW und ein spätes Organscreening zwischen der 19/6–22/6 SSW angeraten

Neben der Bestimmung zusätzlicher Belastungen wie eventueller Begleitinfektionen oder Schwangerschaftskomplikationen kann mit den Ergebnissen der Untersuchungen der CD4+-Lymphozyten und der Viruslast nicht nur eine Einschätzung der HIV-Infektion ermöglicht werden, es kann auch die Effektivität einer ART überwacht werden.

Welche Parameter werden zum Erfassen des Verlaufs einer HIV-Infektion eingesetzt? Im Vordergrund der Diagnostik und Risikoeinschätzung für ein Fortschreiten der HIV-Erkrankung und auch der maternofetalen Transmission stehen die Viruslast und die Anzahl von CD4+-Lymphozyten. Die Viruslast  wird durch die Bestimmung der HIVRNA-Menge ermittelt. Dazu wird die virale RNA entweder direkt bestimmt oder in DNA umgewandelt und durch PCR vervielfältigt. Die Menge der so bestimmten HIV-RNA gibt die Anzahl der im Blut nachzuweisenden HIV-Viren wieder. Obwohl sie nur einen kleinen Teil der in Geweben und im lymphatischen System vorliegenden Viren repräsentiert, hat sie einen hohen prädiktiven Wert für die Einschätzung einer Progredienz der HIV-Infektion und auch des Risikos einer maternofetalen HIV-Transmission. Als prognostisch ungünstig wird eine Viruslast von > 10.000 Kopien/ml angesehen. Ein Fortschreiten der Erkrankung ist auch zu erwarten, wenn, ausgehend von einer geringen Viruslast, diese signifikant ansteigt. Allerdings kann dies auch kurzfristig nach Impfungen oder anderen Infekten eintreten, ohne dass dies eine Progression ankündigt. Die Viruslast ist deshalb sowohl zur Einschätzung des klinischen Verlaufs einer HIV-Infektion und des Transmissionsrisikos geeignet. Die Wirksamkeit einer antiretroviralen Therapie zeigt sich, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze von 50 Kopien/ml liegt

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Die Anzahl der CD4-Lymphozyten  kennzeichnet eher

das klinische Stadium der HIV-Infektion. Frauen mit < 350 CD4+-Zellen/mm3 haben ein erhöhtes Risikos für opportunistische Infektionen. Dieser Zusammenhang kann bei der rechtzeitigen Indikation für eine präventive antiretrovirale Therapie helfen. Eine erniedrigte Anzahl von CD4+-Lymphozyten zeigt sich auch im Zusammenhang mit einer maternofetalen Transmission. Allerdings besteht eine hohe individuelle Varianz, denn Betroffene können vergleichbare CD4+-Lymphozyten haben, aber Unterschiede in der Viruslast aufweisen. Unter einer effektiven antiretroviralen Therapie kann sich die Zahl der CD4+Lymphozyten wieder erholen.

Welche Bedeutung haben Resistenztests bei der Untersuchung von HI-Viren? HIV kann als RNA-Virus unter Selektionsdruck rasch Mutationen entwickeln, die das Immunsystem des Wirts umgehen und auch die Wirkung antiretroviraler Medikamente schwächen. Die Entstehung von Resistenzen zeigt sich im Verlauf einer Behandlung durch Anstieg der Viruslast. Resistente HI-Viren können auch übertragen werden, sodass die Optionen bei einer Behandlung für die Infizierten eingeschränkt sind. Um diese Resistenzen zu erkennen und die Behandlung zu optimieren, wird ein Resistenztest durchgeführt. ... so geht es weiter Da Marion bisher noch keine ART erhalten habe, sei es sinnvoll, bereits im Vorfeld einer Behandlung zu erkennen, ob unter den in ihr vorhandenen HI-Viren auch Varianten vorliegen, die gegen bestimmte antiretrovirale Medikamente bereits Resistenzen entwickelt haben. Dies sei erfahrungsgemäß auch bei zuvor nicht behandelten Patienten zu erwarten. Als Dr. Lang hört, dass Peer vor einem Monat bei einem Test HIV-negativ gewesen sei, weist er darauf hin, dass trotzdem eine erneute Untersuchung sinnvoll sei, denn eine Infektionsübertragung ließe sich erst nach 3 Monaten sicher auszuschließen. Offenbar hatte ja ein ungeschützter Sexualkontakt stattgefunden, wie die Schwangerschaft zeige. Dann fügt er hinzu, dass sich nicht generell anhand der Dauer der Beziehung ein besonderes Infektionsrisiko ableiten ließe. Vor allem Zusatzfaktoren wie eine

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Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

hohe Viruslast des Überträgers und eine lokale Verletzung, die leicht bei einer Ektropie der Zervix wie bei Marion entstehe, können das Risiko erhöhen. Ob denn die Dysplasie des Muttermundes, die dann eine Konisation erforderlich gemacht hatte, bereits eine Folge der HIV-Infektion gewesen sei, will Marion wissen. Denkbar sei es, meint Dr. Lang, allerdings sei eine Dysplasie der Zervix auch ohne HIV-Infektion zu häufig, um derartige Rückschlüsse zu erlauben. Ebenso könnte durch die Konisation in der Abheilungsphase eine erhöhte Empfänglichkeit für HIV bestanden haben. Damit sind sie bei einem Thema angelangt, das Marion u. a. ohnehin belastet: die erneut suspekten zytologischen Abstriche. Deshalb stellt Marion die Frage, ob eine Schwangerschaft eventuelle Zellveränderungen oder Vorstadien beeinflusst, sodass sich in der Schwangerschaft das Risiko für ein Zervixkarzinom erhöhen könnte. Anhand der Voruntersuchungen von Frau Dr. Kurz sei mit einem Pap IIID1 aktuell ohnehin nur eine leichte Veränderung am Muttermund zu erwarten. Außerdem bestehe eine Infektion mit HPV 16 und 58. Deshalb führt Dr. Lang eine kolposkopische Untersuchung durch, bei der er eine breite, leicht blutende Ektropiezone sieht und ein fragliches Areal in der Transformationszone, aus der er zwei kleine Proben entnimmt, die seine Einschätzung eines CIN I bei der histologischen Untersuchung bestätigten. Zuvor hat Dr. Lang mit einer kolposkopischen Inspektion weitere Läsionen im Genitalbereich ausgeschlossen. Mikroskopisch findet sich ein unauffälliges, von Laktobazillen dominiertes Mikrobiom. Nachdem sich Marion wieder angezogen hat, führt Dr. Lang eine Ultraschalluntersuchung mit einem frühen Organscreening und eine Messung der Nackentransparenz durch, um das Risiko für eine Aneuploidie oder Trisomie der Feten einzuschätzen, denn bei Gemini ist das in diesem Fall ohnehin erhöhte altersbedingte Risiko für eventuelle Chromosomenveränderungen erhöht. Es finden sich für beide Feten zwar Werte < 2,5 mm, aber durch das ohnehin bestehende Altersrisiko für eine Aneuploidie erscheinen ihm weitere Maßnahmen zum sicheren Ausschluss sinnvoll. Um das Problem einer invasiven Diagnostik zu umgehen, empfiehlt Dr. Lang für die weitere Diagnostik eine Messung der fetalen DNA aus dem mütterlichen Blut, obwohl der Test im Vergleich zur

Chromosomenanalyse durch Amniozentese bei Gemini eine geringere Sensitivität hat. Dieses kann mit der heute noch anstehen Blutentnahme zur Resistenzanalyse von HIV gemeinsam veranlasst werden. Ob denn schon die Gefahr für die Entwicklung von AIDS-Symptomen bestehe, will Marion wissen. »Nicht jetzt, aber die CD4+-Lymphozyten können in der Schwangerschaft erniedrigt sein«, antwortet Dr. Lang. Man würde jetzt auch wegen der Schwangerschaft mit einer kombinierten ART beginnen.

2.1.15 Birgt eine Schwangerschaft

für eine HIV-infizierte Frau ein erhöhtes Risiko für ein Genitalkarzinom?

Schwangerschaftsassoziierte Malignome liegen vor, wenn diese in der Schwangerschaft oder spätestens bis zu einem Jahr nach der Geburt auftreten. Dabei handelt es sich der Häufigkeit nach um 44Hodgkin-Lymphome, 44Zervixkarzinome, 44Mammakarzinome, 44maligne Melanome und 44Ovarialkarzinome. Ein Zervixkarzinom wird in 1% der Fälle in der Schwangerschaft oder postpartal erkannt. Die meisten Frauen, bei denen ein Zervixkarzinom in der Schwangerschaft erkannt wird, zeigen ein frühes Stadium. Ein Zervixkarzinom soll allerdings nicht durch die Schwangerschaft beeinflusst werden und im Vergleich zu Nichtschwangeren weder schneller wachsen noch sich vermehrt ausbreiten. Allerdings zeigen bis zu 30% HIV-infizierter Frauen eine zervikale Dysplasie und auch vulväre und vaginale Dysplasien, die durch die HIV-induzierte Immunsuppression durchaus zu einem Karzinom progredieren können. Daher sollte zu Beginn der Schwangerschaft zusätzlich zu einer Zytologie der Zervix eine Untersuchung auf HPVTypen-DNA und eine kolposkopische Untersuchung durchgeführt werden und ggf. eine bioptische Abklärung erfolgen. Mit diesem Vorgehen ist bei entsprechender Überwachung eine eventuelle Progredienz einer Läsion zu erfassen. Dies gilt auch für unklare Läsionen der Vulva, der Vagina und der Perianalregion.

35 2.1 · Falldarstellung

2.1.16 Warum bestehen im Falle

einer HIV-Infektion der Mutter Risiken bei invasiver pränataler Diagnostik?

> Invasive Maßnahmen wie eine Amniozentese erhöhen das Risiko für eine maternofetale HIV-Transmission auf den Feten. Alle invasiven Maßnahmen müssen unter einer zusätzlichen antiretroviralen Prophylaxe durchgeführt werden, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt keine mütterliche oder fetale Indikation gegeben ist.

Eine nichtinvasive Alternative besteht bei Einzelschwangerschaften in der Analyse von zellfreier DNA aus dem mütterlichen Plasma. Dies ist grundsätzlich auch bei Zwillingsschwangerschaften möglich, aber die Sensitivität ist durch eine geringere Fraktion von fetaler DNA offenbar gesenkt:

erwogen werden können. Da bei Marion aber eine Geminigravidität und ein Z. n. Konisation vorliegt, ist von einem erhöhten Frühgeburtsrisiko auszugehen, das als geburtshilfliches Risiko ebenfalls einen frühen Beginn einer ART rechtfertigt. Marion erhält eine kombinierte ART mit Zidovudin (ZDV)/Lamivudin (3TC) und Efavirenz (EFV). Darunter ist eine Senkung der Viruslast unterhalb der Nachweisgrenze zu erreichen. Anfangs wird ihr zwar häufig übel; sie muss sich auch übergeben. Die Übelkeit lässt mit der Gabe von Antiemetika nach. Zusätzlich entwickelt Marion eine Anämie, die auch eine bekannte Nebenwirkung von ZDV sein kann. Die Blutzuckerwerte sind teilweise erhöht. Allerdings enthält die ART keinen Proteaseinhibitor, bei dem eine Hyperglykämie auftreten kann.

2.1.17 Wie sieht eine ART in

der Schwangerschaft aus?

Wie geht es weiter? Die am ersten Untersuchungstag durchgeführten Untersuchungen ergeben mit 320 CD4+-Lymphozyten/µl eine erniedrigte Zahl, wobei die CD4+-Zahlen in einer Schwangerschaft generell bis zu 20% unter den Werten außerhalb einer Schwangerschaft liegen. Dieser immunsuppressive Einfluss kann bei HIV-infizierten Schwangeren sogar noch ausgeprägter sein. Es lässt sich eine Viruslast von 10.000 Kopien/ml nachweisen. Bei der Untersuchung auf eventuelle Resistenzen findet sich kein Hinweis dafür. Weitere Infektionsrisiken wie eine Hepatitis B oder C liegen nicht vor. Anhand der zytologischen Untersuchung und der Biopsien, die Dr. Lang von der Zervix entnommen hat, kann ein leichte Dysplasie gesichert werden, die zwar weitere zytologischen Kontrollen, aber keine weiteren Maßnahmen erforderlich macht. Die Untersuchung der fetalen DNA-Fraktion ergibt keinen Hinweis auf eine Aneuploidie, sodass auch hier keine weiteren Untersuchungen erforderlich sind. Im Fall von Marion wird die kombinierte ART aus mütterlicher Indikation empfohlen, da ihre CD4+Lymphozyten < 350 Zellen/µl liegen. Diese wird ab SSW 13 vorgenommen. Wären die CD4+-Lymphozyten bei > 350 Zellen/µl gewesen, hätte ein etwas späterer Therapiebeginn der ART bis zur 24. SSW

Ziele einer ART in der Schwangerschaft 55Verhinderung einer weiteren Progredienz der HIV-Infektion der Mutter bei bereits bestehender Symptomatik oder vorhandener Immunsuppression 55Verhinderung einer präpartalen und einer peripartalen HIV-Übertragung auf den Feten, Zielgröße ist dabei eine Viruslast 50 Kopien/ml vorliegt, sodass eine primäre Sectio anzuraten wäre 55Vermeidung einer maternofetalen HIV-Infektion durch geburtshilfliche

2

36

2

Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

Risiken, die ohne ART wirksam werden können: –– Dauer des Blasensprungs –– Vorliegen von blutigem Fruchtwasser –– Amnioninfektion vor und unter der Geburt –– Weitere Risiken entstehen durch vorzeitige Wehen und eine Frühgeburt und einen vorzeitigen Blasensprung –– Bei einer Zwillingsschwangerschaft ist bei spontaner Geburt der vorangehende Fetus ohne ART häufiger betroffen

Ziel einer ART in der Schwangerschaft ist die Senkung der Viruslast < 50 HIV-Kopien/ml, da so grundsätzlich eine vaginale Entbindung angestrebt werden kann. In Fall von Marions Zwillingen tendierte Dr. Lang ohnehin eher zu einer Sectio, nachdem in der 28. SSW bereits vorzeitige Wehen aufgetreten waren. Dieses Vorgehen entspricht einer risikoadaptierten HIV-Transmissionsprophylaxe.

Was ist eine risikoadaptierte HIVTransmissionsprophylaxe in der Schwangerschaft? Risiken, die eine HIV-Transmissionsprophylaxe durch eine ART einschränken können, bestehen dann, wenn die bisherige ART nicht den gewünschten Effekt einer ausreichenden Senkung der Viruslast zeigt. Bei Umstellungen der ART müssen aber auch potenzielle Risiken durch die antiretroviralen Substanzen für das Kind und die Schwangere abgewogen werden. Diese Entscheidungen können nur individuell und anhand des bisherigen Verlaufs abgewogen werden. Im Fall von im Verlauf auftretenden geburtshilflichen Risiken können eine Eskalation und der Einsatz weiterer antiretroviraler Medikamente erforderlich werden. Zu den Risiken gehören 44die frühe Frühgeburtlichkeit mit nachweisbarer Zervixverkürzung und 44der frühe vorzeitige Blasensprung bis zur 28. SSW. In solchen Fällen muss der mögliche Schaden durch fehlende Lungenreife gegen das Risiko einer erhöhten HIV-Transmission abgewogen werden. Dabei

kann orientiert an der Viruslast, wenn ein Zeitgewinn z. B. zur Durchführung einer Lungenreifung angestrebt wird, die ART um Substanzen erweitert werden, die plazentagängig sind, und so eine Wirkung im Sinne einer Expositionsprophylaxe des Feten angestrebt werden. Besteht zum Zeitpunkt der Entbindung eine erhöhte maternale Viruslast, kann ein rechtzeitiger Kaiserschnitt zur Senkung der Transmissionsrate beitragen, wenn er rechtzeitig, d. h. nach weniger als 4 h nach Blasensprung vorgenommen wird. Komplikationen wie ein Amnioninfektionssyndrom können allerdings unter geburtsmedizinischen Überlegungen und unter Berücksichtigung des HIV-Risikos mit in die Entscheidung einfließen. Dies gilt auch im Fall einer Frühgeburt bei einer Viruslast < 50 Kopien/ml unter effizienter ART, in dem nach geburtshilflichen Kriterien entschieden werden muss. > In derartigen Fällen und auch bei Verletzungen des Feten unter der Geburt oder auch bei einem Kaiserschnitt ist eine Ausweitung der postnatalen Prophylaxe des Neugeboren sinnvoll. Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, das bei einer Viruslast der Mutter < 50 HIV-Kopien/ml eine Transmission eher unwahrscheinlich ist.

Welche ART-Kombinationen werden als Initialtherapie bei therapienaiven Schwangeren eingesetzt? 44Als Initialtherapie werden Kombinationen von Nukleosid-/Nukleotidanaloga (NRTI bzw. NtRTI) eingesetzt, die entweder mit einem nichtnukleosidischen Reverse-TranskriptaseInhibitor (NNRTI) oder einem Proteaseinhibitor (PI) oder einem Integraseinhibitor (INI) kombiniert werden. NRTI-Monotherapien oder eine Kombination von zwei oder drei NRTI haben sich sowohl in der Behandlung der HIV-Infektion als auch in der Prävention der maternofetalen HIV-Transmission als weniger wirksam erwiesen. 44Entsprechend wird auch in der Schwangerschaft als Initialtherapie eine kombinierte ART mit zwei NRTI und einem NNRTI oder einem PI empfohlen, die durch den Zusatz von niedrig

37 2.1 · Falldarstellung

dosiertem Ritonavir(r) oder Cobicistat in der Wirksamkeit verstärkt wird. 44Als Nukleosid-/Nukleotidkombinationen liegen gerade in der Schwangerschaft für die Kombination Zidovudin (ZDV)/Lamivudin (3TC) lange Erfahrungen vor. Trotz vergleichbarer Wirksamkeit mit TDF/FTC oder ABC/3TC ist jedoch die Toxizität höher, und es besteht auch ein Zusammenhang zur peripheren Lipoatrophie, sodass heute lieber Kombinationen von Tenofovir (TDF)/ Lamivudin (3TC) oder Tenofovir (TDF)/Emtricitabin (FTC) oder Abacavir (ABC)/Lamivudin (3TC), die die v. a. bei der Initialtherapie mit Efavirenz (EFV) als NNRTI kombiniert werden. 44Wenn bereits eine effektive Vormedikation besteht, unter der eine Schwangerschaft eingetreten ist, wird diese möglichst beibehalten. Deshalb werden in der Schwangerschaft ein breites Spektrum von antiretroviralen Substanzen eingesetzt, wobei im Einzelfall zu klären ist, ob eine Gefahr für den Feten oder auch die Mutter besteht. 44Häufig eingesetzte Medikamente aus der Gruppe der NNRTI sind 44Efavirenz, 44Nevirapin, 44Rilpivirin 44Aus der Gruppe der PI sind es v. a. 44Lopinavir, 44Atazanavir, 44Saquinavir, 44Darunavir.

Unerwünschte Folgen oder Nebenwirkungen bei einer ART in der Schwangerschaft Es gibt bei über 5000 Anwendungen bisher keine Hinweise im Antiretroviral Pregnancy Registry auf kongenitale Schäden. 55Nur Efavirenz wurde bei Anwendung im 1. Trimenon mit Neuralrohrdefekten in Verbindung gebracht 55Bei Nevirapin besteht v. a. bei CD4+-Lymphozyten > 250/μl ein erhöhtes Risiko der Lebertoxizität

2

55Die Kombination von Didanosin und Stavudin kann zur Lactatazidose und Leberversagen führen 55Zidovudin und Stadivudin überschneiden sich in der Toxizität 55Obwohl Proteaseinhibitoren kaum die Plazentaschranke überschreiten, kann beim ihrem Einsatz ein leicht erhöhtes Risiko einer Frühgeburt bestehen; dies sollte nicht deren Anwendung einschränken, wenn die Vorteile bei der Stabilisierung der Gesundheit der Schwangeren und bei der Prävention der maternofetalen Transmission überwiegen 55Unter einer antiretroviralen Therapie kann eine Lipoatrophie/Lipodystrophie entstehen, bei der das periphere Fettgewebe v. a. im Gesicht verloren geht und Fettablagerungen an Hals und Rücken auftreten, dabei kann eine Lipidämie vorliegen und eine Insulinresistenz, die zu atherosklerotischen Gefäßveränderungen führen; diese Nebenwirkungen werden häufig im Zusammenhang mit Zidovudin, Didanosin, Stavudin und vielen Proteaseinhibitoren beobachtet

Welche Änderungen der ART werden unter der Geburt vorgenommen? Bis zur Geburt wird die bisher eingesetzte ART fortgeführt. Sollte die mütterliche Viruslast > 50 HIVKopien/ml betragen, ist eine prä- und intrapartale i.v.-Gabe von Zidovudin bei Einsetzen der Wehen oder bei geplanter Sectio 3 h zuvor gegeben. Bei einer vaginalen Geburt wird dies bis zur Geburt des Kindes fortgesetzt. Bei einer mütterlichen Viruslast < 50 HIV Kopien/ml ist hier allerdings kein weiterer Vorteil im Hinblick auf eine Senkung der Transmissionsrate zu erwarten. endlich: die Geburt In der 28. SSW stellt sich Marion mit spürbaren Kontraktionen in der Klinik vor, die tokographisch mehr als 4-mal innerhalb einer halben Stunde aufgezeichnet werden. Bei der Untersuchung stellt

38

2

Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

Dr. Lang eine Zervixverkürzung auf 19 mm fest. Bei der Einstellung findet sich zwar eine leichte Blutung, aber fetales Fibronektin ist nicht nachweisbar. Weder im Phasenkontrastmikroskop noch in der Kultur besteht ein Anhalt für eine vaginale Dysbiose oder spezifische Infektion. Die Fruchtwassermenge ist normal, und es finden sich konkordant gewachsene Feten. Allerdings zeigt sich in der Blutuntersuchung eine leichte CRP-Erhöhung. Da Marion zusätzlich grippeartige Symptome und eine Bronchitis mit Fieber entwickelt hat, wird sie sofort stationär aufgenommen, da Anlass zur Sorge besteht, dass sie sie trotz inzwischen leicht angestiegener CD4+-Lymphozyten auf 370 Zellen/µl eine Symptomatik einer Pneumocystis-carinii-Pneumonie entwickelt haben könnte. Trotz Schwangerschaft wird ein RöntgenThorax durchgeführt, der jedoch keine interstitielle Zeichnungsvermehrung oder schmetterlingsförmige hiläre Ausbreitung ergibt. Blutgasanalyse und LDH sind unauffällig. Auf ein CT wird wegen der höheren Strahlenbelastung verzichtet. Eine bronchoalveoläre Lavage wird nicht durchgeführt, da die Symptome klinisch eher zu einem viral bedingten grippalen Infekt passen, der aktuell im Krankenhaus vermehrt aufgetreten ist. Da hier ein Ausbruch einer nosokomialen Infektion befürchtet wird, wird sofort aus Nasensekret eine PCR auf RSV (Pneumovirus) mit positivem Ergebnis durchgeführt. Damit ist eine virale Genese wahrscheinlich. Zusätzlich zur Inhalation eines β 2-Sympathomimetikums (Salbutamol) erhält Marion zur Tokolyse einen Oxytocin-Antagonisten (Atosiban), um eine weitere kardiorespiratorische Belastung bei Zwillingen zu vermeiden. Außerdem erhält sie in üblicher Weise 2 × 12 mg i.m. Betamethason im Abstand von 24 h zur Lungenreife-Induktion. Da die Viruslast unverändert während und auch nach dem Ereignis unter der Nachweisgrenze bleibt, wird kein Anlass für eine weitere Eskalation oder Umstellung der ART gesehen. Da sich unter diesen Maßnahmen die Kontraktionen eingestellt haben und die Zervix sich auch nicht weiter verkürzt hat, kann Marion in der SSW 30 + 4 wieder entlassen werden. Nach weiter unauffälligem Verlauf kommt Marion in SSW 34 + 2 mit Kontraktionen und einer weiteren Zervixverkürzung auf < 10 mm wieder in die Klinik.

Da sich der vorangehende Fetus in Steiß-Fuß-Lage befindet, ist allein schon deshalb eine Sectio indiziert, die vorsichtig unter Präparation der Fruchtblase und sorgfältiger Blutstillung durchgeführt wird. Die in diesem Fall durchgeführte zusätzliche i.v.-Applikation von Zidovudin erwies sich im Nachhinein als nicht erforderlich, da auch zu diesem Zeitpunkt die Viruslast < 50 Kopien/ml betrug. Die zeitentsprechend entwickelten Feten werden den Pädiatern übergeben, sie erhalten eine Postexpositionsprophylaxe. Auch hier wird die mütterliche Viruslast als Orientierung für das Risiko genommen und innerhalb von 6  h nach Geburt eine orale Zidovudin-Gabe an die Neugeborenen für 4 Wochen vorgenommen. Bei anschließend durchgeführten Untersuchungen zum Virusnachweis in den Neugeborenen ist auch nach 3 Monaten die HIV-PCR negativ, sodass eine maternofetale HIV-Transmission ausgeschlossen werden kann. Allerdings hat Marion auch auf das Stillen verzichtet, da sie jedes Risiko einer postpartalen Infektionsübertragung vermeiden will.

2.1.18 Wie wird eine HIV-Infektion

beim Neugeborenen gesichert oder ausgeschlossen? Welche Risiken bestehen, wenn eine HIV-infizierte Mutter ihr Kind stillt?

Da IgG über die Plazenta intrauterin auf den Feten übertragen wird, hat ein Neugeborenes einer HIVinfizierten Mutter Antikörper. Dieser als Nestschutz bezeichnete Leihtiter kann bis zu 18 Monate im kindlichen Blut nachweisbar bleiben. Ein negativer HIV-Test beim Kind ist also erst nach 1,5 Jahren zu erwarten, um eine vertikale HIV-Transmission ausschließen zu können. Deshalb erfolgt die Diagnostik durch eine HIVPCR. Die erste Untersuchung wird nach dem ersten Lebensmonat vorgenommen. Die Sensitivität (96%) und Spezifität (99%) sind dabei bereits recht hoch. Dennoch muss eine zweite Untersuchung nach dem 3. Lebensmonat durchgeführt werden, um eine Transmission ausreichend sicher auszuschließen. Zusätzlich sollte der Verlust des maternalen Leihtiters dokumentiert werden.

39 Weiterführende Literatur

> Das Stillen des Neugeborenen durch die HIV-infizierte Mutter ist ein relevanter Infektionsweg, der eine Infektionsrate von 9–12% erwarten lässt. Deshalb wird in allen Industrieländern ein Verzicht auf das Stillen zugunsten von adaptierter Säuglingsnahrung empfohlen.

Auch in diesem Fall kann eine antiretrovirale Kombinationstherapie der stillenden Mutter zu einer deutlichen Reduktion einer postpartalen Übertragung beitragen. Unabhängig von der besonderen Problematik in bestimmten Ländern, in denen es kaum eine Alternative zur Muttermilch gibt, ist damit auch eine weitere Aufnahme von antiretroviralen Medikamenten durch den Säugling und ein – wenn auch kleines – Restrisiko für eine Infektionsübertragung gegeben. 2.2 Fallnachbetrachtung

In dem vorliegenden Beitrag wurde versucht, das Thema HIV-Infektion bei Frauen und in der Schwangerschaft aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Unbestritten ist von einigen Institutionen und von ärztlicher Seite, v. a. aber vonseiten der Betroffenenorganisationen, sehr viel geleistet worden, um die Problematik an das öffentliche Bewusstsein heranzutragen. In dieser Geschichte, in der zur erforderlichen Anonymisierung die Abläufe vollständig geändert wurden, wird die besondere Problematik der Erstdiagnose einer HIV-Infektion in der Schwangerschaft deutlich. Zwar versucht die Ärztin Frau Dr. Kurz mit der Situation klar und rational umzugehen, aber es werden Unsicherheiten deutlich. Nun ist die Betreuung HIV-infizierter Schwangerer für niedergelassene Ärztinnen nicht die Regel. Was aber die Mitteilung einer Erstdiagnose einer HIV-Infektion in der Schwangerschaft betrifft, so ist dies zwar mit der Mitteilung anderer schwerer Diagnosen vergleichbar, aber die Gefährdung betrifft in diesem Fall sowohl die betroffene Patientin als auch ihre ungeborenen Kinder. Im geschilderten Fall kommt die Mitteilung völlig unerwartet. Die Information erfolgt sachlich, aber ohne übertriebene Empathie. Für die Patientin brechen nach Verlassen der Praxis ihr bisheriges Selbstverständnis und ihr Lebensbild

2

wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und natürlich wünscht man sich unterstützende Gespräche zur Bewältigung dieser belastenden Lebenssituation. Und natürlich gibt es in dieser Hinsicht tätige Institutionen, die aber leider oft in solchen Situationen nicht zeitnah zugegen sind. Die ärztliche Position, vertreten durch den Oberarzt der Klinik Dr. Lang, ist ebenfalls sachlich, informativ und klar in der Darstellung der begrenzten Alternativen. Damit ist sie keinesfalls ergebnisoffen, denn es geht um den Schutz der Patientin und auch um den Schutz der beiden Feten. Man argumentiert und handelt nach der Sachlage und den aktuellen Empfehlungen. Da bleibt leider nicht mehr viel Raum für eigene Vorstellungen und Entscheidungen, wenn die Umstände Maßnahmen erfordern, die zwar rational bei entsprechender Aufklärung von den Betroffenen nachvollzogen werden können, aber emotional erhebliche Einschränkungen erfahren.

Weiterführende Literatur AWMF-Leitlinie 055/002, S2k (05/2014) Deutsch-Österreichische Leitlinie zur HIV-Therapie in der Schwangerschaft und bei HIV-exponierten Neugeborenen. http://www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/055-002l_S2k_HIV-­ Therapie_Schwangerschaft_Neugeborenen_2014-­ verlaengert.pdf Boyle B, Morris JK, McConkey R et al (2014) Prevalence and risk of Down syndrome in monozygotic and dizygotic multiple pregnancies in Europe: implications for prenatal screening. BJOG 121(7): 809–819 Brockmeyer NH, Brodt R, Hoffmann K et al (2013) HIV-Infekt: Epidemiologie, Prävention, Pathogenese Diagnostik, Therapie, Psycho-Soziologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Burgess A, Purssell E (2017) What is the relationship between increased access to HAART, relationship status and fertility decisions amongst HIV-positive women? A literature review and meta-analysis. J Clin Nurs (doi: https://doi. org/10.1111/jocn.13731,, Epub ahead of print) del Mar Gil M, Quezada MS, Bregant B et al (2014) Cell-free DNA analysis for trisomy risk assessment in first-trimester twin pregnancies. Fetal Diagn Ther 35: 204–211 Fabeni L, Berno G, Svicher V et al (2015) Genotypic tropism testing in HIV-1 proviral DNA can provide useful information at low-level viremia. J Clin Microbiol 53(9): 2935–2941 Ribeiro F, Correia L, Paula T et al (2013) Cervical cancer in pregnancy: 3 cases, 3 different approaches. J Low Genit Tract Dis 17(1): 66–70 Rimawi BH, Haddad L, Badell ML (2016) Management of HIV infection during pregnancy in the United States: updated

40

2

Kapitel 2 · Gefährliche virale Infektion bei Kinderwunsch

evidence-based recommendations and future potential practices. Infect Dis Obstet Gynecol 2016: 7594306 Santoro MM, Perno CF et al (2013) HIV-1 genetic variability and clinical implications.ISRN Microbiol 2013: 481314 Scaduto DI, Brown JM, Haaland WC et al (2010) Source identification in two criminal cases using phylogenetic analysis of HIV-1 DNA sequences. Proc Natl Aacad Sci USA 107: 21242–21247 Sebitloane HM, Moodley D (2017) The impact of highly active antiretroviral therapy on obstetric conditions. A review. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 210: 126–131 Wesolowski LG, Delaney KP, Lampe MA, Nesheim SR (2011) False-positive human immunodeficiency virus enzyme immunoassay results in pregnant women. PLOS One 6(1): e16538 Zash RM, Williams PL, Sibiude J et al (2016) Surveillance monitoring for safety of in utero antiretroviral therapy exposures: current strategies and challenges. Expert Opin Drug Saf 15: 1501–1513

41

Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes Werner Rath

3.1

Falldarstellung – 42

3.1.1

Liegen Risikofaktoren für eine postpartale Blutung vor? Welche Maßnahmen zur aktiven Leitung der Nachgeburtsperiode sind evidenzbasiert? – 42 Liegt eine postpartale Blutung vor? Wie hoch schätzen Sie den bisherigen Blutverlust ein? – 45 Wie schätzen Sie die klinisch-hämodynamische Situation der Schwangeren ein? – 45 Wie interpretieren Sie diese Laborwerte unter Berücksichtigung der klinischen Situation? – 48 Welche Diagnose müssen Sie spätestens jetzt stellen oder besser bereits früher gestellt haben? – 50 Welche Maßnahmen sind zur Behandlung der Uterusatonie notwendig? – 50 Welche uteruserhaltenden Optionen stehen bei Versagen der medikamentösen Therapie grundsätzlich zur Verfügung? Welches sind die Indikationen für eine peripartale Hysterektomie? – 53 Welche Maßnahmen treffen Sie zur Prävention und Behandlung der Koagulopathie? – 55

3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7

3.1.8

3.2

Fallnachbetrachtung – 57

3.2.1

Welche medizinischen Fehler sehen Sie in dem geschilderten Fall? – 57 Welche organisatorischen Schwachstellen/Fehler finden Sie im geschilderten Fall? – 60

3.2.2



Weiterführende Literatur – 61

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_3

3

42

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

3.1 Falldarstellung

Sylvia stimmte zu. Sie wurde ausführlich über die Geburtseinleitung aufgeklärt und über das von den Ärzten empfohlene Vorgehen. Nun war es soweit:

Was geschah … ?

3

Sylvia war glücklich, aber auch erschöpft von der langen, anstrengenden Geburt. Sie ahnte nicht, was ihr noch bevorstand! Soeben war ihr Sohn Carlo geboren, spontan, wie sie es sich gewünscht hatte, nach kleinem Dammschnitt, den sie kaum verspürt hatte. Ihr Mann saß an ihrem Kopfende und streichelte über ihr Gesicht, es schien, als sei er von der Geburt ebenso mitgenommen wie seine Frau. Hebamme Claudia gab ihr den Kleinen, die Nabelschnur sollte vor dem Durchtrennen auspulsieren. Assistenzarzt Dr. Markus stand daneben, ihm war »ein Stein vom Herzen gefallen«, dass der kräftige Junge (Geburtsgewicht 4350 g), wie sich später herausstellte, offenbar gesund auf vaginalem Weg zur Welt gekommen war. Das war nicht einfach, aber einfach hatte es Sylvia auch vorher schon nicht gehabt. Sie war jetzt 35 Jahre alt, nie ernsthaft krank gewesen, vor 4 Jahren hatte sie einen Abort in der 12. SSW mit anschließender Kürettage; als dann 2 Jahre später wieder ein Abort (mit Kürettage) in der 10. SSW auftrat und sie anschließend Schmerzen und kurzfristig Fieber hatte, was mit Antibiotika behandelt wurde (ihre Frauenärztin sprach von einer Gebärmutterentzündung), hatte sie die Hoffnung auf ein Kind schon fast aufgegeben, aber es kam ja glücklicherweise anders. Wohl hatte sie vor der jetzigen Schwangerschaft an Gewicht zugenommen (auf 80 kg bei einer Körpergröße von 167 cm), aber ansonsten fühlte sie sich in der Schwangerschaft wohl. Diese verlief komplikationslos bis auf zwei kürzere Blutungsepisoden im 2. und zu Beginn des 3. Trimenons, bei denen der Verdacht auf eine Placenta praevia geäußert wurde, die sich dann aber im weiteren Verlauf der Schwangerschaft nicht bestätigte. Bei dem vorgeburtlichen Gespräch sagte man ihr, dass sie einen kräftigen Jungen bekäme, das sonographische Schätzgewicht lag um die 4000 g. Auf einen Kaiserschnitt angesprochen, lehnte Sylvia diesen ab; wenn möglich, sollte ihr Junge »natürlich« zur Welt kommen! Als sie nun vor 2 Tagen 10 Tage über dem durch frühen Ultraschall gesicherten Termin war, rieten ihr ihre Frauenärztin und ihre Hebamme zu einer Geburtseinleitung bei relativ unreifem Muttermund.

Geburtsverlauf in Kurzfassung 8:00 Uhr

8:30 Uhr 13:00 Uhr

17:30 Uhr

20:10 Uhr

21:30 Uhr 2:00 Uhr 4:05 Uhr

5:20 Uhr 6:22 Uhr

3.1.1

Aufnahme in den Kreißsaal, CTG, Aufnahmeuntersuchung: Muttermund fingerdurchgängig, Kopf fest im Beckeneingang 1. Gabe von 50 µg Misoprostol (Cytotec) oral als wässrige Lösung, danach keine Wehen 2. orale Gabe von 50 µg Misoprostol bei Status idem, danach unregelmäßige, schmerzhafte Wehen, die dann wieder sistierten, CTG unauffällig 3. orale Gabe, jetzt mit 100 µg Misoprostol in wässriger Lösung, eine Stunde später regelmäßige spürbare Wehen, auf Wunsch von Sylvia wird eine PDA gelegt, CTG-Überwachung Wehentätigkeit wieder rückläufig, Muttermund 3–4 cm, Kopf zwischen Beckeneingang und Beckenmitte, CTG unauffällig Sylvia schläft, es wurde keine weitere Einleitung an diesem Tag vereinbart Sylvia wacht auf, Fruchtwasser geht ab, Wehentätigkeit nimmt wieder zu, CTG weiterhin unauffällig Hebamme Claudia ruft Assistenzarzt Dr. Markus, Muttermund vollständig, Kopf in Beckenmitte, Pfeilnaht schräg, CTG unauffällig; bei wieder nachlassender Wehentätigkeit Entscheidung zur Wehenverstärkung mit Oxytocin i. v. in steigender Dosierung Kopf tritt tiefer, CTG weiterhin unauffällig, Oxytocin jetzt mit 32 mE/min (maximale Dosierung) Sylvia ist völlig erschöpft, mit Kristeller-Hilfe und nach Anlegen einer mediolateralen Episiotomie Geburt des Sohnes aus I. Schädellage, Dr. Markus verabreicht nach Durchtritt der vorderen Schulter des Kindes 3 mE Oxytocin als Bolus i. v.

Liegen Risikofaktoren für eine postpartale Blutung vor? Welche Maßnahmen zur aktiven Leitung der Nachgeburtsperiode sind evidenzbasiert?

Risikofaktoren (. Tab. 3.1) Risikofaktoren für eine postpartale Blutung (PPH) ergeben sich aus der Eigenanamnese/geburtshilflichen Anamnese sowie aus dem Schwangerschaftsund Geburtsverlauf; mindestens 40% aller Schwangeren mit Risikofaktoren entwickeln eine PPH. Jede

43 3.1 · Falldarstellung

. Tab. 3.1  Risikofaktoren für PPH (mod. nach Abdul-Kadir et al. 2014) Risikofaktor

OR oder Range

Blutverlust

> 500 ml

> 1000 ml

Adipositas (BMI > 35)

1,6



Maternales Alter (≥ 30 Jahre)

1,3–1,4

1,5

Soziodemographische Risikofaktoren

Geburtshilfliche Risikofaktoren Placenta praevia

4–13,1

15,9

Vorzeitige Plazentalösung

2,9–12,6

2,6

Plazentaretention

4,1–7,8

11,7–16,0

Prolongierte Plazentarperiode

7,6



Präeklampsie

5,0



Mehrlingsgravidität

2,3–4,5

2,6

Z. n. PPH

3,0–3,6



Fetale Makrosomie

1,9–2,4



HELLP-Syndrom

1,9



Hydramnion

1,9



(Langanhaltende) Oxytocin-Augmentation

1,8



Geburtseinleitung

1,3–2

2,1–2,4

Protrahierte Geburt

1,1–2



Notkaiserschnitt

3,6



Elektive Sectio caesarea

2,5



Vaginal-operative Entbindung

1,8–1,9



Episiotomie

1,7–2,21

2,07

Dammriss

1,7

2,5

Antepartale Blutung

3,8



Von Willebrand-Syndrom

3,3



Anämie (Hb < 5,589 mmol/l)

2,2



Fieber unter der Geburt

2



Operative Risikofaktoren

Sonstige Risikofaktoren

OR Odds Ratio, BMI Body-Mass-Index.

3

Vorschädigung des Endometriums kann zu Störungen im Bereich der Dezidua und zu Plazentalösungsstörungen führen, hierzu zählen – wie im vorliegenden Fall – die vorangegangenen Aborte mit Kürettagen sowie die Endo(myo)metritis. Mütterliches Alter ≥ 30 Jahre erhöht das Risiko für eine PPH um das 1,5-Fache, ein Body-Mass-Index ≥ 30 (35) um das 1,6- bis 3-Fache, insbesondere bei Nulliparae. Ein BMI ≥ 30 kg/m2 gilt als unabhängiger Risikofaktor für eine PPH, ungeachtet des Geburtsmodus. Antepartale Blutungen führen zu einer Risikoerhöhung für PPH um das 3,8-Fache, die Placenta praevia sogar um das bis zu 16-Fache. Ein weiterer Risikofaktor, v. a. im Hinblick auf eine postpartale Uterusatonie ist die fetale Makrosomie (1,9- bis 2,4-fach erhöhtes Risiko). Besondere Bedeutung für die Entwicklung einer PPH kommt der Geburtseinleitung mit Prostaglandinen oder Oxytocin sowie der Wehenverstärkung mit Oxytocin zu, die beide als signifikante unabhängige Risikofaktoren gelten (. Tab. 3.1). Bei Überschreiten einer Oxytocin-Exposition ≥ 7 Stunden muss mit einem 5-fach erhöhten Risiko für eine schwere PPH und einem 7-fach erhöhten Risiko für eine Plazentaretention gerechnet werden. Nicht zu vergessen ist im vorliegenden Fall auch die protrahierte Austreibungsperiode von > 2 Stunden und die Episiotomie, ein häufig unterschätzter Risikofaktor für PPH, v. a. dann, wenn diese (oder andere geburtshilfliche Verletzungen) nicht zeitgerecht versorgt werden und/oder eine Varikosis im Bereich des äußeren Genitale besteht. Literaturangaben zufolge erhöht die Episiotomie das Risiko für eine PPH um das 1,7- bis 4,3-Fache. Das Antizipieren von Risikofaktoren ist eine entscheidende Voraussetzung für eine adäquate Prävention und ggf. Therapie, daher ist von Hebammen und Geburtshelfern in diesen Fällen erhöhte Aufmerksamkeit zu fordern, Uterotonika sind in Griffnähe bereitzustellen.

Evidenzbasierte Methoden zur aktiven Leitung der Nachgeburtsperiode Noch bis vor kurzem wurden von der WHO folgende drei Komponenten im Rahmen der aktiven Leitung der Nachgeburtsperiode propagiert: 44Kontrollierter Zug an der Nabelschnur,

44

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

! Cave Abreißen der Nabelschnur in bis zu 4,5% der Fälle, v. a. bei ungeschultem Personal.

3

44frühes Abklemmen/Durchtrennen der Nabelschnur meist innerhalb von 15 Sekunden nach der Geburt des Kindes, ! Cave Hypotension, Anämie/Eisenmangel des Neugeborenen!

44systemische Applikation von Oxytocin. Aktuelle Studien haben ergeben (Evidenzlevel I [El I]): 44Der kontrollierte Zug an der Nabelschnur senkt den postpartalen Blutverlust und die Rate an schweren PPH nicht signifikant. 44Das frühe Abklemmen/Durchtrennen der Nabelschnur erbringt gegenüber der verzögerten Vorgehensweise (1 min nach der Geburt bis zum Auspulsieren der Nabelschnur) keine signifikanten Vorteile hinsichtlich des postpartalen Blutverlusts ≥ 500 ml und ≥ 1000 ml. 44Entscheidend ist die Applikation von Oxytocin, die die Rate an PPH um ca. 60% senkt (El Ia, Grad-A-Empfehlung). Im vorliegendem Fall wurden – wie bisher üblich – 3 mE Oxytocin als Bolus intravenös nach Durchtritt der vorderen Schulter des Kindes (oder nach der Geburt möglich) gegeben. Die 2015 erschienene AWMF-Leitlinie 015/063 empfiehlt zur Prävention der PPH die Gabe von 3–5 mE Oxytocin langsam i. v. oder als Kurzinfusion; andere aktuelle Leitlinien (z. B. RCOG-Leitlinie 2016) propagieren die intramuskuläre Applikation von 10 mE Oxytocin. > Wirkungsbeginn nach intravenöser Gabe: ca. 1 min, nach intramuskulärer Gabe: 2–3 min.

Wie geht es weiter … ? »Nun muss nur noch die Plazenta kommen«, sagt Hebamme Claudia, »dann haben Sie es geschafft, aber das dürfte kein Problem sein!« Etwa 10  min nach der Geburt des Kindes (6:32 Uhr) tritt eine verstärkte vaginale Blutung ein, die die Hebamme

als Lösungsblutung ansieht, die Moltex-Vorlage ist durchgeblutet. Die Plazenta ist aber nicht gelöst, das Küstner-Zeichen ist negativ! Hebamme Claudia entleert die Blase mittels Einmalkatheterisierung (300 ml Urin), die Plazenta löst sich aber nicht, das Küstner-Zeichen ist weiterhin negativ. »Sollen wir es mit Akupunktur versuchen?«, fragt sie Assistenzarzt Dr. Markus, der nickt und seine Hand auf den Fundus uteri hält. »Der Uterus ist gut tonisiert.« Kurz darauf kommt es zu einer erneuten vaginalen Blutung mit Koagel-Abgang, die die Nierenschale annähernd füllt. Sylvia hat ihren Sohn im Arm. Sie nimmt das, was um sie herum geschieht, nur am Rande wahr, sie fühlt sich müde und schlapp, ihr Herz klopft heftig und schnell. »Wie ist der Blutdruck?«, fragt Dr. Markus, der sich inzwischen Sorgen macht. »Habe ich gerade gemessen, 100/70 mmHg, Puls 100/min«, antwortet die Hebamme, »aber wir haben ja noch Zeit, es wäre doch schade, wenn wir jetzt noch etwas Operatives machen müssten.« Die Hebamme blickt auf die Uhr. Inzwischen sind 30 min nach der Geburt des Kindes vergangen (6:52 Uhr), und die Plazenta hat sich noch nicht gelöst Auch ein vorsichtiger Zug an der Nabelschnur bei Halten des Uterus ist ohne Erfolg geblieben, hat aber zu einer erneuten Blutung mit Koagel-Abgang geführt. Assistenzarzt Dr. Markus hat es nun eilig. »Wir müssen sofort den Oberarzt Dr. Herrmann benachrichtigen und die Anästhesistin Frau Dr. Barbara. Hier stimmt etwas nicht, wir müssen eine manuelle Plazentalösung machen!« Nun geht alles sehr schnell: Innerhalb von weiteren 5  min, in denen keine Blutung mehr auftritt, sind Oberarzt Dr. Herrmann und die diensthabende Anästhesistin Frau Dr. Barbara im Kreißsaal anwesend, Sylvia und ihr Mann werden kurz über die Situation und die notwendigen Maßnahmen informiert. 5 min später (40 min nach der Geburt) sind alle im benachbarten Operationssaal. Der Blutdruck beträgt unmittelbar vor der jetzt anstehenden Narkose 90/60  mmHg, Puls 110/min. Oberärztin Dr. Barbara lässt 500 ml Elektrolytlösung »im Schuss« laufen, dann 500 ml Hydroxyethylstärke. Sie legt einen zweiten Venenzugang, über den Blut für das Notfalllabor und die Kreuzprobe abgenommen wird. Sylvia liegt auf dem OP-Tisch. Sie sieht die OP-Lampe, die sie sonst geblendet hätte, nur noch verschwommen, sie schwitzt; es soll nun endlich alles schnell vorbei sein.

45 3.1 · Falldarstellung

Oberarzt Dr. Herrmann hat sich inzwischen zur manuellen Plazentalösung die langen Handschuhe übergezogen. »Ich mache noch einen Lösungsversuch mit dem Credé-Handgriff, bevor wir starten!«, ruft er der Anästhesistin zu und schaut auf die Uhr im OP, es ist 7:10 Uhr! Der Credé-Handgriff gelingt, die Plazenta löst sich, gefolgt von einem Schwall Blut und Koagel (volle Nierenschale); die Anästhesistin infundiert weitere 500 ml Elektrolytlösung mit 30 mE Oxytocin. Der Uterus ist nun gut tonisiert, Fundusstand am Nabel, keine Blutung. Der Blutdruck beträgt 90/55  mmHg, der Puls liegt bei 110/min.

3.1.2

Liegt eine postpartale Blutung vor? Wie hoch schätzen Sie den bisherigen Blutverlust ein?

Die durchblutete Moltex-Vorlage ergibt einen Blutverlust (BV) von ca. 250 ml, die fast volle Nierenschale von 400–500 ml, bei der darauffolgenden Blutung mit Koagel-Abgang ist der Blutverlust unbekannt, nach dem Credé-Handgriff und der Plazentalösung beträgt der Blutverlust nochmals ca. 500 ml (volle Nierenschale, . Abb. 3.1). Insgesamt dürfte Sylvia zu diesem Zeitpunkt mehr als 1200 ml Blut verloren haben.

PPH – Definitionen Die WHO definiert, unabhängig vom Geburtsmodus, eine PPH bei einem Blutverlust > 500 ml innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Geburt und einen Blutverlust ≥ 1000 ml als schwere PPH. Im deutschsprachigen Raum wird mehrheitlich ein Blutverlust ≥ 500 ml nach vaginaler Geburt und von ≥ 1000 ml nach Sectio caesarea als PPH definiert. Kritikpunkte an diesen Definitionen sind u. a.: 1. Der Blutverlust wird meist nicht gemessen und bei visueller Beurteilung um 30–50% unterschätzt; dabei gilt: je höher der Blutverlust, umso größer ist das Ausmaß der Unterschätzung. Beispielsweise schätzen bei einem Blutverlust > 1000 ml nur 19% des geburtshilflichen/anästhesiologischen Teams diesen korrekt ein. Im vorliegenden Fall wurde der Blutverlust weder gemessen noch richtig eingeschätzt.

3

2. Es ist daher zu fordern, entweder z. B. durch bildliche Algorithmen (. Abb. 3.1) oder Simulationstraining (teaching tools) das geburtshilfliche Personal zu schulen, den Blutverlust präzise einzuschätzen oder den Blutverlust, zumindest bei Einsetzen einer verstärkten Blutung in der Nachgeburtsperiode, zu messen (z. B. kalibrierte Blutauffangbeutel, Plazentaschale unter das Gesäß der Schwangeren, Blut sammeln und in einem kalibrierten Gefäß die Blutmenge messen). 3. In jeder Klinik sollte daher geprüft werden, mit welcher Methode der Blutverlust nach der Geburt am besten gemessen werden kann. Bei der Sectio caesarea sollte nach Absaugen von Fruchtwasser/Desinfektionslösung das Kalibrierungsgefäß auf 0 gestellt und anschließend der Blutverlust im Sauger gemessen werden, das Wiegen von Operationstüchern/-tupfern usw. ist hilfreich, um den Blutverlust zu präzisieren. 4. Die Definition berücksichtigt nicht die kreislaufrelevante Dynamik des Blutverlusts (Cave: Uterusdurchblutung am Termin 600–800 ml/ min) und die klinischen Zeichen des Volumenmangelschocks. Es leuchtet ein, dass ein Blutverlust von 500 ml innerhalb von 5 min eine völlig andere Relevanz für die mütterliche Hämodynamik aufweist als ein Blutverlust von 500 ml z. B. über 5 h oder mehr. > Bezogen auf den beschriebenen Fall lag also nach der Plazentalösung gemäß der WHO-Definition eine schwere PPH vor!

3.1.3

Wie schätzen Sie die klinischhämodynamische Situation der Schwangeren ein?

Orientierungshilfen liefern der klinische Zustand der Schwangeren sowie der Verlauf von Blutdruck und Herzfrequenz. Vor und während der Geburt unterschritt bei Sylvia der Blutdruck nicht Werte von 120/80 mmHg, die Herzfrequenz lag bei 70–80/min. Während der Nachgeburtsperiode wurden Blutdruckwerte von 90/70 mmHg sowie 90/60 mmHg gemessen, die Herzfrequenz lag bei 110/min. Hypotonie, Tachykardie und Schwächegefühl, Schwitzen und

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

46

3 Binde (30 ml)

Binde (100 ml)

Kleiner Tupfer 10 x 10 (60 ml)

Moltex-Vorlage (250 ml)

Großer Tupfer 45 x 45 (350 ml)

1m Blutlache auf dem Boden (1500 ml)

Blut auf dem Bett (1000 ml)

Blut auf Bett und Boden (1000 ml)

Nierenschale (500 ml)

a

b . Abb. 3.1  Adäquate Beurteilung des Blutverlusts. a Teaching and training des Personals mit bildlichen Algorithmen (im Kreißsaal verfügbar) b Möglichkeit zur Messung des Blutverlusts (Mod. nach Bose et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung)

47 3.1 · Falldarstellung

3

leichte Somnolenz wiesen bei Sylvia zu diesem Zeitpunkt bereits auf einen noch kompensierten hypovolämischen Schock hin. Wird der obstetric shock index, ein an die physiologischen Schwangerschaftsveränderungen adaptierer Schockindex (Herzfrequenz/systolischer Blutdruck: Norm 0,7–0,9) zugrunde gelegt, so bestand bereits ein hypovolämischer Schock; ein obstetric shock index ≥ 1 gilt als prädiktiv für die Notwendigkeit von Bluttransfusionen. Aufgrund der schwangerschaftsinduzierten Erhöhung des zirkulären Blutvolumens (ca. 9% des Körpergewichts einer Schwangeren) kann eine gesunde, normovolämische Schwangere einen Blutverlust von bis zu 1,5 l (20–25% des zirkulierenden Blutvolumens) ohne Zeichen der hämodynamischen Instabilität tolerieren (. Tab. 3.2). Dies gilt nicht für Schwangere mit Anämie, die eine deutlich niedrigere Toleranzgrenze aufweisen

und Geburtshelfer plötzlich und unerwartet rasch in einen dekompensierten Zustand mit hypovolämischem (hämorrhagischem) Schock und Gerinnungsstörung übergehen kann. Nach thrombelastographischen Untersuchungen muss ab einem Blutverlust ≥ 2000 ml mit einer Störung der Blutgerinnung gerechnet werden. Blutverluste > 40% des zirkulierenden Blutvolumens, also ab ca. 2,8 l, gelten unbehandelt als lebensbedrohlich. Bei anhaltendem Blutverlust kommt es zunächst zu einem Anstieg der Herzfrequenz und anschließend zu einem Abfall des systolischen Blutdrucks, der diastolische Blutdruck wird durch die Arteriolenkonstriktion in dieser Situation zunächst meist aufrechterhalten.

> Es gibt in Deutschland eine zunehmende Zahl an Migrantinnen mit präexistenter Anämie.

Es ist daher unerlässlich, bei der Diagnosestellung PPH durch konsequente Überwachung der Vitalparameter (v. a. Blutdruck, Puls und Atmung) das Ausmaß des (oft unterschätzten/okkulten) Blutverlusts klinisch (hämodynamisch) richtig einzuschätzen und die Entwicklung eines blutungsbedingten Volumenmangelschocks rechtzeitig zu erkennen (. Tab. 3.2).

Infolge der Unterschätzung des Blutverlusts wird dieser kritische Bereich häufig nicht rechtzeitig erkannt mit der Konsequenz, dass bei fortbestehender Blutung der noch kompensierte Zustand der Mutter für Hebamme

! Cave Physiologische Schwangerschaftstachykardie bis 100/min!

. Tab. 3.2  Blutverlust und hämorrhagischer Schock. (Mod. nach Bonnar 2000) Reduktion des Blutvolumensa (%)

Blutverlust (ml)

Blutdruck

Klinik

Grad des Schocks

Bewertung

10–15

500–1000

Normal

Palpitationen, Schwindel, Tachykardie oder keine Symptome

Kompensiert

Erhöhte Aufmerksamkeit

15–25

> 1000–1500

Leichter Abfall

Schwäche, Schwitzen, Tachykardie: oft keine Symptome

Leicht → noch kompensiert

Handlungsbedarf

70–80 mmHg

Tachypnoe, Oligurie

Mittel

! Achtung !

25–35

> 1500–2000

Kaltschweißige Extremitäten 35–45

> 2000 ml

50–70 mmHg

Luftnot, Anurie

Dekompensation Schwer

Cave: Nicht nur den Blutverlust, sondern immer auch die Klinik beachten – signs and symptoms! a Blutvolumen einer Schwangeren: ~ 9% des Körpergewichts.



3

48

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

3.1.4

Wie interpretieren Sie diese Laborwerte unter Berücksichtigung der klinischen Situation?

So geht es weiter … Nach der erschwerten Lösung inspizieren Ärzte und Hebammen gemeinsam die Plazenta. »Vollständig«, ruft Hebamme Claudia erleichtert. Oberarzt Dr. Herrmann führt dennoch sicherheitshalber eine sonographische Untersuchung des Uterus durch, die keinen sicheren Anhalt für Plazentareste in utero ergibt. Assistenzarzt Dr. Markus hat inzwischen die Episiotomie versorgt, zusätzliche geburtshilfliche Verletzungen bestehen nicht. Er schaut auf die Uhr. »Wo bleibt das Notfalllabor?« Es sind ca. 40 min seit der Blutentnahme vergangen. Oberärztin Dr. Barbara und Oberarzt Dr. Herrmann vereinbaren, Sylvia in der Kreißsaal-Überwachung engmaschig zu kontrollieren und sie nicht auf die AnästhesieWachstation zu verlegen. Sylvia liegt völlig erschöpft, aber ansprechbar in ihrem Bett, am rechten Arm eine Blutdruckmanschette, am linken läuft über den Venenzugang noch die »Restinfusion« mit 30  mE Oxytocin, die aber jetzt schon fast leer ist. Hebamme Claudia notiert in den inzwischen angelegten Kreislaufbogen: 7:50 Uhr Patientin wach, blass, ansprechbar, keine vaginale Blutung, Fundusstand am Nabel, fest, Blutdruck 95/70 mmHg, Puls 105/min Oberarzt Dr. Herrmann und Frau Dr. Barbara verlassen nach dieser Information den Kreißsaal; Assistenzarzt Dr. Markus muss sich um eine andere Schwangere kümmern, die soeben mit hohem Blutdruck im Kreißsaal aufgenommen wurde. 7:55 Uhr Hebamme Claudia ist nervös, soeben kam es zu einer erneuten schwallartigen Blutung mit Koagel-Abgang, sie tastet den Fundus: 4 Querfinger oberhalb des Nabels. Sylvia klagt über Schwindel und starkes Herzklopfen. Als die Hebamme noch einmal den Blutdruck messen will, klingelt das Telefon, und das Notfalllabor wird mit folgenden Werten durchgegeben: – Hämoglobin: 6,3 mmol/l – Quick: 80% – aPTT im Normbereich – Fibrinogen: 1,8 g/l – Elektrolyte im Normbereich Claudia verständigt unverzüglich Assistenzarzt Dr. Markus mit den Worten »Es hat wieder angefangen, im Schwall zu bluten, das Notfalllabor ist angekommen, das Hämoglobin ist noch ganz gut.«

Sylvia hatte bei Aufnahme einen Hb-Spiegel von 7,7 mmol/l, der dann unmittelbar vor der geplanten manuellen Lösung bei 6,3 mmol/l lag. Seit dieser Blutentnahme waren mehr als 50 min vergangen. In der Initialphase des Schocks infolge einer akuten schweren Blutung können Hämoglobin- und Hämatokrit-Werte noch im Normbereich oder nur geringfügig abgefallen sein, da es im Rahmen akuter Blutungen durch den gleichzeitigen Verlust von zellulären Bestandteilen und von Plasmavolumen erst zu einem Abfall von Hämoglobin und Hämatokrit kommt, nachdem Flüssigkeit dem interstitiellen Raum zugunsten des intravasalen Plasmavolumens entzogen wurde. Die Veränderungen von Hämoglobin und Hämatokrit sollten daher stets im Verlauf und im Zusammenhang mit dem klinischen Bild/der hämodynamischen Situation und der Volumensubstitution beurteilt werden; nach einem akuten Blutverlust kommt es meist erst nach ≥ 4 h zu einem deutlichen Abfall von Hämoglobin und Hämatokrit, daher sind Verlaufsuntersuchungen immer erforderlich. > Ein einmaliger Hämoglobinwert sagt über den akuten Blutverlust wenig aus.

Konventionelle Gerinnungsanalysen wie die Bestimmung des Quick-Werts oder der aPTT bleiben häufig bis zu einem Blutverlust von bis zu 5000 ml im Normbereich und spiegeln nicht aktuelle Gerinnungssituationen wider, hinzu kommt, dass die Ergebnisse dieser Gerinnungsanalysen – wie im vorliegenden Fall – i. Allg. erst 45–60 min oder später (abhängig von der internen Logistik) vorliegen. In den meisten Krankenhäusern steht bisher die Methode der Rotationsthrombelastometrie (ROTEM) noch nicht zur Verfügung, die als Pointof-care-Methode innerhalb von 10–12 min eine rasche und zuverlässige Erkennung und Differenzierung der Gerinnungsstörung ermöglicht und wegweisend für die Behandlung der vorliegenden Koagulopathie ist. Von praxisrelevanter Bedeutung für den Geburtshelfer ist, dass es ausweislich von ROTEM-Analysen bereits in der Frühphase einer anhaltenden PPH zu einer Hyperfibrinolyse kommt, die mit den konventionellen Gerinnungstesten nicht nachweisbar ist. Bei persistierender PPH – wie im vorliegenden Fall – entwickelt sich durch den massiven Verbrauch an Gerinnungsfaktoren in Verbindung mit einer häufig unbilanzierten

49 3.1 · Falldarstellung

Volumenzufuhr (Verdünnung des Hämostasepotenzials) eine Koagulopathie: Verlust-/Verdünnungskoagulopathie oder traumatische Koagulopathie. Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang kommt dem Fibrinogen zu, welches unverzichtbarer Bestandteil des Notfalllabors in der Geburtshilfe sein sollte (. Abb. 3.2). Fibrinogen ist als wichtigstes Substrat der plasmatischen Gerinnung für die Bildung eines stabilen Fibringerinnsels und für die Thrombozytenaggregation unerlässlich. Für eine optimale Gerinnselbildung ist eine Fibrinogenkonzentration von mindestens 2–2,5 g/l erforderlich. In der normalen Schwangerschaft sind die Fibrinogenspiegel auf im Mittel 4,5–5 g/l erhöht. Bei einer persistierenden PPH kommt es noch vor pathologischen Veränderungen globaler Gerinnungsparameter zu einem rapiden Abfall des Fibrinogens durch den Blutverlust. Bei einer Fibrinogenkonzentration von 2–3 g/l ist das Risiko für eine schwere PPH um das 2-Fache, bei einer Konzentration < 2 g/l sogar um das 12-Fache erhöht; derartig erniedrigte Fibrinogenspiegel sind prädiktiv für die Notwendigkeit von Bluttransfusionen und von zusätzlichen interventionellen Maßnahmen (z. B. selektive Katheterembolisierung, arterielle Ligaturen, Hysterektomie).

3

Unter diesen Gesichtspunkten musste im vorliegenden Fall dem Fibrinogenspiegel von 1,8 g/l (bei normalen Ausgangswerten vor der Geburt) besondere klinische Relevanz beigemessen werden. So geht es weiter … 8:00 Uhr

8:10 Uhr

8:15 Uhr

Assistenzarzt Dr. Markus bestätigt den Befund der Hebamme; es werden 500 ml physiologische Kochsalzlösung mit 10 mE Oxytocin gegeben, zusätzlich 500 ml Hydroxyethylstärke, Blutdruck 85/50 mmHg, Puls 130/min. Erneute schwallartige vaginale Blutung mit Koagel-Abgang, Dr. Markus informiert seinen Oberarzt und lässt auf dessen Anordnung Erythrozytenkonzentrate eilig in den Kreißsaal bestellen, zusätzlich wird Blut für ein weiteres Notfalllabor abgenommen; Katheterisierung der Blase, es fließen 80 ml trüben Urins ab, der Uterus ist jetzt besser tonisiert, Blutdruck 90/50 mmHg, Puls 125/min. »Geben Sie der Patientin 4 Tabletten (800 µg) Cytotec rektal!« ordnet Oberarzt Dr. Herrmann an, während er den Fundus tastet, der wieder 2 Querfinger oberhalb des Nabels steht. Der Oberarzt exprimiert den Uterus mittels Credé-Handgriff und massiert den Fundus.

Ursachen: Uterusatonie, Plazentationsstörungen, Traumata Pathogenese:

+

+

Fibrinogen:

Massiver Blutverlust: Verlust an Gerinnungsfaktoren (Thrombozyten)

Schwangere Ĺ: ca. 5 g/l

Volumenzufuhr: Verdünnung kolloide (z. B. HES) Störung der

Blutung

Fibrinpolymerisierung Postpartale traumainduzierte Hyperfibrinolyse (max.: 3 h post partum)

»Erschöpfung« des Hämostasepotenzials (Fibrinogen ĻĻ),

klinisch: profuse Blutungen hämorrhagischer Schock

Fibrinogen Ļ korreliert mit Blutverlust

2 g/l

Kritische Grenze schwere PPH Ĺ

≤ 1 g/l

Kein stabiles Fibringerinnsel

≤ 0,5 g/l

Keine Gerinnung

Erst spät: Thrombozyten Ļ

. Abb. 3.2  Häufigste Gerinnungsstörung in der Geburtshilfe: Verlust-(Verdünnungs-)Koagulopathie (primär traumatische Blutung)

3

50

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

3.1.5

Welche Diagnose müssen Sie spätestens jetzt stellen oder besser bereits früher gestellt haben?

Es liegt eine massive Uterusatonie (atonische Nachblutung) vor! Klinische Zeichen sind die intermittierenden, schwallartigen Blutungen mit Koagel-Abgang, der weiche, schlaffe Uterus und das Hochsteigen des Fundus uteri, was dadurch zustande kommt, dass sich im Cavum uteri bis zu 1 l Blut sammeln können. ! Cave Aufgrund des Blutverlusts in das Cavum uteri kann eine Diskrepanz zwischen der Blutung nach außen und den klinischen Zeichen eines Volumenmangelschocks bestehen! > Vor allem nach vaginal-operativen Entbindungen, verlängerter Austreibungsperiode und großem Kind treten gelegentlich isolierte Atonien des unteren Uterinsegments auf. In diesem Fall ist der Fundus uteri häufig gut tonisiert, aber es bestehen profuse Blutungen aus einem schlaffen, »lappigen“ unteren Uterinsegment (Vorgehen: bimanuelle Kompression und Massieren des unteren Uterinsegments, hochdosierte Uterotonika-Gabe, 7 Abschn. 3.1.6). Diese Situation lag im vorliegenden Fall nicht vor. Differenzialdiagnose  Geburtstraumatisch bedingte Rissblutungen manifestieren sich meist als kontinuierliche Blutung nach der Geburt des Kindes. ! Cave Uterusatonie und Rissblutungen können zusammen auftreten!

Plazentareste, die nach Ausstoßen der Plazenta zu einer verstärkten Blutung führen können, insbesondere bei erschwerter Plazentalösung, lassen sich durch die sorgfältige Inspektion der Plazenta (»4 Augen sehen mehr als 2 Augen«, daher Kontrolle durch Hebamme und Geburtshelfer) weitgehend ausschließen. Bei am Rand der Plazenta abrupt abbrechenden Gefäßen ist auch an eine Nebenplazenta als Blutungsursache zu denken! Der direkte sonographische Nachweis eines

Plazentarests kann unmittelbar post partum schwierig sein, wenn sich Koagel, flüssiges Blut und Eihäute im Cavum uteri gesammelt haben. 3.1.6

Welche Maßnahmen sind zur Behandlung der Uterusatonie notwendig?

Um einen initial hohen Blutverlust zu vermeiden, sind das Halten und die Expression des Uterus (nur ein entleertes Organ kann sich kontrahieren) und v. a. die konsequente bimanuelle Kompression die wichtigsten Erstmaßnahmen (. Abb. 3.3). Durch das Reiben des Uterus zwischen der äußeren und der inneren Hand werden kontraktionsfördernde endogene Prostaglandine freigesetzt. Während diese mechanischen Maßnahmen beibehalten werden, sollten unverzüglich Uterotonika gegeben werden:

Oxytocin 3–5 mE Oxytocin in 10 ml physiologischer Kochsalzlösung langsam intravenös geben, gefolgt von 10–40 mE Oxytocin in 500–1000 ml Ringer-Laktat als Infusion, Dosierung abhängig von uteriner Wirkung (Wirkungseintritt innerhalb von 1 min). ! Cave Keine intravenöse Bolus-Applikation von Oxytocin → passagerer Blutdruckabfall, Reflextachykardie, Erhöhung des ­Herzminutenvolumens → erhöhtes Risiko bei kardial vorbelasteten Schwangeren.

Methylergometrin Methylergometrin (Methergin): zugelassene Dosis intravenös 0,1 mg (entspricht einer halben Ampulle: 0,5 ml) oder intramuskulär: 0,2 mg (1 ml). Nach der AWMF-Leitlinie 015/063 sollte Methergin nur »mit äußerster Vorsicht« gegeben werden, keinesfalls als Bolus-Applikation, da dieses Sekale-Präparat zu schweren Vasospasmen (Koronarspasmus, Herzrhythmusstörung, Myokardinfarkt) mit Todesfolge führen kann. Die zahlreichen Kontraindikationen von Methylergometrin sind zu beachten: u. a. Hypertonie, nach Präeklampsie, ischämische Gefäßerkrankungen, Migräne.

51 3.1 · Falldarstellung

Mechanische Maßnahmen Harnblase entleeren Expression, Halten und Reiben des Uterus

CredéHandgriff

Bimanuelle Kompression des Uterus

Handgriff nach Hamilton

Medikamentöse Therapie

3

Uterotonika

3-5 I.E. Oxytocin in 10 ml 0,9% NaCl langsam intravenös + 10-40 I.E. Oxytocin in 500-1000 ml Ringer-Laktat als Infusion: Dosis abhängig von uteriner Wirkung Keine effektive Uterus-Tonisierung/ Reduktion der Blutung Sulproston: 500 µg = 1 Amp. in 500 ml Elektrolyte 100 ml/h bis maximal 500 ml/h abhängig von uteriner Wirkung Tagesmaximaldosis: 1500 µg Misoprostol: z. B. 800 µg sublingual (rektal) bei Kontraindikationen gegen Sulproston/nicht verfügbar

. Abb. 3.3  Vorgehen bei Uterusatonie: Risikofaktoren antizipieren – rasche klinische Diagnose. (Mod. nach Rath et al. 2010, mit freundlicher Genehmigung)

Sulproston Falls Oxytocin nicht zu einer palpablen Uterustonisierung mit Blutungsreduktion führt, sollte mit der intravenösen Applikation des PGE2-Analogons Sulproston (Nalador) nicht gezögert werden: 1 Ampulle = 500 µg in 500 ml Elektrolytlösung über Infusomat: Anfangsdosierung 100 ml/h bis maximal 500 ml/h, Maximaldosis: 1000 µg/10 h, Tagesmaximaldosis: 1500 µg. Sulproston intravenös wirkt innerhalb von 1 min. Bei Sistieren der Blutung sollte die SulprostonInfusion nicht gestoppt werden! Um Spätatonien zu vermeiden, ist eine Erhaltungsdosis von 100 ml/h bis zu 24 h erforderlich. > Die intramuskuläre oder intramyometriale Anwendung von Sulproston ist heute kontraindiziert. Weitere wichtige Kontraindikationen   sind u. a. Asthma bronchiale, spastische Bronchitis, schwere Hypertonie/Präeklampsie, kardiovaskuläre Erkrankungen.

Effizienz  85–92%, Versager sind i. Allg. auf eine

zu späte oder inadäquat dosierte Anwendung, eine manifeste Koagulopathie oder einen septischen Uterus zurückzuführen. Schwere kardiovaskuläre oder respiratorische Nebenwirkungen (z. B. schwere Hypotension, Lungenödem) sind selten (0,3–0,5%), die Gesamtnebenwirkungsrate beträgt 3,7%.

! Cave Erhöhtes Risiko für Lungenödem (Bronchokonstriktion), insbesondere bei Volumenüberlastung und prädisponierenden Faktoren: z. B. Mehrlinge, Präeklampsie, vorherige Tokolyse mit β-Mimetika, hoher Blutverlust mit Gabe von GFP/Erythrozytenkonzentraten → daher Empfehlung: pulsoxymetrische Überwachung während der Sulproston-Gabe.

Misoprostol Die in Deutschland häufig praktizierte rektale Applikation von 800–1000 µg Misoprostol (Cytotec, offlabel use) ist keine geeignete Maßnahme in der

52

3

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

First-line-Therapie, da ausweislich von pharmakokinetischen Untersuchungen mit maximalen Plasmaspiegeln frühestens nach 40 min gerechnet werden kann. Die WHO empfiehlt die sublinguale Gabe von 800 µg Misoprostol (Wirkungsbeginn nach 8–12 min); Misoprostol ist nicht wirksamer als Oxytocin, weist aber eine signifikant höhere Rate an Nebenwirkungen auf (u. a. Fieber, Zittern). Misoprostol ist dann eine lebensrettende Option, wenn Oxytocin oder Sulproston nicht zur Verfügung stehen, kein Venenzugang vorhanden ist, oder bei Kontraindikationen von Sulproston (s. oben). Die sequenzielle Anwendung von Oxytocin und Misoprostol bei persistierender PPH ist bisher nicht in Studien geprüft.

8:55 Uhr

So geht es weiter … 8:35 Uhr

8:40 Uhr

8:47 Uhr

Erneute überregelstarke Blutung, eher flüssig, wenig Koagel, Blutdruck 83/43 mmHg, Puls 140/min, Sylvia schläft »Wir müssen sofort Sulproston (Nalador) intravenös geben! Hebamme Claudia, machen Sie eine Infusion mit 500 ml physiologischer Kochsalzlösung und 1 Ampulle (500 µg) Nalador fertig«, ordnet Oberarzt Dr. Herrmann an. Kurz darauf wird Nalador über Infusomat in einer Dosierung von zunächst 150 ml/h verabreicht. »Sollen wir nicht doch sicherheitshalber noch eine Kürettage durchführen, vielleicht sind noch Plazentareste im Uterus?«, fragt Assistenzarzt Dr. Markus seinen Oberarzt. »Die Plazenta war vollständig, der Ultraschall ohne Hinweis auf einen Plazentarest, die Kürettage könnte die Blutung noch weiter verstärken«, antwortet Oberarzt Dr. Herrmann und fügt hinzu »Wenn Nalador nicht zum Erfolgt führt, sollten wir die Patientin auf eine Hysterektomie vorbereiten, informieren Sie Oberärztin Dr. Barbara!« Sylvia ist aufgewacht, sie ist blass, schwitzt, hat Atemnot und Angst, insbesondere als Assistenzarzt Dr. Markus sie und ihren Mann über eine mögliche Gebärmutterentfernung aufklärt. Hebamme Claudia misst inzwischen den Blutdruck: 80/40 mmHg, Puls 140/min. In diesem Augenblick klingelt das Telefon, das Notfalllabor ist da: Quick 60%, aPTT 80 s, Hb 4,2 mmol/l, Fibrinogen 0,9 g/l, Thrombozyten 70 G/l. »Sind denn die Erythrozytenkonzentrate noch nicht da? Haben Sie auch gefrorenes Frischplasma geordert?«, fragt Oberarzt Dr. Herrmann ungeduldig Assistenzarzt Dr. Markus. Es blutet weiter, die Nalador-Infusion wird auf 250 ml/h gesteigert; gerade werden vom Transportdienst die ersten beiden Erythrozytenkonzentrate gebracht, die jetzt eilig vorbereitet werden.

9:10 Uhr

9:25 Uhr

Dr. Markus gibt das erste Erythrozytenkonzentrat. Inzwischen ist auch Oberärztin Dr. Barbara aus der Anästhesie wieder im Kreißsaal eingetroffen und hat sich rasch ein Bild von der klinischen Situation gemacht. »Wir brauchen dringend mehr Erythrozytenkonzentrate und gefrorenes Frischplasma!«, ruft sie dem Anästhesiepfleger zu. »Haben sie schon Tranexamsäure (Cyclokapron) gegeben?«, fragt sie. Assistenzarzt Dr. Markus schüttelt den Kopf: »Haben wir noch nicht!« Sylvia ist inzwischen nicht mehr ansprechbar, kaltschweißig, Blutdruck 70/35 mmHg, Puls 144/min. Die Anästhesistin legt eilig einen zentralen Venenzugang (ZVK), appliziert über den bisherigen Venenzugang 1 Ampulle Akrinor und dann langsam 2 g Tranexamsäure, über den ZVK weiteres Volumen. Dann richtet sie sich an Oberarzt Dr. Herrmann mit der Frage »Haben sie Fibrinogenkonzentrat im Kreißsaal?« »Ja, kommt sofort«, antwortet Dr. Herrmann, »Hebamme Claudia ist schon unterwegs, Fibrinogenkonzentrat ist im Kreißsaal vorhanden.« Kurz darauf erhält Sylvia intravenös 4 g Fibrinogenkonzentrat. Das erste Erythrozytenkonzentrat ist durchgelaufen, das zweite Erythrozytenkonzentrat wird nun angehängt; in dem inzwischen gelegten Blasenkatheter läuft kein Urin ab. Es blutet weiter! Der Fundus uteri tastet sich 2 Querfinger oberhalb des Nabels, gut tonisiert. Der sonst so ruhige Oberarzt Dr. Herrmann wird langsam nervös. »Ich muss mit dem Chef telefonieren und mit ihm die Situation besprechen, jetzt gleich, ich fürchte, wir müssen hysterektomieren, für etwas anderes bleibt keine Zeit mehr.« Auch die Oberärztin der Anästhesie drängt, da es trotz der inzwischen maximalen Nalador-Dosis weiter blutet und der Kreislauf von Sylvia nur schwer zu stabilisieren ist: Blutdruck jetzt nach Volumengabe und Erythrozyten 100/54 mmHg, Puls 144/min. Inzwischen wird GFP, welches gerade aus der Blutbank gekommen ist, aufgetaut. »Wie lange dauert es noch, bis wir GFP geben können?«, erkundigt sich Dr. Markus bei der Anästhesistin. »Ich denke, so 20 Minuten«, kommt als Antwort. Oberarzt Dr. Herrmann erreicht den Chefarzt und schildert ihm die Situation: »Haben Sie eine Ballontamponade mit dem Bakri-Ballon versucht?«, fragt der Chefarzt. »Nein, nach meiner Meinung ist dafür keine Zeit mehr, die Patientin ist inzwischen kreislaufinstabil!« »Hat die Patientin noch Kinderwunsch?«, erkundigt sich der Chefarzt. »Soweit ich weiß, nicht!« »Na, dann machen Sie jetzt gleich die Hysterektomie – lieber früher als später!«, antwortet der Chefarzt, nicht ohne das Gefühl zu haben, dass es schon ziemlich »spät« ist.

53 3.1 · Falldarstellung

9:30 Uhr

9:40 Uhr 9:50 Uhr

9:53 Uhr

3.1.7

Oberärztin Dr. Barbara und ihr Team haben alle Hände voll zu tun, erneute Blutabnahme für das Labor, Volumensubstitution, nochmalige Gabe von Akrinor; nun wird auch die erste Einheit GFP appliziert und das vierte Erythrozytenkonzentrat. Hebamme Claudia konstatiert: »Nur 10 ml Urin im Urimeterglas, seit 2 Stunden gelaufen!« Der Anästhesiepfleger fordert weitere Erythrozytenkonzentrate, gefrorenes Frischplasma und Thrombozytenkonzentrate als Notfall in der Blutbank an. Assistenzarzt Dr. Markus hat das Operationsteam informiert, alle haben es jetzt sehr eilig! Sylvia ist im Operationssaal, sie ist wach, aber kaltschweißig, sie zittert und hat Schmerzen. Hebamme Claudia tastet den Fundus, er ist hart, steht am Nabel, ein weiterer Anästhesist ist im OP anwesend. Oberärztin Dr. Barbara beginnt mit der Intubationsnarkose.

Welche uteruserhaltenden Optionen stehen bei Versagen der medikamentösen Therapie grundsätzlich zur Verfügung? Welches sind die Indikationen für eine peripartale Hysterektomie?

> Bei auf Uterotonika refraktärer PPH sind unverzüglich weitere Maßnahmen zur Blutstillung erforderlich (. Abb. 3.4), die nicht zu spät getroffen werden sollten!

Die erste und einfachste Maßnahme ist die Ballontamponade des Uterus mit dem Bakri- oder dem ebbBallon, die in 76–88% der Fälle zu einer definitiven Blutstillung führt, oder mit der als sog. Bridging-Verfahren Zeit für die hämodynamische Stabilisierung der Patientin und/oder die Organisation weiterer operativer oder interventionell-radiologischer Maßnahmen (selektive Katheterembolisierung) gewonnen wird. Als Indikationen für die BallonkatheterEinlage gelten die Uterusatonie, wie im vorliegenden Fall, die tief sitzende Plazenta/Placenta praevia sowie die Placenta praevia-accreta. Falls keine Blutstillung mit dem Ballonkatheter erreicht wird (»negativer Tamponadetest«), müssen unverzüglich weitergehende operative oder interventionell-radiologische Maßnahmen ergriffen werden. Der Ballonkatheter

3

ist auch bei Sectio caesarea oder im Zusammenhang mit Uteruskompressionsnähten (uterine sandwich) anwendbar. Der frühzeitige Einsatz des Ballonkatheters (ab Blutverlust > 1000 ml) senkt bei therapierefraktärer Blutung die Notwendigkeit zu Bluttransfusionen und zur Hysterektomie. Versagt die Cavum-Tamponade, so sind bei Uterusatonie und Blutungen aus der Plazentahaftfläche (z. B. Placenta praevia) Uteruskompressionsnähte (z. B. B-Lynch-Naht) bzw. -Vereinigungsnähte (Vierecksnaht nach Cho) meist im Zusammenhang mit einer Sectio caesarea indiziert (Erfolgsrate 85–96%). Nach der AWMF-Leitlinie 015/063 sollte jede geburtshilfliche Abteilung zumindest über eine derartige Nahttechnik verfügen (z. B. bildlicher Algorithmus oder »Kochrezept« im Kreißsaal verfügbar); entsprechendes Nahtmaterial (große Nadel, langer Faden) müssen griffbereit vorgehalten werden. Arterielle Ligaturen (z. B. bilaterale Ligaturen der Aa. uterinae/Aa. iliacae internae) eignen sich zur Blutstillung bei Verletzungen/Blutungen aus Ästen der A. uterina (Erfolgsrate 84–93%), die selektive Katheterembolisierung der Aa. uterinae ist bei diffusen Blutungen v. a. infolge Plazentaimplantationsstörungen und komplexer geburtshilflicher Traumata (Erfolgsrate 65–100%) indiziert. Allerdings setzt diese Technik die Verfügbarkeit eines in dieser Methode versierten interventionellen Radiologen einschließlich einer adäquaten Logistik voraus. > Diese fertilitätserhaltenden Verfahren sind nur so lange indiziert, wie die Schwangere hämodynamisch noch stabil ist und keine lebensbedrohliche Blutung besteht.

Im vorliegenden Fall war die Patientin bereits kreislaufinstabil und wies zudem eine Gerinnungsstörung auf, sodass eine Hysterektomie zur definitiven Blutstillung unumgänglich war. Die Indikationen zur peripartalen Hysterektomie sind v. a.: ausgedehnte Plazentaimplantationsstörungen, nichtrekonstruierbare Uterusverletzungen (komplexe Uterusruptur), der septische Uterus und durch konservative medikamentöse/chirurgische Maßnahmen nicht beherrschbare Blutungen. Die heute immer noch hohe mütterliche Letalität

54

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

1.

Uteruskompressions-/Vereinigungsnähte z. B. B-Lynch Uterusatonie – Blutungen aus Plazentahaftfläche z. B. Placenta praevia

3

2.

Erfolgsrate: 85-96%

Arterielle Ligaturen z. B. bilateral Aa. uterinae Aa. iliaca internae

Erfolgsrate: 84-93%

Verletzung/Blutung aus Uterinaästen

3.

Selektive Katheterembolisierung der Aa. uterinae z. B. Plazentaimplantationsstörungen, komplexe Traumata Logistik prüfen! 24-Stunden-Verfügbarkeit Erfolgsrate: 65-100%

4.

»Last exit«: peripartale Hysterektomie z. B. komplexe Uterusruptur, Placenta accreta/increta, septischer Uterus, therapierefraktäre Uterus-Atonie

Morbidität: 35-60%

Mütterl. Letalität: 1-5%

Häufig zu spät: Kreislaufinstabilität/Koagulopathie

. Abb. 3.4  Was tun, wenn es weiter blutet? Second-line-Therapie bei Versagen von Uterotonika

(1–5%) und Morbidität (30–65%) ist v. a. dadurch bedingt, dass die Hysterektomie zu spät durchgeführt wird, nämlich in einer Situation, in der die Schwangere bereits kreislaufinstabil ist und/oder eine manifeste Koagulopathie vorliegt. > Die Indikation zur Hysterektomie sollte rechtzeitig durch einen erfahrenen Geburtshelfer in Abstimmung mit dem Anästhesisten gestellt werden.

Wenn immer möglich, sollte vor einer geplanten Hysterektomie der Kreislauf der Mutter stabilisiert und die Hämostasestörung korrigiert werden. Um Zeit für dieses Vorgehen zu gewinnen und einen weiteren hohen Blutverlust zu vermeiden, kommen als »Überbrückungsmethoden« die Kompression der Aorta (bis zu 20 min möglich) oder die notfallmäßige Blutstillung mit Klemmen (. Abb. 3.5) infrage. Bei Uterusatonie ist der technisch weniger aufwändigen und risikoärmeren suprazervikalen Hysterektomie der Vorzug zu geben, bei

Plazentaimplantationsstörungen ist die totale Hysterektomie erforderlich. So geht es weiter … 9:55 Uhr

Oberarzt Dr. Hermann beginnt mit der Operation. Er ist ein erfahrener Operateur, der diese Operation schon mehrfach durchgeführt hat. Nach Eröffnung des Bauchraums zeigt sich der Uterus gut tonisiert am Nabel, keine Verletzungen, auch kein Blut im Abdomen. Allerdings fällt ihm die diffuse Blutungsneigung aus kleinen Gefäßen auf. Als er gerade mit dem Absetzen des Uterus über Klemmen beginnt, wird er von einem anhaltenden Piepton des Kreislaufmonitors aufgeschreckt: Asystolie! »Sie müssen die Operation kurz unterbrechen, wir müssen reanimieren!«, ruft Oberärztin Dr. Barbara hinter dem Abdecktuch; sie weiß, dass es jetzt auf sie und ihr Team ankommt: kardiopulmonale Reanimation, Volumengabe, Adrenalin … Währenddessen klingelt das Telefon, Anästhesiepfleger Peter nimmt die Laborwerte entgegen: Hämoglobin 4,7 mmol/l, Thrombozyten 50 G/l, Quick 24%, pTT 117 s, Fibrinogen 0,8 g/l, Antithrombin 26%.

55 3.1 · Falldarstellung

3

. Abb. 3.5  Notfallmäßige Blutstillung mit Klemmen. (Aus Rath 2013, mit freundlicher Genehmigung)

a

b

c

9:57 Uhr

3.1.8

»Gott sei Dank!«, entfährt es Oberarzt Dr. Herrmann. Dr. Markus, der assistiert, nickt, ihm fehlen die Worte; er hat eine derartige Notsituation bisher noch nicht erlebt. Die kardiopulmonale Reanimation gelingt schnell, Herzfrequenz und Blutdruck stabilisieren sich in den nächsten Minuten zunehmend, jetzt geht es darum, die Gerinnungsstörung zu beheben. Oberarzt Dr. Herrmann führt die suprazervikale Hysterektomie durch, ohne Probleme, bis auf die erhebliche Blutungsneigung, die einer besonders sorgfältigen Blutstillung bedarf; abschließend legt er noch eine großlumige Drainage in den Douglas-Raum sowie eine subfasziale Redon-Drainage, bevor er das Abdomen verschließt. Die Erleichterung ist dem gesamten Team anzumerken. »Das ist noch einmal gut gegangen, ich informiere jetzt den Chef!«, sagt Dr. Herrmann und tritt vom OP-Tisch ab. Bei stabilen Kreislaufverhältnissen wird Sylvia auf die Anästhesie-Wachstation gebracht.

Welche Maßnahmen treffen Sie zur Prävention und Behandlung der Koagulopathie?

Wichtigste Maßnahmen  Beseitigung der Blutungsursache und rasche interdisziplinäre Kooperation/ Therapie: call for help (. Tab. 3.3).

Steht keine ROTEM zur Verfügung, ist es schwierig, die Hyperfibrinolyse zeitgerecht zu erkennen. Abgeleitet aus der Traumatologie ist die prophylaktische Applikation von Tranexamsäure (Cyklokapron), langsam intravenös appliziert in einer Dosierung von 1–2 g (20–25 mg/kgKG), ein pragmatischer Ansatz (ggf. Wiederholung nach 30 min in gleicher Dosierung → Erhaltungsdosis 1 g/h), ohne dass die Ergebnisse konventioneller Gerinnungstests abgewartet werden sollten. Tranexamsäure wirkt antifibrinolytisch durch Blockade der Lysinbindungsstellen am Plasminogenmolekül. Der Zeitpunkt für den Einsatz von Tranexamsäure ist bisher nicht evidenzbasiert, er empfiehlt sich ab einem Blutverlust von 800–1000 ml oder spätestens dann, wenn Sulproston zur Therapie der schweren PPH notwendig wird (Expertenmeinung). Tranexamsäure ist mit geringen Nebenwirkungen belastet (6–12% gastrointestinale Beschwerden, selten: temporäre Sehstörungen); Vorsicht ist geboten bei Patientinnen mit Thromboembolien in der Anamnese und bekannten hereditären Thrombophilien. Tranexamsäure sollte immer vor Fibrinogenkonzentrat (s. unten) zur Anwendung kommen. Ab einem Blutverlust von 1,5–2 l und persistierender Blutung muss mit der Entwicklung einer Verlust-/Verdünnungskoagulopathie gerechnet werden. In dieser Situation werden i. Allg. Erythrozytenkonzentrate zur Substitution von Sauerstoffträgern

56

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

. Tab. 3.3  Substitutionstherapie der Hämostasestörung (auszugsweise aus AWMF-Leitlinie 015/063) Parameter

Maßnahme

Zielwerte

Kommentar

Hämoglobin

Erythrozytenkonzentrate

Bei massiver Blutung Hk ~ 30%, Hb 4,3–5,6 mmol/l

Notfall:

Fibrinogen > 2 g/l

Fibrinogenkonzentrat → initiale Maßnahme – in Griffnähe

i. Allg. ab BV > 1500 ml und persistierender Blutung notwendig

3 Fibrinogen (Gerinnungsfaktoren)

Fibrinogenkonzentrate 2–4 g i. v. ab BV > 1500 ml +

Rekombinanter Faktor VIIa

Thrombozytenkonzentrate

Initial 90 µg/kgKG

Hämodynamische Instabilität: 2–4 Ek 0 Rh-negativ

GFP muss aufgetaut werden → Zeitverlust ca. 30 min

GFP 20–30 ml/kgKG 1:1 mit Ek geben

Thrombozyten

Keine Kreuzprobe: Hb 3,1–3,7 mmol/l

Komplikationen: z. B. TRALI ≥ 50 G/l

Vor operativer Intervention: > 50 G/l

Bei transfusionspflichtiger Blutung: > 100 G/l

< 20 G/l: Spontanblutung möglich

Blutungsstopp/-reduktion

Ultima Ratio nach Ausschöpfung aller chirurgischen und hämostasestabilisierenden Maßnahmen

BV Blutverlust, Ek Erythrozytenkonzentrat, Hb Hämoglobin, GFP gefrorenes Frischplasma, TRALI transfusion related acute lung injury, Hk Hämatokrit.

erforderlich. Die hämostaseologische Standardtherapie ist die Komponententherapie aus Erythrozytenkonzentraten und GFP (≥ 20–30 ml/kgKG) bei Massivblutungen in einem Verhältnis von 1:1. Im Notfall (keine Kreuzprobe durchgeführt, Hämoglobin 3,1–3,7 mmol/l) sollte an die Gabe von 2–4 ­Erythrozytenkonzentraten der Blutgruppe 0 Rh-­ negativ gedacht werden! Die Nachteile von GFP sind u. a.: Es steht oft nicht zeitgerecht zur Verfügung, muss aufgetaut werden (Dauer ca. 30 min.), es sind große Volumina zur Substitution von Gerinnungsfaktoren und -inhibitoren erforderlich (Cave: Gefahr der Volumenüberlastung/Lungenödem), es kann zu schweren Komplikationen führen (z. B. TRALI: transfusion-related acute lung injury, nichtkardiogenes Lungenödem: Häufigkeit 1:5000 Transfusionen). Darüber hinaus reicht GFP bei massivem Blutverlust zur Aufrechterhaltung eines Fibrinogenspiegels > 2 g/l nicht aus. Es ist daher zu empfehlen, Fibrinogenkonzentrate im Kreißsaal verfügbar zu halten (einfache Lagerung bei Raumtemperatur). Fibrinogenkonzentrate sind sofort verfügbar und einsetzbar, müssen nicht aufgetaut werden und weisen keine transfusionsbedingten Komplikationen auf.

Empfohlene Dosis  2–4 (–8) g; 30–60 mg/kgKG ab einem Blutverlust von 1,5–2 l. Der Gerinnungsstatus muss nicht abgewartet werden. > Bei starkem Blutverlust und Hypovolämie erfolgt häufig bereits initial eine Volumengabe mit Hydroxyethylstärke (HES). HES kann zu einer Störung der Fibrinpolymerisierung und zu einer Beeinträchtigung der Gerinnselfestigkeit führen und damit die Blutungsneigung verstärken. Es ist kontraindiziert u. a. bei eingeschränkter Nierenfunktion, Lungenödem, Hyperhydratation und schwerer Gerinnungsstörung (Rote Hand Brief 2013). Bei Hypovolämie infolge von akutem Blutverlust sollte daher HES in der niedrigsten wirksamen Dosis und so kurz wie möglich nur dann eingesetzt werden, wenn die Gabe von kristalloiden Infusionslösungen alleine nicht ausreicht. Initial erfolgt daher bei schwerer PPH die Volumensubstitution mit 1–1,5 l Elektrolytlösung.

Die schwere PPH ist immer ein interdisziplinärer Notfall! Der Geburtshelfer sollte die initialen

57 3.2 · Fallnachbetrachtung

Maßnahmen zur Kreislaufstabilisierung und Behandlung einer Gerinnungsstörung kennen, zumal in dieser Situation häufig nicht zeitgerecht ein Anästhesist zur Verfügung steht. Bei Anwesenheit des Anästhesisten übernimmt dieser die erforderlichen sowie die weiteren Behandlungsmaßnahmen (z. B. Gabe von Thrombozytenkonzentraten/rekombinantem Faktor VIIa). Das Ende des Falls … Als Sylvia Stunden später mit Schmerzen aufwacht, hat sie keine genaue Erinnerung mehr an die letzten Ereignisse. Oberarzt Dr. Herrmann sitzt an ihrem Bett: »Können wir schon reden?«, fragt er. Sylvia nickt und erkundigt sich als Erstes nach ihrem Sohn. »Dem geht es gut!«, antwortet Oberarzt Dr. Herrmann und erklärt ihr in verständlichen Worten und in Kurzform, was geschah. »Wir werden später noch ausführlicher sprechen«, sagt er, bevor er die Anästhesie-Wachstation verlässt. Sylvia erholt sich erstaunlich rasch, der postoperative Verlauf ist ohne Komplikationen, sie erhält 14 Stunden nach der Operation die erste subkutane Injektion von 5000 E. Dalteparin, die dann im Wochenbett fortgesetzt wird. Als sie auf die Wochenstation kommt und ihren Sohn im Arm hält, hat sie den ersten Schrecken überwunden und freut sich auf zu Hause.

3.2 Fallnachbetrachtung 3.2.1

Welche medizinischen Fehler sehen Sie in dem geschilderten Fall?

Die 10 Kardinalprobleme und ihre Folgen bei (schwerer) PPH 1. Blutverlust nicht gemessen/visuell unterschätzt, z. B. in Tüchern, Tupfer usw. nicht berücksichtigt Folge: verspätete Diagnose und Therapie 2. Verkennung der hämodynamischen Situation, Fehlinterpretation der Kreislaufparameter, der Hämoglobinkonzentration bei einmaliger Messung Folgen: nicht zeitgerechte/inadäquate Volumengabe, (protrahierter)

hypovolämischer Schock, verspätete Gabe von Erythrozytenkonzentraten   3. Ruf nach kompetenter Hilfe (erfahrener Geburtshelfer/Anästhesist) > 10 min nach Diagnose der PPH Folgen: Verzögerung therapeutischer Maßnahmen, zusätzlicher Blutverlust   4. Keine zeitnahe Differenzierung und Beseitigung der Blutungsursache, z.B. manuelle Uteruskompression bei Atonie, manuelle Plazentalösung Folgen: Erhöhung des Blutverlusts → hypovolämischer Schock, Koagulopathie   5. Verspätete oder unzureichende Applikation von Uterotonika, v. a. Umstellung von Oxytocin auf Sulproston, wenn oxytocinrefraktär Folgen: Erhöhung des Blutverlusts, hypovolämischer Schock, Koagulopathie, Notwendigkeit invasiver Maßnahmen   6. Fehlende oder zu späte Prävention und Therapie der Koagulopathie: Hyperfibrinolyse: Tranexamsäure, Verlustkoagulopathie: GFP, Fibrinogenkonzentrat Folgen: Verstärkung des Blutverlustes/der Blutungsneigung → Circulus vitiosus aus Blutverlust/Dilution und Koagulopathie, → »irreversible« Koagulopathie   7. Unterlassung/zu später Einsatz invasiver Maßnahmen (z. B. uterine Ballontamponade/Uteruskompressionsnähte → inadäquate Technik Folge: Notwendigkeit zur Hysterektomie   8. Zu späte Indikation/Durchführung der Hysterektomie Folgen: hypovolämischer Schock, Koagulopathie → schwere mütterliche Morbidität, Verblutungstod   9. Zu späte manuelle Plazentalösung (> 30 min nach der Geburt des Kindes) Folgen: massive Blutung → hypovolämischer Schock, Koagulopathie 10. Unterlassung der medikamentösen Thromboseprophylaxe post partum Folgen: Thromboembolien im Wochenbett (v. a. Lungenembolie)

3

58

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

Defizite: Ausbildung – Infrastruktur – Logistik

3

55Keine leitlinienorientierten, interdisziplinären Handlungsalgorithmen »vor Ort« 55Keine klare Aufgabenverteilung Geburtshelfer/Anästhesist: Kommunikation, Kooperation 55Fehlendes Training: geburtshilfliches und anästhesiologisches Personal fire drills in »Echtzeit«, mangelhafte Ausbildung, Fehlentscheidungen 55Inadäquate Logistik: keine rasche Verfügbarkeit: erfahrener Geburtshelfer/ Anästhesist »rund um die Uhr« (auch Wochenende/Feiertage) –– Fehlende Organisationspläne: Benachrichtigung, Notfalltelefon (Nummern) –– Inadäquate personelle Besetzung: z. B. Überwachungslücken, verspätete Diagnose –– Mangelhafte Ausstattung: z. B. Ballonkatheter, Tranexamsäure, Fibrinogenkonzentrate im Kreißsaal –– Beschaffungsprobleme/Zeitverluste: –– Notfall-Labor –– Blutbank: Erythrozyten-/Thrombozytenkonzentrate, gefrorenes Frischplasma

Antizipieren von Risikofaktoren und Einschätzung des Blutverlusts Sylvia wies zahlreiche Risikofaktoren sowohl für eine Plazentalösungsstörung (zweimaliger Abort mit Kürettage, Endo[myo]metritis) als auch für eine Uterusatonie (großes Kind, Geburtseinleitung und Wehenverstärkung mit Oxytocin, protrahierte Austreibungsperiode) auf, die von der Hebamme und den Geburtshelfern wahrscheinlich nicht antizipiert wurden. Die intravenöse Applikation von 3 mE Oxytocin zur Prävention der PPH ist korrekt und entspricht gängigem Lehrbuchwissen, in welches die aktuellen Empfehlungen der AWMF-Leitlinie 015/063 aus dem Jahr 2016 noch

nicht eingegangen sind (gilt auch für Bolus-Applikation von Oxytocin). Der Blutverlust nach der Geburt wurde, wie häufig in dieser Situation, eklatant unterschätzt, das geburtshilfliche Personal muss daher regelmäßig trainiert werden, den Blutverlust entweder zu messen oder visuell richtig abzuschätzen (7 Abschn. 3.1.2). Demzufolge hätte die Diagnose der PPH unabhängig von der Lösung der Plazenta früher gestellt werden müssen.

Die manuelle Plazentalösung erfolgte zu spät! Wenn nach langem und anstrengendem Geburtsverlauf das Kind spontan zur Welt kommt, eine drohende operative Entbindung vermieden werden konnte und die glückliche Mutter ihr Kind im Arm hat besteht, wie die klinische Praxis zeigt, immer wieder das Problem, dass die notwendige manuelle Plazentalösung zu spät durchgeführt wird – sei es, dass nach unkomplizierten und »schönem« Geburtsverlauf aus psychologisch nachvollziehbarer Wunschvorstellung v. a. der Hebammen, aber auch der Ärzte die Plazentarperiode ohne Traumatisierung und Narkose zu Ende gebracht werden soll, sei es, dass die Schwangere in Unkenntnis ihrer Gefährdung durch eine drohende Blutung auf ein weiteres Zuwarten drängt. Die Wirksamkeit der Akupunktur ist in diesem Zusammenhang nicht durch Studien belegt. Ein weiteres Problem ist, dass der Blutverlust nach der Geburt des Kindes und noch vor der (spontanen oder manuellen) Lösung der Plazenta, wie im vorliegenden Fall, unterschätzt oder gar nicht realisiert wird. Ein gravierender Fehler ist, dass im vorliegenden Fall mit aktiven Maßnahmen zur Plazentalösung erst mehr als 40 min nach der Geburt des Kindes begonnen wurde. Das Risiko für eine PPH steigt bereits 18 min nach der Geburt des Kindes an, nach 30 min ist dieses Risiko um das 6-Fache höher als bei Lösung der Plazenta innerhalb von 30 min. > Es gilt daher: Die manuelle Plazentalösung muss unverzüglich durchgeführt werden, wenn sich binnen 30 min nach der Geburt die Plazenta nicht gelöst hat, oder schon vorher, wenn der Blutverlust (300–)500 ml übersteigt.

59 3.2 · Fallnachbetrachtung

Die korrekte Einschätzung der hämodynamischen Situation Der Blutdruckabfall und Herzfrequenzanstieg unmittelbar vor dem Credé-Handgriff wurde von Assistenzarzt Dr. Markus erkannt, und folgerichtig wurden ca. 1000 ml Volumen gegeben. Allerdings ist zu bezweifeln, ob diese Volumensubstitution angesichts des bereits zu diesem Zeitpunkt erheblichen Blutverlusts und der klinischen Symptome der Patientin (Schwächegefühl, Herzpalpitationen, Schwitzen) sowie der Hypotonie und Tachykardie adäquat war. Als Faustregel gilt: 1 ml verlorenes Blut sind durch 3 ml einer kristalloiden Lösung zu ersetzen! Das Legen eines zweiten Venenzugangs durch die Anästhesistin ist eine korrekte Maßnahme (Blutentnahme für Labor, zusätzliche Volumengabe, ggf. Erythrozytenkonzentrate/Gerinnungsfaktoren). Der Geburtshelfer muss die Zusammenhänge zwischen Blutverlust (Reduktion des Blutvolumens), Blutdruck-/Pulsverhalten, klinischen Symptomen der Hypovolämie und der Ausprägung des Schocks kennen (signs and symptoms, . Tab. 3.2). Daher ist in der Situation einer persistierenden PPH die engmaschige Kontrolle klinischer Symptome, des Blutdrucks, der Pulsfrequenz und der Urinausscheidung unerlässlich. Der sich im weiteren Verlauf entwickelnde protrahierte Volumenmangelschock (Blutdruck systolisch ≤ 90 mmHg, Herzfrequenz > 110/min, zunehmende Oligurie) wurde in seiner Tragweite im vorliegenden Fall nicht realisiert. Es ist bekannt, dass die Prognose hinsichtlich eines Organversagens maßgeblich von der Dauer des hypovolämischen Schockzustands abhängt (s. unten).

Die Behandlung der Uterusatonie Die sorgfältige Inspektion der Plazenta auf Vollständigkeit in Verbindung mit einer sonographischen Kontrolle des Cavum uteri sind korrekte Maßnahmen zum differenzialdiagnostischen Ausschluss eines Plazentarests als Ursache der PPH; ebenso die Applikation von 30 mE Oxytocin per infusionem nach der Plazentalösung. Als dann eine schwallartige Blutung in Verbindung mit einem Hochsteigen des Fundus uteri (bei schlaffem Uterus) auftrat, hätte unverzüglich die Diagnose »Uterusatonie« gestellt und mechanische

3

Maßnahmen (. Abb. 3.3) ergriffen werden müssen. Die Gabe von 10 mE Oxytocin in 500 ml Kochsalzlösung war zwar prinzipiell richtig, aber in der hier gegebenen Situation nicht ausreichend für eine effektive Uterus-Tonisierung, da es kurz darauf wieder zu einer schwallartigen Blutung aus dem atonen Uterus kam. Wie in 7 Abschn. 3.1.6 erwähnt, ist aufgrund des verzögerten Wirkungseintritts bei akuter Blutung die rektale Applikation von Misoprostol keine geeignete Therapiemaßnahme. Ein Kardinalproblem in der Behandlung der Uterusatonie ist häufig die verspätete (zu späte) Umstellung von Oxytocin auf Sulproston, welches innerhalb von Minutenfrist zu einer effektiven Uterus-Tonisierung führt. Die AWMF-Leitlinie 015/063 formuliert: »Bei Versagen bzw. Nichtansprechen von First-line-Uterotonika (Oxytocin) soll ohne größere zeitliche Verzögerung auf Prostaglandine (Sulproston) umgestellt werden.« Pragmatischer ist die auf eigenen Erfahrungen beruhende Empfehlung: Wenn es nicht innerhalb von 10 min nach Beginn der Oxytocin-Zufuhr zu einer adäquaten Uterus-Tonisierung/Blutungsreduktion kommt, mit Sulproston beginnen! Im vorliegenden Fall hätte auf die Anwendung von Misoprostol verzichtet und stattdessen früher Sulproston eingesetzt werden müssen. Zum Zeitpunkt der Sulprostongabe hatte Sylvia bereits 2,2–2,5 l Blut verloren.

Die Substitution mit Erythrozyten und Gerinnungsfaktoren Wenn der Blutverlust nicht gemessen oder visuell erheblich unterschätzt wird, kann er auch nicht als richtungweisendes Kriterium für die Substitution von Erythrozytenkonzentraten (und GFP) herangezogen werden. In dieser Situation sind der klinische Zustand der Patientin und Verlaufskontrollen von Hb/Hk wichtige Orientierungshilfen. Ein häufiger Fehler besteht darin, dass die Aussagekraft eines einzelnen Hb-Werts falsch eingeschätzt wird (wie im vorliegenden Fall gegen 7:53 Uhr: Hb 6,3 mmol/l) und die Indikation zur Erythrozytengabe erst nach laborchemischem Nachweis eines stark erniedrigten Hämoglobinspiegels gestellt wird (8:40 Uhr: Hb 3,6 mmol/l). Die Entscheidung zur Transfusion und das Zeitintervall, in dem Erythrozytenkonzentrate benötigt

60

3

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

werden, hängt v. a. von klinischen Befunden wie Zeichen der hämodynamischen Instabilität, Persistenz oder Stopp der Blutung, Ansprechbarkeit auf die Volumentherapie ab. Im vorliegenden Fall wäre es nötig gewesen, bereits vor Durchführung der Plazentalösung mittels Credé-Handgriff (7:10 Uhr) möglichst gekreuzte Erythrozytenkonzentrate im Kreißsaal verfügbar zu haben und dann auch zu applizieren, angesichts der anhaltenden Blutung (Blutverlust) und der trotz Volumengabe nicht zu übersehenden Zeichen des hypovolämischen Schocks (blasses Hautkolorit, Schwitzen, Atemnot, persistierende Hypotonie und Tachykardie). Das erste Erythrozytenkonzentrat wurde erst gegen 8:55 Uhr gegeben, nachdem bereits über einen längeren Zeitraum ein hypovolämischer Schock bestanden hatte. Inadäquat war im vorliegenden Fall auch die Prävention und Behandlung der Gerinnungsstörung (Hyperfibrinolyse, Verlust-/Verdünnungskoagulopathie). An die Gabe von Tranexamsäure wurde von der Anästhesistin erst zu einem Zeitpunkt gedacht, als bereits ein massiver Blutverlust vorlag. Es wäre Aufgabe der Geburtshelfer gewesen, frühzeitiger Tranexamsäure zu verabreichen. Bereits die Laboranalyse (Ergebnisse von 7:55 Uhr, Blutentnahme um 7:08 Uhr) ergab einen deutlich erniedrigten Fibrinogenspiegel von 1,8 g/l und damit den Hinweis auf einen Verbrauch von Gerinnungsfaktoren. Auch wenn noch kein GFP zur Verfügung stand, wäre angesichts der persistierenden Blutung und des bereits erheblichen Blutverlusts bereits zu diesem Zeitpunkt die intravenöse Applikation von 2–4 g Fibrinogenkonzentrat indiziert gewesen; erst als der Fibrinogenspiegel um 8:40 Uhr 0,9 g/l betrug, wurde von den Geburtshelfern an die Substitution von Gerinnungsfaktoren (GFP) gedacht, nicht aber an die Möglichkeit der Anwendung von Fibrinogenkonzentrat, welches ja im Kreißsaal vorhanden war und dann verspätet von der Anästhesistin gegeben wurde. Erst um 9:30 Uhr erfolgte die erste Applikation von GFP, welches korrekterweise aber schon mit dem ersten Erythrozytenkonzentrat hätte gegeben werden müssen (Komponententherapie, 7 Abschn. 3.1.8). Daher ist es nicht verwunderlich, dass bereits um 8:35 Uhr das Blut eher flüssig und ohne nennenswerte Koagel-Bildung war und später bei der Operation infolge eines fortbestehenden Mangels an Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten bei inadäquater Substitution eine ausgeprägte Blutungsneigung bestand.

Invasive Maßnahmen: Hysterektomie Da Sylvia spätestens ab 8:00 Uhr zunehmend kreislaufinstabiler wurde und weiter blutete, kamen konservative, den Uterus erhaltende Maßnahmen nicht mehr infrage. Dabei ist zu bedenken, dass bereits vor Lösung der Plazenta ein erheblicher Blutverlust bestanden hatte. Die immer wieder zu beobachtende fatale Abfolge von unterschätztem Blutverlust, verspäteter Diagnose der schweren PPH und verspäteter Applikation von Uterotonika (v. a. Sulproston) sowie von Erythrozytenkonzentraten und Gerinnungsfaktoren haben dazu geführt, dass letztlich auch die suprazervikale Hysterektomie verspätet durchgeführt wurde, in einem lebensbedrohlichen Zustand, in dem die Patientin bereits über längere Zeit kreislaufinstabil war und eine Gerinnungsstörung aufwies. Eine ausreichende Stabilisierung des Kreislaufs und der Gerinnung war infolge dieser Gesamtkonstellation und der anhaltenden Blutung nicht mehr möglich. Protrahierter Volumenmangelschock und eine über einen längeren Zeitraum nicht ausreichende Oxygenierung der Herz-Lungen-Funktion haben bei der nachfolgenden Operation maßgeblich zum kurzfristigen Herz-Kreislauf-Stillstand beigetragen oder ihn verursacht. Der Zeitpunkt, ab/zu dem ein konservatives Vorgehen nicht mehr sinnvoll und eine operative Intervention zwingend geboten ist, erfordert eine enge Kooperation mit der Anästhesie. 3.2.2

Welche organisatorischen Schwachstellen/Fehler finden Sie im geschilderten Fall?

7 Abschn. 3.2.1, Übersicht: Die 10 Kardinalprobleme

und ihre Folgen bei (schwerer) PPH.

Handlungsalgorithmen im Kreißsaal Im vorliegenden Fall gab es im Kreißsaal keine verbindlichen Handlungsanweisungen/-algorithmen für geburtshilfliche Notfälle. > Es ist heute zwingend notwendig, dass jede geburtshilfliche Abteilung über logistische Notfallpläne (u. a. mit Erreichbarkeiten, wichtigen Telefonnummern) sowie über leitlinienorientierte, interdisziplinär abgestimmte Handlungsalgorithmen mit

61 Weiterführende Literatur

klarer, klinikintern abgestimmter Aufgabenverteilung zwischen den beteiligten Berufsgruppen verfügt.

Diese Handlungsalgorithmen sind in Verbindung mit einem regelmäßigen Training der Abläufe in »Echtzeit« (fire drills) evidenzbasierte Maßnahmen zur Senkung der mütterlichen Morbidität und Mortalität. Hierzu gehört auch die Forderung, dass bei Eintreten einer Uterusatonie und persistierender Blutung (Blutverlust > 1000 ml) innerhalb von 10 min ein erfahrener Geburtshelfer und Anästhesist vor Ort sein muss (zeitgerechter Ruf nach kompetenter Hilfe). Diese Forderung wird angesichts immer knapper werdender personeller Ressourcen und unterschiedlicher Ausbildungsniveaus nicht in allen Krankenhäusern und/oder nicht rund um die Uhr erfüllt (Cave: Organisationsverschulden). Im vorliegenden Fall vergingen mehr als 30 min nach der Geburt des Kindes, bis der Oberarzt im Kreißsaal anwesend war, die Patientin hatte bereits deutlich mehr als 500 ml Blut verloren. Nach Eintreten der Uterusatonie erfolgte die Benachrichtigung des Oberarztes durch den Assistenzarzt Dr. Markus annähernd zeitgerecht.

Notfalllabor, Bestellung und Beschaffung von Erythrozytenkonzentraten und GFP Das Blut für das erste Notfalllabor und die Kreuzprobe wurde in Verkennung des Blutverlusts verspätet von der Anästhesistin erst im OP abgenommen. Der Zeitraum zwischen der Blutentnahme und dem Vorliegen der Ergebnisse des Notfalllabors (ca. 45 min) entspricht gängiger Praxis und bekanntem Wissen. Wie im vorliegenden Fall, führt die Fehleinschätzung der klinischen Situation auch dazu, dass Erythrozytenkonzentrate und GFP zu spät bestellt, in den Kreißsaal transportiert und gegeben werden. Diese Situation lag bereits vor, als Sylvia vor Lösung der Plazenta im OP war, spätestens aber dann, als es zu Beginn der Uterusatonie zu weiteren Blutverlusten kam. Bei einer schweren PPH, wie im vorliegenden Fall, müssen immer rechtzeitig ausreichende Mengen an Erythrozytenkonzentraten (initial mindestens 4) und GFP zur Verfügung stehen. Bei Anwesenheit des Anästhesisten übernimmt dieser das Transfusionsregime.

3

Postpartale ThromboembolieProphylaxe Im vorliegenden Fall lagen mehrere Risikofaktoren für eine Thromboembolie im Wochenbett vor, insbesondere die schwere PPH mit Blutverlust > 1 l (adjustierte OR: 4,1) in Verbindung mit einer operativen Intervention (adjustierte OR: 12,0) sowie die Gabe von Bluttransfusionen (adjustierte OR: 4,5–7,6). Daher ist eine medikamentöse ThromboembolieProphylaxe mit niedermolekularem Heparin erforderlich. Solange eine erhöhte Blutungsgefahr besteht (Entscheidung durch einen erfahrenen Geburtshelfer), sollte allerdings nicht mit der Gabe von Heparin begonnen werden, wenn vertretbar, aber möglichst 12–24 h nach Blutungsstopp. Im vorliegenden Fall wurde korrekterweise 14 h nach dem Eingriff Dalteparin zur medikamentösen Thromboseprophylaxe gegeben.

Weiterführende Literatur Abdul-Kadir R, Mc Lintock C, Ducloy AS et al (2014) Evaluation and management of postpartum hemorrhage: consensus from an international expert panel. Transfusion 54(7): 1756–1768 AWMF-Leitlinie 015/063 (2016) Peripartale Blutungen, Diagnostik und Therapie. www.dggg.de Belfort MA (2015) Management of postpartum hemorrhage at vaginal delivery. www.uptodate.com Bonnar J (2000) Massive obstetric haemorrhage. Baillieres Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 14: 1–18 Bose P, Regan F, Peterson-Brown S (2006) Improving the accuracy of estimated blood loss of obstetric haemorrhage using clinical reconstructions. BJOG 113: 919–924 Brezinka C, Henrich W (2016) Pathologie der Plazentarperiode. In: Schneider H, Husslein P, Schneider KTM (Hrsg) Die Geburtshilfe, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Lier H, Rath W (2011) Aktuelle interdisziplinäre Handlungsempfehlungen bei schweren peri-(post)-partalen Blutungen. Geburtsh Frauenheilk 71: 577–588 Rath W (2011a) Postpartum hemorrhage – update on problems of definitions and diagnosis. Acta Obstet Gynecol Scand 90: 421–428 Rath W (2011b) Postpartale Blutungen (PPH): »too little is done too late«! Z Geburtsh Neonatal 215: 177–181 Rath W (2013) Postpartale Blutungen. In: Feige A, Rath W, Schmidt S (Hrsg) Kreißsaal-Kompendium. Thieme, Stuttgart, S 88–111 Rath W (2013, 20142015), Peri- und postpartale Blutungen. Handbuch Gynäkologie/Geburtshilfe. www.med-uptodate.com Rath W, Bohlmann MK (2011) Postpartale Hämorrhagie: Prävention und Therapie. Gynäkologe 44: 538–548

62

3

Kapitel 3 · Lebensbedrohliche Blutung nach der Geburt des Kindes

Rath W, Lier H (2013) Tranexamsäure und Fibrinogen bei schwerer postpartaler Blutung. Frauenarzt 54: 540–546 Rath W, Gembruch U, Schmidt S (2010) Geburtshilfe und Perinatalmedizin, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart Rath W, Hackethal A, Bohlmann MK (2012) Second-line treatment of postpartum haemorrhage (PPH). Arch Gynecol Obstet 286(3): 549–561 RCOG Green-top Guideline No. 52 (2016) Prevention and management of postpartum haemorrhage. www.rcogorg.uk/files/rcog Schlembach D, Mörtl M, Girard T et al (2013) Management der postpartalen Blutung: Der D-A-CH Algorithmus. Frauenarzt 54(11): 1072–1080 Shields LE, Wiesner S, Fulton J et al (2015) Comprehensive maternal hemorrhage protocols reduce the use of blood products and improve patient safety. Am J Obstet Gynecol 212: 272–280 WHO (2012) WHO recommendations for the prevention and treatment of postpartum haemorrhage. http://apps.who. int/iris/bitstream/10665/75411/1/9789241548502_eng. pdf?ua=1

63

Akuter Herzstillstand unter der Geburt Werner Rath

4.1

Falldarstellung – 64

4.1.1

Welche Risikofaktoren erkennen Sie bei Frau Müller, die Bedeutung für die Geburt haben könnten? – 65 Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? – 67 Welche Differenzialdiagnosen kommen für den akuten Herz-Kreislauf-Stillstand infrage? – 68 Sie kennen bestimmt die Ursache der Blutung, oder? – 71 Welche Maßnahmen sind in dieser Situation zur Beseitigung der Blutung lebensrettend? – 72

4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5

4.2

Fallnachbetrachtung – 74

4.2.1 4.2.2

Welche medizinischen/organisatorischen Fehler sehen Sie in dem geschilderten Fall? – 74 Der definitive Nachweis der FWE – 76



Weiterführende Literatur – 76

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_4

4

64

Kapitel 4 · Akuter Herzstillstand unter der Geburt

4.1 Falldarstellung

Was geschah … ?

4

»Das wird ein anstrengender Tag«, dachte Assistenzärztin Dr. Katharina, denn eine Kollegin war krank geworden. Zudem war Urlaubszeit, und sie hatte den Kreißsaal und die Wochenstation zusammen zu versorgen. Nun saß sie, kurz vor Dienstschluss etwas erschöpft, wie üblich im »Hebammenstübchen«, welches neben dem Kreißsaal lag, und ließ mit den diensthabenden Hebammen noch einmal den Tag Revue passieren. Zur Freude aller hatten sie über den Tag drei spontane Geburten ohne Probleme. Da durfte man sich schon einmal eine Tasse Kaffee und ein Stückchen Kuchen, den eine glückliche Mutter abgeliefert hatte, gönnen. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür des Kreißsaals. Kurz darauf meldete sich Hebamme Caroline am Telefon: »Wir haben einen Zugang, Frau Müller, 37 Jahre mit Placenta praevia, eingewiesen vom Frauenarzt zur primären Sectio; sie blutet glücklicherweise nicht.« Assistenzärztin Dr. Katharina war im 3. Jahr ihrer Facharztausbildung und hatte gelernt, sich jede neu aufgenommene Patientin im Kreißsaal gleich anzusehen und die Anamnese zu erheben. Nur so konnte man rechtzeitig die Weichen stellen und die Gewissheit haben, dass kein Notfall vorliegt. Das war ihre Devise. Frau Müller war sichtlich nervös, als die Assistenzärztin den Kreißsaal betrat und sie begrüßte. Die Frauenärztin hatte ihr erklärt, was eine Placenta praevia ist: der Mutterkuchen überlappt den inneren Muttermund um mehr als die Hälfte. Das war das Ergebnis der letzten Ultraschalluntersuchung in der Praxis. Ihre kleine Tochter konnte also nicht auf »natürlichem Weg« zur Welt kommen, damit hatte sich Frau Müller abgefunden. Assistenzärztin Dr. Katharina erkundigte sich kurz nach ihrem Befinden: keine Beschwerden, keine Blutungen in der letzten Zeit, keine Wehen, also Zeit, den Kaiserschnitt in Ruhe vorzubereiten, dachte sie, überflog den Mutterpass und den roten Einweisungsschein auf dem stand: »37-jährige Patientin, IV.gravida, II.-para, Placenta praevia partialis zur Sectio!« Während Hebamme Caroline das CTG anlegte, welches unauffällig war, erhob die Assistenzärztin die Anamnese:

44 Familienanamnese: unauffällig 44 Eigenanamnese: Asthma bronchiale, letzter Asthmaanfall vor ca. 5 Jahren, keine Dauermedikation 44 Bekannte Allergien: Hausstaub, Katzenhaare, Penicillin 44 Geburtshilfliche Anamnese: zwei Spontangeburten ohne Komplikationen vor 5 und vor 2 Jahren, zwei Aborte in der 10. und 12. SSW mit Kürettagen vor 3 Jahren und einem Jahr; nach dem letzten Abort: Gabe von Antibiotika bei V. a. Endo(myo)metritis 44 Jetzige Schwangerschaft: Vaginale Blutung in der 27. SSW bei V. a. Placenta praevia, die nach Bettruhe sistierte; erneute vaginale Blutung in der 33. SSW, die ebenfalls nach körperlicher Schonung zum Stillstand kam; Lungenreifeinduktion mit Betamethason, Blutgruppe 0 Rh-positiv. 44 Jetzt: 38. SSW, vor 2 Tagen leichtes Ziehen im Bauch, keine Blutung, sonographische Bestätigung der Placenta praevia partialis in der Frauenarztpraxis, sicherheitshalber Einweisung zur primären Sectio Nach der Anamneseerhebung nahm Assistenzärztin Dr. Katharina Blut für Labor und Kreuzprobe ab, führte noch eine Sonographie durch, die den Befund aus der Frauenarztpraxis bestätigte. Plazentasitz: Hinterwand, Placenta praevia partialis, Kind in I. BEL, Schätzgewicht ca. 3600  g, reichlich Fruchtwasser. Währenddessen hatte Hebamme Caroline den Blutdruck gemessen, »Hatten Sie in der Schwangerschaft einmal erhöhte Blutdruckwerte?«, fragte sie die Patientin, »155/95 mmHg!« Frau Müller schüttelte den Kopf: »Nein, die Blutdruckwerte waren in der Schwangerschaft immer normal gewesen, das steht doch auch im Mutterpass.« Um die Patientin nicht zu beunruhigen, wandte sich die Hebamme mit leiserer Stimme an Frau Dr. Katharina mit den Worten: »Mir ist aufgefallen, dass der Urinstick zweifach positiv auf Eiweiß ist!« Die Assistenzärztin überlegte einen Moment und fragte Frau Müller dann: »Hatten Sie in den letzten Tagen Kopfschmerzen, Schwindel, irgendwelche Sehstörungen, Oberbauchschmerzen oder Ohrensausen?« Frau Müller verstand die Frage nicht, hatte sie doch mit ihrer Placenta praevia

65 4.1 · Falldarstellung

nichts zu tun. »Nein, keine Beschwerden, mir ist es gut gegangen!« An Hebamme Caroline gerichtet, sagte Frau Dr. Katharina: »Wir sollten sicherheitshalber den Blutdruck kontrollieren«, und fügte an Frau Müller gewandt hinzu: »Ich spreche jetzt mit dem Oberarzt, wahrscheinlich werden wir gleich morgen früh den Kaiserschnitt machen!« Frau Müller fragte nicht weiter nach, was es mit dem erhöhten Blutdruckwert auf sich haben könnte. Sicherlich war dieser ihrer Aufregung zuzuschreiben. Kurz darauf wurde Oberarzt Dr. Martin informiert. Er war einverstanden und sagte: »Ok, sorgen Sie dafür, dass die Sectio gleich an Punkt 1 im OP-Programm vorgesehen wird. Versteht sich von selbst: in Spinalanästhesie, und informieren Sie die Anästhesie rechtzeitig. Es ist ja kein Notfall, die Patientin blutet nicht und hat keine Wehen!« Was die Assistenzärztin aber zu erwähnen vergaß, war der einmalig erhöhte Blutdruckwert und die Proteinurie. Frau Müller wurde dann von Frau Dr. Katharina ausführlich über den bevorstehenden Kaiserschnitt aufgeklärt. Später kam noch der Anästhesist Dr. Peter zur Prämedikation und Aufklärung über die Spinalanästhesie. Es war inzwischen 20:00 Uhr geworden. Da die Wochenstation komplett belegt war, entschloss man sich, die Patientin im Kreißsaal zu behalten. Frau Müller war müde. Hauptsache, meinem Kind geht es gut, dachte sie. Sie nahm nur am Rande wahr, dass inzwischen im Kreißsaal viel los war, Hebammen und Ärzte hatten alle Hände voll zu tun. Schließlich schlief sie mit dem Gedanken ein, dass sie in wenigen Stunden ihr Kind im Arm halten würde. Der Blutdruck wurde nicht mehr kontrolliert. Später am Abend zeichnete der diensthabende Arzt ihre Laborwerte ab: alles im Normbereich, Hämoglobin 7,949 mmol/l, Hämatokrit 32%, Thrombozyten 350 G/l, Gerinnungsstatus unauffällig.

4.1.1

Welche Risikofaktoren erkennen Sie bei Frau Müller, die Bedeutung für die Geburt haben könnten?

Mütterliches Alter ≥ 35 Jahre ist ein unspezifischer Risikofaktor für verschiedene geburtshilfliche Komplikationen (7 Kap. 15, Präeklampsie, 7 Kap. 3,

4

Postpartale Blutung). Allergien, insbesondere auf spezifische Medikamente, sind bei deren Nichtbeachtung Risikofaktoren für die Auslösung unterschiedlich schwerer allergischer Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock. Daher ist auf eine sorgfältige Medikamentenanamnese zu achten. Ein akuter Asthmaanfall in Terminnähe oder unter der Geburt ist selten. Der entscheidende Risikofaktor im geschilderten Fall ist die Placenta praevia, die das Risiko für eine schwere postpartale Blutung um das bis zu 16-Fache erhöht (7 Kap. 3). Im vorliegenden Fall kann aufgrund der mangelnden Befunderhebung (keine Blutdruckkontrolle) der einmalige Blutdruckwert von 155/95 mmHg in Verbindung mit einer Proteinurie als Risikofaktor für eine schwere hypertensive Komplikation (z. B. hypertensive Krise, eklamptischer Anfall) schwer eingeschätzt werden. Da die Blutdruckwerte in der Schwangerschaft normal waren, handelt es sich im Fall der Bestätigung des erhöhten Blutdrucks um eine Late-onset-Präeklampsie mit einer im Vergleich zur Early-onset-Präeklampsie (vor der 34. SSW) günstigeren Prognose für Mutter und Kind. Hinzukam, dass Prodromalsymptome im Sinne einer drohenden Eklampsie bei Frau Müller nicht vorlagen. Ex ante ergab sich keine klar erkennbare Risikokonstellation für die nachfolgende lebensbedrohliche Komplikation bei der Mutter (. Tab. 4.1). So geht es weiter … Die diensthabende Hebamme Anne hat sich eine Verschnaufpause verdient. Der Nachtdienst war bisher sehr hektisch gewesen, einige Aufnahmen in den Kreißsaal, eine Sectio bei Gemini und eine Spontangeburt. Alles war gut verlaufen. Der diensthabende Arzt Dr. Matthias und sein Oberarzt Dr. Hans haben vor einigen Minuten den Kreißsaal verlassen. Es scheint Ruhe eingekehrt zu sein. Hebamme Anne blickt auf die Uhr im Kreißsaal, 2:00 Uhr. Sie sitzt an dem großen Schreibtisch in der Mitte des zentralen Raums, von dem sie die Entbindungsräume im Blick hat. »Hallo, können sie mich hören?«, ruft Frau Müller. Sie ist mit Ziehen im Bauch aufgewacht. »Ich blute!« Hebamme Anne hat bei der Dienstübergabe von Frau Müller und ihrer Placenta praevia gehört, sie ist eine erfahrene Hebamme, die schon viel erlebt hat.

66

Kapitel 4 · Akuter Herzstillstand unter der Geburt

. Tab. 4.1  Mit Fruchtwasserembolie assoziierte Risikofaktoren

4

Risikofaktor

UKOSS 2010a aOR (95% KI)(n = 60)

USA 2008b aOR (95% KI)(n = 227)

Mütterliches Alter > 35 Jahre

1,54 (0,72–3,28)

2,2 (1,5–2,1)

Mehrlingsschwangerschaft

10,9 (2,81–42,7)

1,5 (0,6–4,1)

Placenta praevia

k. A.

30,4 (15,4–60,1)

Vorzeitige Plazentalösung

k. A.

8,0 (4,0–15,9)

Geburtseinleitung

3,86 (2,04–7,31)

1,5 (0,9–2,3)

Sectio caesarea

8,84 (3,70–21,1)

5,7 (3,7–8,7)

Präeklampsie/Eklampsie

k. A.

7,3 (4,3–12,5)

a UKOSS UK Obstetric Surveillance System (Knight et al. 2010), b Bevölkerungsbasierte Kohortenstudie USA (Abenhaim

et al. 2008). aOR adjustierte Odds Ratio, KI Konfidenzintervall, k. A. keine Angabe.

Die Moltex-Vorlage ist angeblutet, frisches, hellrotes Blut! Hebamme Anne legt in Eile ein CTG an, »Ihrem Kind geht es gut«, antwortet sie der besorgten Mutter. »Ich muss aber die diensthabenden Ärzte benachrichtigen«, ruft sie und läuft zum Telefon. Assistenzarzt Dr. Matthias hat sich gerade hingelegt, als das Telefon klingelt. »Ja, ich komme sofort!«, antwortet er der Hebamme etwas mürrisch. »Und benachrichtigen Sie auch gleich den Oberarzt!«, fügt er hinzu. Einige Minuten später sind die Ärzte gemeinsam mit der Hebamme bei Frau Müller im Kreißsaal. Nach Blick auf die angeblutete Vorlage führt Assistenzarzt Dr. Matthias eine Spekulum-Untersuchung im Kreißbett durch: frisches Blut in der Scheide, Muttermund klaffend, leichte hellrote Blutung ex ore. Das CTG ist unauffällig, es zeigt vereinzelte Kontraktionen. »Wir müssen den Kaiserschnitt jetzt machen!«, entscheidet Oberarzt Dr. Hans. »Noch geht es dem Kind gut, und das soll auch so bleiben!«, richtet er sich an Frau Müller. Frau Müller ist aufgeregt und ängstlich, ihr Herz klopft bis zum Hals, als Hebamme Anne sie kurz darauf zum Kaiserschnitt vorbereitet. Ihr einziger Gedanke ist: hoffentlich kommt unsere Tochter gesund zur Welt! Assistenzarzt Dr. Matthias kennt die Abläufe: sofort OP-Team und Anästhesie benachrichtigen, sicherheitshalber Bedarf von Erythrozytenkonzentraten in der Blutbank anmelden! Die Kreuzprobe

ist ja schon abgenommen, eine OP-Einwilligung liegt vor. Um 2:30 Uhr sind alle im Kreißsaal-OP, auch der diensthabende Anästhesist Oberarzt Dr. Frank und sein Anästhesiepfleger Fritz. »Ist Blut gekreuzt? Haben wir Laborwerte?«, fragt der Anästhesist, während er einen zweiten Venenzugang legt und über den anderen Venenzugang 500 ml Elektrolytlösung »im Schuss« laufen lässt. Anästhesiepfleger Fritz klebt derweil die EKG-Elektroden auf. »Was meinen Sie, ist noch Zeit für eine Spinalanästhesie?«, fragt Dr. Frank. Oberarzt Hans nickt und antwortet »Ich denke ja, die Blutung ist nicht so stark, das CTG ist unauffällig.« »Ok, fangen wir an, die Patientin ist kreislaufstabil, Blutdruck 140/90  mmHg, Herzfrequenz 100/min!«, konstatiert Dr. Frank. Die Spinalanästhesie sitzt perfekt, Oberarzt Dr. Frank ist ein Könner seines Fachs. »Sie können anfangen«, ruft er dem OP-Team zu. Anästhesiepfleger Fritz notiert im Anästhesieprotokoll: OP-Beginn 2:45 Uhr, Blutdruck 150/90 mmHg, Herzfrequenz 90/min, normale Sauerstoffsättigung. Frau Müller ist erleichtert, dass es jetzt endlich losgeht. Sie hat während des Legens der Spinalanästhesie mit Oberarzt Dr. Frank noch über einen »schönen« Mädchennamen diskutiert, ihr Favoritenname ist Caroline. Alles läuft nach Plan. Um 2:49 Uhr kommt das kleine Mädchen zur Welt (Apgar-Werte nach 1 min: 9, nach

67 4.1 · Falldarstellung

5  min: 10), die Lösung der an der Hinterwand sitzenden Plazenta praevia gelingt ohne Probleme, zur Atonie-Prophylaxe werden 5 mE Oxytocin als Kurzinfusion gegeben, der Uterus ist daraufhin gut tonisiert, keine nennenswerten weiteren Blutungen. Jetzt muss nur noch die Bauchdecke verschlossen werden. Frau Müller ist glücklich, Hebamme Anne hat ihr inzwischen die kleine Tochter gebracht, die sie jetzt liebevoll streichelt. Gerade hat sie sich noch mit dem Anästhesisten unterhalten, da durchfährt sie plötzlich ein Kältegefühl und ein Kribbeln im ganzen Körper. Hinzu kommen so eigenartige »Lichtblitze«, sie spürt eine große Unruhe, Druck auf der Brust. Am schlimmsten ist aber die zunehmende Kurzatmigkeit und Atemnot. Dann nimmt sie die Stimmen um sie herum nicht mehr wahr. »Frau Müller, hören sie mich?«, ruft Oberarzt Dr. Frank mit lauter Stimme und rüttelt an ihrer Schulter – keine Reaktion. Der Herz-Kreislauf-Monitor gibt nun ein anhaltendes Warnsignal: was ist passiert? Blutdruckabfall innerhalb von 1  min von 130/85  mmHg auf 70/50  mmHg, Herzfrequenzanstieg von 90/min auf 130/min, Sauerstoffsättigung knapp 80%, zunehmende Zyanose; akustisch zu

4

hören und auf dem Kreislaufmonitor zu sehen ist jetzt eine kardiale Arrhythmie, und dann die Katastrophe … akuter Herzstillstand! Nun muss alles sehr schnell gehen.

4.1.2

Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie?

Die aus völliger Gesundheit oder – wie im vorliegenden Fall – nach Prodromalsymptomen wie Kältegefühl, Lichtempfindlichkeit, Kribbeln/Taubheitsgefühl, Agitiertheit auftretende Bewusstlosigkeit, akute Dyspnoe und Zyanose, die schwere mütterliche Hypotension sowie die kardiale Arrhythmie und schließlich der akute Herz-Kreislauf-Stillstand sprechen für eine Fruchtwasserembolie (FWE). In . Abb. 4.1 sind die Pathophysiologie und die korrespondierenden Symptome der FWE dargestellt. Die FWE tritt in enger zeitlicher Korrelation zu Wehen und Geburt/Sectio caesarea (55–70% antenatal/peripartal) oder bis zu 48 h post partum auf, in Einzelfällen auch im Verlauf der Schwangerschaft nach intrauterinen Eingriffen (z. B. Schwangerschaftsabbruch) oder nach stumpfem Bauchtrauma.

Übertritt von Fruchtwasser in die mütterliche Zirkulation (z. B. Plazentahaftstelle): Unlösliche Bestandteile (Schuppen, Haare, Vernix) Vasodilatative Substanzen (Bradykinin, Histamin, Endothelin) Prokoagulatorische Substanzen (u. a. tissue factor, Phosphatidylserin) Fibrinolytisch wirksame Substanzen (z. B. Plasminogen-Aktivator-1) Anaphylactoid syndrome of pregnancy?

Endothelaktivierung – massive inflammatorische Reaktion, Aktivierung des Komplementsystems

Immunologische Reaktion?

1. Pulmonale Vasokonstriktion Pulmonaler Widerstand Ĺ Pulmonale Hypertonie Akutes Rechtsherzversagen: Dilatation des rechten Ventrikels Pulmonale Perfusionsstörung: Hypoxämie

Akute Dyspnoe – Zyanose – respiratorische Insuffizienz

2. Akutes Linksherzversagen, Lungenödem

Neurologische Symptome

3. Koagulopathie: DIG/Hyperfibrinolyse

Blutungen

. Abb. 4.1  Pathophysiologie und Klinik der Fruchtwasserembolie

Plötzlicher Herz-Kreislauf-Stillstand, Hypotension

Fetale Hypoxie (CTG) Lungenödem, ARDS

Kapitel 4 · Akuter Herzstillstand unter der Geburt

68

4

In Kenntnis der Verdachtsdiagnose kommt jetzt auch den Risikofaktoren Bedeutung zu, die mit einer FWE assoziiert sein können (. Tab. 4.1). Im vorliegenden Fall: mütterliches Alter ≥ 35 Jahre, Präeklampsie, Sectio caesarea und V. a. Placenta praevia. Mögliche prädisponierende Faktoren für eine FWE sind auch allergische Diathesen, wie im vorliegenden Fall. Bei immerhin 41% der Frauen mit FWE finden sich anamnestisch Hinweise auf Allergien oder Atopie. Die Diagnose FWE basiert auf den klinischen Symptomen nach Ausschluss anderer Ursachen/Diagnosen (7 Abschn. 4.1.3). Diese Symptome können variabel sein sowie sich in Kombinationen und unterschiedlicher Ausprägung manifestieren. Bisher fehlen spezifische laborchemische Tests zur raschen Diagnosesicherung. > Bei jeder plötzlichen kardiovaskulären Dekompensation der Mutter und/oder mütterlichem Tod um die Geburt ohne erklärbare Ätiologie muss an eine FWE gedacht werden!

In . Tab. 4.2 sind die inzwischen international anerkannten Diagnosekriterien der FWE zusammengestellt. Kreislaufparameter, EKG, Blutgasanalyse, Röntgen-Thorax und laborchemische Untersuchungen (u. a. Blutbild, Herzenzyme, Gerinnung) sowie spezifische Untersuchungen wie die transösophageale Echokardiographie (TEE) dienen weniger der Diagnosesicherung als vielmehr der Überwachung und Therapieoptimierung. 4.1.3

Welche Differenzialdiagnosen kommen für den akuten HerzKreislauf-Stillstand infrage?

In der folgenden Übersicht sind die wichtigsten Differenzialdiagnosen zusammengefasst.

Differenzialdiagnosen der Fruchtwasserembolie (mod. nach Clark 2010; Gist et al. 2009) 55Lungenembolie 55Luftembolie 55Akuter Myokardinfarkt

. Tab. 4.2  Diagnosekriterien der Fruchtwasserembolie (Dean et al. 2012; Knight et al. 2010; Conde-Agudelo u. Romero 2009) UK Obstetric Surveillance System (UKOSS) 2010

Häufigkeit

Ohne jede andere klare Ursache: Akute kardiovaskuläre Dekompensation mit einem oder mehreren der folgenden Zeichen Herzrhythmusstörungen

10–30%

Koagulopathie

bis 62%

Hypotension

56–100%

Blutungena

bis 65%

Prodromi (z. B. Unruhe, Angstgefühl, Agitiertheit)

30–40%

Krämpfe

15–50%

(Plötzliche) Kurzatmigkeit

50–80%

Oder: postmortaler Nachweis von fetalen Schuppen oder Haaren in der Lunge a Nicht Patientinnen mit Blutungen als Erstsymptom ohne Hinweis auf frühere Koagulopathie oder kardiorespiratorische Insuffizienz.

55Septischer Schock 55Peripartale Kardiomyopathie 55Anaphylaktischer Schock 55Anästhesiologische Komplikationen: –– Hoher spinaler/epiduraler Block –– Reaktion auf Lokalanästhetika –– Aspiration 55Geburtshilfliche Komplikationen: –– Vorzeitige Plazentalösung: –– Abdominalschmerz –– Tetanus uteri –– Sonographischer Nachweis eines retroplazentaren Hämatoms –– Eklampsie: tonisch-klonische Krämpfe bei Präeklampsie –– Uterusruptur: –– Vorangegangene Sectio –– Starker suprasymphysärer Schmerz –– Plötzliches Sistieren der Wehen –– Postpartale Blutung: z. B. schwallartige, intermittierende Blutung bei Uterusatonie

69 4.1 · Falldarstellung

Die häufigste Differenzialdiagnose ist die Lungenembolie, die sich von der FWE noch am ehesten durch die typischen Risikofaktoren in der Anamnese, die extrem seltene Manifestation unter der Geburt, den Thoraxschmerz in Verbindung mit Hustenreiz, das seltenere Auftreten von initialem Herzstillstand und schwerer mütterlicher Hypotension und dem Fehlen neurologischer Symptome/Krämpfe unterscheidet (. Tab. 4.3). Während für die FWE kein die Diagnose beweisendes, apparatives Verfahren zur Verfügung steht, ermöglicht bei der Lungenembolie die CT/MRAngiographie eine zuverlässige Diagnose. Als weitere Ursache für den Herz-Kreislauf-Stillstand kommt der akute Myokardinfarkt infrage, der vergleichbar häufig ist (3–10/100.000 Geburten) wie die FWE (2–8/100.000 Geburten) und in ca. 20% der Fälle peripartal auftritt (46% in der Schwangerschaft, 34% nach der Geburt). Der akute Myokardinfarkt lässt sich von der FWE wie folgt abgrenzen (. Tab. 4.4): typische Risikofaktoren, meist klassische Angina-pectoris-Symptomatik mit Schmerzausstrahlung in Verbindung mit Schweißausbrüchen, Übelkeit und Erbrechen, kardiale Arrhythmien sind initial häufiger als bei der FWE. Seltener sind die initiale Hypotension und die akute Dyspnoe. Neurologische Symptome und eine akute fetale Hypoxie (bei antenataler FWE in bis zu 30% der Fälle) fehlen im Anfangsstadium oder sind selten.

4

> Zu beachten ist, dass der Myokardinfarkt bei schwangeren Diabetikerinnen klinisch »stumm« verlaufen kann.

Diagnostisch wegweisend sind die Veränderungen im EKG (z. B. ST-Strecken-Hebungen in 75% der Fälle in Verbindung mit einem Verlust der R-Zacke und einer breiten, tiefen Q-Zacke) sowie der signifikante Anstieg des herzmuskelspezifischen Troponin I innerhalb von 3 h nach dem Ereignis. Bei Myokardinfarkt ohne ST-Strecken-Hebungen sind erhöhte Troponin-T/I-Spiegel beweisend für die Diagnose. Zur Diagnosesicherung stehen die Koronarangiographie und der perkutane Herzkatheter zur Verfügung. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung der FWE von der häufigeren peripartalen Kardiomyopathie (1:1300–1:4000 Geburten) ist in . Tab. 4.4 wiedergegeben. Auch der eklamptische Anfall kann Prodromalsymptome wie starre Blickrichtung, weite Pupillen und Zuckungen der Gesichtsmuskulatur aufweisen; klinisch dominieren bei manifester Präeklampsie die tonisch-klonischen Krämpfe mit Lippen- und Zungenbissen sowie konjunktivale Einblutungen, nach tiefer und andauernder Inspiration tritt meist ein komatöser Zustand von wechselnder Dauer auf. Bei

. Tab. 4.3  Klinisch relevante Unterschiede zwischen Fruchtwasserembolie und Lungenembolie Kriterien

Fruchtwasserembolie

Lungenembolie

Zeitliches Auftreten

Unter Geburt/Wehen → Stunden post partum

2- bis 15-mal häufiger im Wochenbett als in der Schwangerschaft selten: unter der Geburt/Wehen

Risikofaktoren

Unspezifisch

Spezifisch (tiefe Venenthrombose)

Thoraxschmerz



+++ ca. 70%

Husten



++ ca. 50%

Herzstillstand (initial)

++

Selten

Dyspnoe

+++

+++ (90%) + Tachypnoe

Hypotonie

+++: initial

Selten → sekundär

Neurologische Symptome

++



Koagulopathie

++



Akute fetale Hypoxie

+ → ++

(+) sekundär

Diagnose

Ausschlussdiagnostik

Spezifisch, z. B. CT/MRT-Angiographie

70

Kapitel 4 · Akuter Herzstillstand unter der Geburt

. Tab. 4.4  Differenzialdiagnosen nach klinischen Symptomen Klinik/Symptome

Fruchtwasserembolie

Myokardinfarkt

Peripartale Kardiomyopathie

Manifestation

Unter Wehen/Geburt → Stunden post partum

21% peripartal

3. Trimenon: ~ 9%

34% postpartal

80% bis 4 Monate post partum

+ /unspezifisch

+++ /spezifisch

+ /unspezifisch

Risikofaktoren

4

Herzstillstand

++

+

+

Thoraxschmerz



+++

++

Kardiale Arrhythmien

+ → ++

+++

++

Dyspnoe

+++

+ → ++

++

Hypotension

+++

+ → ++

+/–

Neurologische Symptome

++

(+) sekundär

(+) sekundär

Koagulopathie

++





Akute fetale Hypoxie

+ → ++

(+) sekundär

keine Angaben

der FWE finden sich initial Krampfanfälle nur bei 4–15% der Patientinnen. ! Cave Lebensgefahr besteht beim eklamptischen Anfall durch Aspiration, Laryngospasmus und Atemstillstand.

So geht es weiter … »Glück im Unglück, dass direkt ein erfahrener Anästhesist vor Ort ist«, denkt Oberarzt Dr. Hans, während er die Bauchdecken verschließt. Die sofortige endotracheale Intubation und invasive Beatmung führen in Verbindung mit externer Herzmassage, kristalloidbasierter Volumengabe und der Applikation von Noradrenalin/Dobutamin unter Kreislaufmonitoring zu einer raschen Wiederherstellung der Herz-Kreislauf-Funktion und zu einer adäquaten Oxygenierung (7 Abschn. 4.2.1, Abb. 4.2). Über einen endotrachealen Katheter wird reichlich Flüssigkeit aus den Bronchien abgesaugt. Die transösophageale Echographie ergibt deutliche Zeichen der Rechtsherzbelastung infolge der pulmonalen Vasokonstriktion. Oberarzt Dr. Hans hat sicherheitshalber noch eine subfasziale Drainage eingelegt, da es aus der Bauchdecke vermehrt blutet. Inzwischen hat das Anästhesieteam Kreislauf und Atmung stabilisiert und nochmals Blut für das Notfalllabor

abgenommen. Bei Abschluss der Operation ist der Uterus gut tonisiert, Fundusstand am Nabel. Frau Müller wird bei laufender Beatmung auf die Anästhesie-Wachstation verlegt. Es ist jetzt eine Stunde seit dem Ereignis vergangen (3:55 Uhr). Anästhesieschwester Petra hat Dienst auf der Intensivstation und übernimmt die Betreuung von Frau Müller. Sie kennt sich mit geburtshilflichen Notfällen, insbesondere Blutungen, gut aus, die von Zeit zu Zeit auf der Intensivstation versorgt werden. Hinzu kommt, dass sie selbst nach der Geburt ihrer ersten Tochter eine schwere postpartale Blutung hatte, die ihr nicht mehr aus dem Gedächtnis geht. Nach Aufnahme auf die Intensivstation wird erneut ein Notfalllabor abgenommen, die Beatmung wird fortgesetzt, der Kreislaufmonitor ist angeschlossen, Dobutamin läuft über den Perfusor: Blutdruck 120/70 mmHg, Herzfrequenz 100/min, ausreichende Sauerstoffsättigung – also alles stabil, denkt Petra, als sie die Bettdecke hochnimmt, um die Vorlage zu wechseln. Sie bekommt einen »Riesenschreck«. Die Vorlage ist komplett durchgeblutet. Außerdem ist das Bettlaken unter dem Gesäß und zwischen den Beinen der Patientin blutdurchtränkt. Ihr fällt jetzt auf, dass auch die Kompresse auf der Laparotomie-Wunde durchgeblutet ist. Anästhesist Dr. Klaus ist gerade mit einem Trauma-Patienten am Nachbarbett beschäftigt. Er bemerkt die Aufregung

71 4.1 · Falldarstellung

von Schwester Petra und sieht das blutige Bett. »Benachrichtigen Sie sofort die Geburtshelfer!«, ruft er und fügt hinzu: »Haben sie die letzten Laborwerte gesehen?« Während Anästhesieschwester Petra unverzüglich Oberarzt Dr. Hans informiert, ruft Dr. Klaus auf dem zentralen Labormonitor die Werte von Frau Müller ab (Laborbefunde von 3:40 Uhr): Hämoglobin Hämatokrit Thrombozyten Quick Fibrinogen

6,1 mmol/l 29% 80 G/l 70% 1,2 g/l

Er vergleicht diese Werte sofort mit denen, die vor der geplanten Sectio abgenommen worden waren, runzelt die Stirn; sein Blick geht zum Bett von Frau Müller. Die Drainageflasche ist zu ¾ voll – mit frischem Blut! Inzwischen sind die Geburtshelfer auf der Anästhesie-Intensivstation angekommen. Oberarzt Dr. Hans sieht das Blut, tastet in den Fundus uteri und sagt zu Assistenzarzt Dr. Martin: »Völlig aton!« Wenig später läuft eine Infusion mit 40  mE Oxytocin, ohne dass es zu einer Uterus-Tonisierung und Reduktion der Blutung kommt, auch nicht als von Oxytocin auf Sulproston in annähernd maximaler Dosierung (400 ml/h) umgestellt wird. Jetzt liegt auch das letzte Notfalllabor, abgenommen auf der Intensivstation um 4:30 Uhr, vor: Hämoglobin Thrombozyten Quick pTT Fibrinogen

4.1.4

4,5 mmol/l 30 G/l 20% Nicht messbar Nicht messbar

Sie kennen bestimmt die Ursache der Blutung, oder?

Frau Müller hatte die ersten zwei Stunden nach dem Ereignis überlebt, allerdings überleben 50% aller Patientinnen mit FWE diesen Zeitraum nicht. Nach einer großen englischen Registerstudie tritt der mütterliche Tod im Median 1 h 40 min (Bereich 0–23 h) nach Manifestation der FWE ein. Todesursachen sind neben dem Herzstillstand v. a. die Entwicklung eines ARDS (acute respiratory distress syndrome) und/oder Multiorganversagen.

4

Nun kam aber bei Frau Müller eine weitere lebensbedrohliche Komplikation hinzu: profuse Blutungen infolge der fulminanten Entwicklung einer disseminierten intravasalen Gerinnung (DIG) mit massiver Verbrauchskoagulopathie (. Abb. 4.2). Im vorliegenden Fall ist die wahrscheinlichste Ursache für die fehlende Gerinnselbildung eine komplette Defibrinogenierung des Blutes, die weniger auf den reinen Verlust von Fibrinogen (und anderen Gerinnungsfaktoren) infolge der Blutung als vielmehr auf die rasant ablaufende DIG oder eine massive initiale Hyperfibrinolyse zurückzuführen ist. Bei vergleichbarem Blutverlust ist das Ausmaß des Fibrinogenabfalls bei Verbrauchskoagulopathie deutlich ausgeprägter als bei einer traumatischen Koagulopathie (z. B. Atonie, Trauma). DIG und Verbrauchskoagulopathie entwickeln sich bei 30–45% der Patientinnen, die die Initialphase der FWE überleben, und können bereits in den ersten 10–30 min, bei 50% innerhalb von 4 h und noch bis zu 9 h nach klinischer Erstmanifestation auftreten. In bis zu 9% aller Fälle sind koagulopathiebedingte Blutungen Erstsymptome der FWE (»atypische Fruchtwasserembolie«). Die Ursache der DIG ist bisher unklar: diskutiert wird einerseits eine direkte (durch prokoagulatorische Substanzen im Fruchtwasser wie z. B. tissue factor) oder indirekte (zytokinvermittelte Komplement-Aktivierung) Aktivierung der extrinsischen Gerinnungskaskade mit sekundärer Hyperfibrinolyse oder eine massive Hyperfibrinolyse mit ausgeprägter Hypofibrinogenämie, ausgelöst durch im Fruchtwasser enthaltene fibrinolytisch wirksame Substanzen wie Urokinase-like-Plasminaktivator und Plasminogen-Aktivator-I. Klinische Hinweise sind diffuse Blutungen aus Einstich-/Drainagestellen, Haut- und Schleimhautläsionen und aus dem Uterus (Plazentabett). In Abhängigkeit vom Schweregrad der Koagulopathie zeigt das abfließende Blut – wie im vorliegenden Fall aus der Drainage und aus dem Uterus – keine KoagelBildung mehr. Die Laborwerte, abgenommen noch während der Sectio, ergaben bereits Hinweise auf eine Gerinnungsstörung (Fibrinogen erniedrigt auf 1,2 g/l, Thrombozytenabfall auf 80 G/l). Die Gerinnungsanalyse zum Zeitpunkt der Aufnahme auf die Intensivstation korrespondierte mit der

Kapitel 4 · Akuter Herzstillstand unter der Geburt

72

Ursachen:

Fruchtwasserembolie 50%, vorzeitige Plazentalösung < 10%, Sepsis schwere Präeklampsie < 2%, HELLP-Syndrom bis 20% Diagnostik

Pathogenese:

4

Übertritt von prokoagulatorischen Substanzen (z. B. FWE) /tissue factor (z. B. vorzeitige Plazentalösung) mütterliche Zirkulation

Stadien:

Gerinnung*

1. Massive thromboinduzierte Gerinnungsaktivierung: Hyperkoagulabilität 2. DIG: Thrombosierung der Mikrostrombahn (Nierenfunktion Ļ) Verbrauch an Gerinnungsfaktoren/-inhibitoren reaktive Hyperfibrinolyse 3. Verbrauchskoagulopathie: Blutung und/oder Mikro-/Makrothrombosis, Hämolyse Organversagen Verblutung

Grunderkrankung erkennen Schwangerschaft beenden!

mit globalen Gerinnungstests nicht erfassbar: Fibrinogen initial Ĺ Thrombozyten Ļ, Antithrombin Ļ Quick Ļ D-Dimere unspezifisch Ĺ (Normwerte ?), Fibrinogen Ļ PTTĹ,Thrombinzeit Ĺ, Fibrinogen ĻĻ

*wenn verfügbar: Rotationsthrombelastometrie (ROTEM)

. Abb. 4.2  Disseminierte intravasale Gerinnung (DIG): 0,02–0,35% aller Schwangeren

fehlenden Koagel-Bildung (Ungerinnbarkeit des Blutes infolge von Faktorenmangel) und der diffusen Blutungsneigung. 4.1.5

Welche Maßnahmen sind in dieser Situation zur Beseitigung der Blutung lebensrettend?

Der Verblutungstod infolge einer häufig »irreversiblen«, d. h. auf die Substitution von Gerinnungsfaktoren refraktären Koagulopathie ist eine weitere häufige mütterliche Todesursache bei der FWE. Unbehandelt (oder nicht rechtzeitig behandelt) entsteht ein Circulus vitiosus aus massivem Blutverlust (z. B. atoner Uterus/Plazentahaftfläche) → Entwicklung einer Koagulopathie (Verlust- und Verbrauch von Gerinnungsfaktoren) → Verstärkung der Blutung → und der Koagulopathie bis hin zur Ungerinnbarkeit des Blutes → nichtbeherrschbarer hypovolämischer Schock/Multiorganversagen/ Verblutungstod. Im vorliegenden Fall bedeutet das: unverzügliche Korrektur der Hämostase (Behandlung der

Gerinnungsstörung) sowie Beseitigung der Blutungsquelle (hier atoner Uterus). Das schwierigste Problem in dieser klinischen Situation ist die Reihenfolge der Maßnahmen, die von der Dynamik des klinischen Verlaufs/dem klinischen Zustand der Patientin diktiert werden. Am wenigsten risikoreich ist aus pathophysiologischen Gründen zunächst die Stabilisierung der Gerinnung (und des Kreislaufs), um dann bei konsolidierter Gerinnungssituation die definitive Blutstillung durchführen zu können, d. h. in diesem Fall die Entfernung des atonen Uterus. Bei Frau Müller war der Uterus therapierefraktär auf mechanische Maßnahmen und auf die Gabe von Sulproston, welches trotz hoher uterustonisierender Potenz nicht wirksam sein kann, wenn eine manifeste Gerinnungsstörung vorliegt. Offenbar begünstigt die FWE-assoziierte Komplement-Aktivierung die Entwicklung einer Uterusatonie. In dieser Situation sind auch andere uteruserhaltende Maßnahmen wirkungslos und daher nicht indiziert (7 Kap. 3, Postpartale Blutungen). Es entsteht also ein zeitlicher Wettlauf: einerseits in möglichst kurzer Zeit möglichst effektiv Gerinnungsfaktoren/Erythrozytenkonzentrate zu

73 4.1 · Falldarstellung

substituieren und andererseits unverzüglich die Hysterektomie durchzuführen. Aus Registerstudien geht hervor, dass bei FWE in 25% der Fälle eine Hysterektomie infolge von Blutungen notwendig ist. Von entscheidender Bedeutung in dieser dramatischen Situation ist die gute interdisziplinäre Kooperation und Kommunikation. Der Anästhesist/ Intensivmediziner ist derjenige, der für die Kreislaufstabilisierung und die Therapie der Gerinnungsstörung verantwortlich ist, der Geburtshelfer ist für die Beseitigung der Blutungsursache zuständig. Allerdings sollte der Geburtshelfer die initialen Maßnahmen zur Behandlung von Gerinnungsstörungen kennen (7 Kap. 3, Postpartale Blutungen):

Erstmaßnahmen bei Gerinnungsstörungen 1. Antifibrinolytische Therapie mit Tranexamsäure: z. B. 2 g langsam i.v., ggf. Wiederholung und Erhaltungstherapie mit 1 g/h 2. Bei Massivblutung: Komponententherapie aus Erythrozytenkonzentraten und GFP in einem Verhältnis von 1:1, GFP: > 20–30 ml/ kgKG 3. Rechtzeitige intravenöse Applikation von Fibrinogenkonzentraten 4–8 g, ggf. weitere Fibrinogenkonzentrate, wenn GFP noch nicht zur Verfügung steht oder mit GFP keine Anhebung des Fibrinogenspiegels > 2 g/l zu erreichen ist 4. Weitere die Hämostase stabilisierende Maßnahmen (Aufgabe des Anästhesisten): Thrombozytenkonzentrate, Gabe von PPSB-Präparaten (25 I.E./kgKG) bei Quick-Wert < 40%; ggf. intravenöse Applikation von rekombinantem Faktor VIIa (off-label use): Initialdosis 90 µg/ kgKG (Kasuistiken über eine erfolgreiche Behandlung der Koagulopathie bei FWE wurden publiziert)

Jede geburtshilfliche Abteilung sollte prüfen, ob innerhalb des Klinikums (z. B. in der Anästhesie/Intensivmedizin) die Möglichkeit zur Rotationsthrombelastometrie (ROTEM) besteht, die optimal für eine rasche

4

Differenzierung der Gerinnungsstörung und für die Steuerung der Substitution mit Gerinnungsfaktoren ist (7 Kap. 3, Postpartale Blutungen). Der Anästhesist hat darüber hinaus die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für eine effektive Therapie der Gerinnungsstörung zu gewährleisten (Kerntemperatur ≥ 34 °C, pH-Wert ≥ 7,2, ionisierte Ca++Konzentration > 0,9 mmol/l). Das Ende des Falls … »Wenn das so weiterblutet, können wir den Kreislauf trotz aller Maßnahmen nicht mehr lange stabil halten«, konstatiert Oberarzt Dr. Frank. Er hat inzwischen 2  g Tranexamsäure und 6  g Fibrinogenkonzentrat intravenös gegeben, zusätzlich 2000 I.E. Prothrombinkomplex (PPSB) zur Verbesserung der Thrombinbildung. Gerade werden die ersten Erythrozytenkonzentrate und gefrorenes Frischplasma sowie Thrombozytenkonzentrat angehängt. Oberarzt Dr. Hans ist das, was sein Kollege gesagt hat, auch klar. Klar ist ihm auch, dass diese therapierefraktäre Uterus-Atonie nur durch eine sofortige Hysterektomie zu behandeln ist. Eine Patientin mit ähnlichem Verlauf bei FWE mit Koagulopathie ist vor einigen Jahren in seiner Abteilung verstorben. Die dramatischen Erinnerungen an dieses Ereignis hat er noch allzu gut vor Augen. Kurz darauf sind alle Beteiligten wieder im Operationssaal; ein Glück nur, dass der Kreislauf von Frau Müller, die ansonsten eine gesunde Frau ist, das alles aushält, denkt Assistenzarzt Dr. Matthias, als er die Bauchdecken zur Laparotomie desinfiziert. Die suprazervikale Hysterektomie bereitet Oberarzt Dr. Hans keine Probleme. Schwierig ist nur die Blutstillung, da es immer wieder aus kleinen Gefäßen blutet. Der Uterus ist völlig schlaff und »matschweich«. Da hilft auch keine direkte manuelle Kompression des Uterus mehr. Im Douglas-Raum haben sich 200 ml flüssiges Blut gesammelt. Oberarzt Dr. Hans setzt den Uterus sorgfältig in kleinen Schritten mit festsitzenden, parallel gesetzten Klemmen ab, sodass es nicht retrograd aus uterinen Gefäßen bluten kann. Währenddessen sind die Anästhesisten damit beschäftigt, weitere Erythrozytenkonzentrate, gefrorenes Frischplasma und Thrombozytenkonzentrate zu applizieren, darüber hinaus nochmals Tranexamsäure und Fibrinogenkonzentrate,

74

4

Kapitel 4 · Akuter Herzstillstand unter der Geburt

schließlich auch einmalig 90 µg/kgKG rekombinanter Faktor VIIa. Nach Einlegen von Drainagen in den Douglas-Raum und subfaszial verschließt Oberarzt Dr. Hans die Bauchdecken. Die Haut wird geklammert. Am Ende der Operation befindet sich ca. 1 l Blut im Sauger. Frau Müller hat es überstanden. Der Kreislauf bleibt stabil, die Blutmenge in den Drainagen nimmt ab, die Gerinnungsparameter verbessern sich in den nächsten Stunden zunehmend, die Urinausscheidung kommt wieder in Gang. 15 Stunden nach der Hysterektomie wird Frau Müller extubiert. Der weitere Verlauf ist ohne Komplikationen und insbesondere auch ohne neurologische Störungen, die sich bei der Mehrzahl der Überlebenden nachweisen lassen. Und dann, am 14. Tag nach der Operation ist es soweit: Mutter und Kind können entlassen werden. Was bleibt, ist das starke psychische Trauma bei Frau Müller, welches zu bewältigen noch viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Eine zum Team der Klinik gehörende Psychologin ist ihr dabei bereits in den ersten Tagen nach der Geburt eine große Hilfe und begleitet Frau Müller auch noch nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Einige Tage nach der Operation treffen sich die Geburtshelfer und Anästhesisten nochmals zu einer kritischen Fallbesprechung. Hätten sie irgendetwas besser machen können?

4.2 Fallnachbetrachtung 4.2.1

Welche medizinischen/ organisatorischen Fehler sehen Sie in dem geschilderten Fall?

Berücksichtigung der Risikofaktoren Für die FWE gibt es keine spezifischen Risikofaktoren wie z. B. für die Lungenembolie oder den Herzinfarkt. Fehlerhaft war, dass die Assistenzärztin ihren Oberarzt nicht über den erhöhten Blutdruckwert und die Proteinurie informiert hat und dass die Blutdruckwerte infolge der »hektischen« Kreißsaalsituation nicht kontrolliert wurden. Ob die Durchführung der Sectio noch am Abend des Aufnahmetags einen Einfluss auf die Entwicklung der FWE gehabt hätte, ist spekulativ.

Erkennen der Fruchtwasserembolie Entscheidend für die Prognose und das Überleben der Mutter (und bei antenataler FWE auch des Kindes) ist Folgendes: > Bei akuter Dyspnoe/Zyanose, akuter mütterlicher Hypotension und akuter Herz-Kreislauf-Dekompensation (Herzstillstand) während der Geburt/Sectio caesarea muss an die (seltene) FWE gedacht werden!

Die FWE ist eine Ausschlussdiagnose. Der Geburtshelfer sollte die differenzialdiagnostische Abgrenzung zur Lungenembolie und zum Herzinfarkt kennen. Im vorliegenden Fall war lebensrettend, dass die FWE während der Sectio und in Anwesenheit des Anästhesisten auftrat. Laut einer englischen Statistik zur FWE ist in 43% der Fälle weder ein Geburtshelfer noch ein Anästhesist bei Manifestation der FWE anwesend. > Es ist wichtig, dass auch den Hebammen die Kardinalsymptome der FWE bekannt sind, um unverzüglich Geburtshelfer und Anästhesist zu alarmieren!

Die zeitgerechte kardiopulmonale Reanimation Da bei Frau Müller ein Anästhesist vor Ort war, konnte sofort eine adäquate kardiopulmonale Reanimation erfolgen. Das interdisziplinäre Vorgehen bei V. a. Fruchtwasserembolie ist in . Abb. 4.3 dargestellt. Die FWE ist ein interdisziplinärer Notfall, bei dem es auf jede Minute ankommt! Daher ist ein regelmäßiges Training des geburtshilflichen Personals in der Reanimation sowie die regelmäßige Überprüfung der Alarmierungskette unerlässlich (7 Kap. 3, Postpartale Blutungen). Eine kritische Fallanalyse aus dem Confidential Enquiries into Maternal Death 2011 ergab in 8 von 15 Müttersterbefällen infolge FWE mit substandard care folgende Probleme: 44Zu späte Benachrichtigung/Anwesenheit eines erfahrenen Geburtshelfers → verzögerte Diagnosestellung und zu späte Durchführung der Not-Sectio innerhalb von 3–5 min bei antenataler FWE, 44unzureichende Kommunikation zwischen Geburtshelfer und Anästhesist, v. a.: zu





• •

Gabe von Fibrinogenkonzentrat (50 mg/kgKG) Erythrozytenkonzentrate je nach Blutverlust und individuellem Risiko • Vorsichtige Gabe von GFP -> CAVE: Volumenüberlastung TACO • Ggf. Thrombozytensubstitution • Uterotonika, ggf. Hysterektomie • Off label: rekombinanter Faktor VIIa • ggf. Inhalation mit NO/Prostaglandinen

• •

Regelmäßige Therapiekontrollen: Kreislaufmonitoring, ROTEM/Labor, TEE

Intensivmedizinische Überwachung Volumensubstitutuion (kristalloidbasiert) Katecholamintherapie (Arterenol, Dobutrex) Therapie der Hyperfibrinolyse (1 g Tranexamsäure langsam intravenös)

Therapie

Ab dem Zeitpunkt der Indikationsstellung keine Verzögerung durch erweiterte Maßnahmen

Indikation NOTSECTIO?

Point-of-Care-Diagnostik (ROTEM) Arterielle Kanüle Transösophageale Echokardiographie (TEE) Zentral-venöser Katheter

• • • •

• • • • • •

Atemweg sichern (endotracheale Intubation) Invasive Beatmung; PEEP anpassen Monitoring: RR, SpO2, EKG 1-2 großlumige i.v.-Zugänge Vasopressoren (Arterenol, Dobutrex) BGA, Notfalllabor, Blutgruppe + Kreuzblut

Erweiterte Maßnahmen

Notfallmaßnahmen

• Information an Anästhesie/ OP-Team/ Neonatologie • Reanimationsbereitschaft herstellen • Information an Transfusionsmedizin/ Bereitstellung EK, FFP, ggf. THK

Logistik

75

. Abb. 4.3  Interdisziplinäres Vorgehen bei V. a. Fruchtwasserembolie. EK Erythrozytenkonzentrat, GFP gefrorenes Frischplasma, PEEP positive end expiratory pressure, ROTEM Rotationsthromboelastometrie, TEE transösophagaler Ultraschall, THK Thrombozyten-Hochkonzentrat, TACO transfusion-related acute cardiac overload (Aus Rath et al. 2014, mit freundlicher Genehmigung)

Verdachtsdiagnose FWE erwägen!

Koagulopathie

Plötzliche kardiopulmonale Insuffizienz

Prodromalsymptome

4.2 · Fallnachbetrachtung

4

76

Kapitel 4 · Akuter Herzstillstand unter der Geburt

späte Information und Anwesenheit des Anästhesisten → zu späte Reanimation und intensivmedizinische Versorgung und Fehlen klarer interdisziplinärer Absprachen/ Handlungsanweisungen, 44mangelhafte Organisation beim Transport der Patientin.

4

Die massive Koagulopathie Im vorliegenden Fall wurde die Entwicklung der bei FWE häufigen und dann rasant ablaufenden DIG oder massiven Hyperfibrinolyse nicht rechtzeitig erkannt. Wegweisend sind – wie im vorliegenden Fall – der deutliche Abfall des Fibrinogens und der Thrombozytenzahl, der bereits vor Beendigung der Sectio zu erkennen war, aber nicht bemerkt wurde. Darüber hinaus wird häufig auch die Dynamik, mit der sich die Koagulopathie entwickelt, erheblich unterschätzt. Bei Frau Müller wurde die fulminante Verbrauchskoagulopathie erst realisiert, als bereits eine Ungerinnbarkeit des Blutes vorlag. Dementsprechend wurden Maßnahmen zur Prävention und Therapie der Gerinnungsstörung (z. B. die Applikation von Tranexamsäure, Fibrinogenkonzentraten und GFP) viel zu spät durchgeführt. Der vorliegende Fall soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Überleben einer FWE mit Herzstillstand und anschließender massiver Koagulopathie und Hysterektomie ohne neurologische Folgeschäden insgesamt seltener ist als mütterlicher Tod oder Überleben in dieser Situation mit neurologischen Langzeitproblemen. 4.2.2

Der definitive Nachweis der FWE

Die Diagnose FWE ist eine Verdachtsdiagnose, die auf klinischen Symptomen basiert, ohne dass in dieser Notfallsituation die Diagnose beweisende laborchemische und/oder apparative Verfahren zur Verfügung stehen. Bei plötzlichem Tod einer Schwangeren aus ungeklärter Ursache (oder bei V. a. FWE) im Rahmen der Geburt ist eine rechtsmedizinische Obduktion zu fordern, bei der die FWE mittels immunhistochemischer Techniken (z. B. Nachweis von Fruchtwasserbestandteilen wie Mekonium oder Epidermisschuppen in der

Lungenstrombahn, Zeichen einer DIG wie Fibrinthromben in den Pulmonalgefäßen) zuverlässig diagnostiziert werden kann.

Weiterführende Literatur Abenhaim HA, Azoulay L, Kramer MS, Leduc I (2008) Incidence and risk factors of amniotic fluid embolism: a populationbased study on 3 million births in the United States. Am J Obstet Gynecol 199: 149e1–e6 Clark SL (2010) Amniotic fluid embolism. Clin Obstet Gynecol 53: 322–328 Conde-Agudelo A, Romero R (2009) Amniotic fluid embolism: an evidence-based review. Am J Obstet Gynecol 201: 445 Dean LS, Rogers R, Harley RA, Hood DD (2012) Case scenario: amniotic fluid embolism. Anesthesiology 116: 186–192 Ecker JL, Solt K, Fitzsimons MG, Mac Gillivray TE (2012) A 43-years-old woman with cardiorespiratory arrest after a cesarean section. N Engl Med J 367: 2528–2536 Erez O, Mastrolia A, Tachil J (2015) Disseminated intravascular coagulation in pregnancy: insights in pathophysiology, diagnosis and management. Am J Obstet Gynecol 213(4): 452–463 Gist RS, Stafford JP, Leibowitz AB, Beilin Y (2009) Amniotic fluid embolism. Anesth Analg 108(5): 1599–1602 Knight M, Tufnell D, Brocklehurst P et al (2010) Incidence and risk factors for amniotic fluid embolism. Obstet Gynecol 115: 910–917 Kobayashi H (2015) Amniotic fluid embolism: anaphylactic reactions with idiosyncratic adverse response. Obstet Gynecol Surv 70: 511–517 Mc Donnell N, Knight M, Peek MJ (2015) Amniotic fluid embolism: an Australian-New Zealand population-based study. BMC Pregnancy Childbirth 15: 352 Moore LE (2015) Amniotic fluid embolism: follow-up clinical trend. http://emedicine.medscape.com/article/253068-followup/showall Rath W (2013) Fruchtwasserembolie, Lungenembolie. In: Feige A, Rath W, Schmidt S (Hrsg) Kreißsaal-Kompendium. Thieme, Stuttgart, S 142–148 Rath W, Bergmann F (2016) Gerinnungsstörungen in der Geburtshilfe. In: Schneider H, Husslein P, Schneider KTM (Hrsg) Die Geburtshilfe. Springer, Berlin Heidelberg New York Rath W, Hofer S, Sinicina I (2014) Fruchtwasserembolie – eine interdisziplinäre Herausforderung. Dtsch Ärztebl 111(8): 126–132 The Confidential Enquiry into Maternal and Child Health (CEMACH) (2011) Saving mother`s lives reviewing maternal deaths to make childhood safer. 2007–2010. CEMACH, London

77

Blutungen während der Spätschwangerschaft Alexander Strauss

5.1

Falldarstellung – 78

5.1.1

Welche präklinischen geburtshilflichen Symptome könnten das Notarztteam erwarten (. Tab. 5.1)? – 78 Welche Ersteinschätzungsinstrumente der Notfallsituation stehen Dr. Urgencia zur Verfügung? – 78 Welche Fakten und sich daraus ergebende Verdachtsdiagnosen kann das Rettungsteam aus diesen Schilderungen ableiten? – 81 Gibt es Anlass zur Panik für die schweizerischen Luftretter? Welche mögliche Ursachen rücken aufgrund der zusätzlich entdeckten Symptome (welche?) in den Fokus? – 82 Gesetzt den Fall, der Notarzt könnte mit Ihnen telefonieren: Welchen Rat würden Sie ihm bezüglich seiner differenzialdiagnostischen Abwägungen erteilen? – 83 Was meint Dr. Urgencia konkret? – 84 Wie kommt die Frau Dr. Felsenstein zu dieser Einschätzung? – 84 Wie schätzen Sie das Vorgehen von Frau Dr. Felsenstein insbesondere unter der Prämisse der differenzialdiagnostisch (noch) nicht abgeschlossenen Ursachenabklärung bezüglich der mütterlichen/fetalen Gefährdung ein? – 86

5.1.2 5.1.3 5.1.4

5.1.5

5.1.6 5.1.7 5.1.8

5.2

Fallnachbetrachtung – 87

5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4

Vorzeitige Plazentalösung – der geburtshilfliche Hintergrund – 87 Plazentationsstörung – das perinatologische Basiswissen – 88 Trauma während der Schwangerschaft – die geburtshilflichen Bezugsgrößen – 88 Uterusruptur – perinatologische Grundlagen – 89



Weiterführende Literatur – 90

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_5

5

78

Kapitel 5 · Blutungen während der Spätschwangerschaft

5.1 Falldarstellung

Die Vorgeschichte …

5

Ich platzte fast vor Stolz, als ich meinen neuen Notarzt-Overall mit dem Namenszug Dr. Arion Urgencia und dazu passendem Helm für die Hubschraubereinsätze zum ersten Mal überstreifte. Die vergangenen Monate waren wie im Traum verlaufen. »Ich kann es noch immer nicht glauben!«, dachte ich bei mir. Direkt nach meinem erfolgreichen Abschluss der Fachweiterbildung hatte gleich die erste Bewerbung funktioniert: der Sprung aus der Ausbildungsklinik mitten in die schweizerische Bergwelt hinein. Die Stellvertretung als leitender Notarzt für den Kantonsbereich Oberengadin – und das auf Anhieb, nicht zu fassen! Das klingt nicht nur beeindruckend, das war seit jeher mein Herzenswunsch gewesen. Bei meinen ersten Einsätzen war mir das Team, bestehend aus Piloten, Rettungssanitätern und Kollegen, sehr freundlich und hilfreich zur Seite gestanden. Alle hatten mir die Eingewöhnung einfach gemacht. Gerade Johann, selbst seit vielen Jahren als Notfallsanitäter am Standort so etwas wie die graue Eminenz der Truppe, hatte mich als »den Neuen« unter seine Fittiche genommen. Sein »Grüezi und herzlich Willkomme« zur Begrüßung hatte rasch das Eis zwischen »dä Dütsche« und dem Rest der Mannschaft schmelzen lassen. REGA-Flugbasis Samedan: Sonntagmorgen 07:15 Uhr … Der nagelneue Agusta Westland Da Vinci glänzte in den gerade über die Bergspitzen von Muottas Muragl hereinspitzenden ersten Sonnenstrahlen. Als ich mit Johann Iter auf das Rollfeld der schweizerischen REGA (Rettungsflugwacht – Garde Aérienne) auf der Basis Samedan trat, herrschte noch nicht die ansonsten um diese Uhrzeit übliche Geschäftigkeit. Es sollte ein sonniger, aber auch kalter Sonntag werden. Der hereinkommende Notruf vom Monte del Forno erreichte die Rettungsflugmannschaft dieses Vormittags weder überraschend noch unvorbereitet. Wir hatten schon auf den ersten Einsatz des Tages gewartet. Direkt hinter Johann kraxelte ich in unser Prunkstück, den HB-ZRB, und nach nicht einmal 5 Minuten waren wir in der Luft. Durch mein Minifenster erglühten die sonnengebadeten Spitzen von Piz Bernina und Corvatsch in gleißendem

Morgenlicht. Ein Tag, eigentlich viel zu schön, um nicht der Landschaft wegen zu fliegen. Auf meinem Sitz festgeschnallt, ließ ich mir die bisher verfügbaren Einsatzinformationen der Leitstelle nochmals durch den Kopf gehen. »Deutsche Staatsbürgerin, 19 Jahre, schwanger«. Das war alles. Dürftig. Geburtshilfe, ausgerechnet! Da war einiges denkbar. Gerne hätte ich Johann nach seinen geburtshilflichen Erfahrungen gefragt, aber der ohrenbetäubende Lärm des Triebwerks ließ dies während des Fluges nicht zu. Also musste ich versuchen, mich an all das zu erinnern, was ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Schwangerenbetreuung gelernt hatte.

5.1.1

Welche präklinischen geburtshilflichen Symptome könnten das Notarztteam erwarten (. Tab. 5.1)?

... auf der Hütte … 12 Minuten später sprang ich aus der Helikopterkabine in einen durch den Rotorwind aufgewirbelten Schneesturm. Die Capanna del Forno liegt oberhalb von Maloja auf einer Höhe von 2574 m und war trotz strahlendem Sonnenschein kaum auszumachen. Ich kniff die Augen zusammen. 50 m waren es von der Landestelle bis zur Hütte. Auf dem kurzen Weg durch knietiefen Schnee wurde mir wieder einmal das Gewicht unserer Rettungsausrüstung drückend bewusst. Schwer atmend kam ich im, für mein momentanes Gefühl enorm überwärmten Hüttenraum, an. Eine junge Frau mit auslandendem Abdomen, augenscheinlich die Patientin, lag auf der Eckbank des zentralen Hüttenraums. Im Rahmen der präklinischen Ersteinschätzung arbeite ich im Kopf systematisch meine Gedächtnislisten durch.

5.1.2

Welche Ersteinschätzungsinstrumente der Notfallsituation stehen Dr. Urgencia zur Verfügung?

Unter Triage (französisch: trier – sortieren) werden in der Katastrophenmedizin und klinischen Notfallmedizin Verfahren zur schnellen orientierenden

79 5.1 · Falldarstellung

5

. Tab. 5.1  Notfallsituationen während der Schwangerschaft und der Geburt Notfall

Auslöser

Mögliche klinische Symptome/Konsequenzen

Blutung – 1. Trimenon

Fehlgeburt, ektope Schwangerschaft, gestationsbedingte Trophoblasterkrankung, Karzinom

Blutungsschock (Volumenmangel)

Blutung – 2. und 3. Trimenon

Vorzeitige Plazentalösung/Placenta praevia, Uterusruptur

Blutungsschock (Volumenmangel), peritonealer Schock, fetale Anämie, fetale Hypoxie, Frühgeburt

Präklinische Geburt

Wehentätigkeit, Blasensprung

Frühgeburt, Vorfall von Nabelschnur oder kindlicher Teile

Drohende kindliche Hypoxie

U. a. Plazentainsuffizienz, vorzeitige Plazentalösung, mütterliche Gesundheitsstörungen

Fetale Hypoxämie/Azidämie/Azidose (pathologisches CTG), IUFT

Postpartale Hämorrhagie

Uterusatonie, Plazentalösungsstörung, Mehrlingsgeburt, Polyhydramnion

Blutungsschock (Volumenmangel)

Lungenarterienembolie

Bein-/Beckenvenenthrombose

Akuter Herztod, ARDS

Fruchtwasserembolie

Geburt, Sectio caesarea, Placenta praevia

Akuter Herztod, ARDS

Luftembolie

Geburt, Sectio caesarea

Akuter Herztod, ARDS

Trauma

U. a. Poly-/Schädel-Hirn-/Abdominal-Trauma

Blutungsschock (Volumenmangel), Organverletzung, Frühgeburtsbestrebungen

Hypertension/ hypertensive Krise

Präeklampsie/HELLP-Syndrom

Intrazerebrale Blutung, Leberkapselruptur, Blutungsschock, Blutgerinnungsstörung – DIC

Krampfanfall

Eklampsie/Epilepsie/Tetanie

Status epilepticus, Persistenz des Krampfgeschehens, vorzeitige Plazentalösung, fetale Hypoxie, Herz-Kreislauf-Stillstand

Infektion

U. a. Streptokokken Gruppe A, nekrotisierende Fasziitis, Toxic-shock-Syndrome

Sepsis/Schock/Anaphylaxie

Kollaps/Herz-­ Kreislauf-Versagen

Kardiovaskuläre Ursachen (21%):

Herz-Kreislauf-Stillstand

Koronare Herzkrankheit (ca. 80%), Nichtischämische Kardiomyopathie (10–15%), strukturell-funktionelle Herzerkrankungen (< 5%) Vorübergehende Auslöser (9%): Elektrolytstörung, Hypoxie, Azidose, Stress, Vagus-Reizung, Antiarrhythmika Pharmakologische Ursachen (Oxytocin, Magnesium, Opioide, Insulin, Anaphylaxie, Medikamentenverwechslung, Drogen) Arrhythmie-Mechanismen (3%) Reentry-Phänomene, autonome Schrittmacherzentren

80

Kapitel 5 · Blutungen während der Spätschwangerschaft

. Tab. 5.1  Fortsetzung Notfall

Auslöser

Mögliche klinische Symptome/Konsequenzen

Extrakardiale Faktoren (31%): Anästhesiologische Komplikationen, Thrombose, Embolie, Blutung, Infektion, Trauma, Spannungspneumothorax, psychiatrische Störung, Schock Schwangerschaftsspezifische Ursachen (30%):

5

SIH, Präeklampsie, Eklampsie, HELLP-Syndrom, Fruchtwasserembolie, peripartale Kardiomyopathie, ektope Schwangerschaft Akutes Abdomen nichtgeburtshilflicher Ursache

U. a. Nierenstein, Appendizitis, stielgedrehtes Ovar, akute Cholezystitis, Ileus, akute Pankreatitis, Hernie

Infektion, Sepsis, Schock, Frühgeburtsbestrebungen

Anaphylaxie

Allergie, Medikamente, Infektion

ARDS, anaphylaktischer Schock

IUFT intrauteriner Fruchttod, ARDS acute respiratory distress syndrome, DIC disseminierte intravasale Gerinnung, SIH schwangerschaftsinduzierte Hypertonie.

Einteilung von Verletzten oder Exponierten bzw. der Schweregrade ihrer Verletzung/Exposition verstanden. Aufgrund der mit dem Begriff Triage assoziierten problematischen Ausgrenzung von zu ressourcenintensiv zu behandelnden Patienten, wird in Notaufnahmen mittlerweile überwiegend der Begriff der Ersteinschätzung (primary assessment) favorisiert. Strukturierende Instrumente zur Ersteinschätzung von Patienten werden in Notaufnahmen wie auch in der mobilen Notfallmedizin eingesetzt. Dabei unterscheidet sie sich die Klinikaufnahme vom außerklinischen Notfallsetting durch das Vorhandensein optimaler Ressourcen, und Konfliktentscheidungen zwischen individuellem und Gesamtnutzen entfallen somit in der Regel. Mehrstufige Ersteinschätzungssysteme sind dabei als verlässliche und validierte Methoden der routinemäßigen klinischen Priorisierung von Notfallpatienten zur unmittelbaren Zuführung zu den erforderlichen Behandlungsalgorithmen des Notfallmanagements anzusehen. Dabei erweisen sich 5-stufige Ersteinschätzungssysteme gegenüber 3-stufigen als überlegen. Im Einzelnen werden u. a. der Australasian Triage Scale (ATS), der Canadian Triage and Acuity Scale (CTAS), das Manchester-Triage-System (MTS)

oder der Emergency Severity Index (ESI) erfolgreich eingesetzt. Damit wird ein Sortierungsprinzip unter Vorrangstellung des individualmedizinischen Aspekts implementiert, welches eine erste Patienteneingruppierung mit dem Ziel der initialen Festlegung von sicheren und nachvollziehbaren Behandlungsprioritäten mit sich bringt. MTS  Das MTS geht hierzu von Beschwerdebildern

und Leitsymptomen aus. Innerhalb kurzer Zeit wird der Patient nach ihren Symptomen zu Lebensgefahr, Schmerzen, Blutverlust, Bewusstsein, Temperatur

und Krankheitsdauer eingeschätzt und entsprechend dieser Einschätzung einer von 5 Stufen der Dringlichkeit zugewiesen. ESI  Im Gegensatz zum MTS nutzt der ESI zunächst

ein 2-stufiges Herangehen zur Priorisierung von Notfallpatienten. Zunächst wird hohe Behandlungsdringlichkeit identifiziert. Für die verbleibenden Notfälle wird nachfolgend eine 5-teilige Gruppenzuordnung (nicht Behandlungsreihenfolge) sowie eine Zuweisung zum tauglichsten Behandlungsort aufgrund des voraussichtlichen Ressourcenbedarfs festgelegt:

81 5.1 · Falldarstellung

44(A): Behandlungsdringlichkeit (»Umgehende lebensrettende Intervention erforderlich?«), 44(B): Wartezeit (»Kann die Patientin [wie lange] warten?«), 44(C): Ressourcen (»Welche Mittel wird die Behandlung in Anspruch nehmen?«). Dispositionen entlang derartiger Entscheidungsprogramme sind im Fall einer schwangeren Notfallpatientin durch die potenzielle Gefährdung von »zwei Leben« in besonderer Weise kompliziert. Die Managementstruktur des Einzelfalls wird dabei sowohl durch die dualen Patientinnencharakteristika (mütterliche Morbidität, Gestationsalter, Schwangerschafts- und Geburtsrisiken) als auch den Ort des geburtshilflichen Notfalls und die infrastrukturellen/logistischen Gegebenheiten im Rahmen der Rettungskette (räumlich, personell und organisatorisch) determiniert. ... die Retter im Einsatz … »Fehlende oder unzureichende Atmung? Fehlender Puls? Schock? Gefährdungen der Atemwege (Stridor, Speichelfluss)? Bewusstseinszustand? (Anhaltender) Krampfanfall? Lebensbedrohliche Blutung? Besonderheiten?« »nein« »nein« »nein« »nein« »nein« »nein« … Ich gehe im Kopf meine Algorithmen durch. »Susanne Slepsthal, nünzehn Johr jung. Ahsprechbar. Zitlich und rümlich orientiert. Kreislaufstabil, wenn überhaupt, denn a bitz churzatmig«, rasselt Johann Iter die von ihm schon einmal erhobenen Eckdaten der Patientin herunter. »Ich hatte bis heute eine problemlose Schwangerschaft gehabt. Ist doch auch keine Krankheit. So ein Kind ist daher auch kein Grund, seinen Rhythmus total zu ändern. Ich habe zwar noch keine eigenen Erfahrungen mit Kindern, aber mein Freund und ich sind uns sicher: das Beste ist es, einfach mit dem Leben und v. a. auch mit unserem Sport, so wie gehabt, weiterzumachen«, sprudelte sie heraus. »Das Kind soll sich doch unserem Leben anpassen und nicht umgekehrt. Ich habe nie jene Eltern leiden können, die das so völlig anders sehen. Weicheier!« Ich kann sie in ihrem Redeschwall gar nicht bremsen, schiebe aber rasch die Frage, wie es ihr denn jetzt aktuell ginge, dazwischen. »Bis heute Morgen alles tadellos. Nach dem Aufstehen war ich irgendwie schlapp. ‚Na da krabbelt

5

ja jemand im Oma-Modus aus dem Schlafsack‛, bekam ich von meinem Freund zu hören. Ich habe mir aber nichts weiter gedacht – das bisschen Ziehen im Unterleib wirft dich doch nicht um. Vielleicht war die Halbtages-Skitour gestern doch etwas viel gewesen? Auch an den Sturz im Tiefschnee hatte ich nur kurz gedacht. Aber der war wirklich nicht der Rede wert gewesen. Mein Stichtag ist doch erst der 27. Februar, und wir haben heute erst den Ersten. Alles safe! Einfach einen Energieriegel einwerfen, kurz ausruhen und dann geht’s schon wieder.« »Na, tümmer male luege«, höre ich Johann mit einer für ihn typischen Portion Skepsis in der Stimme murmeln, während er den venösen Zugang mit Pflastern fixiert.

5.1.3

Welche Fakten und sich daraus ergebende Verdachtsdiagnosen kann das Rettungsteam aus diesen Schilderungen ableiten?

Kurzanamnese/Diagnose   19-jährige Erstgebärende in der 37. Schwangerschaftswoche (36 + 0 SSW) mit Kontraktionen seit ca. 2 h. Geringgradige Kreislaufreaktion. Verdachtsdiagnose  Wehentätigkeit im Z. n. Skitour

mit anamnestisch wenig violentem Sturztrauma.

Trauma in graviditate: Folgen und ­zugehörige Symptomatik 55Vorzeitige Wehentätigkeit: –– Vermehrte Tonisierung/ Schmerzhaftigkeit des Uterus –– Frühgeburt –– Vaginale Blutung 55Vorzeitiger Blasensprung: –– Wehentätigkeit –– Frühgeburt –– Amnioninfektion (Spätfolge) 55Vorzeitige Plazentalösung: –– Vermehrte Tonisierung des Uterus –– Akutes Abdomen, schmerzhafter Uterus –– Wehentätigkeit

82

5

Kapitel 5 · Blutungen während der Spätschwangerschaft

–– Brady-/Tachykardie, (späte) Dezelerationen, verminderte Oszillation der fetalen Herzfrequenz (FHF) (Zeichen fetaler Hypovolämie) –– Vaginale Blutung –– Maternale Hypovolämie (intrauterine Blutung) 55Uterusruptur: –– Schmerzhaftigkeit des Uterus/akutes Abdomen –– Akute Wehenlosigkeit/uteriner Tonusverlust –– Vaginale Blutung –– Vorzeitige Plazentalösung –– Maternale Hypovolämie (intraabdominelle Blutung) 55Brady-/Tachykardie, (späte) Dezelerationen, verminderte Oszillation der FHF (Zeichen fetaler Hypovolämie) 55Mütterliche Traumafolgen: –– Knochenbruch (Schmerzen, Fehlstellung, Krepitation) –– Verletzung parenchymatöser Organe (u. a. Blutung) –– Intraabdominelle/intrathorakale Blutung –– Harnblasenverletzung (Makrohämaturie, Unterbauchschmerzen, Peritonitis, Anurie, Anstieg der Retentionsparameter) 55(Direkte) fetale Traumafolgen (selten): –– Organverletzungen –– Knochenbruch

leicht auf dem Abdomen aufliegende Handfläche. Da wird mir bewusst, dass sich der Bauch während meiner Palpation auch gar nicht mehr entspannt.

5.1.4

Gibt es Anlass zur Panik für die schweizerischen Luftretter? Welche mögliche Ursachen rücken aufgrund der zusätzlich entdeckten Symptome (welche?) in den Fokus?

Klinische Zeichen  44Abdominaler Schmerz, 44Wehen, 44Blutung, 44hartes (abwehrgespanntes) Abdomen, 44(geringgradige) klinische Kreislaufreaktion. Mögliche Ursachen (. Tab. 5.2) 

44Vorzeitige Wehentätigkeit/Geburtsbeginn mit (verstärkter) Zeichnungsblutung, 44Plazentarandsinusblutung, 44vorzeitige Plazentalösung, 44Uterusruptur.

... schwierige diagnostische Abwägungen … Auf meine Frage, wo denn die Schmerzen am stärksten seien, kommt nur ein »Überall, aber bloß nicht da unten so am Schambein drücken, da bin ich doch gestern draufgefallen!«

. Tab. 5.2  Häufigkeit vaginaler Blutungsursachen im letzten Schwangerschaftsdrittel

... ernster als gedacht … Susanne verzieht das Gesicht. Der Bauch unter meiner Hand wölbt sich nur leicht vor. »Derf i mol untr d‘Decki luaga?«, kommt mir Johann zu Hilfe. Nach Zurückschlagen der über die Beine der Patientin geworfenen Fleece-Decke zeigt sich eine, bereits langsam von der Bank auf den Boden tropfende Blutansammlung. Frisches Blut! Dunkel! Mit Koageln. Das meiste allerdings noch flüssig. Wenn ich mir bisher noch keine großen Sorgen gemacht habe, so wird das jetzt anders. »Der Bauch tut weh«, stößt sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Besonders, wenn Sie so drücken.« Damit meint sie meine

Plazentarandsinusblutung

17–33%

Vorzeitige Plazentalösung

15–26%

Zeichnungsblutung (vaginaler Geburtsbeginn)

15–20%

Placenta praevia

12–24%

Schwangerschaftsunabhängige Blutung (Kolpitis, Ektopie, Polyp, Karzinom)

6–10%

Uterusruptur

0,8%

Vasa praevia

0,5%

Unbekannt

30–50%

5

83 5.1 · Falldarstellung

5.1.5

Gesetzt den Fall, der Notarzt könnte mit Ihnen telefonieren: Welchen Rat würden Sie ihm bezüglich seiner differenzialdiagnostischen Abwägungen erteilen?

Im Gegensatz zum In-hospital-Notfall bedingt das präklinische Setting einer geburtshilflichen Notfallsituation zweierlei wesentliche diagnostische Einschränkungen: 44Die Beurteilung der Vor-Ort-Situation erfolgt ausschließlich durch klinische äußere Untersuchung, vorgenommen

von einem geburtshilflich ungenügend routinierten Notarzt (u. a. keine vaginale Tastuntersuchung). 44Fehlen sämtlicher apparativer Möglichkeiten der mütterlichen, v. a. aber fetalen Zustandsbeurteilung (Kardiotokographie) wie auch jeglicher vaginal- oder abdominal-operativer geburtshilflicher Interventionsmöglichkeiten. In Würdigung der aktuellen Symptomatik und der Anamnese der Patientin kommt einer violenten Uterusruptur, aber auch einer vorzeitigen Plazentalösung bzw. deren Kombination das höchste Wahrscheinlichkeitspotenzial zu (. Tab. 5.3).

. Tab. 5.3  Differenzierung der Ursachen akuter Blutungen in der Schwangerschaft Befunde

Vorzeitige Plazentalösung

Placenta praevia

Uterusruptur

Zeichnungsblutung

Blutung

Dunkle Schmierblutung nach außen, starke Blutung nach innen

Helle Blutung nach außen

Dunkel Blutung nach außen und nach innen

Helle Blutung (Geburt < 10 Tage in 15%)

Dynamik der Symptome

Perakut

Protrahiert

Perakut

Akut

Schmerzen

Heftige Uterusdruckschmerzen, abdominelle Abwehrspannung

Keine

Heftige Uterusdruckschmerzen, abdominelle Abwehrspannung

Wehenabhängig

Uterustonus

Erhöht (bretthart)

Unverändert

Erhöht (tokographisch Tonusverlust des intrauterinen Drucks)

Wehenabhängig

Wehentätigkeit

Vorhanden, mit Dauertonus

Uneinheitlich (sowohl als auch)

Keine

Gegeben

Kardiotokographie

Pathologisches Herztonmuster (mitunter normal)

Normal

Pathologisches Herztonmuster (mitunter normal)

Normal

Sonographie

Retroplazentare KoagelBildung (Darstellung gelingt meist nicht im Akutstadium)

Plazenta vor dem inneren Muttermund gelegen (myometrane Infiltration ggf. farbdopplersonographisch bewertbar)

Unauffälliger Ultraschallbefund (Darstellung der Rupturstelle gelingt nur im Ausnahmefall)

Unauffälliger Ultraschallbefund

Mütterliche Kreislaufsituation

Diskrepanz: geringer Blutverlust nach außen und maternaler Schockzustand

Gute Übereinstimmung zwischen Blutverlust und mütterlichem Zustand

U. U. Diskrepanz: geringer Blutverlust nach außen und maternaler Schockzustand

Ungestört

Blutgerinnung

Im fortgeschrittenen Stadium häufig gestört

Meist normal

Meist normal (erst bei längerem Bestehen gestört)

Normal

Kapitel 5 · Blutungen während der Spätschwangerschaft

84

... Verwirrung … Die Abwägung aller klinischen Informationen und unter Berücksichtigung der Trauma-Anamnese der Patientin lassen mich an eine Uterusruptur als zugrundeliegende geburtshilfliche Pathologie denken.

5.1.6

5

Was meint Dr. Urgencia konkret?

Ursachen der Uterusruptur 55Überdehnungsruptur (peripartal) –– Kephalopelvines Missverhältnis, fetale Makrosomie –– Hoher Geradstand –– Kindliche Querlage –– Armvorfall sub partu –– Polysystolie, hypertone Wehentätigkeit (Wehensturm) –– Weichteildystokie –– Fetale Fehlbildung (z. B. Hydrozephalus, Tumor), Mehrlinge, Polyhydramnion 55Violente Ruptur –– Geburtshilfliche Operation (vaginaloperative Entbindung, vaginale BEL-Entbindung) –– Unfall (z. B. Kfz) –– Stumpfes oder scharfes (Unter-) Bauchtrauma 55Narbenruptur –– Z. n. Sectio caesarea oder anderen Uterusoperationen –– Z. n. Myomenukleation –– Z. n. traumatisierender Kürettage (Perforation) 55Spontanruptur –– Plazentationsstörung (Plazenta per-/ increta) –– Uterusfehlbildung –– Endometriose/Adenomyosis –– Intramurale Abszessbildung

... jetz pressierts … »Es läuft! … «, schreckt mich Susanne aus meinen »Wie geht’s jetzt weiter-Überlegungen« auf. Als ich hinunter blicke, sehe nur eine Lache. »Die Blutung ist jetzt ganz schön stark«, denke ich mir erschrocken.

Unser Pilot, der in der Hüttentür erschienen ist, um zu sehen wie es denn so stehe, tauscht mit Johann ein Stirnrunzeln aus. »Zusammenpacken und schnellstmöglich ins Spital«, rufe ich ihm mit beginnender Ungeduld zu. Der neben mir kniende Johann raunt mir ins Ohr, doch schon einmal mit der geburtshilflichen Abteilung im Spital Oberengadin in Samedan telefonisch Kontakt aufzunehmen und die Patientin anzukündigen. »Ja natürlich«, denke ich – ärgerlich, die Idee nicht selbst gehabt zu haben – und nestle schon an meinem Mobiltelefon. Das Telefonat gestaltet sich kurz und bündig: »Susanne Slepsthal, 19 Jahre, auf der Fornohütte, schwanger ca. 37. Schwangerschaftswoche, kreislaufstabil, schmerzhafte Wehen, abdominelle Abwehrspannung, starke vaginale Blutung, Z. n. Sturz beim Tiefschneeskifahren vor 16 Stunden, V. a. violente Uterusruptur.« Johann souffliert an einigen Stellen meiner Notfallmeldung, wofür ich ihm im Stillen aufrichtig dankbar bin. Zwischenzeitlich haben wir Susanne auf der Notfalltrage gelagert und befinden uns unter Führung von Johann Iter auf dem Rückmarsch zum Heli. Die Turbine heult auf, und mit dem flappenden Wummern der Rotoren geht es auch schon wieder in die Höhe. Nach kurzem Flug direkt im Spital Oberengadin in Samedan angekommen, geht es dann sehr schnell. Unmittelbar nach Übergabe von Frau Slepsthal wird diese auch schon an das CTG gelegt, und die kindlichen Herztöne werden gesucht. Sie blutet noch immer, und ihre Schmerzen werden schlimmer. Bei prolongierter fetaler Bradykardie um 90 SpM unter heftiger Wehentätigkeit, gefolgt von einer myometranen Dauerkontraktionen, ist sich die im Kreißsaal verantwortliche Oberärztin Frau Dr. Constanze Felsenstein rasch sicher: Man habe es bei Frau Slepsthal mit einer vorzeitigen Plazentalösung Grad II bis–III in der 36 + 0 SSW zu tun!

5.1.7

Wie kommt die Frau Dr. Felsenstein zu dieser Einschätzung?

Als Risikofaktoren/Auslöser einer vorzeitigen Plazentalösung können sich auswirken: 44(abdominale) Traumata (Verkehrsunfall, Sturz, Stoß), 44intrauterine Druckveränderungen (nach Blasensprung, nach Geburt des ersten Zwillings),

85 5.1 · Falldarstellung

44Polyhydramnion, 44Z. n. vorzeitiger Plazentalösung (Wiederholungsrisiko 5%), 44pränataldiagnostische Eingriffe (Punktionen), 44extreme Blutdruckschwankungen, 44Plazentainsuffizienz, 44hypertensive Schwangerschaftserkrankungen/ Präeklampsie, 44Faktor-V-Leiden-Mutation, 44Hyperhomocysteinämie/MTHFR-Mutation, 44diabetische Vaskulopathie, 44Nephropathie, 44erhöhtes mütterliches Alter, 44Alkohol-/Kokainabusus oder 44Myome/Uterusfehlbildungen. Die Ablösung selbst ist schmerzfrei, die Symptome des (druck)dolenten, harten Abdomens entwickeln sich erst im Verlauf. So ist die Latenz zwischen z. B. einem Sturzereignis und dem Einsetzen der Symptomatik einer traumatisch bedingten Plazentalösung zu verstehen. Folgende Zeichen können auf eine vorzeitige Plazentalösung hinweisen: 44Brettharter und druckempfindlicher Uterus, 44plötzlich einsetzender Schmerz und schmerzhafte Dauerkontraktion, 44Schockzeichen (Erhöhung der Pulsfrequenz, Blutdruckabfall), ggf. Verbrauchskoagulopathie, 44vaginale Blutung (75–80%), 44pathologisches fetales Herzfrequenzmuster. Welche Kombination der möglichen Symptome einer vorzeitigen Plazentalösung sich im Einzelfall manifestiert, ist vom Grad der Plazentalösung abhängig:

–– Keine Beeinträchtigung der maternalen Kreislaufsituation –– Fetale Beeinträchtigung selten, allerdings möglich 55Grad II: –– Mittelschwere Blutung nach innen oder außen –– Kompensierte maternale Kreislaufsituation –– Zeichen fetaler Gefährdung 55Grad III: –– Schwere Blutung nach innen oder außen –– Stark schmerzhafter Uterus mit maternaler Abwehrspannung –– Maternaler Schockzustand (30% mit Gerinnungsstörung) –– Intrauteriner Fruchttod (IUFT)

Die Diagnose der vorzeitigen Plazentalösung ist klinisch in manchen Fällen auch sonographisch zu stellen. Dabei stellt sich das retroplazentare Hämatom in der Regel nicht als echoleere Raumforderung (frische Blutung) dar, sondern erst im sich organisierenden Stadium als scharf, aber unregelmäßig begrenzte, inhomogene, mit echoarmen Binnenechos erfülltes wolkiges Blutgerinnsel. Der fehlende sonographische Nachweis eines retroplazentaren Hämatoms schließt andererseits die vorzeitige Ablösung der Plazenta von der Uteruswand nicht aus. Vergleichbares gilt für die regelhaft bei Plazentalösung pathologische FHF (Dezelerationen, Bradykardie, Tachykardie, Oszillationsverlust). Auch hier ist der Umkehrschluss, bei Fehlen die CTG-Zeichen, sei eine vorzeitige Plazentalösung ausgeschlossen, unzulässig. ... im Spital …

Plazentalösung – Gradeinteilung 55Grad 0: –– Keine Symptome –– Diagnose sonographisch oder postpartal –– Keine fetale Beeinträchtigung 55Grad I: –– Geringe Blutung nach innen oder außen –– Geringer Druckschmerz –– Geringe Tonisierung

5

Den weiteren Verlauf bei »meiner Schwangeren vom Monte del Forno« erfahre ich Tage später im Originalton, als ich Susanne im Spital nochmals besuche. Die Eindrücke der vergangenen Stunden sind ihr in allen Details noch ganz deutlich vor Augen: »In welchem Film bin ich hier eigentlich? Es ist doch viel zu früh, wir haben noch nicht einmal einen Namen für unsere Tochter«, sei der einzige Gedanke gewesen, welcher ihr durch den Kopf schoss, während bei Spitalsaufnahme alles um sie herum auf einmal zu passieren schien.

86

5

Kapitel 5 · Blutungen während der Spätschwangerschaft

Zusätzlich habe sie auch noch angefangen, heftigst zu zittern und sich zu übergeben. Im Hintergrund sei die ruhige aber sehr bestimmte Stimme von Dr. Felsenstein zu hören gewesen: »Starke Blutung, bretthartes Abdomen, Wehensturm mit Dauerkontraktion – vorzeitige Plazentalösung – Wehenhemmung, NotSectio!« Während sich die Herzfrequenz des Kindes nur bedingt auf 110 SpM erholte, habe sich die zuständige Hebamme beeilt, sofort den von der Oberärztin indizierten Notfallkaiserschnitt vorzubereiten. Sie habe dies alles aber nur wie durch Watte wahrgenommen. Ihr Freund habe es nicht ausgehalten, sie so zu sehen, und musste an die Luft. Auf dem Weg in den Operationssaal habe ihr ein weiterer Arzt – der Kinderarzt wie sie später erfuhr – erklärt, dass er ihr Baby erstmal mitnehmen würde und es ihr erst nach Abschluss der Erstbehandlung zeigen könne. Sie habe die ganze Zeit bis zum Narkosebeginn geweint. »Als sie die Kleine herausholten, war ich nicht dabei. Ich hörte nicht ihren ersten Schrei. Nichts. Filmriss.« »Als ich wieder halbwegs klar war«, so schildert sie sehr eindrucksvoll, »da spürte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich bat immer wieder um Nachricht von den Kinderärzten. Ich weiß nicht, wie oft ich nach meiner Kleinen gefragt habe, bis man mir schließlich mitteilte, dass es kompliziert sei und es nicht so gut gehe. Das war zu viel für mich, und ich fing wieder an, mich zu übergeben. Nachdem sie mich schließlich wieder zugenäht hatten, konnte ich meine Tochter dann doch kurz auf den Arm nehmen, bevor sie mir wieder weggenommen und in die Kinderklinik gebracht wurde.«

5.1.8

Wie schätzen Sie das Vorgehen von Frau Dr. Felsenstein insbesondere unter der Prämisse der differenzialdiagnostisch (noch) nicht abgeschlossenen Ursachenabklärung bezüglich der mütterlichen/fetalen Gefährdung ein?

Da Mutter und Kind bei einer vorzeitigen Plazentalösung akuter Lebensgefahr ausgesetzt sind, müssen unmittelbar Maßnahmen ergriffen werden.

In Abhängigkeit vom klinischen Blutverlust als indirektem Parameter der Plazentafunktionsstörung durch die Mutterkuchenablösung ist die Geschwindigkeit der Therapie entscheidend für das Überleben und die Gesundheit von Mutter und Kind. Neben dem Schweregrad der Hämorrhagie gewinnen daher auch weitere mütterliche wie kindliche Überwachungsparameter maßgebliche Bedeutung für die weiteren Therapieentscheidungen. Im Fall von bedrohlichen klinischen Werten ist die Beendigung der Schwangerschaft anzustreben. Diese hat auf dem schnellstmöglichen Weg, in der Regel (bei vitalem Fetus) als Notkaiserschnitt, zu erfolgen. Vergleichbares gilt für die Rettung beider, Mutter und Kind, bei Vorliegen einer Uterusruptur (± Plazentaablösung), sodass die Maßnahme der Notsectio als initiale Behandlungsstrategie im vorliegenden Fall unter allen Prämissen unausweichlich war. Die Tatsache des Ausbleibens eines Tonusverlusts des Uterus wie auch die fortgesetzte (polysystole) Wehentätigkeit werden im vorliegenden Fall zum differenzialdiagnostischen Fingerzeig in Richtung einer sich ansonsten zur Ruptur klinisch verwechselbar darstellenden vorzeitigen Plazentalösung. Alle sich an die Rettung des Kindes (der Mutter) anschließenden Therapieentscheidungen/-maßnahmen richten sich nach dem intraoperativen Befund und damit der Klärung der noch zu Eingriffsbeginn vorhandenen differenzialdiagnostischen Mehrdeutigkeit. ... das Ende des Falls Das Debriefing unseres ersten gemeinsamen geburtshilflichen Einsatzes fand in der Teeküche unserer Einsatzzentrale am Platz in Samedan statt. Es trafen sich alle am Flugrettungseinsatz Beteiligten zur kritischen Fallanalyse. Um nachzuarbeiten, ob wir irgendetwas hätten anders oder besser machen können, und um Informationen über den weiteren perinatologischen Verlauf zu erhalten, hatten wir auch die leitende Oberärztin der Geburtshilfe des Oberengadiner Spitals zu diesem, für jeden Einzelfall unverzichtbaren Bestandteil unserer Arbeit eingeladen. Johann hatte schon für alle Kaffee eingegossen, als wir von Frau Dr. Felsenstein noch Vieles über Blutungen in der Schwangerschaft lernen konnten.

87 5.2 · Fallnachbetrachtung

5.2 Fallnachbetrachtung > Die meist akute Natur geburtshilflicher Blutungen bestimmt das diagnostische wie auch das therapeutische Szenario. Dabei werden heftige Blutungen im letzten Trimenon zu einer der häufigsten mütterlich letalen Schwangerschaftskomplikationen, welche präklinisch wie auch innerklinisch stets zur absolut dringlichen perinatologischen Notfallsituation führen. Neben der Gefährdung der Schwangeren kann die Hämorrhagie u. U. in Kombination mit einem direkten Blutverlust des Kindes auch erhebliche fetale Gesundheitsrisiken mit sich bringen.

5.2.1

Vorzeitige Plazentalösung – der geburtshilfliche Hintergrund

Kommt es während der Schwangerschaft zur Ablösung der Plazenta von der Uteruswand (1% aller Schwangerschaften), kann sich je nach Lokalisation der Lösungsstelle eine Blutung nach innen (retrochoriales Hämatom) oder eine Blutung nach außen (vaginale Blutung) ausbilden.

Prädisponierende Faktoren für eine vorzeitige Plazentalösung 55Fruchtwasservermehrung (Polyhydramnion) 55Mehrlingsschwangerschaft, direktes uterines Trauma (Verkehrsunfall) 55Pränataldiagnostischer/-therapeutischer Eingriff (Amniozentese, Chorionzottenbiopsie, Nabelschnurpunktion, Amniondrainage, Fetoskopie) 55Trauma 55Uterus-Fehlbildung (Doppelbildung, Septierung) 55Myom oder schwangerschaftsbedingte Erkrankung, (Präeklampsie, Eklampsie) 55Z. n. vorzeitiger Plazentalösung (Rezidivrisiko 5%)

5

Der klinische Verlauf ist geprägt durch perakut auftretende, stärkste abdominale Schmerzen mit erhöhtem Uterustonus und vaginale Blutungen unterschiedlicher Heftigkeit (75–80%). Die Lösungsblutung kann bei starkem Ausprägungsgrad zum Volumenmangelschock und zur Verbrauchskoagulopathie bei der Schwangeren führen. 20–30% der Fälle verlaufen allerdings ohne klinische Symptome für die Schwangere. Die Diagnose ist dann nur sonographisch bzw. aufgrund der fetalen Beeinträchtigungen zu stellen. Differenzialdiagnostisch kommen Blutungen bei Zeichnungsblutungen bei Zervixeröffnung, vaginalen oder zervikalen Kontaktblutungen, Placenta praevia, Uterusruptur und selten durch pathologische, tumoröse Veränderungen der Zervix und der Vagina infrage. Das geburtshilfliche Vorgehen bei vorzeitiger Plazentalösung hängt in erster Linie vom Schweregrad der Blutung nach außen und innen und in zweiter Linie vom Gestationsalter ab. Bei überlebensfähigem Fetus (≥ 24 + 0 SSW) und massiver Symptomatik ist die schnellstmögliche Entbindung durch Sectio caesarea die Therapie der Wahl. Ein vaginaler Entbindungsversuch ist dagegen nur Fällen mit absehbar raschem Geburtsverlauf, moderater Blutung und stabilen mütterlichen und kindlichen Kreislaufparametern vorbehalten. Bei intrauterin bereits verstorbenem Kind und starker mütterlicher Blutung ist u. U. eine operative Schwangerschaftsbeendigung aus mütterlicher Indikation erforderlich. Bei ausschließlich sonographisch nachweisbarem Hämatom ohne klinische Symptomatik und unauffälligen fetalen Überwachungsparametern ist dagegen mitunter sogar geburtshilflich abwartendes Vorgehen zu rechtfertigen. In der Folge der vorzeitigen Plazentalösung kann die Kontraktionsbereitschaft des Uterus durch Blutung in das Myometrium (Couvelair-Uterus) so beeinträchtigt sein, dass eine Uterusatonie mit zusätzlichem postpartalem Blutverlust droht. Prophylaktische/therapeutische Maßnahmen zur Atonievermeidung/-bekämpfung sind daher frühzeitig zu ergreifen. Die mütterliche Prognose der vorzeitigen Plazentalösung (Mortalität 1%) wird neben dem Ausmaß der Anämie von einer sich potenziell entwickelnden Verbrauchskoagulopathie (10%) bestimmt. Die hohe kindliche Mortalität (2–67%)

88

Kapitel 5 · Blutungen während der Spätschwangerschaft

bedingt dagegen vornehmlich das Gestationsalter und der Schwergrad der vorzeitigen Plazentalösung. Dabei ist der Fetus in ca. 50% der Fälle schon vor der Geburt verstorben. 5.2.2

5

Plazentationsstörung – das perinatologische Basiswissen

Die geburtshilflich ungünstige Lokalisation der Plazenta im unteren Uterinsegment mit teilweiser oder vollständiger Überdeckung des inneren Muttermundes kommt bei 0,5% aller Schwangerschaften vor. Ursächlich für eine derartige Placenta praevia ist häufig der gesteigerte Nidationsreiz durch Operationen der Uteruswand (Sectio-Narbe, Myomenukleation, Kürettage). Als klinisches Leitsymptom ist die akute, teils massive hellrote vaginale Blutung zu werten. Schmerzen sind nicht typisch. Hinsichtlich der Lagebeziehung der Plazenta zum inneren Muttermund lassen sich eine Placenta praevia totalis (vollständige Überdeckung), eine Placenta praevia partialis (teilweises Überdecken), eine Placenta praevia marginalis (Heranreichen an den Rand) und ein tiefer Plazentasitz (Distanz Plazentaunterrand – innerer Muttermund < 50 mm bzw. Herabreichen unterhalb der Blasenumschlagsfalte) unterscheiden. Diagnostisch ist ein abgestufter Untersuchungsgang – zunächst Sonographie zur Darstellung des Plazentasitzes und erst nach Ausschluss einer Placenta praevia die vaginale Palpation – einzuhalten. In 90–95% der Fälle wird die Diagnose einer Placenta praevia nach der 25. SSW sonographisch korrekt gestellt. Hierbei ist der transvaginale Zugang der transabdominellen Darstellung eindeutig überlegen. Aufgrund des mit einer vaginalen Manipulation verbundenen Blutungsrisikos sollte nach einmaliger Diagnosestellung auf weitere transvaginale (Plazenta-)Explorationen (Palpation, Vaginalsonographie) verzichtet werden. Bei unklaren Befunden kann ggf. sogar auf die MRT zurückgegriffen werden. Zum Ausschluss eines kindlichen Blutverlusts kann bei Hämorrhagien während der Schwangerschaft ein mütterlicher Blutausstrich zum Nachweis von fetalem Hämoglobin (HbF-Zell-Färbung, Kleihauer-BetkeTest, Durchflusszytometrie) vorgenommen werden. Die Implantation der Plazenta im Zervixbereich bedingt neben der Blutungsgefahr auch ein erhöhtes Risiko einer trophoblastären Invasion der

Gebärmutterwand. Das Risiko der Sectio-Hysterektomie (bis 10%) bei Placenta praevia fußt nicht zuletzt auf dieser Neigung zu infiltrativen Wachstumsmustern. Zur Antizipation intraoperativer Blutungskomplikation ist es bei Placenta praevia daher hilfreich, einen abnormen myometranen Invasionsgrad des Mutterkuchens – Placenta accreta, increta oder percreta – sonographisch (ggf. kernspintomographisch) zu evaluieren. Therapeutisch ist bei mäßiger Placenta-praevia-Blutung zunächst ein konservatives Verhalten möglich (Hospitalisierung in Sectio-Bereitschaft, i.v.-Zugang, antenatale Steroidprophylaxe – abhängig vom Gestationsalter, Bettruhe, ggf. Tokolyse). Eine elektive Sectio caesarea ist ab der 36. SSW (Zunahme des Komplikationsrisikos) zu planen. Bei starker Blutung ist dagegen die sofortige Entbindung auch vor Erreichen dieser Tragzeit unumgänglich. Im Gegensatz zur absoluten Kaiserschnittindikation bei Placenta praevia totalis sind eine tief reichende Plazenta und eine Placenta praevia marginalis auch für eine vaginale Geburt geeignet. Voraussetzung hierfür sind das Fehlen einer bedrohlichen Blutung und ein zügiger und unkomplizierter vaginaler Geburtsfortschritt (Erfolgsrate 30%). Im Anschluss an die Entbindung ist bei Placenta praevia totalis aufgrund des mangelnden Kontraktionsvermögens des unteren Uterinsegments (Plazentabett) mit verstärkter postpartaler Blutung zu rechnen. Der postpartalen Atonieprophylaxe kommt daher bei diesen Patientinnen überragende Bedeutung zu. Nach präpartaler sonographischer Diagnose einer Placenta increta/percreta ist alternativ zur Sectio-Hysterektomie – abzielend auf Organerhalt – ein konservativer Therapieversuch unter Belassen der Plazenta und anschließender Methotrexat-Behandlung, mit zweizeitiger Entwicklung der Plazenta (ggf. nach Wochen), eine mit allerdings nicht zu vernachlässigenden Risiken verbundene Behandlungsalternative. 5.2.3

Trauma während der Schwangerschaft – die geburtshilflichen Bezugsgrößen

7% aller Schwangeren erleiden während ihrer Gravidität ein Trauma. Die Hälfte der Ereignisse entfällt dabei auf das letzte Schwangerschaftsdrittel, was verdeutlicht, dass einerseits die körperlichen

89 5.2 · Fallnachbetrachtung

Gegebenheiten der Spätschwangerschaft das Traumarisiko erhöhen und andererseits Ereignisse von den Patientinnen verstärkt berichtet und damit als abklärungswürdig empfunden werden. Die häufigsten Ursachen sind mit 54% Verkehrsunfälle (Lenkrad, schlecht sitzender Sicherheitsgurt), 29% entfallen auf Stürze (veränderte Körperform, schwangerschaftsbedingte Kreislaufdysregulation) und bei 17% liegt Gewaltausübung zugrunde (häusliche Übergriffe, sexuelle Straftaten, Gewaltverbrechen). Verbrennung und Verbrühungen kommen in graviditate selten vor. Mit einem Anteil von 20% an Todesfällen Schwangerer stellen Traumata die häufigste nichtgeburtshilfliche mütterliche Todesursache dar. Bis zur 12. SSW ist der Uterus durch das knöcherne Becken gut geschützt, sodass eine direkte Gewalteinwirkung auf die Gebärmutter erst ab Beginn des 2. Trimenons traumatologisch relevant wird. Neben der unmittelbaren Verletzung des Kindes (selten) können sich in der Spätschwangerschaft massiv nachteilig auf den Schwangerschaftsausgang auswirken: 44vorzeitige Wehentätigkeit, 44vorzeitige Plazentalösung (bei leichtem Trauma 1–5%, bei schwerem Trauma [auffällige FHF, regelmäßige Wehen, persistierende sich u. U. steigernde Uterusdruckschmerzen, vaginale Blutung, vorzeitiger Blasensprung] 40–50%), 44Uterusruptur. Die Therapie traumatisierter Schwangerer ist interdisziplinär (Anästhesie, Pädiatrie, Notfallmedizin, Traumatologie, Orthopädie, Chirurgie, Neurochirurgie) anzulegen. > Im Rahmen der Diagnostik (Bildgebung) und Therapie sind dabei klare Prioritäten zu setzen: Zuerst die Mutter, dann das Kind.

Eine Stabilisierung der mütterlichen Vitalfunktionen erfolgt gemäß den Therapiealgorithmen der Notfallmedizin (inkl. kardiopulmonale Reanimation, Volumen- und Elektrolytsubstitution). Die Patientin ist zur Vermeidung eines Vena-cava-Kompressionssyndroms in Linksseitenlagerung zu überwachen. Bei bewusstloser Patientin ist aufgrund der Aspirationsgefahr eine Magensonde zu legen. In Abhängigkeit vom (fortgeschrittenen) Gestationsalter (> 24 + 0 SSW) und einer entsprechenden fetalen

5

Gefährdung ist eine notfallmäßige Entbindung durch Sectio caesarea zu erwägen. Bei mütterlichem Kreislaufstillstand und (potenziell) überlebensfähigem Fetus (Reife und Nachweis fetaler Lebenszeichen) ist ein Peri-mortem-Kaiserschnitt für das Kind u. U. lebensrettend (sehr kurzer Zirkulationsstillstand, < 5 min). Vor Erreichen der kindlichen Lebensfähigkeit ex utero (≤ 24 SSW) oder avitalem Fetus richtet sich die Betreuung dagegen ausschließlich nach den mütterlichen Erfordernissen. 5.2.4

Uterusruptur – perinatologische Grundlagen

Die Uterusruptur kompliziert 0,03–0,08% aller Schwangerschaften. Dabei ist eine hohe mütterliche (10%) wie auch kindliche Mortalität (bis 50%) zu erwarten. Durch die Uterusruptur kann es zur intraperitonealen Blutung in die Bauchhöhle mit hämorrhagischer/peritonealer Schocksymptomatik kommen. Vom vollständigen Durchreißen der Gebärmutterwand ist eine inkomplette Form, die gedeckte Uterusruptur (Peritoneum viscerale bleibt erhalten, die Rupturstelle kommt extraperitoneal zu liegen), abzugrenzen. Diese Form verläuft als stille Uterusruptur häufig a-/oligosymptomatisch. Ein diagnostisches Dilemma zeitigend, kann die peripartal »nur« drohende Uterusruptur mit massiver Schmerzhaftigkeit im unteren Uterinsegment, einer Zunahme der Wehentätigkeit (Wehensturm) und einem Hochsteigen der Bandl-Furche (durch die Bauchdecke erkennbarer Muskelring zwischen dem unteren und dem sich stark kontrahierenden oberen Gebärmuttersegment) einhergehen. Typische Leitsymptome der stattgefundenen Ruptur sind dagegen ein akuter Zerreißungsschmerz mit abdomineller Abwehrspannung, ein schlagartiges Sistieren der Wehentätigkeit und eine sich rasch entwickelnde mütterliche hämorrhagische Schocksymptomatik (Blässe, Unruhe, Dyspnoe Kollaps). Fakultativ können Kindsteile in der Bauchhöhle der Mutter tastbar sein und/oder eine vaginale Blutung auftreten. Kardiotokographisch ist die kindliche Herzfrequenzregistrierung durch akute Hypoxiezeichen (Dezelerationen, Bradykardie, Oszillationsmusterveränderungen) und die Wehenkurve durch den vollständigen Wegfall des intrakavitären Tonus der Gebärmutter (ggf. interne Ableitung)

90

Kapitel 5 · Blutungen während der Spätschwangerschaft

gekennzeichnet. Die Akuttherapie der Uterusruptur umfasst die sofortige Gabe von Tokolyse (intrauterine Reanimation des Feten), Schockbekämpfung bei der Mutter (O2-Gabe, Substitution von Flüssigkeit und Blutbestandteilen) und die umgehende Laparotomie mit Kindsentwicklung (Not-Sectio) und Wundrevision des Uterus.

5

> Die häufigsten Ursachen von Blutungen während der fortgeschrittenen Schwangerschaft sind Zeichnungsblutungen, vorzeitige Plazentalösung, Placenta praevia und traumatisch verursachte Blutungen wie z. B. bei einer Uterusruptur. Die rasche klinische Diagnostik, bei in der Theorie typischen Symptomen, stellt unter dem Aspekt einer zeitnahen bedarfsgerechten Therapie in der praktischen Abgrenzung der Entitäten eine immer wieder neue Herausforderung für den Geburtshelfer dar.

Weiterführende Literatur Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) (2016) AWMF S2k-Leitlinie 015-063. Peripartale Blutungen, Diagnostik und Therapie. http://www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/015-063l_S2k_Peripartale_Blutungen_Diagnostik_Therapie_PPH_2016-04.pdf Kaufner L, Weizsäcker K, Spies C et al (2012) Emergency caesarean section and interdisciplinary emergency concepts for the delivery room – »What to do if it is urgent?«. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 47(1): 14–21 Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) (2011a) Antepartum haemorrhage. Green-top Guideline No. 63. https://www.rcog.org.uk/globalassets/documents/ guidelines/gtg_63.pdf Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) (2011b) Placenta praevia, placenta praevia accreta and vasa praevia: diagnosis and management. Green-top Guideline No. 27. https://www.rcog.org.uk/globalassets/ documents/guidelines/gtg_27.pdf Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada (SCOG) (2007) Clinical Practice Guideline. Diagnosis and management of placenta previa. http://www.jogc.com/article/ S1701-2163(16)32401-X/pdf Sorokina Y, Strauss A, Schulze A et al (2007) Wiederholte Uterusruptur zu Beginn des III. Trimenon bei Placenta percreta – »Henne und Ei«. Geburtshilfe Frauenheilkunde 67: 1018–1022 Strauss A, Gräsner JT, Ohnesorge H, Sanders L (2012) Geburtshilfliche Notfälle II – Perinatale Gefahrensituationen. Notarzt; 28 259–272

91

Septischer Verlauf im Wochenbett Dietmar Schlembach

6.1

Falldarstellung – 93

6.1.1

An welche Krankheitsbilder oder Probleme müssen Sie bei den angegebenen Symptomen denken? – 93 Wie lautet jetzt Ihre Arbeitsdiagnose? Warum ist die Patientin gefährdet? – 94 Welche körperlichen Untersuchungen führen Sie nun durch? – 95 Was sind die häufigsten Ursachen für Puerperalfieber oder Puerperalsepsis? – 95 Welche Laboruntersuchungen veranlassen Sie? Ist die Bestimmung des kleinen Blutbildes und von CRP hier ausreichend? – 97 Wie lautet jetzt Ihre Verdachtsdiagnose? Mit welchen diagnostischen Maßnahmen sichern Sie diese? – 98 Welche differenzialdiagnostischen Überlegungen kommen bei dieser Befundkonstellation noch infrage (. Tab. 6.1)? – 99 Welche therapeutischen Schritte initiieren Sie? – 99 Wie interpretieren Sie den CT-Befund? – 99 Welche Maßnahmen sind bei gesicherter Diagnose einer ­Ovarialvenenthrombose indiziert? – 100 Welche Diagnose stellen Sie jetzt? Was ist jetzt zu tun? – 101 Welche Therapie initiieren Sie jetzt? – 102 Puerperalsepsis und Endotoxinschock (toxic shock syndrome) – 105 Welche Komplikationen könnten neben einer Sepsis bei einer Ovarialvenenthrombose auftreten? – 108 Was empfehlen Sie der Patientin bei Entlassung? – 108

6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6 6.1.7 6.1.8 6.1.9 6.1.10 6.1.11 6.1.12 6.1.13 6.1.14 6.1.15

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_6

6

6.2

Fallnachbetrachtung – 108

6.2.1

Welche Fehler im medizinischen Vorgehen durch die Ärztinnen sehen Sie im geschilderten Fall? – 108 Welche organisatorischen Schwachstellen finden Sie im geschilderten Fall? – 108

6.2.2



Literatur – 109

93 6.1 · Falldarstellung

6.1 Falldarstellung Was geschah … In einem anstrengenden Dienst – durch die Feiertage ist die Belastung in der Kreißsaal-Aufnahme wie immer deutlich erhöht – wird die Assistenzärztin Frau Steffi Dienst (Ärztin im 1. Weiterbildungsjahr) im Nachtdienst auf die Wochenbettstation gerufen. Die diensthabende Schwester Iris berichtet ihr am Telefon, Frau Yildirim – eine 20-jährige Erstgebärende (nach unauffälligem Schwangerschaftsverlauf problemlose primäre Sectio casearea bei Beckenendlage vor 3 Tagen [Junge, 3890  g], Frau Yildirim stillt) – fühle sich nicht gut. »Ich habe hier noch zwei Schwangere zu versorgen, dann komme ich. Bitte messen Sie schon einmal Blutdruck und Temperatur.« Nach einiger Zeit kommt die Ärztin auf die Station, wo Schwester Iris ihr die Vitalwerte mitteilt und betont, dass sich Frau Yildirim – obwohl es ihr unmittelbar postoperativ gut gegangen sei – schon den ganzen Tag über irgendwie »schlapp und grippig« fühle, ansonsten habe Frau Yildirim keine besonderen Schmerzen angegeben. Der Blutdruck beträgt 118/83 mmHg, die Herzfrequenz 102 SpM, die Temperatur 38,6 °C.

6.1.1

An welche Krankheitsbilder oder Probleme müssen Sie bei den angegebenen Symptomen denken?

Das Hauptsymptom ist hier die auf 38,6 °C erhöhte Temperatur. Eine leichte Tachykardie liegt zusätzlich vor. Beides ist hinweisend auf ein infektiöses Geschehen, welches bei ca. 5–6% der Wöchnerinnen auftritt. In den ersten beiden Wochenbetttagen auftretendes Fieber wird häufig durch extragenitale Infektionen bedingt (Zystitis, Pyelonephritis, Bronchitis, Thrombophlebitis). Genitale Prozesse führen meist erst ab dem 3. bis 4. Tag post partum zu Fieber. Die Temperatur steigt zirkadian meist am späten Nachmittag und Abend an. Ursächlich können Infektionen des Genitaltrakts, der Mammae, eventueller Wundbereiche, der harnableitenden Wege, der Beinvenen, des kardiopulmonalen Systems, des Gastrointestinaltrakts und des zentralen Nervensystems infrage kommen.

6

> Daher sind in jedem Fall eine orientierende körperliche Untersuchung aller Organsysteme sowie breite differenzialdiagnostische Überlegungen erforderlich.

Definition Wochenbettfieber Temperatur ≥ 38,0°C an 2 Tagen während der ersten 10 Tage post partum (American Committee on Maternal Welfare) unter Ausschluss der ersten beiden postpartalen Tage.

Differenzialdiagnostisch kommen folgende Krank-

heitsbilder in Betracht:

Ursachen für Fieber im Wochenbett 55Inneres Genitale: –– Lochialstau –– Endometritis –– Ovarialvenenthrombose –– Tuboovarialabszess –– Paravaginales Hämatom –– Puerperalsepsis/toxic shock syndrome 55Mammae: –– Milcheinschuss/Milchstau –– Mastitis puerperalis 55Wundbereich: –– Dammriss/Episiotomie/Sectio-Naht 55Harntrakt: –– Zystitis –– Harnwegsinfekt –– Pyelonephritis 55Extremitäten: –– Thrombophlebitis –– Tiefe Beinvenenthrombose 55Gastrointestinaltrakt: –– Gastroenteritis –– Hepatitis –– Appendizitis 55Thorax: –– Bronchitis –– Pneumonie 55Zentrales Nervensystem: –– Meningitis 55HNO-Bereich: –– Sinusitis –– Otitis media

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

94

Risikofaktoren für Fieber im Wochenbett (Albright et al. 2014)

6

55Geburtsmodus (z. B. vaginal-operative Entbindung) 55Chorioamnionitis 55Protrahierter Geburtsverlauf 55Prolongierte Dauer zwischen Blasensprung und Geburt 55Zahl der vaginalen Untersuchungen unter der Geburt 55Geburtsverletzung/Episiotomie 55Hämatom 55Manuelle Plazentalösung/Restmaterial 55Vorbestehende vaginale Infekte und Besiedlung (Gruppe-A-Streptokokken) 55Urinkatheter 55Niedriger sozioökonomischer Status 55Diabetes mellitus 55Immunschwäche 55Schwere Anämie 55Adipositas

... so geht es weiter … Frau Dienst geht zur Wöchnerin, um sich selbst ein Bild zu machen. Parallel meldet sich erneut die Aufnahme. Da Frau Yildirim zudem zu schlafen scheint, beschließt die Ärztin, zu triagieren, sie geht zurück in die Aufnahme. Insgeheim ist sie erleichtert, weil sie sich, gerade was das Wochenbett betrifft, noch sehr unsicher fühlt. Nach 2 Stunden (um 2 Uhr morgens) meldet sich Schwester Iris erneut: »Frau Dienst, bitte kommen Sie noch einmal auf Station! Frau Yildirim hat weiterhin Fieber, jetzt 38,9 °C, der Puls ist bei 105 SpM, der Blutdruck bei 110/87  mmHg. Sie schwitzt und klagt über Schmerzen im Unterbauch. Sie müssen jetzt etwas tun! Ich habe schon einmal etwas zur Blutentnahme und zum Fiebersenken vorbereitet … “ «

6.1.2

Wie lautet jetzt Ihre Arbeitsdiagnose? Warum ist die Patientin gefährdet?

Die Befunde sprechen jetzt für SIRS (systemic inflammatory response syndrome) bzw. ein (beginnendes) septisches Krankheitsbild (Puerperalsepsis).

Definition Sepsis Systemisch-inflammatorische Reaktion, definiert durch eindeutige Infektionszeichen und das Vorhandensein von ≥ 2 der folgenden Symptome: 55Temperatur > 38,5 °C oder < 36 °C 55Herzfrequenz > 100 SpM 55Atemfrequenz ≥ 20/min oder PaCO2 12 G/l bzw. < 4 G/l oder > 10% unreife Formen

Bei einer schweren Sepsis kommt es zusätzlich zu Organfunktionsstörungen, Hypoperfusion oder Hypotonie, Oligurie (< 0,5 ml/kg/h) für mehr als 2 h trotz adäquater Flüssigkeitszufuhr). Unbehandelt oder auch trotz adäquater Volumensubstitution kann sich ein septischer Schock entwickeln. > Das Verkennen der Entwicklung einer Puerperalsepsis, welche binnen Stunden foudroyant verlaufen kann, ist eine der häufigsten direkten Ursachen mütterlicher Mortalität.

Die Puerperalsepsis stellt ein lebensbedrohliches Krankheitsbild dar, das im septischen Schock mit einer Letalität von 20–60% assoziiert ist. Etwa 15% aller schwangerschaftsassoziierten mütterlichen Todesfälle sind durch eine Puerperalsepsis verursacht. ... so geht es weiter … Frau Dienst geht eilig zur Station und zusammen mit der Schwester in das Zimmer der Wöchnerin, um sich nun selbst ein Bild zu machen. »Hallo, Frau Yildirim! Ihnen geht es nicht gut? Sie haben Schmerzen?« »Frau Doktor, ich habe Bauchschmerzen und Fieber, ich schwitze, und dann friere ich wieder, und schon den ganzen Tag geht es mir nicht gut. Bitte helfen Sie mir!« »Wir helfen Ihnen, Frau Yildirim, keine Sorge. Wo genau tut es Ihnen denn weh?« »Hier unten … «, beschreibt die etwas adipöse Patientin (BMI 32) einen diffusen Unterbauchschmerz. Mit den Worten »Ich untersuche Sie nun erst einmal gründlich, dann nehme ich Ihnen Blut ab, um

95 6.1 · Falldarstellung

zu überprüfen, was Ihnen fehlt« beginnt die junge Ärztin mit der Untersuchung. Sie ärgert sich etwas, da die Klinik keine Standards vorhält, nach denen sie sich richten kann, möchte sich jedoch auch nicht bei der Oberärztin blamieren, wenn Sie bei Dingen wie »Fieber« nachfragt. Zum Glück erinnert Sie sich an ein jüngst erschienenes medizinisches Fachbuch, in dem solche Situationen in verschiedenen Fallberichten nachvollziehbar geschildert werden. Gewissenhaft führt sie die körperliche Untersuchung zur differenzialdiagnostischen Abklärung durch.

6.1.3

Welche körperlichen Untersuchungen führen Sie nun durch?

Mit diesen manuellen Untersuchungen klären Sie die möglichen Differenzialdiagnosen ab: 44Gynäkologisch-geburtshilfliche Untersuchung: 44Uterus(kanten)schmerz, 44Beurteilung Fundusstand, 44Kontraktion des Uterus, 44Beurteilung der Adnexregion, 44Beurteilung der Lochien (Farbe, Geruch), 44Beurteilung der Wundgebiete (Sectionarbe, Dammriss / Episiotomie). 44Abdominale Untersuchung: 44Appendizitis-Zeichen, 44Abwehrspannung, 44Akutes Abdomen, 44Nierenpalpation, 44Auskultation, 44Untersuchung der Mammae. ... so geht es weiter … Frau Dienst überprüft zunächst die Möglichkeit einer uterinen Infektion (Endo[myo]metritis) oder einer Subinvolutio uteri sowie eines Lochialstaus. Die Gebärmutter ist jedoch gut kontrahiert, der Fundus steht 1–2 QF unter dem Nabel und ist – bei Z. n. Sectio allerdings für die junge Ärztin schwer beurteilbar – nicht deutlich druckschmerzhaft. Auf der Vorlage zeigen sich unauffällige Lochia rubra, deren Geruch der Ärztin normal erscheint. Die Sectio-Narbe ist reizlos, kein Hinweis auf ein Hämatom im Narbenbereich. Bei Adipositas, Z. n. Kaiserschnitt und auch aufgrund ihres Ausbildungsstands kann sie die Adnexregion

6

nicht suffizient beurteilen, jedoch gibt Frau Yildirim Schmerzen im rechten Unterbauch an. Das Abdomen ist ansonsten weich und etwas gebläht, es besteht keine Abwehrspannung. Gie Ärztin versucht bei den Unterbauchschmerzen eine mögliche Appendizitis näher einzugrenzen: »Haben Sie Ihren Blinddarm noch, oder hat man den entfernt? Ich sehe keine Narbe.« »Nein, Frau Doktor, ich hatte bisher keine Operationen.« Die typischen Zeichen einer Blinddarmentzündung kann sie nicht auslösen, die junge Kollegin behält diese dennoch als Differenzialdiagnose im Kopf und schließt ihre Untersuchung ab:

44Nierenlager beidseits frei und nicht klopfschmerzhaft, keine Miktionsbeschwerden, 44Pulmo: kein Hinweis auf Pneumonie oder Erguss, 44Mammae beidseits unauffällig. »Soweit kann ich bis auf Ihren Schmerz im rechten Unterbauch nichts Besonderes feststellen. Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab, gebe Ihnen etwas zum Fiebersenken und bespreche alles mit der Oberärztin.« Frau Dienst legt einen intravenösen Zugang, nimmt Blut für ein kleines Blutbild und eine CRP-Bestimmung zur Infektionsabklärung ab und hängt die von Schwester Iris schon vorbereitete Paracetamol-Infusion an. »So, Frau Yildirim, das sollte Ihnen helfen und Besserung verschaffen!« »Iris, bitte informieren Sie mich, wenn die Laborwerte gefaxt werden.« Nach getaner Arbeit verlässt die junge Kollegin die Station und sucht die Oberärztin Dr. Babbel auf, um ihr zu berichten.

6.1.4

Was sind die häufigsten Ursachen für Puerperalfieber oder Puerperalsepsis?

Endomyometritis Die Endometritis ist die häufigste Ursache postpartaler Infektionen. > Frühzeitiges Handeln und Erkennen sowie eine zeitnah initiierte Therapie sind zur Vermeidung von schweren Komplikationen (Puerperalsepsis) essenziell.

96

6

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

Eine Endometritis geht auf eine Infektion der Dezidua zurück, bei Beteiligung des Myometriums spricht man von einer Endomyometritis. Die postpartale Endometritis ist meist eine Mischinfektion durch verschiedene Keime (aerob und anaerob) aus dem Genitaltrakt. Die häufigsten Keime, die eine Endometritis verursachen, sind 44Gardnerella vaginalis, 44Peptococcus spp., 44Staphylococcus epidermidis, 44Streptokokken der Gruppe B, 44Ureaplasma urealyticum, 44Escherichia coli, 44Mykoplasmen. Die Häufigkeit beträgt nach einer vaginalen Geburt zwischen 1–3%. Liegt zusätzlich ein vorzeitiger Blasensprung vor und sind intrapartal Zeichen einer Infektion vorhanden, steigt die Frequenz auf 30–35%. Bei einem primären Kaiserschnitt liegt die Inzidenz einer Endomyometritis bei 5–15%, bei einem sekundären Kaiserschnitt mit vorausgegangenem prolongiertem Geburtsverlauf steigt die Inzidenz auf 30–35%, wobei eine prophylaktische Antibiotikagabe die Inzidenz auf 15–20% reduzieren kann. Uterusinfektionen sind gehäuft zu finden bei jungen Gebärenden mit niedrigem sozioökonomischem Status, bei Patientinnen mit Z. n. Sectio caesarea, nach protrahiertem Geburtsverlauf und vorzeitigem Blasensprung verbunden mit häufigen intrapartalen vaginalen Untersuchungen (7 Abschn. 6.1.1, Übersicht: Risikofaktoren für Fieber im Wochenbett). z z Symptomatik

Eine Endomyometritis manifestiert sich klinisch mit reduziertem Allgemeinbefinden bei zunächst subfebriler Temperatur, dann steigt die Temperatur auf > 38 °C (d. h., auch bei subfebrilen Temperaturen sollte an eine Endomyometritis gedacht werden). Bei der Untersuchung: Subinvolutio uteri mit »Uteruskantenschmerz“ und verminderter, ggf. übelriechender Lochialfluss. Mögliche Komplikationen (neben der Puerperalsepsis)  Ovarialvenenthrombose oder septische

Thrombophlebitis.

z z Diagnostik

44Klinische Untersuchung, 44Labor (Blutbild, CRP, Gerinnungsstatus, evtl. Blutkultur), 44Zervixabstrich. z z Therapie

44Uterotonika, 44Antibiotika (schon bei V. a. Endomyometritis) 44primär: Ampicillin und Clavulansäure, Penicillin und Aminoglykosid, 44falls binnen 48 h kein Erfolg oder Aggravation: Anaerobier (Clindamycin oder Metronidazol), zusätzlich Aminoglykosid (Gentamicin) 44bzw. nach Antibiogramm, 44prophylaktische Heparinisierung (low dose), 44bei Plazentaresiduen: Kürettage.

Mastitis Eine Mastitis puerperalis kommt bei etwa 2–5% Prozent aller Wöchnerinnen vor. Keime aus dem Nasen-Rachen-Raum des Neugeborenen dringen über Rhagaden der Mamillen in die Lymphwege der Brustdrüse ein. Durch eine unvollständige Entleerung der Brust (Milchstau) wird das Wachstum der Keime gefördert. Meist tritt die Mastitis erst 2–3 Wochen nach der Entbindung auf. z z Symptomatik

Klinisch schmerzhafte Brust, später auch vergesellschaftet mit einer Rötung sowie Fieber am Ende der 1. Woche post partum. Ursächlich ist in > 90% der Fälle Staphylococcus aureus. Unterschieden werden zwei Formen: 44zum einen die interstitielle Mastitis, bei der es zu einer phlegmonösen Entzündung kommt, die zu einem Abszess führen kann, Eintrittspforte sind Rhagaden und Fissuren in der Brustwarze; 44zur anderen Form, der parenchymatösen Mastitis, die sich intrakanalikulär aszendierend in den Milchgängen ausbreitet, kommt es v. a. bei Milchstau. z z Diagnostik

Neben der manuellen Untersuchung und Palpation steht die Ultraschalluntersuchung zur Beurteilung einer Abszedierung zur Verfügung.

97 6.1 · Falldarstellung

z z Therapie

Neben einer symptomatischen Therapie ist eine antibiotische Behandlung (z. B. Flucloxacillin oder Amoxicillin/Clavulansäure) oft erforderlich, bei fehlendem Ansprechen wird ein Wechsel auf Clindamycin empfohlen. Die Therapiedauer sollte 10–14 Tage betragen, um Rezidive zu vermeiden. Eine Abszessbildung kann mit wiederholten Punktionen oder Drainage behandelt werden.

Pyelonephritis Symptomatische Harnwegsinfekte treten in ca. 1,5% der Fälle nach vaginaler Geburt und in 2,8% der Fälle nach Kaiserschnitt auf; sie stellen damit nach der Endometritis die zweithäufigste Ursache für postpartale Infektionen dar. Katheterisieren der Harnblase ist der größte Risikofaktor. z z Symptomatik

Klinische Symptome sind 44Fieber, 44Dysurie, 44suprapubische Schmerzen oder 44im Falle einer Pyelonephritis: Flankenschmerzen. z z Diagnostik

Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zu postpartalen Schmerzen und zu Endomyometritiden kann klinisch schwierig sein. Das Gewinnen von nichtkontaminiertem Urin zum Keimnachweis kann ggf. schwierig sein, im Zweifelsfall kann der Urin mittels Einmalkatheter gewonnen werden. Am häufigsten wird E. coli als ursächlicher Keim nachgewiesen. z z Therapie

Neben ausreichender Hydratation stellt die unverzügliche Antibiotikatherapie (z. B. Amoxicillin/ Clavulansäure, Sulfamethoxazol/Trimethoprim) zur Verhinderung der Keimaszension zur Pyelonephritis mit der Gefahr der Urosepsis den Hauptpfeiler der Therapie dar. Eine Therapiedauer von 3–5 Tagen ist bei einfachen Harnwegsinfekten in der Regel ausreichend, eine zunehmende Resistenz von E. coli gegenüber Amoxicillin ist zu berücksichtigen.

6.1.5

6

Welche Laboruntersuchungen veranlassen Sie? Ist die Bestimmung des kleinen Blutbildes und von CRP hier ausreichend?

Die Abklärung einer Infektion mit kleinem Blutbild und CRP ist in der Initialphase zur ersten Abklärung ausreichend. Hier zeigen sich jedoch erste Anzeichen einer Sepsis, sodass eine weitere Diagnostik und Therapie möglichst nicht verzögert werden sollte. > Bei jedem V. a. Sepsis sollten Blutkulturen und bakteriologische Abstriche aus der Zervix bzw. dem Cavum uteri abgenommen werden.

Neben der eigentlichen Infektionsabklärung (Leukozytose, CRP-Erhöhung) und der Blutkultur bei V. a. Sepsis sind bei einem septischen Krankheitsbild folgende Laboruntersuchungen sinnvoll bzw. die folgenden Laborveränderungen zu finden:

Labor-Referenzwerte ! Cave Kleines Blutbild (Leukozyten, Thrombozyten): 55 initial Leukozytose (> 12 G/l), 55 dann Leukozytopenie (< 4 G/l), 55 bei Sepsis: Thrombozytopenie (< 100G/l).

44CRP-Erhöhung 44Kreatininanstieg (Referenzbereich 44–80 μmol/l) 44Bilirubinerhöhung (Referenzbereich 1,5) bzw. disseminierte intravasale Gerinnung (DIG) 44Harnsäure (Referenzbereich 143–339 μmol/l) 44Elektrolytveränderungen > Zusammenhang zwischen Laktatspiegel und Mortalität: 44 Laktat niedrig (0,7–1,9 mmol/l) → 4,5% Mortalität, 44 Laktat mittel (2–3,9 mmol/l) → ca. 10% Mortalität, 44 Laktat hoch (> 4 mmol/l) → > 25% Mortalität (Hypoperfusion).

98

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

... so geht es weiter …

6

Im Kreißsaal trifft Frau Dienst Oberärztin Dr. med. Wiltrud Babbel. »Hallo, Wiltrud! Frau Yildirim hat Fieber bis 38,9 °C, sie ist tachykard bei unauffälligen Blutdruckwerten (110/87 mm Hg). Sie ist heute am 3. Tag nach problemloser Sectio und fühlt sich schon die ganze Zeit nicht gut. In der Übergabe hat man aber nichts davon berichtet. Körperlich – bis auf moderate diffuse Schmerzen im Unterbauch rechts (ihr wurde der Blinddarm noch nicht entfernt) – ist die körperliche Untersuchung unauffällig. Kleines Blutbild und CRP sind abgenommen und müssten gleich fertig sein, Paracetamol zur Fiebersenkung und Analgesie läuft.« Frau Dr. Babbel, eine erfahrene Ärztin, ist etwas verärgert, dass die Information über eine Wöchnerin mit Fieber und Unwohlsein erst im Nachtdienst weitergegeben wird, und wird hellhörig. »Diffuse Unterbauchschmerzen und Fieber? Zustand nach Kaiserschnitt? Hast Du einen Ultraschall gemacht? Sind die Laborwerte schon da? Komm, lass uns in den Computer schauen.« Die beiden Ärztinnen überprüfen im Computer die Laborbefunde, aber leider gibt es noch keine neuen Werte. Erneut klingelt das Diensthandy von Frau Dienst, es ist jetzt 4:45 Uhr. Schwester Iris meldet sich: »Frau Dienst, leider sind die Laborwerte noch nicht fertig, aber Frau Yildirim hat jetzt 39,5 °C, und die Schmerzen werden stärker.« »Gut, ich komme. Frau Dr. Babbel ist auch hier, ich bringe sie mit.« Die Ärztinnen gehen zur Patientin auf Station, diese gibt nun deutlich mehr Beschwerden an und klagt über Bauchschmerzen. »Ich würde Sie gerne auch einmal untersuchen, Frau Yildirim«, sagt die Oberärztin zur Patientin »dafür bringen wir Sie in das Untersuchungszimmer«; und an die Assistenzärztin gewandt: »Rufst Du bitte im Labor an, wir brauchen dringend die Werte.« »Iris, bringst Du bitte Frau Yildirim mit dem Rollstuhl ins Untersuchungszimmer?« Auf der Liege im Untersuchungsraum beginnt Frau Dr. Babbel ihre Untersuchung. Bei der Palpation spannt Frau Yildirim etwas an, und auch Frau Dr. Babbel kann keine Resistenz oder Ähnliches im Unterbauch tasten, allenfalls zeigt sich ein leichter Uteruskantenschmerz neben den von der Patientin angegebenen Schmerzen im rechten Unterbauch. Im Ultraschall findet Frau Dr. Babbel keine freie Flüssigkeit und keinen Hinweis auf ein Hämatom, auch

sie kann ansonsten bei den adipösen und frisch operierten Bauchdecken weiter nichts erkennen. »Frau Yildirim, ich muss Sie noch vaginal untersuchen, dazu müssten Sie sich auf den Gyn-Stuhl legen, es dauert nicht lange.« Auch die SpekulumUntersuchung ergibt keine Auffälligkeiten, Frau Dr. Babbel macht Abstriche aus dem Cavum uteri und von Zervix und Vagina. Eine bimanuelle Untersuchung ist bei der schmerzgeplagten Patientin und bei Z. n. Kaiserschnitt nicht möglich. Die Assistenzärztin kommt mit den Laborwerten zurück: »CRP 87 mg/l und Leukos 19,2 G/l«, berichtet sie. »Hm, schaut nicht gut aus. Steffi, was meinst Du, was Frau Yildirim hat?« wendet Sie sich an Frau Dienst.

6.1.6

Wie lautet jetzt Ihre Verdachtsdiagnose? Mit welchen diagnostischen Maßnahmen sichern Sie diese?

Die Klinik (Fieber/Unterbauchschmerz in Verbindung mit Uteruskantenschmerz) und die Laborbefunde (Leukozytose, CRP-Erhöhung) sprechen nach erfolgtem Ausschluss anderer Ursachen für ein septisches Geschehen, z. B. im Rahmen einer Ovarialvenenthrombose. > Temperaturerhöhung und Unterbauchschmerzen mit Lateralisierungstendenz im Puerperium zwingen zur schnellen Abklärung mit bildgebender Diagnostik. Die ausschließlich klinische Beurteilung dieser Zustandsbilder mit einer Fehlerquelle von wahrscheinlich > 40% ist in diesem Patientenkollektiv als ungenügend anzusehen, eine bildgebende Diagnostik ist unverzüglich indiziert.

Die (Doppler-)Sonographie bringt hier nur ungenügende diagnostische Sicherheit, eine schnelle Abklärung mittels CT oder MRT ist hier angezeigt, um eine zielgerichtete Therapie zeitgerecht einleiten zu können. Im Vergleich mit CT (Sensitivität 100%, Spezifität 99%) oder MRT (Sensitivität 92%, Spezifität 100%) erreicht die Sonographie eine Sensitivität von 50% bei einer Spezifität von 99%.

99 6.1 · Falldarstellung

6.1.7

Welche differenzialdiagnostischen Überlegungen kommen bei dieser Befundkonstellation noch infrage (. Tab. 6.1)?

Beim Befund »akutes Abdomen« und pelvine Raumforderung müssen die folgenden Erkrankungen differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen bzw. ausgeschlossen werden: 44Entzündliche intraabdominale Erkrankung, z. B. 44infiziertes Hämatom, 44Appendizitis, 44Abszesse oder hämatogene Peritonitis, 44Stieldrehung des Ovars, 44septische Beckenvenenthrombose. Gegebenenfalls muss auch an nichtgeburtshilflichgynäkologische Erkrankungen gedacht werden. 6.1.8

Welche therapeutischen Schritte initiieren Sie?

Eine frühzeitig begonnene hochdosierte Antibiotikatherapie ist die wichtigste Maßnahme gegen die Puerperalsepsis und sollte somit unverzüglich initiiert werden. Zusätzlich sollte ausreichend Volumen

6

gegeben und bei V. a. auf Ovarialvenenthrombose eine prophylaktische Heparinisierung (low dose) wie bei Endomyometritis initiiert werden. ... so geht es weiter … »Iris, würdest Du bitte eine Antibiose richten? Amoxicillin und Clavulansäure, zunächst 3 × 2,2  g i.v. sowie zum Fiebersenken bitte nochmals 1 g Paracetamol i.v. Und hänge bitte 1 l Ringer-Laktat an und bilanziere Ein- und Ausfuhr.« »Steffi, Du nimmst vor der Antibiose bitte nochmals Blut ab. Wir brauchen neben CRP und dem kleinen Blutbild noch eine Blutkultur, Elektrolyte, Laktat, Kreatinin, Harnsäure und die Gerinnung. Und melde bitte ein Abdomen-CT zur weiteren diagnostischen Abklärung an – und, die sollen das zügig machen.« Das Team macht sich an die Arbeit, Antibiotikatherapie, Antipyrese und Volumensubstitution werden initiiert, und am frühen Morgen wird Frau Yildirim von der Radiologie zum CT abgerufen.

6.1.9

Wie interpretieren Sie den CT-Befund?

Im CT des Abdomens stellt sich in . Abb. 6.1 eine normal kontrastierte linke V. ovarica dar. Die rechte Ovarialvene ist durch eine Thrombose aufgetrieben.

. Tab. 6.1  Differenzialdiagnostische Abklärung bei genitalen Wochenbettinfektionen Komplikation

Hauptsymptome

Diagnostik

Management

Abszess

Persistierendes Fieber trotz antibiotischer Therapie

Ultraschall

Breitbandantibiotika

Septische pelvine Thrombophlebitis

Kontinuierlicher (ggf. ausstrahlender) Schmerz unterschiedlicher Intensität (Flanke und unteres Abdomen)

CT/MRT

Nekrotisierende Fasziitis

Hohes Fieber, Ausbreitung der Infektion (Ödem, Erythem ohne scharfe Begrenzung, Faszienverhärtung); ggf. Crepitus

Kultur aus Wundsekret

Breitbandantibiotika

Klinik

Wunddebridement

Sepsis

Fieber > 38,5 °C oder < 36 °C, Tachykardie, Tachypnoe

Labor

Breitbandantibiotika

Chirurgische Drainage Breitbandantibiotika Antikoagulation

Intensivtherapie Ggf. chirurgische Therapie

100

6

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

. Abb. 6.1  CT Abdomen mit Ovarialvenenthrombose rechts (axiale Schnittebene)

6.1.10 Welche Maßnahmen sind bei

gesicherter Diagnose einer Ovarialvenenthrombose indiziert?

> Ist die Diagnose einer septischen puerperalen Ovarialvenenthrombose einmal gesichert, sollte unverzüglich eine geeignete Therapie eingeleitet werden:

Die i.v.-Antibiose in Kombination mit niedermolekularem Heparin in therapeutischer Dosierung (aktivierte partielle Thromboplastinzeit 1,5-bis 2-fach erhöht) für 7–10 Tage ist bei der Ovarialvenenthrombose die Therapie der Wahl.

Ovarialvenenthrombose Die septische puerperale Ovarialvenenthrombose ist eine seltene Komplikation, die mit einer postpartalen Thrombophlebitis der Ovarialvene assoziiert ist. Klinisch imponieren unspezifische Symptome wie Unterbauchschmerzen, therapierefraktäres Fieber und ggf. eine palpablen Masse im Unterbauch. Differenzialdiagnostisch muss an eine Appendizitis im Puerperium gedacht werden. Für den weiteren therapeutischen Verlauf ist die frühe Diagnosestellung entscheidend (. Abb. 6.2), nur so kann etwaigen gefährlichen Komplikationen vorgebeugt werden.

. Abb. 6.2  Laparoskopisches Bild einer Ovarialvenenthrombose (rechts parametran und unterhalb des Ovars verdickte Struktur darstellbar)

z z Epidemiologie/Pathophysiologie

Mit 1:200–3000 Geburten ist die Ovarialvenenthrombose ein seltenes Ereignis im Wochenbett, die allerdings im Vergleich zur Spontangeburt (0,05– 0,18%) bei einer Sectio caesarea häufiger (1–2%) auftritt. Bedingt durch die unspezifischen Symptome und die dadurch verzögerte Diagnosestellung und Initiierung der Therapie ist die Ovarialvenenthrombose mit einer hohen Letalität (6–12%) assoziiert. Aufgrund der Anatomie besteht postpartal eine Prädilektion der rechten Ovarialvene, die in > 90% der Fälle betroffen ist. Pathogenetisch kommt die klassische VirchowTrias bei Thrombosen zum Tragen: 44Stase, 44Hyperkoagulation, 44Gefäßwandverletzung, wobei letztere entweder durch direktes chirurgisches Trauma oder indirekt durch eine lokale Inflammationsreaktion oder Infektion verursacht wird. Die Ovarialvenen haben zahlreiche kommunizierende Gefäße mit den uterinen und vaginalen venösen Plexus, die somit eine Eintrittspforte für Erreger darstellen. Bis zum Entbindungstermin nimmt der Durchmesser der Ovarialvenen um das 3-Fache (verglichen mit nichtschwangeren Frauen) zu und unmittelbar nach der Entbindung sinkt der Blutfluss in den Ovarialvenen rapide; beide Faktoren führen zur Stase und begünstigen somit eine

6

101 6.1 · Falldarstellung

Thrombose. Die postpartale Hyperkoagulabilität trägt zudem zur Thrombosebildung bei. z z Klinik/Symptomatik

Die klinische Symptomatik der Ovarialvenenthrombose ist eher unspezifisch: 44Fieber (antibiotikarefraktär), 44Unterbauchschmerzen, 44Uteruskantenschmerz, 44zusätzliche generalisierte Symptome (Übelkeit/ Erbrechen, Unwohlsein, Tachy-/Dyspnoe, Tachykardie). Trotz Antibiotikatherapie bessert sich das Fieber nicht, und die Schmerzsymptomatik nimmt zu und kann in das ganze Abdomen ausstrahlen, wobei sich das Punctum maximum zur Seite der Thrombosierung verlagert. Letztendlich entwickeln die Patientinnen eine Abwehrspannung. Die Raumforderung (thrombosierte Vene und umgebendes Phlegmon) kann einen Durchmesser von bis zu 10 cm erreichen. Unbehandelt kann sich die Thrombose bis in die V. renalis oder V. cava inferior ausbreiten und eine Pulmonalembolie (in bis zu 33% der Fälle) verursachen. Blutkulturen müssen zur differenzialdiagnostischen Abklärung anderer Ursachen der Puerperalsepsis angelegt werden. Positive Befunde zeigen sich aber bei der Ovarialvenenthrombose nur selten; dann werden meist Streptokokken, Proteus spp., Staphlokokken, Bacteroides spp. und gramnegative Keime (E. coli, Enterobacter, Klebsiella spp.) kultiviert. z z Bildgebende Diagnostik

In der Ultraschalluntersuchung ist eventuell eine echoarme Raumforderung ohne Perfusion zwischen den Adnexen und der V. cava inferior darstellbar. In den meisten Fällen gelingt dies jedoch nicht, und die Ultraschalluntersuchung ist nicht aussagekräftig. > Computertomographie oder Magnetresonanztomographie stellen die Methode(n) der Wahl zur Diagnostik der Ovarialvenenthrombose dar.

... so geht es weiter … Inzwischen hat die Dienstmannschaft gewechselt, dem neuen Team wird die Problematik um Frau

Yildirim geschildert. Dr. Babbel berichtet, dass der diensthabende Radiologe Dr. Röntgen telefonisch die Diagnose »Ovarialvenenthrombose rechts« mitgeteilt habe und dass Frau Yildirim nunmehr auf dem Weg zurück zur Station sei. Leider habe der Patiententransportdienst personelle Probleme, sodass Frau Yildirim doch einige Zeit nach der Diagnostik in den Räumen der Radiologie auf den Rücktransport warten müsse. Das Ergebnis der von Dr. Babbel veranlassten Blutentnahme stehe noch aus, müsse aber in Bälde vorliegen. Kurz nachdem Frau Yildirim von der Radiologie zurückgekommen ist, wird mit der Antikoagulation begonnen, und die Schwester im Tagdienst misst die Vitalwerte: Blutdruck 90/45 mmHg, Herzfrequenz 110 SpM, Temperatur 39,4 °C. Frau Yildirim ist tachypnoeisch. Sie informiert die Ärzte, die auch sofort zur Patientin kommen. Zwischenzeitlich liegen auch die Ergebnisse der weiteren Laborparameter vor (Referenzbereich jeweils in Klammern): Leukozyten Thrombozyten CRP Kreatinin Bilirubin (Gesamt) Laktat INR Harnsäure Elektrolyte: Natrium Kalium Kalzium Chlorid

< 5,6 G/l 83 G/l 118 mg/l 159 μmol/l 35,9 μmol/l 3,3 mmol/l > 1,5 298 μmol/l

(3,9–10,5) (150–300) (< 5,0) (44–80) (< 18,8) (0,6–2,2) (0,9–1,3) (143–339)

142 mmol/l 4,2 mmol/l 2,3 mmol/l 99 mmol/l

(136–145) (3,4–4,5) (2–2,6) (96–110)

6.1.11 Welche Diagnose stellen Sie

jetzt? Was ist jetzt zu tun?

Die Patientin hat nun eine schwere Sepsis entwickelt und muss intensiv überwacht werden. Bei initialer Leukozytose (20–30 G/l mit starker Linksverschiebung) zeigt sich beim Vollbild der Sepsis bzw. im septischen Schock eine Leukozytopenie (< 4 G/l) auf. Bei Nachweis einer Thrombozytopenie muss bereits an die Gerinnungsstörung gedacht werden, die hier erhöhte INR legt den V. a.

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

102

6

Koagulopathie nahe. Bilirubin- und Kreatininerhöhung sowie der Laktatwert deuten auf eine schwere Sepsis mit erhöhtem Mortalitätsrisiko hin. Zur Einschätzung des klinischen Schweregrades können Scores aus Parametern der sog. Maternal Early Warning Criteria gebildet werden (. Tab. 6.2): International werden derzeit z. B. der Sepsis in Obstetrics Score (SOS) oder der Modified Early Obstetric Warning Score (MEOWS) genutzt; beide Scoring-Systeme sind speziell auf die Geburtshilfe abgestimmt und sehr sensitiv (. Tab. 6.3). Bei einem Score von ≥ 6 (SOS) bzw. ≥ 5 (MEOWS) sollte eine Verlegung auf die Intensivstation erfolgen (. Tab. 6.4, . Tab. 6.5). Zur Überwachung und weiteren Entscheidung von geburtshilflichen Patientinnen können dann z. B.

Grenzwerte

RRsys (mmHg)

< 90 oder > 160

RRdiast (mmHg)

> 100

Herzfrequenz (SpM)

< 50 oder > 120

Atemfrequenz (/min)

< 10 oder > 30

Sauerstoffsättigung (%)

< 95

Oligurie (ml/h für 2 h)

< 35

PPV (%)

Sie jetzt?

Die Patientin hat nun eine schwere Sepsis entwickelt und muss intensiv überwacht werden.

Antibiotikatherapie

Antibiotikatherapie bei schwerer Sepsis

. Tab. 6.3  Effizienz von Scoring-Algorithmen bei der Puerperalsepsis Spezifizität (%)

6.1.12 Welche Therapie initiieren

55Zweifachkombination, z. B. –– Amoxicillin und Clavulansäure (3 × 2,2 g i.v.)

Präeklampsiepatientinnen, die Kopfschmerz und/oder Atemnot angeben

Sensitivität (%)

Nach einigen Telefonaten wird Frau Yildirim mit der Diagnose »Schwere septische Ovarialvenenthrombose und drohender septischer Schock« zur weiteren Betreuung und Therapie auf die operative Intensivstation verlegt.

> Zuvor Blutkultur und Abstrich aus Zervix und Cavum uteri!

Agitiertheit, Verwirrung, Nichtansprechbarkeit

ScoringSystem

so geht es weiter …

Bei schwerer Sepsis ist eine hochdosierte Antibiotikatherapie als Zweifach- oder Dreifachkombination indiziert.

. Tab. 6.2  Maternal Early Warning Criteria Parameter

modifizierte Beobachtungsbögen verwendet werden (. Abb. 6.3).

NPV (%)

SOS

88,9

99,2

16,7

99,9

MEOWS

100

77,6

4,6

100

PPV positive predictive value; NPV negative predictive value, SOS Sepsis in Obstetrics Score, MEOWS Modified Early Obstetric Warning Score.

oder –– Ceftriaxon (1 g/Tag i.v.) und –– Clindamycin (3 × 900 mg i.v.) 55Dreifachkombination –– Amoxicillin und Clavulansäure (3 × 2,2 g i.v.) oder –– Ceftriaxon (1 g/Tag i.v.) und –– Clindamycin (3 × 900 mg i.v.) und –– Aminoglykosid (z. B. Gentamicin initial 3–5 mg/kgKG/Tag; die tägliche Einmalgabe der gesamten Tagesdosis in Form einer Infusion über 60 min gilt heute als Standard)

6

103 6.1 · Falldarstellung

. Tab. 6.4  Sepsis Obstetric Score (SOS) Parameter

Pathologische Abweichung nach oben

Normal

Pathologische Abweichung nach unten

Score

+4

0

–1

+3

+2

+1

–2

–3

–4

Temperatur (°C)

> 40,9

39–40,9



38,5–38,9

36–38,4

34–35,9

32–33,9

30–31,9

< 30

RRsys (mmHg)









> 90



70–90



< 70

Herzfrequenz (SpM)

> 179

150–179

130–149

120–129

≤ 119









Atemfrequenz (/ min)

> 49

35–49



25–34

12–24

10–11

6–9



≤5

SpO2 (%)









≥ 92

90–91



85–89

< 85

Leukozyten (/μl)

> 39,9



25–39,9

17–24,9

5,7–16,9

3–5,6

1–2,9



RR sys → 2 Punkte. RRsys systolischer Blutdruck, RRdiast diastolischer Blutdruck, SpM Schläge pro Minute, AVPU alert-voice-painunresponsive.

Die Dauer der antibiotischen Therapie ist individuell, bei nachgewiesener Bakteriämie sollte jedoch 14 Tage behandelt werden. Zeigt die Fieberkurve bis zum 3. Tag der Antibiotikatherapie keinen Abfall, so empfiehlt sich die Umstellung der Therapie auf andere Antibiotika.

Beim Nachweis von Streptokokken der Gruppe A ist z. B. Penicillin G das Mittel der Wahl. Bei Infektionen mit Streptokokken der Gruppe A muss ggf. großflächig Wunddebridement betrieben werden, und die Nekrosen müssen abgetragen werden. Als letzte chirurgische Maßnahme bei einer

104

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

6

. Abb. 6.3  Beobachtungsbogen zur Überwachung von kritischen geburtshilflichen Patientinnen

105 6.1 · Falldarstellung

therapierefraktären Situation im septischen Schock darf die Hysterektomie zur Entfernung des primären Sepsisherdes nicht zu lange prolongiert werden.

Therapie auf der Intensivstation 44Volumengabe, 44Substitution von Gerinnungsfaktoren, 44Ggf. Herz-Kreislauf-Unterstützung, 44Evtl. Intubation und Beatmung, 44Dauermonitoring (EKG, Blutdruck, Atmung, Ausscheidung, Bilanzierung). Der Therapieerfolg muss anhand der klinischen Symptomatik sowie der Laborparameter kontrolliert werden. Primäre Therapie ist die Heparinisierung und Antibiotikatherapie, bei einer primären operativen Therapie beträgt die Mortalitätsrate ca. 50%. Kommt es bei einer Ovarialvenenthrombose nicht innerhalb von 48 h zu einer entscheidenden Verbesserung der Beschwerden (dies gilt v. a. bei septischem Krankheitsbild), ist die operative Therapie eventuell zu diskutieren. Ein einheitliches operatives Konzept ist derzeit jedoch nicht etabliert: Die operativen Maßnahmen reichen von der Ligatur der Ovarialvene bis zur beidseitigen Adnexektomie (u. U. mit Hysterektomie bei septischem Befall des Uterus, .  Abb. 6.4). Das Ziel der Operation muss die Entfernung aller thrombosierten und infizierten Herde sein, ggf. unter Hinzuziehen eines Gefäßchirurgen, wenn die Thrombose bis in die angrenzenden Venen hineinreicht.

. Abb. 6.4  Hysterektomie und Adnexektomie beidseits bei septischer Ovarialvenenthrombose

6

! Cave Bei einem operativen Vorgehen ist jedoch zu bedenken, dass durch die operative Intervention das Risiko für eine letale Lungenembolie steigt.

6.1.13 Puerperalsepsis und

Endotoxinschock (toxic shock syndrome)

z Puerperalsepsis

Die WHO schlug 1992 zur Abgrenzung von Infektionen im Wochenbett (die auch extragenitale Infektionen umfassen) die folgende Definition für eine Puerperalsepsis vor:

Definition Puerperalsepsis Infektion des Genitaltrakts, die von der Zeit des Blasensprungs oder Wehenbeginns bis zum 42. Tag post partum auftreten kann und bei der zwei oder mehr der folgenden Symptome auftreten: 55Unterbauchschmerz 55Fieber > 38,5 °C (oral gemessen) 55Vaginaler (eitriger und/oder übelriechender) Ausfluss 55Subinvolutio uteri

z z Epidemiologie/Pathophysiologie

Die Häufigkeit einer Puerperalsepsis wird in Europa/USA mit ca. 0,5 Fällen auf 100.000 Geburten angegeben. Die Puerperalsepsis ist eine Infektion, die in der Hälfte der Fälle von den Geburtswegen/-wunden (Plazentahaftstelle, operative Wunden, Geburtsverletzungen) ausgeht (. Tab. 6.6). Pathogene Keime zirkulieren im maternalen Kreislauf und lösen systemische Reaktionen aus. Fast immer handelt es sich um Mischinfektionen mit aeroben und anaeroben Erregern. Die häufigsten Keime sind: 44Gruppe-A-Streptokokken (Streptococcus pyogenes), 44E. coli,

106

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

. Tab. 6.6  Puerperalsepsis – Verteilung der betroffenen Organsysteme Quelle

Anteil (%)

Genitaltrakt

37,2

Harnwegstrakt

11,7

Wunden

14,3

Atemwege

3,5

Andere

9,5

Unbekannt

23,8

6 44Staphylococcus aureus, 44MRSA (methicillinresistenter Staphylococcus aureus). ß-Hämolysierende Streptokokken der Gruppe A (S. pyogenes) rufen besonders schwere, foudroyant verlaufende Formen der Puerperalsepsis hervor, meist mit nekrotisierender Fasziitis und Phlegmonbildung mit einer Letalität von bis zu 30%. Pathophysiologisch steht bei diesem Keim, der normalerweise in < 1% der Fälle in der Vagina zu finden ist, die Keimverschleppung vom Rachenraum im Vordergrund. Ansonsten ist pathophysiologisch der primäre Sepsisherd oft eine Thrombophlebitis und in der Nähe der Eintrittspforte der Bakterien lokalisiert. Eine Sepsis kommt dann zustande, wenn der primäre Sepsisherd Anschluss an die Blutbahn bekommt und bakterielle Emboli an das strömende Blut abgeben kann. Es entstehen die sekundären Sepsisherde mit Lungenabszessen, Endocarditis ulcerosa, Nierenabszesse, Milzabszesse oder Arthritiden.

Endotoxinschock Verantwortlich hierfür sind die Virulenzfaktoren (Streptolysine, Streptokinase, M-Protein, Hyaluronidase) der beiden Keime Streptococcus pyogenes und Staphylococcus aureus. Pathophysiologisch resultiert eine massive Lymphozytenaktivierung mit Ausschüttung von Zytokinen (Interleukin-1/2, Tumornekrosefaktor, Interferone) und Anstoß einer fulminanten Entzündungskaskade mit allen Folgen auf Kreislauf, Gerinnung, Komplementsystem und Organe.

z z Klinik/Symptomatik

Oft unspezifisch, ist der Endotoxinschock einerseits durch die auslösende lokale Infektion, andererseits durch die systemische Entzündungsreaktion gekennzeichnet; Beginn mit grippeartigen Symptomen (Fieber, Myalgie, Schüttelfrost, Diarrhö). Oft klagen die Wöchnerinnen über plötzlich auftretende Schmerzen, die auf herkömmliche Analgetika häufig nicht ansprechen. Unerkannt bzw. unbehandelt ergibt sich dann häufig ein foudroyanter Verlauf, wobei sich binnen weniger Stunden ein oft therapierefraktärer septischer Schock mit Multiorganversagen entwickeln kann.

Klinisches Bild bei Endotoxinschock 55Hohes Fieber > 39 °C mit Schüttelfrost 55Tachykardie (> 100 SpM) 55Tachypnoe (Atemfrequenz > 20/min) 55Arterielle Hypotonie < 90 mmHg systolisch im septischen Schock 55Flushartiges, fleckförmiges Exanthem 55Desquamation (Spätzeichen nach 1–2 Wochen) 55Mitbeteiligung von drei oder mehr Organsystemen: –– Gastrointestinaltrakt (Erbrechen, Diarrhö, Abdominalschmerz) –– Muskeln (Myalgie, Labor: Erhöhung Kreatininphosphokinase ≥ 2 × Normwert) –– Schleimhaut (Hyperämie) –– Nieren (Labor: Kreatinin ≥ 2 × Normwert) –– Leber (Labor: Transaminasenerhöhung ≥ 2 × Normwert) –– Blut (Thrombozytopenie oder DIC, Leukozytose oder Leukozytopenie) –– ZNS (Verwirrtheit, Bewusstseinsstörung) –– Kardiopulmonal (Lungenödem, ARDS [adult respiratory distress syndrome], Arrhythmie) 55Nachweis von Erregern in der Kultur aus Blut oder Wundsekret (Abstrich)

107 6.1 · Falldarstellung

V.a. Infektion plus 2 SIRS-Kriterien

=

SEPSIS

innerhalb 1 hr Nimm“

Gib“ ”

1. Blutkulturen (vor Antibiotikagabe) 2. Laktat und Blutbild 3. Bilanzierung

1. Sauerstoff (94-98% SpO2) 2. i.v.-Antibiose 3. Volumen (initial 500-1000 ml)



falls MAD ≥ 65 mmHg und/oder Laktat ≤ 2 mmol/l Stündliche Kontrollen SOS

RR Laktat

falls MAD < 65 mmHg und Laktat ≥ 4 mmol/l

Volumenersatz 30 ml/kg KG in 1 h.

falls MAD ≤ 65 mmHg und Laktat 2-4 mmol/l

Volumenersatz (bis 30 ml/kg KG)

falls MAD ≥ 65 mmHg und/oder Laktat ≤ 2 mmol/l Stündliche Kontrollen SOS

oder, falls kein Volumenmangel

Widerholung Laktat

Laktat

falls Laktat 2-4 mmol/l und MAD ≥ 65 mmHg oder Organdysfunktion

falls Laktat ≥ 4 mmol/l und/oder MAD < 65 mmHg

SEPTISCHER SCHOCK

falls Laktat ≥ 4 mmol/l und/oder MAD < 65 mmHg

SCHWERE SEPSIS

Intensivstation . Abb. 6.5  Management-Algorithmus bei Sepsis. SIRS systemic inflammatory response syndrome, MAD mittlerer arterieller Druck

z z Therapie . Abb. 6.5 fasst in einem Flowchart den unmittelba-

ren diagnostisch-therapeutischen Management-Algorithmus bei Sepsis zusammen. Patientinnen können nach dem Sepsis Obstetric Score (SOS) stündlich kontrolliert werden. Alternativ bietet auch die irische Sepsis-Leitlinie (National Clinical Effectiveness Committee) mit dem Irish Maternity Early Warning System eine sehr gute Überwachungsmethode, v. a. auch für das Pflegepersonal der Wochenbettstation.

> Insgesamt ist bei diesem schweren Krankheitsbild die intensivmedizinische Überwachung indiziert. Eine frühzeitig begonnene, hochdosierte Antibiotikatherapie ist die wichtigste Maßnahme im Therapieregime der Puerperalsepsis. Großzügiges Wunddebridement (v. a. bei nekrotisierender Fasziitis) und ggf. Hysterektomie sind chirurgische Maßnahmen.

6

108

Kapitel 6 · Septischer Verlauf im Wochenbett

6.1.14 Welche Komplikationen

könnten neben einer Sepsis bei einer Ovarialvenenthrombose auftreten?

6

Bei einer nicht oder zu spät therapierten Ovarialvenenthrombose kann es – neben der lebensbedrohlichen Sepsis – durch Appositionswachstum des Thrombus zur Beteiligung der V. cava inferior oder der Vv. renales kommen, oder thrombotisches Material kann eine Lungenembolie hervorrufen. Eine frühzeitige Diagnose und Therapie kann diese Komplikation verhindern/minimieren. ... so geht es weiter … Unter Intensivüberwachung und Bilanzierung initiieren die Intensivmediziner eine Zweifach-Antibiose mit Amoxicillin/Clavulansäure und Clindamycin sowie eine Heparinisierung mit niedermolekularem Heparin in therapeutischer Dosis (Enoxaparin 1 mg/ kgKG). Das geburtshilfliche Team visitiert die Patientin regelmäßig, um neben dem Verlauf bei septischer Ovarialvenenthrombose Uterus, Mammae und Sectio-Narbe zu kontrollieren. Um den Stillerfolg nicht zu gefährden, pumpt Frau Yildirim ab (möglichst in zeitlichem Abstand zur Antibiotikagabe). Nach 2 Tagen auf der Intensivstation bessert sich der Allgemeinzustand der Patientin, und sie wird auf die Wochenbettstation zurückverlegt. Bei unauffälligen Blutkulturen und nach weitestgehender Normalisierung der Laborwerte wird die Antibiotikatherapie nach 7 Tagen auf eine orale Therapie umgestellt, und Frau Yildirim wird am 13. postpartalen Tag nach Hause entlassen.

6.1.15 Was empfehlen Sie der Patientin

bei Entlassung?

Die Heparinisierung sollte in der Klinik fortgeführt werden, bis die Patientin 24–48 h fieberfrei ist. Die Behandlungsdauer wird kontrovers diskutiert, da es für diese seltene Erkrankung keine randomisierten Studien gibt. Während der folgenden 6 Monate wird empfohlen, die Antikoagulation oral weiterzuführen. Für den Fall einer zukünftigen Schwangerschaft gibt es keine Empfehlungen für eine prophylaktische Heparinisierung, Rezidive scheinen sehr selten vorzukommen.

Eine Thrombophilie (Faktor-V-Leiden, Protein-S- oder -C-Mangel, Prothrombin-Mutation G20210A, Antithrombindefizit) oder ein Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom kann bei 23–50% der betroffenen Frauen gefunden werden, sodass ein Thrombophilie-Screening angeraten werden kann. 6.2 Fallnachbetrachtung 6.2.1

Welche Fehler im medizinischen Vorgehen durch die Ärztinnen sehen Sie im geschilderten Fall?

Fieber im Wochenbett bei zunächst unauffälligem Verlauf mit zusätzlicher Tachykardie und unspezifischer Beschwerdesymptomatik sollte zügig abgeklärt werden. Die Untersuchung der Patientin und die Bestimmung zumindest von Entzündungsparametern wären somit schon bei der ersten Information der Assistenzärztin indiziert gewesen. Als sich die Symptomatik verschlechterte und der dringende V. a. ein septisches Krankheitsbild bestand, wären bei der Untersuchung durch die Assistenzärztin zur Ursachensuche des Fiebers einerseits eine sonographische Beurteilung (Hämatom?) des Abdomens und eine vaginale Untersuchung und Abstrichentnahme sowie andererseits die Anlage von Blutkulturen indiziert gewesen. Ihrem Ausbildungsstand entsprechend hätte Frau Dienst die Oberärztin früher informieren und um Hilfe bitten müssen. Die Oberärztin führte die korrekten diagnostischen Schritte durch bzw. leitete weitere Untersuchungen zur Abklärung ein. Therapeutisch war die begonnene Heparinprophylaxe – bei noch nicht gesicherter Ovarialvenenthrombose – korrekt, die Initiierung der Antibiotikatherapie hätte allerdings als Zweierkombination erfolgen sollen. 6.2.2

Welche organisatorischen Schwachstellen finden Sie im geschilderten Fall?

Jede geburtshilfliche Klinik sollte ein standardisiertes Vorgehen (standard operating procedures, SOP) vorgeben bzw. Standards für die wichtigsten Krankheitsbilder vorhalten; dieses schließt »Fieber im Wochenbett«

109 Literatur

ein. Bei Einstellung neuer Ärzte sollen diese SOP ausgehändigt werden, das gilt v. a. für unerfahrene Kollegen. Patiententransporte sollten v. a. bei fiebrig-septischen Patientinnen unverzüglich durchgeführt werden; hier hätte die Radiologie Priorität anmelden müssen.

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6

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111

Vorzeitige Wehentätigkeit Holger Maul

7.1

Falldarstellung – 112

7.1.1

Welche Bedeutung haben Frühgeburten? Wie oft führen vorzeitige Wehen zu einer Frühgeburt? – 113 Wie sind vorzeitige Wehen definiert? Wann besteht eine Indikation zu einer tokolytischen Therapie? – 114 War die Indikation zur Tokolyse bei Frau Jung richtig? – 114 Welche Bedeutung kommt der sonographischen Zervixlänge zu? – 114 Welche Bedeutung haben die biochemischen Tests? – 115 Welche Laborparameter sind bei drohender Frühgeburt vorrangig zu bestimmen? – 116 Was ist bei Abnahme der mikrobiologischen Abstriche wichtig? – 118 Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? Gibt es Risikofaktoren? – 118 Welche Risiken bestehen für das Frühgeborene? Wie sind Frau Jung und ihr Mann aufzuklären? – 119 Hätte Frau Jung etwas tun können, um eine erneute drohende Frühgeburt zu verhindern? – 119 Wieso hat Frau Jung kein Progesteron angewendet und keine Cerclage durchführen lassen? – 121 Welche Aufklärungspflichten bestehen? – 122 Welche therapeutischen Optionen ergeben sich für die Gynäkologen? – 122 Warum ist die späte Abnabelung gerade bei Frühgeborenen so bedeutsam? – 126

7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6 7.1.7 7.1.8 7.1.9 7.1.10 7.1.11 7.1.12 7.1.13 7.1.14

7.2

Fallnachbetrachtung – 127



Weiterführende Literatur – 127

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_7

7

112

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

7.1 Falldarstellung

Was geschah … ?

7

»Seit zwei Tagen habe ich ständig diese Schmerzen im Unterbauch. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Und der Rücken tut auch weh!«, klagt Katharina Jung. Ihr Mann Jason ist besorgt: »Jetzt geht das schon wieder früher los! Dabei bist Du doch erst im 7. Monat. « Tatsächlich ist Frau Jung, eine 29-jährige III-Gravida/I Para mit vorzeitiger Wehentätigkeit, gerade in der 27. SSW angelangt, sie befindet sich bei 26 + 2 SSW und erwartet eine Tochter. Vor 8 Jahren hatte sie einen Schwangerschaftsabbruch in der 9. Woche, die letzte Schwangerschaft ging mit der Geburt eines Jungen, Luca, in der 35. SSW zu Ende. Am Tag vor der Geburt vor 2 Jahren hatte sie aus heiterem Himmel einen Blasensprung erlitten. Richtige Wehen hatte sie damals eigentlich gar nicht bemerkt, aber nach dem Blasensprung ging dann alles ganz schnell. »Ach Schatz«, sagt sie, »man hat so etwas nicht zweimal. Außerdem ist es jetzt schon wieder besser. Wir gehen jetzt ins Bett, und dann wird das schon. Ich bin einfach erschöpft. Der Tag war anstrengend. Luca hat den ganzen Tag gequengelt.« Jason und Katharina Jung gehen zu Bett. Mitten in der Nacht hält es Frau Jung nicht mehr aus. Die Unterbauchschmerzen haben zugenommen, sie strahlen jetzt zeitweise bis in die Beine aus. Auch der Schambereich schmerzt. Frau Jung weckt ihren Mann. »Meinst Du nicht doch, dass wir besser in die Klinik fahren sollten?«, fragt er seine Frau. »Ja, aber was machen wir mit dem Kleinen? Bis nach Hamburg sind wir mindestens 30 Minuten unterwegs. Und meine Mutter muss morgen auch ganz früh aus dem Haus. Sie kann sich nicht um Luca kümmern.« Frau Jung nimmt daraufhin 2 Magnesiumtabletten. »Jason, warte mal ab, das beruhigt sich schon.« Nachdem sich Frau Jung dann weiter im Bett wälzt und nicht wieder einschlafen kann, reagiert ihr Mann Jason ungehalten: »Jetzt reicht es, wir fahren in die Klinik. Ich sehe doch, dass Du Schmerzen hast.« Jason Jung informiert seine Schwiegermutter, damit diese sich um den 2-jährigen Luca kümmert. In der 30  km entfernt liegenden Klinik, einem Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe, in

dem Katharina Jung schon ihren Sohn Luca zur Welt gebracht hat, wird sie zunächst von der diensthabenden Hebamme, Miriam Richter, an das CTG gelegt. Frau Richter beruhigt Katharina Jung, obwohl diese weiterhin über nunmehr alle 4 min auftretende Unterbauchschmerzen klagt. »Bestimmt ist es nur ein Magen-Darm-Infekt«, sagt Frau Richter. Im CTG zeigen sich dann regelmäßig auftretende Wehen, jede einzelne wird von Katharina Jung gespürt. Jason Jung, der neben seiner Frau ungeduldig ausharrt, erschrickt: »Sind eben doch Wehen! Hoffentlich kommt es nicht wieder zur Frühgeburt!« Frau Richter beruhigt auch ihn: »Jetzt warten wir doch erst einmal ab, ob die Wehen wirklich etwas am Muttermund verändert haben. Kontraktionen sind ja auch in frühen Schwangerschaftswochen nicht ganz ungewöhnlich. Eines steht schon mal fest: Sie sind in jedem Fall rechtzeitig gekommen und Sie sind auch in der richtigen Klinik, falls es tatsächlich losgehen sollte.« Hebamme Miriam Richter erhebt die Anamnese und ruft dann die diensthabende Assistenzärztin, Frau Tuang Li, hinzu. Nur wenige Minuten später steht diese im CTG-Raum. Auch sie beruhigt Katharina Jung. Das ansonsten unauffällige CTG wird abgestellt. Frau Tuang Li nimmt Katharina Jung in den Untersuchungsraum. Zunächst vervollständigt sie die Anamnese. Demzufolge war Katharina Jung bei ihrem Frauenarzt regelmäßig kontrolliert worden. Sie hatte sich nach eigenen Angaben nach Aufklärung zu Beginn der Schwangerschaft gegen die Therapie mit Progesteron ab der 16. SSW entschieden. Regelmäßige Kontrollen der Zervixlänge hatten stets normale Werte ergeben, wobei die letzte Messung inzwischen 18 Tage zurücklag. Die letzte Zervixlängenmessung hatte bei 31 mm gelegen. Bei der Spekulum-Untersuchung nimmt Frau Tuang Li zunächst einen Abstrich für den Fibronektintest aus dem hinteren Scheidengewölbe ab und außerdem vorsorglich auch Abstriche für die Mikrobiologie und für die Anfertigung eines Nativpräparats. Inspektorisch ist der Muttermund geschlossen. Es besteht lediglich eine kleine zirkuläre Ektopie, die jedoch nicht vulnerabel ist. Es ergeben sich keine Hinweise auf einen Blasensprung, sodass auf einen biochemischen Blasensprungtest verzichtet wird. Die digitale Untersuchung zeigt einen sehr weichen Muttermundbefund, Frau Tuang Li gewinnt den

113 7.1 · Falldarstellung

Eindruck, dass die Zervix verkürzt ist und dass es leicht möglich wäre, mit dem Finger in den Zervikalkanal einzudringen. Die dann angefertigte Zervixsonographie ergibt eine Zervixlänge von 13 mm mit einem darüber liegenden Trichter von 8  mm Tiefe und 12 mm Weite. Frau Tuang Li lässt Katharina Jung »wie zur Verdauung« drücken. Dabei zeigt sich, dass sich der Zervikalkanal auf der gesamten Länge öffnet. Bei Druck auf die Zervix mit der Vaginalsonde ist festzustellen, dass sich die vordere gegen die hintere Muttermundlippe verschieben lässt. Das Gewebe macht auch in der Sonographie einen sehr weichen Eindruck. Unmittelbar danach startet Frau Tuang Li den quantitativen Fibronektintest. Das Ergebnis liegt wenige Minuten später vor: 322  ng/ml (positiv). Im Nativpräparat finden sich keine Auffälligkeiten: normale Epithelien, wenige Leukozyten, keine Pilze, ansonsten diagnostiziert sie eine normale Flora mit Döderlein-Stäbchen. Die für eine bakterielle Vaginose typischen clue cells findet sie nicht. Die unmittelbar im Anschluss stattfindende abdominelle Sonographie ergibt einen zeitgerechten weiblichen Feten in Schädellage mit einem Schätzgewicht von 1150  g und eine Vorderwandplazenta. Katharina Jung erkennt sofort den Ernst der Lage. Sie weint. Jason Jung versucht sie zu beruhigen. Frau Tuang Li informiert die diensthabende Oberärztin Frau Dr. Teckel über den aus ihrer Sicht recht eindeutigen Befund. Folgende Anordnung wird in Absprache mit Oberärztin Dr. Teckel getroffen: 1. Tokolytische Therapie mit Fenoterol 2 µg/min 2. Lungenreifeinduktion mit Betamethason 2 × 12 mg i.m. im Abstand von 24 h 3. Magnesium i.v. 1 g/h für zunächst mindestens 12 h 4. Einlage eines Cerclage-Pessars 5. Bettruhe 6. Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin 7. Vorinformation der Neonatologie Frau Tuang Li gibt die gemessenen Fibronektinwerte noch in die QUIPP-Software ein, mit der sich das tatsächliche Risiko für eine Frühgeburt bei Frau Jung berechnen lässt (7 Abschn. 7.1.1)

7.1.1

7

Welche Bedeutung haben Frühgeburten? Wie oft führen vorzeitige Wehen zu einer Frühgeburt?

Weltweit kommen ca. 15 Mio. Kinder vor Abschluss der 37. SSW zur Welt, 2,8 Mio. vor Abschluss der 32. SSW. Frühgeburten stellen eine der Hauptursachen der neonatalen (35% ≙ 2,8 Mio. Kinder/Jahr) und kindlichen Mortalität (17% ≙ 6,2 Mio. Kinder/Jahr) dar. Frühgeburten sind verantwortlich für 25–50% schwerer neurologischer Langzeitmorbidität von Kindern mit z. T. lebenslang belastenden Einzelschicksalen und stellen eine massive Belastung des Gesundheitssystems dar. Alleine in Deutschland wurden im Jahr 2014 63.300 tokolytische Therapien (9,2% der Geburten) mit im Mittel 3 bis maximal 114 Tagen Dauer durchgeführt. Vorzeitige Wehen werden demzufolge wahrscheinlich zu oft und zu lange behandelt. In 30% der Fälle kommt es zum spontanen Sistieren, 28% der Schwangeren werden stationär aufgenommen, wobei in 50–80% der Fälle die vorzeitigen Wehen nicht zu einer Frühgeburt führen. In weniger als 10% der Fälle führen vorzeitige Wehen tatsächlich zu einer Geburt innerhalb von 7 Tagen, und 50–70% der Schwangeren, die mit Plazebo behandelt werden, werden in Terminnähe entbunden. Demnach ist die Diagnose »vorzeitige Wehen« in über 50% der Fälle falsch, was die Entscheidung zu Therapiemaßnahmen nicht leichter, sondern schwerer macht.

Berechnung des tatsächlichen Frühgeburtsrisikos mit Hilfe der QUIPP-Software (www.quipp.org; weitere Informationen in Kuhrt et al. 2016a, b) 55Risiko für spontane Frühgeburt –– < 30. SSW: 20,0% –– < 34. SSW: 49,1% –– < 37. SSW: 66,7% 55Risiko für spontane Frühgeburt innerhalb von –– 1 Woche: 7,1% –– 2 Wochen: 14,5% –– 4 Wochen: 29,7%

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

7.1.2

Wie sind vorzeitige Wehen definiert? Wann besteht eine Indikation zu einer tokolytischen Therapie?

Die Diagnose »vorzeitige Wehentätigkeit« wird dann gestellt, wenn schmerzhafte, durch die Bauchdecke palpable, länger als 30 s dauernde Uteruskontraktionen bestehen, die mit einer Häufigkeit von mindestens 3/30 min (andere Definitionen sprechen von 4/20 min) auftreten. Wenn es zusätzlich zu einer Verkürzung der funktionellen Zervixlänge (transvaginale Sonographie) und/oder zu einer Muttermunderweiterung kommt, besteht die Indikation zu einer tokolytischen Therapie. Vor Abschluss der 34. SSW soll außerdem eine Induktion der Lungenreife mit plazentagängigen Kortikosteroiden erfolgen. Das in Deutschland am häufigsten verwandte Präparat ist Betamethason (2 × 12 mg i.m. im Abstand von 24 h). 7.1.3

War die Indikation zur Tokolyse bei Frau Jung richtig?

Schon die Schilderungen von Frau Jung, erst recht aber die klinische Untersuchung, stellen eine Indikation für den Beginn einer tokolytischen Therapie dar. Schmerzhafte Kontraktionen mit Ausstrahlung in andere Körperpartien wie Rücken oder Beine und eine Verkürzung, Eröffnung oder Erweichung des Muttermunds waren eindeutig festzustellen. Die digitale Untersuchung des Muttermundes, definiert als Eröffnung um > 2 cm und Verkürzung um mindestens 40%, hat für die Vorhersage einer Frühgeburt innerhalb von 7 Tagen immerhin ein Sensitivität von 65,5% und eine Spezifität von 72,4%. Da die digitale Untersuchung nur »Endbefunde« anzeigen kann, kommt sie für die Einleitung langfristig wirksamer Interventionen in aller Regel viel zu spät, insbesondere dann, wenn es um die Vermeidung sehr früher Frühgeburten wie im vorliegenden Fall geht. 7.1.4

Welche Bedeutung kommt der sonographischen Zervixlänge zu?

Die sonographische Messung der Zervixlänge ist der digitalen Untersuchung der Zervix nachweislich überlegen. Nach den in den 1990er Jahren von

Önderoglu publizierten Daten (7 Abschn. 7.1.3) hat die sonographische Messung der Zervixlänge – damals noch transperineal gemessen, Schwellenwert 28 mm – eine Sensitivität von 78,1% und eine Spezifität von 82,7%. In der Akutsituation bei einer auch ansonsten klinisch auffälligen Patientin ist damit die Lage etwas besser einzuschätzen, allerdings – wie man sieht – mit einer nur um ca. 10 Prozentpunkte höheren Sensitivität und Spezifität. Die Zervixlängenmessung wurde in zahlreichen Studien als Frühindikator für eine Frühgeburt untersucht. Doch genau hier weist auch die noch so genaue und korrekte sonographische Messung der Zervixlänge erhebliche Schwächen auf. Das Hauptproblem besteht darin, dass erst ab einer stark verkürzten Zervix das Risiko für eine Frühgeburt rapide ansteigt und dass eben kein linearer, sondern ein exponentieller Zusammenhang zwischen der Zervixlänge und dem Frühgeburtsrisiko besteht (. Abb. 7.1) Das bedeutet, dass ab einem Schwellenwert von 10–15 mm das Frühgeburtsrisiko »plötzlich und auf der Stelle« hoch ist. Daraus wird ersichtlich, dass die Zervixlänge schon aus theoretischen Erwägungen für sich betrachtet kein zuverlässiger Parameter zur Frühgeburtsprävention sein kann, auch wenn er wegen seiner sofortigen Verfügbarkeit und aus anderen Gründen, wie beispielsweise wegen der Möglichkeit der Bilddokumentation und damit der Vergleichbarkeit, der gängigste ist. Auch wenn ein zuverlässigerer Parameter wünschenswert wäre, kann die Zervixlängenmessung doch eingebettet in den klinischen Kontext (z. B. Anamnese) zur Entscheidungsfindung über geeignete präventive

100 80 Risiko (%)

7

114

60 40 20 0

0

10

20 30 40 50 Zervixlänge (mm)

60

70

. Abb. 7.1  Risiko für eine Frühgeburt vor der 32. SSW in Abhängigkeit von der in der 23. SSW gemessenen Zervixlänge. (Daten aus Heath et al. 1998)

7

115 7.1 · Falldarstellung

Maßnahmen, z. B. Cerclage, Arabin-Pessar und/oder Progesteronsupplementation, beitragen. Umgekehrt ist sie aber auch ein Parameter, der unnötige Interventionen verhindern hilft, da eine nicht verkürzte Zervix mit einem niedrigen Frühgeburtsrisiko einhergeht. Die Zervixlängenmessung – Messung zwischen 20 und 24 SSW und Schwellenwert 15 mm – wurde auf ihre Aussagekraft hinsichtlich des Frühgeburtsrisikos analysiert (. Tab. 7.1). Die Erkennungsraten für Frühgeburten waren dann am höchsten, wenn neben der Zervixlängenmessung die geburtshilfliche Anamnese (Nullipara, Z. n. Termingeburt, Z. n. Spätabort zwischen 16 und 23 SSW, Z. n. früher Frühgeburt zwischen 24 und 33 SSW, Z. n. Frühgeburt zwischen 34 und 36 SSW) und maternale Charakteristika (Alter, Ethnie, Rauchen, Body Mass Index) in die Bewertung eingeflossen sind. Als alleiniger Parameter war die Zervixlänge alleine zwar deutlich besser als die beiden anderen Einflussgrößen, die Detektionsrate bei einer fixierten screen-positive rate von 10% lag aber für die jeweiligen Gestationsaltersgruppen gerade einmal zwischen 24% und 75%.

Wie auch immer: Im vorliegenden Fall von Frau Jung wurden die diagnostischen Möglichkeiten zur Prävention der Frühgeburt ausgeschöpft. Die Zervixlänge lag vor der 24. SSW (Messung beim Frauenarzt) bei über 30 mm und war damit vollkommen normal. Demnach bestand nach heutigem Kenntnisstand kein früherer Interventionsbedarf. 7.1.5

Welche Bedeutung haben die biochemischen Tests?

In den letzten Jahren haben die biochemischen Tests zur Beurteilung des Frühgeburtsrisikos zunehmende Bedeutung erlangt. Ihre Relevanz für die klinische Beurteilung wird allerdings sehr unterschiedlich beurteilt. Während in manchen Ländern z. B. der Fibronektintest als alleiniges Kriterium für die Beurteilung des Frühgeburtsrisikos verwendet wird, hat er in anderen Ländern entweder gar keine Verbreitung gefunden oder er wird nur in Verbindung mit anderen Testverfahren, z. B. der Zervixlängenmessung, angewandt.

. Tab. 7.1  Detektionsrate der sonographischen Zervixlängenmessung bzw. der Kombination aus geburtshilflicher Anamnese und maternalen Charakteristika bei fixierter screen-positive rate von 10% (Celik et al. 2008) Screening-­Methode

Gestationsalter bei Geburt (Wochen)

Detektionsrate (%) 1%

5%

10%

15%

Zervixlänge

< 28

53,0

66,0

75,7

77,3

28–30

20,1

40,1

57,0

64,7

31–33

17,2

32,6

46,8

53,0

34–36

4,1

24,2

24,2

26,6

Geburtshilfliche Anamnese und maternale Merkmale

Zervixlänge und mütterliche Merkmale

Zervixlänge, geburtshilfliche Anamnese und mütterliche Merkmale

< 28

7,5

15,0

22,5

32,1

28–30

8,1

20,4

34,6

41,8

31–33

7,4

24,0

32,2

37,2

34–36

3,4

12,4

23,2

30,0

< 28

53,0

72,4

80,6

85,4

28–30

19,1

44,7

58,5

67,7

31–33

15,6

38,2

53,0

59,8

34–36

4,7

15,8

28,6

33,5

< 28

52,0

69,2

82,2

82,2

28–30

19,1

46,2

61,6

69,3

31–33

17,2

40,0

55,3

62,9

34–36

4,6

16,0

29,3

34,7

116

7

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

Auch in Deutschland existieren hierzu sehr unterschiedliche Erfahrungen und Meinungen. Auch die Beurteilung des Frühgeburtsrisikos erfolgt dabei nicht nach einheitlichen Kriterien: Während es den einen auf hohe positive prädiktive Werte ankommt, um zu entscheiden, welche Patientin überhaupt therapiert werden soll, ist anderen ein hoher negativer prädiktiver Wert wichtig, um festlegen zu können, wo eine Therapie nicht fortgeführt werden und wo bei nach klinischer Einschätzung hohem Frühgeburtsrisiko keine Therapie oder keine weitere Therapie durchgeführt werden soll. Die Mehrzahl der Kliniken in Deutschland führt den Test als »Entlassungstest« durch, d. h., ein negatives Testergebnis unterstützt die Entscheidung zur Beendigung einer Therapie (z. B. Tokolyse) oder eines stationären Aufenthalts bei ansonsten klinisch oder anamnestisch auffälligem Befund. Für die Entscheidung zu einer Therapie spielen die biochemischen Tests hierzulande noch eine untergeordnete Rolle. Aus eigener Erfahrung ist ähnlich wie bei der Zervixlängenmessung oder der Tokographie eine alleinige Entscheidung auf der Basis eines biochemischen Tests nicht sinnvoll, v. a. dann nicht, wenn es sich um drohende Frühgeburten vor der 32. SSW mit hohem Risiko für das Kind handelt. Im Fall von Frau Jung liegt aufgrund der Berechnung mit der QUIPP-Software ein Risiko für eine Frühgeburt innerhalb von 7 Tagen von 7,1% vor. Auch wenn dies auf den ersten Blick niedrig erscheint – immerhin kommt es nach den Berechnungen innerhalb von 7 Tagen mit einer Wahrscheinlichkeit von 92,9% nicht zu einer Frühgeburt –, muss man es mit dem statistischen Hintergrundrisiko vergleichen, wonach das Risiko für eine Frühgeburt innerhalb von 7 Tagen bei Frau Jung um ein Vielfaches erhöht ist (7 Abschn. 7.1.8). Allerdings ist zu bedenken, dass schon aufgrund des klinischen Befunds (frühe Schwangerschaftswoche, deutliche Verkürzung der Zervix, weicher Tastbefund, Wehentätigkeit, Z. n. Frühgeburt) eine tokolytische Therapie und eine Lungenreifeinduktion indiziert war. Die Apostel-1-Studie aus dem Jahr 2014 hat eine verbesserte Vorhersage des tatsächlichen Frühgeburtsrisikos bei in Bezug auf eine drohende Frühgeburt symptomatischen Schwangeren nur zwischen 15 mm und 30 mm Zervixlänge belegen können. Die Zervix von Frau

Jung war zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits kürzer. Nach den Daten der Apostel-1-Studie wäre der Fibronektintest also verzichtbar gewesen. Der positive Fibronektintest hat den klinischen Befund also lediglich bestätigt. Ob umgekehrt ein negativer Fibronektintest im vorliegenden Fall zu einem Therapieverzicht oder gar zur Entlassung aus der Klinik hätte führen dürfen, kann nicht abschließend beurteilt werden, auch wenn eine Subanalyse der Apostel-1-Studie zu dem Ergebnis kommt, dass selbst in einer solchen Situation (negativer Fibronektintest, Wehen, kurze Zervix) eine tokolytische Therapie mit Nifedipin gegenüber Plazebo keinen Vorteil bietet. > Die Schwangere muss in die Entscheidung für oder gegen eine Therapie unbedingt einbezogen werden. Es ist individuell zu entscheiden, welches Risiko als »hoch« angesehen wird. Während 1% Risiko für den einen hoch ist, ist es für den anderen niedrig, weil in 99% der Fälle das negative Ereignis – im vorliegenden Fall eine Frühgeburt – nicht eintritt. . Tab. 7.2 gibt eine Übersicht über die am Markt verfügbaren biochemischen Frühgeburtstests (Stand 02/2017).

7.1.6

Welche Laborparameter sind bei drohender Frühgeburt vorrangig zu bestimmen?

Weitere Laborbefunde sind in dieser Situation nur in Ausnahmefällen wegweisend. Naheliegend ist, dass zumindest ein Blutbild, Elektrolyte und CRP bestimmt werden. Vorzeitige Wehen ohne das Vorliegen eines Blasensprungs stellen i. Allg. keine Indikation für die Gabe eines Antibiotikums dar. Dennoch kann bei hohen Entzündungswerten (z. B. CRP > 20 mg/l, Leukozyten > 150 G/l) und klinisch hochgradigem Verdacht auf eine infektiöse Ursache (druckdolentes unteres Uterinsegment, übelriechender Fluor) der vorzeitigen Wehentätigkeit eine vorübergehende Antibiotikatherapie auch bei stehender Fruchtblase indiziert sein. Dies war bei Frau Jung nicht der Fall.

7

117 7.1 · Falldarstellung

. Tab. 7.2  Biochemische Frühgeburtstests Test

Hersteller

Nachgewiesenes Glykoprotein

Charakteristika

Besonderheiten bei der Entnahme

Zitate Pubmed (Stand 02/2017)

Actim Partus

Alere

phIGFBP-1

Ab 24 + 0 SSW durchführbar

Unempfindlich gegen Urin, Samenflüssigkeit und weitestgehend Blutkontaminationen

phIGFBP preterm birth: 19

(qualitative Bestimmung)

Manueller Schnelltest auf Basis eines Teststreifens Manuelle Dokumentation durch den Anwender oder Analyse mit Actim1ngeni (Einlage des Teststreifens in einen automatisierten Scanner)

QuikCheck fFN Test

Hologic

Fetales Fibronektin

Ab 22 + 0 SSW durchführbar

(qualitative Bestimmung)

Manueller Schnelltest auf der Basis eines Teststreifens Manuelle Dokumentation durch den Anwender

Rapid fFN-10Q System

Fetales Fibronektin

Ab 22 + 0 SSW durchführbar

(quantitative Bestimmung)

Automatisierter Test auf der Basis einer Testkassette Automatisches Ablesen des Ergebnisses durch einen integrierten optischen Scanner Automatische Dokumentation durch einen integrierten Drucker Qualitätsgesichertes Ergebnis

Partosure

Parsagen

PAMG-1 (qualitative Bestimmung)

Ab 20. SSW durchführbar (bis 37. SSW) Manueller Schnelltest auf der Basis eines Teststreifens Manuelle Dokumentation durch den Anwender

Testergebnis nach 5 min

Proben sollten vor der digitalen Untersuchung oder Manipulation der Zervix gewonnen werden; Manipulation der Zervix und/oder Geschlechtsverkehr innerhalb von 24 h können zu falschpositiven Ergebnissen führen

Erste Publikation im Zusammenhang mit Prävention der Frühgeburt: 2005

Fibronectin preterm birth: 339 1991

Topische Agenzien wie Gleitmittel, Seife, Desinfektionsmittel oder Cremes können die Probenentnahme und/oder die AntigenAntikörper-Reaktion des Tests beeinflussen Testergebnis jeweils nach 10 min

Kann unmittelbar nach einer gynäkologischen Untersuchung durchgeführt werden Speculum-Einstellung nicht zwingend erforderlich Testergebnis innerhalb von 5 min

phIGFBP-1 phosphorylated isoform of insulin-like growth factor binding protein-1, PAMG-1 plazentares α-Microglobulin-1.

PAMG preterm birth: 8 Erste Publikation im Zusammenhang mit der Prävention der Frühgeburt: 2013

118

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

Darüber hinaus sollte auch an extrauterine Ursachen infektionsbedingter oder entzündungsbedingter vorzeitiger Wehen gedacht werden. Hierzu gehören gastrointestinale (z. B. Diarrhö, Cholezystitis, Appendizitis, Pankreatitis) und urologische Krankheitsbilder (z. B. Nierenstau, Pyelonephritis, Zystitis), aber auch pulmonale Erkrankungen (z. B. Bronchitis, Pneumonie).

7

> Eine über den gynäkologischen Befund hinausgehende klinische Untersuchung ist unabdingbar, die je nach Anamnese spezifischer und ggf. unter Hinzuziehung von Kollegen anderer Fachgebiete (z.B. Chirurgen, Urologen, Internisten) ausfallen muss.

7.1.7

Was ist bei Abnahme der mikrobiologischen Abstriche wichtig?

Bei der Abstrichentnahme kommt es in Anbetracht der drohenden Frühgeburt v. a. darauf an, Abstriche auf multiresistente Keime (MRSA, MRGN) abzunehmen. Wichtig sind diese Abstriche nicht für die Behandlung der Mutter, sondern im Falle einer Frühgeburt für die Ärzte der Neonatologie. > Frühgeborene von Müttern, bei denen multiresistente Keime nachgewiesen wurden, sind zu isolieren.

Andere Abstrichergebnisse, wie der Nachweis von Mykoplasmen (z. B. Mycoplasma hominis), Ureaplasmen (z. B. Ureaplasma urealyticum) oder Chlamydien (z. B. Chlamydia trachomatis) müssen eine antibiotische Therapie nach sich ziehen. Vor allem Mykoplasmen und Ureaplasmen sind mit dem Auftreten eines vorzeitigen Blasensprungs assoziiert, während Chlamydien mit einem insgesamt erhöhten Frühgeburtsrisiko einhergehen. Auf Chlamydien wird allerdings bereits zu Beginn der Schwangerschaft getestet, da dies im Rahmen der Mutterschaftsrichtlinien in Deutschland so vorgeschrieben ist. In der Schwangerschaft eignen sich für die Behandlung von Chlamydien, Mykoplasmen und Ureaplasmen in erster Linie Makrolide (z. B. Erythromycin, Clindamycin oder Azithromycin).

> Wichtig ist in diesen Fällen auch eine Mitbehandlung des Partners.

Bei Nachweis von B-Streptokokken sollte bei gleichzeitig bestehender Frühgeburtssymptomatik ebenfalls antibiotisch behandelt werden. Zur Behandlung sind Penicilline (z. B. Ampicillin), bei Penicillinallergie Cephalosporine (z. B. Cefuroxim) oder bei Kreuzallergie ebenfalls Makrolide (s. oben) geeignet. Andere aus der Analflora stammende Erreger, die eine pathologische Besiedelung der Scheide verursachen können, wie beispielsweise Gardnerella vaginalis, müssen bei normalem Nativpräparat wie im vorliegenden Fall nicht behandelt werden. Im Fall eines auffälligen Nativpräparats (bakterielle Vaginose mit sog. Schlüsselzellen) oder bei stark auffälligem, fischartigem Geruch würde in solchen Fällen mit Metronidazol behandelt. 7.1.8

Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? Gibt es Risikofaktoren?

Frau Jung hat offenkundig und eindeutig zervixwirksame vorzeitige Wehen. Aufgrund ihrer Anamnese (Z. n. Frühgeburt, Z. n. frühem vorzeitigem Blasensprung) besteht ein hohes Wiederholungsrisiko für eine erneute Frühgeburt, was durch das Ergebnis des Fibronektintests und durch die Berechnung der QUIPP-Software zu belegen ist. Es gibt eine Vielzahl von Risikofaktoren, die zu vorzeitigen Wehen und Frühgeburt führen. Die meisten in der Literatur genannten Risikofaktoren steigern das Frühgeburtsrisiko in nur sehr geringem Umfang. Hauptrisikofaktoren mit einer Risikosteigerung um das mindestens 5- bis 10-Fache des Ausgangsrisikos sind:

Hauptrisikofaktoren für vorzeitige Wehen und Frühgeburt 55Mehrlingsschwangerschaft 55Frühgeburt oder vorzeitige Wehen in der Anamnese 55Kind mit niedrigem Geburtsgewicht in der Anamnese 55Wiederholt auftretende vaginale Blutung im 2. Trimenon

119 7.1 · Falldarstellung

Der einzige, aber entscheidende Risikofaktor, den Frau Jung aufweist, ist die Frühgeburt nach vorzeitigem Blasensprung in der Anamnese. Alle anderen Risikofaktoren treffen bei ihr nicht zu. Weitere Faktoren, bei denen eine Assoziation zum Auftreten einer Frühgeburt besteht, die allerdings von geringerer Bedeutung sind, liegen bei Frau Jung ebenfalls nicht vor. Solche Risiken sind:

Weitere Risikofaktoren für vorzeitige Wehen und Frühgeburt 55Alter < 18 oder > 35 Jahre 55Uterine Anomalien (Uterus myomatosus, Uterusfehlbildungen) 55Zervikale Anomalien (z. B. Z. n. Konisation) 55Zervixinsuffizienz 55Niedriger sozioökonomischer Status 55Unverheiratet sein 55Z. n. intrauterinem Fruchttod 55≥ 3 Schwangerschaftsabbrüche 55Genetische Prädisposition 55Niedriges Ausgangsgewicht in der Schwangerschaft (v. a. BMI < 19) 55Adipositas 55Generalisierte oder lokale Infektion 55Anämie 55Stress (gravierender psychischer oder sozialer Stress) 55Fehlende soziale Unterstützung 55Nikotinabusus 55Drogenkonsum 55Alkoholabusus 55Keine Folsäureeinnahme

7.1.9

Welche Risiken bestehen für das Frühgeborene? Wie sind Frau Jung und ihr Mann aufzuklären?

Risiken bestehen eigentlich nur für die frühgeborenen Kinder; frühgeburtsspezifische mütterliche Risiken können aber auf der Basis einer zur Frühgeburt führenden Pathologie bestehen (z. B. Infektionserkrankung wie Pneumonie).

7

Schwere, z. T. lebensbedrohliche Folgeerkrankungen von Frühgeborenen 55Störungen der neurologischen Entwicklung (z. B. Hirnblutungen, periventrikuläre Leukomalazie und direkt oder in der Folge spastische Zerebralparese, geistige Entwicklungsverzögerung) 55Verlust von Gehör und Sehsinn (z. B. Retinopathia praematurorum) 55Chronische Lungenerkrankungen (z. B. bronchopulmonale Dysplasie) 55Infektionen 55Nekrotisierende Enterokolitis (in der Folge z. B. Kurzdarmsyndrom)

7.1.10 Hätte Frau Jung etwas tun

können, um eine erneute drohende Frühgeburt zu verhindern?

Wenn man sich große epidemiologische Studien ansieht, so ist festzustellen, dass die meisten Maßnahmen, die zur Vermeidung von (drohenden) Frühgeburten zum Einsatz kommen, keinen Einfluss auf die Gesamtzahl der Frühgeburten hatten. In einer Untersuchung von Edward wurde festgestellt, dass zumindest in den USA der Großteil der vermeidbaren Frühgeburten durch richtige Bestimmung des Gestationsalters zu »verhindern« gewesen wäre; es hatte sich also gar nicht um Frühgeburten gehandelt. Bei der Betrachtung der eingesetzten Interventionen fällt auf, dass die Mehrheit der von der Patientin selbst oder vom Geburtshelfer zu beeinflussenden Faktoren oder Maßnahmen kaum eine Wirkung – wohlgemerkt bezogen auf die Gesamtzahl der Frühgeburten – haben (. Tab. 7.3). 44So ist das kurze Intervall zwischen zwei Schwangerschaften bei Vorliegen derselben nicht mehr abzuändern. 44Was nichtmedizinisch indizierte Frühgeburten angeht, befinden wir uns im Bereich der Lifestyle-Medizin. 44Die Vermeidung reproduktionsmedizinischer Techniken wiederum würde zwar die Zahl der Frühgeburten geringfügig senken, dafür aber auch die Zahl der Schwangerschaften

120

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

. Tab. 7.3  Frühgeburten in USA – voraussichtliche Senkung des Risikos durch verschiedene Maßnahmen im Zeitraum zwischen 2010 und 2030 (Daten aus McCabe et al. 2014)

7

Intervention

Ausgangswert 2010a

Risikoreduktion

Prognostizierter Wert 2030a

Anmerkung

Nichtmedizinisch indizierte ­Einleitungen und Sectiones

9,98%

–0,5%

8,22%

Interventionen beschrieben in Chang et al. (2013), angepasst an die vorgenommene geburtshilfliche Einschätzung

Cerclage

–0,18%

Assistierte Reproduktionstechniken

–0,11%

Progesteron

–0,02%

Rauchstopp

–0,02%



Anwendung von niedrigdosiertem Aspirin zur Reduktion von Präeklampsie

–0,21%

Risikofaktoren

Kurzes Intervall zwischen zwei Schwangerschaften

–0,69%

Teenager-Schwangerschaft

–0,03%

a Geburtshilfliche Einschätzung.

insgesamt. Für die Verhinderung der drohenden Frühgeburt hat dies kaum Bedeutung. 44Die Einnahme von Aspirin zur Prävention der Präeklampsie bei belasteter Anamnese greift auch bei der spontanen Frühgeburt nicht. 44Rauchentwöhnung hat einen sehr geringen Effekt und ist schwer umzusetzen. Es verbleiben daher noch zwei mögliche Maßnahmen, die infrage gekommen wären: Cerclage und Progesterongabe. Die Schwierigkeit bei derart »nihilistischen« Betrachtungen liegt darin, dass sie ein verzerrtes Bild der klinischen Wirklichkeit bieten. Sie sind aus dem Blickwinkel von Public-Health-Fachleuten verständlich, für die klinische Medizin und die unmittelbare Behandlung sind sie nicht wirklich hilfreich. Das Hauptproblem besteht in der Betrachtung aller Frühgeburten zwischen der Grenze der Lebensfähigkeit (22.–25. SSW) und der 36 + 6 SSW 90% der Frühgeburten finden oberhalb von 32 SSW statt, sodass diese das Bild prägen, obwohl Frühgeburten oberhalb dieses Gestationsalters in Bezug auf

schwere Morbidität oder gar Mortalität kaum noch eine Rolle spielen. Frühe Frühgeburten vor der 32. SSW wiederum machen nur etwa 10% aller Frühgeburten, also etwa 1% aller Geburten aus (. Abb. 7.2). Eine drohende Frühgeburt in der 27. SSW wie im vorliegenden Fall ist wiederum ein extrem seltenes Ereignis. Eine tatsächliche spontane Frühgeburt in diesem Schwangerschaftsalter tritt mit einer Häufigkeit im Promillebereich auf. Zwischen 25 und 33 SSW liegt das Frühgeburtsrisiko bezogen auf alle Schwangeren pro Woche bei ungefähr 0,25%. Allein aufgrund des Fibronektintests liegt das individuelle Risiko von Frau Jung nunmehr jedoch bei 7,1%. Dies entspricht einer Risikoerhöhung etwa um den Faktor 38–30. Dieses individuelle Risiko geht bei der Gesamtbetrachtung aller Frühgeburten aufgrund der relativen Seltenheit dieses Ereignisses unter und findet nicht genügend Beachtung. Es ist auch ein Grund dafür, dass diagnostische Methoden zur Frühgeburtsprävention an den gängigen Testbewertungen scheitern. So klingt ein Risiko von 7,1% (positiver Vorhersagewert) für eine Frühgeburt innerhalb einer Woche auf den ersten Blick sehr niedrig und damit in Bezug auf die Aussagekraft des biochemischen Tests »schlecht«. In der Realität ist das Risiko

121 7.1 · Falldarstellung

7

Anzahl Geburten 20 000

10 000

0 22 23 24 25 26 27

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 Schwangerschaftswochen

. Abb. 7.2  Verteilung von Frühgeburten

für die betreute Patientin aber erheblich und womöglich folgenschwer. 7.1.11 Wieso hat Frau Jung kein

Progesteron angewendet und keine Cerclage durchführen lassen?

Frau Jung hatte sich aufgrund neuerer Medienberichte davon abbringen lassen. Zum einen wollte sie keine Hormone einnehmen, zum anderen hatte sie gehört, neuere Studien hätten ergeben, dass Progesteron doch keinen Einfluss auf die Frühgeburtenrate habe. In der Tat lässt sich dies nicht abstreiten. Der OPPTIMUM-Trial, der im Jahr 2016 publiziert wurde, hat die Ergebnisse von zahlreichen Studien und Metaanalysen der letzten Jahre zur Wirksamkeit von Progesteron infrage gestellt. Es ist also nicht verwunderlich, dass Frau Jung als gut informierte Patientin die vaginale Applikation von Progesteron ablehnte. Hätte man Frau Jung besser aufgeklärt, so wäre ihr vielleicht klar geworden, dass alle Studien, die vor dem OPPTIMUM-Trial publiziert worden waren, einheitlich zu dem Ergebnis kamen, dass bei Frauen mit hohem Risiko für eine Frühgeburt – und dies war bei Frau Jung aufgrund der Frühgeburt in ihrer

Anamnese eindeutig der Fall – eine Progesteronsupplementation zu einer Halbierung ihres Frühgeburtsrisikos geführt hätte. Die erste und maßgebliche Studie, bei der dies für Schwangere mit Frühgeburt in der Anamnese gezeigt werden konnte, war 2003 von Meis et al. publiziert worden. Bei der Cerclage hätte Frau Jung in ihrer Situation evidenzbasiert zwei Möglichkeiten gehabt: Operative Cerclage 44entweder zu Beginn des 2. Trimenons (»anamnesebasiert«) 44oder, im Falle einer Verkürzung des Gebärmutterhalses, vor Abschluss der 24. SSW (»befundbasiert«). Frau Jung entschied sich für den zweiten Weg. Bei ihr gab es in Anbetracht der zu Beginn der 24. SSW gemessenen Zervixlänge mit einem Normalbefund von 31 mm evidenzbasiert keine Indikation zu einer operativen Cerclage. So geht es weiter … Frau Jung wird nach der stationären Aufnahme in den Kreißsaal übernommen, wo sie die erste Dosis der Lungenreifeinduktion erhält. Parallel wird mit der Infusion von Magnesium zur fetalen Neuroprotektion und der angeordneten tokolytischen Therapie begonnen. Die Beschwerden, die Frau

122

7

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

Jung in die Klinik haben fahren lassen, sind relativ rasch rückläufig. Stattdessen kämpft sie nun mit den Nebenwirkungen der β-Mimetika-Therapie: die Hände zittern, das Herz schlägt schnell. Im Laufe des frühen Morgens kommt der diensthabende Neonatologe, Dr. Niksch, und spricht mit Frau Jung und ihrem Mann über den Fall, dass das Kind möglicherweise unerwartet früh zur Welt kommen könnte. Frau Jung realisiert erst jetzt, in welcher Situation sie sich befindet. »Kann ich irgendetwas tun, um die Frühgeburt zu verhindern?«, fragt sie Herrn Dr. Niksch. »Im Augenblick haben die Gynäkologen alles getan, was in dieser Situation möglich ist. Es ist jetzt aus neonatologischer Sicht wichtig, die Lungenreifeinduktion nach Möglichkeit abzuschließen, danach werden die Kollegen weitersehen. Die letzte Entscheidung müssen natürlich die Gynäkologen mit Ihnen treffen. Nur hoffe ich, dass das Kind erst möglichst spät zur Welt kommt.«

7.1.12 Welche Aufklärungspflichten

bestehen?

Im Fokus der Aufklärung stehen die Fragen der kindlichen Mortalität und Morbidität im Fall einer tatsächlich eintretenden Frühgeburt. Sollte das Kind in der 27. SSW zur Welt kommen, wäre immer noch mit einer erhöhten Mortalität und Morbidität zu rechnen, auch wenn nach Abschluss der Lungenreifeinduktion nach 48 h mit einer erheblichen Verbesserung des Outcome zu rechnen wäre. Wie den Angaben in . Abb. 7.3 zu entnehmen ist, nehmen die schweren kindlichen Komplikationen wie Hirnblutungen, Sepsis und nekrotisierende Enterokolitis erst nach der 29. SSW deutlich ab, wohingegen pulmonale Komplikationen noch bis zur 32. SSW häufig auftreten. Insofern ermutigt Herr Dr. Niksch Frau Jung dazu, mit der begonnenen Therapie zumindest bis in die 30. SSW zu gelangen, sofern medizinisch nichts dagegen spricht. So geht es weiter … Die Therapie der Gynäkologen ist im Moment auf die nächsten 48  h bis zum Abschluss der Lungenreifeinduktion fokussiert. Frau Jung leidet zwar darunter, von ihrer Familie und v. a. von ihrem Sohn

Luca getrennt zu sein, sie weiß aber, dass im Moment keine anderen Optionen bestehen. Bis auf kurze Phasen am Abend spürt Frau Jung keine Wehen. Die Therapie verträgt sie bereits nach wenigen Stunden gut, am 2. Tag ihres Aufenthalts – in der Nacht hatte sie die zweite Lungenreifespritze erhalten – ist sie kaum noch aufgeregt, das Herz schlägt normal, und das Zittern der Hände ist kaum noch zu beobachten. Am gleichen Tag kommt der Chefarzt der Abteilung, Herr Dr. Krohns, zur Visite und bespricht mit Frau Jung das weitere Vorgehen. Er erläutert ihr, dass weitere Optionen mit ihr zu besprechen seien, über die man sich verständigen müsse. Der Chefarzt bespricht mit Frau Jung zunächst den Standard. Demnach würde man 48 h nach Therapiebeginn und damit nach Abschluss der Lungenreifeinduktion die Tokolyse beenden. »Würde es zur Geburt kommen, müsste man das so hinnehmen«, sagt Dr. Krohns, »wobei ich Ihnen in Ihrem Fall, sollte es zu einer Muttermunderöffnung und zu starken Wehen kommen, die Kaiserschnittentbindung empfehlen würde.« Frau Jung möchte wissen, welche weiteren Optionen und Therapiemöglichkeiten noch bestehen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass das Kind im Fall von Wehen auf die Welt kommen soll, wo doch auch der Frühgeburtstest positiv war. Dr. Krohns schlägt verschiedene Optionen vor (7 Abschn. 7.1.13), nachdem Frau Jung alles dafür tun will, dass die Schwangerschaft nicht möglicherweise schon in der 27. SSW zu Ende geht:

7.1.13 Welche therapeutischen

Optionen ergeben sich für die Gynäkologen?

Progesteron 200-400 mg intravaginal als schwangerschaftserhaltende Maßnahme  Die Datenlage zu

diesem Vorgehen ist zwar schwach, allerdings wäre es eine Möglichkeit, die nach heutigem Kenntnisstand zu einer Schwangerschaftsverlängerung beitragen könnte. In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2015 konnte gezeigt werden, dass vaginales Progesteron in dieser Situation (im Sinne einer Erhaltungstherapie) zu einer Senkung der Frühgeburtenrate, zu einer Schwangerschaftsverlängerung und zu einer Senkung der Sectio-Rate führt.

123 7.1 · Falldarstellung

Atemnostyndrom

100

Sepsis

90 % der Lebendgeborenen

7

Hirnblutung

80

Enterokolitis

70 60 50 40 30 20 10 0

22

24

26

28

30

32

34

36

38

Gestationsaeter (Wochen) a 100

% der Lebendgeborenen

90 80 70 60

Überleben

50

Mortalität

40 30 20 10 0 22

b

24

26

28 30 32 34 36 38 Gestationalter bei Geburt (Wochen)

40

42

. Abb. 7.3  Neonatale Morbidität (a) und Mortalität (b) in Abhängigkeit von der Schwangerschaftswoche (Daten aus Mercer 2003)

Arabin-Pessar bis 37 + 0 SSW zur Stabilisierung der Zervix  Das Pessar könne bis zum Einsetzen der

Wehen belassen werden. Studien zum Einsatz in dieser Situation sind zwar nicht in ausreichender Zahl vorhanden, allerdings ergab eine Studie bei Frauen mit verkürzter Zervix vor der 24. SSW nahezu eine Halbierung der Frühgeburtenrate. Insofern wäre der Einsatz des Pessars eine risikolose Therapieoption, die es auch möglich machen könnte, über das

Absetzen der tokolytischen Therapie nachzudenken, insbesondere auch deshalb, weil eine operative Cerclage in dieser Schwangerschaftswoche nicht mehr infrage käme. Fortsetzung der tokolytischen Therapie  Eine Fortsetzung der tokolytischen Therapie wird international kritisch gesehen, weil sie zum einen mit mütterlichen Komplikationen einhergehen kann,

124

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

andererseits aber auch keine Verbesserungen des kindlichen Outcome zu erzielen sein sollen. Andererseits liegt die Schwierigkeit in der Beurteilung dieser Studien u. a. darin, dass sich ein Großteil der in die Studien eingeschlossenen Patientinnen oberhalb der 32. SSW befanden, sodass eine Aussage über frühe Schwangerschaftswochen nur mit Einschränkungen und großer Vorsicht möglich ist. In jedem Fall sollte bei einer Fortsetzung der tokolytischen Therapie die Indikation täglich neu geprüft werden und im Fall eines sog. »Wehendurchbruchs« die Therapie lieber beendet als »auf Biegen und Brechen« fortgesetzt werden.

7

Umstellung der tokolytischen Therapie  Eine

Umstellung der tokolytischen Therapie wäre grundsätzlich möglich. Infrage kämen Nifedipin, Indomethacin und Atosiban. In der vorliegenden Situation wäre Indomethacin wahrscheinlich die am besten geeignete Therapieoption gewesen, auch als Alternative zu Fenoterol. Zwar wurde in einem ReviewArtikel aus dem Jahr 2015 eine signifikante Assoziation einer Indomethacin-Therapie mit schweren intraventrikulären Blutungen (IVH Grad III–IV nach den Kriterien von Papile), nekrotisierender Enterokolitis (NEC) und periventrikulärer Leukomalazie (PVL) beobachtet, die jeweiligen Risikoerhöhungen waren aber zum einen gering (IVH Grad III–IV RR 1,29; 95% KI 1,06–1,56; NEC RR 1,36; 95% KI 1,08– 1,71); PVL RR 1,59; 95% KI 1,17–2,17), zum anderen handelt es sich um eine Metaanalyse von ausschließlich Beobachtungsstudien. Die Schwierigkeit besteht hier darin, dass anzunehmen ist, dass Indomethacin – wie üblich – gerade bei den schweren und komplizierten Fällen (z. B. sehr frühe Schwangerschaftswochen mit zusätzlich hohem Risiko wie beispielsweise erhöhten Entzündungswerten oder prolabierender Fruchtblase) zum Einsatz kam, die ohnehin erhöhte Raten dieser Komplikationen aufwiesen. Auch im vorliegenden Fall wurde aufgrund des noch vergleichsweise leichten Falls ja auf die primäre Gabe von Indomethacin verzichtet. Nifedipin wäre nach Aufklärung über den off-label use ohne weiteres möglich gewesen, wobei die Kombination aus einem Kalziumantagonisten in Kombination mit einer hochdosierten Magnesiumtherapie zur Neuroprotektion aufgrund zu befürchtender kardialer Nebenwirkungen zwar grundsätzlich möglich,

aber dennoch zu vermeiden ist. Aufgrund der frühen Schwangerschaftswoche hatte man sich aber ohnehin für ein zugelassenes Tokolytikum entschieden. Nifedipin wäre v. a. dann eine gute Alternative gewesen, wenn eine längerfristige Therapie absehbar und somit ohnehin ein off-label use notwendig gewesen wäre (Fenoterol und Atosiban sind als zugelassene Tokolytika jeweils nur für 48 h zugelassen). Man hätte auch bei starken Nebenwirkungen von Fenoterol darauf umstellen können. Das einzige Präparat, das als Tokolytikum und somit für die Behandlung vorzeitiger Wehen zugelassen ist, wäre der Oxytocinantagonist Atosiban. Allerdings ist auch dieser – genau wie der gewählte Wirkstoff Fenoterol – nur für 48 h zugelassen. Details und Dosierungen verschiedener Tokolytika sind . Tab. 7.4 zu entnehmen. Wiederholung der Lungenreifeinduktion  Herr Krohns

bespricht mit Frau Jung die Wiederholung eines Lungenreifezyklus vor 29 + 0 SSW für den Fall, dass es zu einer akuten Verschlechterung der Situation kommen sollte. Andernfalls würde er lieber keine weitere Lungenreife durchführen. Jedenfalls sollte diese nicht standardmäßig, sondern nur nach strenger Indikationsstellung erfolgen. Die Begründung für eine mögliche Wiederholung liegt in einer Studie aus dem Jahr 2013, wonach vor 29 SSW durch einen zweiten Lungenreifezyklus die Vorteile (Vermeidung eines ungünstigen composite adverse perinatal outome aus RDS, BPD, IVH Grad III und IV, PVL oder Totgeburt) die Nachteile (kleiner Kopfumfang, small for gestational age) überwiegen. Nach 29 + 0 SSW sollte kein zweiter Lungenreifeinduktionszyklus durchgeführt werden.

Geburtsmodus  Frau Jung hat den unbedingten

Wunsch, das Kind »auf natürlichem Weg« zur Welt zu bringen. Dr. Krohns erläutert ihr, warum gerade in frühen Schwangerschaftswochen die Sectio Vorteile für das Kind bringen kann. Andererseits gibt er ihr im Verlauf des Gesprächs auch zu erkennen, dass er bereit sei, bei sich rasch eröffnendem Muttermund und zügig tiefertretendem Köpfchen auch eine vaginale Geburt zuzulassen.

So geht es weiter … Frau Jung entscheidet sich für die Fortsetzung der tokolytischen Therapie mit Fenoterol in gleichbleibender Dosierung. Außerdem erhält sie ein

125 7.1 · Falldarstellung

. Tab. 7.4  Unterschiedliche tokolytisch wirksame Substanzen und ihre Besonderheiten Wirkstoff (Handelsname)

Zulassung

Dosierung

Besonderheiten

β-Sympathomimetikum (Partusisten)

Zugelassen

→ Packungsbeilage

Jahrzehntelange Erfahrung Viele Nebenwirkungen (z. B. kardial: ­Herzrhythmusstörungen, pulmonal: ­Lungenödem, neurologisch: Tremor) i.v.-Therapie zugelassen für max. 48 h Orale Therapie nicht effektiv

Atosiban (Tractocile)

Zugelassen

→ Packungsbeilage

Erfahrungen seit ca. 20 Jahren Wenige Nebenwirkungen (z. B. ­Kopfschmerzen, Hypotonie, reaktive Tachykardie) i.v.-Therapie zugelassen für max. 48 h Orale Therapie nicht verfügbar

Nifedipin (z. B. Adalat, Adalat retard)

Off-label use

Bis max. 150 mg/Tag

Einziges Tokolytikum, bei dem eine ­Verbesserung des neonatalen Ergebnisses bewiesen ist Wenige Nebenwirkungen Orale Therapie

Indomethacin (z. B. Indometacin AL 50 Tbl.)

Off-label use

50–100 mg (oral, rektal) initial, gefolgt von 25–50 mg oral alle 4–6 h

Einsatz wegen des Risikos für vorzeitigen Verschluss des Ductus arteriosus Botalli ausschließlich vor SSW 32 + 0

Glyeroltrinitrat (z. B. Nitroderm TTSa 10 mg)

Off-label use

2 Pflaster/Tag (entsprechend 2 × 0,4 mg/h = 0,8 mg/h)

Tokolytischer Effekt umstritten, nur an wenigen Kliniken eingesetzt

Magnesium (z. B. Magneven)



4–6 g als Aufsättigungsdosis langsam i.v., danach 1 g/h i.v.

Tokolytischer Effekt umstritten, heute fast nirgendwo mehr als Tokolytikum eingesetzt

a TTS transdermales Pflaster.

Arabin-Pessar und Progesteron 200 mg intravaginal. Es geht ihr sehr gut. Die CTGs zeigen keine Wehen an, sie selbst spürt auch nichts. Nur die Trennung von ihrer Familie bereitet ihr große Schwierigkeiten. Das Kind wird nach 8 Tagen noch einmal sonographisch kontrolliert, weil sie wissen will, ob es auch wächst. Das Schätzgewicht liegt der Ultraschalluntersuchung zufolge nun bei 1340 g. 10 Tage nach Aufnahme – sie ist nun bei 27+5 SSW – erleidet Frau Jung in der Nacht gegen 23 Uhr einen Blasensprung, obwohl zuvor noch alles in Ordnung gewesen war. Sofort setzen trotz laufender Tokolyse heftige Wehen ein. Die sofort hinzugezogene Dienst-Oberärztin, Frau Dr. Endien, entscheidet aufgrund der eindrücklichen Situation, dass Frau Jung

sofort in den Kreißsaal verlegt wird. Außerdem erfolgt eine Vorverständigung des Anästhesieteams für den Fall, dass eine Sectio caesarea erfolgen muss. Im Kreißsaal angekommen, führt Frau Dr. Endien sofort eine vaginale Untersuchung durch. Das Pessar sitzt noch gut, allerdings hat Frau Jung eine immer noch spürbare Wehentätigkeit. Weil die Ärztin keine kindlichen Teile und auch nicht das Köpfchen tasten kann, führt sie rasch eine sonographische Kontrolle durch. Das Kind liegt komplett quer! Auch bei Druck auf den Uterus – beidseits von lateral – kommt es nicht zur Einstellung des Kindes in Längslage. Frau Dr. Endien ruft sofort die Notsectio aus. Diese wird in Vollnarkose durchgeführt. Frau Jung wird von einem 1410 g schweren weiblichen Neugeborenen

7

126

7

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

– aufgrund der Querlage unter erschwerten Bedingungen – entbunden, welches nach verzögerter Abnabelung (4-mal Ausstreichen der Nabelschnur zum Kind hin und 45-sekündiges Abwarten) den Neonatologen zur Versorgung übergeben wird. Das Kind atmet zunächst selbstständig, benötigt aber bereits nach wenigen Minuten CPAP-Atemhilfe. Die Apgar-Werte liegen bei 5–8–8. Die Nabelschnur-pHWerte liegen bei 7,28 (arteriell), 7,33 (venös), BE –1,2. Als Frau Jung aus der Narkose erwacht, ist ihr Mann, der während der OP verständigt worden war, auf dem Weg in die Klinik. Die Hebamme zeigt ihr ein Foto ihres Kindes und tröstet sie. »Jetzt ist erst einmal alles gut gegangen. Das war ja gerade noch rechtzeitig.« Frau Dr. Endien kommt dazu und erläutert Frau Jung den ansonsten unkomplizierten OP-Verlauf.

7.1.14 Warum ist die späte Abnabelung

gerade bei Frühgeborenen so bedeutsam?

Bereits die antenatale hochdosierte Gabe von Magnesium über einen Zeitraum von mindestens 12 h hat einen neuroprotektiven Effekt für die Frühgeborenen. Die perinatale Mortalität kann dadurch zwar nicht gesenkt werden, die Rate von Kindern mit Zerebralparesen und mit Dysfunktion der Grobmotorik nimmt aber signifikant ab. . Tab. 7.5 zeigt die neuroprotektiven Effekte von Magnesium: Die antepartale Applikation von Magnesiumsulfat senkte die Inzidenz von Zerebralparese

. Tab. 7.5  Magnesium zur Neuroprotektion (mod. nach Doyle et al. 2009) Störung

Magnesiumgabe (n)

Kontrolle (n)

RR (95% KI)

Zerebralparese

104/3052

154/3093

0,68 (0,54–0,87) p = 0,002

Dysfunktion der Grobmotorik

57/2967

Kindliche Mortalität

443/3052

94/3013

0,61 (0,44–0,85)

und Dysfunktion der Grobmotorik bei frühgeborenen Kindern signifikant. Die kindliche Mortalität blieb hingegen unverändert. In ähnlicher Weise wirken sich die Spätabnabelung (frühestens 30–45 s nach Kindsentwicklung) oder das 4-malige Ausstreichen der Nabelschnur zum Kind hin auf die neurologische Entwicklung von vor der 32. SSW Frühgeborenen aus. Zusätzlich kommt es bei spätem Abnabeln signifikant seltener zur Entwicklung einer Sepsis. Vermutlich kommt es gerade bei Frühgeborenen – aber auch bei Termingeborenen – darauf an, dass genügend Zeit vorhanden ist, um nach dem ersten Schrei des Kindes die Lungenstrombahn aus dem plazentaren Reservoir mit Blut zu füllen. Unterbleibt dies, kommt es abgesehen von einem rein quantitativen und qualitativen Mangel an Blut (Sauerstoffversorgung, immunologische Abwehr, Gerinnungsfaktoren) bei den Kindern zu reaktiv auftretenden und z. T. erheblichen Kreislaufstörungen, die dann mit den entsprechenden Folgen einhergehen können. . Tab. 7.6 zeigt die neuroprotektiven Effekte durch spätes Abnabeln: Spätes Abnabeln (DCC, delayed cord clamping, 30–45 s) reduziert im Vergleich zu sofortigem Abnabeln (ICC, immediate cord clamping, 5–10 s) die Inzidenz der intraventrikulären Hirnblutung (IVH) und neonatalen Sepsis signifikant bei Frühgeborenen unterhalb von 32 SSW. das Ende des Falls Nach insgesamt 14 Wochen wird die kleine Emma Jung mit einem Gewicht von 2650  g aus der

. Tab. 7.6  Neuroprotektion durch spätes Abnabeln (mod. nach Mercer et al. 2006) IVH

ICCn = 36, n (%)

DCCn = 36, n (%)

p

OR

95% KI

Gesamt

13 (36)

5 (14)

0,03

3,5

Grad 1

4 (11)

3 (8)

1,1– 11

Grad 2

8 (22)

2 (6)

Grad 4

1 (3)

0 (0)

Sepsis

8 (22)

1 (3)

0,03

0,1

0,01– 0,84

p = 0,003 430/3093

1,04 (0,92–1,17)

IVH intraventrikuläre Hirnblutung, DCC spätes Abnabeln, ICC frühes Abnabeln, OR Odds Ratio.

127 Weiterführende Literatur

7

7.2 Fallnachbetrachtung

und des Schätzgewichts < 1500 g eher zu einer Sectio caesarea geraten. Bedauerlich ist, dass die Patientin trotz bekanntem Risiko nicht die Chance nutzte, bereits in der 16. SSW mit einer Progesteronsupplementation zu beginnen. Nach den zur Verfügung stehenden Studien und Metaanalysen – außer dem OPPTIMUM-Trial – hätte die Wahrscheinlichkeit für eine erneute Frühgeburt um ca. 40–50% gesenkt werden können.

Abschließende kritische Wertung

Weiterführende Literatur

Es handelt sich bei Frau Jung um einen typischen Fall einer Patientin mit vorzeitigen Wehen. Die Patientin wurde rechtzeitig in der Klinik vorstellig, sodass es gelang, einen Lungenreifezyklus unter tokolytischer Therapie zum Abschluss zu bringen. Unter Fortsetzung der tokolytischen Therapie, Einlage eines Arabin-Pessars und Therapie mit Progesteron – alles Maßnahmen, die hier als individuelle Heilversuche gewertet werden müssen – konnte die Schwangerschaft dann noch einige Tage fortgesetzt werden. Auf die Bestimmung des fetalen Fibronektins hätte im vorliegenden Fall aufgrund der eindeutigen Klinik und in Anbetracht der deutlich verkürzten Zervix verzichtet werden können. Das positive Ergebnis hat an der Therapie nichts geändert, umgekehrt wäre man schlecht beraten gewesen, wenn man bei negativem Ergebnis hier nicht behandelt hätte. Die Neuroprotektion mit hochdosiertem Magnesium war eine sinnvolle Maßnahme. Für die längerfristige Gabe über mehr als 12 h bestand keine wissenschaftliche Evidenz. Bedeutsamer im Hinblick auf die Neuroprotektion waren mit hoher Wahrscheinlichkeit die späte Abnabelung und das Ausstreichen der Nabelschnur. Eine wiederholte Lungenreifeinduktion hätte bereits nach 7 Tagen erwogen werden können. Der Zeitpunkt der Wiederholung ist jedoch nicht eindeutig geklärt. Allgemein wird bei weiter bestehendem akutem Frühgeburtsrisiko eine Wiederholung nach 7–14 Tagen empfohlen. Eine klare Empfehlung hierzu existiert nicht. Ob dies am Ergebnis etwas geändert hätte, bleibt spekulativ. Der Geburtsmodus war allein aufgrund der Lage des Kindes nicht zu diskutieren. Auch bei Schädellage hätte man aufgrund der Schwangerschaftswoche

Celik E, To M, Gajewska K et al; (2008) Fetal Medicine Foundation Second Trimester Screening Group Cervical length and obstetric history predict spontaneous preterm birth: development and validation of a model to provide individualized risk assessment. Ultrasound Obstet Gynecol 31(5): 549–554 Chang HH, Larson J, Blencowe H et al (2013) Born Too Soon preterm prevention analysis group. Preventing preterm births: analysis of trends and potential reductions with interventions in 39 countries with Very High Human Development Index. Lancet 381(9862): 223–234 Doyle LW, Crowther CA, Middleton P et al (2009) Magnesium sulphate for women at risk of preterm birth for neuroprotection of the fetus. Cochrane Database Syst Rev (1): CD004661 Fonseca EB, Celik E, Parra M et al;(2007) Fetal Medicine Foundation Second Trimester Screening Group Progesterone and the risk of preterm birth among women with a short cervix. N Engl J Med 357(5): 462–469 Goya M, Pratcorona L, Merced C et al; Pesario Cervical para Evitar Prematuridad (PECEP) Trial Group (2012) Cervical pessary in pregnant women with a short cervix (PECEP): an open-label randomized controlled trial. Lancet 379(9828): 1800–1806 Hammers AL, Sanchez-Ramos L, Kaunitz AM (2015) Antenatal exposure to indomethacin increases the risk of severe intraventricular hemorrhage, necrotizing enterocolitis, and periventricular leukomalacia: a systematic review with metaanalysis. Am J Obstet Gynecol 212(4): 505. e1–13 Heath VC, Southall TR, Souka AP et al (1998) Cervical length at 23 weeks of gestation: prediction of spontaneous preterm delivery. Ultrasound Obstet Gynecol 12(5): 312–317 Kuhrt K, Smout E, Hezelgrave N et al (2016a) Development and validation of a tool incorporating cervical length and quantitative fetal fibronectin to predict spontaneous preterm birth in asymptomatic high-risk women. Ultrasound Obstet Gynecol 47(1): 104–109 Kuhrt K, Hezelgrave N, Foster C et al (2016b) Development and validation of a tool incorporating quantitative fetal fibronectin to predict spontaneous preterm birth in symptomatic women. Ultrasound Obstet Gynecol 47(2): 210–216

neonatologischen Betreuung nach Hause entlassen. Frau Jung stillt ihr Kind ausschließlich, obwohl es anfänglich schwierig für sie war. Emma musste zwischenzeitlich zwar noch intubiert und beatmet werden, es traten in der Folge dann allerdings zu keinem Zeitpunkt schwerwiegende Komplikationen auf. Ein kleines Wunder …

128

7

Kapitel 7 · Vorzeitige Wehentätigkeit

McCabe ER, Carrino GE, Russell RB, Howse JL (2014) Fighting for the next generation: US Prematurity in 2030. Pediatrics 134(6): 1193–1199 Mercer BM (2003) Preterm premature rupture of the membranes. Obstet Gynecol 101(1): 178–193 Mercer JS, Vohr BR, McGrath MM et al (2006) Delayed cord clamping in very preterm infants reduces the incidence of intraventricular hemorrhage and late-onset sepsis: a randomized, controlled trial. Pediatrics 117(4): 1235–1242 Meis PJ, Klebanoff M, Thom E et al; (2003)National Institute of Child Health and Human Development Maternal-Fetal Medicine Units Network Prevention of recurrent preterm delivery by 17 alpha-hydroxyprogesterone caproate. N Engl J Med 348(24): 2379–2385; erratum in: N Engl J Med (2003) 349(13): 1299 Norman JE, Marlow N, Messow CM et al;(2016) OPPTIMUM Study Group Vaginal progesterone prophylaxis for preterm birth (the OPPTIMUM study): a multicentre, randomised, double-blind trial. Lancet 387(10033): 2106–1216 Önderoglu LS (1997) Digital examination and transperineal ultrasonographic measurement of cervical length to assess risk of preterm delivery. Int J Gynecol Obstet 59(3): 223–228 Owen J, Hankins G, Iams JD et al (2009) Multicenter randomized trial of cerclage for preterm birth prevention in highrisk women with shortened midtrimester cervical length. Am J Obstet Gynecol 201(4): 375.e1–8 Suhag A, Saccone G, Berghella V (2015) Vaginal progesterone for maintenance tocolysis: a systematic review and metaanalysis of randomized trials. Am J Obstet Gynecol 213(4): 479–487 van Baaren GJ, Vis JY, Wilms FF et al (2014) Predictive value of cervical length measurement and fibronectin testing in threatened preterm labor. Obstet Gynecol 123(6): 1185–1192 Vis JY, van Baaren GJ, Wilms FF et al (2015) Randomized comparison of nifedipine and placebo in fibronectin-negative women with symptoms of preterm labor and a short cervix (APOSTEL-I Trial). Am J Perinatol 32(5): 451–460 Zephyrin LC, Hong KN, Wapner RJ et al;(2013) Eunice Kennedy Shriver National Institute of Child Health and Human Development Maternal–Fetal Medicine Units (MFMU) Network Gestational age-specific risks vs benefits of multicourse antenatal corticosteroids for preterm labor. Am J Obstet Gynecol 209(4): 330.e1–7

129

Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio Werner Rath

8.1

Falldarstellung – 130

8.1.1

Welche Gesichtspunkte müssen in dem geburtsvorbereitenden Gespräch unbedingt angesprochen werden? Wie hätten Sie Claudia im Hinblick auf den Entbindungsmodus beraten? – 130 War bei Claudia die sonographische Messung der Dicke des unteren Uterinsegments zur Risikoabschätzung einer Uterusruptur notwendig? – 132 Wie beurteilen Sie den bisherigen Geburtsverlauf? Gibt es Hinweise für eine drohende Uterusruptur? – 136 Ist die Diagnose Uterusruptur immer sicher zu stellen? Hätten Sie bei Claudia ebenfalls eine Hysterektomie durchgeführt? – 139

8.1.2

8.1.3 8.1.4

8.2

Fallnachbetrachtung – 140

8.2.1 8.2.2

Beratungsgespräch 38. SSW: Was hat die Ärztin versäumt? – 140 Vorgehen in der Klinik – 141



Weiterführende Literatur – 142

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_8

8

130

Kapitel 8 · Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio

8.1 Falldarstellung

Was geschah … ?

8

Claudia freute sich auf ihr zweites Kind. Sie war jetzt 39 Jahre alt, ihre Tochter Annika war vor knapp 12 Monaten in der 32. Woche mit Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Der Grund für den Kaiserschnitt waren vorzeitige Wehen mit Muttermunderöffnung bei Beckenendlage. Bei der Sectio lag das Mädchen dann in Querlage. Daher war die Operation nicht ganz einfach gewesen. Die Ärzte sagten, man hätte den üblichen Schnitt in der Gebärmutter »etwas nach oben« erweitern müssen, um das Kind ohne Probleme entwickeln zu können. Nach der Geburt hatte Claudia für 2–3 Tage Fieber, die Gebärmutter schmerzte. Die Ärzte sprachen von einer »Gebärmutterentzündung«, die aber nach 3bis 4-tägiger Antibiotikagabe keine Sorgen mehr bereitete. Letztlich war alles gut verlaufen, und Claudias Tochter Annika war gesund. Claudia hatte ihre kleine Tochter gestillt; ungeachtet dessen trat überraschenderweise rasch die zweite Schwangerschaft ein, die bisher, bis auf eine Gewichtszunahme von ca. 14 kg bis zum Termin, komplikationslos verlief. Claudia sah jetzt bei einer Körpergröße von 162 cm und einem Gewicht von 92 kg richtig »kugelig« aus, wie ihr Mann sagte. Nun gab es aber ein Problem: Claudia war unter Berücksichtigung einer exakten Terminbestimmung durch frühen Ultraschall jetzt 10 Tage über dem errechneten Termin. Seit dem Termin hatte die Frauenärztin sie alle 2 Tage einbestellt und ihr bei der letzten Vorsorgeuntersuchung gesagt, dass man an eine Geburtseinleitung denken müsse, wenn sie in den nächsten Tagen keine Wehen bekäme, zumal der »kleine« Junge um die 4000 g wiegen würde. Claudia und ihr Mann hatten mehrfach über einen erneuten Kaiserschnitt nachgedacht, sich dann aber doch – auf Claudias ausdrücklichen Wunsch – für eine Geburt auf natürlichem Weg entschieden. Ihre gleichaltrige Nachbarin Heike K. hatte »in den höchsten Tönen« von dem intensiven Geburtserleben bei ihrer erst kürzlich erfolgten vaginalen Geburt geschwärmt. Diese Schilderung hatte Claudia tief beeindruckt. Ihre Wünsche hatte Claudia auch der Frauenärztin in der Klinik klar gemacht, als sie sich in der 38. SSW zu einem geburtsvorbereiteten

Gespräch vorstellte. Da die Wochenbettbetreuung in der Klinik, in der der erste Kaiserschnitt durchgeführt worden war, zu wünschen übrig ließ, hatten die Eltern sich für eine andere Geburtsklinik in der Stadt entschieden.

8.1.1

Welche Gesichtspunkte müssen in dem geburtsvorbereitenden Gespräch unbedingt angesprochen werden? Wie hätten Sie Claudia im Hinblick auf den Entbindungsmodus beraten?

Für das Beratungsgespräch ist die individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung eines vaginalen Entbindungsversuchs mit Abwarten spontaner Wehen oder einer möglichen Geburtseinleitung gegenüber einer elektiven Re-Sectio und deren Folgen unverzichtbar. Dabei sind die Erfolgsaussichten für eine vaginale Geburt nach vorheriger Sectio, die bekannten Risikofaktoren für eine Uterusruptur und der weitere Kinderwunsch (evtl. mehrfache Sectiones) zu berücksichtigen. Insgesamt liegen die Erfolgsaussichten für eine vaginale Geburt nach vorangegangener Sectio zwischen 60% und 85%, sie lassen sich heute durch verschiedene Berechnungsmodelle kalkulieren (7 Kap. 11, Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio). Bei Claudia lagen folgende günstige Faktoren für das Erreichen einer vaginalen Geburt vor: 44Ethnische Herkunft kaukasisch, 44vorangegangene Indikation zur Sectio nicht Geburtsstillstand/Kopf-Becken-Missverhältnis. Dagegen stehen aber bei Claudia folgende ungünstige Faktoren: 44Mütterliches Alter > 35 Jahre (kontrovers diskutiert), 44Schätzgewicht des Kindes ≥ 4000 g, 44Body-Mass-Index ≥ 30 kg/m2, 44keine vorangegangene vaginale Geburt (stärkster prädiktiver Faktor): bei vorangegangener vaginaler Geburt → Erfolgsaussichten für vaginale Entbindung bis zu 90%. Für eine mögliche Geburtseinleitung spielen darüber hinaus die Zervixreife vor Einleitungsbeginn, das

131 8.1 · Falldarstellung

Gestationsalter (je terminferner, desto ungünstiger) und die Indikation eine maßgebliche Rolle. In jedem Fall ist das individuelle Risiko für eine Uterusruptur von ausschlaggebender Bedeutung für die Beratung. Die Häufigkeit einer Uterusruptur liegt bei elektiver Re-Sectio bei 0,1–0,2%, bei Abwarten spontaner Wehen und isthmischem uterinem Querschnitt bei 0,5–0,9%, bei einer Geburtseinleitung mit Oxytocin dosisabhängig bei 0,7–1,2% und bei einer Geburtseinleitung mit Prostaglandinen bei 0,4–2,8%. Bei Claudia sind neben dem Alter > 35 Jahre (Risikoerhöhung um das 1,4- bis 1,8-Fache), der Körpergröße < 164 cm, dem sonographischen Schätzgewicht des Kindes ≥ 4000 g (Risikoerhöhung um das 1,6- bis 1,8-Fache) und keine vorangegangene vaginale Geburt (z. B. bei Geburtseinleitung beträgt das Risiko für eine Uterusruptur 1,5% vs. 0,8% bei vorangegangener vaginaler Geburt) folgende Risikofaktoren für eine Uterusruptur zusätzlich zu berücksichtigen: 44Intervall zwischen vorangegangener Sectio und Folgeschwangerschaft ≤ 6 Monate (Rupturrisiko 2,6–4,8%), 44Fieber (Endomyometritis) nach vorangegangener Sectio, 44Terminüberschreitung (kontrovers diskutiert, in einzelnen Studien Risikoerhöhung bis 1,7-fach), 44Frühgeburt < 37. SSW in vorangegangener Schwangerschaft (0,58% vs. 0,28% bei Termingeburt).

Was aber bei Claudia besonders schwer wiegt, ist die offenbar bei der vorangegangenen Sectio notwendig gewordene umgekehrte T-Inzision mit einer Erhöhung des Rupturrisikos auf 4–9%. Nach juristischer Auffassung müssen auch die Folgen der Uterusruptur für Mutter und Kind in das Beratungsgespräch einbezogen werden. Für das Kind geht es dabei v. a. um das erhöhte Risiko für eine akute intrapartale Hypoxie und für eine hypoxisch-ischämische Enzephalopathie, die nach Uterusruptur im Median bei 6,2% (1,8–10%) der Fälle auftritt, bei allen vaginalen Entbindungsversuchen nach vorangegangener Sectio bei 0,1% der Schwangeren. Die Rate neonataler Todesfälle beträgt bei Uterusruptur 1,8%. Der vaginale Entbindungsversuch ist im Vergleich zur elektiven Re-Sectio mit einer Erhöhung der perinatalen Mortalität (0,13% vs. 0,01–0,05%) assoziiert. In . Tab. 8.1 und . Tab. 8.2 sind die mütterlichen Risiken und die neonatale Morbidität bei elektiver Sectio im Vergleich zu einem vaginalen Entbindungsversuch wiedergegeben (wichtig für die Beratungspraxis). Signifikant höher als bei elektiver Sectio sind die mütterlichen Komplikationen nach fehlgeschlagenem vaginalem Entbindungsversuch mit Notwendigkeit zur sekundären Re-Sectio. Dies unterstreicht noch einmal die Bedeutung einer sorgfältigen

. Tab. 8.1  Mütterliches Risiko: Elektive Re-Sectio vs. vaginaler Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio nach ACOG Practice Bulletin No. 115 (2010) Mütterliches Risiko

Endometritis

Elektive Re-Sectio

Vaginaler Entbindungsversuch (%)a

(%)

Nach 1 × Sectio

> 2 × Sectio

1,5–2,1

2,9

3,1

Operative Verletzungen

0,42–0,6

0,4

0,4

Bluttransfusionen

1–1,4

0,7–1,7

3,2

Hysterektomie

0–0,4

0,2–0,5

0,6

Uterusruptur

0,4–0,5

0,7–0,9

0,9–1,8

Mütterlicher Tod

0,02–0,04

0,02

0 (limitierte Daten)

a Abhängig vom Erfolg vs. sekundärer Re-Sectio.

8

Kapitel 8 · Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio

132

. Tab. 8.2  Neonatale Morbidität bei elektiver Re-Sectio vs. Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio nach ACOG Practice Bulletin No. 115 (2010) Neonatale Risiken

Elektive ReSectio (%)

Vaginaler Entbindungsversuch (%)

Kommentar

IUFT antepartal

0,08

0,38



37–38 SSW

0,01

0,16

0–0,13

0,08

> 39 SSW Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie

8

Uterusruptur: 6,2% (1,8–10,6%)

Neonatale Todesfälle

0,05

0,08

NS

Perinatale Todesfälle

0,01

0,13

Intrapartale Hypoxie; 1,8%

Aufnahme auf neonatale Intensivstation

6,0

6,6

NS

RDS

1–5

0,1–1,8

S

Hyperbilirubinämie

5,8

2,2

S

RDS Atemnotsyndrom (respiratory distress syndrome), NS nicht signifikant, S signifikant.

Risikoselektion von Schwangeren, die für eine vaginale Geburt infrage kommen. Andererseits sind in dem Beratungsgespräch die Komplikationen einer elektiven Re-Sectio sowie deren Folgen auf weitere Schwangerschaften bei fortbestehendem Kinderwunsch zu diskutieren: u. a. das erhöhte Risiko für Plazentationsstörungen, Hysterektomie, Thromboembolien, Bluttransfusionen, postpartale Blutungen und operative Organverletzungen (7 Kap. 11, Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio, Tab. 11.5). Zu berücksichtigen ist auch die signifikant höhere respiratorische Morbidität des Kindes bei elektiver Re-Sectio (1–5%) im Vergleich zu einer vaginalen Geburt (0,1–1,8%). Maßgeblich für die Entscheidungsfindung im vorliegenden Fall wäre das hohe Rupturrisiko nach umgekehrtem uterinem T-Schnitt gewesen, nach dem ein vaginaler Entbindungsversuch kontraindiziert ist. Bei dem geburtsvorbereitendem Gespräch hatte Claudia in ihrer Aufregung nicht daran gedacht, dies zu erwähnen, zumal die damaligen Geburtshelfer auch nicht explizit auf die Notwendigkeit einer Re-Sectio bei erneuter Schwangerschaft hingewiesen hatten (auch nicht im Arztbrief an die Frauenärztin). Die beratende Frauenärztin in der Klinik war – ohne dies durch Einsehen des OP-Berichts näher zu prüfen – von einem üblichen tiefen uterinen Querschnitt bei

der vorangegangenen Sectio ausgegangen. Die Ärztin hatte aber unabhängig davon Claudia zu einer ReSectio geraten, die Claudia trotz intensiver Aufklärung über die Risiken eines vaginalen Entbindungsversuchs gegenüber einer elektiven Re-Sectio nicht wollte. 8.1.2

War bei Claudia die sonographische Messung der Dicke des unteren Uterinsegments zur Risikoabschätzung einer Uterusruptur notwendig?

Die sonographisch gemessene Dicke des unteren Uterinsegments am Termin ist invers korreliert mit dem Risiko einer Narbendehiszenz oder Uterusruptur bei der Geburt. In Terminnähe wurden für die Dicke des unteren Uterinsegments die 10. Perzentile mit 2 mm, die 25. Perzentile mit 2,3 mm und die 50. Perzentile mit 3,2 mm angegeben. Zur Prädiktion der Uterusruptur wird vaginal- und/oder abdominalsonographisch die Gesamtdicke des unteren Uterinsegments, die Myometriumdicke und/oder die Weite, Tiefe und Länge des hypoechogenen uterinen Defekts an der Stelle der vorangegangenen Sectio

133 8.1 · Falldarstellung

gemessen. Die Bedeutung dieser Methoden im Hinblick auf die Prädiktion einer Uterusruptur wird unterschiedlich beurteilt. Es konnte gezeigt werden, dass das untere Uterinsegment bei Vorhandensein von Wehen vor der vorangegangenen Sectio deutlich dicker ist (ca. 0,6 mm) als ohne Wehen und dass die Verwendung von synthetischem Fadenmaterial zum Verschluss der Uterotomie ebenfalls mit einer größeren Dicke des unteren Uterinsegments assoziiert ist. Ein bisher ungelöstes Problem ist der ideale Cut-off-Wert dieser Messungen im Hinblick auf die Prädiktion der Uterusruptur. In einer systematischen Übersicht von 2010 lagen die optimalen Cutoff-Werte bei 2,0–3,5 mm für die Gesamtdicke des unteren Uterinsegments und bei 1,4–2,0 mm für die Myometriumschicht. Eine weitere Metaanalyse von 2013 (21 Studien mit 2770 Schwangeren) ergab für die antenatale Dicke des unteren Uterinsegments bei Cut-off-Werten von 0,6–2,0 mm eine Sensitivität von 76% und eine Spezifität von 92% an, zwischen 2,0 mm und 3,0 mm von 61% bzw. 91% und zwischen 3,1 mm und 5,1 mm von 96% bzw. 63%. Die sonographisch gemessene Dicke des unteren Uterinsegments ist abhängig vom Gestationsalter und nimmt pro Trimenon (Ausgangswert im 1. Trimenon: ca. 5 mm) um 1,1 mm ab. Narbenrupturensind mit einer stärkeren Abnahme der residualen Myometriumschicht assoziiert. Nach jüngsten Untersuchungen besteht bei einer Dicke des unteren Uterinsegments nach vorangegangener Sectio von < 2,0 mm ein hohes, bei 2,0–2,4 mm ein mittleres und bei ≥ 2,5 mm ein niedriges Risiko für eine symptomatische Uterusruptur. Unabhängig von diesen vielversprechenden Ergebnissen, diese Methode in die Entscheidungsfindung vaginaler Entbindungsversuch vs. elektive Sectio mit einzubeziehen, wird aber immer wieder auf die erhebliche Heterogenität in bisherigen Studien (z. B. unterschiedliche Definition der Uterusruptur, differente Ultraschallverfahren, Messzeitpunkte und -techniken) und das Fehlen verbindlicher Cut-off-Werte hingewiesen. Aus Sicht des Autors und anderer kann die sonographische Messung des unteren Uterinsegments (. Abb. 8.1) nach Sectio als supplementäre Orientierungshilfe (in Kombination mit anamnestischen Risikofaktoren und klinischen Befunden) zur Prädiktion einer Uterusruptur herangezogen werden,

8

. Abb. 8.1  Vaginalsonographische Darstellung des unteren Uterinsegments nach vorangegangener Sectio vor Geburt, kleines Bild: Abdominalsonographie. LUS lower uterine segment. (© Dr. G. Seliger/Halle, mit freundlicher Genehmigung)

sie ist aber bisher keine standardisierte, evidenzbasierte und leitlinienverbindliche Maßnahme vor einem geplanten vaginalen Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio. Hier müssen prospektive Kohortenstudien mit standardisierten Methoden abgewartet werden. Bei Claudia war daher die Durchführung dieses Verfahrens nicht notwendig. So geht es weiter … Das Wochenende steht bevor, und Wehen sind bei Claudia immer noch nicht eingetreten. Für Montag (12 Tage über errechnetem Termin) ist die Aufnahme in die Klinik zur Geburtseinleitung geplant. Ihre Frauenärztin hat diesbezüglich noch am Freitag mit der Klinik telefoniert. Am Samstagmorgen wacht Claudia mit krampfartigen Bauchschmerzen auf, sie spürt, dass das Bettlaken zwischen ihren Beinen nass ist und weckt ihren Mann mit den Worten: »Ich glaube, es geht los, ich habe seit etwa einer Stunde solche Krämpfe im Bauch, und die Gebärmutter wird alle paar Minuten hart, auch ist Flüssigkeit abgegangen, vielleicht ist die Fruchtblase geplatzt.« Ihr Mann ist sofort hellwach und sagt: »Ist doch gut, dass es jetzt los geht. Komm, wir fahren sofort in die Klinik!« Frau Dr. Silke H. hatte Nachtdienst, sie ist im 2. Ausbildungsjahr und erst seit einigen Wochen auch im Kreißsaal tätig. Gerade hat sie gemeinsam mit Hebamme Friederike K. eine vaginale Geburt betreut,

134

8

Kapitel 8 · Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio

alles ist gut gegangen, Zeit, um einen Moment »Luft zu holen«. Da treffen Claudia und ihr Mann im Kreißsaal ein. Die Vorgeschichte wird kurz berichtet, die Ärztin resümiert: 10 Tage über errechneten Termin, bestätigt durch frühen Ultraschall, Zustand nach Sectio wegen Beckenendlage, regelmäßige Wehen, wahrscheinlich vorzeitiger Blasensprung. Der Blick in den Mutterpass ergibt in Risikokatalog A: Schwangere über 35 Jahre, Z. n. Frühgeburt, Z. n. Sectio wegen BEL 32. SSW. Dazu kommt noch die Eintragung der Frauenärztin »Kind männlich, Schätzgewicht um die 4000 g«. Blutdruck, Puls und Urinstatus sind unauffällig. »Ich werde Sie gleich untersuchen, um zu sehen, wie weit der Muttermund ist. Wir sollten dann gleich ein CTG schreiben, etwas Blut abnehmen und dann noch einen Ultraschall machen«, sagt sie an Claudia und ihren Mann gewandt. Sie fügt hinzu: »Wahrscheinlich geht es jetzt los!« Claudia und ihr Mann sind erleichtert, rechtzeitig in der Klinik zu sein. Es ist kurz vor 11 Uhr. Der geburtshilfliche Befund hat ergeben: Muttermund 2 cm, weich, mediosakral, VT (Kopf ) im Beckeneingang, Abgang von klarem Fruchtwasser. Inzwischen läuft auch das CTG, es ist unauffällig mit einer fetalen Herzfrequenz um die 150/min, sporadischen Akzelerationen, ohne Dezelerationen, normale Bandbreite. Die orientierende Ultraschalluntersuchung zeigt den Jungen in Schädellage, kaum noch Fruchtwasser, regelrechte Hinterwandplazenta. »Alles ok«, informiert die Ärztin Claudia und ihren Mann. »Wir müssen sehen, wie es mit den Wehen weitergeht. Haben oder hatten Sie Schmerzen in der alten Narbe?« »Keine Schmerzen«, antwortet Claudia. Sie hat auch keine Schmerzen, als die Ärztin mit den Fingern auf den Narbenbereich drückt. Die Geburt geht gut voran, allerdings kann Claudia den Wehenschmerz zunehmend schlechter »veratmen« und wünscht sich eine Periduralanästhesie, die gegen 13 Uhr von dem diensthabenden Anästhesisten Dr. M. problemlos gelegt wird. Claudia fühlt sich nun entspannter, sie nimmt die Wehen nur noch »als Druck« wahr, aber ohne Schmerzen. Der Muttermund hat sich inzwischen auf ca. 6  cm eröffnet, der Kopf ist nach wie vor fest im Beckeneingang, das CTG weiterhin unauffällig. An diesem Samstagmittag/frühen Nachmittag hat das diensthabende Kreißsaal-Team alle Hände voll

zu tun: zahlreiche Aufnahmen, dazu kommt noch ein Kaiserschnitt wegen vorzeitiger Plazentalösung, der alle Beteiligten in Atem hält. Claudia hat den Eindruck, dass der »Druck« nachlässt und seltener wird, das kontinuierliche abgeleitete CTG zeigt nur noch sporadische Wehentätigkeit alle 8–12  min. Aufgrund der »Hektik« im Kreißsaal bemerken Hebamme Friederike und Frau Dr. H. die abnehmende Wehentätigkeit erst gegen 15 Uhr. Die erneute vaginale Untersuchung ergibt weiterhin eine Öffnung des Muttermunds von 6–7  cm bei gleichem Höhenstand des Kopfes. »Sollen wir Oxytocin dazugeben, damit es weitergeht?«, fragt die Hebamme die Assistenzärztin, die diese Frage an ihren Oberarzt weitergibt, der wegen der vorangegangenen Sectio noch im Kreißsaal anwesend ist. Man beschließt, Oxytocin beginnend mit 8 mE/min zur Wehenunterstützung zu applizieren, allerdings ohne wesentlichen Erfolg. Claudia spürt die vereinzelten Wehen nun deutlich schmerzhafter, sodass die PDA nachgespritzt werden muss. Assistenzärztin Dr. H. ist insofern beruhigt als das CTG weiterhin unauffällig ist und Claudia keine Schmerzen im Narbenbereich angibt. »Das müsste doch eigentlich gut gehen, der Muttermund ist schon auf 7 cm eröffnet, und der Kopf ist meines Erachtens auch etwas tiefer getreten«, denkt die Assistenzärztin, als sie Claudia gegen 16:20 Uhr erneut untersucht. Die Pfeilnaht befindet sich im I. Schrägen. Bereits kurz nach der Aufnahme von Claudia hat Frau Dr. H. das Protokoll des geburtsvorbereitenden Gesprächs eingesehen, sie weiß, dass Claudia sich eine vaginale Geburt wünscht. Aufgrund des mangelnden Geburtsfortschritts ist der Oxytocin-Tropf inzwischen auf knapp 30  mE/ min gesteigert worden; Claudia hat wieder alle 2–3  min Wehen, die sie trotz der PDA als zunehmend schmerzhafter empfindet, daher verlangt sie eine erneute (3.) Gabe des Lokalanästhetikums (PDA). Das CTG zeigt ab 16:25 Uhr eine Polysystolie und dann wiederholte variable Dezelerationen (. Abb. 8.2a). Hebamme Friederike benachrichtigt gegen 16:40 Uhr die Assistenzärztin, die inzwischen eine Schwangere mit schwerer Präeklampsie in den Kreißsaal aufnehmen muss. »Stellen Sie sofort den Oxytocin-Tropf ab!«, ordnet Frau Dr. H. an, als sie das CTG sieht, »und rufen Sie bitte sofort Oberarzt Dr. Müller!« Claudia hat Angst, ist kaltschweißig und

135 8.1 · Falldarstellung

a

b

. Abb. 8.2  Polysystolie (a) und terminale Bradykardie (b). (© PD Dr. F. Reister/Ulm und Prof. Dr. M. Kühnert/Marburg mit freundlicher Genehmigung)

8

136

Kapitel 8 · Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio

hat starke Schmerzen, auch in den kurzen Wehenpausen. Sie hat das Gefühl, als würde etwas in ihr »zerreißen«. Der Muttermund ist inzwischen fast vollständig eröffnet, der Kopf federnd fixiert im Beckeneingang. Hinzu kommt jetzt eine leichte vaginale Blutung, und dann fallen die kindlichen Herztöne auf ca. 60 Schläge/min ab, ohne sich wieder zu erholen (. Abb. 8.2b)!

8.1.3

8

Wie beurteilen Sie den bisherigen Geburtsverlauf? Gibt es Hinweise für eine drohende Uterusruptur?

Nach zunächst raschem Geburtsverlauf mit Muttermunderöffnung auf 6 cm bei unauffälligem CTG kam es ab 13 Uhr zu einem Geburtsstillstand, der zunächst auf die mangelhafte Wehentätigkeit nach Anlegen der PDA zurückgeführt wurde. Man entschloss sich bei kontinuierlicher CTG-Überwachung, Oxytocin in ansteigender Dosierung zu geben. Ab 13 Uhr und zumindest bis 16:20 Uhr war kein nennenswerter Geburtsfortschritt zu erkennen (Muttermund ca. 7 cm, Kopf persistierend im Beckeneingang). Ab einer Muttermundweite von 3 cm ist in der vorliegenden Situation ein protrahierter Geburtsverlauf/Geburtsstillstand (≤ 1 cm Muttermunderöffnung pro Stunde ohne Tiefertreten des vorangehenden Teils) signifikant mit dem Risiko einer Uterusruptur assoziiert (Sensitivität 43%, Spezifität 96%). Dieser pathologische Geburtsverlauf ist auch aus dem Partogramm gut erkennbar (. Abb. 8.3). Frauen mit Uterusruptur bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio weisen signifikant häufiger eine Wehendystokie ab 7 cm Muttermundweite auf im Vergleich zu Frauen ohne Uterusruptur und mit erfolgreicher vaginaler Geburt. Aus Untersuchungen von Cahill et al. (2007, 2008) ist bekannt, dass eine annähernd lineare Korrelation zwischen der maximalen verabreichten Oxytocin-Dosis und dem Risiko einer Uterusruptur besteht. In dieser Studie lag das Rupturrisiko bei spontanem Wehenbeginn bei 0,5–1% und bei einer maximalen Oxytocin-Dosierung von > 20 mE/min um das bis zu 4-Fache höher: 21–30 mE/min: 3,9%; 31–40 mE/min: 4,6%. In Unkenntnis dieser Ergebnisse wurde bei Claudia der Oxytocin-Tropf auf ca. 30 mE/min gesteigert.

Insgesamt ist das Rupturrisiko nach Wehenverstärkung durch Oxytocin im Vergleich zu spontanem Wehenbeginn signifikant um das 2,4- bis 5,6-Fache erhöht. Nach einer Sammelstatistik unter Einschluss von 7 Studien betrug das Rupturrisiko mit Oxytocin 0,9% und bei spontanem Wehenbeginn 0,3%, nach Landon und Grobman (2016) nach spontanem Wehenbeginn und anschließender Wehenverstärkung mit Oxytocin 1,9% vs. 0,15–0,7%. Die Wehenverstärkung mit Oxytocin gilt als signifikanter unabhängiger Risikofaktor für eine Uterusruptur. Es gibt keine zuverlässigen Indikatoren für eine drohende Uterusruptur. Nach einer aktuellen Metaanalyse sind nur uterine Überstimulierungen (Polysystolien) in den letzten 2 h vor der Geburt tendenziell mit dem Risiko einer Uterusruptur bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio assoziiert (OR 1,68; 95% KI 0,97–2,89, p = 0,06). Im Mittel wurden in 20% dieser Fälle Polysystolien beobachtet. In einer neueren Analyse zeigten sich keine signifikanten tokographischen Unterschiede zwischen Schwangeren mit und ohne komplette Uterusruptur bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio in den letzten 4 h vor der Geburt. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass in 28% dieser Fälle keine korrekte Aufzeichnung der Wehentätigkeit möglich war. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Polysystolien häufiger im Zusammenhang mit einer Oxytocin-Gabe zur Wehenverstärkung festzustellen sind. Tritt eine Uterusruptur ein, so ist das häufig zitierte plötzliche Sistieren der Wehen nur in ca. 14% der Fälle nachweisbar. Ein pathologisches CTG (wiederholte späte und/ oder variable Dezelerationen, terminale Bradykardie) ist in 55–87% der Fälle in den letzten 2 h vor der Uterusruptur zu beobachten, häufig begleitet von einer zunehmenden abdominalen Schmerzsymptomatik (. Tab. 8.3 und . Tab. 8.4). Im Vergleich zu Schwangeren mit erfolgreicher vaginaler Geburt nach Sectio betrugen die OR für ein pathologisches CTG bei Schwangeren mit Uterusruptur 60–40 min vor der Geburt 4,1 (95% KI 1,2–14,0), < 40–20 min vor der Geburt 4,3 (95% KI 1,4–13,0) und in den letzten 20 min vor der Geburt 3,7 (95% KI 1,2–11,3). Als stärkster Hinweis und als Spätsymptom einer Uterusruptur, insbesondere in der Austreibungsperiode, gilt die plötzlich

8

137 8.1 · Falldarstellung

a Patienten-Aufkleber

Alter:_______________

Gravida:_______________

Besonderheiten/Risiken:_____________________________________ Datum: Uhrzeit:

Höhenstand der kindlichen MM: Leitststelle bewegl. BE

(schw. bew. BE)

cm

cm

BE

cm

cm

(fest im BE)

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

cm

(tief u. fest BE)

BM

BB

cm

b 08:00 BE

09:00 10 08:40 9

10:00 BE

11:00 10

12:00 BE

13:00 10

-3

9

-3

9

-2

8

-2

8

-2

8

-1

7

-1

7

-1

7

IE

6

IE

6

IE

6

+1

5

+1

5

+1

5

+2

4

+2

4

+2

4

+3

3

+3

3

+3

3

BB

2

BB

2

BB

2

UB

1

UB

1

UB

-3

MM-Weite Höhenstand

MM-Weite Höhenstand

1 MM-Weite

Höhenstand Ringer 1000 ml

. Abb. 8.3  Partogramme. Pathologischer (a) und normaler (b) Geburtsverlauf

einsetzende fetale Bradykardie in 33–70% der Fälle (. Abb. 8.22b). > Das pathologische CTG ist also ein Warnsymptom für eine bevorstehende Uterusruptur, aber allein kein sicherer prädiktiver Parameter.

Bei Claudia lagen wiederholte variable Dezelerationen und schließlich eine plötzlich einsetzende

fetale Bradykardie vor. Im vorliegenden Fall musste die Periduralanästhesie innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums 3-mal nachgespritzt werden. Nach Untersuchungen von Cahill et al. (2010) gilt bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio die Notwendigkeit zum Nachspritzen der Periduralanästhesie innerhalb von 90 min (frequent epidural dosing) als möglicher Hinweis für eine drohende Uterusruptur. Wie häufig angenommen, maskiert die PDA die Symptome einer

138

Kapitel 8 · Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio

. Tab. 8.3  Symptome und klinische Befunde bei Uterusruptur. Bevölkerungsbasierte Kohortenstudie aus den Niederlanden (n = 218) (Zwart et al. 2009) Symptome

Häufigkeit (%)

Abdominalschmerz

68,6a

Pathologisches CTG

66,7

Vaginale Blutung

27,4

Uteriner Hypertonus (Polysystolie)

20,2

Plötzliches Sistieren der Wehen

13,6

Häufigkeit der Kombination von 2 Symptomen (%) Pathologisches CTG

Vaginale Blutung

Uteriner Hypertonus

Plötzliches Sistieren der Wehen

47,6a

18,8

18,8

19,2

15,6

16,8

10,4

6,7

2,8 4,0

a Häufigste Kombination.

8 . Tab. 8.4  Signifikante CTG-Veränderungen während der Geburt bei Schwangeren mit und ohne Uterusruptur bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio (Anderson et al. 2016) Eröffnungsperiode Kriterium

Mit Ruptur (n = 53)

Ohne Ruptur (n = 43)

OR (95% KI)

Pathologisches CTG (gesamt)

77%

53%

2,58 (0,96–6,94)

Tachykardie

45%

23%

2,5 (1,00–6,26)

> 10 schwere variable Dezelerationen

21%

5%

22 (1,54–314,2)

Austreibungsperiode Terminale Bradykardie (mittlere Dauer 7 min.): 47% (n = 25) vs. 0

Uterusruptur nicht; der Verzicht auf eine PDA ist bei diesen Schwangeren nicht erforderlich (AWMFLeitlinie 015/021, gültig bis 2013, zurzeit  in Überarbeitung). Nicht zu vergessen sind bei Claudia die klinischen Symptome wie innere Unruhe und Angst, die zunehmende Schmerzsymptomatik und Druckdolenz des unteren Uterinsegments auch außerhalb der Wehen sowie der Geburtsstillstand mit im Beckeneingang fixiertem vorangehendem Teil und schließlich die beginnende vaginale Blutung. > Narbenschmerzen sind sowohl antenatal als auch unter der Geburt kein verlässliches

und spezifisches Zeichen einer drohenden Uterusruptur.

Bei sorgfältiger Beachtung aller anamnestischen und klinischen Befunde ergaben sich bei Claudia deutliche (wenn auch im Einzelnen nicht spezifische) Warnsymptome für eine bevorstehende Uterusruptur. So geht es weiter … Oberarzt Dr. Müller ist entsetzt, als er Claudia in ihrem Zustand sieht und v. a. das CTG mit anhaltender fetaler Bradykardie. Er palpiert kurz das Abdomen: der Kopf ist aus der Führungslinie nach

139 8.1 · Falldarstellung

suprasymphysär lateral abgewichen, es besteht ein druckdolentes Abdomen v. a. im Narbenbereich, aber kein ausgeprägter Peritonismus. »Das ist eine Uterusruptur! Warum haben Sie mich nicht früher gerufen?«, sagt er etwas barsch zu der Assistenzärztin, ohne dass Claudia und ihr Mann es hören können. Und an Claudia und alle Beteiligte gewandt: »Wir müssen sofort einen Kaiserschnitt machen, es ist dringend!« Auf die zaghafte Frage der Assistenzärztin, ob sie noch schnell einen Ultraschall machen soll, antwortet er kurz »Nein, keine Zeit, sofort in den OP!« Claudia spürt keine Wehen mehr, sie hat nur unendliche Angst, v. a. um ihr Kind, sie fühlt sich schwach. Der Blutdruck ist auf 80/60  mmHg abgefallen, die Herzfrequenz auf 120 Schläge/min angestiegen, das Herz klopft ihr »bis zum Hals«. Glücklicherweise liegt der OP auf dem gleichen Flur wie der Kreißsaal, jetzt geht alles sehr schnell. Die Benachrichtigungskette an OP-Team und Anästhesie sowie Kinderarzt funktioniert. Die Entscheidung zur sofortigen Sectio erfolgte um 17:10 Uhr, Schnittbeginn in Intubationsnarkose ist um 17:18 Uhr. Oberarzt Müller weiß, was ihn erwartet. Nach Eröffnung des Peritoneums findet sich frisches Blut und Blutkoagel im Abdomen, das kindliche Köpfchen ist durch die auf ganze Länge rupturierte Uterotomienarbe, die zusätzlich sternförmig nach kranial in das Corpus uteri weitergerissen ist, in das Abdomen geboren. Um 17:20 Uhr wird der kleine Sascha in deutlich deprimiertem Zustand geboren und sofort dem anwesendem Kinderarzt übergeben: arterieller Nabelschnur-pH 7,01, Base-Excess: –12 mmol/l, Apgar-Werte: 3 nach 1 min und 5 nach 5 min. Oberarzt Müller steht vor einer schwierigen Entscheidung: Uterus erhalten oder Hysterektomie? Es stellt sich heraus, dass die Uterotomienarbe noch nach rechts parametran weitergerissen ist, es blutet, Claudia wird zunehmend kreislaufinstabil. Oberarzt Müller hat keine Zeit, Claudias Ehemann, der im Kreißsaal wartet, zu fragen, ob denn noch weiterer Kinderwunsch bestehe, er muss handeln. Aufgrund des großen Defekts bei anhaltender Blutung und beginnender Kreislaufinstabilität entschließt er sich zur Hysterektomie, die nach Darstellung des rechten Ureters problemlos durchgeführt werden kann. Am Ende der Operation beträgt der Blutverlust 1,2 l.

8.1.4

8

Ist die Diagnose Uterusruptur immer sicher zu stellen? Hätten Sie bei Claudia ebenfalls eine Hysterektomie durchgeführt?

Wie bereits erwähnt, gibt es relativ unspezifische und in unterschiedlicher Häufigkeit auftretende »Vorboten« der Uterusruptur, die auch bei Claudia vorlagen (7 Abschn. 8.1.1). Wahrscheinlich war zum Zeitpunkt des Eintretens der terminalen Bradykardie die Uterusruptur bereits eingetreten. Die Diagnose Uterusruptur ist eine Verdachtsdiagnose, die sich aus der anamnestischen Belastung (vorangegangene Sectio, Myomenukleation mit Eröffnung des Cavum uteri) und aus den häufig (aber nicht immer) dramatischen klinischen Symptomen ergibt: 44Pathologisches CTG mit schließlich terminaler Bradykardie, 44plötzlich einsetzender oder zunehmender Abdominalschmerz, 44Narbenschmerzen auch in der Wehenpause, 44Unruhe und Angst der Schwangeren einschließlich »Zerreißungsgefühl«, 44vaginale Blutung und/oder Hämaturie (bei Blasenbeteiligung), 44Sistieren der Wehen, 44Abweichen des vorangehenden Kindsteils aus der Führungslinie und hämodynamische Instabilität/Schock treten bei der Narbenruptur variabel, in Kombinationen oder in unterschiedlicher Häufigkeit auf. > Ein klassisches Kardinalsymptom/ Leitsymptom gibt es nicht. Entscheidend ist, dass der Geburtshelfer die einzelnen Mosaiksteine klinischer Symptome sorgfältig zusammensetzt und bewertet, um rechtzeitig die Verdachtsdiagnose zu stellen und die Sectio durchzuführen.

Zu beachten ist, dass die Symptome der Narbenruptur häufig nicht so ausgeprägt sind wie die einer Ruptur bei nicht voroperiertem Uterus (Häufigkeit der Uterusruptur: 1: 5700–1: 20.000 Schwangerschaften). Dies trifft v. a. für die diffuse Abwehrspannung/ Peritonismus und den Blutverlust mit Zeichen des

140

8

Kapitel 8 · Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio

hypovolämischen Schocks zu (verminderte Durchblutung des Narbenbereichs). Gedeckte (mit Peritoneum) oder inkomplette Rupturen können klinisch »stumm« verlaufen. Hinweise in diesen Fällen liefert häufig nur ein (unspezifisches) pathologisches CTG. Gelegentlich kann sich eine komplette Uterusruptur auch erst nach vaginaler Geburt durch intraabdominale Blutung und hypovolämischen Schock manifestieren. Mehrheitlich besteht die Auffassung, dass der rupturbedingte Dauerschmerz durch die Periduralanästhesie in üblicher Dosierung nicht maskiert wird. Bei kompletter Ruptur zeigt die notfallmäßige Ultraschalluntersuchung am Kreißbett das Hämoperitoneum und die abnorme Lage des Kindes unterhalb der Bauchdecke, gelegentlich auch unterhalb der Leber. Bei der Uterusruptur sind in mehr als 90% der Fälle das untere Uterinsegment betroffen, in 16% ist das Corpus uteri, in 22% die Cervix uteri, in 14% die Vagina und bei 7% dieser Schwangeren das Parametrium mitbeteiligt. Die komplette Uterusruptur erfordert in 26–35% der Fälle eine Hysterektomie. Ihre Indikation hängt v. a. von dem Ausmaß der Uterusverletzung und der individuellen Möglichkeit zur Uterusrekonstruktion, der Stärke der Blutung und deren therapeutischer Beherrschbarkeit, der hämodynamischen Stabilität der Schwangeren während der Operation, vom weiteren Kinderwunsch und nicht zuletzt von der Erfahrung des Operateurs bezüglich uterusrekonstruierender Maßnahmen ab. Nach Auffassung des Autors war bei Claudia aus den gegebenen Gründen die Indikation zur Hysterektomie nachzuvollziehen, insbesondere aufgrund der Komplexität der Uterusruptur mit Weiterreißen in das Corpus und in das Parametrium, der nicht adäquat kontrollierbaren Blutung und der beginnenden hämodynamischen Instabilität. Das Ende des Falls … Als Claudia aus der Narkose aufwacht, hat sie Schmerzen, sie fühlt sich müde und »zerschlagen«. Ihr erster Gedanke ist: »Wie geht es unserem Sohn?« Der kleine Sascha (Geburtsgewicht 4050  g) erholt sich nach der Geburt überraschend schnell. Zwar ergeben sich Anpassungsstörungen mit der Notwendigkeit zur passageren Beatmung, Hinweise auf

eine hypoxisch-ischämische Enzephalopathie oder andere Komplikationen finden sich im weiteren Verlauf aber nicht. Die Nachricht, dass die Gebärmutter entfernt werden musste, nimmt Claudia mit überraschender Gelassenheit zur Kenntnis. Nach diesem traumatischen Erlebnis und in Anbetracht ihres Alters kann sie sich keine weitere Schwangerschaft mehr vorstellen. Eine Psychologin hilft ihr bereits während des stationären Aufenthalts, das traumatische Geburtserlebnis besser zu verarbeiten. Nach komplikationslosem Wochenbettverlauf kann Claudia am 10. Tag nach der Hysterektomie gesund entlassen werden, eine medikamentöse Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin sollte noch bis 6 Wochen post partum durchgeführt werden. 2 Wochen später darf sie gemeinsam mit ihrem Mann den kleinen Sascha aus der Kinderklinik abholen.

8.2 Fallnachbetrachtung 8.2.1

Beratungsgespräch 38. SSW: Was hat die Ärztin versäumt?

Es ist davon auszugehen, dass die beratende Ärztin die ungünstigen Faktoren für das Erreichen einer vaginalen Geburt erkannte, sonst hätte sie Claudia nicht zu einer elektiven Re-Sectio geraten. Selbst wenn sie nicht im Einzelnen die Risikofaktoren für eine Uterusruptur vor Augen hatte, hätte sie auf jeden Fall den Operationsbericht der vorangegangenen Sectio einholen oder sich zumindest über dessen Inhalt informieren müssen, auch wenn der Kaiserschnitt in einer anderen Klinik (der Stadt) durchgeführt worden war. In diesem Zusammenhang wäre es auch die Pflicht der Ärzte in diesem Krankenhaus gewesen, den umgekehrten T-Schnitt im Arztbrief an die niedergelassene Frauenärztin zu erwähnen und auf die Notwendigkeit einer elektiven Re-Sectio hinzuweisen. In Kenntnis dieses Sachverhalts und des deutlich erhöhten Rupturrisikos hätte die beratende Ärztin Claudia mit Nachdruck verdeutlicht, dass in ihrer Situation ein vaginaler Entbindungsversuch kontraindiziert ist. Wie in 7 Kap. 11 (Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio) ausführlich dargestellt, werden die Weichen für den Entbindungsmodus im

141 8.2 · Fallnachbetrachtung

Aufklärungsgespräch vor der Geburt gestellt. Die Geburtshelfer müssen die günstigen/ungünstigen prädiktiven Faktoren für das Erreichen oder Nichterreichen einer vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio und die Risiken für eine Uterusruptur und deren klinische Konsequenzen kennen und darüber aufklären, ebenso wie über die Risiken und Folgen einer elektiven Re-Sectio unter Berücksichtigung des weiteren Kinderwunschs der Frau. Die sonographische Messung der Dicke des unteren Uterinsegments nach vorangegangener Sectio in einer Folgeschwangerschaft wird derzeit intensiv diskutiert und ist Gegenstand klinischer Forschung. Der Geburtshelfer sollte zumindest über den derzeitigen Kenntnisstand zu diesem Thema informiert sein, zumal ihm zunehmend über Medien und Internet aufgeklärte Eltern gegenübersitzen, die von dieser Methode zur Prädiktion der Uterusruptur gehört haben. Aufgrund der Studienlage ist dieses Verfahren aber keine routinemäßig etablierte und evidenzbasierte Maßnahme, ihre Unterlassung ist daher nicht fehlerhaft. Im Hinblick auf das Risiko der Uterusruptur ist das Abwarten spontaner Wehen günstiger als eine medikamentöse Geburtseinleitung, die medizinisch indiziert sein sollte. Insofern ist nachvollziehbar, warum bei Claudia bei unkomplizierter Terminüberschreitung nicht früher eine Geburtseinleitung durchgeführt wurde. 8.2.2

Vorgehen in der Klinik

Welche Fehler sehen Sie in dem geschilderten Fall? Auch die Assistenzärztin hätte, ungeachtet der angespannten Situation im Kreißsaal, noch die Gelegenheit gehabt, sich nach der Schnittführung der vorangegangenen Sectio zu erkundigen. Da aber keine entsprechenden Hinweise/Eintragungen im Protokoll des geburtsvorbereitenden Gesprächs vorlagen, ging auch sie von einem unkomplizierten isthmischen Querschnitt aus. Aufgrund der bekannten Ungenauigkeit des sonographischen Schätzgewichts in Terminnähe (s. Mutterpass) wurde wahrscheinlich diesem Kriterium keine Bedeutung beigemessen, eine orientierte Gewichtsschätzung bei der Kreißsaal-Aufnahme unterblieb jedenfalls.

8

Gegen das Anlegen einer Periduralanästhesie gibt es nach heutiger Auffassung keine Einwände, dieses Vorgehen widerspricht nicht gängigen Leitlinien in diesen Fällen. Kritisch zu bewerten ist die Geburtseinleitung ab 13 Uhr: Muttermund 6 cm, Kopf nach wie vor fest im Beckeneingang! Der Geburtsstillstand wurde erst gegen 15 Uhr erkannt. Zwar wurde korrekterweise ein kontinuierliches CTG durchgeführt, es fand aber keine adäquate Überwachung durch Hebamme oder Ärztin statt. Dies mag einerseits auf die personelle Überlastungssituation im Kreißsaal an Wochenenden bei zahlreichen Neuaufnahmen zurückzuführen sein, andererseits wurde möglicherweise auch davon ausgegangen, dass das Nachspritzen der PDA zu einer Verminderung der Wehentätigkeit geführt haben könnte. Aus einer landesweiten holländischen Erhebung geht hervor, dass sich in 60% der Fälle die Uterusruptur außerhalb der Regeldienstzeit ereignet. Wie im vorliegenden Fall, muss die Indikation zur Wehenverstärkung mit Oxytocin bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio durch einen Facharzt (Oberarzt) gestellt werden, da in diesen Fällen das Rupturrisiko im Vergleich zur spontanen Wehentätigkeit signifikant erhöht ist (7   Abschn. 8.1.3). Allerdings hätte die Oxytocin-Dosis 20 mE/min nicht überschritten werden dürfen, da bei weiterer Dosiserhöhung das Risiko für eine Uterusruptur in diesen Fällen nahezu linear ansteigt (7 Abschn. 8.1.3); diese Dose-response-Beziehung war den Ärzten offenbar nicht bekannt, ist aber inzwischen in zahlreichen Übersichtsarbeiten publiziert. Das klinische Kardinalproblem in der vorliegenden Situation besteht darin, dass es spezifische und zuverlässige Indikatoren für eine drohende Uterusruptur nicht gibt. Dies gilt insbesondere für die immer wieder zitierten Schmerzen im Narbenbereich vor und unter der Geburt. Auch die junge Assistenzärztin, die wusste, dass Claudia unbedingt eine vaginale Geburt wünschte, hatte sich damit beruhigt, dass keine Schmerzen im Narbenbereich vorlagen und dass eigentlich um 16:20 Uhr ein »kleiner« Geburtsfortschritt zu verzeichnen war – der aber de facto nicht vorlag. Die Hinzuziehung des Oberarztes spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre zwingend geboten gewesen, allerdings hätte sich der

142

8

Kapitel 8 · Geburtshilfliche »Katastrophe« nach vorangegangener Sectio

diensthabende Oberarzt in Kenntnis dieser Risikoschwangeren auch selbst um Claudia häufiger und rechtzeitiger kümmern müssen. Es ist zwar bekannt, dass Polysystolien und ein pathologisches CTG Stunden vor der Geburt bei Schwangeren mit vaginalem Entbindungsversuch und Uterusruptur häufiger auftreten als bei Schwangeren ohne Uterusruptur, allerdings sind auch diese »Warnsymptome« unspezifisch und variabel. Sie sind nur von einem erfahrenen Geburtshelfer im Zusammenhang mit anamnestischen Risikofaktoren und klinischen Befunden unter der Geburt/dem Geburtsverlauf im Hinblick auf die Gefahr einer Uterusruptur einzuschätzen. Wichtige klinische Beurteilungskriterien waren im vorliegenden Fall 44der Geburtsstillstand im Beckeneingang, 44die zunehmende Schmerzsymptomatik mit Notwendigkeit zum wiederholten Nachspritzen der PDA, 44die Druckdolenz des unteren Uterinsegments auch außerhalb der Wehen, die bei Claudia verkannt wurden. »Zerreißungsschmerz«, vaginale Blutung, terminale fetale Bradykardie und Schock sind i. Allg. Zeichen einer bereits eingetretenen kompletten Uterusruptur, wie im vorliegenden Fall. Uterine Überstimulierungen wie Polysystolien sind bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio mit einer deutlichen Erhöhung des Rupturrisikos assoziiert. Die um 16:25 Uhr eingetretene Polysystolie hätte die Hebamme verlassen müssen, zeitnah und nicht erst um 16:40 Uhr die Assistenzärztin zu benachrichtigen, erst dann wurde die Oxytocin-Infusion beendet. Auf eine intrapartale Tokolyse wurde trotz fortbestehender Polysystolie verzichtet.

Maßnahmen nach Eintreten der Uterusruptur Die Diagnose Uterusruptur wurde von Oberarzt Dr. Müller angesichts der terminalen Bradykardie des Kindes und des klinischen Untersuchungsbefunds sofort gestellt und die Benachrichtigungskette an OPPersonal, Anästhesie und Kinderarzt in Gang gesetzt. Die Zeit zwischen Entscheidung zur Re-Sectio und

Geburt des Kindes betrug knapp 10 min. Es dürfte der gut funktionierenden Logistik der Klinik in dieser Notsituation zu verdanken sein, dass der kleine Sascha nicht in weitaus deprimierterem Zustand zur Welt kam bzw. überhaupt überlebt hat. > Dies macht noch einmal deutlich, wie wichtig klar strukturierte Handlungsabläufe und »logistische« Notfallpläne im Kreißsaal für die Prognose von Mutter und Kind in geburtshilflichen Notfallsituationen sind.

Insgesamt ist festzustellen, dass bei Claudia angesichts des umgekehrten T-Schnitts nach vorangegangener Sectio der vaginale Entbindungsversuch kontraindiziert war. Die knappe personelle Besetzung und die Überlastung von Hebammen Ärzten insbesondere an Wochenenden/Feiertagen sind und bleiben ein ungelöstes Problem. > Wie der vorliegende Fall zeigt, ist jungen Assistenzärzten dringend zu anzuraten, lieber einmal mehr als einmal zu wenig ihren Oberarzt hinzuzuziehen. Oberärzte sollten sich »vor Ort« regelmäßig und rechtzeitig selbst ein Bild von potenziellen Gefahrensituationen machen!

Aufgrund der Komplexität der Uterusruptur, der schwer kontrollierbaren Blutung und der beginnenden hämodynamischen Instabilität war bei Claudia die Indikation zur Hysterektomie gerechtfertigt.

Weiterführende Literatur ACOG Practice Bulletin No. 115 (2010) Vaginal birth after ­previous cesarean delivery. Obstet Gynecol 116: 450–463 Anderson MH, Thisted DCA, Armer-Wahlin I et al (2016) Can intrapartum cardiotocograph predict uterine rupture among women with prior Caesarean delivery? A ­population-based case-control study. PLoS One 11(2): e0146347 Cahill AG, Stamilio DM, Odibo AO et al (2007) Does a maximum dose of oxytocin affect risk for uterine rupture in candidates for vaginal birth after cesarean delivery? Am J Obstet Gynecol 197(5): 495.e1–5 Cahill AG, Waterman BM, Stamilio DM et al (2008) Higher maximum doses of oxytocin are associated with an unaccep-

143 Weiterführende Literatur

tably high risk for uterine rupture in patients attempting vaginal birth after cesarean delivery. AJOG 199: 32e1–5 Cahill AG, Odibo AO, Allsworth JE et al (2010) Frequent epidural dosing as a marker for impending uterine rupture in patients who attempt vaginal birth after cesarean delivery. Am J Obstet Gynecol 202(4): 355.e1–5 Craver-Pryor E, Merz H-L, Beaver BW et al (2007) Intrapartum predictors of uterine rupture. Am J Perinatol 24: 317–321 Desseauve D, Bonifazi-Grenouilleau M, Fritel X et al (2016) Fetal heart rate abnormalities associated with uterine rupture: a case-control study: a new time-lapse approach using a standardized classification. Eur J Obstet Gynecol 197: 16–21 DGGG (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) (2010) AWMF-Leitlinie 015/021, gültig bis 2013, zurzeit in Überarbeitung (http://www.dggg.de/fileadmin/ documents/leitlinien/archiviert/federfuehrend/015021_ Schwangerenbetreuung_und_Geburtsleitung_bei_ Zustand_nach_Kaiserschnitt/015021_2010.pdf) Guise JM, Denman MA, Emeis C et al (2010) Vaginal birth after cesarean: new insights on maternal and neonatal outcomes. Obstet Gynecol 115: 1267–1278 Hamilton EF, Bujold E, Mc Namara H et al (2001) Dystocia among women with symptomatic uterine rupture. AJOG 184: 620–624 Harper LM, Cahill AG, Roehl KA et al (2012a) The pattern of labor preceding uterine rupture. AJOG 207: 210e1–6 Harper LM, Cahill AG, Boslaugh S et al (2012b) Association of induction of labor and uterine rupture in women attempting vaginal birth after cesarean: a survival analysis. AJOG 206: 51e1–5 Jastrow N, Challiet N, Roberge S et al (2010) Sonographic lower uterine segment thickness and risk of uterine scar defect: a systematic review. JOGC 32: 321–327 Jastrow N, Demers S, Chailett N et al (2016a) Lower uterine segment thickness to prevent uterine rupture and adverse perinatal outcomes: a multicenter prospective study. AJOG 215: 684e1–6 Jastrow N, Vikhareva O, Gauthier J et al (2016b) Can third-trimester assessment of uterine scar in women with prior cesarean section predict uterine rupture? Ultrasound Obstet Gynecol 47: 410–414 Kaczmarczyk M, Sparen P, Terry P, (2007) Cnatzingius S Risk factors for uterine rupture and neonatal consequences of uterine rupture. BJOG 114: 1208 Khan KS, Rizvi A (1995) The partograph in the management of labour following cesarean section. Int J Gynaecol Obstet 50: 151–156 Kok N, Wiersma IC, Opmeer BC et al (2013) Sonographic measurement of lower uterine segment thickness to predict uterine rupture during a trial of labor in women with previous Cesarean section: a meta-analysis. Ultrasound Obstet Gynecol 42: 132–139 Landon MB, Grobman WA (2016) What we have learned about trial of labor after cesarean delivery from the MaternalFetal Medicine Units Cesarean Registry. Semin Perinatol 40: 281–286

8

Landon MB, Haut JC, Leveno KJ et al (2004) Maternal and perinatal outcomes associated with a trial of labor after prior cesarean delivery. N Engl J Med 351: 2581–2589 Lang CT, Landon MB (2017) Uterine rupture after previous cesarean delivery. www.uptodate.com Naji O, Daemen A, Smith A et al (2013) Changes in Cesarean section scar dimensions during pregnancy: a prospective longitudinal study. Ultrasound Obstet Gynecol 41: 556–562 Ofir K, Sheiner E, Levy A et al (2004) Uterine rupture: differences between a scarred and an unscarred uterus. AJOG 191: 425–459 Ophir E, Odeh M, Hirsch Y, Bornstein J (2012) Uterine rupture during a trial of labour: controversies of induction`s methods. Obstet Gynecol Surv 67: 734–745 Rath W, Kehl S (2015) Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio. Frauenarzt 56: 962–967 Ridgeway JJ, Weyrich DL, Benedetti TJ (2004) Fetal heart rate changes associated with uterine rupture. Obstet Gynecol 103: 506–512 Scott JR (2014) Intrapartum management of trial of labour after caesarean delivery: evidence and experience. BJOG 121: 157–162 Vlemminx MW, de Lan H, Oei SG (2017) Tocogram characteristics of uterine rupture: a systematic review. Arch Gynecol Obstet 295: 17–26 Zwart JJ, Richters JM, Öry F et al (2009) Uterine rupture in The Netherlands: a nationwide population-based cohort study. BJOG 116: 1069–1080

145

Überwachung der Geburt Alexander Strauss

9.1

Falldarstellung – 146

9.1.1

Wie hat ein evidenzbasiertes antepartales apparatives Überwachungskonzept auszusehen? – 146 CTG unter der Geburt – alternativlos bei allen und pausenlos? – 148 Entsprach die Klinikaufnahme von Frau Orolig dem in diesen Fällen empfohlenen Vorgehen? – 149 Wie ist ein CTG zu bewerten? Welche Faktoren können auf die fetale Herzfrequenz Einfluss gewinnen? – 150 Beschreiben und interpretieren Sie die während der Austreibungsperiode zwischen 9:52 Uhr und 10:42 Uhr registrierten kardiotokographischen Befunde dargestellt in . Abb. 9.1 und . Abb. 9.2 – 152

9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5

9.1.6 9.1.7

9.1.8

9.1.9

Geburtshilfliche Überwachung: Gibt es weitere Optionen? – 152 Welche geburtshilflichen Maßnahmen stehen in der von der Patientin hier beschriebenen Situation zur Verfügung? Welche Voraussetzungen sind für deren Einsatz zu erfüllen? – 154 Beschreiben Sie die während dieser Geburtsphase registrierten kardiotokographischen Befunde (dargestellt in . Abb. 9.3) und interpretieren Sie diese auch vor dem Hintergrund ihrer CTG-Befundungen zwischen 9:52 Uhr und 10:42 Uhr – 155 Welche Kriterien werden zur kurzfristigen Bewertung des Gesundheitszustands des Neugeborenen angewendet? Welchen Stellenwert haben diese bezüglich der längerfristigen Prognose des Kindes? – 155

9.2

Fallnachbetrachtung – 157



Weiterführende Literatur – 161

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_9

9

146

Kapitel 9 · Überwachung der Geburt

9.1 Falldarstellung Vor dem 3. Senat des Landgerichts kommt es zur Verhandlung im Zivilverfahren Orolig ./. Stadtkrankenhaus wegen des Verdachts auf behandlungsfehlerhafte Betreuung des Geburtsverlaufs des Klägers, vertreten durch seine Mutter …

9

Die Beteiligten: 44 Patientin/Mutter des Klägers: Elsa Orolig 44 Lebenspartner/Vater des Klägers: Sven Sambo 44 Erstgeborener Sohn (dreijährig): Nils Orolig 44 Aktuelles Kind/Kläger: Erik Orolig 44 Hebamme: Marie-Louise Bourgeois 44 Facharzt für Gynäkolgie und Geburtshilfe: Dr. Hans Glis 44 Vorsitzender Richter des Zivilsenats: Dr. jur. Justus Salomon 44 Medizinischer Fachgutachter: Prof. Dr. med. Nathan Weise 44 Klägervertreter: Max Robbespierre 44 Anwalt der beklagten Stadtkrankenhaus: Dr. jur. Peregrin Mason Der Vorsitzende Richter, Dr. jur. Justus Salomon, eröffnet den Verhandlungstermin pünktlich um 9:00 Uhr durch Feststellung der Anwesenheit der klagenden wie auch der Beklagten-Partei nebst jeweiligem Rechtsbeistand Dr. Peregrin Mason für die beklagte Klinik und Max Robbespierre als Klägervertreter. Daneben wird der mediznische Gutachter Prof. Dr. Nathan Weise unter Feststellung seiner Personalien und nach Belehrung über seine Pflichten bei Gericht in das Verfahren eingeführt. Richter Dr. Salomon: »Frau Orolig, Sie sind im Oktober des vergangenen Jahres im Stadtkrankenhaus von ihrem zweiten Kind entbunden worden. Dabei handelte es sich, wie bei ihrem ersten Kind, wieder um einen Jungen. Nur dass dieses Mal die Geburt völlig anders verlief, als Sie dies erwarteten und auch vom ersten Mal her kannten. Und dies, obwohl es auch bei der ersten Geburt nicht völlig ohne Aufregungen abgegangen war. Ihr erster Sohn Nils wog, für Sie damals überraschenderweise, bei Geburt 4320 g, und die Geburt verzögerte sich 15 Tage über den errechneten Geburtstermin hinaus, sodass bei einem Geburtsstillstand über mehrere Stunden schließlich ein Kaiserschnitt vorzunehmen war.

Um uns nun ein Bild von der Ausgangssituation der hier aktuell strittigen Phasen der Geburt ihres zweiten Sohnes zu vermitteln, schildern Sie uns doch aus ihrer Sicht den Schwangerschaftsverlauf im vergangenen Jahr.« Elsa Orolig: »Alles fing im Februar an. Ich ahnte bereits, dass ich nach unserem 3-jährigen Nils wieder schwanger sein könnte. Irgendwann noch im Februar machte ich dann einen Schwangerschaftstest: positiv … Oh mein Gott! … So war das aber nicht geplant. Wir konnten uns doch nicht noch ein Kind leisten. Nach dem ersten Schock machte sich bei mir und meinem Mann Sven trotz allem sehr rasch die Freude über eine neue Schwangerschaft breit. Und dies, obwohl es mir in den ersten Monaten sehr durchwachsen ging. Die Übelkeit nahm gar kein Ende. Im August erfuhren wir, dass wir einen Jungen erwarteten. Im ersten Moment war ich etwas enttäuscht. Warum auch immer, wir waren der Überzeugung, dass wir doch noch ein Mädchen bekommen würden. Ich fand den Gedanken schön, ein Pärchen aufziehen und erleben zu dürfen.« Richter Dr. Salomon: »Wie ging es dann weiter?« Elsa Orolig: »Bis Anfang Oktober verlief die Schwangerschaft ohne weitere Aufregungen. Eines Abends bekam ich dann aber starke Bauchschmerzen. Ich dachte, die Wehen gehen los. Wir fuhren sofort ins Krankenhaus. Es war aber ein Fehlalarm, und ich konnte noch in derselben Nacht wieder nach Hause. Die ‚Vorwehen‘ zogen sich dann Tag für Tag so hin. Es war eine mühsame Zeit. Am Morgen des 16. waren sie dann so stark, dass ich wieder ins Krankenhaus fuhr. Auch da waren es wieder keine richtigen Wehen, und ich wurde neuerlich nach Hause geschickt. Das CTG war wie immer unauffällig, und dem Baby ging es gut. Meine Hebamme meinte, es könnte heute, aber auch erst morgen etwas passieren. Ich sollte meine gepackte Tasche auf jeden Fall bereit stehen haben.«

9.1.1

Wie hat ein evidenzbasiertes antepartales apparatives Überwachungskonzept auszusehen?

Zur Interpretationsverbesserung der antepartalen Überwachungsoptionen hat eine Risikoselektion anhand der Anamnese der Schwangeren zu erfolgen.

147 9.1 · Falldarstellung

Im präselektierten Risikokollektiv weisen sonographische Kontrollen des fetalen Wachstums wie auch der Fruchtwassermenge die größte diagnostische Effektivität auf. Zeigen diese Verfahren auffällige Befunde, ist die Überwachung ggf. auch in kürzeren Intervallen zu wiederholen. Für den Fall fortschreitender Veränderungen des intrauterinen Äquilibriums bieten dopplersonographische Funktionsabklärungen einen zu indizierenden Eskalationsschritt der pränatalen Diagnostik. Bei Auftreten einer Kreislaufzentralisation (brain-sparing effect) sind unter Hinzunahme weiterer Überwachungsmethoden auch repetitive CTG-Kontrollen sinnvoll – dies umso mehr, als die Dopplersonographie im Gegensatz zur Kardiotokographie eher geeignet ist, eine chronische Zustandsverschlechterung als die akute fetale Dekompensation zu erfassen. Zur Verbesserung der diagnostischen Treffsicherheit des CTG können weitere Interpretationshilfen eingebunden werden. Die Reduzierung falsch-positiver Befunde beträgt z. B. bei additiver Anwendung der Kineto-Kardiotokographie mit der simultanen Registrierung des fetalen Bewegungsprofils 50–60%. Die Rationale eines intensivierten antepartalen Überwachungskonzepts ergibt sich aus der Kenntnis fetaler Adaptationsmechanismen und deren sequenzieller zeitlicher Abfolge bei Auftreten einer akuten oder chronischen fetalen Plazentainsuffizienz/Hypoxämie/Azidämie. Die im Rahmen von Kompensationsversuchen des Feten zu beobachtende Kreislaufanpassung und Stoffwechselalteration führt bei ausreichend langer Manifestation (Chronifizierung) der Versorgungsstörung neben Veränderungen des CTG auch zur Fruchtwasserverminderung (Oligo-/Anhydramnion) und intrauterinen Wachstumsrestriktion (IUGR). Etwa zeitgleich zu den Herzfrequenzalterationen können zentralnervöse Regulationsstörungen der fetalen Motorik und Verhaltensmuster beobachtet werden. Am Ende der Zustandsverschlechterung steht schließlich der Zusammenbruch sämtlicher fetaler Kompensationsmechanismen mit dem Risiko irreversibler Schäden oder perinataler Todesfälle. Die Zeitachse zwischen ersten Anzeichen einer fetalen Gefährdung bis zur Dekompensation folgt dabei zwar einem groben Zeitmuster, sie ist in ihrer individuellen Ausprägung aber wesentlich durch additive Risikofaktoren (chronische Hypoxämie, Reifegrad des Kindes, Fehlbildungen etc.) modifiziert:

9

Plazentainsuffizienz: Pathophysiologische Abfolge fetaler Anpassungsprozesse 55Zentralisation des fetalen Kreislaufs 55Reduktion oxidativer (anaboler) Prozesse 55Zunahme der Erythropoese (extramedullär) 55Abnahme der fetalen Reaktivität 55»Ökonomisierung« des fetalen Bewegungsverhaltens 55Reversible Veränderungen der fetalen Herzfrequenz 55Sistieren fetaler Bewegungen 55Irreversible Veränderungen der fetalen Herzfrequenz (u. a. periodisch auftretende späte Dezerlationen [DIP II], terminale Bradykardie, silentes Oszillationsmuster, sinusoidaler Herzfrequenzverlauf )

Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge kommt der antepartalen Kardiotokographie zwar eine wesentliche Rolle in der Schwangerschaftsüberwachung zu, diese ist jedoch zur Interpretationsoptimierung in einer sinnvollen Sequenz und unter Einbeziehung weiterer Überwachungsverfahren vorzunehmen. … Fortsetzung der Befragung … Elsa Orolig: »Zum Ende der Woche hatte ich noch einen Termin bei meiner Frauenärztin. Auch da waren Wehen sichtbar, aber es waren irgendwie auch keine ‚richtigen‘ Wehen. Es könne heute, aber auch erst morgen oder übermorgen losgehen, war die Erklärung der Gynäkologin, aber es würde sich auf jeden Fall was tun. Obwohl es immer wieder zwickte und zwackte, ging ich am Abend ganz normal zu Bett. Ich konnte dann allerdings nicht liegen. Beim Laufen ertrug ich das Ziehen besser. Kurz nach Mitternacht fingen dann richtige heftige Schmerzen an. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es nun tatsächlich die richtigen Wehen waren. Ich quälte mich noch Stunden zu Hause herum: trepprauf, treppab … Die Krämpfe kamen nun alle 10 Minuten. Um 3:30 Uhr rief ich meine Hebamme an und sagte, dass es wohl nun tatsächlich losginge. Ich sollte ins Krankenhaus kommen. Den werdenden Papa geweckt,

148

Kapitel 9 · Überwachung der Geburt

den Babysitter angerufen, da wir unseren ‚Großen‘ so früh am Morgen nicht mitnehmen wollten. Alles war so super vorgeplant und hat auch wie eine Eins geklappt. Um 4:30 Uhr waren wir dann im Krankenhaus. Das CTG wurde von Frau Bourgeois angeschlossen. ‚Marie-Louise – Hebamme‘ stand auf dem Namensschild an ihrem Klinikkittel. Dem Baby ging es super. Obwohl noch 19 Tage bis zum Stichtag fehlten, war der Muttermund bereits 2–3 cm geöffnet. Wir sollten noch eine Stunde umhergehen. Naja, frühmorgens in einer Kleinstadt nicht gerade aufregend. Um 6 Uhr wurde ich wieder an das CTG gelegt. Immer noch alles so, wie es sein sollte. Der Muttermund hatte sich weiter geöffnet.«

9.1.2

9

CTG unter der Geburt – alternativlos bei allen und pausenlos?

> Die Kardiotokographie darf nie die Überwachung der Kreißenden durch die Hebamme ersetzen!

Eine intrapartale CTG-Überwachung wird generell bei allen Geburten empfohlen. Bei Klinikaufnahme ist ein Aufnahme-CTG von mindestens 30 min Dauer zu schreiben. Sofern weder auffällige Befunde einer initialen Herztonregistrierung, weitere Schwangerschaftsrisiken noch ein Blasensprung vorliegen, ist es in der frühen Eröffnungsperiode legitim, auf eine kontinuierliche CTG-Aufzeichnung zu verzichten (intermittierende CTG-Kontrollen mit Pausen > 30 min). > Die Kardiotokographie sub partu kann wesentlich verlässlicher helfen, den unbeeinträchtigten als den hypoxiegefährdeten Feten zu identifizieren: positiver Vorhersagewert 15–20%, negativer Vorhersagewert 80–96%.

Nach einem Blasensprung sowie bei allen Risikoschwangerschaften und allen Fällen mit vorausgegangenen suspekten oder pathologischen CTG-Befunden ist dagegen auch in der frühen Eröffnungsperiode kontinuierlich zu überwachen.

Weitere Risikofaktoren, die eine kontinuierliche CTG-Ableitung erforderlich machen 55Anamnestische Risiken (u. a. perinataler kindlicher Todesfall, perinataler Hirnschaden) 55Z. n. Sectio caesarea 55Hypertensive Schwangerschaftserkrankung/Präeklampsie/ HELLP-Syndrom 55Diabetes mellitus/Gestationsdiabetes 55Frühgeburt 55Mehrlinge 55Beckenendlage 55Intrauterine Wachstumsrestriktion 55Blutung im letzten Schwangerschaftsdrittel 55(Verstärkte) Blutung in der Eröffnungs- oder Austreibungsperiode 55Übertragung (> 42. SSW) 55Verminderte Fruchtwassermenge 55Geburtseinleitung 55Pathologisches CTG 55Mekoniumabgang (grünes Fruchtwasser) 55Protrahierter Geburtsverlauf (mit Wehenstimulation)

> Jedes intrapartale Kardiotokogramm muss ständig hinsichtlich der fetalen Herzfrequenz und der Wehentätigkeit beobachtet und evaluiert werden. Bei unauffälligem Geburtsverlauf hat diese Kontrolle mindestens alle 15 min, in der Austreibungsperiode (am besten) kontinuierlich zu erfolgen.

In der späten Eröffnungs- und Austreibungsperiode ist Überwachung in eine fortlaufende CTG-Registrierung zu überführen. Dabei genügt bei guter Aufzeichnungsqualität in der Regel die externe CTG-Ableitung. Bei nichtinterpretierbarem Kardiotokogramm oder Unsicherheit bezüglich der Validität der Herzfrequenzaufzeichnung ist die Fruchtblaseneröffnung mit interner Registrierung der kindlichen Herzfrequenz über eine Kopfschwarten-Elektrode (KSE) als die Methode der Wahl einzusetzen.

149 9.1 · Falldarstellung

Empfehlungen zur intrapartalen ­Überwachung 55Wenngleich das Spektrum intrapartaler Überwachungsverfahren deutlich erweitert und die Falsch-positiv-Rate des CTG (65%) dadurch halbiert werden konnte, wird die Kardiotokographie nach wie vor als primäres Screening-Verfahren eingesetzt. 55Das intrapartale CTG weist je nach Prüfkriterium (Azidämie-Vorhersage, Rate operativer Entbindung wegen drohender Asphyxie) eine Inter- und Intraobserver-Variabilität von 74% bzw. 29% wie auch eine sehr kurze Vorwarnzeit von nur wenigen Tagen (Akutmarker) auf. 55Die intermittierende Auskultation ist als Alternative in der Eröffnungsperiode der Low-risk-Schwangerschaft möglich, vor dem Hintergrund möglicher medikolegaler Auseinandersetzungen als Methode der Geburtsüberwachung allerdings nicht uneingeschränkt zu empfehlen. 55Verbleiben Zweifel am Oxygenierungszustand des Feten, gelingt (in der Mehrzahl aller Fälle) durch die Vornahme einer Fetalblutanalyse (FBA) eine zuverlässige diagnostische Absicherung pathologischer fetaler Herzfrequenzmuster. Die Anwendung dieser eingreifenden Methode muss vor dem Hintergrund der ungleich größeren Invasivität evtl. unnötig werdender Kaiserschnittentbindungen gesehen werden. 55Kann nach Anwendung der in einer geburtshilflichen Abteilung verfügbaren Untersuchungsmethoden eine fetale Gefährdung noch immer nicht ausgeschlossen werden, so ist die Geburt umgehend zu beenden. Alle zu einer solchen Entscheidung führenden Überwachungsschritte sind lückenlos und zeitnah zu dokumentieren.

… und weiter … Elsa Orolig: »Um 8:30 Uhr ging ich zum Entspannen in die Wanne und kam eine Stunde später wieder heraus. Von Marie-Louise bekam ich Meptid, damit

9

ich die Wehen besser aushalten könnte. Aber das brachte nicht so viel. Von da an ging das Übel los … « Max Robbespierre: »Zum Vortrag meiner Mandantin möchte ich hier ergänzen, dass die geburtshilfliche Vorgeschichte der Patientin bereits zum Aufnahmezeitpunkt in die Klinik einen zwingenden Grund zur Kaiserschnittentbindung darstellte und das vorgenommene geburtshilfliche Vorgehen unter Verkennung der bestehenden Risikoschwangerschaft sorgfaltswidrig war. Meiner Mandantin wurde somit die dem Standard entsprechende Betreuung vorenthalten, da durch das langfristige Fehlen ärztlicher Betreuung auch im weiteren Geburtsverlauf weder eine Aufklärung noch eine Empfehlung und schon gar keine Durchführung einer medizinisch zwingend gebotenen Sectio erfolgten. Dadurch wäre der fatale Ausgang der Schwangerschaft für ihren zweiten Sohn mit Sicherheit vermieden worden.« Dr. Peregrin Mason: »Auch unter Beachtung der Vorgeschichte der Patientin verlief die ambulante geburtshilfliche Betreuung der aktuellen Schwangerschaft ohne Auffälligkeiten. Wenngleich, nach dem schriftlichen Gutachten von Herrn Prof. Dr. Weise, ein Kaiserschnitt in den frühen Morgenstunden des Aufnahmetags mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem anderen Schwangerschaftsausgang für das Neugeborene von Frau Orolig geführt hätte, bestand aus der Ex-ante-Bewertung der geburtshilflichen Ausgangssituation um 4:30 Uhr des 21. Oktober keine Indikation für eine primäre bzw. eine primär indizierte sekundäre Sectio.«

9.1.3

Entsprach die Klinikaufnahme von Frau Orolig dem in diesen Fällen empfohlenen Vorgehen?

Begibt sich eine Schwangere zur Entbindung in ein Krankenhaus, hat sie Anspruch auf den Standard einer fachärztlich geleiteten Geburtshilfe. Hebamme und Arzt arbeiten in Abhängigkeit von der geburtshilflichen Situation in unterschiedlichen Rollen zusammen. Übernimmt die Hebamme eigenverantwortlich die Schwangeren-/Geburtsbetreuung der Patientin, agiert sie dabei nicht als Gehilfin des Arztes, sondern entsprechend ihrer eigenen

150

9

Kapitel 9 · Überwachung der Geburt

Berufsordnung autark. Diese Tätigkeit der Hebamme in der Klinikgeburtshilfe erfolgt in Abhängigkeit vom Krankenhaustypus (Perinatalzentrenkonzept) und ist in einem institutionsspezifischen Organisationsstatut zu regeln. Das Kooperationsverhältnis von Hebamme und Arzt kennt in diesem Zusammenhang geburtshilfliche Zustände/Risiken, welche einem Arztvorbehalt (Tätigkeiten/Maßnahmen, welche nur von einem ordnungsgemäß ausgebildeten und approbierten Arzt ausgeübt bzw. durchgeführt werden dürfen) unterliegen. In diesen Fällen agiert die Hebamme als geburtshilflich-kooperierende Gehilfin des Arztes. Ein Arztvorbehalt betrifft dabei folgende Zustände: 44Erstgebärende > 40 Jahre 44Anamnestische Risiken (u. a. Z. n. perinatalem kindlichem Todesfall, Z. n. perinatalem Hirnschaden) 44Mehrlinge 44Frühgeburt 44Vorzeitiger Blasensprung 44Z. n. Uterusoperation/Sectio caesarea 44Mütterliche Erkrankungen (u. a. insulinpflichtiger Diabetes mellitus, SIH, [Prä-]Eklampsie, HELLP-Syndrom, Infektionserkrankungen, Herzkrankheit) 44Abnorme/suspekte kardiotokographische Befunde 44Verordnung verschreibungspflichtiger Medikamente 44Pressperiode 44Pathologische Fetalblutanalyse (FBA) (< 7,20) 44Blutungen peripartal 44Nabelschnurvorfall 44Lage-/Einstellungsanomalien 44Schulterdystokie 44Amnioninfektionssyndrom (mütterliches Fieber, fetale Tachykardie) 44Grünes oder blutiges Fruchtwasser 44Protrahierter Geburtsverlauf 44Geburtseinleitung 44Vaginal-operative Geburt 44Versorgung von Dammriss III°/IV° 44Uterusatonie/unvollständige Plazenta/Blutung > 500 ml in der Nachgeburtsperiode 44Verlegung der Patientin (auf Wochenstation)

Der Arzt muss sich daher jederzeit bewusst sein, dass er im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Hebamme aufgrund der Möglichkeit überraschend auftretender Zustände, welche mit einem Arztvorbehalt verbunden sind, seine ständige Erreichbarkeit und kurzfristige Präsenzmöglichkeit zu gewährleisten hat. Hierzu sind die entsprechenden organisatorischen Voraussetzungen (personell, logistisch) sicherzustellen (Verantwortung der Abteilungsleitung). … und weiter … Richter Dr. Salomon: »Frau Orolig, um einen umfassenden Eindruck von ihrem Erleben zu erhalten, darf ich Sie bitten, mit der Schilderung ihrer Sicht des weiteren Verlaufs fortzufahren.« Elsa Orolig: »Also, ich lag wieder im Kreißsaal auf dem Bett. Der Muttermund war nun laut MarieLouise komplett geöffnet. Auf einmal überkam mich eine Hammerwehe nach der anderen. Marie-Louise wollte mir gerade wieder Schmerzmittel geben, da rasten Eriks Herztöne bis auf 70 hinunter … und das immer wieder.« Max Robbespierre: »Hierzu legen wir als Beweisstück den Ausdruck der kardiotokographischen Aufzeichnung mit der Kennzeichnung Abbildung 1 vor (7 Abschn. 9.1.5).«

9.1.4

Wie ist ein CTG zu bewerten? Welche Faktoren können auf die fetale Herzfrequenz Einfluss gewinnen?

Die Registrierung der fetalen Herzfrequenz mittels Kardiotokographie stellt die Methode der Wahl zur kurzfristigen Zustandsbeurteilung des Ungeborenen dar. Die Bewertung des CTG erfolgt dabei anhand standardisierter Bewertungskriterien (. Tab. 9.1) und unter Berücksichtigung diverser extrinsischer wie auch intrinsischer Einflussfaktoren (. Tab. 9.2). … und weiter … Elsa Orolig: »Mehrere Hebammen liefen zusammen. Es kam Hektik auf. Plötzlich bekam ich Wehenhemmer. Sie halfen aber nicht. Erik erholte sich dann von alleine, aber das dauerte. Ich sollte mich nun drehen und wenden. Auf den Knien, linksherum,

151 9.1 · Falldarstellung

. Tab. 9.1  FIGO-Richtlinien zur kardiotokographischen Beurteilung fetaler Herzfrequenzmuster (FHF) Kriterium

Normal

Suspekt

Pathologisch

Baseline (bpm)

110–160

< 110

< 100

> 160

> 170

5–10 (> 40 min)

< 5 (> 40 min)

> 25

sinusoidales CTGa

Oszillationsamplitude, Bandbreite (bpm)

5–25

FHF-Akzelerationenb

> 2/10 min

Periodisches Auftreten mit jeder Wehe

Keine > 40 mind

FHF-Dezelerationenc

Keine, sehr kurze sporadische milde (inklusive DIP 0)

Sporadische (jeder Typ außer schwere)

Alle periodischen Sporadische: prolongierte, schwere variable, wiederholt schwere frühe, späte

a Sinusoidale FHF: < 6 Zyklen/min, Amplitude > 10 bpm, > 20 min, b FHF-Akzeleration: Amplitude > 15 bpm, Dauer > 15 s, c FHF-Dezeleration: Amplitude > –15 bpm, Dauer > 10 s, d prognostische Bedeutung derzeit noch unklar.

. Tab. 9.2  Einflussfaktoren auf die fetale Herzfrequenz Maternal

Fetoplazentar

Fetal

Exogen

Körperhaltung

Plazentainsuffizienz

Gestationsalter

Medikamente (u. a. Tokolytika, Sedativa, Anästhetika, ß-Blocker)

Körperliche Aktivität

Chorioamnionitis

Bewegungen

Rauchen

Infektion, Fieber

Nabelschnur- und/oder Plazentakompression

Verhaltenszustände:

Drogen, Genussmittel (-abusus)

1F: Tiefschlaf 2F: Aktiv-Schlaf-Zustand 3F: Ruhig-Wach-Zustand 4F: Aktiv-Wach-Zustand

Erkrankungen, Kreislaufschock



Weckreize

Lärm

Blutdruck, Flüssigkeitszufuhr



Hypoxämie, Säure-Basen-Status

Stress

Oxygenierung



Kongenitale Anomalien (Herzfehler), Erkrankungen



Uterusaktivität



Zentralnervöse Regulationsmechanismen



Humorale Faktoren







Schmerz







Angst







9

152

Kapitel 9 · Überwachung der Geburt

rechtsherum, im Sitzen, im Hocken, im Liegen … Sie haben alles Mögliche versucht. Allerdings ohne Plan. Bei der nächsten Wehe rasten die Herztöne wieder gefährlich weit nach unten.« Max Robbespierre: »Die hier von meiner Mandantin geschilderte Phase der Geburt entspricht dem CTG-Abschnitt, bezeichnet als Abbildung 2, welchen wir hier ebenfalls als Beweismittel einbringen (7 Abschn. 9.1.5).«

9

Überprüfung des fetalen Säure-Basen-Status die Verifizierung/den Ausschluss einer fetalen Azidämie erlaubt, anzusehen. Die FBA ermöglicht zuverlässig die Bestimmung des pH-Werts sowie der Gesamtpufferbasen und des Base-Excess (BE, Basenüberschuss) (. Tab. 9.3). > FBA ist zur Überwachung des fetalen Wohlbefindens sub partu in ca. 5% aller Geburten unverzichtbar.

9.1.5

Beschreiben und interpretieren Sie die während der Austreibungsperiode zwischen 9:52 Uhr und 10:42 Uhr registrierten kardiotokographischen Befunde dargestellt in . Abb. 9.1 und . Abb. 9.2

Zu beachten ist, dass sich durch einen singulären pH-Wert im Normbereich (Eröffnungsperiode > 7,25, Austreibungsperiode > 7,20) noch nicht ausschließen lässt, dass es längerfristig zu keiner fetalen Zustandsverschlechterung kommen kann. Der intrapartale Säure-Basen-Status ändert sich in 81% der Fälle langsam, in 15% mittelschnell und in 4% akut.

9.1.6

Geburtshilfliche Überwachung: Gibt es weitere Optionen?

> Intrapartale Wiederholungsmessungen sind zur Längsschnittanalyse der fetalen pH-WertVerlaufsbewertung erforderlich: Cave: Rüst-/ Vorlaufzeiten!

Im Rahmen der Abklärung auffälliger fetaler Herztonmuster ist die zeitnahe Vornahme einer FBA als Goldstandard, welcher durch die direkte

Methodische Probleme treten bei ungenügender Hyperämisierung des Gewebes (Kopfgeschwulst) mit falsch-positiven Werten (kapillärer pH-Wert der

. Abb. 9.1  Pathologisches CTG unter der Geburt: 9:52–10:15 Uhr

153 9.1 · Falldarstellung

9

. Abb. 9.2  Pathologisches CTG unter der Geburt: 10:16–10:42 Uhr

. Tab. 9.3  Bewertung der Fetalblutanalyse (FBA) nach Saling Arterieller pH-Wert

Ergebnisinterpretation

Geburtshilfliche Konsequenz

> 7,30

Normal

Kontinuierliche CTG-Überwachung

7,25–7,29

Subnormal

FBA-Kontrolle bei Persistenz der CTG-Alterationen

7,20–7,24

Präazidose

Kurzfristige FBA-Kontrolle (bei Persistenz der CTGAlterationen), ggf. Geburt anstreben

90%.

Intrauterin/fetal 

> Neben der aufmerksamen Bewertung von CTG- und FBA-Veränderungen ist stets die klinische Gesamtsituation (Phase der Geburt, vorbestehende Pathologie) zu berücksichtigen.

z z Sofortmaßnahmen/therapeutisches Vorgehen

… und weiter … Elsa Orolig: »Eriks Herzschlag erholte sich jetzt gar nicht mehr. Ich wurde völlig panisch. Mir wurden irgendwelche Medikamente gespritzt.«

9.1.7

9

Welche geburtshilflichen Maßnahmen stehen in der von der Patientin hier beschriebenen Situation zur Verfügung? Welche Voraussetzungen sind für deren Einsatz zu erfüllen?

Intrauterine Reanimation (Notfalltokolyse) z z Indikation

44Akut drohende fetale Hypoxie/Azidose ­(pathologisches FHF-Muster) und eine (vaginale) Entbindung ist innerhalb weniger Minuten nicht möglich/nicht intendiert, 44Überbrückungsmaßnahme in der Vorbereitungsphase einer Notsectio. z z Häufigste Ursachen Maternal  44Vena-cava-Kompressionssyndrom, 44gelegentlich nach Peridural- oder Spinalanästhesie (Volumenmangel). Uteroplazentar  44Plazentare Versorgungsstörung (bei Plazentainsuffizienz) unter Wehentätigkeit (Polysystolie), 44Dauerkontraktion/prolonierte fetale Bradykardie (häufig).

44Nabelschnurkomplikationen.

44Beckenhochlagerung/Linksseitenlagerung der Gebärenden, 44Volumensubstitution bei Hypotonie, 44unverzügliches Herstellen maximal verfügbarer geburtshilflicher Expertise/ Operationsbereitschaft, 44vaginale Untersuchung (Muttermundbefund, Nabelschnurvorfall) 44falls Geburt möglich: keine Wehenhemmung, ggf. Oxytocininfusion, 44falls keine Geburt möglich: 44Berotec-Spray (2–3 Hübe), 44bei unzureichender Wirkung – O2-Gabe (4–6 l/h), 44Notfalltokolyse-Injektion (i.v.): 2–4 ml entsprechend 12,5–25 µg (Injektionslösung: 25 μg Fenoterol = 1 Amp. Partusisten Intrapartal + 3 ml NaCl), 44Notfalltokolyse-Infusion (Infusomat): 45 ml/h entsprechend 3 μg/h (Infusionslösung: 2 mg Fenoterol = 4 Amp. à 0,5 mg in 500 ml), 44fehlende FHF-Erholung → Notsectio.

Kontraindikationen einer Notfalltokolyse (Abwägung gegen die akute fetale ­Gefährdung) 55Maternale Herzerkrankungen 55Thyreotoxikose 55Hypokaliämie 55Entgleister Diabetes mellitus 55Schwere Leber-und Nierenerkrankung 55Starke (lebensbedrohliche) uteroplazentare Blutung

> Aufgezogene Bolus-Tokolysespritzen sind in jedem Kreißsaal griffbereit vorzuhalten (und anhand von auf den Spritzen notierten Verfallsdaten aktuell zu halten), um beim Eintritt einer Indikation zur Notfalltokolyse

155 9.1 · Falldarstellung

nicht wertvolle Zeit durch Vorbereitungsmaßnahmen zu verlieren!

… und weiter … Elsa Orolig: »Irgendwann gegen 11 Uhr war endlich der Facharzt Dr. Glis da. Erik war steckengeblieben. Marie-Louise drückte von oben auf meinen Bauch, ich sollte pressen, so stark es nur ging. Aber es klappte so einfach nicht. Die Schmerzen waren so unerträglich, dass mir die Orientierung völlig verloren ging.«

9.1.8

Beschreiben Sie die während dieser Geburtsphase registrierten kardiotokographischen Befunde (dargestellt in . Abb. 9.3) und interpretieren Sie diese auch vor dem Hintergrund ihrer CTGBefundungen zwischen 9:52 Uhr und 10:42 Uhr

9

schieben. Endlich, nach gefühlt endlosen 20 Minuten im OP-Saal angekommen, legte man mir die Saugglocke an. Das tat schon weh, aber dann sollte ich wieder pressen, pressen, pressen. Ich habe Marie-Louise und dem Narkosearzt, der für alle Fälle bereit stand, die Hände zerquetscht. Es wurde wieder auf meinem Bauch gesprungen. Es war schrecklich. Um 11:49 Uhr kam Erik dann endlich … Alle waren wie erstarrt. Er machte keinen Mucks, keine Regung, kein Schreien, gar nichts! Er atmete nicht, hatte keinen Puls und war ganz schlapp. Er reagierte nicht auf die Maßnahmen der Hebammen. Aber, beim Abklemmen des CTG um 11:15 Uhr im Kreißsaal hat Erik doch noch gelebt!«

9.1.9

Welche Kriterien werden zur kurzfristigen Bewertung des Gesundheitszustands des Neugeborenen angewendet? Welchen Stellenwert haben diese bezüglich der längerfristigen Prognose des Kindes?

… und weiter … Elsa Orolig: »Dann sollte Erik plötzlich ganz schnell mit der Saugglocke geholt werden. Da man aber kein weiteres Risiko mehr eingehen wollte, wurde allerdings entschieden, mich vorher in den OP-Saal zu

z Apgar-Score

Der von der amerikanischen Anästhesistin Virginia Apgar entwickelte, 1953 publizierte und mit ihrem Nachnamen in Form eines Akronyms verbundene

. Abb. 9.3  Pathologisches CTG unter der Geburt: 10:43–11:14 Uhr

Kapitel 9 · Überwachung der Geburt

156

. Tab. 9.4  Apgar-Score Funktion

9

0 Punkte

1 Punkt

2 Punkte

Atmung

Keine

Flach, unregelmäßig

Gut, Schreien

Puls

Kein

< 100/min

> 100/min

Grundtonus

Schlapp

Beugung

Aktive Bewegung

Aussehen

Komplett zyanotisch/weiß

Akrozyanose

Komplett rosig

Reaktion (auf Stimulation)

Keine

Schreien

Kraftvolles Schreien

Apgar-Score dient der Beurteilung der postnatalen Adaptation eines Neugeborenen an das extrauterine Milieu (. Tab. 9.4). Das Apgar-Scoring beinhaltet eine Punktevergabe (0–2) für fünf, bereits beim Neugeborenen leicht zugängliche Parameter und wird jeweils 1, 5 und 10 min post partum erhoben. Die optimale Punktzahl für Neugeborene umfasst 9–10 Punkte, wobei der »fehlende« Punkt nach einer Minute in der Regel auf die bläuliche Hautfarbe des Neonatus zurückzuführen ist. Bei Wertungen zwischen 5–8 gilt das Neugeborene als gefährdet, bei Werten < 5 als akut bedroht. Prognostisch von Bedeutung sind die zur 5. und 10. Lebensminute gewonnenen Apgar-Werte. Die Apgar-Bewertung nach einer Minute ist diesbezüglich nicht verwertbar.

Stärken und Schwächen des Apgar-Score 55Gute Wiedergabe der Adaptationsqualität des Neugeborenen an die Außenwelt 55Apgar-Werte von 0–3 nach 5 min sind ein guter Prädiktor für die Mortalität Neugeborener innerhalb der ersten 28 Lebenstage 55Einschränkungen der prognostischen Wertigkeit bezogen auf längerfristige Gesundheitsvorhersagen: –– 80% der überlebenden Kinder mit Apgar-Werten von 0–3 nach 10 min weisen keinen schwerwiegenden Gesundheitsschaden im frühen Schulalter auf –– 75% der Kinder mit Zerebralparese haben zur Geburt normwertige Apgar-Werte

–– Reif geborene mit Apgar-Werten 0–3 nach 5 min, die sich zur 10. Lebensminute auf ≥ 4 verbessern, haben eine Chance von 99%, im Alter von 7 Jahren nicht an einer Zerebralparese zu leiden 55Modifikation des Apgar-Scoring als Zukunftsperspektive

z Säure-Basen-Status aus Nabelschnurblut

Bei einem persistierend unzureichenden plazentaren O2-Angebot akkumuliert H2CO3 in der fetalen Zirkulation und muss mittels plazentarer Diffusion ausgeschieden werden. Dieser Vorgang weist, verglichen mit der Diffusion von CO2, eine höhere Latenz auf. Der zelluläre Energiebedarf wird dabei zunehmend durch anaerobe Glykolyse gedeckt, welche sich als 19-fach weniger effektiv als die sauerstoffunterstützte Form der Energiegewinnung erweist. Als Folge dieser Umstellung des Energiehaushalts akkumuliert die Zelle Laktat und bedingt sekundär einen Anstieg der extrazellulären/intravaskulären Laktatkonzentration und eine H+-Ionen-Azidämie vom metabolischen Typ. Als langfristiger Effekt resultiert aus der schwerwiegenden Störung des Säure-Basen-Haushalts die Pufferung des deutlich verminderten arteriellen pH-Werts durch Bikarbonat, Hämoglobin und Plasmaproteine (Verminderung des Base-Excess). Bei Erschöpfung dieses Mechanismus kommt es zum intrazellulären Enzym- und Gewebsschaden (Azidose). Einschränkungen der zellulären Kompensationsmöglichkeiten sind gegeben bei fetaler Unreife, IUGR (Glykogenspeicher [noch] nicht ausreichend)

157 9.2 · Fallnachbetrachtung

und Anämie, Infektion (erhöhter O2-Bedarf bei verminderter O2-Bindungskapazität). Die häufigste Ursache einer fetalen Azidämie ist die Kompromittierung der maternofetalen O2-Transmission durch Wehen (Kompression uteriner Blutgefäße bzw. Plazenta-/Nabelschnurkompression → Verminderung der Plazentaperfusion). Als erforderliches Erholungsintervall ist bei endogener Wehentätigkeit ein Kontraktionsabstand von ≥ 90 s, bei induzierten Wehen von ≥ 138 s nicht zu unterschreiten.

(Schwere) metabolische Azidose 55Arterieller pH < 7,00 55BE > –12 mmol/l 55Laktat > 10 mmol/l Bereits ab einem arteriellen pH von 7,05 und einem BE von –10 mmol/l ist ein ungünstiger Kurzzeit-Outcome des Neugeborenen nicht ausgeschlossen.

Letzter Teil der Befragung … Elsa Orolig: »Erik wurde dann gleich zur Seite gebracht, und eine immer größer werdende Zahl an Ärzten und Schwestern kümmerten sich aufgeregt um ihn. Ich lag immer noch auf dem OP-Tisch und bekam eine Vollnarkose.« Richter Dr. Salomon: »Herr Sambo, können Sie mit Ihren Eindrücken zur nun folgenden Erstversorgung Ihres Sohnes die narkosebedingte Erlebenslücke Ihrer Lebenspartnerin ergänzen?« Sven Sambo: »Nachdem ich gegen 7 Uhr zurück nach Hause gefahren war, um den Babysitter abzulösen und die Betreuung unseres Sohnes Nils zu übernehmen, blieb Elsa alleine im Krankenhaus zurück. Damals war das für uns auch okay gewesen. Heute mache ich mir allerdings Vorwürfe. Um 12:30 Uhr wurde ich aus der Klinik angerufen: Erik sei geboren, aber es gebe Probleme! Daraufhin fuhr ich so schnell wie möglich zurück ins Krankenhaus. Unseren ersten Sohn habe ich mitnehmen müssen, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Im Kreißsaal erfuhr ich, dass Erik auf die Kinderintensivstation verlegt werden musste, und während dieses Transports soll er einen schweren, nicht nachlassenden

vom Gehirn gesteuerten Muskelkrampf erlitten haben, welcher nur durch Medikamente gegen Epilepsieanfälle unter Kontrolle gebracht werden konnte. Auch bei meiner Elsa war es zu Schwierigkeiten mit der Plazenta gekommen, sodass ein Eingriff nötig wurde. Als ich bei ihr eintraf, erwachte sie gerade aus der Narkose.« Elsa Orolig: »Eriks Werte waren dramatisch. Alle Werte lagen extrem weit außerhalb der Norm. Er hatte keine Reflexe und atmete nicht selbstständig. Die Pupillen reagierten nicht auf Licht. Leber und Niere waren beinahe komplett geschädigt. Sein Blut war durch den langen Sauerstoffmangel extrem übersäuert. Seine Apgar-Werte lagen bei 0/0/2. Eine Gehirnstrommessung vom Folgetag ließ keine sichere Hirnaktivität feststellen. Eine Wiederholung des EEG 2 Tage später zeigte noch immer keine Änderung der Befunde an.« Sven Sambo: »Unter kontrollierter Unterkühlung wurde Erik in ein künstliches Koma versetzt. Er bekam Entspannungs- und Beruhigungsmedikamente, damit sein Gehirn keine Arbeit leisten musste und sich, so weit wie möglich, erholen sollte. Nach 3 Tagen künstlichen Koma blieb Erik weiterhin leblos. Wir sollten daher von einer schwersten Schädigung durch Sauerstoffmangel, einer Art Wachkoma, ausgehen, so die Neugeborenenärzte. Ein Leben ohne Apparate sei bei Schädigung beinahe aller Organe und v. a. bei den vorhandenen Gehirnblutungen schwersten Grades nicht zu erwarten.« Elsa Orolig: »Erik starb an Atemstillstand durch Kreislaufzusammenbruch und Sauerstoffmangel unter der Geburt. Ich war die ganze Zeit bei ihm. Hatte ihn auf dem Arm. Wenn ich ihn schon nicht ins Leben holen konnte, dann konnte ich ihn doch wenigstens in den Tod begleiten.«

9.2 Fallnachbetrachtung Befragung des medizinischen Sachgutachters Nach der bewegenden Schilderung des Geburtsverlaufs von Erik Orolig wird vom Gericht dem juristischen Vertreter der beklagten Klinik Dr. Peregrin Mason wie auch dem Anwalt der klagenden Partei Max Robbespierre Gelegenheit zur Befragung des medizinischen Fachgutachters gegeben.

9

158

9

Kapitel 9 · Überwachung der Geburt

Dr. Peregrin Mason: »Prof. Weise, dem Vorwurf einer standardwidrigen Behandlung/Beratung bereits vor Geburtsbeginn hatten Sie bereits in ihrem schriftlichen Gutachten nicht zustimmen können. Wie ist dies zu erklären, wenn wir den doch nicht unproblematischen Verlauf der Geburt des ersten Sohnes von Frau Orolig betrachten?« Prof. Dr. Weise: »Im Rahmen der Geburt von Nils Orolig vor 3 Jahren war es auf dem Boden einer Verkettung von fetaler Makrosomie und Übertragung zum Geburtsstillstand und daraus folgend zur Erfordernis der sekundären Sectio gekommen. Alle veränderbaren geburtshilflichen Risikofaktoren aus der ersten Schwangerschaft (fetale Makrosomie, Übertragung, Geburtsstillstand bei V. a. kephalopelvines Missverhältnis) weisen eine Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens in einer Folgeschwangerschaft auf und bedürfen daher der Überwachung. Unauffällige Kontrollparameter hinsichtlich der sonographischen Wachstumsparameter (Geburtsgewicht 3370  g) und der Tragzeit (38. SSW) lassen die Vorhersehbarkeit geburtshilflicher Schwierigkeiten resultierend aus Risikofaktoren der geburtshilflichen Anamnese im aktuellen Schwangerschaftsverlauf ausschließen. Lediglich der Z. n. Sectio bleibt als Belastung der anstehenden Entbindung zwar bestehen, allerdings gewinnt der vorangegangene Kaiserschnitt in der beschriebenen Konstellation keinen Einfluss auf den hier zu bewertenden Geburtsverlauf. Eine reguläre ambulante geburtshilfliche Betreuung ohne Erfordernis der Ausweitung des diagnostischen/therapeutischen präpartalen Managements war so die standardgerechte Konsequenz.« Max Robbespierre: »Entgegen diesen Ausführungen zum fehlenden Wiederauftreten der Risiken aus der ersten Schwangerschaft/Geburt, haben Sie auf Seite 16 Ihrer gutachterlichen Stellungnahme beschrieben, dass die Wiederholung eines Kaiserschnitts, welcher schon zur ersten Geburt zwingend erforderlich gewesen war, den tödlichen Ausgang der Geburt von Erik Orolig mit Sicherheit verhindert hätte. War es daher nicht bereits bei Aufnahme einer nach den Mutterschaftsrichtlinien eindeutig als Risikoschwangere zu klassifizierenden Patientin nicht unerlässlich, bereits zu diesem Zeitpunkt mit entsprechendem medizinischem und organisatorischem Gefahrenbewusstsein zu reagieren? Diese

Frage möchte ich speziell vor dem Hintergrund des ersten direkten ärztlichen Kontakts der Patientin erst 49  Minuten vor der Geburt ihres Sohnes Erik verstanden wissen.« Prof. Dr. Weise: »Die Eckpunkte der Zusammenarbeit von Arzt und Hebamme in der Geburtshilfe sind in der entsprechenden Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe niedergelegt. Dabei wird die Kooperation der Berufsgruppen speziell vor dem Hintergrund der jeweiligen Berufsordnung anhand klarer Vorgaben definiert. Die Hebamme ist dabei im Low-risk-Segment der klinischen Geburtshilfe eigenständig und weisungsungebunden tätig und wechselt nur im Falle des Auftretens definierter, mit erhöhtem Gefährdungspotenzial verbundener geburtshilflicher Zustandsbilder in die Rolle der kooperierenden Gehilfin des Arztes. Zur Bewältigung dieser Tätigkeiten/Maßnahme besteht Arztvorbehalt durch einen ordnungsgemäß ausgebildeten und approbierten Arzt. Im vorliegenden Fall betrifft dies konkret die Aufnahme der Patientin (Z. n. Sectio), die Ordinierung von Opiaten (Meptid) und die i.v.-Bolus-Verabreichung von Notfalltokolyse (PartusistenIntrapartal) zur intrauterinen Reanimation. Da diese Tätigkeiten eigenständig bzw. ohne ärztliche Rücksprache durch Frau Burgeois erfolgten, ist von einer standardwidrigen Unterschreitung der geschuldeten Behandlungsqualität in allen 3 Fällen zu sprechen.« Max Robbespierre: »Wenn Sie sich auf medizinische/organisatorische Sorgfaltsmängel resultierend aus der fehlenden Hinzuziehung des geburtshilflich zuständigen ärztlichen Personals beziehen, betrifft dies dann nicht auch die Interpretation der Kardiotokographiebefunde bis 11:00 Uhr am Entbindungstag?« Prof. Dr. Weise: »Geburtsmedizinisch betrachtet, erfolgte die Patientinnenaufnahme, die Analgetikumverordnung und die Verabreichung von Notfalltokolyse durch Frau Burgeois inhaltlich korrekt. Die mit diesen Handlungen verbundene organisatorische Standardunterschreitung (unterbliebene Arztpräsenz) gewinnt daher in keinem der 3 Sachverhalte schadensbegründende Qualität. Anders ist die Verlaufsbeurteilung der kindlichen Herztonaufzeichnung zu bewerten: Zwischen 9:52 Uhr und 10:15 Uhr (Abbildung 1, 7 Abschn. 9.1.5) treten späte, periodisch

159 9.2 · Fallnachbetrachtung

9

wiederkehrende, an Schweregrad zunehmende Dezeleration (DIP II) auf. Der maximale Herzfrequenzabfall erfolgt zeitlich versetzt zur Wehen-Akme. Die verzögerte Rückkehr zur Grundfrequenz nach Kontraktionsende bedingt den Befund, dass sich die FHF vor Beendigung der Wehe noch nicht wieder normalisiert hat. Erschwerend kommt als negatives Bewertungskriterium ein Oszillationsverlust der FHF während der Dezeleration hinzu.«

Zusatzkriterien der schwerwiegenden fetalen Herztonveränderung wirken sich der fast vollständige, persistierende Oszillationsverlust während der Bradykardie, der verzögerte Wiederanstieg der Herzfrequenz, kompliziert durch eine biphasische Verlaufscharakteristik, wie auch die Fortsetzung der Grundfrequenz auf niedrigerem Niveau, verglichen mit der Baseline vor dem Ereignis, auf die prognostische Bewertung aus.«

Späte Dezelerationen finden sich bei 4–10% aller

Fetale Bradykardien sind prognostisch ungünstig.

Geburten und müssen als Hinweis auf eine unzureichende uteroplazentare O2-Versorgung gewertet werden. Im Regelfall wiederholen sie sich bei jeder Wehe. Sie können jedoch auch vereinzelt oder intermittierend auftreten. Auslöser sind biochemische Veränderungen die zur Stimulation der Chemorezeptoren im zentralen Strombett (v. a. Aortenbogen) führen oder eine unmittelbare myokardiale Depression durch Gewebshypoxie im Rahmen einer metabolischen Azidose. Die resultierende Hypoxämie wird unzureichend kompensiert. Die Chemorezeptoren sprechen im Vergleich zu direkten sympathischen und parasympathischen Reaktionen verzögert an, was den zeitlichen Versatz bis zum Auftreten des Herzfrequenzabfalls erklärt. Bei ausgeprägter metabolischer Azidose wird wegen der assoziierten Herzmuskelhypoxie die mit progredienter Azidämie des Feten sonst zu beobachtende Zunahme der Dezelerationsamplitude aufgehoben. Beim Auftreten von Herzfrequenzmustern geprägt von DIP II ist pro schwerer Dezeleration mit einer durchschnittlichen Abnahme des arteriellen pH-Werts des Feten um 0,014 Einheiten/min und einer Zunahme des Basendefizits um 0,8 mmol/l/ min zu rechnen. Sind zusätzlich negative CTG-Zusatzkriterien (Oszillationsverlust nach der Dezeleration, langsamer Wiederanstieg der Herzfrequenz) zu finden, ist mit signifikant niedrigeren pH-Werten als bei rascher Erholung und guter Oszillationsamplitude zu rechnen.

Bei einem konsekutiven Oszillationsverlust nach der Dezeleration oder einem nur langsamen Wiederanstieg der Herzfrequenz finden sich signifikant niedrigere pH-Werte als bei schneller Erholung und guter Oszillationsamplitude. Von klinischer Relevanz ist hierbei, dass der arterielle pH-Wert während einer schweren (terminalen) fetalen Bradykardie um 0,0001 Einheiten/s = 0,006 Einheiten/min abfällt. Dies erklärt, warum jede längere Zeit andauernde Bradykardie zur metabolischen Azidose des Feten führt. Eine Zeitspanne von mehr als 15 min sollte daher auch bei guten fetalen Reserven nicht überschritten werden. Bei bereits zuvor nachgewiesener fetaler Zustandsverschlechterung verkürzt sich das verbleibende Zeitintervall deutlich. Gleiches gilt, wenn gleichzeitig ein Oszillationsverlust der FHF auftritt oder dieser während mehr als 4 min anhält. Tritt eine derartige Bradykardie mit negativen Zusatzkriterien auf, beträgt der pHAbfall im Mittel 0,0003 Einheiten/s bzw. 0,02 Einheiten/min). Im Fokus des geburtshilflichen Vorgehens liegt daher die möglichst umgehende Ursachenbeseitigung der Bradykardie oder, symptomatisch, die möglichst zeitnahe Entbindung (Zeitfaktor!).

… Prof. Dr. Weise weiter … Prof. Dr. Weise: »Nach 10:43 Uhr (Abbildung 3, 7  Abschn. 9.1.8) weist die Aufzeichnung der FHF auf eine sukzessiv-dramatische Verschlechterung des fetalen Zustands durch die Präsentation eines sinusoidalen Herzfrequenzverlaufs hin.«

… Prof. Dr. Weise weiter … Prof. Dr. Weise: »Von 10:16–10:42 Uhr (Abbildung 2, 7 Abschn. 9.1.5) verändert sich das kindliche Herztonmuster, und es kommt aus den Dezelerationen heraus zur über 13  min anhaltenden prolongierten Bradykardie auf minimal 50 SpM. Als negative

Als Sonderfall eines silenten Oszillationsmusters der FHF ist der sinusoidale fetale Herzfrequenzverlauf zu betrachten. Der durch Verrundung der Umkehrpunkte bei gleichzeitigem Oszillationsverlust (< 2/ min) charakterisierte CTG-Befund ist als Zeichen

160

Kapitel 9 · Überwachung der Geburt

der präterminalen fetalen Kompromittierung (u. a. metabolische Azidose, Anämie) oder von kindlichen Fehlbildungen zu werten. Differzenzialdiagnostisch sind allerdings auch physiologische Auslöser (Daumenlutschen, Saugbewegungen) möglich. … und weiter …

9

Prof. Dr. Weise: »Der ab 9:52 Uhr auftretende und sich im Verlauf kontinuierlich steigernde Schweregrad an CTG-Pathologie machte die unmittelbare Übernahme der Geburtsleitung durch den geburtshilflich verantwortlichen Dr. Glis und ab 10:15 Uhr den Einsatz additiver Überwachungsmethoden (FBA) und/oder die Versorgung des Feten verbessernde Therapiemaßnahmen (Notfalltokolyse) unter der Beschränkung, dass eine unmittelbare Entbindung [noch] nicht möglich war, zwingend erforderlich.« Dr. Peregrin Mason: »Dieses wurde durch Dr. Glis, nachdem er um 11:00 Uhr Kenntnis vom Stand des Geburtsverlaufs von Frau Orolig erlangte, auch so umgesetzt.« Max Robbespierre: »Dieser Einschätzung ist aufgrund des Zeitverlaufs bis zur Geburt von Erik zu widersprechen. Selbst unter der Prämisse der viel zu späten ärztlichen Übernahme der Gebursleitung um 11:00 Uhr durch mehrfache Organisations-wie auch Befunderhebungs- und Behandlungsfehler von Frau Burgeois ist auch dem unmittelbaren Handeln von Dr. Glis Anteil an der zum Tode des Kindes führenden fehlerhaften Betreuungskaskade im Stadtkrankenhaus zuzumessen.« Prof. Dr. Weise: »Nach Ankunft des Geburtshelfers bei der Patientin im Kreißsaal und einer zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als einer Stunde pathologischen FHF ist bei aktuell sinusoidalem Herzfrequenzverlauf die schnellstmögliche Entbindung des Kindes herbeizuführen. Bei vollständigem Muttermundbefund ist individuell abzuwägen, inwiefern dies eine unmittelbare vagniale (vaginal-operative) oder eine Kaiserschnittgeburt bedeutet. In jedem Fall ist ein Überschreiten der sich aus der vorliegenden Gefährdungssituation ergebenden Eile (EE-Zeit 20 min) fachlich nicht akzeptabel. Die tatsächliche Latenz bis zur Geburt des Kindes von 49 min, mitbedingt durch Transport, Umlagerung und z. T. die Wahl des Geburtsmodus ist mit der der Patientin geschuldeten fachlichen Sorgfalt nicht vereinbar.«

Richter Dr. Salomon: »Wenn an den Gutachter keine weiteren Fragen vonseiten der Parteien mehr bestehen, möchte ich Sie, Herr Prof. Weise, zum Abschluss ihrer Ausführungen bitten, die von ihnen bezeichneten Abweichungen vom medizinischen Standard in ihrer Wertigkeit als jeweils einfachen oder groben Regelverstoß zu klassifizieren.« > Von einem einfachen Behandlungsfehler ist zu sprechen, wenn eine medizinische Behandlung nicht nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards erfolgt, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist (§ 630a Abs. 2 BGB). > Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Dieser grobe Pflichtverstoß führt unter Berücksichtigung eines haftungsbegründenden Ursachenzusammenhangs zur Beweislastumkehr zuungunsten des Arztes (§ 630 h BGB).

… das Ende der Sitzung Prof. Dr. Weise: »Während der ersten Phase der stationären Betreuung von Frau Orolig (vor 11:00 Uhr) blieb der gegebene Arztvorbehalt (Patientinnenaufnahme, diverse Medikamentenverordnungen) durch die Hebamme Burgeois unberücksichtigt. Diese Verletzungen des zu fordernden medizinischen Standards wirken sich allerdings nicht kausalitätsstiftend im geburtshilflichen Schadenverlauf aus und erfüllen damit nicht die Kriterien grober Behandlungsfehler. Anders verhält es sich mit der CTG-Interpretation zwischen 9:52 Uhr und 11:00 Uhr. Hier ist insbesondere ab 10:15 Uhr die Nichthinzuziehung ärztlicher Kompetenz inklusive aller sich aus einem derartigen Verhalten ergebenden Überwachungs-/ Behandlungs-/Entbindungsoptionen als grob standardunterschreitend und mit hoher Sicherheit

161 Weiterführende Literatur

ursächlich mit dem fatalen Ausgang des Geburtsvorgangs verknüpft zu werten.« Mit Blick auf die vollständige mündliche Einvernahme des Gutachters und die abschließende Anhörung beider Parteien schließt der Vorsitzende nach 3,5 Stunden die Verhandlung. Der Gutachter wird mit Dank für seine Ausführungen entlassen. Den Prozessbeteiligten wird vom Vorsitzenden bereits zu diesem Zeitpunkt angezeigt, dass der Senat in Würdigung der Fakten des Behandlungsverlaufs und ergänzt durch die gutachterlichen Einlassungen die Ansprüche des Klägers, vertreten durch seine Eltern, auf Schadensersatz und Schmerzensgeld bejaht. Mit Verweis auf den Urteilsverkündigungstermin in 3 Wochen sollen die Urteilsgründe und die Festlegung der Höhe der zugesprochenen Entschädigung den Prozessparteien schriftlich mitgeteilt werden. Die Sitzung endet um 12:35 Uhr.

Weiterführende Literatur American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) (2014) Practice Bulletin No 145. Antepartum fetal surveillance. Obstet Gynecol 124(1): 182–192 DGGG AWMF S1-Leitlinie 015/036 (2013) Anwendung des CTG während Schwangerschaft und Geburt. http://www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/015-036l_S1_CTG_Schwangerschaft_Geburt_2014-06.pdf DGGG AWMF S1-Leitlinie 015/030 (2012) Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Arzt und Hebamme in der Geburtshilfe – aus ärztlicher Sicht. http://www.awmf.org/ uploads/tx_szleitlinien/015-036l_S1_CTG_Schwangerschaft_Geburt_2014-06.pdf Genzel-Boroviczény O, Roos R (Hrsg) (2015) Checkliste Neonatologie, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart Rath W, Gembruch U, Schmidt S (2010) Geburtshilfe und Perinatalmedizin, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart RCOG NICE Clinical Guideline CG 190 (2014) Intrapartum care for healthy women and babies. https://www.nice.org.uk/ guidance/cg190 Schneider H, Husslein P, Schneider KTM (2010) Die Geburtshilfe, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Strauss A, Gnirs JL (2007) Fetale Zustandsdiagnostik. In: Wischnik A (Hrsg) Kompendium Gynäkologie und Geburtshilfe. 12. Ergänzungslieferung, ecomed, Landsberg

9

163

Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht Alexander Strauss

10.1

Falldarstellung – 165

10.1.1

Ist die Einleitungsindikation im vorliegenden Fall nachvollziehbar? Welche weiteren Gründe einer Geburtsinduktion sind evidenzbasiert? – 165 Was meint Frau Dr. Helfermann zu den kardiotokographischen Überwachungsparametern während der Austreibungsperiode von Frau Forstners Geburt? – 166 Welche Diagnose stellen Sie? Welche Risikofaktoren bereiten den Ursachen dieses geburtshilflichen Notfalls den Weg? – 168 An welchen klinischen Aspekten (u. a. . Abb. 10.2) macht die Hebamme ihre Diagnose fest? – 169 Welche Risiken/Schädigungsmöglichkeiten für Mutter und Kind sind mit einer Schulterdystokie verbunden? – 170 Wie läuft das in dieser Situation meist zuerst durchgeführte geburtshilfliche Manöver zur Lösung der vorderen kindlichen Schulter konkret ab? Warum kann es funktionieren? – 171 Welche geburtshilflichen Maßnahmen sind bei Schulterdystokie zu ergreifen (. Tab. 10.2)? – 171 Welche geburtshilflichen Handgriffe zur Lösung des hohen ­Schultergeradstands sind im vorliegenden Fall erfolglos und welche mit Erfolg zum Einsatz gekommen? – 173 Welche Formen der Läsion des Plexus brachialis sind zu unterscheiden? – 174 Plexus-brachialis-Parese: Stehen Präventionsoptionen zur Verfügung? – 174

10.1.2

10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6

10.1.7 10.1.8

10.1.9 10.1.10

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_10

10

10.1.11

10.1.12

Welche prognostischen Fragen verbunden mit welchen Managementempfehlungen sind im Entlassungsgespräch zu thematisieren? – 175 Welche elterliche Diagnose ist hier nicht ganz unerwartet anzunehmen? – 177

10.2

Fallnachbetrachtung – 178

10.2.1

10.2.3

Welche medizinischen/organisatorischen Schwachstellen/Fehler erkennen Sie im geschilderten Fall? – 178 Wann und warum erfolgt das geburtshilfliche Vorgehen im Widerspruch zum geforderten medizinischen Standard? – 178 Forensische Aspekte der Schulterdystokie – 179



Weiterführende Literatur – 180

10.2.2

165 10.1 · Falldarstellung

10.1 Falldarstellung

Prolog Es war für mich eine Laune des Schicksals, in die Familie Forstner hineingeboren zu werden. Obwohl die Wurzel allen Übels für mich nun schon so lange zurückliegt, lassen sich die Auswirkungen meines Eintritts in dieses Leben noch heute nicht übersehen. Die Erinnerungen an meine Geburt und ihre Folgen sind mir seit damals stets mehr als nur bruchstückhaft gegenwärtig. Immer wieder durchlebe ich die Stunden meines Geburtstags. Die Reaktionen meiner Eltern und die Besorgnis aller anderen, an meiner Entbindung beteiligten Personen. Lebhaft sind mir die Tage in der Klinik, aber auch die Zeit danach noch immer präsent. Der irrationale Euphemismus »die Zeit würde alle Wunden heilen« blendet dabei entscheidende Handicaps meines Lebenswegs einfach aus.

Träume sind Schäume? Seit Jahren zieht im Traum immer wieder der 24.11.1998, so lebendig an mir vorüber, als wäre es erst gestern gewesen. Meine Mama war bereits eine erfahrene Mutter. Von 2 Kindern, meiner 4-jährigen Schwester Christine und meinem gerade seinen 2. Geburtstag feiernden Bruder Constantin, war sie schon entbunden worden. Als sie mit mir schwanger wurde, war sie 38  Jahre alt und gerade dabei, ihren Beruf als Friseurin wieder aufzunehmen. »Ich habe alle meine Kinder normal entbunden. Doch jedes Mal gab es Komplikationen«, sagte sie immer mit etwas Wehmut in der Stimme. Bei meiner Schwester, die mit der Saugglocke geholt wurde, musste nachher noch ausgeschabt werden, da der Mutterkuchen nicht vollständig gewesen war. Constantin dagegen hatte die Nabelschnur um den Hals. Und schwer, schwer waren wir alle. Weit über 4 kg. Dennoch, so hatten es sich meine Eltern dieses Mal vorgestellt, beim geplantermaßen letzten Kind wollten sie es ganz anders – glatt und schön – schaffen.

Meine Hebamme oder die Hebamme meiner Mutter? In der SSW 39 + 2 haben sie meine Geburt dann eingeleitet, da ich mithilfe von Ultraschalluntersuchungen schon als recht kräftig eingeschätzt wurde und

10

meiner Mama ganz ordentliche Rückenschmerzen verursachte. 4150 g, so dachten die Ärzte, würde ich als drittes Kind von Adelheid und Gianni Forstner zur Geburt wohl wiegen. Meine Mutter war dabei mit ihren 154 cm damals ziemlich zierlich, sie hatte in der Schwangerschaft aber für uns beide gegessen. Ganze 19 kg hatte sie zum Ende der Schwangerschaft, bei ihren dann 68 kg, zugenommen. Ein während der 28. SSW durchgeführter Glukosetoleranztest hatte auffällige Werte und somit Anlass zu einer zuckerarmen Diät ergeben. Über die anschließend beginnende tägliche »Fingerpiekserei« jammerte meine Mama unentwegt: »Warum nur so häufig, wenn die Werte immer in Ordnung sind. Das nervt!« Ani Niksag, eine ebenso freundliche wie rundliche Dame, stellte sich als »unsere Hebamme« vor. Sie machte meiner Mutter und auch mir Mut: »Dies ist Ihr drittes Kind, und da sollte alles ganz natürlich und wie von alleine gehen.« Auch eine Einleitung würde dem nicht widersprechen. »Das müssen Sie sich einfach wie einen winzigen Schubs in die richtige Richtung vorstellen.«

10.1.1 Ist die Einleitungsindikation

im vorliegenden Fall nachvollziehbar? Welche weiteren Gründe einer Geburtsinduktion sind evidenzbasiert?

Die peripartale Ausgangssituation von Frau Forstner weist als Gründe der vorzeitigen Schwangerschaftsbeendigung durch Geburtseinleitung ein sonographisch geschätztes Kindsgewicht > 95. Perzentile bei diätetisch geführtem Gestationsdiabetes (GDM) und die subjektive mütterliche Beschwerdesymptomatik aus (. Tab. 10.1). Durch eine Geburtseinleitung aufgrund fetaler Makrosomie weisen klinische Beobachtungsstudien (9) zwar eine signifikante Reduktion der Kaiserschnittwahrscheinlichkeit – RR 0,39 (95% KI 0,30– 0,50) –, allerdings unveränderte Raten an vaginal operativen Geburten, Schulterdystokien, Parametern der kindlichen Frühmorbidität (Apgar-Score) wie auch der perinatalen Mortalität nach. 3 randomisierte kontrollierte Studien zeigen dagegen einen deutlich positiven Effekt der frühzeitigen Geburtseinleitung

166

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

. Tab. 10.1  Indikationen der Geburtseinleitung Evidenzbasiert vorteilhaft

Keine eindeutige Evidenz

Evidenzbasiert nicht vorteilhaft

Terminüberschreitung

Insulinpflichtiger Diabetes mellitus (DM)/GDM

Makrosomie nichtdiabetischer Genese

≥ SSW 41 + 0

≥ SSW 40 + 0 Vorzeitiger Blasensprung

Zwillinge

> SSW 34 + 0

SSW ≥ 38 + 0

Intrauterine Wachstumsrestriktion (IUGR) in Terminnähe

Milde Präeklampsie/SIH

Makrosomie diabetischer Genese

GDM und Schätzgewicht < 4000 g

SSW ≥ 38 + 0

10

makrosom eingeschätzter Feten zur Schulterdystokievermeidung – RR 0,47 (95%- KI 0,26–0,86). Sectiones, vaginal-operative Geburten, Apgar-Score, pH-Werte, Geburtsverletzungen, Blutungen, Sepsis und Clavicula-Frakturen sind dagegen unabhängig von einer Geburtseinleitung verglichen mit expektativem geburtshilflichem Vorgehen nicht unterschiedlich verteilt. Dem potenziellen Nutzen von Geburtseinleitungen ist dabei stets eine Risikoabwägung unerwünschter Wirkungen gegenüberzustellen: 44Überstimulation ohne Veränderungen der fetalen Herzfrequenz (CTG), 44Überstimulation mit CTG Veränderungen – Hyperstimulationssyndrom (0,6–8%), 44Steigerung der Rate geburtshilflicher Interventionen, 44Falsche (→ enttäuschte) Erwartungen an die Geburtseinleitung (Arzt + Patientin/Umfeld). Meine Geburt und Mutters Entbindung … Es verläuft alles reibungslos. Meine Mutter bekommt zunächst ein Gel gesetzt und 5 Stunden später folgt der Wehentropf. Ich bekomme von alledem kaum etwas mit. Aber eine Dreiviertelstunde nach Infusionsbeginn wird mein angenehmer Bewegungsspielraum im Bauch meiner Mama plötzlich immer kleiner. Hebamme Ani spricht von klarem Fruchtwasserabgang. Die nun regelmäßiger auftretenden Krämpfe meiner Mama werden immer stärker und drücken zusätzlich die Wände meiner Behausung ganz schön nach innen. Aber damit nicht genug. Nach weiteren 2 Stunden beginnt meine Mama plötzlich ganz stark zu atmen und zu stöhnen. So habe ich sie noch nie erlebt. Eine PDA – was auch immer das ist – wird bei ihr gelegt.

Anschließend vernehme ich im Hintergrund die mir nun schon vertraute Stimme Anis, die meine Mutter mit »Luft tief einatmen, anhalten und ganz stark nach unten pressen!« wie eine Leistungssportlerin anfeuert. Diese Presswehen quetschen mich jetzt so richtig unangenehm zusammen. Ich bereite mich gedanklich auf die Unannehmlichkeiten eines Aufenthaltswechsels vor, aber irgendwie dauert es. »Pressen, pressen, pressen« scheint nicht zu reichen. Vom Apparat neben dem Kreißbett wird daher Dr. Daniela Helfermann angerufen und zu uns gebeten. Die flinke Kreißsaalärztin ist nur wenige Augenblicke später anwesend und untersucht meine Mutter: vollständiger Muttermund, Pfeilnaht quer, Geburtsgeschwulst, Höhenstand des VT +1. Zum ersten Mal kann ich aus der Unterhaltung zwischen Hebamme Ani und unserer Ärztin erfahren, dass meine Herztöne offenbar die ganze Zeit aufgezeichnet worden sind. Das hatte ich überhaupt nicht bemerkt. Aktuell so scheint es, stellt diese Registrierung auch noch ein Problem dar, da aufgrund ihres Verlaufs sogar der Chefarzt alarmiert wird.

10.1.2 Was meint Frau Dr. Helfermann

zu den kardiotokographischen Überwachungsparametern während der Austreibungsperiode von Frau Forstners Geburt?

CTG (. Abb. 10.1)  Regelmäßige frühe variable mittelschwere bis schwere Dezelerationen (bis minimal 70 SpM) mit verzögertem Wiederanstieg der fetalen Herzfrequenz. Regelmäßige, nur diskontinuierlich

. Abb. 10.1  Kardiotokographie während der Austreibungsperiode

10.1 · Falldarstellung 167

10

168

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

aufgezeichnete Wehentätigkeit alle 2–3 min. Nach PDA-Anlage prolongierte Dezeleration (über 8 min) bei erhaltener Oszillation. Befundinterpretation  Pathologische fetale Herzfrequenz in der Austreibungsperiode → drohende

kindliche Hypoxie.

… ein Ende kommt in Sicht?

10

Dass Dr. Egon Hercules nun die Geburtsleitung übernimmt, kann ich aus den von mir aufgeschnappten Sätzen ableiten. Vorgestellt hat er sich bei uns nicht. »Chef, wir haben hier eine sich nun über fast 90 Minuten hinziehende Pressperiode, und das CTG … « Frau Dr. Helfermann versucht zu informieren, wird aber durch »Nun lassen Sie mich erst einmal selber sehen!« von einer mir bis dahin unbekannten Stimme unterbrochen. Die Handgriffe, welche immer wieder »Untersuchung« genannt werden und die an meinem Scheitel so komisch kratzten, kenne ich inzwischen ja schon von der Hebamme und der Ärztin. Aber Dr. Hercules ist diesbezüglich deutlich weniger zartfühlend. »Keine Befundänderung. Tropf auf 90 steigern. Geben Sie mir mal die Glocke. Die kleine Maus kommt einfach nicht um die Kurve. Das haben wir gleich!« lautet sein knappes Resümee. »Kleine Maus! Na das werden wir ja gleich mal sehen, wer hier klein ist!«, denke ich noch, als das Gekrabbel an meinem Kopf schon wieder beginnt. Nun wird so stark auf den Bauch meiner Mutter gedrückt, dass sie schreit, und irgendetwas zieht unglaublich unangenehm an meiner Kopfhaut. Dabei wird es schrittweise immer lauter. Meine Mutter schreit. Hebamme Ani fordert: »Pressen!« Der Chefarzt herrscht meine Mutter, an sich nicht so zu gebärden. Mein Papa versucht, meine Mutter zu beruhigen, ist aber selbst in heller Aufregung. Was war da denn eigentlich los? Nach dreimaliger Wiederholung dieser Tortur wird es dann plötzlich taghell, und ich höre: »Gott sei Dank, der Kopf ist da.« Das war mein Vater. »Wie schön, Dich kennenzulernen«, denke ich noch, doch was dann folgt, ist das Schlimmste, was mir bisher passiert ist. Als ich merke, dass meine Hebamme unruhig wird, kommt mir der erste Verdacht, dass dieses so halb in meiner Mama zu stecken und weder vor noch zurück zu können kein wünschenswerter

Zustand ist. An meinem Kopf wird, erst durch die Hebamme und dann durch Dr. Hercules, gebogen und gezogen. Meine Mama schreit und presst immer wieder wild dazwischen. Aber dadurch komme ich auch keinen Deut weiter zur Welt.

10.1.3 Welche Diagnose stellen

Sie? Welche Risikofaktoren bereiten den Ursachen dieses geburtshilflichen Notfalls den Weg?

Diagnose  Schulterdystokie in Form eines hohen Schultergeradstands. > Ein hoher Schultergeradstand stellt einen meist überraschend auftretenden geburtshilflichen Notfall mit niedriger Inzidenz dar, der sofortiges zielgerichtetes Handeln erfordert.

Als Schulterdystokien werden Einstellungsanomalien bezeichnet, welche nach der Geburt des Kopfes die vollständige Entwicklung des Kindes erschweren und verzögern. Zugrunde liegt eine regelwidrige Einstellung des Schultergürtels in Abhängigkeit vom Höhenstand des Kopfes. Geburtsmechanisch resultiert ein Geburtsstillstand nach der Geburt des kindlichen Kopfes infolge fehlender Schulterdrehung. Die Inzidenz beträgt 0,1–1,7% aller Geburten. Eine Nervenläsion des Plexus brachialis als traumatischer Folgezustand derartiger Schulterdystokien ist dagegen nur bei 0,15% aller Neugeborenen zu beklagen. Einteilung 

44Hoher Schultergeradstand: Längseinstellung der Schultern im Beckeneingang, sodass die vordere Schulter an der Symphyse mechanisch blockiert wird und das Kind mit dem Schultergürtel nicht in das Becken eintreten kann. 44Tiefer Schulterquerstand: Ausbleiben der Rotation der Schultern in Beckenmitte, sodass die Schultern am Beckenboden, zwischen den Spinae ischiadicae, quer stehen.

169 10.1 · Falldarstellung

Risikofaktoren für eine Schulterdystokie 55Prädisponierende Faktoren (Anamnese) –– Fetale Makrosomie: Inzidenz – Zusammenhang zwischen Schulterdystokierisiko und fetalem Gewicht –– < 4000 g → 0,4% –– ≥ 4000 g → 2–3% (15-fach erhöhtes Risiko) –– ≥ 4500 g → 10–11% (55-fach erhöhtes Risiko) –– ≥ 5000 g → 40% (200-fach erhöhtes Risiko) –– Dennoch treten 48% aller Schulterdystokien bei einem Gewicht < 4000 g auf –– (Gestations-)Diabetes mellitus – (G-) x Makrosomie ist das Risiko einer Schulterdystokie durch (G-)DM auch per se erhöht. Mütter mit (G-)DM weisen ein 4- bis 6-faches Schulterdystokierisiko verglichen mit nichtdiabetischen Müttern unabhängig vom Geburtsgewicht ihrer Kinder auf. Dies ist dem überproportionierten Wachstum von insulinsensitivem Gewebe im Rumpfund Schulterbereich geschuldet. Dadurch übersteigen die Schultermaße die Werte des Kopfumfangs. –– Adipositas der Mutter (40% aller Schulterdystokien betreffen übergewichtige Schwangere) –– Übermäßig starke maternale Gewichtszunahme während der Schwangerschaft (Risikoverdopplung) –– Geringe mütterliche Körperhöhe (< 155 cm) –– Mütterliche Beckenanomalien –– Multiparität (I. Kind 0,3%, II. Kind 0,5%, III. Kind 0,6%, ≥ IV. Kind 0,7%) –– Z. n. Schulterdystokie (Wiederholungsrisiko 2–25%, 5- bis 63-faches Schulterdystokierisiko), Z. n. traumatischer Plexusparese (73-faches Risiko)

10

55Faktoren des Geburtsverlaufs 55Terminüberschreitung (knapp 50% → ≥ SSW 41 + 0) 55Einstellungsanomalien 55Geburtseinleitung/medizinische Weheninduktion (3-faches Schulterdystokierisiko) 55Protrahierte Geburt (verlängerte Austreibungsperiode) 55Wehentempostörungen (Wehensturm) 55Forciertes geburtshilfliches Vorgehen: verfrühtes Mitpressen, Anwendung des Kristeller-Handgriffs 55Vaginal-operative Entbindung aus Beckenmitte: Rumpf hat zu wenig Zeit, eine regelrechte Einstellung zu finden (3-faches Schulterdystokierisiko, 6-faches Risiko einer Parese des Plexus brachialis)

> Die Prädiktion einer Schulterdystokie ist trotz bekannter anamnestischer wie klinischer Risikofaktoren nur unzureichend sicher möglich, sodass die Entwicklung eines hohen Schultergeradstands bei keiner vaginalen Geburt auszuschließen ist.

… Notfall … »Die Schulter hängt fest«, presst Hebamme Ani ­z wischen ihren handfesten Bemühungen, mich ganz auf die Welt zu holen, hervor. »Schulterdystokie!«

10.1.4 An welchen klinischen

Aspekten (u. a. . Abb. 10.2) macht die Hebamme ihre Diagnose fest?

44Auf die Vulva aufgesetzter kindlicher Kopf (Turtle-Phänomen), 44Kein weiteres Tiefertreten des Kopfes/des Kindes > 60 s, 44als Ursache wirkt ein hoher Schultergeradstand des Kindes am Beckeneigang.

170

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

10.1.5 Welche Risiken/

Schädigungsmöglichkeiten für Mutter und Kind sind mit einer Schulterdystokie verbunden?

Komplikationen/Folgen eines hohen Schultergeradstands

. Abb. 10.2  Klinischer Aspekt des hohen Schultergeradstands

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Diagnostik des hohen Schultergeradstands Nach der Geburt des kindlichen Kopfes zieht dieser sich wieder in Richtung des Geburtskanals zurück und scheint der Vulva förmlich aufgepresst (TurtlePhänomen). Das Vorliegen einer Schulterdystokie zeigt sich in der späten Austreibungsphase auch am Geburtsstillstand nach Geburt des retrahierten Kopfes und am Unterbleiben der erwarteten äußeren Rotation. Die Latenz zwischen Kopf- und Rumpfgeburt ist verlängert (> 60 s). Im weiteren Verlauf führt eine zunehmende venöse Stauung zur bläulich-lividen Gesichtshautverfärbung des Kindes (DD: Zeichen einer fetalen Hypoxie). Eine manifeste hypoxisch-ischämische Gefährdung entwickelt sich dabei allerdings erst bei längerdauerndem Bestehen der Schulterdystokie.

Aufregung … Aus den Augenwinkeln sehe ich immer mehr Personen – Narkoseärzte und Kinderärzte wie ich später erfahren würde – in unserem Kreißsaal auftauchen. Auch eine weitere Hebamme versucht meiner Mama, die jetzt sehr weint, zur Seite zu stehen. Es wird sehr hektisch.

Kind: 55Schädigung des Plexus brachialis (13%) –– Erb-Plexuslähmung (»obere« Plexuslähmung) (85%) –– Klumpke-Plexuslähmung (»untere« Plexuslähmung) (2–3%) 55Kindliche Hypoxie (bei gleichzeitiger Plexusläsion) (13%) –– Schwere Azidose (4,3%) –– Mekonium-Aspiration (2,9%) –– Asphyxie mit neurologischer Dauerschädigung (1,8–2,9%) –– Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (0,3%) 55Pneumothorax 55Halssympathikus-Läsion (Horner-Trias) 55Hämorrhagische Kontrakturen 55Torticollis (Einblutung M. sternocleidomastoideus) 55Fraktur –– Clavicula (1,7–9,5%) –– Humerus (0,1–4,2%) 55Mortalität –– Perinatal (2%) –– Neonatal (bis 0,35%) Mutter: 55Peripartale Hämorrhagie – PPH (11–14%) –– Intrapartaler Blutverlust > 1000 ml (68%) 55Geburtsverletzungen –– Höhergradige Dammrisse (3,8%) –– Scheidenriss (19%) –– Zervixriss (10%) –– Blasenverletzung –– Symphysensprengung/-lockerung –– Beckenbodentrauma

171 10.1 · Falldarstellung

55Uterusruptur (1%) 55Inguinaltunnel-Syndrom/Meralgia paraesthetica: Nervenkompressionssyndrom/Neuropathie des N. femoralis cutaneus lateralis im Bereich des Leistenbands oder des Plexus lumbalis

10

> McRoberts-Manöver = Manöver der ersten Wahl: Durch die (mehrfache) starke Flexion mit anschließender maximaler Extension beider mütterlicher Beine in den Hüftgelenken wird die Symphyse von kranial nach kaudal verschoben und die Lösung der blockierten vorderen kindlichen Schulter durch Beckeneingangsvergrößerung in 54–90% der Fälle erreicht.

… dicke Luft … So langsam bekomme auch ich Angst, dass etwas nicht so funktionieren könnte, wie ich es gedacht hatte. Und schon geht es los.

10.1.6 Wie läuft das in dieser Situation

meist zuerst durchgeführte geburtshilfliche Manöver zur Lösung der vorderen kindlichen Schulter konkret ab? Warum kann es funktionieren?

Aus der Ausgangsstellung (Rücken-/Seitenlage der Gebärdenden) werden im Rahmen des McRoberts-Manövers beide Beine der Patientin gleichzeitig und mithilfe des geburtshilflichen Personals (pro Bein jeweils eine Person) teils aktiv, teils passiv in den Hüftgelenken überstreckt, um dann so hoch wie möglich in Richtung Brustkorb, unter gleichzeitiger Flexion in den Kniegelenken, gebeugt zu werden. Dieses Manöver wird vor Überprüfung seines geburtsmechanischen Erfolgs rasch 3-mal hintereinander ausgeführt. Durch die Streckung der Beine wird die Symphyse dabei nach kaudal abgesenkt und der Beckeneingang um ca. 5 mm vergrößert. Die anschließende Beugung der Hüftgelenke verlagert die Symphyse nach kranial (über die blockierte kindliche Schulter hinweg). Zusätzlich bewirkt das McRoberts-Manöver kleine Bewegungen in den Iliosakralgelenken und somit Beweglichkeit im Becken, welche zur Überwindung des Geburtsstillstands beiträgt. Unterstützend kann transabdominell suprasymphysärer Druck in der Technik nach Mazzanti oder nach Rubin mit den beschriebenen Handgriffen des McRoberts-Manövers kombiniert werden.

… noch dickere Luft … Die Hebammen werfen meine Mama immer wieder hin und her. Auf die Knie und wieder zurück. Beine hoch und runter. In der Zwischenzeit wird an meinem Kopf geruckelt, geschraubt und so gedreht, dass ich beinahe meinen Rücken sehen könnte. Nichts rührt sich. Aus heiterem Himmel wird eine schrecklich große Schere direkt vor meiner Nase angesetzt und schneidet, mit den offenbar an mich gerichteten Worten »Jetzt kriegst du endlich den erforderlichen Platz zum Rauskommen« in meine Mama hinein. Blut spritzt. Ich kneife die Augen ganz fest zu.

10.1.7 Welche geburtshilflichen

Maßnahmen sind bei Schulterdystokie zu ergreifen (. Tab. 10.2)?

Die Anlage/Erweiterung einer Episiotomie weist bei hohem Schultergeradstrand keinen direkten Effekt auf die Lösung der an der Symphyse blockierten vorderen Schulter auf, da der Dammschnitt den Scheidenausgang und nicht den Beckeneingang erweitert. Allerdings kann der Dammschnitt zur Erleichterung der Durchführung spezifischer Manöver zur Überwindung des hohen Schultergeradstands (Manöver nach Woods, Rubin, Jacquemier u. a.) Handlungsspielraum für den Operateur schaffen. Der Einsatz des Kristeller-Handgriffs ist bei hohem Schultergeradstand differenziert zu betrachten. Bei noch fixierter Schulter ist die Anwendung kontraindiziert . Wurde die Schulter allerdings bereits gelöst, kann es zur Vermeidung/Verminderung einer (drohenden) fetalen Hypoxie sinnvoll

172

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

. Tab. 10.2  Klinisches Vorgehen bei Schulterdystokie Hoher Schultergeradstand

Tiefer Schulterquerstand

Allgemeine Maßnahmen: Ruhe bewahren Unterstützung organisieren (erfahrener Geburtshelfer, Hebamme, Neonatologie) Herstellung ausreichender Analgesie Abstellen einer evtl. laufenden Oxytocin-Infusion

Patientin mitpressen lassen

Ggf. Tokolyse

Ggf. Oxytocin-Infusion

Kein weiteres Forcieren des Geburtsvorgangs (u. a. Traktion, Kristeller-Handgriff ) Entleerung der Harnblase Spezifische Handgriffe/Manöver (invasive Arbeitstechniken):

10

McRoberts-Manöver (3 ×): Mehrmaliges Überstrecken und Beugen der mütterlichen Beine führt neben einer Bewegung in den Iliosakralgelenken zur Kaudalverschiebung der Symphyse und erweitert den Beckeneingang; Kombination mit suprasymphysärem Druck möglich

Anlage/Erweiterung einer Episiotomie

Manöver nach Gaskin: , Positionswechsel (ggf. wiederholt) aus der Rücken-/Seitenlage in den Vierfüßlerstand zur Abstandserweiterung der Distanz zwischen Promontorium und Symphyse

Den kindlichen Kopf dammwärts leiten, um die Schultern tiefer in das Becken zu bringen und in der Kreuzbeinhöhle (mehr) Raum zur Rotation zu geben

Suprasymphysärer (transabdomineller) Druck Nach Mazzanti: Druck nach dorsal, mittig auf die vordere (suprasymphysär blockierte) Schulter

Nach Rubin: Druck nach lateral, von seitlich auf den Rücken des Kindes

Manuelle innere Rotation der gerade stehenden Schultern in einen queren Durchmesser Manöver nach Rubin: Mit auf der fetalen Rückenseite eingebrachten Fingern wird versucht, die vordere Schulter durch Druck und unter Adduktion des Oberarms in den queren Durchmesser zu drehen

Manöver nach Woods: Mit auf der Bauchseite des Feten eingebrachten Fingern wird versucht, die hintere Schulter in den queren Durchmesser zu drehen

Entwicklung des hinteren Arms aus der Sakralhöhle nach Jacquemier: Ventrales Herausstreifen des vom Operateur von dorsal an der Hand gefassten, im Ellenbogen gebeugten hinteren Arms des Kindes. Hierzu wird der hintere Arm unter Zug des Kopfes nach oben bei erster Stellung durch Eingehen mit der linken Hand, bei zweiter Stellung mit der rechten Hand am seitlichen Thorax entlang herunterführt; dabei wird die Fraktur der Clavicula (Humerus) in Kauf genommen (5–7%) Symphysiotomie: Durchtrennung der Syndesmose zwischen den beiden Schambeinästen vergrößert die Beckeneingangsmaße

Manuelle Rotation der quer stehenden Schultern in den geraden Durchmesser

173 10.1 · Falldarstellung

10

. Tab. 10.2  Fortsetzung Hoher Schultergeradstand

Tiefer Schulterquerstand

Manöver nach Zavanelli: Zurückstopfen des kindlichen Kopfes entgegengesetzt der Geburtsmechanik in den Geburtskanal und anschließende Entbindung durch Sectio caesarea (Ultima Ratio) Kleidotomie: Gezielte Durchtrennung des kindlichen Schlüsselbeins Abdominal rescue: Notfall-Laparotomie mit transabdominaler, offener Rotation der Schulter in den Geburtskanal (→ vaginale Geburt)

sein, die Rumpfentwicklung durch Druck auf den Fundus uteri zu unterstützen/zu beschleunigen. > Der hohe Schultergeradstand stellt ein derart seltenes Ereignis dar, dass es aufgrund seiner Inzidenz (0,5% aller Geburten) im klinischen Alltag nicht möglich ist, ausreichende Praxis im Umgang mit dieser perinatologischen Notfallsituation zu gewinnen. Die erfolgreiche Bewältigung einer Schulterdystokie ist daher an die Kenntnis und Befolgung klarer Risikomanagementpläne (verbindlich niedergelegte Handlungsalgorithmen) wie auch an verpflichtendes regelmäßiges Simulationstraining der erforderlichen Manöver gebunden.

Licht am Ende des Tunnels … Nachdem auch kräftiges Drücken auf den Bauch meiner Mama – und das so stark, dass ich es sogar an meiner linken Schulter spüren kann – nichts an meiner beengten Zwangslage ändert, heißt es nun plötzlich: »Narkose für Frau Forstner.« Nachdem ich in meiner Angst gefühlt bestimmt zehnmal bis hundert hätte zählen können, gelingt es Dr. Hercules endlich, mich durch sehr unangenehmes Drücken auf meine linke Brustpartie weiterrutschen zu lassen. Zuletzt kann ich nun ganz aus meiner Mama, in welcher ich so lange gesteckt hatte, heraus. Ohne mit ihr kuscheln zu können, werde ich gleich von ihr weggetragen, und neue Ärzte und Schwestern beginnen sich um mich zu kümmern. Ich muss

schon sagen, ich bin ganz schön erschöpft, aber am meisten schmerzt meine linke Schulter.

10.1.8 Welche geburtshilflichen

Handgriffe zur Lösung des hohen Schultergeradstands sind im vorliegenden Fall erfolglos und welche mit Erfolg zum Einsatz gekommen?

Bewertung der eingesetzten geburtshilflichen Eingriffe 

44Erfolglos: McRoberts-Manöver, Gaskin-Manöver, suprasymphysärer Druck. 44Erfolgreich: Manöver nach Woods.

… letztlich angekommen, aber schlaff … Meine Mama erzählt mir später immer: »Nachdem Deine Geburt schließlich vorbei war, war ich von der Narkose und vom Weinen noch total benebelt. Als sie mir Dich endlich auf den Bauch gaben, konnte ich Dich gar nicht richtig sehen, aber ich werde nie vergessen, wie Du gerochen hast.« In den nächsten Tagen wede ich immer wieder untersucht. Alle sind sehr um meinen linken Arm besorgt. Die Schmerzen sind fast gänzlich vergangen. Immer wieder wird mein Arm hochgenommen, er fällt dann aber, wenn er nicht festgehalten wird, einfach herunter. Ganz anders als auf der rechten Seite.

174

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

10.1.9 Welche Formen der Läsion

des Plexus brachialis sind zu unterscheiden?

Irreversible Verletzungen (axonale Kontinuitätsunterbrechung) des Halsnervenbündels sind ab einer Plexusdehnung von 20% zu erwarten. Die Zugkräfte, welche zu derartigen Nervenplexus-Belastungen führen, sind bei fixierter vorderer Schulter und Zugrichtung nach dorsal mit 35–40 kp erreicht. Passagere Lähmungserscheinungen können dagegen auch durch Druckbelastungen der Schulter an der Symphyse entstehen. Diese weisen allerdings die Charakteristika des axonalen Kontinuitätserhalts wie auch der Reversibilität auf.

Formen geburtstraumatischer Plexusparesen

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55Erb-Lähmung (85%): –– Vom neuralen Schaden sind mit den Nervenwurzeln C5 und C6 die »oberen« Anteile des Plexus brachialis betroffen. Die Schulter-Arm-Muskulatur (M. deltoideus, M. biceps, M. brachioradialis, M. supinator, Mm. supraund infraspinatus) ist schlaff-atrophisch gelähmt –– Funktionseinschränkung von Abduktion und Außenrotation der Schulter –– Lähmung der Beuger und Supinatoren des Unterarms –– Funktionseinschränkung der Extension im Handgelenk und der Finger –– Schultertiefstand –– Handgreifreflex erhalten –– Prognostisch ist mit einer Restitution nach einem Jahr in 90% der Fälle zu rechnen. Persistierende Lähmungserscheinungen treten in 5–8% der Fälle auf 55Klumpke-Lähmung (2–3%): –– Die Läsion der Nervenwurzeln im Bereich von C7 bis Th1 führt zur funktionellen Einschränkung der Hand- und Fingerbeuger wie auch zur

Beeinträchtigung der Abduktion und Adduktion der Finger. Diese untere Plexus-Lähmung kommt durchwegs nur in Kombination mit weiteren Nervenwurzelausfällen vor –– Für die Klumpke-Lähmung sind Restitutionsraten von nur 40% bei deutlich mehr als 10% irreversiblen Paresen zu erwarten

> 15% der Plexus-brachialis-Schäden und 50% aller Arm-/Clavicula-Frakturen erfolgen bei Geburten ohne die klinischen Zeichen einer Schulterdystokie.

was ich schon immer wissen wollte … Meinen Eltern wird auf ihre Bedenken zur Funktion meines linken Arms und der Hand einmal Geduld und Schonung und einmal Aktivität und Krankengymnastik empfohlen. Sie sollten nach vorne blicken und nicht zurück. Nach diesem langen und schwierigen Geburtsverlauf sei ich bis auf den Arm doch ganz gesund. Ich bin mit diesen Auskünften ganz und gar nicht zufrieden. Dies auch, weil meine Mutter auf die Frage, ob das Ganze, besonders bei einem dritten Kind, denn nicht vermeidbar gewesen wäre, nur Ausweichendes zu hören bekommt. »Halten die uns für blöd? Ich hab Arm- und nicht Kopfprobleme!«

Plexus-brachialis-Parese: Stehen Präventionsoptionen zur Verfügung?

10.1.10

Die Abwägung des spezifischen anamnestischen/ klinischen Risikos für die Entwicklung eines hohen Schultergeradstands (7 Abschn. 10.1.3, Übersicht: Risikofaktoren für eine Schulterdystokie, prädisponierende Faktoren) ist weniger auf die Schulterdystokie als solche, sondern vielmehr auf deren Folgen (v. a. Nervenplexus-Schaden, Asphyxie, mütterliche Verletzungen) abzustellen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass ein hoher Schultergeradstand nur etwa

175 10.1 · Falldarstellung

10

. Tab. 10.3  Number needed to treat (NNT) an primären Kaiserschnitten zur Vermeidung einer Schulterdystokie oder Plexus-brachialis-Parese Geburtsgewicht

Schulterdystokie

Plexus-Parese

Irreversible Parese

4000 g

95

733–3226

800–16000

4500 g

26

233–1026

1300–28000

Gesamtzahl der Schulterdystokien oder Plexusparesena

200

1800–4500



a Unabhängig von einer Geburtsgewichtssubklassifizierung (also bezogen auf alle Neugeborene).

bei jedem 9. Kind zur konnatalen Plexus-Schädigung führt und hiervon nur jeder 4.–5. Fall mit einer bleibenden Funktionseinschränkung verbunden ist. Eine Entscheidung/Aufklärung über einen zur vaginalen Geburt alternativen Geburtsmodus (primäre Schnittentbindung) ist von der Höhe des Schulterdystokie-Risikos und hier vornehmlich vom zu erwartenden Geburtsgewicht des Kindes abhängig (. Tab. 10.3). Da auch die elektive Sectio caesarea nicht ohne mütterliche und kindliche Morbiditätsrisiken erfolgen kann, ist zur Abwägung ihres Präventionseffekts eine Nutzen-Risiko-Abwägung zugrunde zu legen. Allgemein herrscht aufgrund dieser erheblichen Eingriffszahlen ohne manifesten Präventionseffekt für den Einzelfall und aufgrund der Gewichtsabhängigkeit des Schulterdystokie-Risikos (7 Abschn. 10.1.3, Übersicht: Risikofaktoren für eine Schulterdystokie, prädisponierende Faktoren) Konsens darüber, dass eine generelle direktive Aufklärung zur Sectio caesarea erst ab einem erwarteten Kindsgewicht von 4500 g als medizinisch angemessen zu gelten hat. Die Datenlage zur Empfehlung einer prophylaktischen Geburtseinleitung bei sonographisch vermuteter Makrosomie bleibt den Nachweis eines signifikanten Vermeidungseffekts bezüglich der Entwicklung einer Schulterdystokie allerdings schuldig (. Tab. 10.1, Indikationen der Geburtseinleitung). Das Hinzutreten einer diabetischen Stoffwechsellage erhöht zwar die Rate an positiven Studienergebnissen zum Einleitungseffekt (↓ Schulterdystokie-Rate), ohne dass aus den aktuell verfügbaren Daten eindeutige Evidenz für dieses Vorgehen zu gewinnen ist (. Tab. 10.4).

> Die Rate an Plexus-Paresen lässt sich durch ein risikoadaptiertes Notfallmanagement zwar signifikant senken, allerdings sind auch bei fehlerfreiem Handeln NervenplexusLäsionen nicht immer vermeidbar.

Aufmerksamkeit, Erfahrung, Wissen … Endlich ist der Tag meiner Entlassung aus der Klinik gekommen. Bevor ich die Station mit den vielen schreienden Babys verlassen und mit meinen Eltern nach Hause darf, ist noch eine Untersuchung vorgesehen. Dabei wird Frau Dr. Perita, die die Entlassungsuntersuchungen dieses Tages überwachende altgediente Oberärztin der Kinderklinik, plötzlich hellhörig: »Neugeborenes nach Schulterdystokie? Warum weiß ich davon nichts? Lähmungserscheinungen? Wie lange schon? Wie ausgedehnt? Welche weitere Betreuung ist geplant? Wie sind die Eltern bezüglich Folgeschwangerschaften beraten worden?« Die für mich zuständige, sicher noch junge, aber besonders nette Assistenzärztin kommt ganz schön ins Stottern …

Welche prognostischen Fragen verbunden mit welchen Managementempfehlungen sind im Entlassungsgespräch zu thematisieren?

10.1.11

> 0,5% aller vaginalen Geburten sind mit einem hohen Schultergeradstand behaftet. Daraus folgt ein 12- bis 14-prozentiges Relativrisiko einer Plexus-Parese. Von diesen Kindern werden 20–26% mit einen dauerhaften Nervenschaden leben müssen.

176

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

. Tab. 10.4  Präventionsstrategien der geburtstraumatischen Parese des Plexus brachialis Strategie

Bewertung

Primärprävention

Präkonzeptionelle Aufklärung über gesundheitlich beeinträchtigende Verhaltensweisen (u. a. starke Gewichtszunahme) oder Risikofaktoren (u. a. DM) bzw. das Aufzeigen von Möglichkeiten zur Förderung der Gesundheit, noch bevor Risikofaktoren selbst bestehen

Wenig zielgerichtet einsetzbar

Sekundärprävention

Antizipatorische Risikostratifizierung/Schwangerenbetreuung/Geburtseinleitung (u. a. Gewicht, (G-)DM, Tragzeit, Weheninduktion, Geburtsdauer, vaginal-operative Geburt)

Kein generell erfolgreiches Vorgehen

Tertiärprävention

Koordiniertes geburtshilfliches Vorgehen bei eingetretener Schulterdystokie, um die Plexusparese zu verhindern

Bei Sachgerechtigkeit → Risikoverminderung (4 ×)

DM Diabetes mellitus, GDM Gestationsdiabetes mellitus.

Therapieoptionen der peripartal entstandenen Plexusparese

10

z z Frühe Rehabilitationsmaßnahmen

44Spontane Erholung (für proximale Lähmung häufiger): die verletzte Halsregion schonen und den betroffenen Arm mit angewinkeltem Ellenbogen am Körper anlagern (begleitende Blutergüsse und Schwellungen klingen ab), 44Physio- und Ergotherapie (u. a. nach Vojta und Bobath) zur Minimierung muskuloskeletaler Komorbidität (passives Durchbewegen zur Vermeidung der früh einsetzenden Gelenkversteifung, funktionell erhaltene Muskelgruppen stärken, sobald Reinnervation – spontan oder postoperativ – einsetzt, jeweilige Muskelgruppen aktiv beüben). z z Frühe neurochirurgische Nervenrekonstruktion (in den ersten 3–9 Lebensmonaten)

44Neurolyse, 44Resektion vernarbter Verletzungsstümpfe und Anastomosierung durch eine direkte Koaptation der Nervenenden oder Interposition von Nerventransplantaten (intra- oder extraplexische Rekonstruktion), 44Nerventransfer (Besetzung wichtiger motorischer Zielfunktionen durch Umleitung unverletzter motorischer Nervenfaszikel aus Stammnerven der Armregion).

Indiktionen zu früher neurochirurgischer Intervention 

44Versagen der spontanen Erholung der Nervenfunktion bzw. der frühen konservativen Rehabilitationsmaßnahmen, 44komplette Nervenläsion, 44präganglionärer Nervenwurzelschaden.

Sekundäre Korrektureingriffe 

44Funktionsaufwertungen durch Sehnen- bzw. Muskelumlagerungen (3–5 Jahre nach Primäroperation), 44Voraussetzungen: frei bewegliches Gelenk und kräftiger entbehrlicher Spendermuskel (jeder Muskeltransfer ist postoperativ mindestens 1 Jahr physiotherapeutisch zu begleiten).

z z Konservative/begleitende Therapieansätze

44Elektrostimulation an denervierten Muskeln (isometrische Bedingungen): nicht unumstritten, 44Orthese – u. a. dann, wenn der Oberarmkopf nicht im Schultergelenk gehalten werden kann. Wiederholungsrisiko einer Schulterdystokie  Im

Zuge einer weiteren Schwangerschaft ist unbehandelt im Verlauf eines vaginalen oder vaginal-operativen Geburtsverlaufs mit der Wahrscheinlichkeit einer neuerlichen Schulterdystokie in Höhe von 13,8% (7,3–25%) zu rechnen. Daher ist im Sinne der Primärprävention bei Z. n Schulterdystokie unabhängig

177 10.1 · Falldarstellung

der biometrischen Risikoantizipation (Makrosomie) zur elektiven primären Sectio caesarea zu raten. das Ende vom Lied … findet sich gar nicht so leicht Zu Hause ist irgendwie alles vertraut, aber auch ganz anders. Es fehlt die Freude meiner Eltern, mit der sie, während ich noch im Bauch gewesen war, immer wieder über mich gesprochen hatten. Meine Mama ist über Wochen sehr traurig und weint oft, wenn sie mich auf dem Arm hat. Und mein Vater, der kann mich oft gar nicht so richtig ansehen. Dies stellt mein Nähebedürfnis zu den beiden auf eine harte Probe. »Warum wir … ?«, kreisen die Gedanken meiner Mama noch monatelang in ihrem, aber auch in meinem Kopf.

Welche elterliche Diagnose ist hier nicht ganz unerwartet anzunehmen?

10.1.12

Eine objektiv schwere oder auch eine subjektiv als besonders belastend und traumatisch erlebte Geburt kann zu erheblichen psychischen Beeinträchtigungen im Wochenbett führen (7 Kap. 18). In Einzelfällen kann sich hieraus eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. 2–5% aller Frauen mit einem derart schwierigen oder als schwierig empfundenen Geburtserlebnis (u. a. ungewollte Geburtsverläufe/-ausgänge, Kaiserschnittgeburten, instrumentelle Eingriffe, wenig unterstützende Geburtshilfe und/oder unzureichende Vorbereitung) entwickeln eine PTBS. Eine sehr viel größere Zahl an Wöchnerinnen leidet unter quälenden Gedanken und Alpträumen ohne weitere Krankheitsanzeichen. Die typischen Symptome der PTBS sind immer wiederkehrende schmerzhafte innere Bilder des traumatischen Geburtserlebnisses (Birth-Flashbacks), Schlafstörungen, übermäßige Gereiztheit mit Wutausbrüchen sowie die Unfähigkeit, sich zu entspannen und vom Erlebten Abstand zu gewinnen. Hinzu kommt ein konsequentes Vermeidungsverhalten aller Aktivitäten, die mit dem Geburtserlebnis in Verbindung gebracht werden. Hierzu zählen Körperkontakt mit dem Partner, Sexualität, Besuch auf einer Wochenbettstation oder Gedanken/Gespräche an/ über eine mögliche weitere Schwangerschaft.

10

Langfristige Folgen der PTBS können besonders bei einer Verursachung durch konnatal/peripartal bedingte Störungen des Kindes (Abweichen von der Idealvorstellung des Kindes aus der Schwangerschaft) in Form von Bindungsängsten und einer erhöhten Ängstlichkeit im Umgang mit dem Kind eintreten. Beides wirkt sich belastend auf die Mutter(Eltern)Kind-Beziehung aus und beeinflusst so möglicherweise auch das Verhalten des heranwachsenden Kindes. Der Rechtzeitigkeit der Erkennung und Behandlung kommt daher Bedeutung für alle Beteiligten zu.

Differenzialdiagnosen postpartaler Stimmungskrisen Baby-Blues (postpartales Stimmungstief): 55Häufigkeit: 50–70% 55Beginn: 3–5 Tage (dauert wenige Stunden bis maximal eine Woche) 55Klinisches Erscheinungsbild: –– Endokrin bedingtes häufiges Weinen, Empfindsamkeit, Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, starke Erschöpfung, Konzentrations-, Appetit-, und Schlafstörungen –– Klingt ohne spezifische Behandlung folgenlos ab (ansonsten: Beginn einer Wochenbettdepression) Wochenbettdepression (postpartale Depression): 55Häufigkeit: 10–20% (4% der Väter) 55Beginn: Während der Schwangerschaft bis 1 Jahr post partum 55Klinisches Erscheinungsbild: –– Häufiges Weinen, Antriebsschwäche (Energielosigkeit), Lustlosigkeit, Gefühl der Leere, Konzentrations-, Appetit und Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Herz- und andere psychosomatische Beschwerden, Ängste, starke Reizbarkeit, Panikattacken oder Zwangsgedanken (zwanghafte destruktive Vorstellungen und Bilder), Angst- und Zwangsstörungen –– Besonders belastend sind die zwiespältigen Empfindungen gegenüber dem Kind (Gefühl, das Kind nicht

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

178

10

richtig zu lieben können und seinen Bedürfnissen nicht gerecht zu werden) –– Im Extremfall suizidale Einengung Postpartale Angsterkrankung: 55Häufigkeit: 10–20% (4% der Väter) 55Beginn: Während der Schwangerschaft bis 1 Jahr post partum 55Klinisches Erscheinungsbild: –– Postpartale Angst- und/oder Panikgefühle (vage oder konkret) –– Diese können, müssen aber nicht mit Symptomen einer postpartalen Depression einhergehen Wochenbettpsychose (postpartale Psychose): 55Häufigkeit: 0,1–0,2% 55Beginn: Präkonzeptionell, in graviditate, während des Wochenbetts 55Klinisches Erscheinungsbild:Schwerste Form der postpartalen psychischen Erkrankungen –– Die Betroffenen leiden oftmals schon vor der Schwangerschaft und Geburt unter bipolaren (manisch-depressiven) oder schizoaffektiven Störungen

Epilog »Jetzt ist es anders, jetzt ist morgen«, kommt mir auch jetzt, nach mehr als 2 Jahren, noch häufig als Erstes nach dem Augenaufschlagen in den Sinn. Denn Dank der Operation mit Nervenbahnen-Rekonstruktion vermisse ich das Gefühl der Schwere und Bewegungseinschränkung in meinem linken Arm kein bisschen …

10.2 Fallnachbetrachtung 10.2.1 Welche medizinischen/

organisatorischen Schwachstellen/Fehler erkennen Sie im geschilderten Fall?

Anamnestische Risikofaktoren werden mit Blick auf die Geburtsmechanik vom geburtshilflichen Team – wenn überhaupt – nur am Rande gewürdigt:

Geburtshilfliche Vorgeschichte  44Z. n. 2 × Makrosomie (> 4000 g), 44Z. n. vaginal-operativer Geburt (Vakuumextraktion).

Geburtshilfliche Befunde 

44V. a. Makrosomie (sonographische Schätzung: 4150 g), 44diätetisch eingestellter Gestationsdiabetes.

Maternale Anthropometrie 

44Niedrige Körperhöhe von 154 cm, 44Präadipositas, BMI 28,7 (nach WHO-Klassifikation), 44übermäßige Gewichtszunahme während der Schwangerschaft (19 kg) (. Tab. 10.5).

10.2.2 Wann und warum erfolgt das

geburtshilfliche Vorgehen im Widerspruch zum geforderten medizinischen Standard?

Die deutlich protrahierte Austreibungsperiode (> 90 min) wird bei gleichzeitig pathologischem fetalen Herztonmuster nicht beantwortet mit 44dem Einsatz alternativer Überwachungsmethoden – Fetalblutanalyse (FBA), 44einer früheren Geburtsbeendigung. Nach Eintritt der Schulterdystokie wird standardwidrig 44> 60 s weitergepresst, 44am Kopf »gebogen und gezogen«. Nach Diagnose des hohen Schultergeradstands wird geburtshilflich fehlerhaft gehandelt: 44Die Oxytocin-Infusion wird nicht beendet bzw. keine ggf. erforderliche Tokolyse erwogen/ eingesetzt. 44Eine Entleerung der mütterlichen Harnblase wird unterlassen. 44Der Geburtsvorgang wird weiter forciert (weiteres Pressen – Einsatz des Kristeller-Handgriffs).

179 10.2 · Fallnachbetrachtung

10

. Tab. 10.5  Gewichtsgrenzwerte: Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung BMI vor einer Schwangerschaft

Empfohlene Gewichtszunahme in graviditate

Empfohlene Gewichtszunahme 2. und 3. Trimenon

< 18,5 = untergewichtig

12,5–18 kg

0,51 (0,44–0,58) kg/Woche

18,5–25 = normalgewichtig

11,5–16 kg

0,42 (0,35–0,50) kg/Woche

25–30 = übergewichtig

7–11,5 kg

0,28 (0,23–0,33) kg/Woche

≥ 30 = adipös

5,0–9 kg

0,22 (0,17–0,27) kg/Woche

BMI Body-Mass-Index.

44Es erfolgt eine äußere Überdrehung des kindlichen Kopfes (dabei ist nicht nur die Unwirksamkeit zur Lösung des hohen Schultergeradstands, sondern auch der ursächliche Zusammenhang der Überdehnung des Armplexus bei fixierter vorderer Schulter mit diesem, als obsolet anzusehenden Manöver bekannt). 44Eine Episiotomie wird ohne direkten geburtshilflichen Nutzen zur Lösung eines hohen Schultergeradsands besonders bei einer Mehrgebärenden angelegt (ein unmittelbarer Effekt auf die Lösung des am Beckeneingang feststeckenden kindlichen Schultergürtels ist mit einer schnittbedingten Scheidenausgangserweiterung nicht zu erreichen. Die Erfordernis von Platzgewinn zur Erleichterung der manuellen Manöver zur Lösung des hohen Schultergeradstands (Woods) ist bei der Drittgebärenden weniger wahrscheinlich). 44Die postpartale Beratung der Eltern wird, bezogen auf die Erb-Lähmung ihres Kindes (zunächst) unzureichend gestaltet. Erst das zufällige Eingreifen der Oberärztin thematisiert Aspekte der Nachsorge, Kontrolle, Therapie und neurochirurgischer Optionen (near miss). Ebenso werden die geburtsmechanischen Implikationen für zukünftige Schwangerschaften einer Schulterdystokie nur zufällig zum Thema des Entlassungsgesprächs (near miss). 44Der psychischen Alteration der Mutter (Eltern) wird keine spezifische Beachtung geschenkt.

10.2.3 Forensische Aspekte der

Schulterdystokie

7% aller Fälle medikolegaler Auseinandersetzungen (3. Stelle gerichtlicher Streitfälle) betreffen geburtshilfliche Verläufe mit Schulterdystokie. Davon wurden 46% als fehlerbehaftet bewertet (1. Stelle gerichtlicher Streitfälle). Entscheidungsbegründend wirkten sich sowohl Aufklärungsgebrechen, Behandlungsfehler wie auch Dokumentationsmängel aus. Daher hat sich das geburtshilfliche Team im Fall des Schadenseintritts darauf einzustellen, mit folgenden Fragen konfrontiert zu werden: 44Gab es vor oder während der Geburt Hinweise auf eine mögliche Schulterdystokie? 44Wurde die Mutter bei Vorliegen von Risikohinweisen rechtzeitig über deren Bedeutung wie auch die Alternative einer Schnittentbindung aufgeklärt? 44Haben Arzt und/oder Hebamme nach Auftreten der Schulterdystokie die richtigen Manöver zur Entwicklung des Kindes/zur Schadensvermeidung durchgeführt? 44Ist der Behandlungsablauf nachvollziehbar und vollständig dokumentiert? Zur Vermeidung haftungsrechtlicher Ansprüche ist somit neben der aufmerksamen Würdigung von Risikofaktoren inklusive einer daran ausgerichteten Aufklärung eine Schritt-für-Schritt-Befolgung etablierter Handlungsalgorithmen für den Fall des Ereigniseintritts sicherzustellen. Dies mündet in eine exakte, chronologisch präzise Erfassung und Niederschrift der Diagnosen wie auch der ergriffenen Maßnahmen

180

Kapitel 10 · Intrapartale Notfallsituation bei hohem Geburtsgewicht

unter Benennung aller aktiv Beteiligten. Gerade aus einer umfänglichen und zeitnah verfassten ärztlichen Dokumentation werden geburtshilfliche Abläufe in ihrer z. T. Unvermeidbarkeit auch Angehörigen nachvollziehbar und sind geeignet, gerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden.

Weiterführende Literatur

10

American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) (2015) Practice Bulletin No. 40: Shoulder Dystocia Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (2013) Empfehlungen zur Schulterdystokie Erkennung, Prävention und Management. AWMF S1-Leitlinie 015-024. http:// www.dggg.de/fileadmin/documents/leitlinien/archiviert/ federfuehrend/015024_Empfehlungen_zur_Schulterdystokie/015024_2010.pdf Bahm J (2003) Obstetric brachial plexus palsy – clinics, pathophysiology and surgical treatment. Handchir Mikrochirur Plast Chir 35(2): 83–97 Chauhan SP, Gherman R, Hendrix NW et al (2010) Shoulder dystocia: comparison of the ACOG practice bulletin with another national guideline. Am J Perinatol 27: 129–136 Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (2012) Vaginal-operative Entbindungen. AWMF S1-Leitlinie 015-023. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/015-023l_S1_Vaginal_operative_Entbindungen_2012abgelaufen.pdf Dorsch VM, Rohde A (2016) Postpartale psychische Störungen – Update 2016. Frauenheilkunde up2date 10 (4):355–374 O’Leary JA (2009) In utero causation of brachial plexus injury. In: O’Leary JA (ed) Shoulder dystocia and birth injury, 3rd ed. Humana Press, Totowa, NJ Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) (2012) Shoulder Dystocia. Green-top Guideline No. 42). https://www.rcog.org.uk/en/guidelines-research-services/ guidelines/gtg42/ Schwenzer T, Bahm J (2013) Schulterdystokie und konnatale Armplexusparese: Datenlage legt teilweise andere Schlüsse nahe. Frauenarzt 54(12): 1157–1178 Schwenzer T, Bahm J (Hrsg) (2016) Schulterdystokie und Plexusparese, Klinik, Prävention, Gutachten und Dokumentation. Springer, Berlin Heidelberg New York

181

Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio Werner Rath

11.1

Falldarstellung – 182

11.1.1

Wie sehen Sie die Erfolgsaussichten von Friederike auf eine vaginale Geburt? Gibt es prädiktive Faktoren? – 182 Welche Risikofaktoren für eine Uterusruptur bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio kennen Sie? – 184 Welche Methode zur Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio würden Sie in dieser Situation wählen? Wie hoch ist das Rupturrisiko bei den verschiedenen Einleitungsverfahren? – 186 Welche Faktoren/Maßnahmen sind bei der Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio zu berücksichtigen? – 189

11.1.2 11.1.3

11.1.4

11.2

Fallnachbetrachtung – 190



Weiterführende Literatur – 192

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_11

11

182

Kapitel 11 · Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio

11.1 Falldarstellung

Was geschah … ?

11

Der Entbindungstermin rückte näher, in knapp 3  Wochen sollte es soweit sein. Friederike war schon jetzt aufgeregt, wenn sie daran dachte. Sie wünschte sich, dass ihr Kind dieses Mal wieder »auf natürlichem Weg« zur Welt kommen sollte, ohne Kaiserschnitt. Morgens beim Frühstück fragte ihr Mann sie: »Was hat denn Deine Frauenärztin gestern gesagt, wieder ein Kaiserschnitt?« Friederike war am Tag zuvor bei ihrer Frauenärztin gewesen. Das Gespräch mit ihr über den möglichen Entbindungsmodus hatte bei Friederike zwiespältige Gefühle hinterlassen: einerseits sei die Chance ca. 70%, nach vorangegangenem Kaiserschnitt vaginal zu entbinden, andererseits – und das war der Wermutstropfen – bestünde die Gefahr, dass dabei die alte Narbe der Gebärmutter reißen könnte; das sei aber eher selten, hatte die Frauenärztin gesagt, so um die 1%. Schließlich hatten sie sich darauf verständigt, das in einem geburtsvorbereitenden Gespräch in der Klinik, das in 2 Tagen stattfinden sollte, dieses Thema ausführlich besprochen werden sollte. Friederike war nie ernsthaft krank gewesen, vor 5 Jahren war ihre Tochter Anneliese spontan, ohne Probleme zur Welt gekommen, vor 2  Jahren hatte man ihr bei Beckenendlage »aus Sicherheitsgründen« (wie es hieß) zu einem Kaiserschnitt geraten, der ohne Probleme verlief. Jetzt mit 33 Jahren war der bisherige Schwangerschaftsverlauf unauffällig, Friederike hatte regelmäßig gejoggt und Sport getrieben. Sie wog vor der jetzigen Schwangerschaft bei einer Körpergröße von 170 cm 78 kg. Ihre Frauenärztin hatte festgestellt, dass der kleine Junge derzeit ein Schätzgewicht von ca. 3000 g hätte, er aber sicherlich noch wachsen würde. Ihre beiden anderen Kinder waren mit einem Geburtsgewicht von 3400  g und 3600  g zur Welt gekommen. Nun fieberte Friederike dem Tag des Gesprächs in der Klinik entgegen.

11.1.1 Wie sehen Sie die

Erfolgsaussichten von Friederike auf eine vaginale Geburt? Gibt es prädiktive Faktoren?

Im Hinblick auf eine vaginale Geburt sind zwei Szenarien vorstellbar: 44bei unkompliziertem Schwangerschaftsverlauf: Abwarten spontaner Wehen oder 44bei Vorliegen einer medizinischen Indikation: Geburtseinleitung (betrifft ca. 25% der Schwangeren nach vorangegangenem Kaiserschnitt). Insgesamt wird über eine Rate vaginaler Geburten nach vorangegangenem Kaiserschnitt von im Mittel 75% (60–85%) berichtet. Entscheidend ist die individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung des Abwartens spontaner Wehen (ggf. einer Geburtseinleitung) gegenüber einer elektiven Re-Sectio unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten auf eine vaginale Geburt und den Risikofaktoren für eine Uterusruptur (7 Abschn. 11.1.2). Folgende günstige Faktoren sind für das Erreichen einer vaginalen Geburt nach vorangegangenem Kaiserschnitt von Relevanz: 44Ethnische Herkunft kaukasisch, nicht ­afrikanisch/spanisch: OR 1,8 (95% KI 1,6–1,9), 44vorangegangene vaginale Geburt: Erfolgsrate 86,6% vs. 60,1%, OR 3,9 (95% KI 3,6–4,3), 44vorangegangene Indikation zur Sectio nicht Geburtsstillstand/Kopf-Becken-Missverhältnis: OR 1,6 (95% KI 1,5–1,8), 44Geburtsgewicht < 4000 g: OR 2,0 (95% KI 1,8–2,3), 44spontane Wehen: OR 1,6 (95% KI 1,5–1,8), 44Body-Mass-Index vor der Schwangerschaft ≤ 30: Einleitungserfolg 79,6% vs. 68,4% (p < 0,01). Kontrovers diskutiert wird in diesem Zusammenhang das mütterliche Alter (> 35 Jahre eher ungünstig).

183 11.1 · Falldarstellung

Im Falle der Notwendigkeit zur Geburtseinleitung zu berücksichtigende Faktoren 55Initialer Bishop-Score/Zervixreife zu Beginn der Geburtseinleitung (Bishop-Score ≥ 6 günstiger als < 6) 55Parität (Nullipara ungünstiger als Multipara) 55Gestationsalter (je terminferner, desto ungünstiger) 55Die Indikation zur Geburtseinleitung z. B. bei vorbestehendem Diabetes mellitus: häufig schwierige Geburtseinleitung

Besondere Bedeutung hinsichtlich des Erfolgs einer Geburtseinleitung kommt der Kombination aus vorangegangener vaginaler Geburt und Zervixstatus zu (. Tab. 11.1). Diesbezüglich wurden inzwischen verschiedene Kalkulationsmodelle entwickelt. Ein einfach zu handhabendes Kalkulationsmodell ist abrufbar unter https://mfmu.bsc.gwu.edu/PublicBSC/MFMU/ VGBirthCalc/vagbirth.html). In Abhängigkeit von den Erfolgsaussichten auf eine vaginale Geburt wurden auch Prädiktionsmodelle zur maternalen und neonatalen Morbidität bei Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio publiziert. Dabei zeigte . Tab. 11.1  Vorausgegangene vaginale Geburt und Zervixreife nach Sectio caesarea (prospektive bevölkerungsbasierte Studie aus USA: Grobman et al. 2007) Einleitungserfolg in Abhängigkeit von vorangegangener vaginaler Geburt und Zervixreife

Einleitungserfolg (EL II)

Vorausgegangene vaginale Geburt + reife Zervix (BS > 6)

91%

Vorausgegangene vaginale Geburt + unreife Zervix (BS < 6)

77%

Keine vorausgegangene vaginale Geburt + reife Zervix

69%

Keine vorausgegangene vaginale Geburt + unreife Zervix

45%

EL Evidenzlevel, BS Bishop-Score.

11

sich, dass die mütterliche Morbidität nach vaginaler Geburt bei einer Erfolgswahrscheinlichkeit mit > 70% nicht höher ist als bei einer elektiven Re-Sectio. Bei Friederike lagen also günstige prädiktive Faktoren für das Erreichen einer vaginalen Geburt vor. So geht es weiter … Frau Dr. Wilhelm ist eine erfahrene Ärztin, die schon seit einiger Zeit die Beratungssprechstunde des Perinatalzentrums leitet. Sie bemerkt bereits bei der Begrüßung, dass Friederike aufgeregt ist, und ahnt, dass es bei dem bevorstehenden Gespräch v. a. um den Entbindungsmodus gehen wird. Vorsorglich hat die Ärztin die alte Akte von Friederike eingesehen. Der damalige Kaiserschnitt war wegen BEL über einen isthmischen Querschnitt durchgeführt worden; das war wichtig für die Risikobeurteilung hinsichtlich einer Uterusruptur (7 Abschn. 11.1.2). Nach der Anamneseerhebung sagt Frau Dr. Wilhelm: »Ich würde gerne noch einen Ultraschall machen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, und dabei das Schätzgewicht des Kindes bestimmen.« Der kleine Junge liegt in Schädellage, Fruchtwasser normal, Hinterwandplazenta, Schätzgewicht jetzt in der 38. SSW ca. 3200 g. Friederike beißt sich auf die Lippen, wann kommt die Ärztin endlich zum Punkt? Frau Dr. Wilhelm löst die Spannung mit den Worten »Es gibt für mich derzeit keinen Grund, Ihnen von einer vaginalen Geburt abzuraten. Sie haben ja bereits ein Kind vaginal geboren, und der Junge ist nicht so groß, das müsste eigentlich gehen.« Friederike ist erleichtert, fragt dann aber – sich an die Worte ihrer Frauenärztin erinnernd – besorgt weiter »Und wie ist das mit der Gefahr, dass die Gebärmutter dabei reißen kann? Wie häufig kommt das vor?« »Dieses Risiko ist nicht sicher vorhersehbar. Wenn die Geburt von selbst in Gang kommt und spontane Wehen einsetzen 0,4–0,6%«, antwortet die Ärztin und fügt hinzu »die Uterusruptur ist zwar glücklicherweise selten, wenn sie eintritt, aber sehr gefährlich für Mutter und vor allem für das Kind.« Frau Dr. Wilhelm denkt dabei v. a. an das Risiko einer mit Uterusruptur assoziierten intrapartalen Hypoxie und an die hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (Häufigkeit bei Uterusruptur 1,8–10,6%, im Mittel 6,2%) und deren Folgen, vermeidet es aber, Friederike gegenüber auf diese schwere Komplikation hinzuweisen, um

184

Kapitel 11 · Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio

sie nicht zu beunruhigen. Friederike fragt dann auch nicht weiter nach. Ihre Aufregung legt sich etwas, als Frau Dr. Wilhelm sagt: »Sie sind hier in unserem Perinatalzentrum gut aufgehoben. Wir sind auf Notfälle vorbereitet und können jederzeit wieder einen Kaiserschnitt machen, wenn es nötig sein sollte!« Die Ärztin dokumentiert das Beratungsgespräch in der Akte und verabschiedet Friederike mit den Worten: »Ich freue mich, dass Sie sich für eine vaginale Geburt entschieden haben. Wir werden alles tun, dass Ihr Kind gesund zur Welt kommt. Stellen Sie sich wie vereinbart bei Ihrer Frauenärztin wieder vor und kommen Sie sofort in die Klinik, wenn Sie Wehen verspüren.« Kurz darauf ruft Frau Dr. Wilhelm Friederikes betreuende Frauenärztin an und berichtet ihr über das Beratungsgespräch. Friederike geht zufrieden nach Hause. Das mit der »Uterusruptur« will ihr aber nicht so ganz aus dem Kopf gehen.

11.1.2 Welche Risikofaktoren für eine

11

Uterusruptur bei vaginalem Entbindungsversuch nach vorangegangener Sectio kennen Sie?

In . Tab. 11.2 sind die Risikofaktoren und die damit verbundene Risikoerhöhung für eine Uterusruptur nach vorangegangener Sectio zusammengestellt. 44Da der korporale Längs- oder der umgekehrte T-Schnitt bei vorangegangenem Kaiserschnitt mit einem Rupturrisiko von 4–9% belastet ist, sollte vor einem vaginalem Entbindungsversuch in der Folgeschwangerschaft und insbesondere vor einer Geburtseinleitung die uterine Schnittführung bekannt sein, und – wie im vorliegenden Fall – der damalige OP-Bericht besorgt und eingesehen werden. Die zunehmende Zahl an Migrantinnen, insbesondere aus afrikanischen Ländern, stellt den Geburtshelfer heute zunehmend vor das Problem, dass die uterine Schnittführung unbekannt und ein uteriner Längsschnitt zu vermuten ist. Bei diesen Frauen ist Vorsicht geboten und im Zweifelsfall der elektiven Re-Sectio der Vorzug zu geben. 44Es liegen unterschiedliche Angaben (2 Studien) zum Rupturrisiko in Abhängigkeit

. Tab. 11.2  Risikofaktoren für eine Uterusruptur nach vorangegangener Sectio caesarea Risikofaktor

Evidenzlevel (EL)

Intervall zwischen vorangegangener Sectio und Folgeschwangerschaft: – < 6 Monate: 2,6% – < 12 Monate: 4,8% – > 6 Monate: 0,9% – 13–24 Monate: 2,7% – > 24 Monate: 0,9%

IIb

Postpartales Fieber nach ­vorangegangener Sectio

III

Medikamentöse Geburtseinleitung

IIb

Uterine Schnittführung: z. B. korporaler Längsschnitt, umgekehrte T-Inzision: 4–9%

IIa

≥ 2 vorangegangene Sectiones vs. 1 vorangegangene Sectio: kontrovers → bis 2-fach ↑

III

Geburtsgewicht > 4000 (4200) g

IIb

vom Intervall zwischen vorangegangener Sectio und Folgeschwangerschaft vor (. Tab. 11.2). Empfehlung des Autors: ein mindestens 6-monatiges, besser noch 12-monatiges Intervall. 44Eine Studie weist darauf hin, dass postpartales Fieber insbesondere im Zusammenhang mit einer Endomyometritis einen unabhängigen Risikofaktor für eine Uterusruptur darstellt. 44Das Abwarten spontaner Wehen ist hinsichtlich des Rupturrisikos eindeutig günstiger als die medikamentöse Geburtseinleitung (7 Abschn. 11.1.3). 44Kontrovers diskutiert wird, ob 44das mütterliche Alter > 35 Jahre, 44die Terminüberschreitung/-übertragung oder 44≥ 2 vorangegangene Sectiones im Vergleich zu einer vorangegangenen Sectio unabhängige Risikofaktoren für eine Uterusruptur sind. Diesbezüglich liegen aus der Literatur diskrepante Untersuchungsergebnisse vor.

185 11.1 · Falldarstellung

Der stärkste »protektive« Faktor für eine Uterusruptur ist eine vorangegangene vaginale Geburt mit Senkung des Rupturrisikos um 60% im Vergleich zu keiner vorangegangenen vaginalen Geburt. Im Fall einer Geburtseinleitung liegt die Rupturrate bei Frauen ohne vorangegangene vaginale Geburt und nach Sectio mit 1,5% fast doppelt so hoch wie die bei Frauen mit vorangegangener vaginaler Geburt (0,8%). Diese Schwangeren weisen ein vergleichbares Rupturrisiko auf wie Schwangere nach Abwarten spontaner Wehen. Bei Friederike lagen also keine erkennbaren Risikofaktoren für eine Uterusruptur vor (. Tab. 11.2). So geht es weiter … Friederike stellt sich bis zum Termin noch zweimal bei der Frauenärztin vor. Probleme gibt es nicht, aber Friederike wird zunehmend unruhig, da keine Wehen auftreten und der Zervixbefund, wie die Frauenärztin sagt, nach wie vor unreif ist. Der Termin stimmt. Die letzte Regel war bei regelmäßigem Zyklus von 28 Tagen bekannt, und die Ultraschalluntersuchung im 1. Trimenon hat das Gestationsalter und den errechneten Termin bestätigt. Es gibt also keinen Grund für eine Terminkorrektur. Die Ultraschalluntersuchung bei der Frauenärztin am Termin ergibt eine normale Fruchtwassermenge und ein Schätzgewicht des Kindes von ca. 3400 g, das CTG ist unauffällig. Die Frauenärztin kennt die jüngste AWMF-Leitlinie zur Terminüberschreitung und Übertragung (AWMF-Leitlinie 015/065) und kontrolliert CTG und Fruchtwassermenge alle 2 Tage, pathologische Befunde zeigen sich nicht. Friederike spürt regelmäßig Kindsbewegungen, aber nur vereinzelt Wehen. »Was passiert denn mit mir und meinem Kind, wenn ich weiterhin keine Wehen bekomme?«, fragt Friederike die Frauenärztin, als sie sich 6 Tage über dem errechneten Termin erneut vorstellt. »Wenn alles weiterhin normal verläuft und Sie inzwischen keine Wehen bekommen, müssen wir an eine Geburtseinleitung denken, wenn die 41. SSW überschritten wird. Wir wollen ja vermeiden, dass dem Kind etwas passiert!«, antwortet die Ärztin. Sie vermeidet es, auf das Problem des erhöhten Risikos für einen intrauterinen Fruchttod und auf eine steigende

11

neonatale Morbidität mit zunehmender Terminüberschreitung hinzuweisen, um Friederike nicht zu beunruhigen. Friederike nickt. »Es ist doch bisher alles gut verlaufen, lieber eine Geburtseinleitung als einen Kaiserschnitt«, denkt sie und erinnert sich an ihre Nachbarin, bei der die Geburtseinleitung nach Kaiserschnitt ohne Probleme verlaufen ist. Die Frauenärztin verabschiedet sich mit den Worten »Wenn Sie am Wochenende Wehen bekommen oder Schmerzen im Bauch, lassen Sie sich sofort in die Klinik bringen. Ansonsten sollten Sie sich am Montag, da hat ja die 41. SSW angefangen, in der Klinik vorstellen.« Vorsorglich gibt die Frauenärztin ihr noch einen Einweisungsschein mit folgendem Eintrag: »Zustand nach Sectio wegen BEL, Terminüberschreitung 41. SSW, Geburtseinleitung?« Nachdem das Wochenende ruhig, ohne Wehen und ohne Schmerzen verlaufen ist, stellt sich Friederike am Montag bei Frau Dr. Wilhelm in der Klinik vor. Das Aufnahme-CTG ist unauffällig, ebenso die Fruchtwassermenge. Frau Dr. Wilhelm hat es sich zur Gewohnheit gemacht, in derartigen Fällen zumindest orientierend die Dicke des unteren Uterinsegments im Ultraschall zu messen, auch wenn sie weiß, dass es bisher keine verbindlichen Cut-off-Werte zur Prädiktion der Uterusruptur gab. Sie ist zufrieden, immerhin 8 mm. Bei der anschließenden digitalen Untersuchung ergibt sich ein Bishop-Score von 4–5, die Zervix steht noch 2 cm, mediosakral, weich, Muttermund: Fingerkuppe einlegbar, der Kopf steht fest im Beckeneingang. »Wenn bis Mittwoch (41 + 3 SSW) die Geburt nicht in Gang kommt, würde ich Ihnen die Geburtseinleitung empfehlen. Wir müssen aber noch ausführlich über die verschiedenen Methoden der Geburtseinleitung nach vorangegangenem Kaiserschnitt sprechen«, fügt Frau Dr. Wilhelm hinzu, wohl wissend, dass das Ganze nicht so einfach sein würde bei jetzt noch unreifer Zervix. Dann erläutert sie Friederike ausführlich die verschiedenen Methoden der Geburtseinleitung, insbesondere auch die verschiedenen Risiken einschließlich des Risikos der Uterusruptur. Friederike ist infolge der Fülle der Informationen etwas verunsichert, willigt aber dann in die Geburtseinleitung ein, schließlich ist sie weiterhin hoch motiviert, ihr Kind vaginal zur Welt zu bringen.

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Kapitel 11 · Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio

11.1.3 Welche Methode zur

Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio würden Sie in dieser Situation wählen? Wie hoch ist das Rupturrisiko bei den verschiedenen Einleitungsverfahren?

Grundsätzlich stehen bei Schwangeren ohne vorangegangene Sectio bei unreifer Zervix zur Verfügung: 44lokal applizierbare PGE2-Präparate (zugelassen), 44die orale oder vaginale Gabe von Misoprostol (off-label use) und 44seit 2014 das zugelassene 200 µg enthaltende Misoprostol-Vaginalinsert (Misodel).

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Es handelt sich um Verfahren mit sowohl zervixreifender als auch weheninduzierender Wirkung. Als äquieffektiv zu PGE2 und Misoprostol gelten Ballonkatheter (Foley-Katheter: off-label use, Doppelballonkatheter: zugelassen), die über die Produktion endogener Prostaglandine eine Zervixreifung induzieren, bei denen aber in den meisten Fällen anschließend Oxytocin zur Weheninduktion notwendig ist. Zur lokalen Zervixreifung sind auch Zervixdilatatoren wie der Dilapan-S zugelassen. Bei reifer Zervix (Bishop-Score ≥ 6) gilt die intravenöse Oxytocin-Infusion, ggf. in Verbindung mit einer Amniotomie, als Methode der Wahl.

Diese Zulassungsrichtlinien und -empfehlungen gelten allerdings nicht für Schwangere nach vorangegangenem Kaiserschnitt. Im Hinblick auf das erhöhte Risiko einer Uterusruptur sind laut Produktinformationen der Herstellerfirmen sämtliche PGE2-Präparate (inkl. des PGE2-Vaginalinserts) sowie Misoprostol (einschließlich des Misoprostol-Vaginalinserts) nach vorangegangener Sectio zur Geburtseinleitung kontraindiziert. . Tab. 11.3 gibt eine kurzgefasste Übersicht über die Produktinformationen der Herstellerfirmen zur Anwendung von Uterotonika nach vorangegangener Sectio. In . Tab. 11.4 ist das Risiko für Uterusruptur nach vorangegangener Sectio dargestellt. Ungeachtet einer diskrepanten Datenlage liegt das Rupturrisiko nach vorangegangener Sectio (?), Uterusoperation (?) mit PGE2 Metaanalysen zufolge bei im Mittel 1,4% und damit deutlich höher als nach Abwarten spontaner Wehen (0,6%; OR 1,67; 95% KI 1,24–2,27). Allerdings wurden in der Mehrzahl der Studien weder die prädiktiven Faktoren für das Erreichen einer vaginalen Geburt noch die Risikofaktoren für eine Uterusruptur berücksichtigt. Misoprostol ist aufgrund eines mittleren Rupturrisikos von 6,2% (0–18%) absolut kontraindiziert. Auch ein Blick in internationale Leitlinien ergibt unterschiedliche Empfehlungen:

. Tab. 11.3  Produktinformationen der Herstellerfirmen: Uterotonika – Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio Alle PGE2-Präparate: kontraindiziert

Achtung! Uterusruptur

Oxytocin: Rote Liste 2017 – Anwendungsbeschränkung Hexal Rotexmedica Carino Doppelballonkatheter: Kontraindikationen → frühere Hysterotomie, klassische Sectio, Myomenukleation oder sonstige Eröffnung des Uterus mit Durchtrennung aller Wandschichten

Besondere Warnhinweise/Vorsichtsmaßnahmen: Zustand nach Sectio mit isthmischem Querschnitt Zustand nach Kaiserschnitt: besondere Kontrolle von Mutter und Kind erforderlich! Warnhinweis: Nach Sectio mit isthmischem Querschnitt ist die Sicherheit und Wirksamkeit des Doppelballons zur Zervixreifung nicht nachgewiesen.

187 11.1 · Falldarstellung

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. Tab. 11.4  Risiko der Uterusruptur nach vorangegangener Sectio caesarea Achtung! Risiko für Uterusruptur (isthmischer Querschnitt)

Elektive Re-Sectio

0,11–0,19%

Abwarten spontaner Wehen

0,4–0,6%

Oxytocin (dosisabhängig)

0,7–1,2%

Oxytocin zur Wehenverstärkung

0,9% > 20 mE/min → bis 4-fach ↑

Prostaglandin-E2

0,4–2,8%

Prostaglandin-E2 + Oxytocin

0–4,5% (im Mittel: 1,5%)

! Misoprostol (vaginal 25–50 µg)

6,2% (0–18,8%) n = 307 in 7 Studien

Ohne vorangegangene vaginale Geburt: 1,5 vs. 0,8% s Mit vorangegangener vaginaler Geburt: 0,4 vs. 0,6% ns

s signifikant, ns nicht signifikant.

Empfehlungen aus internationalen Leitlinien: Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio caesarea Allgemeine Empfehlungen (auszugsweise): 55Beratungsgespräch und Aufklärung: Risikoabwägung Geburtseinleitung vs. elektive Re-Sectio, Selektionskriterien für Erreichen einer vaginalen Geburt und Risikofaktoren für Uterusruptur beachten! Wunsch der Schwangeren → Konsens: Dokumentation in Akte 55Medizinische Indikation zur Geburtseinleitung: elektive Geburtseinleitung unterlassen 55Adäquate Infrastruktur: z. B. kontinuierliche Überwachung von Mutter und Kind »rund um die Uhr«, Möglichkeit zur jederzeitigen raschen Re-Sectio/ Laparotomie, Anästhesie, Notfall-Labor, Blutbank, Neonatologie 55Uterine Schnittführung der vorangegangenen Sectio sollte bekannt sein, kontrovers: –– Nach ACOG (2010) nicht notwendig –– Nach SOGC (2005, 2013) und CNGOF (2013) notwendig Methoden der Geburtseinleitung: 55ACOG (2010): PGE2 und Oxytocin möglich, individuelle Entscheidung, kein Misoprostol, sequenzielle Gabe von PGE2

und Oxytocin vermeiden (Rupturrisiko ↑), Ballonkatheter möglich bei unreifer Zervix (unzureichende Datenlage) 55RCOG (2008/2013): Vaginales PGE2 aufgrund klinischer Erfahrungen anbieten oder Abwarten spontaner Wehen oder elektive Re-Sectio, Konsens mit der Schwangeren 55WHO (2011): Keine speziellen Empfehlungen, kein Misoprostol, Ballonkatheter besser als PGE2 bei unreifer Zervix (Expertenmeinung) 55SOGC (2005/2013): PGE2 nur in rare circumstances (in Leitlinie nicht näher erläutert),kein Misoprostol, Oxytocin erlaubt, Foley-Katheter empfohlen 55CNGOF (2013): PGE2: Einzelfallentscheidung bei günstigen prädiktiven Faktoren für Erreichen einer vaginalen Geburt, kein Misoprostol, Oxytocin möglich, Ballonkatheter möglich (unzureichende Datenlage) ACOG American College of Obstetrics and Gynecologists, SOGC Society of Obstetricians and Gynecologists Canada, CNGOF French College of Gynecologists and Obstetricians, RCOG Royal College of Obstetricians and Gynaecologists, WHO World Health Organization

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Kapitel 11 · Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio

Die nicht mehr gültigen AWMF-Leitlinien 015/031 (Anwendung von Prostaglandinen in Gynäkologie und Geburtshilfe) und 015/021 (Schwangerenbetreuung und Geburtsleitung bei Zustand nach Sectio) erlaubten auf der Basis von Expertenmeinungen bei medizinischer Indikation zur Geburtseinleitung und Gewährleistung einer kontinuierlichen Überwachung von Mutter und Kind die intrazervikale oder vaginale Anwendung von PGE2-Gel zur Zervixreifung nach vorangegangenem Kaiserschnitt. Dementsprechend leiteten laut einer deutschlandweiten Umfrage 2013 64% der geburtshilflichen Kliniken des Landes die Geburt nach vorangegangener Sectio mit vaginalem PGE2-Gel ein, 15% mit intrazervikalem PGE2-Gel. Eine effektive Alternative zu PGE 2 stellt bei unreifer Zervix der transzervikale Ballonkatheter dar, mit dem eine schonende Zervixreifung ohne Auslösung uteriner Überstimulierungen (im Vergleich zu Prostaglandinen) zu erreichen ist und der damit prinzipiell eine geeignete Option auch zur Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio darstellt. In 68% der Fälle (20,5–91,5%) ist intravenöses Oxytocin zur Weheninduktion/Wehenverstärkung erforderlich. Allerdings ist – wie bereits in . Tab. 11.3 erwähnt – der kommerziell verfügbare Doppelballonkatheter ebenfalls in dieser Indikation kontraindiziert, die Anwendung des Foley-Katheters ist zur Geburtseinleitung ohne und mit vorangegangenem Kaiserschnitt immer ein off-label use. Laut bundesweiter Umfrage 2013 setzen in Deutschland nur 5% der geburtshilflichen Kliniken Ballonkatheter zur Geburtseinleitung nach Sectio ein, laut einer Umfrage aus Holland 2010 sind es dort 73% der Kliniken! – Eine aktuelle systematische Übersicht retrospektiver Studien ergab mit Ballonkathetern eine Rupturrate von 0,7%, schließt man eine methodisch anfechtbare Untersuchung mit 9 Uterusrupturen bei 138 Patientinnen aus. Hier war auch bei Abwarten spontaner Wehen die Rupturrate mit 1,9% mehr als doppelt so hoch, wie in Metaanalysen angegeben (0,4–0,6%). Mit dem Ballonkatheter wird nach vorangegangener Sectio in 56% der Fälle eine vaginale Geburt erreicht, nach Abwarten spontaner Wehen im Mittel bei 75% der Schwangeren. Bisher liegen keine relevanten Studien zur Anwendung von Zervixdilatoren (Dilapan-S), die zur Zervixreifung nach vorangegangener Sectio erlaubt sind, vor, und auch nicht zu alternativen

Einleitungsverfahren (z. B. Rizinusöl, homöopathische Substanzen, Akupunktur). Bei reifer Zervix stellt die gut steuerbare intravenöse Oxytocin-Infusion die Methode der Wahl zur Geburtseinleitung nach Sectio dar. Die kurze Plasmahalbwertszeit (3–6 min) ermöglicht bei Stopp der Oxytocin-Zufuhr ein rasches Sistieren der Wehen. Ausweislich von Metaanalysen liegt die Rate an Uterusrupturen nach Weheninduktion mit intravenösem Oxytocin in Abhängigkeit von der applizierten Dosis zwischen 0,7% und 1,2%; wird Oxytocin zur Wehenverstärkung gegeben, bei im Mittel 0,9% (. Tab. 11.4). > Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen maximaler Oxytocindosis und der Rate an Uterusrupturen. Ab einer maximalen Oxytocindosis von > 20 mE/min steigt das Rupturrisiko exponentiell bis zum 4-Fachen (bei 40 mE/min) an.

Ausweislich internationaler Leitlinien ist bei reifer Zervix die intravenöse Gabe von Oxytocin zur Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio erlaubt (s. oben, Übersicht: Empfehlungen aus internationalen Leitlinien: Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio caesarea, Methoden der Geburtseinleitung). Wird bei initial unreifer Zervix mit dem Ballonkatheter eine Muttermundweite von 3–4 cm erreicht, was bei Expulsion eines mit 60–80 ml gefüllten Ballons der Fall ist, und anschließend i.v.-Oxytocin gegeben, so ist die Rate an Uterusrupturen nicht höher als bei Abwarten spontaner Wehen. Die Kenntnis der Einleitungsverfahren nach vorangegangener Sectio unter Berücksichtigung der Zulassungsrichtlinien und Empfehlungen aus internationalen Leitlinien sowie deren Risiken sind unverzichtbare Voraussetzung für ein adäquates Beratungsgespräch und für die Durchführung der Geburtseinleitung (s. oben, Übersicht: Empfehlungen aus internationalen Leitlinien: Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio caesarea, Allgemeine Empfehlungen). So geht es weiter … Friederike ist in den nächsten 2 Tagen zunehmend verzweifelt, es treten keine Wehen ein. Ihr Mann

189 11.1 · Falldarstellung

begleitet sie am Mittwochmorgen in die Klinik. Glücklicherweise hat Frau Dr. Wilhelm, zu der Friederike inzwischen Vertrauen gefasst hat, heute Dienst im Kreißsaal. Sie kennt ja ihre Vorgeschichte und ihre Befunde. Das Aufnahme-CTG ist unauffällig, der Bishop-Score unverändert. Nun geht es noch einmal um die Methode der Geburtseinleitung und um die Vorgehensweise, die Frau Dr. Wilhelm Friederike geduldig erläutert. In diesem Zusammenhang weist die Ärztin auch noch einmal darauf hin, dass Prostaglandin-E2-Präparate und der Doppelballonkatheter zur Geburtseinleitung nach Kaiserschnitt nicht zugelassen sind, sie aber in ihrer Klinik auch nach Sectio positive Erfahrungen mit beiden Methoden gesammelt hätten. Frau Dr. Wilhelm erwähnt auch den Zervixdilatator Dilapan-S als zugelassene Form der Geburtseinleitung nach Sectio, sagt aber auch, dass sie mit dieser Methode keine Erfahrungen hätten. »Ich würde Ihnen zu einer Geburtseinleitung mit dem Ballonkatheter raten. Er führt meist innerhalb von 12 Stunden zu einer schonenden und wirksamen Reifung des Muttermundes ohne Auslösung schmerzhafter Wehen. Das belastet die alte Kaiserschnittnarbe weniger, als wenn wir Prostaglandine geben würden, die häufig schon rasch zu starken Wehen führen können. Nach meiner Meinung ist mit dem Ballonkatheter das Risiko für eine Uterusruptur geringer, auch wenn es sein kann, dass wir später noch mit einer intravenösen Tropfinfusion von Oxytocin Wehen auslösen müssen«, erklärt die Ärztin und fährt fort: »Wir haben in unserer Klinik seit einigen Jahren gute Erfahrungen mit einer Art ‚Blasenkatheter‘ (Foley-Katheter) gemacht, der durch den Gebärmutterhalskanal in die Gebärmutterhöhle eingeführt und mit 60 ml Kochsalzlösung aufgefüllt wird. Er kann dort bis zu 12 Stunden liegen bleiben, es kann aber auch sein, dass der Ballon vorher herausfällt.« »Kann der Ballon meinem Kind schaden?«, will Friederike wissen. Frau Dr. Wilhelm schüttelt den Kopf. »Es ist sehr selten, dass es bei Einlage des Ballonkatheters versehentlich zu einem Blasensprung kommt, gelegentlich können Fieber und eine Infektion der Gebärmutter auftreten. Wir werden ihnen deshalb vorsorglich ein Antibiotikum geben.« Die Einlage eines 16-Charrier(ca. 5 mm Durchmesser)-Foley-Katheters gelingt ohne Probleme. Friederike hat dabei keine Schmerzen, der Ballon wird mit

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60  ml Kochsalzlösung aufgefüllt. Friederike spürt das nur als leichtes Druckgefühl, dann wird das Katheterende mit einem Klebestreifen an ihrem Oberschenkel befestigt. »Sie haben jetzt erst einmal Ruhe, bitte melden Sie sich aber sofort, wenn Sie Wehen verspüren«, sagt die Ärztin und übergibt Friederike an die diensthabende Hebamme, die während des Gesprächs anwesend war.

11.1.4 Welche Faktoren/Maßnahmen

sind bei der Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio zu berücksichtigen?

Wie bereits im Vorfeld bei Friederike geschehen, ist die Kenntnis der uterinen Schnittführung bei der vorangegangenen Sectio, einer eventuellen Uterusdehiszenz/-ruptur und vorangegangener Operationen mit Eröffnung des Cavum uteri sowie die sonographische Untersuchung mit Bestimmung des Plazentasitzes und des Schätzgewichts des Kindes unabdingbare Voraussetzung. Eine routinemäßige Messung der Dicke des unteren Uterinsegments (Uterusnarbe) ist nicht erforderlich, kann unter praktischen Gesichtspunkten aber dann wegweisend sein, wenn so gut wie kein Myometrium mehr darstellbar ist (hohe Rupturgefahr!). > Wichtig ist die Überwachung von Mutter und Kind während der Geburtseinleitung!

Bei jeder Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio mit Gabe von Prostaglandinen oder Oxytocin (Weheninduktion/Wehenverstärkung) ist eine kontinuierliche CTG-Überwachung erforderlich. Pathologisches CTG mit fetaler Bradykardie und/ oder Dezelerationen sind die häufigsten und ersten Zeichen einer Uterusruptur, oft in Verbindung mit einer pathologischen Wehentätigkeit (uterine Überstimulierungen). Bei Anwendung von Ballonkathetern ist nur selten mit der Auslösung regelmäßiger Wehen oder uteriner Überstimulierungen zu rechnen, allerdings fehlen hierzu konkrete Angaben. Klare Empfehlungen zur CTG-Überwachung in diesen Fällen gibt es bisher nicht. Nach Auffassung des Autors gilt: wenn die Schwangere Wehen verspürt oder diese

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Kapitel 11 · Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio

palpatorisch nachgewiesen werden, sollte unverzüglich ein CTG angefertigt werden. Entgegen früheren Auffassungen ist der Verzicht auf eine Regionalanästhesie (Schmerzen als Hinweis auf eine Uterusruptur) nicht mehr gerechtfertigt, einige Autoren empfehlen sogar eine Regionalanästhesie. Ebenfalls nicht erforderlich sind eine intrauterine Druckmessung sowie eine Pelvimetrie mittels MRT vor Beginn der Geburtseinleitung. Das Ende des Falls …

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Friederike ist müde und schläft ein. Sie bemerkt nicht, dass die Hebamme immer wieder zu ihr hereinkommt; ca. 6 Stunden später wacht Friederike mit Ziehen im Bauch und einem kurzen Druckgefühl nach unten auf. Die Hebamme schlägt die Bettdecke zurück, der Ballonkatheter ist herausgefallen. Kurz darauf kommt Frau Dr. Wilhelm und führt eine vaginale Untersuchung durch: der Muttermund ist weitgehend verstrichen, 2–3  cm weit geöffnet, weich, der Kopf fest zwischen Beckeneingang und Beckenmitte. Das daraufhin angefertigte CTG ist unauffällig mit vereinzelten Kontraktionen, die Friederike aber nicht als schmerzhaft empfindet. »Wir werden jetzt, wie besprochen, die Wehentätigkeit mit einem Oxytocin-Tropf unterstützen«, sagt die Ärztin. Sie will mit der Amniotomie noch warten, bis regelmäßige Wehen eintreten. Kurz darauf beginnt die intravenöse Oxytocin-Infusion unter kontinuierlicher CTG-Kontrolle nach einem klinikinternen Standard (6 mE Oxytocin in 500 ml Lösung, initial 20 ml/h entsprechend 4 mE/min, gesteigert alle 20 min bis auf maximal 32 mE/min). Die Wehentätigkeit kommt unter niedriger Oxytocin-Dosierung zunächst nur zögerlich in Gang, sodass die Oxytocin-Dosierung stufenweise bis auf maximal 32  mE/min gesteigert werden muss, um regelmäßige Wehen auszulösen. Das CTG zeigt bis auf gelegentliche periodische Akzelerationen und einzelne leichte variable Dezelerationen keine weiteren Auffälligkeiten. Noch bevor Frau Dr. Wilhelm die Amniotomie durchführen will, kommt es bei einer Muttermundweite von ca. 5  cm zum Blasensprung, das Fruchtwasser ist klar. Um uterine Überstimulierungen, die bisher nicht aufgetreten sind, zu vermeiden, wird die Oxytocin-Dosis vermindert. Etwa 20 Minuten später ruft Hebamme Saskia: »Sie haben es gleich geschafft, ich kann das Köpfchen

schon sehen!« Kurz darauf verspürt Friederike Pressdrang, der Muttermund ist vollständig geöffnet. Wenig später kommt es ohne Anlegen einer Episiotomie zur Geburt des kleinen Lenard aus I. vorderer Hinterhauptslage, der Nabelschnur-pH beträgt 7,30; Apgar-Werte: 9/9/10. Nach langsamer intravenöser Gabe von 3 mE Oxytocin löst sich die Plazenta ohne Probleme, die Plazentarperiode verläuft insgesamt komplikationslos. Entsprechend den derzeitigen Leitlinienempfehlungen wird auf eine manuelle Nachtastung der Uterotomienarbe verzichtet. Friederike und ihr Mann, der bei der Geburt dabei war, sind glücklich. »Geschafft!«, denkt sie und nimmt ihren kleinen Sohn an die Brust. Frau Dr. Wilhelm lächelt. Sie weiß, dass es bei einer Geburtseinleitung nach vorangegangenem Kaiserschnitt nicht immer so ausgeht wie bei Friederike. 3 Tage später verlassen Friederike und der kleine Lenard das Krankenhaus, rundum zufrieden. Friederike ist überzeugt, dass sie, falls sie nochmal ein Kind bekäme, es wieder genauso machen und auch andere Mütter nach Kaiserschnitt ermutigen würde, wenn möglich, ihr Kind vaginal zur Welt zu bringen.

11.2 Fallnachbetrachtung

In Deutschland wurde 2014 nach vorangegangener Sectio in 74% der Fälle erneut eine Sectio durchgeführt. Die vorangegangene Sectio ist die häufigste Indikation für eine (Re-)Sectio mit einem Anteil von 28%, noch vor dem pathologischen CTG mit 21%. Andererseits ist aus der umfänglichen Literatur bekannt, dass eine vaginale Geburt (Abwarten spontaner Wehen/Geburtseinleitung) in durchschnittlich 72–75% der Fälle nach vorherigem Kaiserschnitt zu erreichen ist. Dieser Hintergrund war Anlass für die Falldarstellung. Von zentraler Bedeutung sind die sorgfältige Anamnese-/Befunderhebung und das Beratungsgespräch. Zunächst geht es dabei um die individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung eines vaginalen Entbindungsversuchs gegenüber einer elektiven Re-Sectio. Im vorliegenden Fall ist kritisch zu diskutieren, ob Frau Dr. Wilhelm angesichts des explizit geäußerten Wunsches der Schwangeren nach einer vaginalen Geburt das Für und Wider einer elektiven Re-Sectio

191 11.2 · Fallnachbetrachtung

im Vergleich zu einem vaginalen Entbindungsversuch mit Friederike hätte erörtern müssen oder nicht. Eine weitere Frage ist, wie weit diese Aufklärung im Detail hätte gehen müssen. Im vorliegenden Fall wurde zwar über das Risiko der Uterusruptur gesprochen, aber nicht detailliert über die Konsequenzen der Uterusruptur (wie schwere intrapartale Hypoxie/ hypoxisch-ischämische Enzephalopathie sowie schwere mütterliche Komplikationen wie postpartale Blutungen und Notwendigkeit zur notfallmäßigen Hysterektomie im Einzelfall). Von juristischer Seite wird auch die Aufklärung über diese seltenen, aus der Uterusruptur resultierenden, schweren Komplikationen gefordert. Dem gegenüber steht das Problem, dass durch eine »schonungslose« Aufklärung die Schwangere verunsichert und von ihrem eigentlichen Vorhaben einer vaginalen Geburt abgebracht werden könnte. > Es ist daher wichtig, die Prozentzahlen einer Uterusruptur nach Abwarten spontaner Wehen oder nach Geburtseinleitung mit verschiedenen Methoden zu kennen, ebenso die Häufigkeit von aus einer Uterusruptur resultierenden Komplikationen für Mutter und Kind. Diese Risiken sollten in dem Beratungsgespräch, welches vom Geburtshelfer Fingerspitzengefühl und Erfahrung erfordert, weder dramatisiert noch bagatellisiert werden. Entscheidend ist, das Für und Wider mit der Schwangeren ergebnisoffen zu diskutieren, um schließlich im Konsens die Entscheidung hinsichtlich des Geburtsmodus zu treffen.

Wird ein vaginaler Entbindungsversuch geplant, so ist die Berücksichtigung der Selektionskriterien für eine erfolgreiche vaginale Entbindung sowie die Einbeziehung von Risikofaktoren für eine Uterusruptur Grundlage für ein adäquates Beratungsgespräch. Hierzu gehören auch Informationen über die uterine Schnittführung bei dem vorangegangenen Kaiserschnitt. Es ist davon auszugehen, dass Frau Dr. Wilhelm diese wichtigen Entscheidungskriterien kannte, sonst hätte sie Friederike nicht zu einer vaginalen Geburt geraten. Korrekt war auch, mittels Sonographie die Lage, den Plazentasitz und das Schätzgewicht des

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Kindes zu bestimmen. Im Hinblick auf die Vermeidung potenzieller medikolegaler Auseinandersetzungen ist es erforderlich, die Inhalte des Beratungsgesprächs und die Entscheidung hinsichtlich des Geburtsmodus exakt zu protokollieren. Auch das hat die Ärztin im vorliegenden Fall getan. Die Indikation zur Geburtseinleitung erfolgte gemäß der AWMF-Leitlinie 015/065 (Terminüberschreitung/-übertragung). Allerdings gab Frau Dr. Wilhelm, wohl um Friederike nicht weiter zu beunruhigen, keine genaue Begründung dafür ab, warum die Geburtseinleitung bei Terminüberschreitung empfohlen wird (steigende Rate an IUFT, Erhöhung der neonatalen Morbidität). Das geburtshilfliche Vorgehen in der Klinik ist nicht zu beanstanden. Friederike wurde darüber aufgeklärt, dass laut Produktinformationen der Herstellerfirmen Prostaglandin-E2-Präparate und der Doppelballonkatheter (wie auch der Foley-Katheter) zur Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio kontraindiziert sind, andererseits aber bei Vorliegen einer medizinischen Indikation und Gewährleistung einer kontinuierlichen Überwachung von Mutter und Kind eine Geburtseinleitung mit diesen Methoden laut Leitlinien durchaus zu rechtfertigen ist. Die Ärztin wies in diesem Zusammenhang auch auf die umfangreichen Erfahrungen mit diesen Methoden zur Geburtseinleitung nach Kaiserschnitt in ihrer Klinik hin. Die Entscheidung, die Geburtseinleitung mit einem Ballonkatheter durchzuführen, ist angesichts des geringeren Risikos einer Uterusruptur im Vergleich zu PGE2-Präparaten nachvollziehbar. Eine Alternative wäre der Einsatz eines Zervixdilatators (Dilapan-S) gewesen. Zu beanstanden ist allerdings die Steigerung der Oxytocin-Dosierung auf maximal 32 mE/min. Vermutlich sind die Untersuchungen von Cahill et al., nach denen bei Überschreiten einer Oxytocin-Dosis von 20 mE/min nach vorangegangener Sectio die Rate an Uterusrupturen exponentiell zur OxytocinDosierung ansteigt, noch unzureichend bekannt. Der vorliegende Fall zeigt, dass es sich lohnt, durch eine sorgfältige Selektion für eine vaginale Geburt infrage kommenden Schwangeren einen erneuten Kaiserschnitt zu ersparen, insbesondere bei Frauen, die noch weiteren Kinderwunsch haben. Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang ist die

192

Kapitel 11 · Wunsch der vaginalen Geburt nach vorangegangener Sectio

. Tab. 11.5  Mütterliche Morbidität in Abhängigkeit von der Zahl der Sectiones (Marshall et al. 2011) Mütterliche Morbidität

1 Sectio

≥ 2 Sectiones

≥ 3 Sectiones

Hysterektomie

0,9%

2,4%

3,5–9%

Placenta praevia

0,8–1,5%

1,1–2,0%

2,3–5,6%

Placenta accreta

11–14%

23–40%

35–67%

→ Bluttransfusionen ↑, peri-/postpartale Blutungen ↑, operative Organverletzungen ↑

zunehmende mütterliche Morbidität in Abhängigkeit von der Zahl der Sectiones (. Tab. 11.5). Bemerkung des Autors  Wer die hohen Sectio-Raten in Deutschland beklagt und diese senken will, sollte sich als Erstes bemühen, die Rate vaginaler Geburten nach vorangegangener Sectio zu steigern!

Weiterführende Literatur

11

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193

Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel Alexander Strauss

12.1

Falldarstellung – 195

12.1.1

Wie erklären Sie sich die vaginalen Blutungen bei der stillenden Frau? – 195 Welche Überlegungen zu den Ursachen der vaginalen Blutungen von Frau Beutel werden von der Frauenärztin angestellt werden? Welche Kausalität wird sie als die wahrscheinlichste ansehen? – 196 Welche Untersuchungen wird die Frauenärztin zur Abklärung der Blutungsursache vornehmen? – 196 Welche Befunde sind in der Ultraschalluntersuchung (. Abb. 12.1) dargestellt? – 197 Welche Befunde sind in der Ultraschalluntersuchung (. Abb. 12.2) dargestellt? – 198 Welche Überlegungen zum Zustand ihrer Patientin werden von den Klinikärzten bezüglich der Befunde angestellt, sodass diese auf derart engmaschigem Kontrollbedarf bestehen wollen? – 198 Wie kann die Diagnose der Frauenärztin lauten? – 199 Wie beschreiben und bewerten Sie den sonographischen Befund in . Abb. 12.3a und b? – 199 Welche Informationen zum klinischen Umgang mit der aktuellen Gesundheitssituation von Frau Beutel sind maßgeblich? – 201 Wie beantwortet Frau Dr. Allzeit die Frage der Patientin nach der Häufigkeit und Kausalität der gestörten Schwangerschaftsentwicklung außerhalb der Gebärmutterhöhle? – 201 Welchem Ereignis im Krankheitsverlauf ordnen Sie die nächtliche Symptomatik zu? – 203

12.1.2

12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.1.6

12.1.7 12.1.8 12.1.9 12.1.10

12.1.11

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_12

12

12.1.12

12.1.13

Welche therapeutischen Maßnahmen stehen dem ärztlichen Klinikteam prinzipiell zur Verfügung? Für welche dieser Optionen wird sich die diensthabende frauenärztliche Oberärztin in der konkreten Situation entscheiden? – 204 Mit welchen medizinischen Informationen ist die Familie Beutel im Rahmen einer Aufklärung/Beratung zur medizinischen Zukunft nach diesem für alle Beteiligten traumatischen Ereignis auszustatten? – 206

12.2

Fallnachbetrachtung – 207

12.2.1 12.2.2

Welche medizinischen/organisatorischen Verbesserungsmöglichkeiten sehen Sie im geschilderten Fall? – 207 Wie ist bei einer ektopen Schwangerschaft vorzugehen? – 208



Weiterführende Literatur – 208

195 12.1 · Falldarstellung

12.1 Falldarstellung

Alles begann mit … » … was war das für ein turbulentes Jahr für uns alle gewesen! Mein 40. Geburtstag, endlich die Geburt unseres Kind, neues Heim, neues Auto … Nach aufregenden Monaten war die Zeit bis weit in die Adventszeit hinein stressig gewesen«, dachte Gabriele Beutel. Die Kleine, der Umzug in unser neues Haus und der berufliche Wiedereinstieg Ende Oktober hatten mir keine Minute des Durchatmens gegönnt. Erst Mitte Dezember wurde es endlich etwas ruhiger, und nachdem fast alle Weihnachtsgeschenke in den Säckchen verstaut waren, kehrte so etwas wie Ruhe ein. Ich hatte zum ersten Mal seit langem wieder meine Periode. Dazu muss ich sagen, ich wurde erst am 14. Mai von unserer Tochter entbunden und habe zu diesem Zeitpunkt noch gestillt. Naja, wie dem auch sei, verhütet haben mein Mann und ich nicht. Da uns beiden bewusst war, dass wir auf jeden Fall noch ein Kind wollten, und dies sobald wie möglich, gingen wir die Sache offen an. Später im Dezember bekam ich noch zweimal leichte Blutungen. »Mein Zyklus muss sich ja erst wieder einpendeln«, sagte ich mir. Was ich mir an Silvester um Punkt 0:00 für das neue Jahr gewünscht habe, kann man sich sicher vorstellen. An Neujahr hatte ich eine kurze hellrote Blutung und das Gefühl, mein Unterleib fühlt sich angeschwollen an. Bis heute habe ich keine richtige Erklärung dafür, was ich da für ein Problem hatte.

12.1.1 Wie erklären Sie sich die

vaginalen Blutungen bei der stillenden Frau?

Während der Laktation können Blutungen variabler Genese auftreten. Differenzialdiagnostisch sind medizinisch unbedenkliche von kurz- bzw. mittelfristig bedrohlichen Blutungsereignissen zu unterscheiden:

12

Vaginale Blutungen während des Stillens 55Menstruationsblutung 55Metrorrhagie 55Endometriale Gewebealteration 55Endokrin verursachte Blutung 55Vaginale/uterine Neubildung 55Entzündliches Geschehen im Bereich des äußeren/inneren Genitale 55Intravaginaler/intrauteriner Fremdkörper (Ring, IUP) 55(Früh-)Schwangerschaft

… ein unruhiger Jahresanfang … Da sich die Blutungen nicht wiederholten, dachte ich mir nichts Arges und begann das Jahr in freudiger Hoffnung. Mitte Januar fielen mir dann morgens unter der Dusche sehr empfindliche und etwas geschwollene Brüste auf. Ich jubelte. Im Laufe des Tages verstärkte sich dieses Gefühl allerdings zu immer stärkeren Brustschmerzen. Wenige Tage später kam ein schmerzhaftes Ziehen in den Leisten ausstrahlend in den Unterleib dazu. Am 17. Januar hatte ich dann eine kurze hellrote Blutung und Kopfschmerzen, welche am 18., es war nun ca. der 29. Zyklustag, von einer schwachen dunkelrot-braunen Schmierblutung und sehr starken Kopfschmerzen und Übelkeit gefolgt war. Da meine Periode häufig so beginnt und manchmal ein paar Tage braucht, um richtig ins Laufen zu kommen, fiel mein Optimismus-Barometer tief in den Keller. Da meine Kleine abends bis 40 °C zu fiebern begann und ich die nächsten Tage so gut wie ausschließlich mit ihr beschäftigt war, realisierte ich gar nicht so richtig, dass sich die Monatsblutung gar nicht – wie zu erwarten – steigerte, sondern ganz schwach verlief und nach den ersten beiden Tagen völlig wegblieb. Auch wenn ich, zwar selten, aber doch immer wieder seltsame Menstruationsblutungen hatte, kam mir das nun doch komisch vor. Plötzlich waren sie wieder da, die Erinnerungen an die drei Fehlgeburten und die schrecklichen Ausschabungen, welche ich vor 10 Jahren durchleben musste. Nicht zu vergessen die Unterleibsentzündung,

196

12

Kapitel 12 · Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel

welche sich beim letzten Mal angeschlossen und mich mit Fieber und Schmerzen für Wochen ans Bett gefesselt hatte. Deshalb besorgte ich mir in der Apotheke einen Schwangerschaftstest und führte diesen auch direkt durch. Der Test war negativ. Ich dachte mir: »Gut, dann ist das halt so.« Ausgerechnet war mein Mann Andreas an diesem Tag auf Geschäftsreise, sodass ich diesen tristen Abend mit einer halben Flasche Rotwein, die noch vom vergangenen Wochenende übrig geblieben war, als einzigem Begleiter verbrachte. Eine Woche später, es war ein Freitag, hab ich nochmal getestet – und siehe da: der Streifen fiel prompt leicht positiv aus, und ich konnte mich einfach nur freuen. »Was für eine Achterbahn!« Ich konnte nicht an mich halten, es meiner besten Freundin, die just in dem Moment auf meinem Mobiltelefon durchklingelte, freudig mitzuteilen. Da ich bereits in der Stadt war, bin ich direkt bei Dr. Allzeit meiner Frauenärztin vorbeigegangen.

komplizierte Abortverläufe voneinander abzugrenzen. Deutlich seltener (0,3–3% aller Schwangerschaften) kann eine Nidation des Conceptus außerhalb des Cavum uteri eine ektope Schwangerschaft bedingen.

12.1.2 Welche Überlegungen zu

12.1.3 Welche Untersuchungen

den Ursachen der vaginalen Blutungen von Frau Beutel werden von der Frauenärztin angestellt werden? Welche Kausalität wird sie als die wahrscheinlichste ansehen?

Jede Implantation einer befruchteten Eizelle innerhalb (Implantationsblutung, Endometriumalteration) wie auch außerhalb des Cavum uteri (Hormonentzugsblutung, dezidualisiertes Endometrium) kann mit einer Blutung einhergehen. Das Symptom der vaginalen Hämorrhagie gemeinsam mit dem Nachweis von ß-hCG im Urin der Patientin weist den diagnostischen Weg in Richtung einer Frühschwangerschaft. hCG humanes Choriongonadotropin > Stillen ist kein sicherer Konzeptionsschutz!

Die arithmetisch wahrscheinlichste Diagnose stellt eine intakte intrauterine Gravidität dar. Alternativ kann die Blutung ein Indiz einer Störung der Schwangerschaftsentwicklung (Abort) darstellen (20%). Hierbei sind ein Abortus imminens, incipiens, incompletus und completus wie auch entzündlich

… in der Frauenarztpraxis … Da ich ohne Termin in der Praxis erschien, musste ich zunächst der Arzthelferin eine Kurzzusammenfassung meiner Geschichte der letzten 6  Wochen erzählen. Nach Schilderung meiner Beschwerden und des positiven Schwangerschaftstests vermutete sie, dass meine Eierstöcke trotz des fortdauernden Stillens meines Kindes ihre Funktion wieder aufgenommen hätten, aber schwanger könnte ich wegen des Stillens ja nicht sein. Das hätte sie so gelernt. Verwirrt nahm ich im Wartezimmer Platz und musste anschließend ganze eineinhalb Stunden warten. Endlich rief mich Frau Dr. Allzeit in ihren Behandlungsraum.

wird die Frauenärztin zur Abklärung der Blutungsursache vornehmen?

44Anamnese, 44Klinische (gynäkologische) Untersuchung, 44Ultraschalldiagnostik, 44Laborwertbestimmung.

Diagnostik 55Anamnese –– Sekundäre Amenorrhö (Zwischen-/ Implantationsblutungen können die exakte Bestimmung der Amenorrhö-Dauer verfälschen) –– Allgemeine gynäkologische Anamnese: –– Schwangerschaften (auch frühere ektope Schwangerschaften) und Geburten –– Gynäkologische Erkrankungen (v. a. Adnexitiden), OP (v. a. Sterilisation und Tubeneingriffe)

197 12.1 · Falldarstellung

12

… die Frauenärztin untersucht … 55Klinische Untersuchung –– Schmerzen (u. U. Portioschiebeschmerz, Abwehrspannung) –– Vaginale Blutung –– Palpationsbefunde (Größe und Auflockerungsgrad des Uterus, u. U. Adnexbefunde) 55Laborbefunde –– ß-hCG: Schwangerschaftsschnelltest: Nachweisgrenze: 5–25 mIU/ml ß-hCG im Serum wie auch im Urin; der Nachweis gelingt frühestens 10–14 Tage nach der Konzeption –– Bei intakter intrauteriner Gravidität verdoppelt sich die Konzentration zunächst (bis Tag 40 p.m.) etwa alle 2 Tage –– Ab Tag 41–56 physiologische ­Abflachung des β-hCG-Anstiegs auf 33% in 48 h, zwischen Tag 57–65 auf 5% in 48 h –– Verglichen mit intrauterinen ­Schwangerschaften weisen ektope Graviditäten neben diesem Unterschied in der Anstiegsdynamik auch insgesamt niedrigere β-hCG-Niveaus auf –– Progesteron: –– < 5 ng/ml: Zusätzlicher Hinweis auf eine gestörte Schwangerschaft –– > 25 mg/ml: Extrauteringravidität kann zu 97% ausgeschlossen werden –– (Die Progesteronbestimmung hat in der klinischen Routine jedoch keinen wesentlichen Stellenwert erreicht, da der zusätzliche diagnostische Nutzen neben einer ß-hCG-Bestimmung und der Bedeutung der Sonographie gering bleibt) 55Transvaginalsonographie –– Chorionhöhle im Cavum uteri –– Nachweisgrenze: ß-hCG 1000– 1500 mIU/ml (Sensitivität 90%, Spezifität 98%) –– Im Einzelfall sind Abweichungen bis 15.000 mIU/ml möglich

Die Ärztin tastete meinen Bauch ab und nahm eine gynäkologische Untersuchung vor. Danach kam endlich der Ultraschall. Ich hatte schon ungeduldig gewartet, »etwas sehen zu können«.

12.1.4 Welche Befunde sind in der

Ultraschalluntersuchung (. Abb. 12.1) dargestellt?

Befund  Aufgelockerter Uterus mit hoch aufgebauter Gebärmutterschleimhaut ohne sonographisch nachweisbare Fruchtanlage.

… es kehrt keine Ruhe ein … Nach der Untersuchung und während ich mich noch ankleidete, erklärte mir meine Frauenärztin, ich hätte wohl trotz Stillen Mitte Dezember eine Menstruation und um den Jahreswechsel eine Ovulation, welche mit einer leichten Blutung einhergegangen sei, gehabt. Die danach aufgetretenen wiederholten Blutungen und das Brustspannen seien als Einnistungszeichen im Rahmen einer beginnenden Schwangerschaft zu sehen. Alles sei soweit unauffällig. Ich sei sehr früh dran mit der Schwangerschaft und sollte mich in 2 Wochen wieder bei ihr vorstellen. Noch während ich meinen Rock schloss, streckte sie mir durch den Vorhang der Umkleide ihre Hand zum Gruß zu und war im nächsten Untersuchungsraum verschwunden. Ich war vor Freude so aus dem Häuschen, dass ich mich über diese »Ver-Abschiebung« erst zu Hause so richtig zu ärgern begann. Andreas versuchte, als

. Abb. 12.1  Transvaginalsonographie: retrovertierte, retroflektierte geringgradig vergrößerte Gebärmutter mit echoarmem, homogenem Endometrium (23 mm)

198

12

Kapitel 12 · Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel

nach meiner Rückkehr nach Hause alle Neuigkeiten nur so aus mir herausmussten, mich etwas zu bremsen, was ihm (wie stets) nach einiger Zeit auch ganz ordentlich gelang. Nur 5 Tage später bekam ich morgens beim Stillen heftige Unterleibsschmerzen, die aber nach ein paar Minuten wieder abklangen. Ich rief gleich in der Praxis an und konnte dieses Mal auch sofort vorbeikommen. Frau Dr. Allzeit hat dann beim Ultraschall festgestellt, dass ich eine 30  mm große Zyste am linken Eierstock habe, und diese als »Hormonzyste« bezeichnet. »Diese kommt von der Schwangerschaft und ist harmlos«, so die Meinung der Ärztin. Daneben sei nach wie vor eine geschwollene Gebärmutter mit dicker Schleimhaut zu entdecken. Es war ja wohl immer noch sehr früh! Zu den Schmerzen meinte sie, es handele sich um Kontraktionen der Gebärmutter, da beim Stillen ja Oxytocin ausgeschüttet wird, und hat mir dann dazu geraten, sofort abzustillen. Das war ein Schock für mich, da ich meiner Tochter doch das Beste auf dieser Welt, meine Muttermilch, nicht vorenthalten wollte. Ich war völlig durcheinander und am Ende richtig sauer, weil sie überhaupt nicht locker ließ, mich zu einem sofortigen Stillverzicht zu überreden. Den schon geplanten Kontrolltermin in der kommenden Woche hielten wir aufrecht. In den kommenden Tagen kamen die Schmerzen beim Stillen auch nicht wieder, und ich wurde schon wieder etwas optimistischer und mein Ärger wurde weniger. Wir haben dann am Wochenende sogar eine Feier in der Nachbarschaft besucht. Am nächsten Abend jedoch stellte sich heraus, dass irgendetwas vom Buffet am Abend zuvor verdorben gewesen war, und ich es natürlich gegessen hatte. Ich bekam Krämpfe, leicht erhöhte Temperatur und Durchfall, sodass wir nachts deswegen ins Krankenhaus fahren mussten. Als die Ärzte dort hörten, dass ich schwanger bin, haben sie natürlich auch gleich einen Ultraschall gemacht, um nachzusehen, wie es denn dem Baby so geht. Doch auch sie konnten nur die aufgerichtete Gebärmutter mit Schleimhaut entdecken und die Zyste, die mittlerweile schon auf 5  cm angewachsen war. Nachdem ich über Nacht in der Klinik geblieben war und sich die Beschwerden gelegt hatten, ging ich nach Hause. Das war gar nicht so einfach, da mich der Stationsarzt und sein Oberarzt nicht gehen lassen wollten und von

mir eine Unterschrift verlangten, dass ich für diese Entlassung das Risiko selbst zu tragen hätte. »Sie sind nun mal schwanger und sollten doch an die Gefahren für die Entwicklung des Kindes denken!« Sie haben mir dann doch noch Blut abgenommen, für das Schwangerschaftshormon, und meinten zu mir, man solle diesen Wert später auch noch weiter kontrollieren. Ich sollte, wenn ich schon nicht bleiben wolle, doch auf jeden Fall am Dienstag noch einmal vorbeikommen.

12.1.5 Welche Befunde sind in der

Ultraschalluntersuchung (. Abb. 12.2) dargestellt?

Befund  Intratubares teils flüssiges (echoleer), teils koaguliertes (echoarm) Hämatom, bei geschlängeltem Eileiterverlauf mehrfach angeschnittenen. Sonographisches Korrelat einer Eileiterschwangerschaft.

12.1.6 Welche Überlegungen zum

Zustand ihrer Patientin werden von den Klinikärzten bezüglich der Befunde angestellt, sodass diese auf derart engmaschigem Kontrollbedarf bestehen wollen?

Bei positivem Schwangerschaftstest und fehlendem sonographischem Nachweis einer Fruchthöhle wird bei der symptomatischen Patientin zunächst die stationäre Überwachung aus Gründen der ätiologisch

. Abb. 12.2  Transvaginalsonographie: Zystischer Adnexbefund teils echoleeren, teils echoarmen Inhalts, scharf begrenzt; keine freie FlüssigkeitAdnexe, zystischer Befund

199 12.1 · Falldarstellung

nur unsicher gastroenteritisch zuzuordnenden Symptome ordiniert. Eine frauenärztliche Verlaufsabklärung (Transvaginalsonographie, Laborwertbestimmung) soll Unklarheiten zur Lokalisation und zum Entwicklungszustand der Frühschwangerschaft und deren Zusammenhang zu den bestehenden klinischen Symptomen differenzialdiagnostisch eruieren.

12

Abgang oder Eileiterschwangerschaft sei möglich. Da fiel dann auch zum ersten Mal das Wort Eileiterschwangerschaft!

12.1.8 Wie beschreiben und bewerten

Sie den sonographischen Befund in . Abb. 12.3a und b?

… hoffen und bangen … Meine Magenverstimmung war rasch abgeklungen. Am Freitag war es dann wieder soweit: Kontrolltermin bei meiner Frau Dr. Allzeit. Gemeinsam mit Andi hatte ich mich in den letzten Tagen nun doch dazu durchgerungen, das Stillen zu beenden. Allerdings sollte das ohne »Hammermedikamente«, sondern mit Unterstützung meiner Hebamme ganz natürlich und sanft geschehen. Die Ultraschalluntersuchung meiner Ärztin zeigte, dass die Zyste nun 7 cm groß war, und in der Gebärmutter: Kein Herzschlag! Nicht einmal ein eindeutiges Fruchtbläschen! Was aber richtig schlimm war: als sie mich gynäkologisch untersuchte, hatte ich plötzlich links tief in mir auch noch heftige Schmerzen! Mir wurde wieder Blut zu einer ß-hCG-Bestimmung abgenommen. Der Wert betrug 3890 mIU/ml. Dieser war von 2650 mIU/ml, dem Wert vom vergangenen Sonntag aus der Klinik, angestiegen.

Befund zu . Abb. 12.3a  Pseudogestationssack bei

ektoper Schwangerschaft.

Befund zu . Abb. 12.3b  Chorionhöhle einer intra-

uterinen Schwangerschaft der 6. SSW.

a

12.1.7 Wie kann die Diagnose der

Frauenärztin lauten?

V. a. Gestörte Frühgravidität DD: Extrauteringravidität (EUG) … die zweite Meinung … Da die Ärztin völlig unsicher war, wie nun zu verfahren sei, zog sie die Kollegin, mit welcher sie in ihrer Praxis arbeitete, hinzu. Diese machte nochmals einen Ultraschall. Nach gefühlt endloser Untersuchung mit diesem so unangenehmen Ultraschallstab meinten sie, in der Mitte der hoch aufgebauten Gebärmutterschleimhaut einen kleinen schwarzen Schatten erahnen zu können. Genauer könnten sie es mit ihrem Gerät nicht sehen. Beide Ärztinnen erklärten mir und Andreas, es sei ja erst die 6.–7. Woche, und es bestünden unterschiedliche Möglichkeiten: alles zwischen normaler Schwangerschaft,

b . Abb. 12.3  a Transvaginalsonographie: Endometrium hoch aufgebaut, homogen und echoreich mit zentraler kleiner echoleerer zystischer Raumforderung. b Transvaginalsonographie: Endometrium hoch aufgebaut, homogen und echoreich mit exzentrisch gelegener echoleerer zystischer Raumforderung mit (auffälligem) echoreichem Randsaum

200

Kapitel 12 · Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel

Transvaginalsonographie

12

Durch die frühzeitige Diagnose einer ektopen Schwangerschaftslokalisation mittels Vaginalsonographie können ihre risikobehafteten Folgen für die Patientin deutlich vermindert/vermieden werden und bessere Aussichten für eine organerhaltendoperative oder medikamentöse Therapie gewährleistet werden. Dabei gelingt der direkte Nachweis der Extrauteringravidität meist nicht, sondern es sind indirekte Hinweiszeichen, welche zur Diagnose führen: 44Fehlende Darstellung einer intrauterinen Schwangerschaft: Bei biochemischem Nachweis einer Schwangerschaft zeigt sich als erster, indirekter Hinweis auf eine Extrauteringravidität in der Vaginalsonographie eine vergrößerte Gebärmutter mit »leerem« Cavum uteri. 44Ein Pseudogestationssack ist in 8–20% der Fälle zu beobachten: 44< 20 mm, sich zentral im Endometriumreflex projizierend, fehlender echoreicher Randsaum. 44Entspricht dem unter dem Einfluss von Progesteron entstandenen dezidual umgewandelten Endometrium mit Flüssigkeitsretention. 44DD: intrauterine Fruchthöhle (exzentrisch gelegen, echoreicher Randsaum), Dottersack, embryonale Struktur (ggf. mit Herzaktion). 44Raumforderung im Adnexbereich: 44Mitunter ist bereits im Stadium der intakten Eileiterschwangerschaft eine unregelmäßig begrenzte Auftreibung mit inhomogenen Binnenechos im Bereich der ektopen Nidationsstelle (Eileiter) nachzuweisen. Diese stellt sich als Konglomerattumor mit heterogenem Binnenechomuster durch unterschiedlich alte Hämatomanteile dar. 44Andererseits kann bei 40–60% Fälle im Adnexbereich eine zystische imponierende Raumforderung zur sonographischen Darstellung kommen. Diese entspricht der ektopen Fruchthöhle (Ringecho mit zirkulärem farbdopplersonographischem

Hypervaskularisationsmuster). DD: zystischer Adnexbefund. 44Darstellung von Dottersack ± Embryo: Mit der Darstellung des Dottersacks (in der Regel kleiner als bei der intrauterinen Gravidität) ist die Diagnose der ektopen Schwangerschaftsanlage bestätigt. Der Nachweis eines Embryos mit Herzaktion (»stehende«, intakte Extrauteringravidität gelingt in 5–10% der Fälle). 44In der 5. SSW können bereits 76% der intakten intrauterinen Graviditäten, jedoch nur 21% der vitalen Extrauterinschwangerschaften dargestellt werden. 44Zwischen der 6. und 7. SSW steigen die vaginalsonographischen Entdeckungsraten auf 50% bei vitalen und 25% bei nichtvitalen Extrauterinschwangerschaften an. In vergleichbarem Gestationsalter sind demgegenüber intakte intrauterine Graviditäten in 98%, intrauterin gestörte Schwangerschaften in 50% der Fälle darstellbar. 44Freie intraabdominelle Flüssigkeit: 44In 30–90% der Fälle findet sich freie Flüssigkeit im Douglas-Raum. Reichlich freie Flüssigkeit: Hinweiszeichen einer aktiven Blutung (Tubarruptur → hämorrhagischer Schock). Andererseits ist dieses leicht zugängliche indirekte Hinweiszeichen hochgradig unspezifisch. 44DD: In bis zu 30% der Fälle intrauterine Schwangerschaft, intraabdominelle Entzündung, retrograde Menstruation oder rupturierte Ovarialzyste. 44Ektope Schwangerschaften an seltenen Lokalisationen (intramural/interstitiell, ovariell, peritoneal oder zervikal) sind durch variable klinische Diagnostik wie auch die spezifische Beurteilung des lagebedingt wechselnden sonographischen Erscheinungsbildes gekennzeichnet: … eine Entscheidung … Wir sollten uns jetzt entscheiden. Abwarten oder eventuell Bauchspiegelung. Wir waren erst einmal für Abwarten. Ausschlaggebend dafür war, dass Frau Dr. Allzeit meinte, eine Eileiterschwangerschaft

201 12.1 · Falldarstellung

mit diesem hCG-Wert sei sehr unwahrscheinlich. Ab einem Wert von 1500 mIU/ml wäre der Eileiter schon längst geplatzt! Und mein hCG-Wert lag da schon fast bei 4000  mIU/ml und eine Woche zuvor auch schon über 2600 mIU/ml.

> Das im Rahmen eines Tubaraborts in das Abdomen ausströmende Blut (Stromgebiet der A. ovarica/uterina) sackt gerinnend in den Douglas-Raum und manifestiert sich dort klinisch (Schmerzhaftigkeit) wie sonographisch als retrouterine Hämatozele.

12.1.9 Welche Informationen zum

… wieder bei der Frauenärztin …

klinischen Umgang mit der aktuellen Gesundheitssituation von Frau Beutel sind maßgeblich?

Der Trophoblast ist in besonders hohem Maße in der Lage, invasiv in mütterliche Gewebestrukturen vorzudringen. Dabei spielt die enzymatische Aktivität der Frucht gegenüber ihrer Oberflächenrezeptivität an der Implantationsstelle die wichtigere Rolle. Der Verlauf der ektopen Schwangerschaft erfolgt stadienhaft und hängt dabei wesentlich von ihrer Lokalisation (u. a. im isthmischen oder ampullären Tubenanteil) ab. Die Tubargravidität im ampullären Eileiteranteil ist dabei 6- bis 10-mal häufiger als die zur Tubarruptur neigende proximale Eileiterschwangerschaft (vorwiegend im isthmischen, interstitiellen, intramuralen Eileiteranteil) (. Tab. 12.1). > Die klinischen Symptome einer ektopen Schwangerschaft reichen von völliger Beschwerdefreiheit bis zum schweren Schock. ! Cave Nach einer Amenorrhö-Dauer von 6–8 Wochen treten meist irreguläre uterine Schmierblutungen auf. Zusätzlich können Unterbauchschmerzen, ggf. exazerbierend unter dem Bild eines akuten Abdomens, auftreten. Die klinische Symptomatik entwickelt sich typischerweise stadienhaft. ! Cave Jede ektope Schwangerschaft stellt durch ihr Blutungsrisiko ein für die Frau potenziell lebensbedrohliches Ereignis dar. Ein Verblutungstod ist bei Tubarruptur innerhalb weniger Minuten möglich.

12

Wir hofften also immer noch, es wäre alles ok. Der nächste Untersuchungstermin sollte in einer Woche stattfinden. Da die Praxis allerdings am kommenden Freitag wegen Betriebsprüfung geschlossen sein würde, wurde dieser gleich zu Beginn der darauffolgenden Woche vereinbart. Aber die Tage bis zum nächsten Arzttermin waren lang. Zumal ich wegen der Zyste auch noch Bettruhe verordnet bekam und mich kaum ablenken konnte. Am Montagmorgen um 8:30 Uhr waren wir wieder in der Frauenarztpraxis. Schon vor der Untersuchung durch Frau Dr. Allzeit wurde Blut abgenommen. Die Ultraschalluntersuchung zeigte keine Veränderungen im Vergleich zur vergangenen Woche. Und ich hatte so gehofft – Frust! 30 Minuten später war es »amtlich« – der Schwangerschaftshormonwert war auf 2230  mIU/ml gefallen. Wieso immer ich? Wie kommt eine derartige Fehlentwicklung zustande? In unserer Familie gab es noch nie Schwierigkeiten mit dem Kinderkriegen.

Wie beantwortet Frau Dr. Allzeit die Frage der Patientin nach der Häufigkeit und Kausalität der gestörten Schwangerschaftsentwicklung außerhalb der Gebärmutterhöhle?

12.1.10

Epidemiologie der ektopen Schwangerschaft In der jüngeren Vergangenheit ist es zu einer deutlichen Zunahme der Inzidenz der Diagnosestellung ektoper Graviditäten gekommen (1970: 0,5%; 1993: 1,9%; 2007: 2,6%). Für diese Entwicklung verantwortlich ist v. a. die Verfeinerung der diagnostischen Optionen und weniger die zunehmende Häufung ätiopathogenetischer Risikofaktoren (. Tab. 12.2).

202

Kapitel 12 · Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel

. Tab. 12.1  Klinische Verlaufsmöglichkeiten der Eileiterschwangerschaft Klinisches Stadium

Tubarabort

Stadium der intakten Eileiterschwangerschaft

Asymptomatisch bis auf sekundäre Amenorrhö und positive klinische wie laborchemische Schwangerschaftszeichen (Uterusauflockerung, Brustspannen, Emesis, Hautveränderungen, livide Portio bei geschlossenem äußerem Muttermund)

Stadium des tubaren Hämatoms (symptomarmes Stadium)

Uterine Blutung (6–8 Wochen p.m.)

Asymptomatisch (keine Hämatosalpinx palpabel, da die Tube rupturiert, bevor die Frucht abgestorben ist)

Einseitige, wehenartige intermittierende Schmerzattacken über Tage bis Wochen

Ggf. vaginale Schmierblutung durch das dezidual transformierte Endometrium, welches durch den Abfall von β-hCG partiell oder vollständig ausgestoßen wird

Portioschiebeschmerz

Tubarruptur

Druckdolente Hämatosalpinx durch das Absterben und teilweise Ablösung des, meist im ampullären Tubenanteil lokalisierten, Trophoblasten von der Tubenwand (fakultativ) Ggf. peritubares Hämatom durch Blutung aus dem Tubenostium nach intraperitoneal (ggf. retrouterine Hämatozele)

12

Vaginale Schmierblutung durch das dezidual transformierte Endometrium, welches durch den Abfall von β-hCG (Zugrundegehen des Corpus luteum graviditatis) partiell oder vollständig ausgestoßen wird Stadium des peritonealen Schocks

Teigige druckdolente Resistenz im Adnexbereich: palpable Hämatosalpinx u./o. Hämatozele (Douglas-Raum)

Ein plötzlich perakut auftretender, schwerster peritonealer (Zerreißungs-)Schmerz-/Schockzustand (lebensgefährliches akutes Abdomen bei innerer Blutung) durch Ruptur des isthmischen Tubenabschnitts (Symptomatik beginnt abrupt und aus voller Gesundheit)

Starker Portioschiebeschmerz

Kaltschweißigkeit

Uterine Schmierblutungen

Schwächegefühl

Wiederholte peritoneale Schockzustände (schubweise und wiederholt) unterschiedlichen Ausprägungsgrades (akutes Abdomen, Defense) durch (bedrohliche) Blutung aus der Tube in die freie Bauchhöhle

Atemnot Kleiner, fliegender Puls Massiv abwehrgespanntes, höchst druck- und klopfschmerzhaftes Abdomen Stärkster Portioschiebeschmerz, schmerzhaftes Douglas-Peritoneum (Palpation/Transvaginalsonographie kaum durchführbar Bei größerer Blutmenge auch Phrenicus-Reizung: Oberbauch-/Schulter- oder Oberarmschmerz

203 12.1 · Falldarstellung

. Tab. 12.2  Prädilektionsstellen ektoper Schwangerschaften Eileiterschwangerschaft

99%

Isthmische Eileiterschwangerschaft Ampulläre Eileiterschwangerschaft Interstitielle/intramurale Eileiterschwangerschaft

20% 75% 3–5%

Ovarialschwangerschaft

1%

Bauchhöhlenschwangerschaft

1%

Zervikale Schwangerschaft

0,1%

Heterotope Schwangerschaft

0,003%

Bilaterale simultane Eileiterschwangerschaften

0,001– 0,0006%

12

von Kinderwunschbehandlung oder wegen vorangegangener Tubensterilisation bzw. an der Gebärmutter (u. a. Sectio caesarea, Uteropexie) 55Peritubare Verwachsungen nach Appendizitis bzw. Appendektomie 55Endometriose 55Intrauterinpessar Ursachen von untergeordneter Bedeutung: 55Regelmäßiger Zigarettenkonsum 55Jugendliches Alter beim ersten Geschlechtsverkehr (< 18 Jahre) 55Häufige Partnerwechsel

... nachts … Ätiopathogenese der ektopen ­Schwangerschaft Häufigste Risikofaktoren: 55Mechanische Obstruktionen des Eileiters (Störung der Tubendurchgängigkeit) durch Verklebung der Endosalpinx nach abgelaufener Eileiterentzündung (Salpingitis chronica pseudofollicularis, Chlamydien, Gonorrhö, Tuberkulose, fieberhafter Abort, Salpingitis puerperalis) 55Störung des Eitransportmechanismus –– Gestörte Eileiterperistaltik durch hormonelle Störungen (Ovarialinsuffizienz) –– Angeborene Anomalien der Tube (Polypen, Synechien, Zilienverlust) –– Steigendes mütterliches AlterRate ektoper Schwangerschaften: –– < 20. Lebensjahr 0,4% –– 20–30. Lebensjahr 0,7% –– 30–40. Lebensjahr 1,3–2% Weitere prädisponierende Faktoren: 55Kinderwunschbehandlung 55Vorausgegangene Eileiterschwangerschaften 55Steigende Zahl von operativen Eingriffen an den Eileitern im Rahmen der gehäuften und zunehmend späteren Inanspruchnahme

Andreas und ich konnten es nicht fassen, als ich von meiner Frauenärztin nun auch noch eine Einweisung ins Krankenhaus gleich für den nächsten Tag bekam. Den ganzen Nachmittag und Abend stand ich völlig neben mir. Kurz vor Mitternacht, wir waren gerade auf dem Weg ins Bett, durchzuckte mich ein messerscharfer Schmerz im Unterbauch. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich würgte vor Übelkeit. An Aufrechtstehen war nicht zu denken. »Andi, hilf mir!«, war das letzte, an das ich mich noch konkret erinnere. Gestützt durch meinen Mann muss ich aus der Wohnung zu unserem Auto gekommen sein. Unter Missachtung diverser Regeln der Straßenverkehrsordnung brachte Andi mich in die Klinik. Während der Fahrt verschlimmerten sich die krampfartigen Bauchschmerzen ins kaum Aushaltbare, und Blutungen kamen hinzu.

Welchem Ereignis im Krankheitsverlauf ordnen Sie die nächtliche Symptomatik zu?

12.1.11

Tubarruptur. Beginnender peritonealer Schock. … in der Klinik … Schon in der Notaufnahme des Krankenhauses kümmerten sich mehrere Ärzte und Schwestern

204

Kapitel 12 · Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel

sofort um mich: gynäkologische Untersuchung, Ultraschall usw. Blutdruck 95/55 mmHg, Puls 109 SpM. Blutentnahme. Infusionen. Alles geschah für mein Empfinden gleichzeitig. Mein ganzer Bauch tat nun so weh, dass ihn niemand anfassen konnte, ohne dass ich das Gefühl hatte, von der Liege springen zu müssen. Komischerweise wurde ich trotz all dem Stress immer müder.

Welche therapeutischen Maßnahmen stehen dem ärztlichen Klinikteam prinzipiell zur Verfügung? Für welche dieser Optionen wird sich die diensthabende frauenärztliche Oberärztin in der konkreten Situation entscheiden?

12.1.12

> Bei vitaler Bedrohung (hämorrhagischer Schock ist die sofortige Bestimmung des Hämoglobinwerts, der Gerinnungsparameter und der Blutgruppe zur Bereitstellung von kompatiblen Erythrozytenkonzentraten zwingend erforderlich.

12

Das therapeutische Vorgehen bei einer ektopen Schwangerschaft richtet sich nach dem klinischen Bild, der hämodynamischen Situation, dem ß-hCGWert und dem Wunsch der Patientin nach weiteren Schwangerschaften. Die Behandlung kann abwartend, operativ und bei geeigneten Patientinnen auch medikamentös erfolgen: z Therapeutisches Vorgehen bei einer ektopen Schwangerschaft z z Abwartendes Vorgehen

Bei klinischer Symptomfreiheit, negativem oder diskretem Ultraschallbefund und fallenden ß-hCGWerten < 1000 mIU/ml ist (zunächst) ein abwartendes therapeutisches Vorgehen möglich. Dies ist in diesen Fällen umso mehr indiziert, als sich aus dieser Befundkonstellation häufig diagnostische Unklarheit hinsichtlich der Schwangerschaftslokalisation wie auch des weiteren spontanen Verlaufs der Gravidität ergibt. Die Patientin ist sonographisch und laborchemisch (bis ß-hCG-Wert < 5 mIU/ml) zu

begleiten. Dies kann u. U. bis zu 4–6 Wochen dauern und bedeutet eine für die Patientin u. U. psychisch belastende Betreuungsphase. Spontane Resolutionsraten von 98% bei ß-hCG-Werten < 200 mIU/ml und 73% bei ß-hCG-Werten < 500 mIU/ml rechtfertigen dabei allerdings die abwartende Strategie. z z Chirurgische Therapie

Die Laparoskopie hat in der operativen Therapie die Laparotomie mittlerweile weitgehend verdrängt. Die endoskopische Salpingotomie bietet zur Behandlung einer intakten Tubargravidität ohne Zerstörung der Tubenwand den Vorteil des Organerhalts (Fertilität): 44Der Eileiter wird an seiner antimesenterialen Seite über der Vorwölbung längs inzidiert und das Schwangerschaftsmaterial atraumatisch und möglichst vollständig mittels Aquadissektion (Fasszange) entfernt. Eine anschließende Naht zur Rekonstruktion der Tube bietet hinsichtlich der intrauterinen Schwangerschaftsrate keinen Vorteil. 44Alternativ kann die ampullär gelegene Tubargravidität durch eine Keilexzision des betroffenen Eileiterabschnitts und Reanastomosierung (um später ggf. die Eizellpassage wieder zu ermöglichen) operiert werden. Salpingektomie  44Indikationen: 44Bei ausgeprägtem Hämatoperitoneum (vitale Bedrohung der Patientin) oder bei technischen Problemen (Verwachsungen, unübersichtlicher intraabdominaler Situs) ist auf eine Laparotomie umzustellen bzw. ist diese primär durchzuführen. 44Abgeschlossene Familienplanung, schlechte Tubenqualität, Rezidivprophylaxe (ipsilaterales Rezidiv bei Therapie der Eileiterschwangerschaft mit Organerhalt in der Anamnese). 44Rupturierter Eileiter mit akuter Blutung. 44Operatives Vorgehen: Partielle oder totale Salpingektomie. Die Entfernung des Eileiters ist dabei laparoskopisch über bipolare Koagulation meist problemlos möglich. Zum Abschluss jeder Operation sollte zur Minimierung der postinterventionellen Verwachsungsgefahr das gesamte Blut aus dem Abdomen entfernt werden.

205 12.1 · Falldarstellung

z z Medikamentöse Behandlung

In der frühen Schwangerschaftsphase sind verschiedene Pharmaka therapeutisch lokal oder systemisch anwendbar. Stärken dieses Ansatzes sind neben dem Verzicht auf chirurgische Maßnahmen der Fertilitätserhalt bei gleichzeitig geringer Rezidivrate. Nachteilig wirkt sich eine längere Therapiedauer mit, bei höherem β-hCG, unsicherem Behandlungserfolg aus. Der Einsatz dieser medikamentösen Alternative zur Operation bedarf nach entsprechender Aufklärung der patientenzentrierten Ermessensentscheidung. Systemische Pharmakotherapie  Methotrexat (MTX) 50 mg/m2 KOF bzw. 1 mg/kgKG i.m. oder i.v. 44Der Behandlungserfolg ist maßgeblich vom Schwangerschaftsalter und damit vom Trophoblastvolumen (β-hCG-Wert) abhängig: 44Erfolg in 92% der Fälle bei Tubargraviditäten mit β-hCG-Werten < 4000 mIU/ml 4482% bei Werten < 12.000 mIU/ml 4468% bei Werten ≥ 12.000 mIU/ml 44Anwendung auch bei stehender Extrauteringravidität möglich. Allerdings sind die Erfolgsraten bei negativer Herzaktion höher: 44Tubarruptur unter Therapie: In 3% der Fälle bei β-hCG-Werten < 10.000 mIU/ml 44Bei 30% der Fälle bei β-hCG-Werten ≥ 10.000 mIU/ml 44Nebenwirkungen (21% bezogen auf Ereignisse in der ersten Behandlungswoche): Haarausfall, Photophobie, Knochenmarkschädigung, Stomatitis, Lungenfibrose, Leberparenchymschaden, Unterbauchschmerzen 44Therapiekontrolle: 44Ambulante oder stationäre Überwachung (in Abhängigkeit von β-hCG, Klinik, Therapieansprechen) 44Kontrolle des Therapieansprechens über β-hCG-Verlauf an Tag 1, 4 und 7 nach der MTX-Gabe. Bei regelrechtem Therapieansprechen ist ein steiler Abfall zu erwarten. 44Beträgt der Abfall < 15% oder kommt es zwischen Tag 4 und 7 zum Wiederanstieg, so wird nach 1 Woche eine 2. Dosis MTX notwendig. 20% der Patientinnen benötigen mehr als eine Dosis. 44Sollte nach der 2. Therapiewoche (zwischen Tag 4 und 7) der β-hCG-Wert nicht

12

entsprechend (15%) gefallen sein, ist eine 3. Gabe möglich. 44Nach 3 Applikationen von MTX ohne entsprechenden Therapieerfolg muss operiert werden. Lokale Medikamentenapplikation 

44Bei der lokalen medikamentösen Therapie wird unter sonographischer und/oder laparoskopischer Kontrolle die noch intakte Tubargravidität (Fruchthöhle) punktiert und der Antimetabolit und Folsäureantagonist Methotrexat (10–50 mg) oder Prostaglandin F2α (5–10 mg) bzw. hyperosmolare (50%) Glukoselösung (5–20 ml) instilliert (ggf. Aspiration von Schwangerschaftsmaterial). 44Nebenwirkungen sind bei der im Verhältnis niedrig dosierten Therapie (häufig single dose) selten (2%).

> Bei jeder Form der Behandlung einer ektopen Gravidität ist die engmaschige Verlaufskontrolle des Schwangerschaftshormons (β-hCG) zur Sicherung des Therapieerfolgs obligat. Darüber hinaus ist nach einer ektopen Schwangerschaft, wie auch nach intrauterinen Fehlgeburten, bei jeder nichtsensibilisierten Rh-negativen Patientin eine Anti-D-Prophylaxe vorzunehmen.

Im konkreten Fall wird die Oberärztin eine umgehende operative, zunächst endoskopische Behandlung (in Laparotomiebereitschaft) der Eileiterschwangerschaft links (konkret V. a. EUG im Stadium der Tubarruptur) unter Notfallbedingungen – Patientin im (beginnenden) Schockzustand – indizieren. Gegebenenfalls kann eine intraoperative befundadaptierte Umstellung auf Laparotomie (massive Hämorrhagie, technische Limitationen der Laparoskopie) erforderlich werden. das Ende des Falls 30 Minuten später lag ich schon auf dem OP-Tisch. Vollnarkose. Filmriss … Als ich 2 Stunden später langsam wieder wach wurde, hatte ich ein schreckliches Kratzen im Hals. Andi saß an meinem Bett. Ich erinnere mich an Eiseskälte, aber er hatte wunderbar warme Hände. Die Ärzte – so

206

12

Kapitel 12 · Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel

war es ihm gesagt worden – hätten im Rahmen der Bauchspiegelungsoperation den linken Eileiter leider komplett entfernen müssen. Dieser habe durch Aufplatzen der Eileiterwand der sehr gebärmutternah sitzenden Eileiterschwangerschaft stark geblutet. Zudem sei der Eileiter erheblich zerstört gewesen, und das Schwangerschaftsgewebe habe sich dadurch nicht richtig lösen lassen. »Du hast ordentlich Blut verloren, sagen die Ärzte«, beendete er seinen Bericht. Anscheinend läuft bei mir nichts normal?! Bei der Visite am nächsten Morgen konnte ich noch immer nicht realisieren, was mir passiert war. Leider waren die Ärzte, welche mich nachts behandelt hatten, nicht mehr da. Der Chefarzt Dr. Primus meinte, dass ich dabei noch ziemliches Glück gehabt hätte. Wäre der Eileiter irgendwann unter anderen Umständen geplatzt, hätte ich es womöglich nicht überlebt. Für mich war das in diesem Moment ein völliger missglückter Versuch, mich zu trösten. Mein Kind war tot! Auch in den kommenden Wochen war ich echt am Ende. Körperlich ging es nur langsam wieder einigermaßen bergauf. Eisentabletten wurden zu meinem Hauptnahrungsmittel. Ich heulte aber bei jeder Gelegenheit gleich los. Die Frage nach einem weiteren Kind mochte ich nicht einmal denken. Ich habe nämlich irgendwo gelesen, dass die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Eileiterschwangerschaft sehr hoch ist. Und da auch nicht geklärt werden konnte, wie es zu alledem gekommen war, habe ich mich mit Andi richtiggehend eingeigelt. Noch einmal stehe ich das bestimmt nicht durch …

Mit welchen medizinischen Informationen ist die Familie Beutel im Rahmen einer Aufklärung/Beratung zur medizinischen Zukunft nach diesem für alle Beteiligten traumatischen Ereignis auszustatten?

12.1.13

Risikoberatung zum stattgehabten Ereignis einer Tubargravidität   Im Gegensatz zur steigenden

Inzidenz von ektopen Schwangerschaften durch die Verbesserung von Diagnostik, Therapie und

postoperativer Überwachung ist die Sterblichkeit nach derartigen Ereignissen deutlich zurückgegangen. Aktuell ist diese bei einer Tubargravidität mit 0,2% anzusetzen (1,7% zu Beginn der 1970er Jahre). Trotzdem bleibt die Extrauteringravidität mit 0,0004% (bezogen auf alle Schwangerschaften) die häufigste mütterliche Todesursache im 1. Trimenon (4,2–9% aller maternalen Todesfälle). Beratungshintergrund zum Wiederholungsrisiko  Das Wiederholungsrisiko nach einer ektopen

Schwangerschaft ist zwischen 12% und 18% zu erwarten; nach wiederholten ektopen Schwangerschaften bis zu 50%. Informationen zu den Therapieergebnissen Mög-

licher Folgezustand nach laparoskopischer, organerhaltender Operation einer Tubargravidität ist die Trophoblastpersistenz (postoperativ nicht abfallende ß-hCG-Werte) mit 8,8% (vs. 3,9% nach Laparotomie). Falls auftretend, ist diese entweder erneut durch Bauchspiegelung oder ggf. per Laparotomie mit Salpingektomie bzw. durch systemische MTXBehandlung zu therapieren.

Längerfristige Folgen einer Tubargravidität bzw. deren Therapie 55Dauerhafte tubare Sterilität 55Entscheidend für die zukünftigen Fertilitätschancen (30–70%) ist dabei weniger die Art des operativen Zugangs (Laparoskopie vs. Laparotomie) als vielmehr die Anamnese der Patientin: Jugendliches Alter (günstig), Zustand der kontralateralen Tube (wenn diese voll funktionsfähig, ist die Fertilität kaum eingeschränkt) 55Das Risiko einer erneuten Extrauteringravidität nach Salpingotomie (Laparoskopie und Laparotomie) beträgt ca. 15%, im Vergleich dazu beträgt das Wiederauftreten einer ektopen Schwangerschaft nach Salpingektomie, bei einer intrauterinen Schwangerschaftsrate von 44%, etwa 10%; somit bietet die Entfernung des erkrankten Eileiters keine

207 12.2 · Fallnachbetrachtung

Garantie für eine zukünftig regelrechte Schwangerschaftsnidation 55Eine MTX-Therapie ermöglicht gegenüber dem operativen Vorgehen eine höhere Rate an Tubendurchgängigkeit (80%) und wirkt sich somit vorteilhaft auf den Erhalt der Fertilität auf der betroffenen Seite aus (intrauterine Schwangerschaftsraten 60%); das Rezidivrisiko einer erneuten ektopen Schwangerschaft nach erfolgreichem MTX-Einsatz beträgt (nur) 7%

12.2 Fallnachbetrachtung 12.2.1 Welche medizinischen/

organisatorischen Verbesserungsmöglichkeiten sehen Sie im geschilderten Fall?

Patientin 40-jährig, IV-gravida, I-para, Z. n. 3 × Abort und 3 × Kürettage, Z. n. pelvic inflammatory disease (fieberhafter Abort), andauernde Stillperiode des 8-monatigen Säuglings. 44Die Aussage des medizinischen Personals der Frauenarztpraxis Dr. Allzeit bzgl. des sicheren Kontrazeptionsschutzes während der Stillzeit ist falsch. 44Die Untersuchung/Sonographie an Tag 29 p.m. ohne »intrauterines Ergebnis« wird von Frau Dr. Allzeit, speziell im Lichte der belasteten/ komplizierten Patientinnenanamnese (Alter, Z. n. mehreren z. T. komplizierten Aborten mit operativen Interventionen, aktuelle Schwangerschaft während der Stillzeit eingetreten, rezidivierende Blutungen in graviditate) nicht ausreichend risikobewusst bewertet bzw. kommuniziert (Frau Beutel wird in der Garderobe kurz »abgefertigt«). Das 2-wöchige Kontrollintervall ist angesichts dieser Konstellation zu großzügig bemessen. 44An Tag 34 p.m. weist die hinzutretende Symptomatik (Unterleibsschmerzen = oxytocinbedingte Kontraktionen der Gebärmutter während der Laktation) wie auch der neu aufgetretene Ultraschallbefund links

12

(missinterpretiert als Corpus luteum) bei »leerem« Cavum uteri (hoch aufgebautes Endometrium ohne Fruchtanlage) eindeutig auf eine abnorme Frühschwangerschaftsentwicklung hin. Eine ß-hCG-Bestimmung wie auch gebotene engmaschige klinische Kontrollen unterbleiben (der bereits avisierte Kontrolltermin in nunmehr 9 Tagen wird von der Frauenärztin unter Persistenz der Risikoverkennung aufrechterhalten). 44An Tag 38 p.m. verlässt die Patientin trotz Größenzunahme des zystischen Adnexbefunds und eines ß-hCG-Befunds von 2650 mIU/ ml auf eigene Verantwortung die Klinik. Die auf diese Weise nicht aufrechtzuerhaltende stationäre Überwachung wird korrekterweise durch ambulante Kontrollen längstens alles 2 Tage ersetzt. 44Der empfohlene Kontrolltermin an Tag 40 p.m. wird von der Patientin nicht wahrgenommen und von der Klinik in fürsorgewidriger Weise auch nicht nachverfolgt. > Es bestand Sorgfaltspflicht in der Nachhaltigkeit von medizinischer Betreuung bei potenziell lebensbedrohlicher Komplikationsmöglichkeit (Tubarruptur) der Gesundheitssituation der Patientin (ektope Schwangerschaftsnidation).

4443 Tage p.m. erheben die Frauenärztinnen einen weiterhin in seinen Ausdehnungen zunehmenden zystischen Adnexprozess (7 cm) wie auch eine nur fragliche intrauterine Raumforderung und einen ß-hCG-Wert von 3890 mIU/ml. Der zum Vorbefund inadäquate ß-hCG-Anstieg, die sonographische Darstellung des Pseudogestationssacks (Darstellung einer Chorionhöhle im Cavum uteri mit einer Nachweisgrenze: ß-hCG 1000–1500 mIU/ml bei einer Sensitivität von 90% und einer Spezifität von 98% zu erwarten) wie auch die fortdauernde Fehlinterpretation des Adnexbefunds als Corpus luteum (deutlich zu groß) werden im Rahmen der Bewertung/ Beratung durch die beiden Fachärztinnen missachtet. Haltlos ist die Aussage: »Ab einem Wert von 1500 mIU/ml wäre der Eileiter schon

208

Kapitel 12 · Unterbauchschmerzen im ersten Schwangerschaftsdrittel

längst geplatzt! Und der hCG-Wert liegt ja schon fast bei 4000 mIU/ml und eine Woche zuvor auch schon über 2600 mIU/ml.« Die Verordnung von Bettruhe aufgrund des Adnexbefunds (ovarielle Torsionsprophylaxe) ist realitätsfremd übertrieben und ignoriert dabei die tatsächlichen Risiken der Situation.

> Die Dynamik des ß-hCG-Verlaufs hat mit Bezug zur Klinik wie auch zu den sonographischen Darstellungsmöglichkeiten bekannt zu sein und ist ggf. engmaschig zu kontrollieren. Dies gilt für die organerhaltende Therapie auch in der Nachsorge.

12

44Die Beratung des Ehepaars erfolgt fehlerhaft und nicht explizit risikoorientiert. Eine unmittelbare Klinikeinweisung – wenn auch »nur« zu weiterer Überwachung – ist zwingend erforderlich. Insofern vereinigt die Vereinbarung eines Untersuchungstermins erst 1 Woche später (Tag 50 p.m.) die Problematiken des zu späten Stattfindens mit dem sich aus den Befunden ergebenden Verbot eines weiteren ambulanten Managements. 44Tag 46 p.m.: ß-hCG 2230 mIU/ml. Der Abfall als endgültiger Beweis einer gestörten Fruchtanlage wird wahrgenommen, aber in der Dramatik der zugrundliegenden Ursache zu wenig dringlich bewertet. Die verzögerte Einweisung in das Krankenhaus (»nächster Tag und nicht sofort«“) durch die niedergelassene Fachärztin ignoriert weiterhin den potenziell bedrohlichen Kausalzusammenhang von Klinik, Sonographiebefund und Laborwertverlauf – und dies vor dem Hintergrund der medizinischen Historie der Patientin. 44Nicht zuletzt durch die schichtdienstbedingten alternierenden An- und Abwesenheiten der die Patientin operativ wie postoperativ betreuenden Ärzte misslingt die Kommunikation mit dem Ehepaar Beutel auf mehreren Ebenen vollständig. Dies bezieht sich auf die Aufklärung im präoperativen Verlauf wie auch auf die Operation und ihre Folgen (u. a. »Glück gehabt«, keine Berücksichtigung des

Schwangerschaftsverlusts). Ebenso unterbleibt die Sicherstellung einer Risikoberatung (mit zeitlichem Abstand) in Bezug auf die weitere geburtshilfliche Zukunft (Ätiologie, Wiederholungsrisiko und längerfristige Auswirkungen), sodass irreale Vorstellungen/Ängste nicht ausgeräumt werden. 12.2.2 Wie ist bei einer ektopen

Schwangerschaft vorzugehen?

Checkliste für die Praxis 55Diagnostisch wegweisend sind Anamnese, Klinik, gynäkologische Untersuchung, ß-hCG(-Verlauf ) und Vaginalsonographie 55Die Therapie (operativ oder medikamentös) richtet sich nach Klinik, hämodynamischer Situation, ß-hCG-Wert und dem Wunsch der Patientin nach weiteren Schwangerschaften 55Bei vitaler Bedrohung (hämorrhagischer Schock) sofortige Bestimmung des Hämoglobinwerts, der Gerinnungsparameter und der Blutgruppe zur Bereitstellung von kompatiblen Erythrozytenkonzentraten 55Bei jeder Behandlung einer ektopen Gravidität (expektativ, operativ oder medikamentös) ist die engmaschige ß-hCG-Verlaufskontrolle zur Sicherung des Therapieerfolgs obligat 55Nach ektoper Schwangerschaft ist bei jeder nichtsensibilisierten Rh-negativen Patientin eine Anti-D-Prophylaxe vorzunehmen

Weiterführende Literatur Alkatout I, Honemeyer U, Strauss A et al (2013) Clinical diagnosis and treatment of ectopic pregnancy. Obstet Gynecol Survey 68(8): 571–581 American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) (2008) Medical management of ectopic pregnancy. Practice Bulletin No. 94. Obstet Gynecol 111(6): 1479–1485 Dietl J, Seelbach-Göbel B (1998) Extrauteringravidität (EUG). In: Martius G, Rath W (Hrsg) Praxis der Frauenheilkunde – Band II – Geburtshilfe und Perinatologie. Thieme, Stuttgart

209 Weiterführende Literatur

Dudenhausen JW, Pschyrembel W (2001) Extrauteringravidität (EU), Tubargravidität. In: Praktische Geburtshilfe: mit geburtshilflichen Operationen, 19. Aufl. de Gruyter, Berlin Korell M (2003) Extrauteringravidität (EUG) In: Nestle-Krämling C, Korell M (Hrsg) Bildatlas der Patientinnenaufklärung Gynäkologie: Spitta, Balingen Kucera E, Lehner R, Husslein P (2006) Extrauteringravidität. In: Schneider HPG, Husslein P, Schneider KTM (Hrsg) Die Geburtshilfe, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 32–39 Lipscomp GH (2007) Medical therapy for ectopic pregnancy. Semin Reprod Med 25(2): 93–98 Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) (2010) The management of tubal pregnancy. Green-top Guideline No 21. https://www.rcog.org.uk/en/guidelinesresearch-services/guidelines/gtg21/ Strauss A (2016) Ultraschallpraxis Geburtshilfe und Gynäkologie, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Strauss A, Jonat W, Diedrich K (2013) Behandlungspfade in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Springer, Berlin Heidelberg New York

12

211

Krampfanfall in der Schwangerschaft Werner Rath

13.1

Falldarstellung – 212

13.1.1

Welche Angaben aus der Anamnese, bisheriger Symptome und Befunde sind für die Verdachtsdiagnose von Bedeutung? Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? Welche Differenzialdiagnosen kommen infrage? – 213 Kennen Sie die Symptome des eklamptischen Anfalls? Wodurch ist die Patientin in dieser Situation akut gefährdet? – 217 Welche Maßnahmen zur Behandlung des eklamptischen Anfalls müssen Sie treffen, welche zur Prävention eines erneuten Anfalls? – 218 Hätten Sie sich in der vorliegenden Situation auch für eine Sectio entschieden? – 221 Welche Maßnahmen sind zur postpartalen Überwachung von Jana erforderlich? – 222

13.1.2 13.1.3

13.1.4 13.1.5

13.2

Fallnachbetrachtung – 222

13.2.1 13.2.2 13.2.3

Betreuung in der Frauenarztpraxis – 222 Behandlung durch den Notarzt – 222 Vorgehen in der Klinik – 223



Weiterführende Literatur – 223

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_13

13

212

Kapitel 13 · Krampfanfall in der Schwangerschaft

13.1 Falldarstellung

Was geschah …

13

Der Notarztruf ging um 0:45 Uhr in der Zentrale ein. Ein aufgeregter Vater mit sich überschlagender Stimme meldete: »Sie müssen sofort kommen! Meine Frau ist schwanger, so in der 34. Woche. Sie hatte eben ganz komische Zuckungen am ganzen Körper, dann ist sie bewusstlos geworden. Bitte beeilen sie sich! Tannenstraße 5.« Wenige Minuten später war der Rettungswagen unterwegs. Dr. Schmidt hatte Dienst. Er war schon seit 6 Monaten als Notarzt tätig, hatte aber mit Notfallsituationen bei schwangeren Frauen wenig Erfahrung. Das machte ihn sichtlich nervös, als er mit seinem Anästhesiepfleger Carlo in der Tannenstraße eintraf. Jana lag auf dem Teppichboden im Wohnzimmer, ein Kissen unter ihrem Kopf und eine Decke über ihrem Körper. Sie war inzwischen aufgewacht, fühlte sich aber sehr schläfrig und müde. Die Aufregung um sie herum verstand sie nicht so recht. »Warum ist der Notarzt da? Was ist passiert?«, dachte sie. Sie hatte immer noch Kopfschmerzen, besonders in den Schläfen. Dr. Schmidt versuchte, sich rasch einen Überblick über die Situation zu verschaffen. »Gott sei Dank, die Frau ist ansprechbar, atmet spontan, intubieren muss ich wohl nicht«, waren seine ersten Gedanken. »Was ist passiert? Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich der Notarzt. »Mir war so komisch, ich konnte plötzlich nicht mehr richtig sehen, alles war so verschwommen, und dann waren da diese Blitze vor den Augen, ja … und dann weiß ich nicht mehr so genau.« Diese Worte strengten Jana bereits sichtlich an, was auch ihr Mann Klaus bemerkte. Jana wollte nur wieder schlafen! Dann wandte sich Dr. Schmidt an ihren Mann »Ist Ihnen an Ihrer Frau in den letzten Tagen etwas aufgefallen, hat sie über Beschwerden geklagt?« Klaus überlegte einen Moment: »Na, ja, meine Frau hat seit 2 Tagen ziemliche Kopfschmerzen gehabt. Sie sagte, die Kopfschmerzen seien so, als wenn man ihr mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen hätte, vor allem gestern Abend. Und dann waren da noch diese Schmerzen in der

Magengegend. Jana wollte heute Morgen eigentlich zu ihrer Frauenärztin gehen.« Der Notarzt hörte aufmerksam zu. Er hatte in der Zwischenzeit eine orientierende Untersuchung bei Jana durchgeführt: Patientin ansprechbar, leicht somnolent, keine Dyspnoe, keine Zyanose, etwas blutiger Schleim in den Mundwinkeln, keine äußeren Verletzungen, Pupillen mittelweit, auf Lichtreiz träge reagierend. Blutdruck 150/95  mmHg, Herzfrequenz 110/min notierte er später im Protokoll. Er ließ die Blutdruckmanschette liegen, um regelmäßig Puls und Blutdruck zu überwachen, und legte am anderen Arm einen Venenzugang, über den kurz darauf 500  ml Ringer-Laktat intravenös liefen. Sauerstoff über Maske hielt er in der gegenwärtigen Situation für nicht erforderlich. »Die wievielte Woche ist es denn? Wie war denn der bisherige Schwangerschaftsverlauf?«, erkundigte sich der Notarzt bei Klaus, der nervös im Wohnzimmer hin und her lief. Er hatte sich inzwischen »Verstärkung« geholt. Janas Mutter wohnte nur einige Häuser weiter und war gekommen. Sie kniete jetzt auf dem Fußboden und streichelte sanft über Janas Kopf. »Meine Frau ist in der 34. SSW, bisher ist alles gut verlaufen, keine Probleme. Wir hatten uns so sehr ein Kind gewünscht und waren dann glücklich, als meine Frau mit 40 Jahren nach IVF noch schwanger geworden ist«, sagte Klaus und blickte besorgt auf seine Frau, die offenbar zu erschöpft war, um dem Notarzt zu antworten. »Hat Ihre Frau früher schwere Erkrankungen gehabt, oder hatte sie vorher schon einmal ein derartiges Ereignis mit Zuckungen am ganzen Körper, Krämpfen oder Bewusstlosigkeit?«, wollte Dr. Schmidt wissen. Klaus überlegte und schüttelte dann den Kopf: »Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete er. In diesem Augenblick schaltete sich Janas Mutter in das Gespräch ein mit den Worten »Jana hatte als Kind einmal eine Hirnhautentzündung, da sind auch Krämpfe aufgetreten. Später, als junge Frau noch vor ihrer Heirat, hatte sie nochmals 2–3 Krampfanfälle. Die Ärzte dachten damals an eine Epilepsie als Folge der Hirnhautentzündung und gaben ihr für einige Zeit Medikamente. Jana hat dann keine Krämpfe mehr gehabt, und die Medikamente wurden später

213 13.1 · Falldarstellung

abgesetzt.« »Ist denn Epilepsie in Ihrer Familie bekannt?«, wandte sich Dr. Schmidt an Janas Mutter, die daraufhin den Kopf schüttelte. »Welche Medikamente hat Ihre Frau denn in der Schwangerschaft eingenommen?«, fragte Dr. Schmidt und runzelte die Stirn. »Außer Vitaminen und Jod meines Erachtens keine weiteren Medikamente«, sagte Klaus, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. »Sie haben doch sicherlich den Mutterpass in der Nähe!« Der Aufforderung des Notarztes folgend holte Klaus den Mutterpass, der immer in Janas Handtasche war. Jana war zuletzt vor 7 Tagen bei ihrer Frauenärztin gewesen. Im Mutterpass stand unter Risikokatalog A 44 unter früheren eigenen schweren Erkrankungen: Meningitis als Kind/V. a. infektiös bedingte Epilepsie? 44 Schwangere über 35 Jahre 44 Z. n. Sterilitätsbehandlung Im Risikokatalog B fanden sich keine Einträge. Aus dem Mutterpass war ersichtlich, dass Jana etwa ab der 30. SSW mehr als 1 kg/Woche an Gewicht zugenommen hatte. Unter »Sonstiges« war vermerkt: Gewicht ↑. Jana hatte bereits zu Beginn der Schwangerschaft 86 kg gewogen(Körpergröße 168 cm). Unter Urinbefund stand: Eiweiß ++, Nitrit (+), Zucker negativ, daneben der Eintrag: sicherheitshalber Urinkultur abgenommen. Der Blutdruck war während des bisherigen Schwangerschaftsverlaufs immer im Normbereich gewesen, auch bei der letzten Schwangerenvorsorge vor einer Woche. Der Notarzt kontrollierte noch einmal Blutdruck und Puls – Blutdruck 150/90  mmHg, Herzfrequenz 90/ min – und hängte eine weitere Infusion mit 500 ml Ringer-Laktat an. »Wir werden Ihre Frau jetzt in die Klinik bringen, am besten in den Kreißsaal. Auf jeden Fall müssen wir rasch klären, was Ihre Frau hat!«, konstatierte Dr. Schmidt und fügte hinzu, um Ehemann und Mutter zu beruhigen: »Mutter und Kind sind bei uns in guten Händen. Machen Sie sich keine Sorgen!« Kurz darauf wurde Jana in Begleitung ihres Mannes mit dem Rettungswagen in die Klinik gebracht, wo sie gegen 2:00 Uhr eintrafen.

13

13.1.1 Welche Angaben aus der

Anamnese, bisheriger Symptome und Befunde sind für die Verdachtsdiagnose von Bedeutung? Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? Welche Differenzialdiagnosen kommen infrage?

Auf den ersten Blick geht es bei Jana um einen nach starken Kopfschmerzen aufgetretenen generalisierten Krampfanfall im 3. Trimenon, der als heftige Kontraktionen der Muskulatur mit Übergang in eine »Schlafphase« wahrgenommen wird. Grundsätzlich werden Krampfanfälle in der Schwangerschaft differenziert in solche, die unabhängig von der Schwangerschaft sind, die durch die Schwangerschaft verstärkt werden oder die nur in der Schwangerschaft und im Wochenbett auftreten. Daher ist die Anamnese von besonderer Bedeutung. Bei Schwangeren, die im Koma aufgefunden werden, schwer ansprechbar sind oder aus anderen Gründen nicht kooperieren können, sind die Erhebung der Fremdanamnese (Angehörige, Freunde) und die Angaben im Mutterpass wegweisend für die Diagnose. Was bedeutet dies für den vorliegenden Fall? Nach Angaben der Mutter sind »Krampfleiden« (z. B. Epilepsie: häufig genetische Disposition) in der Familie nicht bekannt. Diesbezüglich finden sich auch keine Angaben im Mutterpass unter Risikokatalog A. Bekannt ist aus Janas Kindheit eine Meningitis (Meningoenzephalitis?) mit hohem Fieber und Krampfanfällen. Wahrscheinlich ist in diesem Zusammenhang, dass das hohe Fieber die Krämpfe im Kindesalter ausgelöst hat. Diese »Fieberkrämpfe« (Gelegenheitskrämpfe) gehen auch im Wiederholungsfall nicht mit einem erhöhten Risiko für die spätere Entwicklung einer Epilepsie einher. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die Meningitis im Kindesalter im Sinne einer »Hirnschädigung« Wegbereiter für eine spätere Epilepsie war. Dies betrifft Janas unklare Krampfanfälle als junge Frau, die seinerzeit als »Epilepsie« gedeutet und mit »Medikamenten« behandelt wurden. Diese Verdachtsdiagnose ist ohne zusätzliche diagnostische Befunde (z. B. EEG) nicht zu beweisen.

214

Kapitel 13 · Krampfanfall in der Schwangerschaft

Fest steht, dass nach Angaben der Mutter (und des Ehemanns) Jana seit vielen Jahren – auch nach Absetzen der Medikamente (Antiepileptika?) keine Krämpfe mehr hatte, auch nicht im bisherigen Schwangerschaftsverlauf. Anmerkung  Die Epilepsie betrifft eine von 100

13

Schwangeren; 1,8% aller Epileptikerinnen erleiden in der Schwangerschaft einen epileptischen Anfall, 74% im 3. Trimenon. Für die Epilepsie gilt: je höher die Anfallsfrequenz vor der Schwangerschaft, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine Zunahme von Anfällen in der Schwangerschaft (Zunahme der Anfallshäufigkeit bei 40–50%, keine Frequenzzunahme bei 50–60% der Schwangeren). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass bei der Epilepsie die Chance für eine dauerhafte Anfallsfreiheit ohne Medikamente bei über 70% liegt, wenn eine Anfallsfreiheit von 2–5 Jahren besteht, ein normaler neurologischer Befund nachweisbar ist und sich das EEG unter der Therapie normalisiert. Vor allem die langjährige Anfallsfreiheit, die unspezifische Medikamentenanamnese sowie die fehlende familiäre Belastung sprechen im vorliegenden Fall gegen eine Epilepsie. Bei Jana muss an erster Stelle an einen eklamptischen Anfall gedacht werden (Häufigkeit 1:2000– 3450 Schwangerschaften in den Industrieländern). Die Eklampsie manifestiert sich am häufigsten in der Schwangerschaft (mehr als 90% nach der 28. SSW) oder intra partum (. Tab. 13.1). > Etwa 20% der Schwangeren, die eine Eklampsie entwickeln, erleiden ihren ersten eklamptischen Anfall zu Hause!

. Tab. 13.1  Manifestation der Eklampsie – kumulative Daten aus 33 Studien (n = 865 Fälle von Eklampsie) (Sibai 2005) Ante partum

38–53%

91%: > 28. SSW

Intra partum

18–36%

7,5%: 21.–27. SSW

Post partum

11–44%

1,5%: < 21. SSW (Cave: Molenschwangerschaft)

< 48 h: 5–39% > 48 h: 5–17% (bis zu 23 Tage post partum)

Für die Verdachtsdiagnose Eklampsie sprechen: z z Vorliegende Risikofaktoren

44Nulliparität: 80% aller Eklampsien, 44mütterliches Alter ≥ 40 Jahre (2-fach erhöhtes Risiko für Präeklampsie), 44BMI > 30 kg/m2 (ca. 3,5-fach erhöhtes Risiko für Präeklampsie), 44Zustand nach In-vitro-Fertilisation. z z Befunde im Mutterpass

44Die rasche Gewichtszunahme von > 1 kg/ Woche im 3. Trimenon (häufig in Verbindung mit Gesichtsödemen) kann in Kombination mit einer Proteinurie unterschiedlichen Schweregrades (+ → +++) auch ohne Vorliegen einer Hypertonie zur Eklampsie führen. 44Dies trifft für den vorliegenden Fall zu, in dem bis zum Ereignis keine Hypertonie auftrat. Die Proteinurie wurde im vorliegenden Fall als Harnwegsinfekt fehlgedeutet. Nicht bekannt ist allerdings, ob Jana klinische Hinweise auf einen Harnwegsinfekt hatte. In der folgenden Übersicht sind die Symptome der Präeklampsie bei Schwangeren mit eklamptischem Anfall dargestellt.

Symptome der Präeklampsie bei Schwangeren mit eklamptischem Anfall (Zahl der Eklampsien n = 399) (nach Sibai 2005) 55Ödeme: 74% 55Proteinurie (3+ in Teststreifen): 48% 55Keine Proteinurie: 14% 55Hypertonie: –– Schwere Hypertonie (RRsyst > 160 mmHg, RRdiast > 110 mmHg): 20–54% –– Mäßige Hypertonie (RRsyst 140–160 mmHg, RRdiast 90–110 mmHg): 30–60% 55! Keine Hypertonie: 20–38%, ≥ 32. SSW: 10% ! Cave! Eine rasche Gewichtszunahme > 1 kg/Woche im 3. Trimenon kann ein erstes Warnzeichen vor Beginn des eklamptischen Anfalls sein!

215 13.1 · Falldarstellung

> Die Eklampsie ist zwar als das Neuauftreten generalisierter, tonisch-klonischer Krämpfe oder eines Komas, die keiner anderen Ursache zugeordnet werden, bei Schwangeren mit Zeichen und Symptomen der Präeklampsie definiert, allerdings können in 20–38% der Fälle eine Hypertonie und in 14–20% eine Proteinurie fehlen (s. oben).

z z Prodromalsymptome (drohende Eklampsie), Symptome des eklamptischen Anfalls

44Im vorliegenden Fall sind die vorbestehenden starken, vorwiegend parietal lokalisierten Kopfschmerzen (Donnerschlag-Kopfschmerz) sowie die Schmerzen im Oberbauch/Epigastrium Warnsymptome. 44Hinzu kommen unmittelbar vor dem Anfall die Sehstörungen (hier: passagerer Sehverlust, verschwommenes Sehen, Flimmerskotome). In . Tab. 13.2 sind die Prodromalsymptome des eklamptischen Anfalls zusammengefasst. Allerdings

. Tab. 13.2  Prodromalsymptome der Eklampsie (»drohende Eklampsie«) – systematische Übersicht aus 59 Studien (n > 21.000) (Berhan u. Berhan 2015) Symptom

Häufigkeit

Hypertonie

75%

Kopfschmerzen: ­persistierend, frontal/ okzipital, »Donnerschlag-Kopfschmerz«

66%

Sehstörungen: ­passagere Skotome, Sehverlust(-störung), verschwommenes Sehen, Diplopie, Gesichtsfeldausfälle, Photopsien

27%

Rechtsseitige ­Oberbauchschmerzen/ Epigastrium

25%

Fußgelenk-Klonus: keine Angaben

Häufig

! Keine Symptome !

25%

Kortikale Erblindung, seröse Netzhautablösung Einblutungen: Retina, Glaskörper

13

ist darauf hinzuweisen, dass in bis zu 25% der Fälle keine Prodromalsymptome nachweisbar sind (s. auch Übersicht: Atypische Verlausformen der Eklampsie). Atypische Verlausformen der Eklampsie (mod. nach Sibai 2005; Norwitz 2016) 55Keine Prodromalsymptome 55Keine klinischen Zeichen der Präeklampsie (eclampsia sine praeeclampsia): Hypertonie, Proteinurie fehlen 55Persistierende neurologische Ausfälle 55Verlängerte Phase der Bewusstlosigkeit 55Krampfanfälle trotz adäquater Therapie mit Magnesiumsulfat → Differenzialdiagnose Ausschluss anderer Ursachen – Anamnese, Medikamente, klinische Befunde, Labor, MRT → Verlaufsbeobachtung!

Wie aus einer umfangreichen statistischen Analyse von 214 Fällen von Eklampsie (UK Obstetric Surveillance System: UKOSS) hervorging, treten die Zeichen der Präeklampsie und die der drohenden Eklampsie in unterschiedlicher Häufigkeit bereits in der Woche vor Manifestation des eklamptischen Anfalls auf (. Tab. 13.3). Hinweise auf einen eklamptischen Anfall unter Berücksichtigung der vorgenannten Befunde ergeben sich auch aus der »laienhaften« Beschreibung des Anfalls selbst: generalisierte Zuckungen der gesamten Muskulatur mit Übergang in eine »Schlafphase« sowie dem Befund des Notarztes »blutiger Schleim in den Mundwinkeln«, der für einen Zungen-/Wangenbiss während des Anfalls spricht. Weitere mögliche Differenzialdiagnosen bei Schwangeren mit Kopfschmerzen und/oder Krampfanfällen sind in . Tab. 13.4 zusammengefasst. In diesen Fällen kommt der Magnetresonanztomographie wegweisende Bedeutung für die Diagnose zu. So geht es weiter … Der Transport verlief ohne Probleme. Der Notarzt verständigte während der Fahrt den diensthabenden Assistenzarzt Dr. Schröder im Kreißsaal des Klinikums mit den Worten: »Zu Ihnen kommt jetzt eine

216

Kapitel 13 · Krampfanfall in der Schwangerschaft

. Tab. 13.3  UK Obstetric Surveillance System (UKOSS) –»Warnsymptome« in der Woche vor Manifestation des eklamptischen Anfalls (Anzahl der Fälle von Eklampsie n = 214) (Knight, on behalf of UKOSS 2007)

Zerebrovaskuläre Komplikationen

Symptom

Häufigkeit

Zentrale Sinusvenenthrombose

Hypertonie (RRdiastol. > 90 mmHg)

48%

Proteinurie (> 1+ im Teststreifen oder > 0,3 g/24-Stunden-Urin)

46%

Inzidenz: 1–2/10.000 Geburten, 73% post partum

Hypertonie und Proteinurie

38%

Sehstörungen

23%

Kopfschmerzen

56%

Schmerzen im rechten Oberbauch/ Epigastrium

17%

Andere Symptome (keine weiteren Angaben)

79%

Symptome: langsam einsetzende, zunehmende diffuse Kopfschmerzen (95%), zerebrale Krampfanfälle (30–40%), Paresen/fokale neurologische Ausfälle (43%), Papillenödem/ Sehstörungen (40%)

Keine klinischen Zeichen für Präeklampsie! MRT (CT) wegweisend für Diagnose

Subarachnoidalblutung

! 21% der eklamptischen Anfälle treten zu Hause auf ! – Rezidivierende Anfälle: 25% – Mütterliche Todesfälle: 0 – Schwere mütterliche Morbidität: 10% – Perinatale Mortalität: 5,9%

13

. Tab. 13.4  Differenzialdiagnosen der Eklampsie (auszugsweise)

40-jährige Erstgebärende, 34. SSW, zu Hause nach einem vermeintlichen Krampfanfall somnolent aufgefunden, zurzeit Kreislauf und Atmung stabil, Patientin nicht intubiert, zunehmend besser ansprechbar, Volumengabe läuft.« Dr. Schröder ist Assistenzarzt im 2. Ausbildungsjahr und erst seit wenigen Wochen im Kreißsaal tätig. Der Nachtdienst ist ruhig verlaufen, sodass er gemeinsam mit Hebamme Martina im »Hebammenstübchen« sitzt und mit ihr über den kommenden Urlaub plaudert. »Wir bekommen einen Zugang«, sagt er und berichtet der Hebamme kurz, was ihm der Notarzt mitgeteilt hat. Beide überlegen, was nach Aufnahme der Patientin zu tun sei und welche Ursachen wohl für den »Krampfanfall« infrage kämen. Sicherheitshalber unterrichtet Dr. Schröder telefonisch seinen Oberarzt Dr. Keller über die bevorstehende Aufnahme, während Jana in Begleitung ihres Mannes und des Notarztteams in den Aufnahmeraum des Kreißsaales gebracht wird. Jana fühlt sich schwach und müde. Sie hat immer noch diese starken Kopfschmerzen! Ihr einziger Gedanke ist: »Dass nur meinem Kind nichts

Ursachen: Aneurysma, arteriovenöse Fehlbildungen: 5-facher Anstieg in der Schwangerschaft: Inzidenz 5/10.000 Geburten → 90% in der Schwangerschaft, 8% post partum 2% intra partum Symptome: plötzlich einsetzender, vernichtender Kopfschmerz (subokzipital, frontal), Übelkeit/ Erbrechen Bewusstseinstrübung/-verlust (50%), Nackensteifigkeit (Meningismus), Sehstörungen (Photophobien, verschwommenes Sehen) Vorher nicht bekannter Hirntumor z. B. Kopfschmerzen, Krämpfe, fokale neurologische Symptome Toxische/metabolische Störungen z. B. Medikamente, Kokainabusus (Anamnese), Hypo-/Hyperglykämie, Elektrolytentgleisungen (z. B. Hyponatriämie) → Labor

passiert!« Ihr Mann sitzt neben ihr und versucht, sie zu beruhigen. Kurz darauf kommen Dr. Schröder und Hebamme Martina. Noch bevor sie Jana und ihren Mann begrüßen können, geschieht etwas, das beide vorher noch nicht gesehen hatten. Sie bemerken nicht, dass Jana zur Decke starrt, die Pupillen weit werden und die Gesichtsmuskulatur zuckt.

217 13.1 · Falldarstellung

Wie aus »heiterem Himmel« ist Jana dann nicht mehr ansprechbar. Ihr Körper ist zunächst schlaff, dann kommt es zu einer Streckung des Rückens und der Gliedmaßen, Jana zittert, es folgen heftige generalisierte Kontraktionen der Beugemuskulatur, blutiger Schaum tritt vor ihren Mund, Jana wird zyanotisch.

13.1.2 Kennen Sie die Symptome des

eklamptischen Anfalls? Wodurch ist die Patientin in dieser Situation akut gefährdet?

Wie in dieser Situation bei Jana kann in ca. 20–25% der Fälle der eklamptische Anfall plötzlich und ohne erkennbare Warnzeichen auftreten. Hinsichtlich des Anfallsmusters sind eklamptische und Grand-malAnfälle bei der Epilepsie kaum voneinander zu differenzieren. Den Anfällen können ähnliche Vorwarnzeichen (Aura) vorausgehen, an die sich die Betroffenen (wie im vorliegenden Fall) noch erinnern können, an den Anfall selbst in der Regel aber nicht. Der Anfall ist gekennzeichnet durch eine kürzere tonische Phase, die langsam und fließend in eine länger dauernde klonische Phase übergeht. Die folgende Übersicht gibt die Symptome des eklamptischen Anfalls wieder. Nach dem Anfall schlafen die Schwangeren – wie auch bei Epilepsie (Terminalschlaf) meist tief, sie sind kaum erweckbar, meist desorientiert und müde.

Symptome des eklamptischen Anfalls: »Auf einen Blick« (zusammengestellt aus Norwitz 2016) 55Aura: keine 55Tonische Phase: 10–20 s –– Plötzlicher Verlust des Bewusstseins –– Verlust der Körperhaltung: hohes Risiko der Selbstverletzung! –– Kurze Flexion der Arme, Augen weichen nach oben ab –– Extension des Rückens, Nackens, Arme und Beine –– Unwillkürlicher Aufschrei (Kontraktion der Atemmuskulatur) –– Flache Atmung → Zyanose möglich

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Ende: Tremor → langsamer-fließender Übergang in die 55Klonische Phase: 30–90 s –– Kurze, heftige, generalisierte Kontraktion der Beugemuskulatur wechselnd mit progredient länger werdender Relaxation –– Zyanose –– Wangen-/Zungenbiss möglich –– schaumige Speichelabsonderung –– Verlust der Blasen- und Darmfunktion möglich Ende: Tiefe Inspiration, anhaltende Muskelrelaxation 55Postiktale Phase: Minuten bis mehrere Stunden –– Kopfschmerzen, leichte Verwirrtheit –– Muskelschmerzen –– Müdigkeit, Patientin schläft und wacht dann auf 55Weitere Symptome: –– Schnelle Herzfrequenz –– Erhöhter Blutdruck –– Respiratorische und metabolische Azidose –– Erweiterte Pupillen –– Risiko für Wirbelfraktur, Pneumonie

Während des Krampfanfalls und unmittelbar danach treten häufig über 3–5 min fetale Bradykardien auf, danach fetale Tachykardien und ein Verlust der Herzfrequenzvariabilität, gelegentlich auch vorübergehende Dezelerationen. > Bei pathologischem CTG mit häufigen, wiederkehrenden (späten) Dezelerationen über mehr als 10–15 min muss an eine vorzeitige Plazentalösung gedacht werden.

Lebensgefahr besteht durch Aspiration (→ Aspirationspneumonie 2–3%), Laryngospasmus und Atem- sowie Herz-Kreislauf-Stillstand (2–5%, Tab. 8). Während der tonischen Phase besteht infolge des Verlusts der Körperhaltung ein erhöhtes Risiko für Selbstverletzungen, in der klonischen für Lippenund/oder Wangenbisse.

218

Kapitel 13 · Krampfanfall in der Schwangerschaft

Weitere mögliche geburtshilfliche Komplikationen der Eklampsie (wie auch der schweren Präeklampsie, 7 Kap. 15) sowie die mütterliche und perinatale Mortalität sind in . Tab. 13.5 zusammengefasst.

13.1.3 Welche Maßnahmen zur

Behandlung des eklamptischen Anfalls müssen Sie treffen, welche zur Prävention eines erneuten Anfalls?

So geht es weiter … Nach einem tiefen Atemzug entspannt sich Janas Körper, sie verfällt in einen tiefen Schlaf. Sie kann nicht mehr wahrnehmen, dass Dr. Schröder sie nach dem ersten Schrecken über das Ereignis an den Schultern packt und mit lauter Stimme ruft: »Frau Gerber, hören Sie mich?« »Das ist ein eklamptischer Anfall«, denkt er. Dessen Symptomatik kannte er bisher nur aus dem Lehrbuch. »Was ist das Wichtigste in dieser Situation?« Dr. Schröder erinnert sich an sein Notfallpraktikum in der Anästhesie, das Wichtigste ist: »Vitalfunktionen aufrechterhalten!« Hebamme Martina benachrichtigt, noch tief beeindruckt von der Situation, unverzüglich Oberarzt Dr. Keller, und wie Dr. Schröder angeordnet hat, das diensthabende Team der Anästhesie. Es ist inzwischen 4 Uhr geworden.

. Tab. 13.5  Mögliche Komplikationen bei Eklampsie (Sibai 2005; Liu et al 2011)

13

Symptom

Häufigkeit

Vorzeitige Plazentalösung

7–10%

Disseminierte intravasale Gerinnung

7–11%

Lungenödem

3–5%

Akutes Nierenversagen

5–9%

Aspirationspneumonie

2–3%

Herz-Kreislauf-Stillstand

2–5%

Leberhämatom

1%

HELLP-Syndrom

10–15%

Frühgeburt

50%

Mütterliche Mortalität (Industrieländer): 0–1,8% Kanada (2003–2009)a: 0,34% – Häufigste Ursachen: intrazerebrale Blutungen, Schlaganfall, Hirninfarkt Perinatale Mortalität: 5,6–11,8% a Liu et al. (2011).

Das Risiko für wiederholte eklamptische Anfälle liegt in Abhängigkeit von der Therapie/Vorgehensweise zwischen 10–35% (UKOSS: 26%). Das diagnostische Vorgehen bei schwerer Präeklampsie ist in 7 Kap. 15 ausführlich dargestellt. Die erste und wichtigste Maßnahme ist der Ruf nach kompetenter Hilfe (→ möglichst erfahrener Oberarzt/-ärztin). Der eklamptische Anfall ist ein interdisziplinärer Notfall, zu dem nach Auffassung des Autors umgehend ein Anästhesist/Intensivmediziner hinzugezogen werden sollte. ! Cave Atem-/Herz-Kreislauf-Stillstand.

Unabhängig davon muss jeder Geburtshelfer die Erstmaßnahmen bei einem eklamptischen Anfall, der jederzeit und ohne Vorwarnung auftreten kann, kennen. Wie bei anderen schweren geburtshilflichen Notfällen (z. B. postpartale Blutungen, 7 Kap. 3) sollten an Leitlinien orientierte, interdisziplinär abgestimmte Handlungsanweisungen bzw. ein Handlungsalgorithmus in Griffnähe im Kreißsaal verfügbar sein! Einen Überblick über die Behandlung des eklamptischen Anfalls gibt . Abb. 13.1. z Unter intensiver Überwachung Allgemeine Maßnahmen und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen 

44Hierzu gehört die sofortige Seitenlagerung zur Vermeidung der Aspiration. 44Sekret oder Erbrochenes sollte unverzüglich abgesaugt werden. 44Um Selbstverletzungen zu vermeiden, können Kissen und Polster am Fuß-/Kopfende des Betts nützlich sein. 44Ein Zungenbiss ist z. B. durch einen gepolsterten Zungenspatel (Cave: Auslösen des Würgereflexes) zu vermeiden.

219 13.1 · Falldarstellung

Intensivüberwachung

• • • • •



Atemfrequenz

Pulsoxymetrie, ggf. Blutgase

Antepartum: kontinuierliche CTG-Überwachung

Allgemeine Maßnahmen:



Herzfrequenz

Für mindestens 48 h



Therapie/Vorgehen

Blutdruck

Urinausscheidung/ Bilanzierung

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– Cave: Lungenödem

Stabile Seitenlagerung Aspiration vermeiden, evtl. Sekret/Erbrochenes absaugen Selbstverletzungen vermeiden: u. a. Zungenbiss (z. B. gepolsterter Zungenspatel)



Vitalfunktionen aufrecht erhalten:



Antikonvulsive Therapie/Prävention eines erneuten Anfalls:

– –

– –

• •

Freihalten der Atemwege (z. B. Guedel-Tubus, Larynxmaske) O2-Gabe über Maske 8-10 l/min

Magnesiumsulfat: initial: 4-6 g in 50 ml über 15-20 min Erhaltungsdosis: 1-2 g/h kontinuierlich als Dauerinfusion bis 48h post partum

Antihypertensive Therapie: z. B. Nifedipin initial: 10 mg

oral, ggf. 20 mg nach 20 min.(max. 50 mg/h) Urapidil: initial: 6,25 mg langsam iv. 3-24 mg i.v. über Perfusor

Geburtshilflich: nach mütterlicher Stabilisierung sofortige Entbindung

! Interdisziplinäre Kooperation mit Anästhesie/Intensivmedizin !

. Abb. 13.1  Behandlung des eklamptischen Anfalls

> Wichtig sind das Freihalten der Atemwege und die Gabe von Sauerstoff über Maske, die einer Hypoxämie während des Anfalls durch Hypoventilation entgegenwirkt. Antikonvulsive Behandlung  44Intravenöses Magnesiumsulfat ist das Mittel der Wahl zur Prävention und Therapie des eklamptischen Anfalls (7 Abschn. 15.1.5). 44Dabei steht die Vermeidung eines erneuten Krampfanfalls im Vordergrund.Bei schwerer Präeklampsie wird durch die prophylaktische Gabe von Magnesiumsulfat die Rate an Eklampsien von 2% auf 0,5% gesenkt (number needed to treat 1:71). Nach einem eklamptischen Anfall reduziert Magnesiumsulfat signifikant sowohl die Häufigkeit an erneuten Krampfanfällen (RR 0,44; 95% KI 0,32–0,51) als auch die Rate mütterlicher Todesfälle (RR 0,62; 95% KI 0,39–0,99).

Im Vergleich zu Diazepam ist Magnesiumsulfat wirksamer zur Senkung der Häufigkeit mütterlicher Todesfälle (RR 0,59; 95% KI 0,38–0,92) und der Vermeidung wiederholter Krampfanfälle (13% vs. 26%, RR 0,43; 95% KI 0,33–0,55). Steht allerdings in der Akutsituation (z. B. in der Außenpraxis oder beim Transport) kein Magnesiumsulfat zur Verfügung, können zur Behandlung des Krampfanfalls 10 mg Diazepam langsam intravenös gegeben werden. Magnesiumsulfat ist zur Anfallsprophylaxe ebenfalls signifikant effektiver als Phenytoin (6% vs. 17% erneute Krampfanfälle, RR 0,32; 95% KI 0,21–0,50). . Abb. 13.1 gibt die Dosierung von Magnesiumsulfat in Anlehnung an die AWMF-Leitlinie 015/018 wieder. Der therapeutische Spiegel von Magnesiumsulfat liegt bei 1,9–3,5 mmol/l. Der Verlust des Patellarsehnenreflexes ist das erste klinische Zeichen einer symptomatischen Hypermagnesiämie (Patellarsehenreflex erlischt bei Magnesiumspiegel ≥ 5 mmol/l).

220

Kapitel 13 · Krampfanfall in der Schwangerschaft

Weitere Überwachungsmaßnahmen bei der Behandlung mit Magnesiumsulfat sind in 7 Abschn. 15.1.5 dargestellt. Eine serologische Kontrolle der Magnesiumspiegel ist i. Allg. nicht erforderlich (Ausnahme: manifeste Niereninsuffizienz). Bei Schwangeren mit eingeschränkter Nierenfunktion (Oligurie ≤ 100 ml/4 h) ist eine Verminderung der Magnesiumsulfatdosis (z. B. Erhaltungsdosis: 0,5–1 g/h) zu empfehlen. ! Cave Magnesiumakkumulation → Intoxikation.

13

Nach Angaben von Sibai ist die Magnesiumbehandlung bis zu 24 h post partum bzw. 24 h nach dem letzten eklamptischen Anfall fortzusetzen. In unserer Klinik wird bei schwerer Präeklampsie zur Vermeidung eines eklamptischen Anfalls Magnesiumsulfat während der Kreißsaalüberwachung bis 48 h post partum gegeben. Gegen die kombinierte Gabe von Magnesiumsulfat und Kalziumantagonisten (z. B. Nifedipin) bestehen mehrheitlich keine Bedenken (Risiko für schwere Hypotonie minimal). Magnesiumsulfat ist bei Myasthenia gravis kontraindiziert. Tritt trotz Gabe von Magnesiumsulfat ein weiterer Krampfanfall auf (ca. 10%) so wird eine weitere Bolus-Applikation von 2 g über 5–10 min empfohlen, bei weiteren Krampfanfällen Diazepam (< 5 mg/ min, Maximaldosis 30 mg) oder Lorazepam (4 mg langsam intravenös, maximale Rate 2 mg/min). z Antihypertensive Therapie

ausführliche Beschreibung 7 Abschn. 15.1.5 Ziel der antihypertensiven Maßnahmen ist die Vermeidung zerebrovaskulärer Komplikationen (häufigste mütterliche Todesursache). Besonders gefährdet sind Schwangere mit plötzlichen Blutdruckspitzen ≥ 160 mmHg systolisch, die zuvor normoton waren (Durchbrechen der zerebralen Autoregulation). Nach der AWMF-Leitlinie 015/018 sind für die antihypertensive Akutbehandlung Nifedipin oral oder Urapidil intravenös über Perfusor die Medikamente der Wahl (kontinuierliche CTG–Überwachung, engmaschige Blutdruckkontrolle). Zielblutdruckwerte unter der Therapie sind 140–150 mmHg systolisch und 90–100 mmHg diastolisch.

! Cave Abrupte starke Blutdrucksenkung → Verminderung der uteroplazentaren Perfusion und des zerebralen Perfusionsdrucks.

Die Gabe von Furosemid ist nur bei Manifestation eines Lungenödems indiziert. Die Volumengabe sollte 80 ml/h nicht überschreiten, der zentrale Venendruck ≤ 5 mmHg sollte gehalten werden. ! Cave Lungenödem!

So geht es weiter … Der Anfall ist kurz, es sind gerade 2 Minuten vergangen, seit Jana plötzlich bewusstlos geworden ist. Dr. Schmidt hat die erste Aufregung überwunden. Er hat Jana in eine linke Halbseitenlage gebracht und ihr über Maske Sauerstoff gegeben. Dann gibt es erneut Aufregung: Hebamme Martina hat den Blutdruck gemessen: 200/120 mmHg! Dr. Schmidt fällt die vor kurzem erschienene AWMF-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen wieder ein, die er neulich gelesen hat: Magnesiumsulfat geben, damit kein erneuter eklamptischer Anfall eintritt, Blutdruck senken! Währenddessen sind Oberarzt Dr. Keller und der diensthabende Oberarzt der Anästhesie Dr. Claussen sowie sein Anästhesiehelfer im Kreißsaal angekommen. Oberarzt Claussen übernimmt sofort die Kontrolle der Vitalfunktionen, Oberarzt Keller kümmert sich um die geburtshilfliche Situation. In Eile werden ein Perfusor mit Urapidil und eine Kurzinfusion mit 6 g Magnesiumsulfat vorbereitet. Oberarzt Claussen legt einen zentralen Venenzugang und nimmt Blut für das Notfalllabor ab. Jana erhält weiterhin Sauerstoff über Maske. »Wie geht es dem Kind?«, fragt Oberarzt Keller an Hebamme Martina gewandt, die seit einigen Minuten ein CTG angelegt hat. Die fetale Herzfrequenz liegt bei 170/min ohne Akzelerationen, die Bandbreite ist silent. »Wir müssen das CTG im Auge behalten«, konstatiert der Oberarzt. Inzwischen läuft die Kurzinfusion mit Magnesiumsulfat und über einen Perfusor Urapidil, nachdem zunächst 6,25 mg langsam intravenös appliziert worden sind.

221 13.1 · Falldarstellung

Jana ist wieder ansprechbar, aber immer noch sehr schläfrig. Die arterielle Sauerstoffsättigung liegt pulsoxymetrisch bei 94%, die Urinausscheidung beträgt 10 ml konzentrierten Urins in den letzten 30 min. Der Blutdruck stellt sich unter Urapidil in mittlerer Dosierung auf Werte von 150–160/90–100  mmHg ein. Oberarzt Keller überlegt: wahrscheinlich zwei eklamptische Anfälle (einer davon zu Hause), 34. SSW, unreifer Muttermundbefund. »Wir machen jetzt eilig einen Kaiserschnitt, bevor noch irgendwelche anderen Komplikationen eintreten«, sagt er in die Runde mit Blick auf das CTG gerichtet, welches gerade eine Dezeleration bis auf 80/min von bereits 1 min Dauer zeigt. Er denkt dabei an die Möglichkeit einer vorzeitigen Plazentalösung, die er gerade vor kurzem bei einer Patientin mit schwerer Präeklampsie erlebt hat. Nun geht es um das Anästhesieverfahren. Beiden Oberärzten sind die Nachteile einer Intubationsnarkose (ITN) in dieser Situation bekannt: Risiko der Aspiration, Fehlintubation bei Ödem der Luftwege sowie Erhöhung des systemischen und zerebralen Blutdrucks während der In- und Extubation. »Wir haben noch keinen Gerinnungsstatus und keine Thrombozytenzahl, mir wäre daher eine ITN lieber!«, konstatiert Oberarzt Claussen. Es soll jetzt alles ganz schnell gehen. Jana wird rasch vorbereitet. Die Infusion mit Magnesiumsulfat und der Urapidil-Perfusor laufen weiter, der Blutdruck wird kontinuierlich überwacht. Blutdruckspitzen treten nicht mehr auf. Jana wird unter laufender CTG-Kontrolle in den nahegelegenen OP gebracht. Es kommt zu einer weiteren 1-minütigen Dezeleration auf < 80 Schläge/min.

13.1.4 Hätten Sie sich in der

vorliegenden Situation auch für eine Sectio entschieden?

Die Entbindung stellt bekanntermaßen die einzige kausale »Therapie« der Präeklampsie dar. Nach Empfehlung der AWMF-Leitlinie 015/018 sollte jede Schwangere mit schwerer Präeklampsie/Eklampsie ab der 34. SSW möglichst rasch entbunden werden. Prinzipiell infrage kommen 44die Geburtseinleitung oder 44die Sectio.

13

Eine Geburtseinleitung kommt in der hier vorliegenden Situation aus folgenden Gründen nicht in Betracht: je terminferner die Schwangerschaft, umso schwerer ist die uterine (zervikale) Ansprechbarkeit auf Prostaglandine und Oxytocin (im vorliegenden Fall: 34. SSW). Hinzu kommen die unreife Zervix und die Nulliparität als ungünstige Prognosefaktoren für eine Geburtseinleitung. Daher lassen sich der Erfolg und die Dauer einer medikamentösen Geburtseinleitung nicht abschätzen. Darüber hinaus sprechen der Schweregrad und die Dynamik der Erkrankung gegen eine u. U. langwierige Geburtseinleitung! Im vorliegenden Fall erlaubte auch das pathologische CTG keine Geburtseinleitung. Eine vaginale Entbindung nach eklamptischen Anfall ist nach Stabilisierung des mütterlichen Zustands und Fehlen anderer Komplikationen (einschließlich eines unauffälligen CTG) dann zu erwägen, wenn die Schwangere bereits unter der Geburt ist (regelmäßige Wehen mit Muttermunderöffnung), also innerhalb einer kurzen Zeit mit der vaginalen Geburt zu rechnen ist. So geht es weiter … Glücklicherweise verläuft alles nach Plan und ohne Komplikationen. Die Intubation gelingt problemlos, der Blutdruck stabilisiert sich, und der Kaiserschnitt kann ohne weitere Schwierigkeiten durchgeführt werden. Allerdings fällt auf, dass sich die Plazenta zentral bereits auf 2–3  cm abgelöst hat. Oberarzt Keller und Dr. Schmidt sind zufrieden: »War alles noch zur rechten Zeit«, denken sie. Das kleine Mädchen Johanna wird vom anwesenden Kinderarzt versorgt, Apgar-Werte: 8/9/10, Nabelschnur-pH: 7,20, Geburtsgewicht: 2450  g. Am Ende der Operation beträgt der Blutverlust 700 ml, der Uterus ist gut tonisiert. Das vor der Operation abgenommene Labor zeigt bis auf eine leichte Erhöhung der Transaminasen und eine Thrombozytopenie von 80 G/l keine weiteren Auffälligkeiten. »Wir sollten auf jeden Fall in 2–3 Stunden eine Laborkontrolle durchführen, hoffentlich entwickelt sich postpartal nicht noch das Vollbild eines HELLPSyndroms!«, stellt Oberarzt Keller fest. Beide Oberärzte kommen überein, dass angesichts der Gesamtsituation die weitere Überwachung auf der Anästhesie-Intensivstation erfolgen soll.

222

Kapitel 13 · Krampfanfall in der Schwangerschaft

13.1.5 Welche Maßnahmen sind zur

postpartalen Überwachung von Jana erforderlich?

Überwachungsmaßnahmen   Blutdruck, Herz-

frequenz, ggf. zentraler Venendruck, Urinausscheidung/Bilanzierung, Pulsoxymetrie/ggf. Blutgasanalyse.

! Cave Erhöhtes Risiko für postpartales Lungenödem: Mobilisierung extrazellulärer Flüssigkeit → Erhöhung des intravasalen Volumens, Volumenüberlastung vor und unter der Geburt. Laborkontrolle  (einschließlich Gerinnung und

Thrombozyten).

! Cave Postpartales HELLP-Syndrom! Therapeutische Maßnahmen  Fortsetzung der antihypertensiven Therapie, Dosisanpassung an Blutdruckverlauf, evtl. Dosisreduktion.

13

Fortsetzung der intravenösen Magnesiumzufuhr (7 Abschn. 13.1.3)  einschließlich klinischer Kont-

rollen.

! Cave Symptomatische Hypermagnesiämie! Beginn der medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe  mit niedermolekularem Heparin, sofern

keine erhöhte Blutungsgefahr mehr besteht, und bei stabiler Gerinnung (Thrombozytenzahl > 100 G/l, Fibrinogen > 2 g/l).

das Ende des Falls Die Extubation von Jana gelingt ohne Probleme. Jana wird zunehmend wacher, fühlt sich aber noch müde und abgeschlagen. Ihrem Töchterchen geht es gut, Jana strahlt, als sie die Kleine zum ersten Mal sieht. Die Urinausscheidung kommt gut in Gang, sie beträgt knapp 4 l innerhalb des 1. Tages.

Die Urapidil-Dosis kann stufenweise reduziert, Magnesiumsulfat kann 48  h post partum abgesetzt werden, ohne dass es erneut zu einem eklamptischen Anfall kommt. Jana wird nach 2 Tagen auf die Wochenstation verlegt. Der weitere Verlauf dort gestaltet sich ohne Komplikationen, sodass sie am 8. Tag nach der Geburt zusammen mit ihrer Tochter nach Hause entlassen werden kann. Sicherheitshalber soll die medikamentöse Thromboseprophylaxe noch bis zu 6 Wochen post partum fortgeführt werden.

13.2 Fallnachbetrachtung 13.2.1 Betreuung in der

Frauenarztpraxis

Der Frauenärztin ist nicht aufgefallen, dass Jana eindeutige Risikofaktoren für eine Präeklampsie aufwies. Ihr hätte bekannt sein müssen, dass nach der AWMF-Leitlinie 015/018 eine rasche Gewichtszunahme ≥ 1 kg/Woche im 3. Trimenon in Verbindung mit einer Proteinurie eine Indikation zur Vorstellung der Schwangeren in der Klinik darstellt. Explizit heißt es in der Leitlinie: »Bei einer raschen Ödementwicklung/Gewichtszunahme kann es in Verbindung mit einer Proteinurie auch ohne Hypertonie zur Eklampsie kommen.« Ob allerdings die Vorstellung in der Klinik den eklamptischen Anfall verhindert hätte, ist nicht zu beantworten, möglicherweise wäre Jana aber der zweite eklamptische Anfall erspart geblieben. 13.2.2 Behandlung durch den Notarzt

In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie wichtig eine interdisziplinäre Kommunikation bei geburtshilflichen Notfällen ist; dies gilt nicht nur für die schwere postpartale Blutung (7 Kap. 3), sondern auch für den hypertensiven Notfall/die Eklampsie. Hätte der Notarzt die Anamnese, die Befunde im Mutterpass und die klinische Symptomatik richtig eingeschätzt, wäre die Diagnose »eklamptischer Anfall« am wahrscheinlichsten und die Prävention eines

223 Weiterführende Literatur

erneuten eklamptischen Anfalls mit Magnesiumsulfat geboten gewesen. Zu berücksichtigen ist, dass es in ca. 10% der Fälle trotz Magnesiumprophylaxe zu einem weiteren Krampfanfall kommt. Die Rate nichtvermeidbarer eklamptischer Anfälle wird in der Literatur zwischen 31% und 87% angegeben. Nach einer Analyse von 179 Schwangeren mit eklamptischen Anfällen stehen folgende Faktoren mit einer fehlgeschlagenen Prävention des eklamptischen Anfalls in Zusammenhang: 44ärztlicher Fehler (36%), 44unzureichende Schwangerenvorsorge (19%), 44plötzlicher Beginn des Anfalls (18%), 44Versagen von Magnesiumsulfat (13%), 44Beginn des eklamptischen Anfalls > 48 h post partum (12%) oder vor der 21. SSW (3%). 13.2.3 Vorgehen in der Klinik

Im vorliegenden Fall trat der erneute eklamptische Anfall unmittelbar nach der stationären Aufnahme, von Dr. Schröder nur schwer erkennbar, »aus heiterem Himmel« auf. Unmittelbare Vorboten des eklamptischen Anfalls wie starre Blickrichtung und Zucken der Gesichtsmuskulatur werden in der »Hektik« der Notsituation leicht übersehen. Der abrupte Beginn des eklamptischen Anfalls gab Dr. Schröder keinen zeitlichen Spielraum für die Einleitung medikamentöser Maßnahmen. Zu berücksichtigen ist auch, dass wohl die meisten Assistenzärzte (und Oberärzte ohne langjährige klinische Erfahrung) in ihrem Berufsleben vorher noch nicht mit einem eklamptischen Anfall konfrontiert worden waren. Die nachfolgenden Maßnahmen wurden korrekt durchgeführt: Seitenlage zur Aspirationsprophylaxe, Sauerstoffzufuhr, intravenöse Gabe von Magnesium und Urapidil in adäquater Dosierung unter intensiver Überwachung der Patientin und des Kindes. Wichtig in dieser Situation war auch die Logistik des Notfalls: die Oberärzte der Geburtshilfe und der Anästhesie wurden rechtzeitig benachrichtigt, die Aufgabenverteilung zwischen beiden Disziplinen war klar geregelt. Unklar ist, ob im Verlauf der Anwendung von Magnesiumsulfat die notwendigen klinischen Überwachungsmaßnahmen

13

(insbesondere Atemfrequenz, Prüfung des Patellarsehnenreflexes) durchgeführt wurden. Die Urinausscheidung wurde gemessen. Die Indikation zur sofortigen Sectio nach Stabilisierung der Mutter ist nicht zu beanstanden. Die Entscheidung des Oberarztes der Anästhesie, den Kaiserschnitt in ITN durchzuführen, ist nachvollziehbar, da noch keine Laborwerte (insbesondere Gerinnung/ Thrombozytenzahl) vorlagen. Immerhin muss bei schwerer Präeklampsie/Eklampsie in 30–50% der Fälle mit einer Thrombozytopenie unterschiedlichen Schweregrades und bei 8–10% der Betroffenen mit einer disseminierten intravasalen Gerinnung gerechnet werden. Die postpartale intensivmedizinische Überwachung der Patientin entsprach den Empfehlungen gängiger Leitlinien. Besonders wichtig ist dabei die konsequente Fortsetzung der Gabe von Magnesiumsulfat über 48 h post partum zur Anfallsprophylaxe.

Weiterführende Literatur AWMF-Leitlinie 015/018 (2014) Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen. www. dggg.de Berhan Y, Berhan A (2015) Should magnesium sulfate be administered to women with mild preeclampsia? A systematic review and published reports on eclampsia. J Obstet Gynaecol Res 41: 831–840 Borthen J (2015) Obstetrical complications in women with epilepsy. Seizure 28: 32–34 Cooray SD, Edmonds SM, Tong S et al (2011) Characterization of symptoms immediately preceding eclampsia. Am J Obstet Gynecol 118: 995–999 Cuero MR, Varelas PN (2016) Neurologic complications in pregnancy. Crit Care Clin 32: 43–59 Duley L (2009) The global impact of pre-eclampsia and ­eclampsia. Sem Perinatol 33: 130–137 Duley L, Henderson-Smart BJ, Walker GJA, Chou D (2010) ­Magnesium sulphate versus diazepam for eclampsia (Review). Cochrane Database Syst Rev 12: CD 000127 Hiremath R, Mundaganur P, Sonwalkar P et al (2014) Cross sectional imaging of post partum headache and seizures. J Clin Diagn Res 8: RC01–RC05 Jungmann V, Werner R, Bergman J et al (2009) Sinusvenenthrombose nach geburtshilflicher Epiduralanästhesie. Anaesthesist 58: 268–272 Khan M, Wasay M (2013) Haemorrhagic strokes in pregnancy and puerperium. Int J Stroke 8: 265–272 Knight M, on behalf of UKOSS (2007) Eclampsia in the United Kingdom 2005. BJOG 114: 1072–1078

224

Kapitel 13 · Krampfanfall in der Schwangerschaft

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13

225

Akutes Abdomen in der Schwangerschaft Alexander Hendricks, Jan-Hendrik Egberts

14.1

Falldarstellung – 227

14.1.1 14.1.2 14.1.3

Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? – 227 Welche Differenzialdiagnosen sollten beachtet werden? – 228 Sie nehmen die Patientin in Empfang. Wie schätzen Sie Lisas Zustand ein? – 228 Analgesie in der Schwangerschaft: Was würden Sie Lisa zur Analgesie geben? Welche Analgetika sind kontraindiziert? Wieso? – 229 Auf welche Punkte sollte Dr. Koch insbesondere im Anamnesegespräch eingehen? – 229 Dr. Koch vermutet sehr stark, dass Lisa eine akute Appendizitis plagt. Was aus dem Anamnesegespräch veranlasst ihn zu dieser ­Verdachtsdiagnose?Wie würden Sie bei einer körperlichen Untersuchung vorgehen? – 230 Welche klinischen Zeichen zur Diagnostik der akuten Appendizitis kennen Sie? – 231 Dr. Nowak nutzt bewusst den Begriff »akutes Abdomen« – was verbirgt sich wirklich dahinter? – 232 Akutes Abdomen in der Schwangerschaft? Alles wie immer? Was kommt Ihnen in den Sinn? – 232 Welche Art von weiterführender Diagnostik sollte Dr. Nowak umgehend einleiten? – 233 Was ist mit »unter Berücksichtigung der Schwangerschaft« gemeint? Wie unterscheiden sich das Blutbild und die restlichen laborchemischen Marker von Nichtschwangeren? – 234

14.1.4

14.1.5 14.1.6

14.1.7 14.1.8 14.1.9 14.1.10 14.1.11

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_14

14

14.1.12 14.1.13 14.1.14

Was meinen Sie? Ist es unbedenklich, das Verfahren der ­Allgemeinanästhesie zu wählen? – 234 Was ist Ihre Meinung? Welchen Zugang würden Sie bei Lisa wählen? Pro und Contra? – 234 Antibiotika in der Schwangerschaft: Welche Antibiotika können bedenkenlos gegeben werden? – 235

14.2

Fallnachbetrachtung – 236



Weiterführende Literatur – 236

227 14.1 · Falldarstellung

14

14.1 Falldarstellung

14.1.1 Was ist Ihre Verdachtsdiagnose?

Was geschah …

Lisa zeigt die typische Klinik einer akuten Appendizitis.

Freitagnachmittag im Frühling. Lisa ist 24 Jahre alt, studiert Medizin im 8. Semester und ist mittlerweile schon in der 16. SSW. Es wird ein Junge, hat sie vor 14 Tagen erfahren. Er soll Henri heißen. Nach ihrem Freund. Sie planen eine kleine Hochzeit mit der Familie noch in diesem Jahr. Die Schwangerschaft war bislang völlig unkompliziert – wobei, wenn sie wirklich ehrlich ist, verspürt sie schon seit mehreren Wochen immer wieder ein allgemeines Unwohlsein. Sie kann nicht genau sagen, was es ist. Die Phasen sind häufig nur von kurzer Dauer und nicht selten mit weitläufigen, leichten Bauchschmerzen, wenig Übelkeit und manchmal auch ein bisschen Diarrhö verbunden. Sie sei nun einmal Schwanger und da könne der Körper auch ein bisschen »spinnen«, denkt sie sich. Hinzu kommt auch noch viel Stress an der Uni. Aktuell ist ihre Klausurphase, und die letzten Wochen waren eine große Belastung für sie. Also schenkt sie den Symptomen nicht viel Aufmerksamkeit und tut sie hin und wieder als belanglos ab. Sie kann einiges aushalten. An diesem Nachmittag sind die Bauchschmerzen dann aber doch deutlich schlimmer geworden. Lisa fühlt sich wirklich krank. Und ganz besonders komisch findet sie, dass der Schmerz den sie spürt, sehr gut zu lokalisieren ist. Vor allem im Oberbauch. Dann fängt auch noch die Übelkeit wieder an. Sie vermutet, etwas Falsches gegessen zu haben, und ruht sich erst einmal auf dem Sofa aus. Die Schmerzen werden aber nicht besser, es wird sogar noch schlimmer. Sie fängt an, am ganzen Körper zu schütteln. Ihr Freund, der gerade vom Sport nach Hause kommt, erschrickt, als er Lisa auf dem Sofa findet, das Gesicht blass und mit Schweißperlen besetzt. »Du musst mich ins Krankenhaus fahren, Schatz!«, stottert Lisa nur. Er lässt alles fallen, und sie fahren sofort los. Noch im Auto merkt Lisa, wie der Schmerz aus dem Oberbauch nachlässt und es plötzlich im rechten Unterbauch krampfartig und dumpf zu Schmerzen beginnt. Sie ahnt, was hier vor sich geht …

Definition und Pathogenese Die Appendizitis beschreibt den Zustand einer entzündlich veränderten Appendix vermiformis (Wurmfortsatz). Diese findet sich entlang der Taenia libera als Anhang des Zäkalpols. Häufigste Ursache einer Appendizitis ist der Verschluss des Appendixlumens durch z. B. Kotsteine, Verwachsungen oder Fremdkörper. Dies führt dann zu einer Stase des Mukosasekrets und zu einer konsekutiven intraluminalen Druckerhöhung. Konsequenz ist eine Gewebehypoxie und eine gewissermaßen lokale Durchwanderungsperitonitits im Verlauf. Seltener kommen enterogene Infektionen (hier v. a. herbeigeführt durch Enterokokken) als Ausgangssituation einer Appendizitis infrage. Die Einteilung der Appendizitis erfolgt sowohl nach dem klinischen Verlauf als auch nach dem häufig erst durch die Pathologen definierten Entzündungsstadium:

Appendizitis 55Einteilung nach dem klinischen Verlauf: –– Appendicitis acuta und chronica – akuter Beginn gegenüber schleichendem teils subklinischem Verlauf 55Einteilung nach dem Entzündungsstadium: –– Katarrhalische Appendizitis– sanfteste und auch häufigste Form; der Wurmforstsatz zeigt sich gerötet und schmerzhaft, indes ohne Bildung von Pus oder irreversibler Destruktion des Gewebes –– Phlegmonöse Appendizitis – diffuse entzündliche Infiltration der Organwand –– Abszedierende Appendizitis – gedeckt perforiert (perityphlitischer Abszess) und freie Perforation im Sinne eines akut lebensbedrohlichen Krankheitsbildes

228

Kapitel 14 · Akutes Abdomen in der Schwangerschaft

14.1.2 Welche Differenzialdiagnosen

sollten beachtet werden?

Schon der bedeutende Chirurg Ferdinand Sauerbruch bezeichnete die akute Appendizitis als »Chamäleon des Bauches«. Aufgrund der Lagevarianten kann die aktue Appendizitis fast jede andere akute abdominelle Erkrankung vortäuschen. Das Zäkum selbst kann durch einen Hochstand (insbesondere bei vorangeschrittener Schwangerschaft), eine tiefe Lage im kleinen Becken oder bei sehr mobilem Zäkum (sehr selten) sogar in der linken Abdomenhälfte zu finden sein. Die Appendix selber ist in mehr als der Hälfte der Fälle retrozäkal hochgeschlagen, kann aber auch parazäkal oder regulär in unmittelbarer Nachbarschaft anderer Organe (v. a. Uterus, Adnexe) befindlich sein. > Sehr wichtig ist die Abgrenzung der akuten Appendizitis gegen eine unspezifische Enteritis. Diese geht häufig mit ähnlichen Symptomen wie Fieber, unspezifischen Bauchschmerzen, Diarrhö, Nausea und Emesis einher. Selten ist bei dieser aber ein klinisch eindrücklicher Peritonismus fassbar.

Einen Überblick über relevante Differenzialdiagnosen der Appendicitis acuta gibt die folgende Übersicht:

14

Relevante Differenzialdiagnosen der akuten Appendizitis 55Gastro-)Enteritis 55Uretersteine 55Akute Cholezystitis 55Entzündetes Meckel-Divertikel 55Divertikulose, -itis 55Morbus Crohn 55Ovarialzyste (rupturiert, stiehlgedreht) 55Extrauteringravidität

… und weiter … Auf dem Krankenhausparklatz angekommen, werden die Bauchschmerzen immer stärker. Der anfänglich dumpfe Schmerz im rechten Unterbauch entwickelt sich zunehmend zu einem stechenden

und brennenden Unterbauchschmerz. Lisa schafft es nur mit der Hilfe ihres Freundes in die zentrale Notaufnahme. Das Laufen fällt ihr jetzt sehr schwer, die Bewegung und das Auftreten mit dieser Erschütterung im Bauch sind zwischenzeitlich ungeheuer schmerzhaft geworden. In der zentralen Notaufnahme des Krankenhauses muss Lisa sich noch, bevor sie sich anmelden kann, übergeben.

14.1.3 Sie nehmen die Patientin in

Empfang. Wie schätzen Sie Lisas Zustand ein?

44Welche Maßnahmen der Erstversorgung ergreifen Sie? 44Lisa krümmt sich vor Schmerzen. Sie schafft

es nur noch mit der Hilfe ihres Freundes in die Notaufnahme und übergibt sich prompt. Der Allgemeinzustand der Patientin ist als äußerst reduziert zu betrachten. 44Die umgehende Basistherapie sollte wie folgt lauten: Venöser Zugang – Infusionstherapie – bei rezidivierendem Erbrechen kann die Anlage einer Magensonde indiziert sein. 44Die Erstversorgung beinhaltet auch ein passendes Monitoring der Patientin. Welche Parameter sollten unbedingt erfasst werden? 44Obligatorisch bei Patienten in einem

reduzierten Allgemeinzustand und bei ernster Symptomatik ist das kardiopulmonale Monitoring. 44Dieses umfasst stets: eine EKG-­Dauerableitung, Pulsoxymetrie sowie eine ­intermittierende, nichtinvasive Blutdruckmessung. 44Die Ambulanzschwester informiert Sie über die Patientin. Sie brauchen noch 5 Minuten, bis Sie in der Ambulanz sein können. Jetzt fragt die Schwester, ob Lisa schon etwas gegen die starken Schmerzen bekommen könnte. Wie ist Ihre Antwort? 44Nein.

44Analgetika und Spasmolytika können

eindeutig die klinischen Symptome kaschieren und somit eine suffiziente körperliche Untersuchung der Patientin verhindern.

229 14.1 · Falldarstellung

> Es ist unabdingbar, dass eine exakte Lokalisation der abdominellen Schmerzen und auch deren Charakter durch eine gründliche körperliche Untersuchung eruierbar sind.

Selbstverständlich muss aber jede Situation erneut abgewogen werden. Bei schweren Traumata steht eine zügige suffiziente Analgesie außer Frage. 14.1.4 Analgesie in der

Schwangerschaft: Was würden Sie Lisa zur Analgesie geben? Welche Analgetika sind kontraindiziert? Wieso?

Es gibt ein eindeutig festgelegtes Schema zur Analgesie. Wie lautet dieses und welcher Ablauf wird dort festgelegt? Die Analgesie per se sollte sich nach dem WHOStufenschema richten: 44Stufe 1: Nichtopioidanalgetika 44Stufe 2: Niederpotente Opioidanalgetika + Nichtopioidanalgetika 44Stufe 3: Hochpotente Opioidanalgetika + Nichtopioidanalgetika

Auflistung der Analgetika entlang des WHO-Stufenschemas und deren (Kontra-) Indikation in der Schwangerschaft 55Nichtopioidanalgetika: –– Paracetamol: Analgetikum der Wahl vom 1. bis einschließlich 3. Trimenon –– Ibuprofen: Im 1. und 2. Trimenon neben Paracetamol Mittel der Wahl; im 3. Trimenon ist es allerdings kontraindiziert –– Metamizol: Im 3. Trimenon kontraindiziert –– Diclofenac: Im 3. Trimenon kontraindiziert –– Acetylsalicylsäure (ASS): Bis zur 28. SSW risikofrei,es sollte aber als Reserveanalgetikum gelten; nach der 28. SSW kontraindiziert 55Opioidanalgetika:

14

–– Sämtliche Opioidanalgetika gelten bei kurzfristigem Gebrauch in der Schwangerschaft als risikolos; ein längerfristiger Gebrauch, insbesondere zum Ende der Schwangerschaft hin, kann dagegen zu Entzugserscheinungen und Atemdepression des Neugeborenen führen –– Niederpotent – Tramal, Tilidin –– Hochpotent – Buprenorphin, Fentanyl, Hydromorphon, Morphin, Oxycodon, Piritramid

! Cave NSAR (ASS, Ibuprofen, Diclofenac u. a.) sind im 3. Trimenon kontraindiziert. Sie können zu einem vorzeitigen Verschluss des Ductus arteriosus beim Feten führen.

… und weiter in der Ambulanz … Schwester Marita, eine sehr erfahrene Schwester, nimmt Lisa sofort in Empfang und bringt sie in eine Ambulanzkabine. Lisa wird kaltschweißig und das Zimmer fängt an, sich vor ihren Augen zu drehen. Die Ambulanzschwester reagiert sofort, legt ihr einen peripheren venösen Zugang und verabreicht ihr im Schuss 500 ml Sterofundin. Der diensthabende Gynäkologe Dr. Koch wurde informiert und eilt zügig in die Ambulanz. Die Vitalzeichen der Patientin: RR 110/55  mmHg, Herzfrequenz 95/min und SpO2 bei 99%. Dr. Koch weist die Schwester an, ein Notfalllabor zu bestimmen. Lisas Freund berichtet ängstlich besorgt, wie er Lisa in der Wohnung gefunden hat und dass sie eigentlich schon seit mehreren Wochen immer wieder Bauchschmerzen gehabt hätte. Dr. Koch wirkt ruhig auf ihren Freund ein und bietet ihm einen Stuhl an.

14.1.5 Auf welche Punkte sollte

Dr. Koch insbesondere im Anamnesegespräch eingehen?

In Anbetracht der Schwangerschaft steht gewiss die Frage nach dem Verlauf dieser Auffälligkeit und sonstigen Auffälligkeiten im Vordergrund. Der Mutterpass – wenn vorhanden – sollte eingesehen werden.

230

Kapitel 14 · Akutes Abdomen in der Schwangerschaft

14.1.6 Dr. Koch vermutet sehr Essenzielle Fragen aus chirurgischer Sicht 55Schmeranamnese: –– Zeitpunkt des Beginns, Dauer –– Charakter (chronisch, intermittierend, kolikartig) –– Lokalisation 55Unspezifische Symptome: –– Fieber, Schüttelfrost –– Übelkeit, Erbrechen –– Stuhlgang (Regelmäßig, Obstipation, Diarrhö) –– Miktion (Frequenz, Schmerzen) 55Eigen- oder Fremdanamnese: –– Vorerkrankungen –– Voroperationen –– B-Symptomatik (Nachtschweiß, ungewollter Gewichtsverlust) –– Hausmedikation –– Allergien –– Bei weiblichen Patienten gynäkologische Anamnese (letzte Menstruation, mögliche Schwangerschaft, sonstige Auffälligkeiten)

… und weiter …

14

Aus Lisas Mutterpass entnimmt Dr. Koch alle relevanten Informationen über die Schwangerschaft. »Laut Mutterpass ist bislang alles problemlos verlaufen. Seit wann haben Sie denn diese Beschwerden und kennen Sie diese Symptome?«, fragt Dr. Koch. Lisa hat solche Schmerzen, dass sie nur knapp antwortet: »Seit 3 Wochen habe ich immer wieder Schmerzen. Insbesondere im Unterbauch. Die sind aber immer zügig wieder weg gewesen, also habe ich mir keine wirklichen Sorgen gemacht. Heute ist es aber ganz schlimm. Und das Komische ist, dass der Schmerz vom Oberbauch in den Unterbauch gewandert ist. Zu Hause habe ich dann auch noch am ganzen Körper gezittert. Und übergeben habe ich mich vor 10 Minuten hier bei Ihnen. Das ist mir so peinlich und tut mir so leid.« Die weitere Anamnese ist unauffällig. Keine Medikamente bis auf Folsäure während der Schwangerschaft, keine Vorerkrankungen und keine Voroperationen.

stark, dass Lisa eine akute Appendizitis plagt. Was aus dem Anamnesegespräch veranlasst ihn zu dieser Verdachtsdiagnose?Wie würden Sie bei einer körperlichen Untersuchung vorgehen?

Das Schmerzbild, wie es Lisa beschreibt, ist lehrbuchartig für eine akute Appendizitis. Schmerzen beginnen im Oberbauch und wandern mit der Zeit in den rechten Unterbauch. Der epigastrische Schmerz wird von den Patienten oft als kolikartig beschrieben und zeichnet sich durch einen viszeralen Schmerzcharakter aus – dumpf, brennend, bohrend und anfänglich schlecht lokalisierbar. Während Stunden tritt dann häufig eine Schmerzwanderung in den rechten Unterbauch auf. Hier wird das Muster eines somatischen Schmerzes beschrieben – schneidend, brennend, sehr gut lokalisierbar und ausgeprägt bei Bewegung und Erschütterung als Folge von einer Reizung des Peritoneum parietale. Unspezifische Symptome wie Appetitlosigkeit, Nausea und rezidivierendes Erbrechen zählen zu den Frühzeichen einer akuten Appendizitis, sind aber auch häufig in der Frühschwangerschaft zu beobachten. Nach dem Anamnesegespräch besteht nun der Verdacht auf eine Appendicits acuta. Dr. Koch möchte aber, noch bevor er den allgemeinchirurgischen Kollegen dazu ruft, eine körperliche Untersuchung durchführen, um seine Verdachtsdiagnose zu stärken. Die klinische Untersuchung, besonders des Abdomens, sollte fortwährend nach einem festgelegten Schema erfolgen: Inspektion – Auskultation – Perkussion – Palpation. Inspektion  Aus chirurgischer Sicht steht dabei stets die Ausschau nach Narben aus vorangegangen Operationen im Vordergrund. Nicht selten erwähnen Patienten ältere, kleinere operative Eingriffe erst auf Nachfrage über Hautnarben an typischen Stellen. Ferner sollte auch zweifellos nach weiteren klinischen Merkmalen, wie z. B. Asymmetrien, Einblutungen, offene Wunden oder Umgehungskreisläufe (Venenzeichnung) geachtet werden.

231 14.1 · Falldarstellung

Auskultation  Sie sollte als erste manuelle Diagnos-

tik erfolgen. Eine vorangegangene Manipulation könnte die Darmperistaltik anregen und so die Auskultation beeinflussen. Wichtigster klinischer Parameter ist das Maß der peristaltischen Bewegungen. Man spricht von lebhaften Darmgeräuschen bis hin zu ihrem kompletten Ausbleiben. Auch können Darmgeräusche metallisch klingen und hochgestellt sein – dies könnte ein Zeichen auf einen (Sub-) Ileus sein. Perkussion   Sie ist wichtig für zwei klinische Befunde: Sie dient zum einen dem Nachweis von Meteorismus und kann zum anderen bei Schmerzhaftigkeit im Sinne eines Klopfschmerzes Anzeichen auf eine peritoneale Reizung geben, dies als Ausdruck eines Peritonismus.

Palpation  Sie sollte zuletzt durchgeführt werden. Hier ist die bestimmte, aber auch der Situation angepasst vorsichtige Ausführung der Untersuchung maßgeblich. Alle 4 Quadranten müssen palpiert werden – eingangs oberflächlich, gefolgt von tieferer Palpation. Es ist von zentraler Bedeutung, die reflektorische und unwillentliche Abwehrspannung von der schmerzbedingten Gegenspannung zu differenzieren. ! Cave: Abwehrspannung! Eine Abwehrspannung ist reflektorisch, also willentlich nicht beeinflussbar und stets ein Zeichen auf eine lokale oder generalisierte Peritonitis (bakterielle Bauchfellentzündung).

… und weiter … Lisas Bauch stellt sich augenscheinlich unauffällig dar. Keine Narben im Sinne von stattgehabten Voroperationen. Die Darmgeräusche sind nach langem Auskultieren nur sehr spärlich. Behutsam perkutiert Dr. Koch dann alle 4 Quadranten. Im rechten Unterbauch beklagt Lisa aber einen eindeutigen Klopfschmerz. Über den restlichen Quadranten verspürt sie weniger starke Schmerzen, und die Bauchdecke empfindet Dr. Koch als weich ohne imposante Zeichen einer Abwehrspannung. Er konsultiert sogleich den allgemeinchirurgischen Kollegen.

14

Dieser ist glücklicherweise gerade ebenfalls in der Ambulanz beschäftigt. Also berichtet er dem chirurgischen Oberarzt Dr. Nowak kurz den Fall mit Anamnese und klinischem Befund. Angekommen bei Lisa, fragt Dr. Nowak nach ihrem Einverständnis, ihren Bauch noch einmal untersuchen zu dürfen. Den Befund eines lokalen Peritonismus im rechten Unterbauch befindet auch er als eindeutig. Eine wirkliche Abwehrspannung kann er allerdings ebenfalls nicht greifbar diagnostizieren. Die klinischen Zeichen einer akuten Appendizitis sind sämtlich positiv.

14.1.7 Welche klinischen Zeichen

zur Diagnostik der akuten Appendizitis kennen Sie?

Es werden prinzipiell Druck- von Schmerzpunkten unterschieden. Der Druckpunkt muss topographisch nicht gleich dem Schmerzpunkt sein. Druckpunkt gleich Schmerzpunkt  44McBurney-Punkt: Liegt in der Mitte einer fiktiven Verbindungslinie zwischen Nabel und Spina iliaca anterior superior 44Lanz-Punkt: Liegt im rechten Drittel einer fiktiven Verbindungslinie zwischen den beiden Spinae iliacae anteriores superiores Druckpunkt fern des Schmerzpunkts 

44Blumberg-Zeichen: Auch als kontralateraler Loslassschmerz bezeichnet. Es wird Druck auf den linken Unterbauch ausgeübt und rasch losgelassen. Der Patient empfindet bei dem Loslassen ein akutes stechendes Schmerzen des rechten Unterbauchs 44Rovsing-Zeichen: Das Kolon wird retrograd in Richtung Zäkum ausgestrichen. Die Stuhlwalze verursacht einen Druckanstieg im Zäkum und somit Schmerzen im rechten Unterbauch. > Es ist von grundlegender Bedeutung, eine peritoneale Reizung entsprechend einem Peritonismus zu diagnostizieren. Eine Erschütterung jeglicher Art reicht aus, um diese adäquat festzustellen.

232

Kapitel 14 · Akutes Abdomen in der Schwangerschaft

… und weiter …

z Definition und Arten des Schocks

Dr. Nowak weist Schwester Marita an, der Patientin nun zügig über den venösen Zugang ein Analgetikum zu verabreichen und telefoniert umgehend mit dem Radiologen, der glücklicherweise noch im Hause ist. »Bei mir in der Ambulanz ist eine Patientin mit dem klinischen Befund eines akuten Abdomens. Sie ist in der 16. SSW, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie eine akute Appendizitis hat. Die Klinik ist eindrucksvoll!«, berichtet Dr. Nowak seinem radiologischen Kollegen.

Der Schock per se bezeichnet stets ein akut lebensbedrohliches Krankheitsbild. Bedingt durch eine aufgeprägte Kreislaufstörung zeigt sich eine verminderte Perfusion des Kapillarsystems und somit eine Hypoxie des Gewebes. Definitionsgemäß wird der Schock nach der Genese gegliedert:

14.1.8 Dr. Nowak nutzt bewusst den

Begriff »akutes Abdomen« – was verbirgt sich wirklich dahinter?

z Ursachen und Symptomatik

Grundsätzlich beschreibt der Begriff »akutes Abdomen« lediglich ein akut einsetzendes Krankheitsbild mit außerordentlich starken abdominellen Schmerzen, unabhängig von dessen Genese. Nicht jedes akute Abdomen bedarf einer sofortigen chirurgischen Intervention.

14

Volumenmangelschock  Ausgeprägter Flüssigkeitsverlust (Blutung, Dehydratation). Septischer Schock  Volumenverschiebung in die Peripherie im Sinne eines Kapillarlecksyndroms wie z. B. bei einer Sepsis. Die Bakteriämie führt zu einer massiven Ausschüttung von Toxinen und folglich zu einer Hyperpermeabilität des Endothels der Kapillaren. Wasser wird am onkotischen Druck entlang aus dem Serum in das Interstitium befördert. Folge ist eine drastische Reduktion des zirkulierenden Blutvolumens. Anaphylaktischer Schock  Gefäßweitstellung in der

Peripherie und anschließend relativer Volumenmangel aufgrund einer massiven Freisetzung von HistaAkutes Abdomen mit dringlicher Operationsindikation  min als Folge einer massiv übersteigerten Immun44Drohende oder erfolgte Hohlorganperforation antwort auf ein Antigen/Allergen. (Appendizitis, Ulkus-Perforation, freie Sigmadivertikulitis-Perforation, iatrogene Kardiogener Schock  Akute HerzrhythmusstörunKomplikation), gen, Myokardinfarkt, Myokarditis. 44mechanischer Ileus (Bridenileus, Tumore, Der Schock kann anhand des sog. Schock-Index Hernierung, Invagination), diagnostiziert werden. Aus der Herzfrequenz und 44akute Ischämie (Mesenterialinfarkt), dem systolischen Blutdruck wird dieser wie folgt berechnet: 44schwere Traumafolgen (Blutungen, Organverletzungen/-rupturen). Puls/systolischer Blutdruck = Schock-Index Schock-Index < 1 – physiologisch, = 1 – sich Akutes Abdomen, dessen primäre Therapie konserva- abzeichnender Schock, > 1 – erwiesener Schock. tiv medikamentös ist  44Gastrointestinal (Pankreatitis, Cholezystitis, 14.1.9 Akutes Abdomen in der Abszesse) Schwangerschaft? Alles wie 44gynäkologisch (Adnexitis, Kolpitis, immer? Was kommt Ihnen in den Endometriose) Sinn? 44urologisch (Ureterstein, Pyelonephritis, Zystitis) Die Schwangerschaft bedeutet faktisch eine Umstel> Ursachenbedingt führt ein akutes Abdomen lung für den Organismus. Anatomische Landmarken wechseln und auch die klinische Beurteilbarkeit unbehandelt und unerkannt nicht selten zu der Patientin kann aufgrund von physiologischen einem Schockzustand des Patienten.

233 14.1 · Falldarstellung

hormonellen Schwankungen eingeschränkt sein. Röntgendiagnostik sollte insbesondere im 1. Trimenon nur unter sehr strenger Indikationsstellung Anwendung finden. Besonders die Diagnosestellung einer akuten Appendizitis – so bei Lisa der Fall – kann anspruchsvoll sein. Insbesondere in der fortgeschrittenen Schwangerschaft wird das Zäkum samt der Appendix durch den vergrößerten Uterus in den rechten Mittel- sowie auch Oberbauch verlagert. Die Bauchdecke kann dilatiert sein, und grundsätzlich können Symptome wie eine Abwehrspannung als Zeichen eines Peritonismus kaschiert werden.

Welche Art von weiterführender Diagnostik sollte Dr. Nowak umgehend einleiten?

14.1.10

Der Chirurg entscheidet sich selbstverständlich für die Sonographie. Die Sonographie ist bei dem klinischen Befund eines akuten Abdomens unerlässlich. Sie kann Mittel einer raschen Diagnosefindung (z. B. freie Flüssigkeit, Organparenchymschäden) sein, bedeutet keine Strahlenbelastung für die Patientin und ist nahezu unmittelbar verfügbar. Bei unklaren Befunden oder schwierigen Untersuchungsbedingungen sollte eine weiterführende Diagnostik erfolgen. Hier steht die Röntgendiagnostik im Vordergrund. Eine Röntgenaufnahme des Abdomens in Linksseitenlage oder im Stehen kann freie intraabdominelle Luft nach einer Hohlorganperforation ausschließen. Ferner können Dünnoder Dickdarmspiegel auf einen Ileus und dessen Ausmaß hinweisen. Bei hochakuten und fulminanten Verläufen sollte indes zügig eine dreidimensionale Schnittbildgebung in Form einer Computertomographie erfolgen. Bei schwangeren Patientinnen gilt aber die sehr strenge Indikationsstellung von Röntgendiagnostik, insbesondere im 1. Trimenon. In Notfällen haben die möglichst zügige Diagnosefindung und daraus resultierend der Entscheid zur therapeutischen Intervention und Stabilisierung des maternalen Kreislaufs stets oberste Priorität. Ferner sollte auch immer die Alternative der Magnetresonanztomographie

14

(deutlich längere Untersuchungsdauer, aber keine Strahlenbelastung und somit keine Teratogenität für den Feten) beachtet werden. Ultima Ratio sind die explorative Laparoskopie/ Laparotomie als Diagnostikum und zugleich auch therapeutische Intervention. … und weiter … Der Radiologe veranlasst rasch eine Sonographie zur Fokusdiagnostik. Der Oberbauch stellt sich unauffällig dar. Das Leberparenchym ist homogen und gut perfundiert, die Gallenblase schlank, nicht ödematös wandverdickt, aber mit Zeichen einer unkomplizierten Cholezystolithiasis. Das Pankreas ist gut einstellbar und ebenfalls unauffällig. Keine Harnstauungsnieren und keine Zeichen einer Pyelonephritis. Kindsbewegungen sind eindeutig und lebhaft. Der Uterus stellt sich unauffällig dar, wobei die rechte Adnexe schwierig abzugrenzen ist. Das Zäkum lässt sich bei Lisa sehr schön einstellen, sodass er entlang dieser Struktur mit der Sonographiesonde kaudal fährt. Die Appendix zeigt sich aufgetrieben und deutlich wandverdickt auf 2,2 cm Gesamtdiameter. Ferner kann er auch freie Flüssigkeit um die Appendix darstellen. Lisa gibt wieder zunehmende Schmerzen an. Der Radiologie verzichtet auf weiterführende Diagnostik. Er ruft Dr. Nowak an und teilt ihm den Befund mit. Zwischenzeitlich treffen erste laborchemische Parameter ein. Es zeigt sich eine deutliche Leukozytose bei 18,7  G/l, CRP 220  mg/l, das restliche Labor ist unter Berücksichtigung der Schwangerschaft soweit unauffällig.

Wie sind die beiden auffälligen Laborwerte bei Lisa zu deuten?

Die Leukozytose und das deutlich erhöhte CRP sind Zeichen einer bedeutenden Infektion im Rahmen einer Immunantwort. Eine Leukozytose in der Schwangerschaft, insbesondere im 2. und 3. Trimenon, kann physiologisch sein. Dienlich ist die Leukozytose hier einer rascheren und fähigen Immunantwort der Mutter und so auch des Feten. Das C-reaktive-Peptid (CRP) ist ein Teil des Immunsystems. Es wird als Akute-Phase-Protein in der Leber synthetisiert und dient mit einer Latenz von 12–24 h als Marker des Schweregrads von bakteriellen Infektionen.

234

Kapitel 14 · Akutes Abdomen in der Schwangerschaft

Was ist mit »unter Berücksichtigung der Schwangerschaft« gemeint? Wie unterscheiden sich das Blutbild und die restlichen laborchemischen Marker von Nichtschwangeren?

14.1.11

Die meisten Substanzen der Allgemeinanästhesie sind sehr gut fettlöslich und passieren somit auch zügig die Plazentaschranke. Die volatilen Anästhetika haben ferner den Effekt einer Uterusrelaxation und sollten somit nicht in höheren Dosierungen > 1 MAC (minimale alveoläre Konzentration) appliziert werden.

Die Leber besitzt in der Schwangerschaft eine deutlich gesteigerte Synthese- und Entgiftungsleistung, was sich insbesondere in einem deutlich geminderten Bilirubinwert im Serum messen lässt. Nierenwerte wie Kreatinin und Harnstoff sind in der Schwangerschaft reduziert. Ursächlich sind sowohl eine gesteigerte glomeruläre Filtrationsrate als auch ein vermehrter renaler Plasmafluss. Die Hämostaseparameter zeigen auch veränderte Werte. Es herrscht der permanente Zustand einer Hyperkoagulabilität. Speziell durch die erhöhte partielle Thromboplastinzeit (PTT) lässt sich dieses Phänomen häufig abbilden.

… und weiter im OP …

… und weiter …

Grundsätzlich gilt bei abdominellen Notfällen in der Schwangerschaft, welche einer operativen Intervention bedürfen, dieselbe Indikationsstellung des abdominellen Zugangs wie bei nichtschwangeren Patientinnen. Also sollte hier eine Laparoskopie Anwendung finden. Die Laparoskopie wird seit Jahrzehnten immer progressiver angewandt. Zunehmend kann der Zugangsweg durch eine Laparoskopie auch bei großen Eingriffen, welche bislang stets durch eine Laparotomie durchgeführt wurden, gewählt werden.

Dr. Nowak erklärt Lisa und ihrem Freund den Befund der Sonographie und fügt hinzu: »So, wie es aussieht, deutet alles auf eine akute Appendizitis hin. Ich würde klar die Empfehlung zur Notfalloperation aussprechen!« Lisa hat dies schon geahnt. »Aber bedeutet so eine OP in Vollnarkose kein Risiko für meinen Henri?«, fragt Lisa besorgt. Ihr Freund sitzt beunruhigt neben ihr und hält ihre Hand …

14 Was meinen Sie? Ist es unbedenklich, das Verfahren der Allgemeinanästhesie zu wählen?

14.1.12

Ja, ist es. Prinzipiell gilt: Die Allgemeinanästhesie für chirurgische Eingriffe stellt keinen unabhängigen Risikofaktor für Spontanaborte dar. Allerdings sollte immer primär der Einsatz einer Regionalanästhesie erwogen werden. Die heutzutage verwendeten Narkotika und Anästhetika haben allesamt keine teratogene Wirkung. Benzodiazepine sollten aber möglichst vermieden werden, da eine möglichenfalls erhöhte Rate an Lippen-Kiefer-Gaumenspalten beschrieben wurde.

Dr. Nowak ruft seinen Assistenzarzt Dr. Lutz in den OP-Saal. Er überprüft die Lagerung und geht mit ihm zur Händedesinfektion. »Was meinen Sie? Wie sollten wir operativ vorgehen? Offen appendektomieren oder doch laparoskopisch?«, fragt der Oberarzt seinen Kollegen schmunzelnd. Dr. Lutz überlegt kurz und antwortet …

Was ist Ihre Meinung? Welchen Zugang würden Sie bei Lisa wählen? Pro und Contra?

14.1.13

Vorteile einer Laparoskopie 

44Deutlich geminderte postoperative Schmerzen – weniger Analgetikabedarf, insbesondere Morphin(derivate) haben eine Relevanz bei schwangeren und stillenden Patientinnen, 44zügige Mobilisation – gemindertes ­thrombembolisches Risiko (besonders bei Schwangeren), 44verkürzte Krankenhausverweildauer. ! Cave Der Einsatz der Laparoskopie bedarf besonderer Vorsicht!

235 14.1 · Falldarstellung

Nachteile einer Laparoskopie 

44Erhöhtes Risiko eines iatrogenen Uterustraumas – dies könnte zu frühzeitigen Kontraktionen führen, 44intrauterine Insufflation von CO2 beim Einsatz einer Verres-Kanüle, 44Reduktion des plazentaren und fetalen Kreislaufes bei erhöhtem intraabdominellem Druck infolge des Kapnoperitoneums. Das Ende des Falls … »In der Akte und im Anamnesebogen habe ich gelesen, dass die Patientin in der 16. SSW und bislang alles unkompliziert verlaufen ist. Daher meine ich, sollte man doch zumindest mit einer diagnostischen Laparoskopie beginnen, oder? Die Übersicht sollte in dieser SSW noch möglich sein.« Über eine Mini-Laparotomie infraumbilikal wird ein Trokar und hierüber die Optik eingeführt. In der Übersicht sieht das Abdomen glücklicherweise unauffällig aus. Im rechten Unterbauch findet Dr. Nowak dann allerdings trübe freie Flüssigkeit mit einer peritonealen Reizung. Die Appendix zeigt sich entzündlich verändert. Das Zäkum wird zur Seite luxiert, und sofort sieht er eine an der Spitze perforierte Appendix. »Hatte ich also recht«, denkt er sich. Er präpariert die Appendix bis zur Basis, ligiert die Arterie und setz die Appendix mittels zweier Röder-Schlingen ab. Aus dem Nachbarsaal kommt noch kurz Dr. Koch, sein gynäkologischer Kollege, von einer Notsectio hinzu. »Alles richtig gemacht!«, ruft Dr. Nowak ihm zu. Er schwenkt mit der Optik auf den Uterus und die Adnexen. »Das sieht glücklicherweise alles gut aus. Was meinst Du?« »Gut, dass die Patientin heute gekommen ist. Wenn sie noch länger gewartet hätte, hätte das schlimme Folgen für das Kind haben können!«, sagt Dr. Koch. Lisa kommt erst im Aufwachraum zu vollem Bewusstsein. Sofort fasst sie sich auf den Bauch und fragt vorsichtig die Schwester, die gerade die Infusion wechselt, wie alles gelaufen ist. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles gut. Ich sage dem Arzt Bescheid, dass er Ihnen kurz erklärt, was in der OP passiert ist.« »Die Narkose haben Sie sehr gut verkraftet. Ihrem Kind geht es gut. Dr. Nowak hat Ihnen, wie besprochen, den Blinddarm entfernt. Der war schon ordentlich entzündet. Dem Kind geht es

14

sehr gut, machen Sie sich keine Sorgen! Sind die Schmerzen auszuhalten?«, fragt der junge Anästhesist fürsorglich. Auf Station angekommen, wartet auch schon Lisas Freund im Zimmer auf sie. Lisa beruhigt ihn und erklärt ihm, was passiert ist. Über Nacht hat Lisa glücklicherweise so gut wie kaum Schmerzen. Die Nachtschwester kommt noch einmal zu ihr, um die Infusion zu wechseln. Am kommenden Morgen erscheint Dr. Nowak dann auch schon früh zur Visite. Im weiteren Verlauf zeigt Lisa eine zügige Besserung. Die Infektwerte normalisieren sich unter Antibiotikagabe rasch, und unter anfänglich noch Paracetamol ist sie nahezu beschwerdefrei. Bereits am 3. Tag nach OP kann Lisa das Krankenhaus verlassen. Der weitere Verlauf der Schwangerschaft gestaltet sich unkompliziert. Hochschwanger heiraten die beiden noch im Sommer desselben Jahres, und der kleine Henri kommt kurz darauf gesund und wohl entwickelt zur Welt.

Antibiotika in der Schwangerschaft: Welche Antibiotika können bedenkenlos gegeben werden?

14.1.14

Die Behandlung bakterieller Infektionen in Schwangerschaft und Stillzeit stützt sich im Wesentlichen auf ß-Laktam-Antibiotika. Penicilline und Cephalosporine sind bei den meisten Infektionen die Mittel der ersten Wahl.

Antibiotika in Schwangerschaft und Stillzeit (Anonymus 2000) 55Indiziert: –– Penicilline –– Amoxicillin –– Cephalosporine –– Erythromycin 55Nur unter sehr strenger Indikationsstellung: –– Aminoglykoside: bei schweren Erkrankungen (kaum placentagängig)

236

Kapitel 14 · Akutes Abdomen in der Schwangerschaft

–– Metronidazol: bei Trichomonaden- und Anaerobier-Infektionen –– Clindamycin: bei Puerperalsepsis, Staphylococcus aureus- und Anaerobier-Infektionen –– Sulfonamide: nur Toxoplasmose, nicht vor Geburt –– Pyrimethamin: nur Toxoplasmose –– Co-trimoxazol: eventuell bei Zystitis, nicht vor Geburt 55Kontraindiziert: –– Tetrazykline (Doxycyclin): 14. SSW bis zum 7. Lebensjahr (wegen Zahnverfärbung) –– Chinolone: Schwangerschaft, Kindheit und Adoleszenz bis zum 18. Lebensjahr (Knorpelschäden) –– Rifampicin und Streptomycin: bei Tuberkulose nicht in den ersten 3 Monaten

14.2 Fallnachbetrachtung

14

44In Situationen mit akutem klinischem Verlauf ist sicherlich eine Konsultation von erfahrenen Kollegen sinnvoll. In diesem Fall wurde der allgemeinchirurgische Kollege konsultiert. Doch noch bevor eine Vorstellung der Patientin bei den Kollegen erfolgt, sollte der in primärer Instanz behandelnde Arzt eine gynäkologische Ursache der klinischen Symptomatik ausschließen. 44In Anbetracht der Schwangerschaft wäre noch in der Notaufnahme eine initiale Sonographie durch Herrn Dr. Koch indiziert gewesen. Grobe Pathologien sowie die Beurteilung des Kindeswohls sollten durch den behandelnden Gynäkologen adäquat beurteilt werden können. Nach Ausschluss dieser ist eine rasche Konsultation der fremden Fachabteilung sinnvoll. 44Der Einsatz der Laparoskopie war hier sinnvoll. In Anbetracht der frühen Schwangerschaft sind anatomische Landmarken nahezu vollständig entsprechend einem nichtschwangeren Situs.

44Im Sinne der postoperativen Analgesie sollte allgemein der situationsadaptiert am wenigsten invasive Zugang gewählt werden. Eine Reduktion der Analgesie ist im Hinblick auf den Fetus entscheidend.

Weiterführende Literatur Anonymus (2000) Antibiotikawahl bei Infektionen. Dtsch Ärztebl 97(17): A–1158 Augustin G, Majerovic M (2007) Non-obstetrical acute abdomen during pregnancy. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 131(1): 4–12 Brenner B (2004) Haemostatic changes in pregnancy. Thromb Res 114(5–6): 409–414 Desai RJ, Huybrechts KF, Hernandez-Diaz S et al (2015) Exposure to prescription opioid analgesics in utero and risk of neonatal abstinence syndrome: population based cohort study. BMJ 350: h2102 Ericson A, Kallen BA (2001) Nonsteroidal anti-inflammatory drugs in early pregnancy. Reprod Toxicol 15(4): 371–375 Franke C, Bohner H, Yang Q, Ohmann C, Roher HD (1999) Ultrasonography for diagnosis of acute appendicitis: results of a prospective multicenter trial. Acute Abdominal Pain Study Group. World J Surg 23(2): 141–146 Juhasz-Böss I, Solomayer E, Strik M, Raspé C (2014) Abdominal surgery in pregnancy – an interdisciplinary challenge. Dtsch Ärztebl Int 111: 465–472 Puylaert JB, Rutgers PH, Lalisang RI et al (1987) A prospective study of ultrasonography in the diagnosis of appendicitis. N Engl J Med 317(11): 666–669 Oelsner G, Stockheim D, Soriano D et al (2003) Pregnancy outcome after laparoscopy or laparotomy in pregnancy. J Am Assoc Gynecol Laparosc 10(2): 200–204

237

Oberbauchschmerzen unter der Geburt Werner Rath

15.1

Falldarstellung – 238

15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.1.5

Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? – 238 Welche Bedeutung kommt den Oberbauchschmerzen zu? – 239 Warum ist die Patientin gefährdet? – 240 Liegt ein hypertensiver Notfall vor? – 241 Welche diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen würden Sie treffen? – 241 Wie interpretieren Sie die Laborwerte? – 243 Für welches geburtshilfliche Vorgehen würden Sie sich in der 32. SSW entscheiden? – 245 Was könnte die Ursache für die Schmerzen sein? Welche Maßnahmen sind jetzt indiziert? – 245 Welche schweren mütterlichen Komplikationen können nach der Geburt auftreten? – 246 Welche Fragen sollten im Entlassungsgespräch thematisiert werden? – 247

15.1.6 15.1.7 15.1.8 15.1.9 15.1.10

15.2

Fallnachbetrachtung – 248

15.2.1

Welche medizinischen Fehler sehen Sie in dem geschilderten Fall? – 248 Welche organisatorischen Schwachstellen/Fehler finden sich im geschilderten Fall? – 249

15.2.2



Weiterführende Literatur – 249

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_15

15

238

15

Kapitel 15 · Oberbauchschmerzen unter der Geburt

15.1 Falldarstellung

15.1.1 Was ist Ihre Verdachtsdiagnose?

Was geschah … ?

Die Anamnese und die Befunde deuten auf eine schwere Präeklampsie hin:

Julia war in der Nacht gegen 3 Uhr wegen starker Kopfschmerzen, die sie sonst nicht kannte, aufgewacht, dann aber vor Müdigkeit wieder eingeschlafen, ihr Tag zuvor war anstrengend gewesen. Ihr Mann weckte sie in der Schwangerschaft immer gegen 8 Uhr mit der Frage: »Wie geht es Dir heute Morgen?« »Ich bin heute Nacht mit starken Kopfschmerzen aufgewacht, und die fangen jetzt schon wieder an. Ich habe auch noch so komische Schmerzen in der Magengegend.« Julia deutete auf ihren Oberbauch. »Vielleicht habe ich gestern Abend den Fisch nicht vertragen«, meinte sie. Julia war dank einer erfolgreichen In-vitro-Fertilisation mit knapp 40 Jahren zum ersten Mal schwanger und jetzt am Beginn der 32. SSW. Sie war nie ernsthaft krank gewesen und hatte sich immer Kinder gewünscht. Zu Beginn der Schwangerschaft war sie bei 165 cm Körpergröße mit ca. 85 kg zwar etwas »mollig«, der Schwangerschaftsverlauf gestaltete sich aber bisher ohne Probleme. Ihre Frauenärztin war daher zufrieden – bis auf die letzte Ultraschalluntersuchung vor einigen Tagen, bei der sich zeigte, dass der kleine Junge in den letzten 14 Tagen nicht so richtig weitergewachsen war. Die Frauenärztin hatte gesagt, man müsse das kontrollieren. Julia war deshalb beunruhigt. Ihren leicht erhöhten Blutdruckwert beim letzten Arztbesuch von 140/95  mmHg hatte sie auf ihre Aufregung zurückgeführt. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich einmal in der Woche zu wiegen, und festgestellt, dass sie in der letzten Woche mehr als 1 kg zugenommen hatte. Als sie sich anzog, hatte sie das Gefühl, »Sternchen vor Augen« zu sehen. Beim morgendlichen Blick in den Spiegel fand sie ihr Gesicht irgendwie »aufgeplustert«, jedenfalls mehr geschwollen als sonst. Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass sie, als sie mit ihr schwanger gewesen war, auch solche Beschwerden gehabt hatte und dann schnell in die Klinik musste, wo ein hoher Blutdruck festgestellt wurde. »Das Beste ist, ich fahre Dich rasch zu Deiner Frauenärztin«, sagte ihr Mann besorgt. Kurz darauf saßen die beiden im Auto.

Symptome  

44Auch wenn der aktuelle Blutdruck zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorlag, sind in der Schwangerschaft starke und anhaltende Kopfschmerzen, Schmerzen im Oberbauch, Flimmern vor den Augen sowie der sonographische Nachweis/Verdacht auf eine intrauterine Wachstumsrestriktion Hinweise auf eine schwere Präeklampsie bzw. drohende Eklampsie. 44Eine rasche Gewichtszunahme von > 1 kg/ Woche im 3. Trimenon und eine Ödementwicklung im Gesicht werden häufig nicht erkannt oder unterschätzt und können in Verbindung mit einer Proteinurie auch ohne Vorliegen einer Hypertonie zur Eklampsie führen. 44Starke Kopfschmerzen während der Nacht stehen häufig im Zusammenhang mit einer signifikanten Blutdruckerhöhung; die Umkehr der zirkadianen Blutdruckrhythmik gilt als prognostisch ungünstiges Zeichen und weist auf einen schweren Verlauf hin (. Abb. 15.1).

Risikofaktoren   Ein Body-Mass-Index > 30 zu Beginn der Schwangerschaft ist mit einem ca. 3,5fach erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Präeklampsie assoziiert. Julias Mutter hatte offenbar in ihrer Schwangerschaft eine hypertensive Erkrankung, das Risiko für eine Präeklampsie bei der Tochter beträgt dann ca. 25%. Hinzu kommen die Erstparität (Risikoerhöhung um das ca. 2-Fache) und das Alter von 40 Jahren sowie die vorangegangene IVF, ebenfalls bekannte Risikofaktoren für eine Präeklampsie (. Tab. 15.1).

Wie geht es weiter … ? Auf der Fahrt zur Frauenärztin wird Julia übel, ihr Mann muss anhalten, weil sie sich erbrechen muss, die Schmerzen im Oberbauch halten an. Frau Dr. S. ist eine junge Frauenärztin und erst seit 2 Jahren in der Praxis tätig. Nach der Begrüßung kommt sie schnell auf Julias Beschwerden zu sprechen. Der Blutdruck in der Praxis beträgt

15

239 15.1 · Falldarstellung

Metoprolol 50 mg

[mmHg]

200

Metoprolol 50 mg

Schlaf

180 160 140 120 100 80

Umkehr der zirkardianen Rhytmik Nächtliche RR-Spitzen

Morgendliche RR-Erhöhung 60

800

1000

1200

1400

1600

1800

2000

2200

2400

200

400

600

800

. Abb. 15.1  Schwangerschaftshypertonie

. Tab. 15.1  Risikofaktoren für die Entstehung der Präeklampsie Risikofaktoren

Relatives Risiko (RR)

AntiphospholipidSyndrom

RR ~ 9

Vorangegangene Präeklampsie

RR ~ 7

Body-Mass-Index > 30

RR ~ 3–5

Familiäre Belastung (Mutter, Schwester)

RR ~ 3

Vorbestehende Nierenerkrankung

RR ~ 3

Erstparität

RR ~ 2,5–3

Alter ≥ 40 Jahre

RR ~ 2

Chronische Hypertoniea

RR ~ 1,5–3,2

a Mit 1 zusätzlichen Risikofaktor: RR ~ 1,6;

mit 2 zusätzlichen Risikofaktoren: RR ~ 3; Blutdruck diastolisch > 110 mmHg < 20 Wochen: RR ~ 3,2.

190/110 mmHg, die inzwischen abgegebene Urinprobe zeigt im Teststreifen Eiweiß 3-fach positiv. »Sie müssen sofort in die Klinik«, sagt die Frauenärztin besorgt, »ich bestelle Ihnen sicherheitshalber einen Rettungswagen, der Sie in die Klinik bringt!« »Aber mein Blutdruck war doch vor und in der Schwangerschaft immer normal, und jetzt ist er so hoch?«, fragt Julia. Frau Dr. S. runzelt die Stirn und antwortet: »Der Blutdruck kann sich gerade im letzten Schwangerschaftsdrittel plötzlich erhöhen, das ist nicht ungefährlich für Sie und Ihr Kind.« Bevor der Rettungswagen eintrifft, gibt die Frauenärztin Julia noch eine Kapsel eines blutdrucksenkenden Medikaments zum Schlucken.

15.1.2 Welche Bedeutung kommt den

Oberbauchschmerzen zu?

Starke Oberbauchschmerzen weisen in Verbindung mit den anderen genannten Symptomen, der Hypertonie und der Proteinurie eindeutig auf ein HELLP-Syndrom hin (ca. 0,8% aller Geburten). Meist rechtsseitige

240

Kapitel 15 · Oberbauchschmerzen unter der Geburt

Oberbauchschmerzen/Schmerzen im Epigastrium sind das klinische Leitsymptom des HELLP-Syndroms, sie kommen in 86–92% der Fälle vor, bei 20–40% der Betroffenen einige Tage/Stunden vor der laborchemischen Manifestation der Erkrankung, bei 45–86% begleitet von Übelkeit und/oder Erbrechen. > Die häufigste Ursache für persistierende Oberbauchschmerzen in der Schwangerschaft ist das HELLP-Syndrom. Bei jeder Schwangeren mit anhaltentenden Oberbauchschmerzen sollte unabhängig vom Schweregrad der Präeklampsie an ein HELLP-Syndrom gedacht werden!

Oberbauchschmerzen können auch ohne Vorliegen klassischer Präeklampsie-Zeichen auf ein HELLPSyndrom hinweisen, denn in bis zu 20% der Fälle kann eine Hypertonie fehlen, bei 5–15% der Schwangeren liegt keine oder nur eine geringgradige Proteinurie vor, in bis zu 15% der Fälle fehlen Hypertonie und Proteinurie. Differenzialdiagnosen von Oberbauchschmerzen in der Schwangerschaft

15

55HELLP-Syndrom 55Cholezystitis/Cholelithiasis 55Hiatushernie 55Hepatitis 55Gastritis/Ulcus 55Pyelonephritis/Urolithiasis 55Pankreatitis 55Appendizitis

15.1.3 Warum ist die Patientin

gefährdet?

Bei akuter Blutdruckerhöhung systolisch > 160 mmHg besteht die Gefahr einer intrazerebralen Blutung, die beim HELLP-Syndrom in 50–65% der Fälle letal verlaufen kann. Insbesondere bei erstmalig in der Schwangerschaft auftretender schwerer Hypertonie (Blutdruck ≥ 160/≥ 110 mmHg) ist das zerebrale Gefäßsystem noch nicht an die hohen Blutdruckwerte adaptiert und damit ein Durchbrechen der zerebralen

Autoregulation (60–150 mmHg mittlerer arterieller Blutdruck) möglich mit den Folgen einer zerebralen Hypoperfusion, eines Hirnödems oder einer intrazerebralen Blutung. Entgegen früherer Auffassungen kommt dabei der systolischen Blutdruckerhöhung auf > 160 mmHg eine größere Bedeutung hinsichtlich des Risikos intrazerebraler Blutungen als der Erhöhung des diastolischen Blutdrucks zu. > Zur Vermeidung zerebrovaskulärer Komplikationen ist daher eine sofortige Blutdrucksenkung (z. B. Nifedipin oral) notwendig.

Als Erst- oder Überbrückungsmaßnahme in der Außenpraxis eignet sich, wie in diesem Fall gegeben, die orale Gabe eines Kalziumantagonisten wie z. B. Nifedipin (Dosierung initial 5 mg), die Wirkung tritt nach 5–10 min ein. Nifedipin senkt über eine Relaxation der glatten Gefäßmuskulatur den peripheren Widerstand und damit den arteriellen Blutdruck. Zu Beginn der Behandlung können Kopfschmerzen und Reflextachykardie auftreten. Wie dopplersonographische Untersuchungen zeigten, wird die umbilikoplazentare Durchblutung nicht negativ beeinflusst. … so geht es weiter … Assistenzarzt Dr. Tobias befindet sich im 3. Ausbildungsjahr und ist bereits seit 6 Monaten als Kreißsaalarzt tätig; wie immer hat er nach dem Nachtdienst in der Kantine gefrühstückt und ist noch einmal in Richtung Kreißsaal gegangen, als ihn Hebamme Heike über sein Desk-Telefon anruft: »Wir haben gerade eine 40-jährige I.-para in der 32. SSW aufgenommen mit starken Kopf- und Oberbauchschmerzen. Der Aufnahmeblutdruck ist 190/110 mmHg, und die Patientin hat eine Proteinurie 3-fach positiv im Teststreifen. Ich erreiche den Tagesdienst noch nicht.« Dr. Tobias überlegt einen Augenblick, ob er die Patientin dem nachfolgenden Kollegen überlassen soll, der ja eigentlich jeden Moment kommen müsste, entschließt sich dann aber, die Patientin unverzüglich im Kreißsaal aufzusuchen. Julia liegt am CTG, welches ihm auf den ersten Blick unauffällig erscheint. »Wann ist die Patientin gekommen?«, fragt er die Hebamme. »Vor ca. 15 Minuten«, antwortet Hebamme Heike und fügt hinzu: »Ich habe schon Blut ins Notfalllabor bringen

241 15.1 · Falldarstellung

lassen.« Julia hat sich etwas beruhigt, ihr Mann sitzt neben ihr. Sie sind ja schließlich in einer renommierten Geburtsklinik, die als Perinatalzentrum ausgewiesen ist, hier würden Hebammen und Ärzte schon das Richtige für sie und ihr Kind tun. Während Dr. Tobias einen Blick in den Mutterpass wirft, fragt er Julia: »Was für Beschwerden haben Sie? Kopfschmerzen, Schmerzen im Oberbauch … «, Julia nickt und unterbricht ihn: »Ich habe auch so ein Flimmern vor den Augen, und mir ist jetzt schwindelig.« Inzwischen hat eine andere Hebamme den Kreißsaaloberarzt benachrichtigt, der sich jetzt ebenfalls vor Ort ein Bild von der Situation macht. Julia und ihr Mann werden kurz über die Ursachen der Beschwerden aufgeklärt und über die weiteren notwendigen Maßnahmen informiert.

15.1.4 Liegt ein hypertensiver

Notfall vor?

Es liegt ein hypertensiver Notfall vor! Wegweisend für diese Diagnose ist eine schwere Hypertonie (Blutdruck ≥ 160/110 mmHg) über 15 min anhaltend mit zentralnervösen Symptomen wie Sehstörungen, Schwindel, starken Kopf-/Oberbauchschmerzen, Bewusstseinstrübung, neurologischen Ausfallserscheinungen. In dieser Situation besteht die Gefahr von schweren mütterlichen Komplikationen und Endorganschäden: hypertensive Enzephalopathie, zerebrale Ischämie, Hirnblutungen, akutes Linksherzversagen, Myokardischämie bis hin zum Myokardinfarkt, Lungenödem, akutes Nierenversagen. ! Cave Bei Blutdruckwerten > 230/130 mmHg liegt eine hypertensive Krise vor! Es besteht akuter Handlungsbedarf!

15.1.5 Welche diagnostischen

und therapeutischen Entscheidungen würden Sie treffen?

Das diagnostische Vorgehen bei Aufnahme in die Klinik ist in . Abb. 15.2 dargestellt.

15

Therapeutisches Vorgehen z z Blutdrucksenkung

Nach der AWMF-Leitlinie 015/018 Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen sind zur initialen Behandlung der schweren Hypertonie Nifedipin und der α1-Rezeptor-Antagonist Urapidil (Ebrantil) geeignet Dessen Wirkung beruht einerseits auf einer kompetitiven und reversiblen zentralen Hemmung der α1-Rezeptoren und andererseits peripher auf einer postsynaptischen Hemmung der α1-Rezeptoren und präsynaptisch der α2-Rezeptoren mit konsekutiver Senkung des peripheren Widerstands. Im Vergleich zu dem früher häufig eingesetzten und in der Schwangerschaft zugelassenen Vasodilatator Dihydralazin (Nepresol) sind Kopfschmerzen signifikant seltener, eine Tachykardie fehlt völlig. Nifedipin und Urapidil werden im Rahmen eines offlabel use angewendet. ! Cave Dihydralazininduzierte starke Kopfschmerzen können erhebliche Probleme in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung zu einer schweren Präeklampsie/Progredienz einer Präeklampsie bereiten.

Unter Dihydralazin wurden häufiger vorzeitige Plazentalösungen beobachtet als unter anderen Antihypertensiva. Die Dosierungen der Präparate sind in der folgenden Übersicht dargestellt:

Akutbehandlung bei schwerer Präeklampsie/schwerer Hypertonie Antihypertensiv: 55Nifedipin (off-label): –– Oral: initial 5 mg → ggf. Wiederholung nach 20 min → 10–20 mg alle 4–6 h Wirkungseintritt: 5–10 min 55Urapidil (off-label): –– Intravenös: initial 6,25 mg über 2 min → 2–20 mg/h über Perfusor Wirkungseintritt: 3–5 min

Kapitel 15 · Oberbauchschmerzen unter der Geburt

242

• • •

Beschwerden, Symptome, z. B. zentralnervöse (Kopfschmerzen, Sehstörungen, Oberbauchschmerzen) Rasche, gezielte Anamneseerhebung, Einweisungsdiagnose (Mutterpass) Sofortige Blutdruckmessung und Kontrolle, initial alle 10-15 min Blutdruckmanschette liegen lassen RR > 160/110 mmHg

Hypertensiver Notfall



Orientierende Teststreifendiagnostik auf Proteinurie+



Kardiotokographie (CTG): Dezelerationen, Bradykardie



Venenzugang: » HELLP-Labor«", Gerinnungsstatus, evtl. Blut kreuzen, Info Blutbank, Wiederholung nach 6-8 h

HELLP-Syndrom

• • • • • • •

Stündliche Urinausscheidung: Oligurie/Anurie (mind. 30-40 ml/h)

Akute Niereninsuffizienz

+++ Fetaler Notfall/ intrauterine Hypoxie

DIG

Lungenödem

Pulsoxymetrie, ggf. Blutgasanalyse

Verlaufskontrolle klinischer Symptome, Reflexstatus, Hyperreflexie

Eklamptischer Anfall

Bei persistierenden Oberbauchschmerzen

Leberhämatom/ -ruptur

Oberbauchsonographie

RDS-Prophylaxe < 34 SSW: 2 x 12 g Betamethason i.m. CTG-Kontrollen: initial kontinuierlich und unter antihypertensiver Therapie

Rechtzeitige Information an Anästhesie, Neonatologie: Blutbank optimale interdisziplinäre Kommunikation/Kooperation

Fetale Hypoxie, fetoplazentare Minderperfusion

. Abb. 15.2  Handlungsalgorithmus bei Aufnahme in die Klinik: (schwere) Präeklampsie/HELLP-Syndrom

15

55Dihydralazin: –– Intravenös: 5 mg alle 20 min –– Wirkungseintritt: 10–20 min Vorher 500 ml Elektrolyte geben! Antikonvulsiv: 55Magnesiumsulfat intravenös: –– Initial: 4–6 g (in 50 ml) über 15–20 min, Kurzinfusion oder Perfusor ↓ –– Erhaltungsdosis: 1 g/h bis 48 h post partum –– Cave: Späteklampsie!

44Die Blutdrucksenkung sollte in diesen Fällen unter kontinuierlicher CTG-Überwachung und Blutdruckkontrolle erfolgen, da ein ausgeprägter Blutdruckabfall mit einer akuten fetalen Gefährdung (z. B. erkennbar durch rezidivierende Dezelerationen im CTG) assoziiert sein kann.

44Der Blutdruck sollte auf systolisch < 150 mmHg gesenkt werden, diastolische Zielblutdruckwerte von 80–100 mmHg sollten nicht unterschritten werden! z z Antikonvulsive Behandlung

Ihr Ziel ist die Vermeidung eines eklamptischen Anfalls, Methode der ersten Wahl in der Klinik ist: Magnesiumsulfat intravenös!

Indikationen zur Anwendung von Magnesiumsulfat: 55Schwere Hypertonie und Proteinurie (schwere Präeklampsie, Evidenzniveau Ia) 55Leichte bis mäßige Hypertonie und Proteinurie mit neurologischen Symptomen, Oberbauchschmerzen oder HELLP-Syndrom (Evidenzniveau IIa) 55Nach eklamptischen Anfall zur Prävention von Re-Konvulsionen (Evidenzniveau Ib)

243 15.1 · Falldarstellung

Die Dosierungen von Magnesiumsulfat sind in der Übersicht zur Akutbehandlung bei schwerer Präeklampsie/schwerer Hypertonie wiedergegeben (s. oben). Nach einer groß angelegten Kohortenstudie können Nifedipin und Magnesiumsulfat ohne Risikoerhöhung für Mutter und Kind gleichzeitig appliziert werden. Unter Magnesiumsulfat sollte 44der Patellarsehnenreflex auslösbar sein, 44die Atemfrequenz 12/min nicht unterschreiten (Atemdepression), 44die Urinausscheidung mindestens 100 ml/4 h betragen. ! Cave Bei Oligurie/Anurie: Magnesiumakkumulation-/intoxikation möglich. Antidot: Kalziumglukonat 10%, z. B. 10 ml innerhalb von 3 min langsam intravenös.

… so geht es weiter … Ein Venenzugang ist durch Dr. Tobias schon zu Beginn gelegt worden, Julia erhält über einen Perfusor Urapidil, die Blutdruckmanschette an ihrem Arm ist liegengeblieben, der Blutdruck wird alle 10 min gemessen; Magnesiumsulfat wird nach initial 4 g in einer Dosierung von 1  g/h fortgesetzt. Julia fühlt sich besser, sie und ihr Mann sind erleichtert, als Dr. Tobias ihr mitteilt, dass es dem Kind gut gehe. Das CTG sei unauffällig, die jetzt durchgeführte Ultraschalluntersuchung zeige eine normale Fruchtwassermenge, allerdings habe sich der Verdacht der Frauenärztin, dass das Kind bezogen auf das Schwangerschaftsalter ca. zwei Wochen in seinem Wachstum zurückgeblieben war, bestätigt. Der Blutdruck hat sich auf Werte um 150/100 mmHg stabilisiert. Nach wie vor belasten Julia die anhaltenden Oberbauchschmerzen. »Wir werden sicherheitshalber mit der Lungenreifung für das Kind beginnen. Sie bekommen jetzt intramuskulär ein Kortisonpräparat (Betamethason) alle 12 Stunden, damit das Kind, wenn es zur Welt kommen sollte, besser atmen kann«, sagt Oberarzt Dr. Matthias. Julia und ihr Mann sind hellhörig geworden … Das Kind zur Welt kommen … ? »Kann es denn sein, dass unser Junge zu früh auf die Welt kommt oder geholt werden muss?« Oberarzt Dr. Matthias hat diese Frage erwartet, ja eigentlich

15

provoziert. »Wir werden alles tun, um das zu vermeiden«, antwortet er und fügt hinzu: »Aber es gibt Umstände, unter denen es trotz des frühen Schwangerschaftsalters für Sie und Ihr Kind das Beste ist, wenn wir die Schwangerschaft beenden, dann am ehesten mit Kaiserschnitt« (Indikationen zur vorzeitigen Schwangerschaftsbeendigung 7 Abschn. 15.1.7). Julia und ihr Mann haben noch viele Fragen, aber inzwischen, nach über einer Stunde, sind die Laborwerte endlich per Telefon übermittelt worden, Hebamme Heike ruft die Ärzte mit den Worten: »Schauen Sie sich doch mal die Laborwerte an!« Laborwerte Hb Hk Thrombozyten Leukozyten GOT GPT LDH Haptoglobin Quick Fibrinogen

6,3 mmol/l 36% 48 G/l 15,0 G/l 3083 nmol/sl 3417 nmol/sl 10.833 nmol/sl nicht messbar ­erniedrigt 80% 2 g/l

(norm: 7,4–10,6) (norm: 30–36) (norm: 150–400) (norm: 10–15) (norm: < 583) (norm: < 583) (norm: < 4167) (norm: 18,6–124) (norm: 80–100) (norm: 4–6)

15.1.6 Wie interpretieren Sie die

Laborwerte?

Anämie In der physiologischen Schwangerschaft steigt das Plasmavolumen (Anstieg um ca. 45%) im Vergleich zum Erythrozytenvolumen (Anstieg um ca. 15%) überproportional an, dementsprechend entsteht eine Hämodilution und regelmäßig eine »physiologische« Schwangerschaftsanämie. Allerdings dürfte im vorliegenden Fall der erniedrigte HbSpiegel als Hinweis auf eine Hämolyse anzusehen sein. Der Hämatokrit ist in der normalen Schwangerschaft ebenfalls vermindert, der hier gemessene Wert von 36% weist in Relation zum Hb auf eine für Präeklampsie/HELLP-Syndrom typische Hämokonzentration (Verminderung des Plasmavolumens) hin. Die Hämolyse ist am sensitivsten durch die Bestimmung von Haptoglobin im Serum (Akutphasenprotein) nachweisbar (95–97% der Fälle); allerdings ist diese Untersuchung nicht in allen Kliniken rund um die Uhr verfügbar.

244

Kapitel 15 · Oberbauchschmerzen unter der Geburt

44Grad II: 50–100 G/l: mütterliche Morbidität 54%, perinatale Mortalität 14,4%, 44Grad III: > 100–150 G/l: mütterliche Morbidität 40%, perinatale Mortalität 11,7%. Bewertungskriterium ist der niedrigste präpartal gemessene Thrombozytenwert.

LDH/Transaminasen . Abb. 15.3  Peripheres Blutbild mit fragmentierten Erythrozyten, Anisozytose, Poikilozytose

Weniger zuverlässig ist die Erhöhung des indirekten Bilirubins (47–62% der Fälle) und der Nachweis von fragmentierten Erythrozyten ( . Abb. 15.3) im peripheren Blutbild (54–88% der Fälle) als Hinweis auf eine thrombotische Mikroangiopathie.

Leukozyten In der Schwangerschaft kann die Leukozytenzahl bis zu 15 G/l betragen, ohne dass eine Infektion besteht. Ein Anstieg des C-reaktiven Proteins findet sich beim HELLP-Syndrom in bis zu 62% der Fälle und ist nicht Folge einer Infektion.

Thrombozyten

15

Für die Diagnose HELLP-Syndroms ist eine Thrombozytopenie < 100 G/l richtungweisend, eine Thrombozytenverminderung auf < 150 G/l stellt ein erstes Warnsignal dar und bedarf der Kontrolle nach 6–8 h. Insbesondere ein dynamischer Abfall der Thrombozyten und ein rapider Anstieg der D-Dimere innerhalb von Stunden (Verlaufskontrolle) ist ein Indiz für die Progression der Erkrankung und mit erhöhter mütterlicher Morbidität assoziiert. Der Schweregrad der Thrombozytopenie korreliert mit der mütterlichen Morbidität und der perinatalen Mortalität. Die Mississippi-Klassifikation unterscheidet drei Schweregrade: 44Grad I < 50G/l: mütterliche Morbidität 64%, perinatale Mortalität 16,4%,

Die Erhöhung der Gesamt-LDH (Isoenzymkomplex) ist in dieser klinischen Konstellation eher Ausdruck einer Leberfunktionsstörung als Zeichen der Hämolyse. Die Erhöhung der Transaminasen reflektiert den Zelluntergang von Hepatozyten.

Gerinnungsstatus Er sollte möglichst die Bestimmung des Fibrinogens einschließen. Fibrinogen ist ein in der Leber gebildetes Akute-Phase-Protein, welches in der Schwangerschaft signifikant erhöht ist (im Mittel 4,5 g/l). Fibrinogenkonzentrationen < 2 g/l weisen auf eine Gerinnungsstörung im Sinne einer Verbrauchskoagulopathie bei schwerem Verlauf des HELLP-Syndroms hin. … so geht es weiter … »Das ist das Vollbild eines HELLP-Syndroms!«, ruft Dr. Tobias, Oberarzt Matthias nickt. »Müssen wir nicht jetzt sofort die Schwangerschaft mit Kaiserschnitt beenden?«, fragt der Assistenzarzt und fügt hinzu: »Eine Geburtseinleitung kommt ja jetzt in der 32. SSW bei diesem Zervixbefund (Zervixlänge 3 cm, derb, Muttermund geschlossen) nicht infrage, oder?« »Das Wichtigste ist, dass die Mutter gesund bleibt, aber wir sind auch immer Anwalt des Kindes«, sagt Oberarzt Matthias. »Vielleicht schaffen wir unter intensiver Überwachung von Mutter und Kind noch den Abschluss der Lungenreifung, wir müssen aber die Laborwerte in spätestens 6 Stunden kontrollieren«, konstatiert Oberarzt Matthias. Die Befunde werden den Eltern mitgeteilt, und ihnen wird das weitere geburtshilfliche Vorgehen erläutert. Das CTG ist weiter unauffällig, der Blutdruck hat sich stabilisiert, Julia fühlt sich besser.

245 15.1 · Falldarstellung

15.1.7 Für welches geburtshilfliche

Vorgehen würden Sie sich in der 32. SSW entscheiden?

Bei klinisch stabilem Zustand der Mutter und fehlenden Hinweisen auf eine fetale Hypoxie im CTG empfiehlt die AWMF-Leitlinie 015/018 zwischen der SSW 24 + 0 und 33 + 6 bei HELLP-Syndrom und schwerer Präeklampsie ein primär konservatives Vorgehen (Evidenzniveau III), allerdings unter der Voraussetzung, dass eine optimale Überwachung von Mutter und Kind in einem Perinatalzentrum gewährleistet ist. Die Möglichkeit zur jederzeitigen Sectio caesarea sollte gegeben sein. Ziel dieses Vorgehens ist es, zumindest die Lungenreifung abzuschließen und damit die neonatale Morbidität und Mortalität zu senken (Evidenzniveau Ia). Dies darf aber nicht zu Lasten der Gesundheit der Mutter gehen. Daher bestehen laut Leitlinie folgende maternale Indikationen zur Entbindung (Evidenzniveau IV): Maternale Indikationen zur Entbindung bei HELLP-Syndrom 55Therapierefraktäre schwere Hypertonie 55Therapierefraktäre Niereninsuffizienz 55Kardiale Dekompensation 55Akutes Lungenödem 55Disseminierte intravasale Gerinnung (Koagulopathie) 55Persistierende schwere Oberbauchschmerzen 55Neu aufgetretene schwere zentralnervöse Symptome 55Eklampsie 55Mütterliche Komplikationen wie z. B. Leberruptur, vorzeitige Plazentalösung

Bei pathologischem CTG und/oder hoch pathologischen dopplersonographischen Befunden (z. B. Reverse-flow der A. umbilicalis, fetale Kreislaufzentralisierung mit brain-sparing effect) besteht die Indikation zur Entbindung aus kindlicher Indikation. Dabei ist in jedem Einzelfall der Wert des Abschlusses der RDS-Prophylaxe gegen die Dringlichkeit der Schwangerschaftsbeendigung aus maternaler Indikation abzuwägen (Evidenzniveau IV).

15

… so geht es weiter … Etwa 3 Stunden nach der Aufnahme in die Klinik nehmen bei Julia die Oberbauchschmerzen wieder zu, die Urapidil-Dosis muss auf 20 mg/h gesteigert werden, aber auch darunter zeigen sich vereinzelt Blutdruckspitzen > 160  mmHg systolisch. Julia ist beunruhigt und hat Angst. Was jetzt neu hinzukommt, sind anhaltende Schmerzen der Gebärmutter, wie »Dauerwehen«. Hebamme Heike, die neben Julia sitzt, bemerkt den stark angespannten Uterus sofort, er ist zum Teil »bretthart«. Sie schaut auf die Vorlage, keine Blutung. Jetzt treten im CTG erstmals Dezelerationen bis auf 80 Schläge/min auf. Die Hebamme informiert sofort die Ärzte, die bei einer anderen Schwangeren unter der Geburt im Kreißsaal anwesend sind.

15.1.8 Was könnte die Ursache für

die Schmerzen sein? Welche Maßnahmen sind jetzt indiziert?

Der plötzliche Abdominalschmerz, die schmerzhaften häufigen Kontraktionen (Tetanus uteri) sowie der druckdolente »brettharte« Uterus (Holzuterus) weisen eindeutig auf eine vorzeitige Plazentalösung hin, die fehlende vaginale Blutung auf die Entwicklung eines retroplazentaren Hämatoms. Die Dezelerationen im CTG sind Ausdruck einer akuten fetalen Hypoxie. Eine der häufigsten Komplikationen des HELLPSyndroms in bis zu 16% der Fälle ist die vorzeitige Plazentalösung, weitere Komplikationen sind akutes Nierenversagen (ca. 8%), Lungenödem (ca. 6%), ausgeprägte Aszites oder Pleuraergüsse (6–8%) sowie Leberruptur (ca. 1%); hinzu kommt das Problem der Entwicklung einer disseminierten intravasalen Gerinnung, abhängig vom Schweregrad des HELLPSyndroms und von der Latenzzeit zwischen Diagnosestellung und Entbindung, in bis zu 21% der Fälle. Die häufigste mütterliche Todesursache beim HELLP-Syndrom ist die intrazerebrale Blutung, insbesondere bei zusätzlicher Verbrauchskoagulopathie, deren Entstehung durch eine zusätzliche massive vorzeitige Plazentalösung verstärkt sein kann. Die diagnostische Sicherung der vorzeitigen Plazentalösung/des retroplazentaren Hämatoms erfolgt durch die Abdominalsonographie. Darüber hinaus

246

Kapitel 15 · Oberbauchschmerzen unter der Geburt

besteht bei der Patientin aus dem Fallbeispiel eine Progredienz der Erkrankung (steigender Bedarf an Antihypertensiva), die in Verbindung mit den persistierenden starken Oberbauchschmerzen und der vorzeitigen Plazentalösung mit fetaler Hypoxie eine maternale und kindliche Indikation zur sofortigen Sectio darstellen. Aufgrund der Thrombozytopenie < 50 G/l ist eine Regionalanästhesie in diesem Fall kontraindiziert. … so geht es weiter …

15

Oberarzt Dr. Matthias stellt angesichts der klinischen Konstellation und des sonographischen Nachweises eines retroplazentaren Hämatoms sofort die Indikation zur Notsectio, zumal auch jetzt wieder eine tiefe Dezeleration auftritt. Assistenzarzt Dr. Tobias informiert währenddessen das OP-Team und die Neonatologie. Der Anruf beim diensthabenden Oberarzt der Anästhesie geht fehl, er wird nicht weitergeleitet. Als Dr. Tobias es nochmal versuchen will, ruft Hebamme Heike: »Könnten Sie helfen, die Patientin in den Kreißsaal-OP zu bringen?« Julia ist in aller Eile in Anwesenheit ihres Mannes über die Notwendigkeit zum sofortigen Kaiserschnitt aufgeklärt worden. Auch wenn sie das Formular in der Aufregung nicht lesen kann, unterschreibt sie mit zittrigen Händen, wobei das Zittern noch dadurch deutlich verstärkt wird, dass ihr zuvor eine Notfall-Tokolyse mit Partusisten Intrapartal gegeben wurde in der Hoffnung, die starken Kontraktionen zu beeinflussen. Jetzt geht alles sehr schnell. Julia wird mit laufendem CTG in den benachbarten Kreißsaal-OP transportiert, das OP-Personal ist schon anwesend, der Anästhesist aber nicht. Nun entsteht Hektik! »Wo ist der Anästhesist? Wer hat den denn benachrichtigt?«, bricht es aus OA Dr. Matthias heraus. Assistenzarzt Dr. Tobias läuft rot an. »Ich habe ihn gerade nicht telefonisch erreichen können … « In diesem Augenblick erscheint OA Dr. Karl aus der Anästhesie zusammen mit der Anästhesie-Pflegekraft an der OP-Tür: »Tut mir leid, bin gerade erst von Hebamme Heike über den Notfall informiert worden und war zufällig in der Nähe.« »Gott sei Dank!«, entfährt es Dr. Tobias, leise fügt er hinzu: »Das hätte auch schief gehen können.« Die Sectio wird in Intubationsnarkose durchgeführt. Der Blutdruck ist unter Urapidil jetzt stabil,

intraoperativ bestätigt sich die Diagnose eines retroplazentaren Hämatoms von ca. Handtellergröße. Die E-E-Zeit (Entscheidungs-Entbindungszeit) beträgt ca. 12 min, unter Oxytocin 5 mE als Kurzinfusion ist der Uterus gut kontrahiert, der Gesamtblutverlust beträgt ca. 700 ml. Der inzwischen anwesende Neonatologe übernimmt einen etwas schlaffen Jungen, der die Apgar-Werte 6/8/9 erhält, der Nabelschnur-pH beträgt 7,15. Das Kind ist unter Maskenatmung stabil, später ergibt sich ein Geburtsgewicht von 1390 g, der 30. SSW entsprechend. Als Julia aus der Narkose aufwacht, hat sie Schmerzen. Sie fragt sofort nach ihrem Kind. »Dem kleinen Jungen geht es gut, er braucht noch etwas Sauerstoff, wir nehmen ihn aber sicherheitshalber mit in die Kinderklinik zur Überwachung. Wie soll er denn heißen?«, fragt Oberarzt Dr. Bernd aus der Neonatologie. »Max«, antwortet Julia erschöpft und schläft bald darauf wieder ein. In Anbetracht des unauffälligen OP-Verlaufs und des jetzt stabilen Zustands bleibt Julia in Absprache zwischen Anästhesisten und Geburtshelfer in der postoperativen Überwachung des Kreißsaales, die logistischen und personellen Voraussetzungen sind in dem Perinatalzentrum gewährleistet.

15.1.9 Welche schweren mütterlichen

Komplikationen können nach der Geburt auftreten?

44Schwere Präeklampsie/HELLP-Syndrom und vorzeitige Plazentalösung sind im Zusammenhang mit der Sectio Risikofaktoren für eine postpartale Blutungskomplikation. Daher sind regelmäßige Kontrollen des Fundus uteri sowie der Vorlagen auf eine Blutung nach außen erforderlich. Kontraindiziert sind Methylergometrin und Sulproston zur Therapie der postpartalen Blutung! 44In bis zu 28% der Fälle kann es auch noch innerhalb von 48 h post partum zu einer Eklampsie kommen, wichtig sind daher klinische Verlaufskontrollen, die Prüfung des Reflexstatus und die Fortsetzung der antikonvulsiven Prophylaxe mit Magnesiumsulfat.

247 15.1 · Falldarstellung

44Um postpartale Blutdruckspitzen rechtzeitig zu erkennen, muss das Blutdruckmonitoring fortgesetzt werden, die Dosis an Antihypertensiva ist der Höhe des Blutdrucks anzupassen, keinesfalls dürfen die Antihypertensiva abrupt abgesetzt werden! 44Die akute Niereninsuffizienz ist die erste und häufigste Organmanifestation der schweren Präeklampsie, daher ist eine sorgfältige Bilanzierung mit Messung der Ein- und Ausfuhr mittels Urimeter unerlässlich, um rechtzeitig eine Oligurie/Anurie zu erkennen. 44Nach schwerer Präeklampsie/HELLP-Syndrom besteht v. a. in Verbindung mit einer unbilanzierten Volumenzufuhr, nach Lungenreifung mit Glukokortikoiden, nach vorangegangener Tokolyse mit Partusisten, nach Notwendigkeit zur Applikation von Erythrozytenkonzentraten/gefrorenem Frischplasma oder nach Therapie einer postpartalen Blutung mit Sulproston ein signifikant erhöhtes Risiko für ein Lungenödem, daher sind pulsoxymetrische Verlaufskontrollen, evtl. die Durchführung einer Blutgasanalyse in diesen Fällen indiziert. 44In Abhängigkeit vom Schweregrad des HELLPSyndroms/der vorzeitigen Plazentalösung kann sich postpartal eine Koagulopathie entwickeln, bedingt durch den hohen Blutverlust (Verlust-/ Verdünnungskoagulopathie) und/oder einer bereits in Gang befindlichen disseminierten intravasalen Gerinnung mit Verbrauchskoagulopathie und postpartaler Hyperfibrinolyse. Daher sollte eine Kontrolle des Gerinnungsstatus (v. a. Fibrinogen) erfolgen, um rechtzeitig Gerinnungsfaktoren (Fibrinogen, gefrorenes Frischplasma) substituieren zu können. Zu beachten ist auch, dass der ThrombozytenNadir meist 23–29 h nach der Geburt auftritt (Normalisierung dann innerhalb von 6–10 Tagen). 44Nach schwerer Präeklampsie/HELLP-Syndrom und Sectio caesarea ist insbesondere bei erhöhtem Blutverlust (> 1000 ml) das Risiko für eine Thromboembolie in den ersten Tagen nach der Geburt um das 2- bis 8-Fache erhöht. Daher: individuelle Entscheidung zur medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe mit niedermolekularem Heparin, wenn kein

15

erhöhtes Blutungsrisiko mehr besteht und die Gerinnung konsolidiert ist (Thrombozyten > 100 G/l, Fibrinogen > 2 g/l). … das Ende des Falls … Es läuft alles nach Plan, der Blutdruck stabilisiert sich, die Urapidil-Dosis kann vermindert werden, der bei der Operationsvorbereitung gelegte Blasenkatheter fördert gut mit > 50  ml Urin/h, Julia hat außer Schmerzen im Narbenbereich keine weiteren Beschwerden, auch keine Atemnot, der postpartale Hämoglobinspiegel ist mit 4,968  mmol/l ohne weitere therapeutische Konsequenzen, der Gerinnungsstatus ist unauffällig bei allerdings Abfall der Thrombozyten 3 h post partum auf 35 G/l. Oberarzt Dr. Matthias entschließt sich aufgrund dieser Situation, Julia bereits 8 h nach der Sectio auf die Wochenstation zu verlegen; bis dahin läuft der Perfusor mit Magnesiumsulfat auf 1 g/h. Auch während der weiteren 7 Tage auf der Wochenstation gibt es keine Komplikationen, der Blutdruck normalisiert sich zunehmend auf Werte von 140/85 mmHg, mit der Thrombose-Prophylaxe wird 24  h nach der Sectio begonnen. Julia besucht, so oft sie kann, ihren Sohn Max in der Kinderklinik, er entwickelt sich gut. Schließlich sitzt Julia am Entlassungstag Oberarzt Dr. Matthias zu einem Abschlussgespräch gegenüber. Dieser erläutert ihr noch einmal ausführlich den Verlauf ihrer Erkrankung und die Notwendigkeit des Kaiserschnitts. Es bleiben aber noch einige wichtige Fragen, bevor Julia entlassen wird (7 Abschn. 15.1.10).

Welche Fragen sollten im Entlassungsgespräch thematisiert werden?

15.1.10

Wie hoch ist das Wiederholungsrisiko für eine Präeklampsie/ein HELLPSyndrom in Folgeschwangerschaften? 44Grundsätzlich stellt die Präeklampsie/das HELLP-Syndrom bei weiterem Kinderwunsch keine Kontraindikation für eine weitere Schwangerschaft dar. Die Folgeschwangerschaft

248

Kapitel 15 · Oberbauchschmerzen unter der Geburt

ist aber nach den Kriterien einer Risikoschwangerschaft zu überwachen, die orale Gabe von niedrig dosiertem Aspirin (100 mg/Tag) ab der Frühschwangerschaft ist zu empfehlen (Evidenzniveau IIa). 44Das Wiederholungsrisiko für ein HELLPSyndrom nach HELLP-Syndrom liegt laut internationaler Literatur zwischen 2–19% (Evidenzniveau III), nach einer deutschlandweiten Studie bei 12,8%, wobei das Risiko für andere hypertensive Schwangerschaftskomplikationen in diesen Fällen 30,4% beträgt (Evidenzniveau III). 44Das Risiko für eine Präeklampsie nach Präeklampsie wurde insgesamt zwischen 14,5 und 16% angegeben, es ist aber entscheidend vom Manifestationszeitpunkt (Gestationswoche) und dem Schweregrad der Erkrankung in der Index-Schwangerschaft abhängig: 44< 28. SSW: 38,6%, 4429.–32. SSW: 29,1%, 4433.–36. SSW: 21,9%, 44> 37. SSW: 12,9%, 44bei schwerer Präeklampsie/Eklampsie/ HELLP-Syndrom und Geburt < 34. SSW: 25%, < 28./30. SSW: bis zu 55%.

Können nach schwerer Präeklampsie/ HELLP-Syndrom orale Kontrazeptiva eingenommen werden? 44Eine orale Kontrazeption nach schwerer Präeklampsie/HELLP-Syndrom ist möglich.

15

Welche Nachuntersuchungen nach dem Wochenbett sind indiziert? 44Ausschluss einer Nierenschädigung 3 Monate nach der Geburt (Evidenzniveau IIa), 44bei persistierender Proteinurie und/oder Serumkreatininerhöhung: Überweisung zum Nephrologen, 44bei schwerer Präeklampsie/HELLP-Syndrom Abklärung eines Antiphospholipid-Syndroms/ systemischen Lupus erythematodes.

Welche Auswirkungen haben schwere Präeklampsie/HELLP-Syndrom auf die Gesundheit der Frau im weiteren Leben? 44Die betroffenen Frauen sind ausdrücklich auf die möglichen Langzeitauswirkungen hinzuweisen (Kooperation mit Internist/Hausarzt). Sie weisen ein signifikant erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen im späteren Leben auf (Evidenzniveau Ia), z. B. 44relatives Risiko für Hypertonie: 3,7 nach mittlerem Follow-up von 14 Jahren, 44relatives Risiko für ischämische Herzerkrankung: 2,16 nach Follow-up von 11,7 Jahren 44relatives Risiko für Schlaganfall: 1,8 nach Follow-up von 10,4 Jahren. 44Es empfehlen sich daher eine Beratung über eine Änderung der Lebensgewohnheiten (z. B. Nikotin, metabolisches Syndrom; Evidenzniveau IIa) sowie regelmäßige allgemeinärztliche und internistische Vorsorgeuntersuchungen (Präventionsprogramm). 15.2 Fallnachbetrachtung 15.2.1 Welche medizinischen Fehler

sehen Sie in dem geschilderten Fall?

Betreuung durch die Frauenärztin Definitionsgemäß besteht ein Bluthochdruck in der Schwangerschaft bei Werten von systolisch ≥ 140 mmHg und/oder diastolisch ≥ 90 mmHg bei einer zuvor gesunden und normotensiven Schwangeren ab der 20. SSW. Julia hatte in der Praxis einen Blutdruck von 140/95 mmHg bei gleichzeitigem V. a. intrauterine Wachstumsrestriktion. Der Blutdruck hätte in der Praxis nach einer Ruhephase der Patientin erneut kontrolliert werden müssen (»die aufgeregte Patientin«). Wäre der Blutdruck dann weiterhin hyperton gewesen, hätte eine ambulante 24-Stunden-Blutdruckmessung oder zumindest eine häusliche Blutdruck-Selbstmessung

249 Weiterführende Literatur

durchgeführt werden müssen, die auch dazu dient, eine »Weißkittel-Hypertonie« (Häufigkeit 15%) auszuschließen. Korrekt war die Maßnahme der Frauenärztin, Julia nicht vom ihrem Ehemann, sondern von einem Rettungswagen in die Klinik transportieren zu lassen, da die Gefahr einer Eklampsie bestand. Richtig war es auch, Nifedipin oral als Überbrückungsmaßnahme zu geben.

Vorgehen in der Klinik Julia klagte über persistierende Oberbauchschmerzen, die beim HELLP-Syndrom mit dem Risiko eines Leberhämatoms/einer Leberruptur in bis zu 1,5% der Fälle assoziiert sind. Daher wäre im Rahmen der Aufnahmemaßnahmen eine Oberbauchsonographie indiziert gewesen. Der Blasenkatheter wurde erst während der operativen Vorbereitung gelegt, bei schwerer Präeklampsie/HELLP-Syndrom ist es aber nötig, nach Diagnosestellung einen Blasenkatheter zu legen und stündlich die Urinausscheidung zu messen. Darüber hinaus wurde es bei Julia unterlassen, den Reflexstatus zu prüfen; die Hyperreflexie ist Hinweis auf eine drohende Eklampsie. Oberarzt Dr. Matthias hätte Julia den Leitlinien entsprechend für mindestens 48 h im Kreißsaalbereich intensiv überwachen lassen und die antikonvulsive Prophylaxe mit Magnesiumsulfat so lange fortsetzen müssen. An das Risiko einer späten Späteklampsie wurde offenbar nicht gedacht. 15.2.2 Welche organisatorischen

Schwachstellen/Fehler finden sich im geschilderten Fall?

Jede Klinik sollte im Kreißsaal griffbereit verfügbar Handlungsalgorithmen/-anweisungen zu den geburtshilflichen Notfällen vorhalten, die interdisziplinär abgestimmt und an Leitlinien orientiert regelmäßig aktualisiert werden müssen. Es ist davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall das Perinatalzentrum über einen derartigen Handlungsalgorithmus verfügte, da das geburtshilfliche Vorgehen insgesamt bis auf wenige Ausnahmen (7 Abschn. 15.2.1) nicht zu beanstanden ist. Integriert in diesen

15

Handlungsalgorithmus oder als eigenes Flowchart sind die organisatorischen Abläufe festzulegen (»Alarmplan«), z. B. wer, wen, wann informiert! Die Notfall-Telefonnummern sollten sichtbar im Kreißsaal aushängen und dem Personal bekannt sein. Es muss auch bekannt sein, wie lange es im Notfall dauert, bis ein Anästhesist oder ein Neonatologe vor Ort ist und ein Notfall-Labor oder Erythrozytenkonzentrate/gefrorenes Frischplasma im Kreißsaal zur Verfügung stehen. Dass es im vorliegenden Fall über eine Stunde dauerte, bis die Ergebnisse des NotfallLabors vorlagen, ist nicht akzeptabel und bedarf der logistischen Überprüfung. Die Funktionalität dieser Abläufe sollte regelmäßig »in Echtzeit« geprüft werden, wie auch die Handlungsabläufe selbst (fire-drills). Im vorliegenden Fall konnte Assistenzarzt Dr. Tobias den Anästhesisten nicht erreichen, was aber im Hinblick auf die Dringlichkeit der Situation notwendig gewesen wäre. Die Funktionalität der »Alarmpläne« sollte daher regelmäßig überprüft werden. Der Transport der Patientin in den Kreißsaal-OP war nicht primäre Aufgabe des Assistenzarztes, sondern der Hebammen.

Weiterführende Literatur AWMF-Leitlinie 015/018, S1 (2013) Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen. http:// www.awmf.org/uploads/tx Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (2011) Hypertension in pregnancy. http://www.nice.org.uk/nicemedia/live/13098/50475 Trogstad L, Magnus P, Stoltenberg C (2012) Preeclampsia: risk factors and causal models. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 25: 329–342 Sibai BM (2005) Diagnosis, prevention and management of eclampsia. Am J Obstet Gynecol 105: 402–410 Tranquilli AL, Brown MA, Zeeman GG et al (2013) The definition of severe and early-onset preeclampsia: statement from the International Society for the Study of Hypertension in Pregnancy (ISSHP). Pregnancy Hypertens 3: 44–47 ACOG Practice Bulletin Number 35 (2002) Diagnosis and management of preeclampsia and eclampsia. Obstet Gynecol 99: 159–167 Phipps E, Prasanna D, Brima W, Jim B (2015) Preeclampsia: updates in pathogenesis, definitions, and guidelines. Clin J Am Soc Nephrol 11: 1202–1213 Sibai BM (2016) HELLP syndrome. UpToDate: www.uptodate.com

250

15

Kapitel 15 · Oberbauchschmerzen unter der Geburt

Rath W (2010) Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen. In: Rath W, Gembruch U, Schmidt S (Hrsg) Geburtshilfe und Perinatalmedizin. Thieme, Stuttgart, S 379–392 Rath W (2013) Präeklampsie, Eklampsie, HELLP-Syndrom. In: Feige A, Rath W, Schmidt S (Hrsg) Kreißsaal-Kompendium. Thieme, Stuttgart, S 124–141 Steegers EA, von Dadelszen P, Duvekott JJ et al (2010) Pre-eclampsia. Lancet 376: 631–644 ACOG Committee Opinion No. 514 (2011) Emergent therapy for acute-onset, severe hypertension with preeclampsia or eclampsia. Obstet Gynecol 118: 1465–1468 Duley L, Henderson-Smart DJ, Maher S (2012) Drugs for treatment of vaginal high blood pressure during pregnancy. Cochrane Database Syst Rev (4): CD 001449 Rath W, Fischer T (2009) The diagnosis and treatment of hypertension disorders of pregnancy. Dtsch Ärztebl Int 106 (45): 733–738 Moussa HN, Arian SE, Sibai BM (2014) Management of hypertension disorders in pregnancy. Women’s Health 10(4): 385–404 Martin JN, Brewer JM, Wallau K et al (2013) HELLP syndrome and composite major maternal morbidity: importance of Mississippi classification system. J Matern-Fetal Neonatal Med 26(12): 1201–1206 Rath W (2010) HELLP-Syndrom. In: Pötzsch B, Madlener K (Hrsg) Hämostaseologie, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 542–548 Leeners B, Neumaier-Wagner PM, Kuse S, Rath W (2011) Recurrence risk of hypertension disease in pregnancy after HELLP syndrome. J Perinat Med 39: 673–678 Mostello D, Kallogjeri D, Tungsiripat R et al (2008) Recurrence of preeclampsia: effects of gestational age at delivery of the first pregnancy, body mass index, paternity, and interval between births. Am J Obstet Gynecol 199: 55e1–e7 Roberge S, Villa P, Nicolaides K et al (2012) Early administration of low dose aspirin for the prevention of preterm and term preeclampsia: a systematic review and meta-analysis. Fetal Diagn Ther 31: 141–146 Lykke JA, Langhoff-Roos J, Sibai BM et al (2009) Hypertension pregnancy disorders and subsequent cardiovascular morbidity and type 2 diabetes mellitus in the mother. Hypertension 53(6): 944–951

251

Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft Christine Morfeld, Elvira Miller

16.1

Falldarstellung – 252

16.1.1

16.1.5

Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? Welche Differenzialdiagnosen fallen Ihnen anhand der klinischen Symptomatik ein? – 253 Wie würden Sie diese Werte von Frau Schmidt interpretieren? – 255 Grundlagen von Diabetes in der Schwangerschaft: Was wissen Sie darüber? – 256 Ketoazidose und Schwangerschaft: Wie gut sind Ihre speziellen Kenntnisse? – 257 Auf welche Komplikationen sollten Sie achten? – 260

16.2

Fallnachbetrachtung – 261



Weiterführende Literatur – 261

16.1.2 16.1.3 16.1.4

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_16

16

252

Kapitel 16 · Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft

16.1 Falldarstellung

Was geschah …

16

Schon zum fünften Mal musste sich Isabell Schmidt an diesem Tag übergeben. Wie ein Häufchen Elend saß sie mit ihrem Ehemann am Frühstückstisch und konnte mal wieder keinen Bissen herunterbringen. Er sagte: »Isabell, ich mache mir wirklich Sorgen um Dich und um das Baby. Deine Übelkeit wird nicht besser, und seit 3 Tagen hast Du schon nichts mehr gegessen. Und dann kommt auch noch Dein Diabetes dazu. Ich glaube, Du solltest besser ins Krankenhaus fahren. Ich muss gleich zur Arbeit und habe kein gutes Gefühl dabei, Dich alleine zu Hause zu lassen.« Isabell nickte müde und musste ihrem Mann zustimmen: »Christoph, ich glaube Du hast Recht. So geht es wirklich nicht weiter. Meine Blutzuckerwerte bekomme ich gar nicht mehr in den Griff. Ich habe auch Angst um das Baby. Seit gestern bewegt es sich auch weniger. Ich fühle mich sehr elend und rufe besser den Rettungsdienst.« Im Kreissaal Es ist 7:45 Uhr, und Dr. Berg hat soeben seinen Kreißsaaldienst begonnen, als Hebamme Yvonne ihm zuruft, dass die Rettungsleitstelle eine Erstgravida in SSW 33 + 0 mit Übelkeit angekündigt hat. Da klingelt es auch schon an der Kreißsaaltür, und der Rettungsdienst bringt Frau Schmidt auf der Trage herein. »Wir bringen Euch Frau Schmidt, 30 Jahre alt, erste Schwangerschaft, heute in SSW 33 + 0 mit starker Übelkeit und Erbrechen. Die Patientin gibt an, sie habe seit 3 Tagen nichts mehr gegessen. Außerdem bestehe ein Diabetes mellitus Typ 1, der sehr schwierig einzustellen sei. Wir haben einen Blutzucker von 16,5  mmol/l gemessen und daher schon einmal 3 Einheiten Humaninsulin gegeben. Außerdem haben wir einen Zugang gelegt und Flüssigkeit gegeben. Blutdruck und Puls waren während des Transports unauffällig. Frau Schmidt sagt, sie habe gestern Abend das letzte Mal ihr Kind im Bauch gespürt und mache sich große Sorgen. Hier ist ihr Mutterpass.« Der Rettungsassistent übergibt Dr. Berg und Hebamme Yvonne den Mutterpass. Da diese keine weiteren Fragen haben, verabschieden sich die Rettungsdienstsanitäter.

Dr. Berg kennt Frau Schmidt bereits von einem früheren Aufenthalt während dieser Schwangerschaft. Sie war aufgrund von Blutzuckerentgleisungen bereits in der 22. SSW zur Einstellung der Blutzuckerwerte stationär aufgenommen worden. Der seit dem 8. Lebensjahr bestehende Diabetes mellitus Typ I konnte mit einem intensivierten Insulinschema nach einigen Tagen zufriedenstellend eingestellt werden, und Frau Schmidt wurde wieder nach Hause sowie in die ambulante diabetologische Betreuung entlassen. Hebamme Yvonne nimmt die aufgelöste Frau Schmidt mit in den Kreißsaal: »Sie berichten mir jetzt bitte noch einmal ganz in Ruhe, was Sie hierher führt, und ich schreibe dabei schon einmal ein CTG. Dr. Berg wird in der Zwischenzeit Ihre alte Akte anfordern.« Dr. Berg hat kaum das Telefonat wegen der Krankenakte beendet, da ruft Yvonne schon, er solle bitte sofort das Ultraschallgerät in den Kreißsaal bringen. Sie finde mit dem CTG die Herztöne des Babys nicht. Bedauerlicherweise kann auch Dr. Berg mit dem Ultraschall keine Herztöne nachweisen und muss Frau Schmidt mitteilen, dass das Baby verstorben ist. Während Frau Schmidt ihren Ehemann informiert und versucht, das Geschehene zu realisieren, trifft die Krankenakte aus dem Archiv ein, und Dr. Berg beschäftigt sich mit der medizinischen Vorgeschichte der Patientin. Bereits im 1. Trimenon war die Schwangerschaft durch häufige Hypoglykämien kompliziert worden. Auffällig war zu diesem Zeitpunkt der HbA1c-Wert von 9,8%, welcher nach einer ambulanten Anpassung des Insulinregimes mit sukzessiver Blutzuckeroptimierung auf 7,7% gesenkt werden konnte. Ferner war im Rahmen der stationären Blutzuckereinstellung in der 22. SSW laborchemisch erstmalig auch eine Hypothyreose diagnostiziert und mit LThyroxin substituiert worden. Im weiteren Aktenverlauf stößt Dr. Berg auf einen sonographischen Befund aus der 22. SSW, bei welchem keine strukturellen Auffälligkeiten festgestellt worden waren. Nach stationärer Stabilisierung des Blutzuckers waren engmaschige ambulante Kontrollen beim niedergelassenen Diabetologen veranlasst worden.

253 16.1 · Falldarstellung

16.1.1 Was ist Ihre Verdachtsdiagnose?

Welche Differenzialdiagnosen fallen Ihnen anhand der klinischen Symptomatik ein?

44Atypische Hyperemesis gravidarum, 44Gastroenteritis aufgrund eines viralen Infekts, 44diabetische Ketoazidose, 44Ulcus ventriculi et duodeni, 44Formenkreis der somatoformen Störungen.

Welche zusätzlichen anamnestischen Informationen würden Sie für Ihr differenzialdiagnostisches Vorgehen benötigen? Atypische Hyperemesis gravidarum  Bestand Übelkeit und Erbrechen bereits in der Frühgravidität?

Hyperemesis gravidarum beginnt zumeist in der Frühschwangerschaft und endet typischerweise zum Ende des 1. Trimenons, vereinzelt kann die Symptomatik des unstillbaren unabhängig von der Nahrungsaufnahme auftretenden Erbrechens bis zur 20. SSW anhalten. Gastroenteritis aufgrund eines viralen Infekts 

Bestehen weitere Symptome wie Diarrhö und Fieber? Ein gastrointestinaler Infekt äußert sich

zumeist durch akut auftretendes Erbrechen und Diarrhö sowie häufig Fieber. Typischerweise tritt die Symptomatik in der näheren Umgebung auf, was den Verdacht auf infektiöse Genese erhärtet. Der Verlauf ist selbstlimitierend. Diabetische Ketoazidose  Wie ist der Verlauf der

Blutzuckerwerte? Wurde die Insulintherapie vergessen? Wenn eine Insulinpumpe vorliegt: funktioniert diese richtig? Erhöhte Blutzuckerwerte über

einen längeren Zeitraum hinweg weisen bei TypI-Diabetes mellitus auf eine drohende Ketoazidose hin. Bei Insulinpumpentherapie sind stets technische Defekte zu bedenken. Übelkeit und Erbrechen sind häufige Frühsymptome einer Ketoazidose, gefolgt von Bewusstseinsstörungen und Kussmaul-Atmung. Ulcus ventriculi et duodeni  Sind die Beschwerden zeitlich mit der Nahrungsaufnahme in Verbindung zu setzen? Klagt die Patientin über Schmerzen?

16

Ulkuserkrankungen äußern sich neben Übelkeit und Erbrechen häufig durch epigastrische Schmerzen und Sodbrennen. Diese können sich sowohl als Nüchtern- als auch als postprandiale Schmerzattacken darstellen. Formenkreis der somatoformen Störungen  Bestand wiederkeh­r endes Erbrechen bereits zu einem anderen Zeitpunkt vor der Schwangerschaft? Besteht aktuell eine psychische Belastungssituation? Rezidivierendes Erbrechen kann auch als iso-

liertes Symptom einer somatoformen Störung auftreten. Die Diagnostik erfolgt häufig repetitiv, ohne zu einer somatischen Ursachenklärung zu führen. Es handelt sich zumeist um eine Ausschlussdiagnose, welche schwierig zu stellen ist.

... was weiter geschieht … Nach Studium der Akte hat Dr. Berg bereits eine Arbeitsdiagnose ins Auge gefasst und wendet sich Frau Schmidt zu, die sich, gestützt durch Hebamme Yvonne, nach der erschütternden Nachricht etwas gefasst hat und auf ihren Mann wartet. Dr. Berg hat bereits die wichtigsten anamnestischen Eckpunkte auf dem Anamnesebogen festgehalten, um seine Arbeitsdiagnose zu untermauern. Die Fragen nach Diarrhö, Fieber, Sodbrennen und epigastrischen Schmerzen werden von Isabell Schmidt verneint. Damit scheiden für Dr. Berg Ulcus ventriculi und Gastroenteritis als Differenzialdiagnosen zunächst aus. »Mir war noch nie so übel wie jetzt! Auch zu Beginn der Schwangerschaft hatte ich eigentlich wenig mit Erbrechen zu tun, anders als viele meiner Freundinnen. Das Einzige, was mir Probleme bereitet hat, war der Blutzucker«, berichtet Isabell Schmidt. Somit ist auch die atypische Hyperemesis gravidarum unwahrscheinlich geworden. Die Medikamente, L-Thyroxin und die Schwangerschaftsvitamine, nehme sie gewissenhaft ein, versichert Isabell, nur mit dem Insulin sei sie zuletzt erneut schlechter zurechtgekommen. »Ich würde zunächst bei Ihnen Blut abnehmen. Einen intravenösen Zugang haben Sie ja bereits, wir setzen die Infusion erst einmal fort«, sagt Dr. Berg und wendet sich Hebamme Yvonne zu: »Yvonne, könnten Sie bitte als Erstes einen U-Stix, und zwar den Großen mit den Ketonen, durchführen und

254

Kapitel 16 · Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft

bitte den Blutzucker von Frau Schmidt messen? Und wir brauchen auch den aktuellen Blutdruck.«

Welche laborchemischen Parameter würden Sie erheben, um Ihre Verdachtsdiagnose zu erhärten? Atypische Hyperemesis gravidarum   Bei einer

Hyperemesis gravidarum wäre in erster Linie der Nachweis von Ketonkörpern im Urin sowie eine leichte Hyponatriämie laborchemisch wegweisend. Der Natriumverlust stellt sich als Frühveränderung ein. Bei einer schweren Verlaufsform würde sich durch exzessives Erbrechen und demzufolge Verlust von H+ eine metabolische Alkalose, zumeist kompensiert durch renalen HCO3–-Verlust, einstellen. Die Alkalose wiederum bedingt durch Verschiebung des extrazellulären K+ nach intrazellulär eine Hypokaliämie. Als weitere Spätveränderung kann eine Erhöhung der Transaminasen, zumeist < 200 U/l, auftreten.

Gastroenteritis aufgrund eines viralen Infekts Eine

virale Gastroenteritis äußert sich durch typische Laborveränderungen bedingt durch infektiös-inflammatorische Genese, dazu gehören v. a. die Erhöhung von CRP (Akute-Phase-Protein) sowie eine geringe bis mäßige Leukozytose.

Diabetische Ketoazidose  Die diabetische Ketoa-

16

zidose ist eine metabolische Azidose durch Überschuss saurer Stoffwechselprodukte. Diese kann kompensiert oder nichtkompensiert sein. Die Kompensation kann primär respiratorisch (respiratorische Hypokapnie) oder später metabolisch (renaler HCO3–-Verlust) erfolgen. In der kapillären Blutgasanalyse sieht man die notwendigen Parameter im Sinne von pH, CO2, Base-Excess (BE) und HCO3–. Der pH-Wert ist im Fall einer kompensierten Azidose normwertig, während der BE das Ausmaß der Stoffwechselentgleisung zeigt. Reichen die Kompensationsmechanismen nicht aus, sinkt der pH-Wert. Die kapilläre Blutglukose zeigt hyperglykämische Werte. Der Elektrolythaushalt zeigt eine Hyponatriämie und Hyperkaliämie. Im Urin können Ketonkörper und eine Glukosurie nachgewiesen werden.

Ulcus ventriculi et duodeni  Die Labordiagnostik

ist im Fall eines Ulkus des oberen Intestinaltrakts eher selten wegweisend. Das Blutbild mit Hk und Hb kann eine Anämie bei Ulkusblutung darstellen.

Formenkreis der somatoformen Störungen Auffällige Laborparameter können meist nicht erhoben werden. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit einem psychosomatisch tätigen Konsiliarius sollte stets erwogen werden.

… und weiter … »Der Blutzucker ist bei 20  mmol/l, und im U-Stix sind Glukose und Keton jeweils 3-fach positiv, alles andere ist unauffällig. Der Blutdruck ist in Ordnung, 120/80  mmHg.« Die Parameter stellen für Dr. Berg einen weiteren Pfeiler für seine Verdachtsdiagnose dar: »Yvonne, wir machen als Nächstes eine kapilläre BGA, und hängen Sie bitte einen Liter isotonische NaCl-Lösung an.«

44Wenige Minuten später tritt Hebamme Yvonne mit folgenden Werten an Dr. Berg heran:BGA (kapillär): 44pH: 7,226 (7,35–7,45) 44pCO2: 17,0 mmHg (35–50 mmHg) 44pO2: 32,9 mmHg 44BE: –20,6 mmol/l (–5 bis +5) Auch die Laborwerte der Hämatologie und klinischen Chemie sind bereits gefaxt worden:

44Elektrolyte: 44Na+: 132 mmol/l (135–145 mmol/l) 44K+: 5,4 mmol/l (3,6–5,4 mmol/l) 44Cl–: 91 mmol/l (97–108 mmol/l) 44Nierenretentionsparameter: 44S-Kreatinin: 99,1 μmol/l (44,2–79,7 μmol/l) 44S-Harnsäure: 298 μmol/l (143–339 μmol/l) 44S-Harnstoff: 3,2 mmol/l (2,3–8,2 mmol/l) 44Leberwerte: normwertig 44Blutbild: 44Hb: 8,1 mmol/l (7–9,8 mmol/l) 44Hk: 40,1% (34,1–44,9%) 44Leukozyten: 18,9 G/l (4–10 G/l) 44Klinische Chemie: 44CRP: 6 mg/l (< 5 mg/l) Dr. Berg ruft nun die zuständige Oberärztin Dr. Claudia Künzel an und berichtet aufgeregt: »Wir haben im Kreissaal Frau Schmidt, SSW 33 + 0, Erstgravida, die sich mit Übelkeit und Erbrechen

255 16.1 · Falldarstellung

vorgestellt hat. Sie ist Typ-I-Diabetikerin. Wir konnten hier leider nur einen IUFT feststellen, vor allem aber liegt der Blutzucker bei 20 mmol/l und auch die BGA ist auffällig, ich glaube hier liegt eine Ketoazidose vor.« Dr. Künzel ist sofort im Kreissaal und geht gemeinsam mit Dr. Berg die vorliegenden Werte durch.

16.1.2 Wie würden Sie diese Werte von

Frau Schmidt interpretieren?

Interpretation der Blutgasanalyse (BGA) Die BGA ist eine Analyse der Blutgasverhältnisse und des Säure-Basen-Haushalts des Blutes. Diese erfolgt mithilfe der Bestimmung der Partialdrücke der im Blut gelösten Gase; am wichtigsten sind dabei CO2 und O2. Bei der Interpretation sollten folgende Schritte beachtet werden: Betrachtung von 44pH-Wert, 44BE (gibt Auskunft über die metabolischen Substrate, die an der Entstehung der pH-WertVeränderungen beteiligt sind) und 44pCO2 (gibt als die Kohlensäurekonzentration den Partialdruck des Kohlendioxids im Blut an). pH-Wert  44< 7,35 → Azidose, 44> 7,45 → Alkalose, 447,35–7,45 → normal/kompensierte Azidose oder Alkalose. Azidoseeinteilung nach Schweregrad 55Azidose (pH < 7,35) 55Schwere Azidose (pH < 7,2) 55Bedrohliche Azidose (pH < 7) 55Lebensbedrohliche Azidose (pH < 6,8)

BE  44–5 bis +5 mmol/l → keine wesentlichen metabolischen Veränderungen, 44< –5 mmol/l → metabolische Azidose, 44< –10 mmol/l → schwere metabolische Azidose, 44> +5 mmol/l → metabolische Alkalose.

16

pCO2 

44< 35 mmHg → Hyperventilation, 44> 50 mmHg → Hyperkapnie, 44> 60 mmHg → kritische Hyperkapnie.

... wie geht es weiter? Dr. Berg und Dr. Künzel kommen gemeinsam zu dem Schluss, dass bei der Patientin eine respiratorisch teilkompensierte metabolische Azidose vorliegt. Zu diesem Zeitpunkt tritt der Ehemann von Frau Schmidt in den Kreissaal ein. Die Hebamme führt Herrn Schmidt zu seiner Frau und lässt dem Ehepaar einen Moment der Privatsphäre, bevor die Ärzte hinzutreten, um die Situation zu erklären. Herr Schmidt sagt: »Meine Frau ist so wesensverändert und schläfrig, sie ist ja kaum ansprechbar und reagiert so verlangsamt, was passiert denn mit ihr?« »Zu der tragischen Nachricht, dass Ihr Kind im Mutterleib verstorben ist, möchten wir unser Beileid aussprechen. Wir haben für diese emotionale Ausnahmesituation volles Verständnis. Dennoch müssen wir uns mit Ihnen über das weitere Vorgehen und die Maßnahmen, welche ergriffen werden müssen, unterhalten: Bei Ihrer Frau, Herr Schmidt, liegt eine schwerwiegende Komplikation des TypI-Diabetes vor, die wir als Ketoazidose bezeichnen. Es handelt sich dabei um eine Entgleisung der Stoffwechsellage, welche eine große Gefahr für Leben und Gesundheit von Mutter und Kind bedeuten kann. Die Bewusstseinsveränderung ist ein Anzeichen dafür, dass diese bereits fortgeschritten ist.« Und an Frau Schmidt gerichtet: »Frau Schmidt, diese Stoffwechsellage kann für Sie lebensbedrohlich sein und erfordert eine intensivmedizinische Überwachung und Behandlung. Um diese zu gewährleisten, möchten wir Sie auf unsere Intensivstation verlegen. Zusätzlich möchten wir Ihnen beiden Frau Blume, unsere Psychologin, für die seelische Begleitung an die Seite stellen, um Sie ein wenig aufzufangen und bei der Verarbeitung von Trauer und Schmerz zu unterstützen. Frau Blume werden wir sofort informieren, falls Sie damit einverstanden sind, sodass sie schon auf der Intensivstation zeitnah an Sie herantreten wird.« Herr Schmidt: »Das würde uns sicherlich helfen. Mir ist nur nicht klar, wie es zu dieser Stoffwechselentgleisung bei meiner Frau kommen konnte!«

256

Kapitel 16 · Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft

16.1.3 Grundlagen von Diabetes in der

Schwangerschaft: Was wissen Sie darüber?

Die Rate an Diabetes mellitus hat in den letzten Jahrzehnten weltweit stark zugenommen. Kaloriendichtere Ernährung, verminderte Bewegung im Alltag und die steigende Inzidenz für Adipositas sind einige der wichtigsten Ursachen. Die Rate an Schwangeren mit diabetischer Stoffwechsellage wird auf 6–7% geschätzt; werden Frauen mit Gestationsdiabetes dazugezählt, sind es weitaus mehr . Am häufigsten sind Schwangere afroamerikanischer, lateinamerikanischer und hispanischer Ethnizität betroffen. Die Inzidenz der Ketoazidose wird mit einer Häufigkeit von 0,5–3% angegeben. Während die Ketoazidose ursprünglich als typisch für den Typ-I-Diabetes beschrieben wurde, findet sich diese Komplikation immer häufiger auch bei schlecht eingestelltem Gestationsdiabetes oder bei präexistentem Typ-II-Diabetes in der Schwangerschaft. Das zunehmende Alter der Schwangeren und die steigende Adipositasrate erhöhten die Häufigkeit von Störungen des metabolischen Formenkreises. Therapeutische Maßnahmen, z. B. die Durchführung einer RDS-Prophylaxe mit Glukokortikoiden bei Frauen der Hochrisikogruppe, begünstigen zudem eine Entgleisung des Blutglukosestoffwechsels.

Pathophysiologie

16

In der Schwangerschaft liegt eine physiologische Insulinresistenz vor. Dabei entfaltet das Insulin lediglich bis zu 56% seiner endokrinen Wirkung; diese Variabilität ist abhängig vom Alter der Schwangerschaft. Zahlreiche antagonisierende Hormone, z. B. das laktogene Hormon und Prolaktin, begünstigen die Insulinresistenz. Hyperglykämien werden durch einen absoluten oder relativen Insulinmangel verursacht. Die physiologische Wirkung des Insulins aktiviert den Transport von Glukose in das Zellinnere. Aus Glukose wird intrazellulär im Rahmen der Glykolyse Energie in Form von ATP gewonnen. Fällt dieser Transport weg, bleibt die Glukose außerhalb der Zelle. Die periphere Glukose kann nicht verwertet werden, und es fehlt Glukose intrazellulär, sodass es zu einer gesteigerten hepatischen Glukoneogenese kommt. Dies

verstärkt zusätzlich die Hyperglykämie, woraus eine verstärkte osmotische Diurese mit Elektrolytverlust und Hyperkaliämie resultieren. Folgen sind Hypovolämie, Hypotension, gestörte Nierenfunktion und reduzierte Hirndurchblutung. > Es liegt somit eine Trias aus Hyperglykämie, Hyperosmolarität und Ketonämie vor.

Da das Insulin das einzige Hormon ist, das die Lipolyse inhibiert, führt der Insulinmangel zu einem enormen Anstieg von freien Fettsäuren. Durch β-Oxidation der Fettsäuren entsteht AcetylCoA. Das Überangebot an freien Fettsäuren, z. B. β-Hydroxybuttersäure, und eine verminderte Verwertung von Acetyl-CoA induzieren anschließend über eine beschleunigte Ketogenese die Bildung von Ketonkörpern. Der Elektrolytverlust manifestiert sich rasch durch eine Hyponatriämie. Das Serum-Kalium ist zu Beginn normwertig oder geringfügig erhöht. Durch den Insulinmangel kommt es zu einer Hyperkaliämie, indem Kalium, bedingt durch Hyperosmolarität sowie Azidose, aus den Zellen in den Extrazellularraum strömt. In der Anfangsphase der Insulintherapie wird das extrazelluläre Kalium dagegen zügig nach intrazellulär verschoben. Auch setzt zeitversetzt eine vermehrte Kaliumausscheidung über die Nieren ein, die den iatrogen induzierten Kaliummangel bedrohlich verstärken kann. Dies ist bei Beginn der Insulintherapie zu bedenken. Als weitere Elektrolytverschiebung ist die Hypophosphatämie von Bedeutung. Bedingt durch die Glykolyse kommt es zu einem enormen Bedarf an intrazellulärem Phosphat, der zur verbrauchsbedingten Hypophosphatämie im Serum führt. … und weiter … Nun muss Dr. Berg die Verlegung von Frau Schmidt auf die Intensivstation veranlassen und die Kollegen vor Ort sowie die Psychologin informieren. Die Kollegin von den Internisten, Frau Dr. Paula Schwarze, will alles detailliert und genau wissen. »Nun sagen Sie schon, Herr Kollege, wieso ist es denn dazu gekommen? Hat die Patientin im Rahmen eines Infekts eine Entgleisung ihres Zuckers erfahren?« Das kann Dr. Berg verneinen. »Hat sie

257 16.1 · Falldarstellung

Medikamente genommen, die ihr im Rahmen ihrer Schwangerschaft verordnet wurden?« Dabei denkt Frau Schwarze an die Gabe von Glukokortikoiden zur Lungenreife. Aber auch das scheidet aus. In Gedanken wägt sie alle weiteren Möglichkeiten und Ursachen in ihrem Kopf ab. Sie weiß, dass in der Schwangerschaft die Symptome der Stoffwechselentgleisung schon bei geringerer Hyperglykämie auftreten, aber sowohl für die Mutter als auch für das ungeborene Kind sehr gefährlich sein können. Frau Schwarze erinnert sich an eine Frage aus ihrem Staatsexamen, in der es um die euglykämische Ketoazidose ging. Es handelt sich dabei um eine in der Schwangerschaft extrem seltene (0,8–1,1%) Komplikation, die typischerweise bei einem Typ-I-Diabetes auftritt, zunehmend aber auch bei Patientinnen mit Typ-II-Diabetes oder Gestationsdiabetes zu finden ist. Diese zeichnet sich durch eine eher niedrige Hyperglykämie (Blutglukosewerte von 300 mg/dl oder weniger) bei allerdings stark erhöhten Bikarbonatwerten > 10 mmol/l aus.

16.1.4 Ketoazidose und

Schwangerschaft: Wie gut sind Ihre speziellen Kenntnisse?

Ursachen für eine Ketoazidose in der Schwangerschaft (Hawthorne 2011; Bernstein u. Catalano 1990) 55Hunger und Erbrechen 55Infektionen (Pyeolonephritis, Paradontitis etc.) 55Unerkannter Diabetes 55Schlecht eingestellter Diabetes 55Versagen der Insulinpumpe oder des Schlauchsystems 55Kortisontherapie zur Lungenreifeinduktion; die Erhöhung des Blutzuckerspiegels beginnt ca. 6 h nach der ersten Injektion und hält für ca. 3 Tage an 55Tokolyse mit β-Sympathomimetika

16

Dr. Berg ist einerseits erleichtert, andererseits beschäftigt er sich noch mit dem IUFT, dessen Ursache er in der Ketoazidose vermutet. Er schlägt in einer ruhigen Minute sein Geburtshilfe-Lehrbuch auf, welches er im Arztzimmer griffbereit hat, und liest im Kapitel Ketoazidose und Schwangerschaft nach:

Symptome In der Schwangerschaft äußern sich die Symptome oder auch die Vorzeichen einer Stoffwechselentgleisung oft relativ untypisch und können zudem sehr rasant auftreten. Deshalb ist es auch für die Patientin selbst oft schwierig, ihre Situation einzuschätzen. Da die Zielorgane des Insulins Muskel, Leber und Fettgewebe sind, finden sich vorwiegend hier die klinischen Auswirkungen der mangelnden Insulinwirkung. Symptome einer hyperglykämischen oder ketoazidotischen Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft (Sibai u. Viteri 2014) 55Hyperventilation, Kussmaul-Atmung, Tachypnoe 55Acetongeruch 55Abdominale Beschwerden bis hin zum akutem Abdomen (Pseudoperitonitis diabetica) 55Tachykardie 55Dehydratation 55Hypotension 55Somnolenz oder Koma 55Polyurie 55Übelkeit oder Erbrechen 55Muskelschwäche 55Verminderte Kindsbewegungen bis hin zum IUFT

Diagnostik … und weiter … Mittlerweile ist Frau Schmidt auf die Intensivstation verlegt worden, sodass Frau Dr. Schwarze sich um sie kümmern und rasch eine Therapie einleiten kann.

Das Aufnahmelabor bei einer Ketoazidose sollte folgende Parameter beinhalten: Blutbild, Leberwerte, Blutglukose, Elektrolyt- und Nierenretentionsparameter, Blutgasanalyse und eine Urinanalyse mit besonderem Hinblick auf Ketone.

258

Kapitel 16 · Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft

Laborbefunde 55Hyperglykämie > 16,65 mmol/l (in der Schwangerschaft auch < 11,1 mmol/l) 55Bikarbonatspiegel < 15 mmol/l 55Arterieller pH-Wert der Mutter < 7,30 55Erhöhung des BE 55Serum- und Urinketone positiv nachweisbar (3-β-Hydroxybutyrat wird renal ausgeschieden) 55Cave: oft falsch hoher Natriumspiegel (Ursache nicht bekannt)! 55Serumkreatinin sowie Nierenretentionswerte aufgrund von Dehydratation erhöht

Fetale Komplikationen

16

Der genaue Pathomechanismus des intrauterinen Fruchttods bei Ketoazidose ist noch weitestgehend ungeklärt. Sowohl Ketonkörper als auch Glukose passieren die Plazentaschranke und führen zur fetalen Azidose und Hyperinsulinämie. Die maternale azidotische Stoffwechselsituation mit daraus resultierender osmotischer Diurese, Volumenverlust und Elektrolytverschiebung hat Einfluss auf die uteroplazentare Perfusion im Sinne einer Minderperfusion mit Vasokonstriktion. Dies bedingt eine Unterversorgung des Feten. Eine fetale Hypoxämie kann außerdem durch die maternale Hypophosphatämie entstehen. Durch Phosphatmangel sinkt der Spiegel von 2,3-Bi-Phosphoglycerat (2,3-BPG). Durch den 2,3-BPG-Mangel steigt die Affinität des Hämoglobins zum gebundenen Sauerstoff in den roten Blutkörperchen, sodass dieser in der Bindung verbleibt und nicht an fetale Erythrozyten abgegeben werden kann. Der fetale Hyperinsulinismus führt zusätzlich zu einem erhöhten Bedarf an Sauerstoff. Diese Mechanismen verstärken synergistisch die fetale Hypoxämie. Als weitere Komplikation können schwerwiegende fetale Arrhythmien auftreten, welche durch die maternale Hyperkaliämie bedingt werden. Für die spätere geistige Entwicklung des Feten sind zentralnervöse Veränderungen, welche aus einer Ketoazidose resultieren können, von enormer

Bedeutung. In Zusammenhang damit werden auch Autismus und eine verzögerte Sprachentwicklung gebracht. Das fetale Gehirn ist besonders empfindlich gegenüber β-Hydroxybutyrat, welches neben Aceton und Acetoacetat zu den Ketonkörpern zählt. Aus einer Ketoazidose resultiert zudem ein erhöhter Laktatspiegel, der die Glukoseaufnahme in das fetale Gehirn sinken lässt. Bestimmte Hirnstrukturen sind von einer solchen Stoffwechselentgleisung besonders betroffen. Das sind zum einen die Basalganglien, in denen diese Substanzen mit der Folge einer reduzierten Myelinisierung und kortikalen Verschaltung kumulieren. Zudem sind Veränderungen der Hippocampus-Region beschrieben. Diese können mit Auffälligkeiten der Gedächtnisfunktionen einhergehen. Die kindliche Sterblichkeit im Rahmen einer mütterlichen Ketoazidose liegt zwischen 9% und 36%. … so geht es weiter … Kurz vor Ende seiner Schicht ruft Dr. Berg auf Anweisung von Frau Dr. Künzel auf der Intensivstation an, um sich nach dem Zustand von Frau Schmidt zu erkundigen und das weitere geburtshilfliche Management mit ihr abzusprechen. Dr. Schwarze berichtet: »Wir haben die mütterlichen BZ-Werte stündlich kontrolliert, die BGA und das Gesamtlabor wiederholt. Es zeigte sich weitestgehend unverändert zum Aufnahmelabor, insbesondere die Elektrolyte und vor allem das Kalium. Wir haben die Flüssigkeitssubstitution fortgeführt und mit einer i.v.-Insulintherapie begonnen. Gleichzeitig bekommt die Patientin Kalium i.v. substituiert. Der BZ ist jetzt bei 16 mmol/l, damit sind wir schon ganz zufrieden. Allerdings fürchten wir aufgrund der ausgeprägten osmotischen Diurese und der konsekutiven Exsikkose nach Flüssigkeitssubstitution das Auftreten eines Hirnödems oder von respiratorischen Komplikationen, sodass Frau Schmidt noch mindestens 3 Tage zur Überwachung hier bleiben muss.« Dr. Berg ist mit dem Vorgehen einverstanden und ergänzt: »Das ist auch unsererseits das sinnvollste Procedere. Die Einleitung der Geburt sollte im Anschluss an die Stabilisierung der Stoffwechsellage erfolgen. Komplikationen wie eine disseminierte intravasale Gerinnung durch den Verbleib des Feten in utero sind nicht zu erwarten. Nach unserer

259 16.1 · Falldarstellung

Dienstübergabe würde ich auf der Intensivstation vorbeikommen und wir könnten dies gemeinsam mit dem Ehepaar besprechen.«

Therapie und Management > Die Ketoazidose ist ein ernstzunehmender medizinischer Notfall, der eine intensivmedizinische Betreuung erfordert. Idealerweise sollte die schwangere Patientin von einem erfahrenen Team, bestehend aus Geburtshelfern, Neonatologen, sowie Diabetologen und Intensivmedizinern betreut werden.

Bei der Therapie (. Tab. 16.1) steht der Flüssigkeitsersatz an erster Stelle. Dazu wird eine isotone Elektrolytlösung gewählt, die mittels eines großlumigen i.v.-Zugangs infundiert werden sollte. Als Faustregel wird mit 100 ml/kgKG begonnen. 75% des Volumens

sollten dabei zügig und in den ersten 24 h der Therapie zugeführt werden. Das gesamte Volumen sollte nach 48 h infundiert worden sein. Die Gabe von Glukoselösung (5%) erfolgt im Anschluss an die Rehydrierung. Je nach laborchemischem Verlauf erfolgt eine gezielte Substitution der Elektrolyte. Falls sich eine Hypernatriämie zeigen sollte, wird auf 0,45% Elektrolytlösung gewechselt, um eine Natriumüberladung zu vermeiden. Die Laborkontrollen sollten engmaschig alle 4 h erfolgen. Die Korrektur des Blutzuckers bei einer Ketoazidose dauert im Regelfall länger als bei einer reinen Hyperglykämie. Die Blutzuckersenkung erfolgt mit Normalinsulin. Dazu wird zu Beginn ein Bolus von 5–10 I.E. sowie im Anschluss die kontinuierliche Gabe einer Basalrate mit 1–2 I.E./h bis zur Normalisierung der Blutzuckerwerte mittels Perfusor verabreicht. Währenddessen sind halbstündliche bis stündliche Blutzuckermessungen erforderlich.

. Tab. 16.1  Therapie der Ketoazidose (DDDG 2008) Therapie

Dosierung

Indikation

1 l in der ersten Stunde, dann 300–500 ml/h

Hypovolämie mit Hypotension, falls Na+ 50 ml, Urin mit niedrigem spezifischem Gewicht

NaCl 0,45%

1 l in der ersten Stunde, dann 300–500 ml/h

Wenn Natriumspiegel > 155 mmol/l

5% Glukoselösung

Je nach Stadium der Rehydrierung

Glukose < 11,1 mmol/l

Bolusgabe von Normalinsulin

8–10 I.E.



Kurz wirksames Insulin 50 I.E. in 500 ml NaCl 0,9%

50–100 ml (5–10 I.E./h)

Bei jeder diabetischen Ketoazidose, ­unabhängig vom Flüssigkeitsersatz

Dosis alle 2 h verdoppeln

Glukose nicht um 30% gefallen

Dosis halbieren

Glukose liegt bei 11,1–13,9 mmol/l

Dosis nochmals halbieren

Glukose < 8,3 mmol/l

1–2 I.E./h

Glukose 6,7–8,3 mmol/l

40 mmol/l Infusionslösung als Zusatz bis zur Normalisierung des Kaliumspiegels (3,5–5 mval/l)

1–4 h nach Behandlungsbeginn bei Abfall des Kaliumspiegels

Flüssigkeitsersatz 3–6 l NaCl 0,9%

Insulinersatz

Kaliumersatz + Glukoseinfusion

Kaliumchlorid

16

260

Kapitel 16 · Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft

Parallel dazu erfolgt die Korrektur der Serumelektrolyte. Das mögliche Natriumdefizit wird mit 5–10 mmol/l angegeben und muss korrigiert werden. Währenddessen sollte auf eine adäquate Urinausscheidung von mehr als 0,5 ml/kg/h geachtet werden. Die azidotische Stoffwechsellage verursacht eine Hyperkaliämie, die Insulintherapie sowie die Rehydratation führen jedoch über Verdünnung und renale Kaliumausscheidung einerseits sowie andererseits über insulinvermittelten Kalium-Shift nach intrazellulär zum Kaliumverlust, welcher ebenfalls substituiert werden muss. Auch die Substitution weiterer Elektrolyte wie Phosphat, Chlorid, Bikarbonat, Magnesium und Kalzium kann u. U. erwogen werden. 16.1.5 Auf welche Komplikationen

sollten Sie achten?

> Während der Therapie sollten die möglichen schwerwiegenden Komplikationen stets bedacht werden, da diese in seltenen Fällen einen letalen Ausgang nehmen können.

Zu den mütterlichen Komplikationen gehören: 44Nierenversagen, 44akutes Atemnotsyndrom, 44Myokardischämie, 44iatrogene Hypoglykämie, 44Hirnödem.

16

Das Hirnödem, bei welchem es sich um ein zytotoxisches Ödem, bedingt durch die Vasokonstriktion bei Dehydratation, handelt, tritt sehr selten auf. Auch eine Hypoglykämie ist eine mögliche Folge der Therapie und muss mittels engmaschiger Blutzuckermessungen ausgeschlossen werden. Die mütterliche Mortalität liegt bei ca. 1%. ... das Ende des Falls Nach insgesamt 5 Tagen bekommt Herr Dr. Berg einen Anruf seiner internistischen Kollegin: »Frau Schmidt geht es deutlich besser. Wir konnten die Stoffwechsellage stabilisieren, und bis auf leichte obstruktive Atembeschwerden haben sich keine weiteren Komplikationen eingestellt. Die

Blutzuckerwerte und Elektrolyte sind ausgeglichen. Aber Frau Schmidt hat einen Blasensprung und leichte Wehentätigkeit. Ich denke, sie wird entbinden. Ich würde sie gerne in den Kreißsaal verlegen.« Mit beginnender Wehentätigkeit kommt es zur Verlegung von Frau Schmidt in den Kreißsaal. Hebamme Yvonne untersucht Frau Schmidt: es liegt eine Muttermunderöffnung von 7–8  cm vor. Herr Schmidt begleitet seine Frau durch die Geburt. »Frau Schmidt, zur Unterstützung der noch sehr kurzen Wehen würden wir gern einen Oxytocintropf beginnen.« Kurze Zeit später wird ein lebloses Mädchen aus vorderer Hinterhauptslage geboren. Yvonne und der Vater wiegen und messen das Kind gemeinsam. Das Mädchen wiegt 2260 g (75 Perzentile) und ist 48 cm lang. Die Plazenta folgt spontan und ist vollständig. Der postpartale Blutverlust ist regelrecht. Yvonne legt das angezogene Kind auf den Arm der Mutter, zündet eine Kerze an und verlässt den Kreissaal, um den trauernden Eltern einen Moment der Stille zu ermöglichen. Dr. Berg kümmert sich in dieser Zeit um das Ausfüllen des Totenscheins und um die Veranlassung der Plazentahistologie sowie der von den Eltern gewünschten Obduktion. Nach der Entbindung wird Frau Schmidt weiterhin intensiv von den internistischen Kollegen mitbetreut. Dr. Berg achtet dabei auf eine mögliche postpartale Stoffwechselentgleisung. Frau Dr. Schwarze unterstützt Dr. Berg bei der postpartalen Anpassung des Insulinregimes, da der Bedarf an Insulin im Regelfall unmittelbar nach der Entbindung signifikant sinkt. Als Faustregel sinkt der Insulinbedarf auf 50% der präpartalen Dosis. Die Psychologin Frau Blume ist mit dem Paar mittlerweile gut vertraut und begleitet sie während des gesamten Aufenthalts. Auf Station erhält Frau Schmidt eine medikamentöse Laktationshemmung. Am 6. postpartalen Tag kann die Patientin mit einem angepassten Insulinregime in die ambulante internistische Versorgung und in die Betreuung ihrer Hebamme entlassen werden. Frau Blume unterstützt das Paar in der Abschiedsund Trauerphase und bietet beiden den Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern an. Frau Dr. Künzel bietet dem Paar im Entlassungsgespräch an, im Anschluss an die akute Trauerphase ein Beratungsgespräch wahrzunehmen, um das erlebte aus Distanz zu betrachten und das Vorgehen

261 Weiterführende Literatur

in der Zukunft im Hinblick auf die weitere Familienplanung festzulegen. Dr. Berg stellt den Kasus in der Morbiditäts- und Mortalitätskonferenz 2 Wochen später vor. Zu diesem Zeitpunkt liegen die Ergebnisse der histologischen Untersuchung der Plazenta sowie der Obduktion vor: Die Untersuchung der Plazenta kann eine spezifische Entzündung ausschließen, beschreibt aber Hinweise auf eine herdförmige intervillöse granulozytäre floride Entzündung bei einer insgesamt normgewichtigen Plazenta mit geringen Residuen von Mikrozirkulationsstörungen. Die kindliche Obduktion erbringt keine zusätzlichen Befunde oder Fehlbildungen. Es liegt somit nahe, dass die Ursache des intrauterinen Fruchttods in der Ketoazidose begründet ist.

16.2 Fallnachbetrachtung

Die Patientin wird mit einer Ketoazidose bei bekanntem Typ-I-Diabetes vorstellig. Eine Ursache für die Stoffwechselentgleisung ist in diesem Fall nicht eindeutig ersichtlich. Umso bedeutender ist es, diese schwerwiegende Komplikation in Betracht zu ziehen, trotz – bzw. bei Schwangeren insbesondere auch wegen – der nicht exorbitant hohen Blutzuckerwerte. Eine BGA liefert in diesem Fall den entscheidenden diagnostischen Hinweis. Diese ist rasch erfolgt und führte zum unverzüglichen Therapiebeginn, sodass weitere mütterliche Komplikationen verhindert werden konnten. Tragischerweise lag in diesem Fall die schwerwiegendste fetale Komplikation im Sinne eines IUFT vor. Als ursächlich dafür können der erhöhte HbA1cWert, die lang andauernden wiederholten Blutzuckerschwankungen sowie die akute ketoazidotische Entgleisung in Betracht gezogen werden. Im Hinblick auf die weitere Familienplanung von Frau Schmidt wäre dringend eine bereits präkonzeptionelle Optimierung ihrer Blutzuckerwerte mit Senkung des HbA1c-Werts zu empfehlen. Anzuraten ist eine frühe Vorstellung einer solchen Risikopatientin in einer dafür ausgerichteten Geburtsklinik. Da Typ-I-Diabetikerinnen abhängig vom HbA1c-Wert ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko haben, ist eine intensivierte sonographische Organdiagnostik empfehlenswert. Wichtig für diabetische Patientinnen in der

16

Schwangerschaft sind ein gut funktionierendes Netzwerk, bestehend aus Gynäkologen und Diabetologen, sowie eine enge Anbindung an ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe.

Weiterführende Literatur Bernstein IM, Catalano PM (1990) Ketoacidosis in pregnancy associated with the parenteral administration of ­terbutaline and betamethasone. A case report. J Reprod Med 35(8): 818–820 Catalano PM, Tyzbir ED, Roman NM et al (1991) Longitudinal changes in insulin release and insulin resistance in nonobese pregnant women. Am J Obstet Gynecol 165: 1667–1672 Chauhan SP, Perry KG Jr (1995) Management of diabetic ketoacidosis in the obstetric patient. Obstet Gynecol Clin North Am 22(1): 143–155 Confidential Enquiry into, M and H Child (2009). Confidential enquiry into maternal and child health (CEMACH): perinatal mortality 2007: United Kingdom. London, CEMACH. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2765833/ Fretts RC (2005) Etiology and prevention of stillbirth. Am J Obstet Gynecol 193(6): 1923–1935 Fretts R (2009) ACOG Practice Bulletin No. 102: Management of stillbirth. Obstet Gynecol 113(3): 748–761 Glaser N, Yuen N, Anderson SE et al (2010) Cerebral metabolic alterations in rats with diabetic ketoacidosis: effects of treatment with insulin and intravenous fluids and effects of bumetanide. Diabetes 59(3): 702–709 Greentop N (2010) Late intrauterine fetal death and stillbirth NHS, Guideline No. 55. https://www.rcog.org.uk/globalassets/documents/guidelines/gtg_55.pdf Hawthorne G (2011) Maternal complications in diabetic pregnancy. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 25: 77–90 Hughes AB (1987) Fetal heart rate changes during diabetic ketosis. Acta Obstet Gynecol Scand 66(1): 71–73 Krakowiak P, Walker CK, Bremer AA et al (2012) Maternal metabolic conditions and risk for autism and other neurodevelopmental disorders. Pediatrics 129(5): e1121–1128 Landon MB, Gabbe SG (2011) Gestational diabetes mellitus. Obstet Gynecol 118(6): 1379–1393 Madaan M, Aggarwal K, Sharma R, Trivedi SS (2012) Diabetic ketoacidosis occurring with lower blood glucose levels in pregnancy: a report of two cases. J Reprod Med 57(9–10): 452–455 Munro JF, Campbell IW, McCuish AC, Duncan LJ (1973) ­Euglycaemic diabetic ketoacidosis. Br Med J 2(5866): 578–580 Pape H-C (2009) Physiologie. Thieme, Stuttgart Parker JA, Conway DL (2007) Diabetic ketoacidosis in pregnancy. Obstet Gynecol Clin North Am 34(3): 533–543 Philipps AF, Rosenkrantz TS, Raye J (1985) Consequences of perturbations of fetal fuels in ovine pregnancy. Diabetes 34(Suppl 2): 32–35

262

16

Kapitel 16 · Stoffwechselentgleisung in der Schwangerschaft

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263

Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot Philipp von Hundelshausen

17.1

Falldarstellung – 264

17.1.1

17.1.7 17.1.8 17.1.9

Nennen Sie zu den Symptomen und dem Untersuchungsbefund passende Differenzialdiagnosen. Welche davon sind am wahrscheinlichsten? – 264 Welche der Diagnosen gefährden die Patientin akut am stärksten? – 265 Wie ist das Vorgehen bei V. a. Lungenembolie? – 266 Wie sind die Laborwerte zu interpretieren? Welche Grenzwerte gelten postpartal? – 267 Was ist das Ergebnis der Echokardiographie? Wie lautet die Diagnose? – 268 Was ist über Risikofaktoren und die Ätiologie einer PPCM bekannt? – 268 Wie ist das weitere therapeutische Vorgehen? – 270 Wie ist die Prognose der PPCM? – 271 Wie hoch ist das Wiederholungsrisiko? – 271

17.2

Fallnachbetrachtung – 272



Literatur – 272

17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5 17.1.6

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_17

17

264

Kapitel 17 · Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot

17.1 Falldarstellung

Was geschah … ?

17

»Martin, Du musst unbedingt kommen! Vielleicht können die Nachbarn auf die Kinder aufpassen. Kein Mensch nimmt mich hier ernst!«, schluchzte Marion Müller ins Telefon. »Ich kann nicht mehr. Ich weiß auch nicht genau, was mit mir los ist. Ich habe solche Angst!« Währenddessen fand bei Schwester Astrid die Übergabe vom Frühdienst auf der Wöchnerinnenstation statt. Es klingelte, und das Lämpchen für das Einzelzimmer leuchtete auf. »Das ist diese nervige P-Patientin, Frau Müller«, seufzte der Frühdienst. »Seit heute Morgen dreht die am Rad. Sie hat vor 2 Tagen Zwillinge entbunden, denen es gut geht. Heute hat Dr. Wagner die Samstagsvisite gehabt, Oberarzt war heute keiner da. Dr. Wagner hat mich dann mit Frau Müller in die Notaufnahme geschickt, um ein EKG zu schreiben, weil sie so unruhig war und über Palpitationen berichtet hat. Das ging auch nur im Stühlchen, weil sie noch ziemlich schlapp ist. Ein paar Extrasystolen waren drin, aber sonst nichts Ernstes. Der Internist unten meinte nur, eine Extrasystole wäre der zweitbeste Schlag des Menschen. Wenn die sich so aufregt, ist es kein Wunder, dass der Blutdruck da ansteigt. Heute Morgen war er 160/100 mmHg.« Schwester Astrid betrat das Zimmer von Marion. »Hallo, Schwester Astrid. Ich habe geklingelt, weil es nicht besser wird, im Gegenteil, jetzt kommt auch noch Husten dazu, und ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ich packe das alles nicht mehr! Können Sie mir nicht zumindest etwas gegen den Husten geben? Und sehen Sie sich meine Beine an, wie dick die immer noch sind.« Schwester Astrid nahm das Ohrthermometer: »Jetzt im Winter gehen ja einige Infekte herum. Vielleicht haben Sie sich angesteckt? Hmm … 36,8 °C, Fieber haben Sie nicht.« Sie ließ die Blutruckmanschette ab: »Immer noch 160 zu 100. Dass sie aufgeregt sind und sich unwohl fühlen, ist nach einer Geburt aber völlig normal. Ich rufe den Dienstarzt an.« Einige Zeit später klopfte die Dienstärztin Dr. Berber an und betrat das Zimmer. Sie hatte ihr Stethoskop schon so lange nicht mehr benutzt, dass Sie es erst hatte suchen müssen.

Sie blätterte durch die Akte. Marion Müller war eine 38-jährige Patientin, die vor 2 Tagen vaginal entbunden hatte. Es war bereits die 4. Schwangerschaft, die durch einen grenzwertig erhöhten Blutdruck und durch vorzeitige Wehen verkompliziert worden war. Auf die Fragen von Dr. Berber antwortete Marion, sie würde vaginal kaum noch Blut verlieren. Sie habe keine Vorerkrankungen, aber das Herzstolpern habe nach der letzten Schwangerschaft angefangen, und im Unterschied zu den letzten Schwangerschaften seien die Abgeschlagenheit und auch die geschwollenen Beine in den letzten 6 Wochen neu. Dr. Berber untersuchte Marion und dokumentierte den körperlichen Untersuchungsbefund: Haut blass, keine Zyanose, Jugularvenen gestaut, Pulmo beidseits mit vesikulärem Atemgeräusch, beidseits basal Rasselgeräusche (RG), sonorer Klopfschall (KS), Cor arrhythmisch, 3/6 Systolikum mit p. m. über dem Apex, RR 160/100 mmHg, HF 105/min, Bauch weich, beidseits deutliche Unterschenkelödeme.

17.1.1 Nennen Sie zu den Symptomen

und dem Untersuchungsbefund passende Differenzialdiagnosen. Welche davon sind am wahrscheinlichsten?

Luftnot und Palpitationen – Differenzialdiagnosen 44Akute Mitralklappeninsuffizienz (MI) 44Anämie 44Asthma bronchiale 44Bronchitis, Pneumonie 44Lungenembolie 44Perikardtamponade 44Postpartale Psychose 44Peripartale Kardiomyopathie (PPCM) 44Pneumothorax 44Tachykarde Herzrhythmusstörungen Akute Mitralklappeninsuffizienz  Eine MI würde zu dem Systolikum über dem Apex passen. Eine schwere MI würde auch die Luftnot und Stauungszeichen erklären. Ohne pathologische Begleiterkrankung (z. B. Endokarditis, Infarkt, Kardiomyopathie) sehr unwahrscheinlich.

265 17.1 · Falldarstellung

Anämie  Die häufigste der Differenzialdiagnosen im Wochenbett ist die Anämie. Hierbei kann auch ein systolisches Herzgeräusch vorkommen, ohne dass ein Klappenvitium vorliegt. Eine akute Blutung muss ausgeschlossen sein. Die pulmonalen RG passen allerdings nicht. Asthma bronchiale  Ein Asthmaanfall ist unwahr-

scheinlich. Ohne Vorgeschichte müsste es sich um eine Erstdiagnose handeln, ein typischer Auskultationsbefund (Giemen) ist die Regel.

Bronchitis, Pneumonie  Ein Infekt der oberen Atem-

wege ist eine häufige Diagnose. Rasselgeräusche, auch beidseits, können bei einer Pneumonie vorkommen. Bei einem ausgeprägten Befund wäre eine erhöhte Körpertemperatur zu erwarten.

Lungenembolie   Mit einer Inzidenz von 0,8–

1,7/1000 Geburten ist die tiefe Beinvenenthrombose und Lungenembolie in der Schwangerschaft und im Kindbett im Vergleich zu nichtschwangeren Frauen etwa 4-fach erhöht. Luftnot und Jugularvenenstauung wären erklärt. Ein Systolikum wäre nicht typisch, könnte aber von einer akuten Trikuspidalklappeninsuffizienz bei Rechtsherzbelastung verursacht werden. Das p. m. wäre dann weiter kranial und rechtsseitig zu erwarten. RG wären bei einer begleitenden Pleuritis aber nur einseitig und nicht beidseits. Die Ödeme wären durch die Rechtsherzbelastung erklärt.

Perikardtamponade   Eine Perikardtamponade

würde Luftnot und Stauungszeichen erklären. Ohne Komorbidität wie z. B. einem Malignom oder vorangegangenem Trauma ist diese Diagnose eine Seltenheit.

Postpartale Psychose   Bei abrupt beginnender Luftnot und Panik muss auch an eine postpartale Psychose gedacht werden. Der körperliche Untersuchungsbefund spricht zunächst dagegen. Peripartale Kardiomyopathie  Eine akute Herzinsuf-

fizienz im Rahmen einer PPCM wäre mit den Symptomen und den Befunden vereinbar. Das Systolikum könnte durch eine Veränderung der Ventrikelgeometrie und sekundäre MI hervorgerufen worden sein.

17

Pneumothorax  Obwohl häufiger bei Männern als bei Frauen und obwohl eine Schwangerschaft oder das Puerperium keinen gesonderten Risikofaktor darstellen, ist ein Spontanpneumothorax als Ursache der Dyspnoe denkbar. Die Jugularvenenstauung würde auf eine Spannungskomponente hindeuten. Etwa 20% aller Fälle mit Spontanpneumothorax entwickeln einen Spannungspneumothorax. Tachykarde Herzrhythmusstörungen  Bei jungen

Frauen sind tachykarde Herzrhythmusstörungen meist supraventrikulär. Häufig sind AV-Knoten-Tachykardien (rhythmisch > 120/min). Palpitationen werden meist bei Arrhythmien wahrgenommen und können durch Extrasystolen oder Vorhofflimmern entstehen.

17.1.2 Welche der Diagnosen

gefährden die Patientin akut am stärksten?

Mit einer Inzidenz von 1,5 Todesfällen pro 100.000 Geburten ist die Lungenembolie die häufigste (ein Drittel) der mütterlichen Todesursachen in der entwickelten Welt. Vermutlich wären viele der Todesfälle durch eine korrekte Prophylaxe, eine frühe Diagnose und adäquate Behandlung zu verhindern. Eine anhaltende ventrikuläre Tachykardie gefährdet die Patientin akut. Das Ausmaß hängt von der systolischen Pumpfunktion ab. Je niedriger die linksventrikulären (LV-)Funktion, desto höher ist das Risiko einer Degeneration im Kammerflimmern. > Bei einer peripartalen Kardiomyopathie ist eine kardiale Dekompensation zu befürchten. Eine rasche Diagnosestellung und frühzeitiger Therapiebeginn sind für die Prognose entscheidend.

Ein Spannungspneumothorax kann prinzipiell bedrohlich werden. Die Krankenhausletalität liegt aber nur bei etwa 3%. … was weiter geschieht … Dr. Berber überlegt sich, was weiter zu tun sei. Sie betrachtet das EKG vom Vormittag: Sinusrhythmus, Indifferenztyp, HF 107/min, PQ 190  ms,

266

Kapitel 17 · Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot

QRS 105  ms, QTc 405  ms, gehäuft VES, keine Erregungsrückbildungsstörungen.

Welche Zeichen im EKG sprechen für eine Lungenembolie, welche für eine Kardiomyopathie? Im EKG zeigen sich ventrikuläre Extrasystolen bei sonst unauffälligem EKG. Eine Lungenembolie kann durch die Druckerhöhung im Lungenkreislauf eine Rechtsherzbelastung verursachen. Typische EKG-Zeichen wären ein kompletter Rechtsschenkelblock oder ein SIQIII-Typ. Fehlende Rechtsherzbelastungszeichen im EKG schließen eine Lungenembolie nicht aus. … Dr. Berber überlegt sich, dass von allen möglichen Ursachen eine Lungenembolie die häufigste Diagnose mit hohem Gefährdungspotenzial sein muss. Die Symptome könnten passen (. Tab. 17.1). Sie legt einen Zugang und nimmt Blut ab. In ihrem Kitteltaschenbüchlein findet sie die DECT-Telefonnummer des internistischen Dienstes. »Ich brauche noch eine halbe Stunde, dann kann ich auf Station sein«, antwortet die Internistin Dr. Reiter. »Haben Sie schon Blut abgenommen? Ich würde gerne wissen, wie hoch D-Dimere und Nt-pro-BNP sind. Wir müssen auch an eine Lungenembolie denken. Falls wir doch noch eine CT-Angiographie brauchen, benötigen wir auch ein aktuelles Krea und TSH. Ich bringe das kleine fahrbare Echogerät mit.« »Sollen

17

wir schon auf Verdacht antikoagulieren?«, fragt Dr. Wagner. »Solange wir keine definitive Diagnose haben, nicht. Ich denke, wir sollten die Laborwerte abwarten. Wenn Sie die Möglichkeit haben, wäre es gut, mit einem Pulsoxymeter die Sättigung zu bestimmen und den Blutdruck im Auge zu behalten.«

17.1.3 Wie ist das Vorgehen bei V. a.

Lungenembolie?

In Schwangerschaft und Wochenbett sind die für die Diagnostik der Lungenembolie entwickelten Algorithmen nicht validiert. In der 2014 erschie-

nenen Leitlinie der europäischen kardiologischen Gesellschaft (ESC) zur Diagnostik und Therapie von tiefer Beinvenenthrombose (TVT) und Lungenembolie wird empfohlen, zunächst anhand eines Score wie z. B. dem Wells-Score (. Tab. 17.2) einzuschätzen, wie hoch die klinische Wahrscheinlichkeit einer Lungenembolie (LE) ist und ob der Patient gefährdet ist (. Abb. 17.1). Auf den vorliegenden Fall angewendet, würde Marion jeweils einen Punkt für die erhöhte Herzfrequenz und die Geburt (in Analogie zur frischen Operation) bekommen, und die Diagnose LE würde als . Tab. 17.2  Dichotomisierter Wells-Score (mod. nach Konstantinides et al. 2014) Kriterien

Punkte

. Tab. 17.1  Häufigkeit der Symptome bei Lungenembolie

Frühere TVT oder LE

1

Symptom

Häufigkeit

Frische Operation oder Immobilisation

1

Thoraxschmerz (pleuritisch)

60% (40%)

Tumorerkrankung

1

Dyspnoe

50%

Hämoptyse

1

Zeichen der TVT (einseitige Beinschwellung/ Schmerz)

30%

Herzfrequenz ≥ 100/min

1

Alternative Diagnose unwahrscheinlicher als LE

1

Husten (Hämoptysen)

20% (10%)

Dichotomisierter Score

Fieber

10%

LE unwahrscheinlich

0–1

Synkope

5%

LE wahrscheinlich

≥2

TVT tiefe Beinvenenthrombose.

TVT tiefe Beinvenenthrombose, LE Lungenembolie.

267 17.1 · Falldarstellung

17

17.1.4 Wie sind die Laborwerte Verdacht auf akute Lungenembolie

zu interpretieren? Welche Grenzwerte gelten postpartal?

2 Tage nach der Entbindung ist eine gewisse Anämie zu erwarten. Eine schwere akute Blutung ist unwahrscheinlich.

Schock oder Hypotonie?

N-terminales pro-B-natriuretisches Peptid

Nein

Mortalität niedrig

Ja

Mortalität hoch

. Abb. 17.1  Risikostratifizierung bei V. a. Lungenembolie. Hypotonie definiert als systolischer Blutdruckabfall um ≥ 40 mmHg für 15 min, wenn nicht durch eine neu aufgetretene Herzrhythmusstörung, Hypovolämie oder Sepsis verursacht

wahrscheinlich gelten. Aufgrund der erhöhten Blutdruckwerte ist Marion nicht als Hochrisikopatientin einzustufen. > Erhöhte Blutdruckwerte sind sowohl mit einer Kardiomyopathie als auch mit einer LE vereinbar. ! Cave Bei Hypotension oder Schock ist eine NotfallCT-Angiographie indiziert.

… so geht es weiter … Während Dr. Reiter die Echokardiographie durchführt, sind die Laborwerte verfügbar: Hämoglobin Hämatokrit MCV MCH (HBE) Leukozyten Thrombozyten Kalium Kreatinin TSH basal CRP D-Dimer Nt-pro-BNP

7 mmol/l 34,8% 84,8 fl 1,8 fmol 9,6 G/l 204 G/l 4,5 mmol/l 68,7 μmol/l 1,18 U/l 35 mg/d 0,43 mg/l 2532 ng/l

(7,4–9,6) (35,0–45,0) (80–96) (1,7–2,1) (3,8–10,5) (150–300) (3,6–5,2) (53,4–99,2) (0,55–4,78) (< 5) (< 0,3) (< 266)

(Nt-pro-BNP) ist ein sensitiver Marker für die Diagnose und den Verlauf einer Herzinsuffizienz. Bei zunehmender Volumenbelastung der Ventrikel wird Nt-pro-BNP zusammen mit BNP von den Herzmuskelzellen sezerniert. BNP wirkt diuretisch und vasodilatierend, wohingegen Nt-pro-BNP inaktiv ist. Die Höhe der Nt-pro-BNP-Werte korreliert mit der Schwere der systolischen und diastolischen Dysfunktion. Nt-pro-BNP-Werte korrelieren in der Schwangerschaft invers mit dem Widerstand der systemischen Zirkulation. Sie verdoppeln sich in der Frühschwangerschaft, fallen nach der 22. SSW ab und verdoppeln sich wieder durch die Geburt, um sich eine Woche postpartal zu normalisieren (. Tab. 17.3). Nt-pro-BNP-Werte sind bei Präeklampsie und Schwangerschaftshypertonie erhöht. Bei einer Lungenembolie kommt es zur Druckbelastung des rechten Ventrikels, bei einer Herzinsuffizienz zur Belastung des linken Ventrikels. Im Vergleich zu Veränderungen in der Schwangerschaft und nach der Geburt sind die Nt-pro-BNP-Werte bei einer akuten schweren Herzinsuffizienz oder Lungenembolie viel stärker verändert und können daher diagnostisch verwendet werden. > Die diagnostische Trennung zwischen Lungenembolie und Kardiomyopathie ist durch Messung von Nt-pro-BNP nicht möglich.

C-reaktives Protein (CRP) steigt typischerweise in der Schwangerschaft an und erreicht die höchsten Werte in den ersten Tagen nach der Entbindung. Erhöhungen um das 5-Fache des Normwerts werden häufig erreicht. Erst Werte darüber hinaus sprechen für eine Infektion. Die Messung der D-Dimere ist sehr sensitiv, aber wenig spezifisch für die Diagnose einer TVT oder LE. Daher haben normale Werte einen hohen negativ prädiktiven Aussagewert und Ausschlusscharakter.

268

Kapitel 17 · Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot

. Tab. 17.3  Erhöhung der Nt-pro-BNP-Konzentration (ng/l) in Abhängigkeit von der Schwangerschaftswoche SSW

NS

11–15

16–22

23–32

33–41

Median (95. Perzentile)a

38 (117)

73 (235)

61 (217)

43 (120)

41 (133)

Mittelwertb









81

pp

165

SSW Schwangerschaftswoche, NS nicht schwanger, pp postpartal. a Franz et al. (2009), b Lev-Sagie et al. (2005).

Gegen Ende der Schwangerschaft steigen die D-Dimere an, sie sind am Tag der Entbindung immer erhöht und erreichen erst nach 4 Wochen Werte, die diagnostische Aussagekraft haben. Daher war im vorliegenden Fall die Bestimmung nicht sinnvoll. … weiter geht es mit der echokardiographischen Untersuchung …

17

Frau Dr. Reiter fährt das Echokardiographiegerät ins Zimmer, begrüßt Marion und erklärt, was sie vorhat. Schon in den ersten Einstellungen erkennt sie, dass der linke Ventrikel sich vergrößert darstellt (7 Abschn. 17.1.5, Abb. 17.2) und sich die Wände wenig kontrahieren. Sie erfasst die Dimensionen des linken Ventrikels am Ende der Diastole (LVEDd = 59 mm). Aus dem Volumen des linken Ventrikels in Systole und Diastole wird eine Ejektionsfraktion (EF) von 31% ermittelt. Der rechte Ventrikel stellt sich, deutlich schmaler als der linke Ventrikel, normal dimensioniert dar. Der über die Geschwindigkeit der Trikuspidalinsuffizienz abgeschätzte Druckwert im rechten Ventrikel ist mit 25 mmHg normal. Ein Perikarderguss ist nicht zu erkennen. Während der Untersuchung hat Frau Dr. Reiter still und konzentriert gearbeitet, jetzt wendet sie sich Marion zu, die sich mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck das Gel abwischt, und erklärt ihr, was sich in der Echokardiographie ergeben hat.

17.1.5 Was ist das Ergebnis der

Echokardiographie? Wie lautet die Diagnose?

In der Echokardiographie (. Abb. 17.2) wird eine Perikardtamponade ausgeschlossen, bei fehlenden Rechtsherzbelastungszeichen besteht kein Anhalt für eine Lungenembolie. Eine dilatative

Kardiomyopathie (DCM) wird durch die reduzierte systolische Pumpfunktion und Erweiterung des linken Ventrikels diagnostiziert. Die Pumpfunktion wird mittels der Ejektionsfraktion (EF) beschrieben und errechnet sich aus dem Verhältnis von systolischem zu diastolischem LV-Volumen. Normalerweise werden mehr als 55% des diastolischen Blutvolumens in der Systole ausgeworfen (. Tab. 17.4). Der später dokumentierte Echokardiographiebefund lautet: Global noch mittelschwer reduzierte systolische LV-Funktion, EF biplan 31%, keine regionalen Wandbewegungsstörungen, dilatierter LV (LVEDd 59 mm), übrige Herzhöhlen normal dimensioniert, keine paradoxe Septumbewegung, schmaler RV, mittelschwere MI (Mitralklappeninsufizienz), leichte TI (Trikuspidalklappeninsuffizienz), keine PH (pulmonale Hypertonie), kein PE (Perikarderguss). > Somit lautet die Diagnose peripartale Kardiomyopathie (PPCM).

17.1.6 Was ist über Risikofaktoren

und die Ätiologie einer PPCM bekannt?

Obwohl der kardiale Phänotyp oft dem einer DCM ähnelt, liegt die Ursache der PPCM wohl nicht in einer latenten, durch Schwangerschaft und Geburt exazerbierten DCM, da die meisten Fälle im ersten Monat postpartal diagnostiziert werden, wenn die Volumenbelastung abgenommen hat. Angaben zur Inzidenz beruhen auf wenigen Untersuchungen und schwanken von 1:300–1:3000 Geburten, u. a. weil das Risiko bei Frauen mit schwarzafrikanischer Herkunft erhöht ist, aber auch weil die Einschlusskriterien sich unterschieden.

269 17.1 · Falldarstellung

a

17

b

. Abb. 17.2  Echokardiographischer Vergleich des apikalen 4-Kammer-Blicks bei PPCM (a) und einer gesunden Person (b). LA linker Vorhof, RA rechter Vorhof, LV linker Ventrikel, RV rechter Ventrikel, MK Mitralklappe, TK Trikuspidalklappe

. Tab. 17.4  Referenzbereich LVEF bei Frauen (nach Lang et al. 2015) LVEF in%

Befund

54–74%

Normal

41–53%

Leichtgradig eingeschränkt

30–40%

Mittelgradig eingeschränkt

< 30%

Hochgradig eingeschränkt

LVEF linksventrikuläre Ejektionsfraktion.

Auch in Deutschland ist die PPCM selten. In einem deutschlandweiten Register wurden zwischen 2004 und 2012 nur 115 Fälle gemeldet, die den Kriterien entsprachen. Ein Drittel aller PPCM-Fälle tritt allerdings bei Frauen ohne Risikofaktoren auf.

Risikofaktoren für eine peripartale Kardiomyopathie 55Gestationshypertonie, Präeklampsie 55Multiparität 55Zwillingsschwangerschaften 55Alter 55Schwarzafrikanische Herkunft 55Rauchen

Zwei Faktoren scheinen für die Entstehung der PPCM verantwortlich sein:

44Eine konstitutionell erhöhte Suszeptibilität durch lokal erniedrigte angiogenetische Faktoren, 44in der späten Schwangerschaft die systemische Störung der Balance angiogener und angiostatischer Faktoren im Myokard durch die vermehrte Freisetzung von VEGF-blockierenden Proteinen wie sFLT1 aus der Plazenta und einer Zunahme eines angiostatischen 16-kDa-Spaltprodukts, das durch enzymatische Spaltung von Prolaktin entsteht. Das erklärt, warum Zustände, bei denen sFLT1 vermehrt sind, wie z. B. Parität, Mehrlingsschwangerschaften und Präeklampsie, Risikofaktoren einer PPCM sind. Durch Aktivierung von D2-Rezeptoren in der Hypophyse hemmt Bromocriptin die Prolaktinsekretion und verbessert auf diese Weise die Balance (. Abb. 17.3).

Symptome einer peripartalen Kardiomyopathie 55Dyspnoe (Ruhedyspnoe) 55Exzessive Müdigkeit 55Ödeme 55Palpitationen 55Husten 55Thorakale Schmerzen 55Panik, Angst vor bevorstehendem Tod 55Synkopen

270

Kapitel 17 · Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot

. Abb. 17.3  Pathogenese der peripartalen Kardiomyopathie (PPCM) und Wirkprinzip von Bromocriptin. VEGF vascular endothelial growth factor (Endothelwachstumsfaktor), sFLT1 löslicher VEGF-Rezeptor (soluble FLT1). (Aus Patten et al. 2012)

D2-Rezeptoren Hypophyse

Bromocriptin Prolaktin 16 kDa

Plazenta

sFLT1 en

aktor che F is t a t s angio

VEGF toren

e Fak

gen angio

systemisch späte Schwangerschaft Herz

konstitutionell lokal

… so geht es weiter …

17

Marion wird immer unruhiger und fühlt sich so hilflos, wie in einem Spinnennetz gefangen. Sie kann gar nicht mehr klar denken. Schwester Astrid kommt ins Zimmer. »Ich helfe Ihnen, Ihre Sachen zu packen. Wir verlegen Sie auf die IMC (Intermediate Care), dort können wir besser die Vitalparameter überwachen. Wir kümmern uns darum, dass es Ihren Babys gut geht, machen Sie sich keine Sorgen.« Auf der IMC angekommen, wird Marion Herrn an Dr. Westenfink, den Stationsarzt der IMC, übergeben. »Wir bringen Euch die 38-jährige Patientin Frau Müller zur Rekompensation, wir hatten gerade telefoniert. Vor 2 Tagen problemlose vaginale Entbindung. Heute zunehmend Dyspnoe, Ödeme und RG bei einer kardialen Dekompensation bei peripartaler Kardiomyopathie. Im Echo war die EF 31%, und sie hat eine deutliche Mitralklappeninsuffizienz. Die Laborwerte sind alle aktuell.« Frau Wagner will sich schnell von der Schwester verabschieden, als Dr. Westenfink noch eine Frage hat: »Gibt es denn zusätzlich zur Rekompensation und Herzinsuffizienztherapie noch einen spezifischen, gynäkologischen Ansatz?« Bromocriptin scheint über das Abstillen hinaus positive Effekte zu haben, für eine darüber hinausgehende Dosierung und den Einnahmezeitraum gibt es keine randomisierte klinische Studie.

Herr Dr. Westenfink untersucht Marion und findet den Untersuchungsbefund bestätigt. Schwester Ingrid schließt die Blutdruckmanschette, den Pulsoxymeter und das EKG an den Monitor an und fragt: »Willst Du einen arteriellen Zugang legen? Was brauchen wir noch?«

17.1.7 Wie ist das weitere

therapeutische Vorgehen?

… und weiter … Dr. Westenfink betrachtet die Vitaldaten auf dem Monitor: SpO2 91%, HF 103/min, RR 155/110 mmHg. »Wir sehen mal, wie gut die Patientin auf die Negativbilanzierung anspricht. Bitte fang mit 2  l/min Sauerstoff an, wir schirmen sie mit etwas Morphin ab, bitte 5  mg i.v., dann 20  mg Furosemid i.v. und einen Dauerkatheter legen, weiteres Furosemid über Perfusor nach Bilanz. Wir wollen eine Negativbilanz von 2000  ml erreichen. Zusätzlich nehmen wir einen Nitro-Perfusor, um den Druck einzustellen und die Vorlast zu senken.« Nach einer sehr unruhigen Nacht fühlt sich Marion erschöpft, sie bemerkt aber auch, dass das Atmen einfacher ist.

271 17.1 · Falldarstellung

Therapie der PPCM nach der Rekompensation 55ACE-Hemmer/Angiotensin-1-Antagonisten 55β-Blocker 55Aldosteronrezeptorantagonisten 55Bromocriptin (2,5 mg für 2 Wochen 1–0–1, danach 4 Wochen 1–0–0) 55Antikoagulation

Es gibt keine kontrollierten randomisierten Studien speziell für den Sonderfall der PPCM. Die Kombination von β-Blockern, ACE-Hemmern und Aldosteron-Inhibitoren besitzt den höchsten Empfehlungs- und Evidenzgrad (IA) in den ESC-Leitlinien von 2016. Eine Antikoagulation bei einer reduzierten systolischen LV-Funktion < 35% ist bei der chronischen systolischen Herzinsuffizienz nicht indiziert. Dennoch scheinen bei Patientinnen mit PPCM embolische Komplikationen aufgrund von LV-Thromben gehäuft aufzutreten. Daher ist eine Antikoagulation zu erwägen, obwohl es hierfür keine gesicherten Daten gibt. Die Hinweise, dass Bromocriptin einen Überlebensvorteil darstellt, stammen aus den deutschen Registerdaten, daher ist die Bromocriptin-Therapie off-label. … so geht es weiter … Nach 3 Tagen auf der IMC wird Marion auf die kardiologische Normalstation verlegt. Die Beine sind deutlich schlanker, und in Ruhe kann sie ruhig atmen, aber der Weg ins Badezimmer ist immer noch sehr anstrengend und Treppensteigen gar nicht möglich. In der Verlaufsechokardiographie ist die EF auf 25% gefallen.

17.1.8 Wie ist die Prognose der PPCM?

Die Prognose von Patientinnen mit PPCM ist sehr heterogen, sodass für die betroffene Person keine individuelle Vorhersage gewagt werden kann. Sowohl 2013 und 2015 veröffentlichte Daten eines deutschen Registers als auch Daten aus einer prospektiven

17

amerikanischen Studie zeigen, dass sich in der Mehrzahl der Fälle (ca. 80%) die systolische Pumpfunktion erholt und sich in knapp der Hälfte der Fälle eine vollständige Wiederherstellung innerhalb eines Jahres ergibt. Prädiktoren für eine fehlende Besserung sind eine EF< 30% und eine starke Erweiterung des linken Ventrikels (LVEDD > 60 mm). Die besten Werte in der deutschen Studie kamen von Patientinnen, die sowohl Bromocriptin erhielten als auch eine vollständige Dreifach-Herzinsuffizienztherapie. 10% der Patientinnen benötigen eine Herztransplantation. Neben der fehlenden Erholung oder zunehmenden Verschlechterung der Pumpfunktion, die ohne Transplantation oder mechanische Kreislaufunterstützung durch ein assist device in einem Multiorganversagen münden würde, ist der plötzliche Herztod durch Kammertachykardien eine Todesursache, die in weniger als 1% der Fälle auftritt. Das prophylaktische Vorgehen diesbezüglich muss individuell abgestimmt werden. Bei einer EF < 35% würde in Anlehnung an die HerzinsuffizienzLeitlinien eine ICD-Implantation indiziert sein, sollte sich die EF nicht weiter verbessern. Zur Überbrückung der Zeit, in der auf eine Verbesserung der EF gewartet wird, bieten sich inzwischen Möglichkeiten mit tragbaren externen Defibrillatoren (LiveVest). … und weiter … Die folgenden Monate sind für Marion wie ein Alptraum. Nichts funktioniert mehr so, wie sie es gewohnt war. Zwar kann sie wieder eine gute Strecke gehen, aber die Treppe in den 2. Stock muss sie sich mühsam am Geländer nach oben ziehen. Ohne die Fürsorge ihres Mannes wäre die familiäre Situation nicht zu meistern. Sie scheint alles wie durch einen Schleier zu sehen. »Ob das an den Medikamenten liegt? Die EF scheint ja auch Voodoo zu sein: mal rauf, mal runter«, denkt sie. Zumindest die Tendenz stimmt sie vorsichtig optimistisch, die EF liegt jetzt immerhin bei 35%.»

17.1.9 Wie hoch ist das

Wiederholungsrisiko?

Das Risiko eines Rezidivs bei einer Folgeschwangerschaft ist abhängig vom vorherigen Verlauf. 20% der Frauen, deren Pumpfunktion sich vollständig

272

Kapitel 17 · Eine Wöchnerin mit akuter Luftnot

normalisiert hat, bekommen erneut eine PPCM. Bei persistierender LV-Dysfunktion ist in 50% der Fälle mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen. … das Ende des Falls Eineinhalb Jahre später geht Marion fröhlich von der letzten kardiologischen Verlaufskontrolle nach Hause. Entgegen den Vorhersagen hat sich selbst nach einem Jahr ihre körperliche Belastbarkeit noch stetig weiter verbessert. Sie kann wieder ihre früheren Joggingrunden aufnehmen, und das positive Gefühl hat sich auch im Ultraschall bestätigt, denn die EF liegt mit 55% im Normbereich. Alle Medikamente außer dem β-Blocker, der die fortbestehenden Extrasystolen unterdrückt, sind abgesetzt worden. Sie hat über die Zeit aber auch gelernt, besser mit den Herzrhythmusstörungen umzugehen. Die Episoden mit starkem Herzstolpern empfindet sie als ärgerlich, aber als nicht mehr so beunruhigend.

17.2 Fallnachbetrachtung

17

Dieser Fall schildert exemplarisch den typischen Verlauf einer peripartalen Kardiomyopathie, einer lebensbedrohlichen Erkrankung mit einer hohen Variabilität der klinischen Ausprägung und des Verlaufs. Registerdaten aus Deutschland ergeben eine Letalität von 2% innerhalb der ersten 6 Monate, eine hohe Rate an Erholungen, die aber selten in einer vollständigen Heilung enden. Aufgrund der Überlappung der Symptome mit mehreren Krankheitsbildern war die Ursachenfindung im vorliegenden Fall erschwert und benötigte ein effektives Vorgehen. 44Vor der Entbindung waren die Beinödeme nicht abgeklärt worden. Die Diagnose wurde erst klar, als die Patientin bereits kardial dekompensiert war. 44Viele der bekannten Risikofaktoren einer PPCM waren erfüllt: spätgebärend, Multiparität, Mehrlingsschwangerschaft, Hypertonie in der Schwangerschaft, Tokolyse. 44Das Hauptsymptom waren zunächst vorwiegend Palpitationen, und erst im Verlauf wurde die Dyspnoe führend. Daher wurden die Symptome bagatellisiert, und die

initiale Diagnostik mittels EKG fand zwar die ventrikuläre Extrasystolie, aber es wurde die Chance verpasst, z. B. durch ein Röntgenbild die Diagnose akute Herzinsuffizienz frühzeitig zu stellen. 44Der erhöhte Blutdruck mochte in die Irre führen, weil eine akute Herzinsuffizienz häufig mit niedrigen Blutdruckwerten assoziiert wird, aber erhöhte Werte kommen regelmäßig vor. 44Im Verlauf arbeitete die Gynäkologin zusammen mit der Internistin, die sie hinzugezogen hatte. 44Die beiden Hauptverdachtsdiagnosen Lungenembolie und Herzinsuffizienz wurden durch den wegweisenden Befund in der Echokardiographie entschieden. Wenn vor Ort keine zügige Echokardiographie vorhanden gewesen wäre, wäre ein Röntgen-Thorax bei den stabilen Blutdruckwerten die beste Lösung gewesen. 44Bei hypotensiven Werten hätte eine sofortige CT-Angiographie erfolgen müssen. In dieser wäre eine Lungenembolie ausgeschlossen, aber die Kardiomegalie und das Lungenödem diagnostiziert worden. 44In Fall Marion Müller hat die Patientin die Erkrankung gut überstanden. Dennoch gab es Umstände, die dazu führten, dass die Diagnose verzögert wurde, sodass sich eine kardiale Dekompensation entwickelte. Diese wurde in diesem Fall zügig überwunden, hätte aber durchaus auch in einer Situation münden können, in der das Lungenödem zu einem Schock und damit zu einer dramatischen Situation auf der Wöchnerinnenstation geführt hätte.

Literatur Franz MB, Andreas M, Schiessl B et al (2009) NT-proBNP is increased in healthy pregnancies compared to non-­ pregnant controls. Acta Obstet Gynecol Scand 88(2): 234–237 Goland S, Modi K, Bitar F et al (2009) Clinical profile and predictors of complications in peripartum cardiomyopathy. J Cardiac Fail 15(8): 645–650 Haghikia A, Podewski E, Libhaber E et al (2013) Phenotyping and outcome on contemporary management in a German cohort of patients with peripartum cardiomyopathy. Basic Res Cardiol 108(4): 366

273 Literatur

Konstantinides SV, Torbicki A, Agnelli G et al (2014) ESC guidelines on the diagnosis and management of acute pulmonary embolism. Eur Heart J 35(43): 3033–3069, 69a–69 k Lang RM, Badano LP, Mor-Avi V et al (2015) Recommendations for cardiac chamber quantification by echocardiography in adults: an update from the American Society of Echocardiography and the European Association of Cardiovascular Imaging. Eur Heart J Cardiovasc Imaging 16(3): 233–270 Lev-Sagie A, Bar-Oz B, Salpeter L et al (2005) Plasma concentrations of N-terminal Pro-B-Type natriuretic peptide in pregnant women near labor and during early puerperium. Clin Chem 51(10): 1909–1910 Marik PE, Plante LA (2008) Venous thromboembolic disease and pregnancy. N Engl J Med 359(19): 2025–2033 McNamara DM, Elkayam U, Alharethi R et al (2015) Clinical outcomes for peripartum cardiomyopathy in North America. Results of the IPAC Study (Investigations of PregnancyAssociated Cardiomyopathy). J Am Coll Cardiol 66(8): 905–914 Patten IS, Rana S, Shahul S, Rowe GC et al (2012) Cardiac angiogenic imbalance leads to peripartum cardiomyopathy. Nature 485(7398): 333–338 Ponikowski P, Voors AA, Anker SD et al (2016) ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure: The Task Force for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure of the European Society of Cardiology (ESC) Developed with the special contribution of the Heart Failure Association (HFA) of the ESC. Eur Heart J 37(27): 2129–2200

17

275

Der psychiatrische Notfall im Wochenbett Almut Dorn, Anke Rohde

18.1

Falldarstellung – 276

18.1.1 18.1.2

18.1.4 18.1.5 18.1.6 18.1.7

Wie lautet ist Ihre Verdachtsdiagnose? – 276 Welche Symptome können auf eine postpartale Depression hinweisen? Warum ist die Depression gerade postpartal schwierig zu diagnostizieren? – 276 Wie kann ein Nichtpsychiater eine Orientierung über die psychische Verfassung bekommen? – 279 Wie ist bei möglicher Suizidalität vorzugehen? – 279 Was genau sind Zwangsgedanken? – 283 Wann ist eine Unterbringung nach PsychKG nötig/möglich? – 284 Stillen und Antidepressiva – geht das? – 285

18.2

Fallnachbetrachtung – 286

18.2.1 18.2.2

Welche Behandlungsfehler wurden gemacht? – 286 Fazit für die Praxis – 287



Weiterführende Literatur – 287

18.1.3

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_18

18

276

Kapitel 18 · Der psychiatrische Notfall im Wochenbett

18.1 Falldarstellung

Was geschah … Anna ist eine 29-jährige Psychologin, die nach unkomplizierter Schwangerschaft in der Klinik ihr erstes Wunschkind zur Welt gebracht hat. Sie hatte sich dort in der 35. SSW zur Geburt angemeldet. In der Anamnese fanden sich keine Auffälligkeiten. Sie kam mit einem Blasensprung am Termin, die Wehen setzten 6 Stunden später ein. Trotz starker Wehen öffnete sich der Muttermund nur langsam, immer wieder kam es zu Wehenpausen. Nach 12 Stunden Wehen wurde eine PDA gelegt, da Anna zunehmend erschöpft wirkte. Auch ein anschließend angelegter Wehentropf brachte keinen Fortschritt. Nach 18 Stunden wurde mit Anna über die Alternative einer sekundären Sectio in Spinalanästhesie gesprochen, in die sie eine Stunde später einwilligte. Sie spürt schon während der OP ihre Enttäuschung darüber, »es nicht selber geschafft« zu haben. Sie fühlt sich postpartal sehr erschöpft, kann aber ihre kleine gesunde Tochter gut annehmen und bekommt Hilfe bei den ersten Stillversuchen. Sie ist in den nächsten Tagen schlecht zu mobilisieren, möchte lieber liegenbleiben. Am 4. postpartalen Tag fällt der Stillschwester auf, dass Anna im Kontakt zu ihrer Tochter seltsam unbeteiligt wirkt, zurückhaltend, in sich gekehrt. Das Stillen klappt bisher, scheint ihr aber eher unangenehm zu sein. Die Stillschwester schildert ihre Beobachtung der Stationsärztin, die Anna sowieso noch für die Abschlussuntersuchung sehen möchte. Für den nächsten Tag ist die Entlassung geplant, deshalb fragt sie, ob zu Hause alles vorbereitet ist. Bei dieser Frage beginnt Anna zu weinen.

18.1.1 Wie lautet ist Ihre

Verdachtsdiagnose?

18

Es könnte sich um einen Baby Blues handeln. Können auch andere postpartale psychische Störungen so früh einsetzen? Eine postpartale Psychose vielleicht, die sich aber häufig in deutlich heftigerer Symptomatik zeigt. Beginnt eine postpartale Depression nicht erst viel später? Oder ist dies eine depressive Reaktion auf das Geburtserleben, das vielleicht

sogar traumatisch verarbeitet wurde? Könnten auch körperliche Ursachen psychische Symptome auslösen (. Tab. 18.1)? Wie geht es weiter? Die Stationsärztin denkt an einen Baby Blues, nachdem die Fragen nach der Geburt keine Hinweise auf traumatisches Erleben bringen. Depressionen beginnen meist erst später nach der Geburt; außerdem ist Anna ja selbst Psychologin und würde ihr sicherlich sagen, wenn es »ernster« wäre. Die Ärztin normalisiert die »Weinerlichkeit«, bestätigt Anna nochmals, wie prima letztlich alles gelaufen sei und dass sie sich jetzt über ihre Tochter freuen sollte. Als Anna am nächsten Tag entlassen werden soll, bleibt sie weinend auf dem Bett sitzen. Sie nimmt ihr schreiendes Kind nicht aus dem Bettchen. Auf Nachfrage gibt sie an, sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen, könne sich nicht vorstellen, für die Tochter eine gute Mutter zu sein, sie könne sie ja nicht einmal beruhigen. So habe sie sich das alles nicht vorgestellt. Sie glaube, dass auch ihr Mann sehr enttäuscht von ihr sei, er verstehe sie gar nicht.

18.1.2 Welche Symptome können auf

eine postpartale Depression hinweisen? Warum ist die Depression gerade postpartal schwierig zu diagnostizieren?

Postpartale Depressionen gehen mit einer Vielzahl von Symptomen einher, wie etwa den folgenden:

Symptomatik der postpartalen Depression 55Depressive Verstimmung bzw. Niedergeschlagenheit 55Häufiges Weinen 55Selbstvorwürfe/Insuffizienzerleben/ Schuldgefühle 55Grübeln über die Zukunft 55Konzentrationsstörungen 55Angstsymptome (unbestimmte Angst, Panikattacken) 55Antriebsminderung 55Schlafstörungen

277 18.1 · Falldarstellung

18

. Tab. 18.1  Differenzialdiagnosen postpartaler depressiver Symptome Baby blues (»Heultage«) Häufigkeit

ca. 70%

ICD-10-Kategorie

Keine F-Diagnose (da kein Krankheitswert, sondern physiologische Reaktion auf die abrupte Hormonumstellung post partum)

Typischer Beginn

Tritt in den ersten 3–5 Tagen nach der Geburt auf

Typische Symptomatik

Affektive Labilität (Empfindlichkeit ist erhöht, rascher Wechsel zwischen Euphorie und Weinen)

Therapieempfehlungen

Sensibler Umgang mit der Patientin Keine spezifische Therapie erforderlich

Traumatisch erlebte Entbindung Häufigkeit

Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) 2–3%, subsyndromal bis zu 30%

ICD-10-Kategorie

F43.1 (PTBS)/Subsyndrom F43.2 (Anpassungsstörung)

Typischer Beginn

Direkt bis wenige Tage nach der Geburt

Typische Symptomatik

– Die Geburtssituation als Ganzes oder nur bestimmte Aspekte wurden als traumatisch erlebt – Wiederleben in lebhaften Erinnerungen, »Flashbacks« oder Albträumen – Begleitet von Vermeidungsverhalten, sozialem Rückzug, Gefühl der inneren Stumpfheit, Gereiztheit, erhöhter Schreckhaftigkeit

Therapieempfehlungen

– Nachgespräch (direkt nach der Entbindung) mit allen Patientinnen über das Geburtserleben; problematische Aspekte können angesprochen und geklärt werden – Bei ausgeprägter Symptomatik (z. B. Vollbild einer PTBS, Diagnosestellung frühestens nach 6 Wochen) traumaspezifische Psychotherapie – Bei depressiver Begleitsymptomatik ggf. antidepressive Medikation

Depression Häufigkeit

10–15%

ICD-10-Kategorie

F32.0 (leichte Episode), F32.1 (mittelschwere Episode), F32.2 (schwere Episode), F33.x (rezidivierende Störung). Nicht jede postpartale Depressivität erreicht das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Depression.

Typischer Beginn

Tage bis Wochen nach der Geburt

Typische Symptomatik

Breites Spektrum depressiver Symptome: – Niedergeschlagenheit, Ängstlichkeit bis hin zu Panikattacken, Weinen, Zwangssymptome, Konzentrationsschwäche, Antriebsminderung – Verschiedenartige körperliche Symptome, Schlafstörungen, Appetitminderung – Lebensmüde Gedanken bis hin zur manifesten Suizidalität

Therapieempfehlungen

In Abhängigkeit von Ausprägung und Symptomkonstellation: – Bei leichterer Ausprägung supportive (= stützende) Gespräche – Bei Vorliegen einer depressiven Episode: antidepressive Therapie (Medikation und/oder Psychotherapie) – Selbsthilfegruppe (z. B. Schatten & Licht)

Psychose/Bipolare Störung Häufigkeit

0,1%

ICD-10-Kategorie

F2x.x (Psychose)/F30.x (Manie)/F31.x (Manie i. R. einer rezidivierenden bipolaren Störung)

278

Kapitel 18 · Der psychiatrische Notfall im Wochenbett

. Tab. 18.1  Fortsetzung Typischer Beginn

Innerhalb von Stunden bis Tagen nach der Geburt

Typische Symptomatik

– Alle Psychosen können vorkommen – Meist akute Psychosen mit »buntem« klinischem Bild – Oft manische Symptomkonstellation

Therapieempfehlungen

– In Abhängigkeit vom klinischen Bild (meist Antipsychotika) – Diagnostik und Therapie sollten durch einen Psychiater vorgenommen werden – Praktisch immer Indikation für stationäre psychiatrische Behandlung

Depressive Reaktionen (z. B. nach Frühgeburt/Verlust des Kindes) Häufigkeit

Nach ca. 10% belastender Ereignisse

ICD-10-Kategorie

F43.2x

Typischer Beginn

Tage bis Wochen nach dem belastenden Ereignis

Typische Symptomatik

– Breites Spektrum depressiver Symptome (wie oben) – Gedanklich fokussiert auf Verlusterlebnis bzw. Belastung

Therapieempfehlungen

– Supportive (= stützende) Gespräche – Bei schwerer Ausprägung antidepressive Therapie (Psychotherapie, ggf. Medikation)

55Appetitminderung 55Innere Unruhe 55Vielfältige körperliche Symptome (Kopfschmerzen, Druckgefühl, Missempfindungen etc.) 55Lebensmüde Gedanken bis hin zu Suizidalität

18

In der Geburtshilfe werden meist »gesunde« Frauen begleitet bzw. behandelt. Die Erwartung, dass eine Mutter, die ein erwünschtes Kind bekommt, nach der Geburt glücklich und zufrieden sein sollte, ist auf allen Seiten sehr hoch, v. a. wenn die Schwangerschaft unkompliziert verlaufen ist. Eine depressive Stimmung oder andere psychische Symptome sind somit unerwartet, keiner möchte sie richtig wahrhaben, die Betroffenen meist eingeschlossen. ! Cave Die Symptome einer psychischen Störung treten nicht immer alle sofort auf, sondern entwickeln sich schrittweise. Gerade postpartal ist die Abgrenzung zu »normalen«

Veränderungen schwierig. Es zählen die Menge und die Ausprägung der Symptome. Die Diagnose Depression entsteht letzten Endes aus der Summe der Symptome und der Symptomkonstellation; es gibt kein »typisches« Leitsymptom.

Auch zu erwartende »normale« Veränderungen nach der (v. a. ersten) Geburt beziehen sich auf Sorgen um das Kind, Durchschlafprobleme, Müdigkeit, Erschöpfung durch das Stillen und das Einfinden in die neue Mutterrolle. So wird nicht gleich an eine eventuell beginnende depressive Symptomatik gedacht. Zudem sieht man im stationären Bereich seltener die beginnende Depression, sondern eher den Baby Blues. Untypisch für einen Baby Blues bei Anna ist jedoch, dass sie ihr Kind ganz unbeteiligt behandelt. In der Regel sind Mütter sehr umsorgend, und auch wenn dabei ein paar Tränen fließen können, beschreiben sie sich nicht als unglücklich. Weinen und glücklich sein kommen sozusagen gleichzeitig vor. Warum spricht man nicht von Wochenbettdepression, sondern von postpartaler Depression? 

Begriffe wie »Wochenbettdepression« und »Wochenbettpsychose« sollten möglichst vermieden werden.

279 18.1 · Falldarstellung

Depressionen und Psychosen, die postpartal auftreten, sind keine eigenständigen Krankheitseinheiten, also keine nosologischen Entitäten. Die Diagnosen werden mit den üblichen ICD-10-Kriterien für affektive und psychotische Störungen gestellt (7 Abschn. 18.1.1); durch den Zusatz O99.3 kann die Verbindung zum Wochenbett dokumentiert werden. Inhaltlich steht die thematische Fixierung auf das Geburtserleben bzw. auf Muttergefühle im Vordergrund (z. B. sich insuffizient als Mutter oder wenig gebunden fühlen; bei der Geburt »versagt« zu haben). Auch der Krankheitsverlauf und das Rezidivrisiko von affektiven Störungen oder Psychosen, die im Kontext von Schwangerschaft und Entbindung begonnen haben, unterscheiden sich nicht von denen in anderen Zusammenhängen. Allerdings müssen bei der Behandlung das Kind und die Mutter-KindBindung viel stärker mitberücksichtigt werden. … so geht es weiter: Anna entlassen oder andere Maßnahmen ergreifen? Die Stationsärztin hat das Gefühl »hier stimmt etwas nicht« und bespricht sich mit ihrer Oberärztin. Diese hat in einer Fortbildung von dem Screening-Instrument EPDS gehört, das sie sich aus dem Internet herunterlädt. Anna füllt den Bogen aus, der einen Wert von 24 ergibt. Als sich die Ärztinnen die Antworten genauer ansehen, fällt ihnen die Bejahung der Frage 10 auf: »Überkam mich der Gedanke, mir selbst Schaden zuzufügen?« Beide Ärztinnen führen ein weiteres Gespräch mit Anna, die zunehmend verzweifelt wirkt. »Ich möchte doch keinem zur Last fallen. Ich habe gedacht, dass nach der Geburt alle Schmerzen gleich vergessen sind und überwältigende Muttergefühle aufkommen. Das empfinde ich aber so nicht, ich fühle mich durch das Stillen fast bedrängt.« Sie berichtet, ihr würden sich zudem Bilder aufdrängen. Sie denke, dass sie so eine schlechte Mutter sei, dass sie sogar in der Lage wäre, ihrem Kind etwas anzutun. Vielleicht solle sie sich selber eher etwas antun. Sie schäme sich so. Die Ärztinnen sind schockiert, sie sind nicht ganz sicher, ob eine akute Suizidalität vorliegt, und möchten einen Psychiater hinzuziehen, was Anna extrem unangenehm ist. »Ich bin doch selber Psychologin, das ist total peinlich. Was soll der über mich denken?« Ihr Ehemann wird zum Gespräch dazu gebeten: Er kenne seine Frau so eigentlich nicht, sei

18

selber sehr verunsichert. Er ist einverstanden, einen Psychiater konsiliarisch hinzuzuziehen.

18.1.3 Wie kann ein Nichtpsychiater

eine Orientierung über die psychische Verfassung bekommen?

Screening-Verfahren zur schnellen Diagnostik Sehr hilfreich ist der Einsatz des Screening-Instruments EPDS (Edinburgh Postnatal Depression Scale, . Abb. 18.1). Eine deutsche Fassung mit erläuternden Kommentaren kann z. B. unter http://marce-gesellschaft.de/materialien/ abgerufen werden. Bei der EPDS handelt es sich um einen Selbstbeurteilungsfragebogen mit 10 Fragen, woraus sich durch einfache Addition des Score ein Wert zwischen 0 und 30 ergibt. Liegt der Wert höher als 12, sollte eine weiterführende Diagnostik erfolgen, weil dann der Verdacht auf das Vorliegen einer Depression oder einer anderen Störung, die mit depressiven Symptomen einhergeht (wie etwa eine Angststörung), besteht. Werte über 13 zeigen eine deutliche Belastung an und Werte über 20 schon recht eindeutig das Vorliegen von Depressivität; sie machen weitere diagnostische Maßnahmen unabdingbar. Dieser Sreening-Fragebogen wird in immer mehr gynäkologischen Praxen erfolgreich bei der ersten postpartalen Kontrolluntersuchung eingesetzt. Jede Patientin füllt den Bogen bereits im Wartezimmer aus, und die Ärztin hat durch Addition der 10 Werte einen schnellen Eindruck von der psychischen Belastung. Zusätzlich kann sich die Ärztin ein genaueres Bild machen, indem sie Fragen zu Schlaf, Stimmung und Antrieb stellt. 18.1.4 Wie ist bei möglicher Suizidalität

vorzugehen?

> Viele Ärzte haben die Befürchtung, einer Patientin mit Fragen nach Suizidalität »zu nahe zu treten« oder sie »erst auf die Idee zu bringen«. Diese Befürchtungen sind unbegründet.

Kapitel 18 · Der psychiatrische Notfall im Wochenbett

280

Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS) In den letzten 7 Tagen (oder in den Tagen seit der Geburt, wenn diese weniger als 7 Tage her ist): 1) konnte ich lachen und das Leben von der sonnigen Seite sehen 0 o so wie ich es immer konnte 1

o

nicht ganz so wie sonst immer

2

o

deutlich weniger als früher

3

o

überhaupt nicht

2) konnte ich mich so richtig auf etwas freuen 0 o so wie immer 1

o

etwas weniger als sonst

2

o

deutlich weniger als früher

3

o

kaum

3) fühlte ich mich unnötigerweise schuldig, wenn etwas schief lief 3 o ja, meistens 2

o

ja, manchmal

1

o

nein, nicht so oft

0

o

nein, niemals

4) war ich aus nichtigen Gründen ängstlich und besorgt 0 o nein, überhaupt nicht 1

o

selten

2

o

ja, manchmal

3

o

ja, häufig

5) erschrak ich leicht bzw. reagierte panisch aus unerfindlichen Gründen 3 o ja, oft 2

o

ja, manchmal

1

o

nein, nicht oft

0

o

nein, überhaupt nicht

6) überforderten mich verschiedene Umstände 3 o ja, die meiste Zeit war ich nicht in der Lage, damit fertig zu werden

18

2

o

ja, manchmal konnte ich damit nicht fertig werden

1

o

nein, die meiste Zeit konnte ich gut damit fertig werden

0

o

nein, ich wurde so gut wie immer damit fertig

. Abb. 18.1  Edinburgh Postnatal Depression Scale (Deutsche Fassung nach Bergant et al. 1998)

281 18.1 · Falldarstellung

18

7) war ich so unglücklich, dass ich nicht schlafen konnte 3 o ja, die meiste Zeit 2

o

ja, manchmal

1

o

nein, nicht sehr oft

0

o

nein, überhaupt nicht

8) habe ich mich traurig und schlecht gefühlt 3 o ja, die meiste Zeit 2

o

ja, manchmal

1

o

selten

0

o

nein, überhaupt nicht

9) war ich so unglücklich, dass ich geweint habe 3 o ja, die ganze Zeit 2

o

ja, manchmal

1

o

nur gelegentlich

0

o

nein, niemals

10) überkam mich der Gedanke, mir selbst Schaden zuzufügen 3 o ja, ziemlich oft. 2

o

manchmal.

1

o

kaum

0

o

niemals

Bewertung: Nach Zusammenzählen der Zahlen kann der Wert zwischen 0 und 30 liegen. Liegt der Wert bei 12 oder niedriger, könnte es sich um vorübergehende, leichte depressive Symptome handeln. Es kann abgewartet werden; nach einer Woche sollte der Test wiederholt werden. Liegt der Wert über 12 oder sogar deutlich über 12, muss eine genauere Depressionsdiagnostik erfolgen. Liegt der Wert um 20 oder höher, ist dringend zu empfehlen, die Patientin in fachpsychotherapeutische oder fachpsychiatrische Diagnostik zu überweisen. Das Vorliegen einer Depression oder einer verwandten Störung (wie etwa einer Angststörung), ist wahrscheinlich.

. Abb. 18.1  Fortsetzung

Lebensmüde Gedanken können in akuten Belas-

tungssituationen, bei chronischen Krankheitsverläufen oder psychischen Erkrankungen auftreten. Danach zu fragen, ist für die Betroffenen oft eine große Erleichterung, da sie sich nicht trauen, diese von sich aus anzusprechen. Gedanken wie »so möchte ich nicht weiterleben« können starke Ängste

auslösen, und die Normalisierung und Bestätigung, dass solche Gedanken noch keine manifeste Suizidalität bedeuten, sondern nur den Wunsch nach Besserung, können beruhigend wirken. > Allerdings darf dabei eine akute Suizidalität nicht übersehen werden!

282

Kapitel 18 · Der psychiatrische Notfall im Wochenbett

Dafür ist es wichtig, einordnen zu können, in welchem Stadium der Suizidalität sich die Betroffene befindet. Stufenweises, aber sehr konkretes Nachfragen hat sich bewährt (s. unten). 44Eine erste Frage könnte lauten: »Sind Ihnen in dieser Situation schon lebensmüde Gedanken gekommen?« 44Gefolgt von: »Und haben Sie auch schon darüber nachgedacht, sich selbst etwas anzutun?« Allgemein lebensmüde Gedanken (als erste Stufe der Suizidalität) lassen sich so gut von sich konkretisierenden suizidalen Gedanken trennen. Gibt es einen Hinweis auf Suizidalität, müssen weitere klärende Fragen folgen. Die in . Tab. 18.2 aufgeführten Fragen folgen einem Stufenmodell. Wenn eine Frage beantwortet wird, muss zwingend die nächste Folge, um festzustellen, wie tief die suizidalen Gedanken schon gehen oder ob sogar schon Pläne bestehen. ! Cave Die Frage, ob eine Patientin suizidal sein könnte, ist für Frauenärzte durchaus mit Unsicherheiten verbunden. Es sollte nicht

der Fehler gemacht werden, zu denken, eine Suizidankündigung sei nicht ernst gemeint.

Die rechtliche Situation erscheint manchmal unübersichtlich, wodurch sich die Frage der Zuständigkeit stellt. Frauenärztliche Aufgabe ist es, die Suizidalität so weit abzuklären, dass eine Entscheidung über die Hinzuziehung eines Psychiaters, eventuell auch die Weiterleitung an eine psychiatrische Ambulanz oder Klinik, getroffen werden kann. > Äußert eine Patientin Suizidgedanken, darf sie nicht mehr alleine gelassen und auch nicht unbegleitet in die psychiatrische Klinik gebracht werden. Der Frauenarzt ist so lange zuständig und verantwortlich, bis sie in »psychiatrischen Händen« ist.

Was passiert weiter? Als die Stationsärztin Annas Ehemann mit seiner Tochter auf dem Flur begegnet, ist sie beunruhigt, sie denkt: »Er bliebe besser bei seiner Frau.« Er ist mit dem Baby auf dem Weg in das Kinderzimmer. Seine Frau habe ihn dort hingeschickt, weil die Tochter so sehr geweint habe, dass Anna es nicht mehr ausgehalten hätte.

. Tab. 18.2  Stadien der Suizidalität mit entsprechenden Fragen

18

Frage

Antwort

Haben Sie in dieser Situation schon einmal lebensmüde Gedanken gehabt?

Vielleicht antwortet die Patientin »Ja«, setzt dann aber sofort hinzu, »das würde ich aber meiner Familie nicht antun.« Das bedeutet keine akute Gefahr, aber dringende Behandlungsbedürftigkeit, weil sich daran rasch etwas ändern kann.

Haben Sie auch überlegt, sich selbst etwas anzutun?

Wenn der Schritt zu aktiven Überlegungen gemacht ist, ist das schon als akute Suizidalität zu bewerten. Nun geht es weiter um die Frage der Gefährlichkeit.

Haben Sie sich überlegt, wie Sie es tun würden?

An dieser Stelle wird in der Regel von Überlegungen berichtet, z. B. von einem Hochhaus zu springen, Tabletten zu nehmen.

Haben Sie bereits Vorbereitungen getroffen? Wenn ja, welche?

Das Risiko ist umso größer, je konkreter diese Vorstellungen und Planungen sind, v. a. wenn auch schon abgewogen wurde, ob eine Methode sinnvoll wäre (»Springen werde ich nicht, weil ich dann vielleicht nur einen Querschnitt habe«).

Was spricht dagegen, diese Pläne umzusetzen? Was spricht dafür, weiterzuleben?

Auch mit dieser Frage wird nichts falsch gemacht. Im Gegenteil: Wenn die Patientin nichts anführen kann (z. B. Religion, Familie), bedeutet das, dass es keine Haltemechanismen mehr gibt. Diese Patientin darf nicht mehr alleine bleiben!

283 18.1 · Falldarstellung

Gemeinsam betreten sie das Krankenzimmer und finden Anna, obwohl das Wetter kalt und ungemütlich ist, am weit geöffneten Fenster ihres Zimmers, das im dritten Stock liegt. Die Stationsärztin hat den Eindruck, als sei sie gerade dabei, auf das Fensterbreit zu steigen. Sie möchte sie sofort in die Psychiatrie einweisen. Anna weigert sich vehement, der Ehemann wirkt unschlüssig. Bis der Psychiater kommt und das Gespräch übernimmt, bleibt eine Krankenschwester bei Anna und ihrem Mann. Die genaue Anamnese ergibt, dass Anna als Studentin schon einmal eine depressive Episode bei Prüfungsstress erlebt hat und auch ihre Mutter unter Depressionen und Ängsten leidet. Damals habe sie psychologische Beratung an der Uni in Anspruch genommen, was ihr sehr geholfen habe. Sie habe gedacht, dass das ein einmaliges Geschehen unter Stress gewesen sei, und nach der Geburt gar nicht damit gerechnet. Es habe sich doch um ein ausgesprochenes Wunschkind gehandelt. Sie wolle sich nicht wirklich etwas antun, sie sei nur so verzweifelt über ihre schrecklichen Gedanken, die bewiesen, dass sie keine gute Mutter sein könne. In diesem Zusammenhang bejaht sie dann auch die Frage des Psychiaters, ob sie vielleicht daran denke, ihrer Tochter etwas anzutun. Anna wirkt fast erleichtert, als sie hört, dass das bei Depressionen nach einer Entbindung nicht selten ist und dass es sich um Zwangsgedanken handelt. Dabei fällt ihr ein, dass sie auch in Prüfungsphasen zu Kontrollzwängen geneigt hatte. Diese aktuellen Gedanken seien aber viel schlimmer, da sie mit grausamen Bildern im Kopf verbunden seien, wie sie ihre Tochter aus dem Fenster fallen lasse.

18.1.5 Was genau sind

Zwangsgedanken?

Zwangsgedanken sind sich unwillkürlich aufdrängende Gedanken mit meist fremdaggressivem Charakter. Wichtig ist die Abgrenzung gegen akustische Halluzinationen (die z. B. Befehle geben können, die oft auch umgesetzt werden) und Suizidgedanken, die auch das Kind einbeziehen (erweiterter Suizid). Die Abgrenzung ist nicht immer einfach und sollte im Zweifelsfall von einem Psychiater vorgenommen werden.

18

Abgrenzung von Zwangsgedanken gegen akustische Halluzinationen und (erweiterte) Suizidgedanken Zwangsgedanken: 55Sich unwillkürlich aufdrängende Gedanken mit fremdaggressivem Charakter (z. B. das Kind mit einem Messer oder spitzen Gegenstand zu verletzen) 55Zwangsgedanken werden als ich-dyston wahrgenommen (nicht zu mir gehörend, störend, »ich will das doch gar nicht«) 55Sie erzeugen Angst, dass die Gedanken in die Tat umgesetzt werden könnten, und führen zu ausgeprägten Schuldgefühlen 55Postpartale Zwangsgedanken sind häufig; in der Regel in eine depressive Symptomatik eingebettet Akustische Halluzinationen: 55Akustische Halluzinationen werden akustisch (»mit den Ohren«) wahrgenommen (wie andere Stimmen auch, evtl. klingen sie technisch verfremdet) 55Sie können lokalisiert werden (entweder außerhalb des Kopfes, im Raum oder an einer bestimmten Stelle im Kopf ) 55Die Präsenz akustischer Halluzinationen wird nicht infrage gestellt; sie werden gleichermaßen real erlebt wie die Umwelt 55Die Stimmen können Kommentare abgeben, oder mehrere Stimmen sprechen miteinander 55Besonders imperative (befehlsgebende) Stimmen sind gefährlich, weil ihnen nicht selten gefolgt wird (z. B. wenn die Stimme sagt: »Wirf das Kind aus dem Fenster!«) 55Typischerweise werden Halluzinationen von anderen psychotischen Symptomen begleitet (wie etwa Wahn, Verhaltensauffälligkeiten, Denkstörungen) Suizidgedanken/erweiterter Suizid: 55Suizidale Gedanken sind in der Regel eingebettet in ein ausgeprägtes depressives Bild

284

Kapitel 18 · Der psychiatrische Notfall im Wochenbett

18.1.6 Wann ist eine 55Die Hoffnungslosigkeit ist so stark, dass keine Zukunft mehr gesehen wird und der Suizid als einziger Ausweg bleibt (»Es wäre besser für alle, wenn ich nicht mehr da wäre; ich bin eine Last!«) 55Wenn das Liebste (das neugeborene Kind) nicht in dieser vermeintlich schrecklichen Welt zurückbleiben soll, wird es mitgenommen in den Suizid (zuerst wird das Neugeborene getötet, dann begeht die Mutter Suizid)

Wenn sicher ist, dass es sich um Zwangsgedanken handelt und nicht um akustische Halluzinationen mit befehlsgebendem (imperativem) Charakter, kann man die Patientin beruhigen, denn Zwangsgedanken werden nicht in die Tat umgesetzt. Es kann hilfreich sein, die betroffene Mutter darüber zu informieren, bei welchen Störungen bzw. Symptomen Mütter tatsächlich der Gefahr ausgesetzt sind, ihre Kinder zu töten; davon können sich die Frauen gut distanzieren, und sie erleben die Information als Entlastung. Zur Tötung des eigenen Kindes kann es beispielsweise unter dem Einfluss psychotischer Symptome kommen oder beim erweiterten Suizid. Muss Anna in die Psychiatrie?

18

Der Psychiater erklärt Anna, dass er sie aufgrund ihrer Verzweiflung, der Heftigkeit der depressiven Symptomatik und der Suizidgedanken stationär in der Psychiatrie aufnehmen möchte, um mit ihr unter Beobachtung eine medikamentöse antidepressive Therapie zu beginnen. »Dann soll auch noch einmal genau eruiert werden, ob es sich tatsächlich um Zwangsgedanken handelt, von denen keine Gefahr ausgeht. Leider ist die Mitaufnahme Ihrer Tochter nicht möglich.« Der Psychiater würde Anna in diesem Zustand auch gegen ihren Willen unterbringen lassen können, was er aber vermeiden möchte. Wenn sie mit der Behandlung einverstanden wäre und sich von der Suizidalität für ihn glaubhaft distanzieren würde, könnte man sie direkt auf einer offenen Akutstation aufnehmen und müsste sie nicht auf einer geschlossenen Station beobachten.

Unterbringung nach PsychKG nötig/möglich?

Wenn aufgrund einer psychischen Störung eine erhebliche Selbstgefährdung oder eine erhebliche Gefährdung Dritter (Fremdgefährdung) vorliegt, kann als Schutzmaßnahme eine freiheitsentziehende Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet werden. Um Rechtssicherheit für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu gewährleisten, gibt es in Deutschland das Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) »zum Schutz psychisch Kranker«. Dieses beinhaltet die Gesetze der einzelnen Bundesländer, in denen die Bestimmungen jeweils etwas unterschiedlich gehandhabt werden. Auskunft über das jeweilige Vorgehen (z. B. Ansprechpartner Ordnungsamt/Feuerwehr o. ä.) kann im Zweifelsfall die Notarzt-Leitstelle geben.

Wesentliche Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie 55Es besteht akute Selbst- oder Fremdgefährdung (für das Leben bzw. die Gesundheit) 55Aufgrund einer psychischen Erkrankung bzw. eines krankheitsähnlichen Zustands (z. B. Alkoholintoxikation) 55Es wird ein ärztliches Attest vorgelegt, mit dem die akute Gefährdung bescheinigt wird (jeder Arzt kann eine solche Stellungnahme ausstellen, am besten mit Darstellung der konkreten Gefährdungssituation bzw. Aussagen des Betroffenen); meist gibt es Formulare dafür 55Die zuständige Behörde (z. B. Ordnungsamt, nachts oft Feuerwehr) wird telefonisch informiert und bestätigt die vorläufige Unterbringung

Von dem Zeitpunkt an, zu dem die Patientin die zuständige psychiatrische Klinik erreicht hat, geht die Verantwortung in die Hände der Psychiater über. Diese machen sich ein eigenes Bild und organisieren die richterliche Anhörung (je nach Bundesland innerhalb von 24 h oder 48 h) in der Klinik.

285 18.1 · Falldarstellung

> Auch nichtpsychiatrische Ärzte sind bei akuter Gefährdung einer Patientin zu entsprechenden Maßnahmen verpflichtet, z. B. zur Einleitung von Maßnahmen nach PsychKG. Kenntnisse über die lokalen Organisationsstrukturen (z. B. über die zuständige Behörde) sollten immer deshalb verfügbar sein.

Auch wenn eine Patientin wie Anna sich anfänglich weigert, sich psychiatrisch behandeln zu lassen, hilft in der Regel die Darstellung der Maßnahmen, die die Ärztin ergreifen muss, weil sie gesetzlich dazu verpflichtet ist. Für alle Beteiligten ist es selbstverständlich sehr viel einfacher, wenn eine psychiatrische Behandlung freiwillig beginnt. Wie entscheidet sich Anna? Nachdem ihr der Psychiater dargelegt hat, dass er zwar keine andere Wahl hat, als sie aufzunehmen, er aber bereit ist, ihr zu vertrauen und sie auf eine offene Station aufzunehmen, wenn sie glaubhaft versichert, sich an Absprachen zu halten, willigt sie nach Rücksprache mit ihrem Mann ein. Ihr Leidensdruck ist groß, und sie hat die Hoffnung, dass ihr bald geholfen wird. Ihr Mann wird mit der Tochter nach Hause gehen. Er soll Hilfe über eine hinzugezogene »Familienlotsin« bekommen, die über die »Frühen Hilfen« Unterstützung zu Hause organisieren soll. Vorübergehend stehen auch seine Eltern zur Verfügung. Die Stationsärztin wendet ein, dass Anna abstillen sollte, um mit den Medikamenten nicht ihr Kind zu gefährden. Sie könnten sie mit einer BromocriptinBehandlung zum Abstillen auch während der psychiatrischen Behandlung begleiten. Anna ist entsetzt. Ihr ist das Stillen sehr wichtig, obwohl sie es zurzeit nicht genießen kann: »Das ist doch das einzige, was ich jetzt für mein Baby tun kann!«

18.1.7 Stillen und Antidepressiva –

geht das?

Unter einer genauen Nutzen-Risiko-Abwägung kann ein gesundes Neugeborenes gestillt werden, auch wenn die Mutter Antidepressiva oder auch Antipsychotika einnimmt, möglichst in Monotherapie.

18

Dabei wird abgewogen, ob die positiven Auswirkungen des Stillens wichtiger eingeschätzt werden als die möglichen bzw. nicht gänzlich auszuschließenden Auswirkungen auf das Kind, sowohl durch direkte Nebenwirkungen als auch mögliche unbekannte Langzeitwirkungen. > Das gestillte Kind sollte hinsichtlich des Auftretens von Nebenwirkungen sorgfältig beobachtet werden.

Das Stillen kann im Rahmen einer postpartalen Depression eine besondere Bedeutung für die Mutter bekommen, da sie es vielleicht als das einzig Positive sieht, das sie ihrem Baby bieten kann. Abstillen verstärkt meist noch die Überzeugung, als Mutter versagt zu haben bzw. keine gute Mutter zu sein. Wird einer Mutter empfohlen abzustillen, kann das u. U. zu einer Verstärkung der Depression führen. Äußerungen wie »mit Antidepressiva dürfen Sie nicht stillen« sind generell so nicht richtig und sollten der Vergangenheit angehören. Informationen zur genauen Nutzen-Risiko-Abwägung und auch zu verschiedenen Psychopharmaka sind sowohl für Ärzte als auch für Betroffene erhältlich unter www.embryotox.de oder bei Rohde et al. (2016). Es gibt aber ebenso Mütter, die Angst haben, ihrem Kind zu schaden, und die »auf Nummer sicher gehen« wollen und lieber abstillen. Das Stillen selbst kann auch die depressive Symptomatik verstärken – vielleicht weil es nicht richtig klappt, die Mutter zufüttern oder abpumpen muss, sich dadurch zunehmend belastet fühlt oder immer schlechter schläft. Dann kann der Vorschlag des Abstillens als Erleichterung und Entlastung empfunden werden. ! Cave Das Abstillen mit Bromocriptin ist v. a. bei Psychosen kontraindiziert, sollte aber auch bei bekannten Depressionen nicht verwendet werden, da es die Symptomatik fördern kann. Selbst bei bis dahin gesunden Frauen kann die Gabe von Bromocriptin zu Halluzinationen etc. führen.

Die Auswahl des Antidepressivums erfolgt nach der im Vordergrund stehenden Symptomatik. Wichtig bei der Therapie mit Antidepressiva ist es, ebenso wie

286

Kapitel 18 · Der psychiatrische Notfall im Wochenbett

bei der Behandlung mit Antipsychotika, darauf zu achten, dass diese noch mindestens 6 Monate nach Abklingen der Symptomatik fortgeführt wird, um einen Rückfall zu vermeiden. Diagnostik und Differenzialdiagnostik: Somatische Aspekte  Zur Diagnostik postpartaler Depressionen

gehört immer auch der Ausschluss organischer Ursachen, wie etwa eine Anämie oder eine Schilddrüsenfunktionsstörung (wie übrigens bei Depressionen i. Allg. auch). Inwieweit ein besonders ausgeprägter Östrogenmangel nach der Entbindung (Mit-) Ursache für die Entstehung postpartaler Depressionen sein kann, ist noch umstritten. Das Ende des Falls

18

Der Psychiater kann Anna beruhigen, und wegen ihres Wunsches zu stillen verabreicht er Sertralin, ein Medikament, auf das sie sich nach der entsprechenden Nutzen-Risiko-Abwägung gemeinsam mit ihrem Mann einlassen kann. Damit sie zunächst einmal zur Ruhe kommt, soll sie die ersten Nächte in der Psychiatrie noch zusätzlich ein Schlafmedikament einnehmen. Die erste morgendliche abgepumpte Milch soll sie verwerfen. Tagsüber soll die Tochter möglichst häufig zum Stillen in die Klinik gebracht werden und auch stundenweise mit in die Therapien einbezogen werden. Nachts ist sie beim Vater zu Hause und bekommt zusätzlich Flaschennahrung von ihm. Insgesamt bleibt Anna nur 7 Tage in der Klinik; in dieser Zeit wird die therapeutische Anbindung in der Psychiatrischen Institutsambulanz vorbereitet. Anna ist deutlich von Suizidalität distanziert, konnte durch besseren Schlaf Kraft schöpfen und drängt nach Hause, um näher bei Tochter und Ehemann zu sein. Ihr Mann kann die für später geplante Elternzeit vorziehen, um unterstützend zu Hause sein zu können. Die weitere Behandlung wird durch die Psychiaterin erfolgen, die Anna schon früher behandelt hat. > Neben der psychiatrischen und ggf. auch psychotherapeutischen Behandlung profitieren Frauen mit postpartaler Depression sehr vom Austausch mit anderen betroffenen Müttern (z. B. Selbsthilfegruppe Schatten und Licht, www.schatten-und-licht.de).

18.2 Fallnachbetrachtung 18.2.1 Welche Behandlungsfehler

wurden gemacht?

Es gibt in diesem Fall drei wichtige Behandlungsfehler: 44Anna hatte sich in der Geburtsklinik zur Geburt angemeldet. Weder die Ärztin noch die Hebamme, die das Vorgespräch führten, haben nach psychischen Symptomen oder Störungen in der Vorgeschichte oder Familienanamnese gefragt. Wir wissen aber heute, dass eine depressive Episode in der Vorgeschichte (und noch wichtiger in der Schwangerschaft) den bedeutendsten Risikofaktor für eine postpartale Depression darstellt. Es ist ein Fehler, diese Frage in der Anamneseerhebung auszulassen. Auch beim ersten Verdacht auf eine psychische Problematik – selbst wenn es nur um einen Baby Blues ginge, müsste diese Frage nach Vorerkrankungen gestellt werden, um das Risiko einer weitergehenden Symptomatik einschätzen und auch gezielter nachfragen zu können. 44Kann eine Suizidalität nicht ausgeschlossen werden, darf die Betroffene nicht mehr alleine gelassen werden. Lediglich die Annahme, dass der Ehemann bei Anna bleibe, reicht nicht aus. Von ärztlicher Seite muss für eine Aufsicht (z. B. Sitzwache durch Hebamme oder Krankenschwester) organisiert werden. Auch eine klare Absprache mit dem Ehemann und die Vereinbarung, dass er Hilfe dazu hole, wenn er überfordert sei, wäre möglich. 44Die Empfehlung des Abstillens war falsch und hat Anna zusätzlich verunsichert und belastet. Zudem ist Abstillen mit Bromocriptin bei einer depressiven bzw. psychiatrischen Symptomatik kontraindiziert. Stattdessen wäre ein Hinweis an den Psychiater sinnvoll gewesen, dass – falls abgestillt werden sollte – die Gabe von Cabergolin sinnvoll sei und ggf. auch Empfehlungen zur konkreten Dosierung und Dauer gegeben würden bzw. eine Mitbetreuung erfolgen könnte.

287 Weiterführende Literatur

18.2.2 Fazit für die Praxis

44Von postpartaler Depressivität (PPD) sind 10–15% aller Frauen nach einer Entbindung betroffen, am häufigsten Erstgebärende. Bei etwa der Hälfte entwickelt sich eine behandlungsbedürfte Depression. 44Das Erkennen einer PPD ist nicht immer einfach, da die Symptomatik schleichend in den ersten Tagen und Wochen post partum beginnt und intensiv verwoben ist mit den Auswirkungen der veränderten Lebenssituation. 44Alle depressiven Symptome inkl. Angst- und Zwangssymptome können vorkommen. 44Kernsymptomatik ist das Insuffizienzerleben als Mutter. 44Mit der EPDS steht ein einfach einzusetzendes Screening-Instrument zur Verfügung. 44In Frage 10 der EPDS werden suizidale Gedanken abgefragt. 44Eine frühzeitige gezielte Behandlung (supportive Gespräche, Antidepressiva und/ oder Psychotherapie) ist erforderlich, um Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes zu verhindern. 44Soziale Unterstützung (Partner/Familie/frühe Hilfen etc.) wirkt entlastend und sollte bei Risikopatientinnen schon im Vorfeld organisiert werden.

Weiterführende Literatur Ayers S, Bond R, Bertullies S, Wijma K (2016) The aetiology of post-traumatic stress following childbirth: a meta-analysis and theoretical framework. Psychol Med 46: 1121–1134 Bergant A, Nguyen T, Heim K et al (1998) Deutschsprachige Fassung und Validierung der »Edinburgh postnatal depression scale«. Dtsch Med Wochenschr 123:35–40 Dorn A, Rohde A (2017) Die ängstliche Patientin in der Gynäkologie und Geburtshilfe. up2date Frauenheilkunde. im Druck Howard, Molyneaux E, Dennis C et al (2014) Non-psychotic mental disorders in the perinatal period. Lancet: 384: 1775–1788 O’Hara MW, McCabe JE (2013) Postpartum depression: current status and future directions. Annu Rev Clin Psychol 9: 379–407 Rohde A (2014) Postnatale Depressionen und andere psychische Probleme: Ein Ratgeber für betroffene Frauen und Angehörige (Rat & Hilfe). Kohlhammer, Stuttgart

18

Rohde A., Dorsch V, Schaefer C (2015) Psychisch krank und schwanger – geht das? Ein Ratgeber zu Kinderwunsch, Schwangerschaft, Stillzeit und Psychopharmaka (Rat & Hilfe). Kohlhammer, Stuttgart Rohde A, Dorsch V, Schaefer C (2016) Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit. Behandlungsprinzipien – Leitlinien – Peripartales Management. Thieme, Stuttgart Rohde A, Hocke A, Dorn A (2017) Gynäkologische Psychosomatik: Kompaktes Wissen – Konkretes Handeln. Schattauer, Stuttgart

289

Verkehrsunfall einer Schwangeren Jan-Thorsten Gräsner, Alexander Strauss

19.1

Falldarstellung – 290

19.1.1 19.1.2

19.1.5

Was sind die ersten Maßnahmen am Unfallort? – 290 Erinnern Sie sich noch an die Differenzialdiagnosen für eine Vigilanzstörung? Welche kommen hier infrage? – 292 Welche weitere medikamentöse Therapie ist noch in der präklinischen Phase notwendig? – 293 Welche Entscheidung zur radiologischen Diagnostik würden Sie treffen? Wie begründen Sie diese? – 293 Welche nächsten Schritte sind jetzt notwendig? – 294

19.2

Fallnachbetrachtung – 297

19.2.1 19.2.2

Präklinische Versorgung – 298 Innerklinische Vorgehensweise – 298



Weiterführende Literatur – 298

19.1.3 19.1.4

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_19

19

Kapitel 19 · Verkehrsunfall einer Schwangeren

290

19.1 Falldarstellung

Was geschah … ? Petra K. fuhr mit ihrem Pkw zur Arbeit. Es war ein schöner Wintermorgen, die Sonne schien bereits, und die eisigen Temperaturen sorgten für eine weiße Winterlandschaft. Petra war mit 25  Jahren jetzt zum ersten Mal schwanger, und in den letzten Wochen konnte man den »Schwangerschaftsbauch« bereits gut erkennen. Die 32. SSW war angebrochen, und bis auf gelegentliche Übelkeit verlief die Schwangerschaft problemlos. Heute Morgen hatte es Petra K. besonders eilig, da ein gemeinsames Frühstück in der Firma angesetzt war. Auf der Fahrt zur Arbeit verspürte Petra ein leichtes Unwohlsein, die Konzentration auf den Straßenverkehr war ungewohnt schwierig. Mit Tempo 80 km/h auf der Landstraße fuhr Petra K. über eine Brücke, die durch den morgendlichen Frühnebel vereist war. Sie verlor die Kontrolle über ihren Pkw und überschlug sich einmal. Direkt im Fahrzeug hinter Petra K. konnte ihr betreuender Frauenarzt seinen eigenen Pkw sicher zum Halten bringen. Er traf somit als kompetenter Ersthelfer unmittelbar nach dem Unfallereignis bei der Patientin ein. Ein weiteres Fahrzeug hielt an, und der Fahrer sicherte die Unfallstelle ab. Im Anschluss erfolgt die weitere systematische Untersuchung: Die Patientin ist ansprechbar, reagiert jedoch verlangsamt auf die Fragen des Ersthelfers. Die Atmung erscheint flach, die Atemfrequenz beträgt bei Auszählung 25/min. Der Puls kann schwach am Handgelenk, besser an der A.

carotis getastet werden. Die Herzfrequenz beträgt 130/min. Petra K. reagiert auf Ansprache, sie ist desorientiert und befolgt Anweisungen auf Aufforderung. Dies entspricht einer GCS von 14. Sie klagt über Schmerzen im Unterbauch und macht sich große Sorgen um ihr Kind.

19.1.1 Was sind die ersten Maßnahmen

am Unfallort?

In der Initialphase gilt es für jeden Ersthelfer, sich einen Überblick über das betroffene Unfallopfer zu verschaffen. Hierbei steht die Kontrolle der Vitalfunktionen im Vordergrund: diese sind Bewusstsein, Atmung und Kreislauffunktion. Die Beurteilung von Unfallopfern richtet sich für Ersthelfer nach einem einfachen Ablaufplan, für ausgebildetes medizinisches Personal stehen differenziertere Methoden zur Verfügung. Die Beurteilung der Bewusstseinslage erfolgt initial in Bewusstlos ja/nein. Eine differenziertere Beurteilung lässt die Glasgow Coma Scale (GCS) zu (. Tab. 19.1).

Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose? Unfallhergang und Symptome der Patienten weisen auf eine mögliche lebensgefährliche Verletzung hin. z z Risikofaktoren

Schwere Traumata bei Schwangeren sind bis zu 70% durch Verkehrsunfälle bedingt. Über 50% der erfassten Traumata beziehen sich auf das 3. Trimenon. In

. Tab. 19.1  Glasgow Coma Scale (GCS)

19

Punkte

Augen öffnen

Verbale Kommunikation

Motorische Reaktion

6





Befolgt Aufforderungen

5



Konversationsfähig, orientiert

Gezielte Schmerzabwehr

4

Spontan

Konversationsfähig, desorientiert

Ungezielte Schmerzabwehr

3

Auf Aufforderung

Unzusammenhängende Worte

Auf Schmerzreiz Beugesynergismen (abnormale Beugung)

2

Auf Schmerzreiz

Unverständliche Laute

Auf Schmerzreiz Strecksynergismen

1

Keine Reaktion

Keine verbale Reaktion

Keine Reaktion auf Schmerzreiz

291 19.1 · Falldarstellung

der Mortalitätsbetrachtung machen Traumata 16% aus. Bei polytraumatisierten Müttern beträgt das Risiko für einen fetalen Tod über 60%. Bei Verkehrsunfällen wird neben den tatsächlich erhobenen medizinischen Befunden auch der Unfallhergang in die Abschätzung des Risikos mit einbezogen. Hierbei haben der Unfallmechanismus, die Geschwindigkeit des Unfalls und die Verformung des Unfallfahrzeugs wegweisende Bedeutung.

Welchen weiteren Gefahren ist Petra K. unabhängig von den Verletzungen und dem Unfallmechanismus ausgesetzt? z z Hypothermie und der Einfluss auf die Blutgerinnung

Insbesondere bei kalten Außentemperaturen kommt es zu einer Unterkühlung der betroffenen Patientin. Der beschriebene Unfall ereignete sich bei Minusgraden, sodass in einem verunfallten Fahrzeug sitzende Betroffene rasch auskühlen. Eine Hypothermie ist ein unabhängiger Risikofaktor bei Schwerverletzten. Bei gleicher Verletzungsschwere ist das Letalitätsrisiko bei Patienten mit Hypothermie deutlich höher als bei normothermen Betroffenen. Bei Körpertemperaturen unter 35 °C ist dieses um den Faktor 3 erhöht. Durch die direkte Temperaturabhängigkeit des von-Willebrand-Faktors kommt es zu einer Abnahme der enzymatischen Aktivität der plasmatischen Gerinnungskomponenten. Ergänzend kommen Thrombozytenfunktionsstörungen sowie eine verstärke Fibrinolyse und eine nachfolgenden Koagulopathie hinzu. > Bei Patienten mit intraabdominellen Verletzungen spielt daher das bereits präklinisch durchgeführte Temperaturmanagement mit konsequentem Wärmeerhalt eine bedeutende Rolle.

Der Rettungsdienst trifft ein … Im weiteren Verlauf treffen der Rettungsdienst, der Notarzt sowie die Feuerwehr an der Einsatzstelle

19

ein und befreien Petra K. aus dem Unfallfahrzeug. Der Ersthelfer gibt sich als Frauenarzt zu erkennen und besteigt in Absprache mit dem Notarzt den Rettungswagen, in dem eine jetzt die notfallmedizinische Untersuchung der Patientin durchgeführt wird. Gemeinsam mit dem Notarzt werden folgende Befunde erhoben: 44 Die Atemwege sind frei, es liegen keine Verlegungen oder Risiken für eine Verlegung der Atemweg vor. 44 Die Atemfrequenz ist weiterhin mit 25/min erhöht. Der Auskultationsbefund ergibt ein seitengleiches Atemgeräusch, die Sauerstoffsättigung beträgt 96%. 44 Der Blutdruck beträgt 90 mmHg systolisch, der Puls 110/min (Hypotension mit Tachykardie). Der Blutdruck liegt somit unterhalb des normotonen Grenzwerts, sodass dieser als instabil bezeichnet werden muss. Die Rekapillarisierungszeit ist mit 4 s verlängert. 44 Der neurologische Status mit einer GCS von jetzt 13 bleibt pathologisch, die Pupillenreaktion weist jedoch keine pathologischen Befunde auf. 44 Die Patienten klagt über starke Unterbauchund jetzt auch Oberbauchschmerzen mit einer Stärke von 6/10 (analoge Schmerzskala). Die Medikamentenanamnese ist leer. Nebenbefundlich ergibt die Blutzuckermessung einen Wert von 45 mg/dl. Die Temperaturmessung zeigt eine Ohrtemperatur von 35,3 °C an.

Zur Beurteilung der Verletzungsschwere und an den notwendigen Maßnahmen orientiert haben sich in der Notfallmedizin standardisierte Vorgehensweisen bewährt. Das ABCDE-Schema erfasst und bewertet hierbei alle relevanten Funktionsstörungen. Wird auf einer bestimmten Prioritätenebene ein Problem erkannt, muss dieses sofort gelöst werden, bevor zur nächsten Prioritätenebene übergegangen wird.

292

Kapitel 19 · Verkehrsunfall einer Schwangeren

ABCDE-Schema 55Airway: –– Atemwege frei? –– Paradoxe Atembewegung –– Erhöhtes Risiko für Schwellung oder Verlegung? 55Breathing: –– Atmung ausreichend? –– Atemfrequenz ausreichend? –– Atemgeräusche,-arbeit? –– Monitoring 55Circulation: –– Kreislauf ausreichend? –– Farbe und Temperatur der Extremitäten –– Rekapillarisierungszeit (Nagelprobe) –– Puls, Blutdruck –– Lebensbedrohende Blutung stoppen –– Zugang i.v., Blutentnahme, EKG 55Disability: –– Neurologischer Status? –– Pupillengröße, Lichtreaktion –– Bewusstseinseinstufung z. B. Glasgow Coma Scale 55Exposure: –– Begleitende Verletzungen/ Erkrankungen? –– Blutzucker/Medikation –– Unfallmechanismus –– Untersuchung des vollständig entkleideten Patienten unter Wahrung seiner Würde –– Auf Wärmeerhalt achten

Beurteilung der aktuellen Gefährdung der Patientin und des Kindes Unter der 13. SSW schützt das knöcherne Becken Uterus und Fetus. Ab der 24. SSW besteht ein erhöhtes Risiko für eine direkte oder indirekte Uterusverletzung. Direkte Verletzungen sind selten und gehen mit einer hohen Letalität des Feten einher.

19

> Cave Generell und vordringlich besteht bei Schwangeren mit stumpfem Bauchtrauma das Risiko einer vorzeitigen Plazentalösung.

Diese violente Form der Abruptio placentae ist die häufigste Ursache für einen traumabedingten fetalen Todesfall.

Gefährdet sind bei Schwangeren mit einem stumpfen Bauchtrauma darüber hinaus die Harnblase sowie Harnleiter, Magen, Leber und Milz der Mutter. Beim Feten stehen Kopfverletzungen, Frakturen der Gliedmaßen sowie innere Blutungen im Vordergrund. Ergeben sich mehrere Verletzungen, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit lebensbedrohlich sind (Polytrauma-Definition), so liegt das Risiko für eine vorzeitige Plazentalösung 17-mal höher als bei gesunden Schwangeren. 19.1.2 Erinnern Sie sich noch an die

Differenzialdiagnosen für eine Vigilanzstörung? Welche kommen hier infrage?

Die bei Petra K. aufgetretene Verwirrtheit kann möglichweise durch die Hypoglykämie begründet sein. Auch besteht die Möglichkeit, dass die Hypoglykämie mitursächlich für den Verkehrsunfall gewesen sein kann. Eine direkte Therapie im Rettungswagen ist indiziert. Die bestehende Hypoglykämie wird mit 30 ml Glukose 40% therapiert. Dennoch sollten die weiteren Differenzialdiagnosen für Vigilanzminderungen nicht aus dem Auge verloren werden. Weiterer Verlauf … Nach der Beurteilung der Patientin und der Einstufung in eine potenziell lebensbedrohliche Situation erfolgt im Rettungswagen die Anlage von zwei peripher-venösen Zugängen. Gegen die bestehenden Schmerzen verabreicht der Notarzt 5  mg Morphin i.v. Bei der gemeinsamen Beurteilung des schmerzhaften und gespannten Abdomens bei gleichzeitiger Hypotension der Patienten durch Notarzt und Frauenarzt wird die Frage der Zielklinik diskutiert. Die Auswahl der Zielklinik richtet sich u. a. nach dem Schweregrad der Verletzungen, der Verfügbarkeit der notwendigen klinischen Ressourcen und der Transportzeit. Als Zielklinik für Petra K. wird die 15 Minuten

293 19.1 · Falldarstellung

Fahrtzeit entfernte Geburtsklinik ausgewählt. Es erfolgt eine standardisierte Voranmeldung. Das nächste Zentrum der Maximalversorgung wäre mit einer Fahrtzeit von 25 Minuten erreichbar.

19.1.3 Welche weitere medikamentöse

Therapie ist noch in der präklinischen Phase notwendig?

Als ein zentraler Befund wird bei Petra K. eine Hypotension mit Tachykardie – und somit ein klassisches Schockzeichen – festgestellt. Ein Volumenersatz ist in der präklinischen Phase nur mit Infusionslösungen, hierbei primär kristalloiden Infusionen, möglich. Blutprodukte stehen nicht zur Verfügung. Für die Infusionstherapie ergeben sich bei der vorliegenden unklaren Befundlage weitere Diskussionen zum gewünschten Zielblutdruck. Auf der einen Seite schadet eine unbehandelte Hypotonie Mutter und Fetus. Bei häufig vorbestehender Hypotonie und Kollapsneigung während der Schwangerschaft führt ein Blutverlust oder eine andere Ursache für eine ausgeprägte Hypotension zur zusätzlichen Gefährdung des Feten. Zum Teil kann ein drohender Sauerstoffmangel durch eine kompensatorisch wirkende bessere Sauerstoffaffinität des fetalen Hämoglobins ausgeglichen werden. Eine aggressive Blutdruckanhebung mittels Infusionen oder vasoaktiven Substanzen führt zwar zum gewünschten Blutdruckanstieg, birgt jedoch bei von extern nicht therapierbaren inneren Blutungen das Risiko für einen weiteren Blutverlust. Kombiniert mit den veränderten Gerinnungseigenschaften (7 Abschn. 19.1.2, Hypothermie) ergibt sich eine vor Ort nicht einschätzbare Gefährdungslage für Patientin und Fetus. So geht es weiter … Auf der Basis der Voranmeldung durch den Notarzt wird im Zielkrankenhaus der Schockraumalarm ausgelöst. Nach einem vorher definierten Protokoll werden bei diesem Stichwort unterschiedliche ärztliche und pflegerische Kollegen alarmiert. Das Schockraumteam, hier bestehend aus einem Facharzt für Anästhesiologie, einer Anästhesiepflegekraft, einem Unfallchirurgen sowie zweo Ambulanzpflegekräften, erwartet die Patientin.

19

Petra K. erreicht den Schockraum des Zielkrankenhauses 18  Minuten nach der Abfahrt von der Einsatzstelle. Das Schockraumteam übernimmt Petra K. mit einem GCS von 14, freien Atemwegen, einer Atemfrequenz von 20/min, einem Blutdruck von 100/60  mmHg, einer Herzfrequenz von 130/min, einem Schmerzlevel von 2/10 auf der analogen Schmerzskala und einer Körpertemperatur von 35,6 °C. Im Schockraum erfolgen eine Blutabnahme, die komplette Entkleidung der Patientin und die Versorgung mit einer Wärmedecke. Eine Abdomenübersichtssonographie wird vom anwesenden Allgemeinchirurgen durchgeführt und ergibt bei insgesamt eingeschränkten Ultraschallbedingungen keinen Hinweis auf freie Flüssigkeit im Abdomen. Die im Schockraumprotokoll vorgesehene CTUntersuchung von Schädel, Thorax, Abdomen, Becken und Oberschenkeln (»Polytraumaspirale«) führt zur Diskussion innerhalb des Schockraumteams. Hierbei werden diagnostischer Nutzen und Strahlenbelastung für den Feten gegenübergestellt. Zur Klärung dieser Frage wird Kontakt zur Leitung der Radiologischen Klinik aufgenommen.

19.1.4 Welche Entscheidung zur

radiologischen Diagnostik würden Sie treffen? Wie begründen Sie diese?

Untersuchungen mit ionisierender Strahlung sind in der Schwangerschaft zum großen Teil möglich. Auch eine CT-Untersuchung ist bei entsprechender Indikation stets vorzunehmen, da selbst die direkte abdominale/pelvine Strahlenexposition im Rahmen einer CT-Untersuchung den untersten Grenzwert der kindlichen Schädigungsdosis um 84% bzw. 50% unterschreitet (. Tab. 19.2, . Tab. 19.3).

Bildgebende Diagnostik bei Schwangeren Führend in der bildgebenden Diagnostik bei Schwangeren ist der Ultraschall. Weitergehende Diagnostik kann mittels MRT oder CT durchgeführt werden, wobei hier Zeitaufwand und potenzielle Gefährdung von Mutter und Fetus gegeneinander abgewogen werden müssen.

Kapitel 19 · Verkehrsunfall einer Schwangeren

294

. Tab. 19.2  Intrauterine Strahlendosis durch radiologische Diagnostik Untersuchung

Strahlendosis (mGy)

Thoraxröntgen (2 Ebenen)

< 0,01

Abdomenröntgen (1 Ebene)

1

LWS-Röntgen ( Ebene)

1

Wie geht es weiter …

Mammographie

< 0,05

ComputertomographieSchädel

< 0,005

ComputertomographieThorax

0,02–0,13

Computertomographie-­ Abdomen

8

ComputertomographieBecken

25

Skelettszintigraphie

5

In der Zielklinik besteht keine Möglichkeit für eine MRT Untersuchung. Während der Diskussionen über das Für und Wider einer CT-Untersuchung klagt Petra K. über zunehmende Unter- und Oberbauchschmerzen. Der neuerliche ansteigende Schmerz könnte durch die nachlassende Wirkung des präklinisch verabreichten Morphins begründet sein. Dennoch entscheidet sich das Team nicht für eine Repetitionsdosis des Schmerzmedikaments. Der Allgemeinchirurg führt daher eine erneute Ultraschalldiagnostik durch, die jedoch aufgrund eines stark druckschmerzhaften Abdomens nicht sicher durchgeführt werden kann. Petra K. weist bei der Untersuchung des Abdomens zusätzlich eine Abwehrspannung auf. Auf Befragen gibt Petra K. kolikartige Schmerzen an. Der Blutdruck beträgt jetzt 80/60 mmHg und die Herzfrequenz 130/min.

. Tab. 19.3  Intrauterine Strahlendosis und potenzielles fetales Schädigungsmuster (Koswig u. Börnert 2016)

19

die auftretende Röntgenstrahlung, die insbesondere beim Ganzkörper-CT zu einer nachfolgenden Dosisabschätzung führen sollte. 44Kontrastmittel sind, obwohl kein eindeutiger Nachweis ihrer Teratogenität vorliegt, kontraindiziert.

Strahlendosis (mGy)

Expositionszeitraum

Schädigungsmuster

≤ 100

≤ 8 SSW

Mikrozephalus

120–200

8–15 SSW

Reduktion von 20 IQ-Punkten

100

16–25 SSW

Reduktion von 13 IQ-Punkten

50–100

≤ 25 SSW

Fehlbildung, Abort

500–2000

Gesamte Schwangerschaft

Intrauterine Wachstumsrestriktion

44Ein MRT ist strahlungsfrei, erfordert jedoch neben der Verfügbarkeit eine längere Untersuchungszeit und eine entsprechende Kooperation seitens der Patientin. 44CT-Diagnostik in der Schwangerschaft wird in der Fachliteratur kontrovers diskutiert. Bei potenziell lebensbedrohlichen Situationen für die Mutter wird der schnelle diagnostische Gewinn höher bewertet als das Risiko durch

19.1.5 Welche nächsten Schritte sind

jetzt notwendig?

Was sollte parallel/nachfolgend durchgeführt werden?  Nicht nur die nachlassende Wirkung der

Analgesie, vielmehr die Möglichkeit einer Befundverschlechterung sind unmittelbar zu differenzieren. Mögliche Komplikation?  Abwehrspannung, akut auftretender abdomineller Schmerz und vermutete Wehentätigkeit in kurzem Abstand lassen eine vorzeitige Plazentalösung als Ursache möglich erscheinen.

Die nächsten Schritte … Aufgrund der akuten Verschlechterung der Situation telefoniert der Allgemeinchirurg mit dem diensthabenden Frauenarzt. Auf der Basis der klinischen Beschreibung stellt dieser bereits am Telefon die

295 19.1 · Falldarstellung

Indikation zur Cito-Sectio (Notsectio) bei hochgradigem V. a. traumatische vorzeitige Plazentaablösung. Petra K. wird auf der Notaufnahmeliege gemeinsam von Anästhesist und Anästhesieschwester in Richtung Kreissaal-OP gefahren. Auf der Fahrt wird Petra K. über die vermutete Situation und die geplanten operativen Maßnahmen aufgeklärt. Parallel zur Fahrt in den OP werden das OP-Team und ein weiterer geburtshilflicher Dienst alarmiert. Gemeinsam erwartet das OP-Team Petra K. an der Schleuse zum OP. Aufgrund der Einteilung als Cito-Sectio erfolgt im OP die direkte Umlagerung auf den OP Tisch. Die Narkose wird durch den begleitenden Anästhesisten unmittelbar begonnen. Innerhalb von 2  min sind das Abdomen und der Uterus quer eröffnet, und das Kind wird entwickelt. Nach unmittelbarer Übergabe an das bereitstehende neonatologische Team zur Erstversorgung zeigt das neugeborene Mädchen stabile Vitalparameter. Sie wiegt 2255 g und weist bei Apgar-Werten von 7/8/9 einen arteriellen Nabelschnur-pH-Wert von 7,29 auf. Schon gleich zu Operationsbeginn nehmen die Operateure in der Bauchhöhle blutige Flüssigkeit wahr. Nun, nach der Kindsentwicklung und bei der Inspektion des Uterus wird ein ca. 7 cm langer Riss der Gebärmutterwand im Fundus-Bereich erkennbar. Hieraus kommt es zu deutlichem Blutaustritt in das Abdomen. Zu diesem Zeitpunkt wird der bisherige Blutverlust auf ca. 2000 ml geschätzt. Die notfallmäßig durchgeführte Laborkontrolle weist als ersten Wert einen mütterlichen Hb von 3,4 mmol/l aus. Dies veranlasst den Anästhesisten zur Transfusion von zwei noch ungekreuzten Erythrozytenkonzentraten. Zusätzlich wurden 2  g Tranexamsäure und sowie 2  g Fibrinogen verabreicht. Mit myometran durchgreifender Naht wird die blutende Uterusrupturstelle zweischichtig verschlossen und die Blutung aus der Gebärmutterwand wie auch von der Plazenta-Insertionsstelle durch hochdosierte Kontraktionsmittelbehandlung (Oxytocin-Infusion mit 120 ml/h) zum Sistieren gebracht. Nach 90  min Operationszeit und einem schichtgerechten Verschluss aller operationsrelevanten Schichten kann Frau K. aus dem geburtshilflichen OP zur weiteren Überwachung auf die anästhesiologische Intensivstation verlegt werden. Mit der

19

zusätzlichen Verabreichung von 4 weiteren Erythrozytenkonzentraten, 4 Thrombozytenkonzentraten und 2 FFP-Infusionen kann in der Zwischenzeit eine klinische Stabilisierung des traumatischen/hypovolämischen Schockzustands von Frau K. erreicht werden. Ihre kleine Tochter wird derweil mit C-PAPAtemunterstützung versehen und zur weiteren Betreuung auf die Neugeborenen-Intensivstation aufgenommen. Postoperativ wird Petra K. extubiert auf die operative Intensivstation verlegt.

Trauma in graviditate 7% aller Schwangeren erleiden koinzident zu ihrer Gravidität ein Trauma. Die Hälfte der Ereignisse entfällt dabei auf das letzte Schwangerschaftsdrittel, was verdeutlicht, dass einerseits die körperlichen Gegebenheiten der Spätschwangerschaft das Traumarisiko erhöhen und andererseits Ereignisse von den Patientinnen verstärkt berichtet und damit als abklärungswürdig empfunden werden. Die häufigsten Ursachen sind 44Verkehrsunfälle (Lenkrad, schlecht sitzender Sicherheitsgurt) 54%, 44Stürze (veränderte Körperform, ­schwangerschaftsbedingte Kreislaufdysregulation) 29% 44Gewaltausübung (häusliche Übergriffe, sexuelle Straftaten, Gewaltverbrechen) 17%, 44Verbrennung und Verbrühungen sind selten. Mit einem Anteil von 20% an Todesfällen schwangerer Frauen stellen Traumata die häufigste nichtgeburtshilfliche mütterliche Todesursache dar. Bis zur 12. SSW ist der Uterus durch das knöcherne Becken gut geschützt, sodass eine direkte Gewalteinwirkung auf die Gebärmutter erst ab Beginn des 2. Trimenons traumatologisch relevant wird. Neben der unmittelbaren Verletzung des Kindes (selten) können sich in der Spätschwangerschaft vorzeitige Wehentätigkeit, vorzeitige Plazentalösung (bei leichtem Trauma 1–5% – fetale Mortalität 1–5%, bei schwerem Trauma 40–50% – fetale Mortalität 40–50%) oder Uterusruptur nachteilig auf den Schwangerschaftsverlauf auswirken.

296

Kapitel 19 · Verkehrsunfall einer Schwangeren

Trauma in graviditate: Folgen und zugehörige Symptomatik 55Vorzeitiger Blasensprung: Klinischer/ laborchemischer Nachweis 55Vorzeitige Plazentalösung: –– Vermehrte Tonisierung/ Schmerzhaftigkeit des Uterus –– Wehentätigkeit –– Brady-/Tachykardie, (späte) Dezelerationen, verminderte Oszillation der FHF (Zeichen fetaler Hypovolämie) –– Vaginale Blutung –– Maternale Hypovolämie (intrauterine Blutung) 55Uterusruptur: –– Schmerzhaftigkeit des Uterus –– Akute Wehenlosigkeit/uteriner Tonusverlust –– Vaginale Blutung –– Vorzeitige Plazentalösung –– Maternale Hypovolämie (intraabdominelle Blutung) –– Brady-/Tachykardie, (späte) Dezelerationen, verminderte Oszillation der FHF (Zeichen fetaler Hypovolämie) 55Mütterliche Traumafolgen: –– Knochenbruch –– Verletzung parenchymatöser Organe –– Intraabdominelle/intrathorakale Blutung –– Harnblasenverletzung (Makrohämaturie, Unterbauchschmerzen, Peritonitis, Anurie, Anstieg der Retentionsparameter)

19

An spezifisch geburtshilflicher Überwachung ist nach einem Trauma in der Schwangerschaft eine kontinuierliche CTG-Überwachung über 4 h (Ausschluss vorzeitige Wehen, vorzeitiger Blasensprung, vorzeitige Plazentalösung, Uterusruptur, direkte fetale Kompromittierung) angezeigt. Bei auffälliger kindlicher Herzfrequenz oder regelmäßiger Wehentätigkeit (< 3 Kontraktionen/h), persistierenden Uterusdruckschmerzen, vaginaler Blutung, vorzeitigem Blasensprung und/oder besonders schwerem mütterlichen Trauma steigt dabei das Risiko für eine

vorzeitige Abruptio placentae (bis 20%). In diesen Fällen empfiehlt sich daher die Verlängerung der geburtshilflichen Überwachung und in Abhängigkeit des Schweregrads der Notfallsituation ggf. die Beendigung der Schwangerschaft. Die Therapie traumatisierter Schwangerer ist interdisziplinär (Anästhesie, Pädiatrie, Notfallmedizin, Traumatologie, Unfall- und Allgemeinchirurgie, Neurochirurgie) anzulegen. > Im Rahmen der Diagnostik (Bildgebung) und Therapie sind dabei klare Prioritäten zu setzen: zuerst die Mutter, dann das Kind.

44Eine Stabilisierung der mütterlichen Vitalfunktionen erfolgt gemäß den Therapiealgorithmen der Notfallmedizin (inkl. kardiopulmonale Reanimation, Volumen- und Elektrolytsubstitution). 44Die Patientin ist in Linksseitenlagerung ­(Vena-cava-Kompressionssyndrom) zu überwachen. 44Bei bewusstloser Patientin ist aufgrund der Aspirationsgefahr die Indikation zur endotrachealen Intubation gegeben. 44In Abhängigkeit vom (fortgeschrittenen) Gestationsalter (>24 + 0 SSW) und einer entsprechenden fetalen Gefährdung ist eine notfallmäßige Entbindung durch Sectio caesarea vorzunehmen. 44Bei mütterlichem Kreislaufstillstand und (potenziell) überlebensfähigem Fetus (Reife und Nachweis fetaler Lebenszeichen) ist ein Peri-mortem-Kaiserschnitt für das Kind u. U. (sehr kurzer Zirkulationsstillstand, < 5 min) lebensrettend. 44Vor Erreichen der kindlichen Lebensfähigkeit ex utero (24. SSW) oder bei avitalem Fetus richtet sich die Betreuung dagegen ausschließlich nach den mütterlichen Erfordernissen.

Uterusruptur Eine Uterusruptur kompliziert 0,03–0,08% aller Schwangerschaften. Dabei ist eine hohe mütterliche (10%) wie auch kindliche Mortalität (bis 50%) zu erwarten. Ätiologisch ist die Einteilung in 4 Untergruppen möglich:

297 19.2 · Fallnachbetrachtung

Uterusruptur – Einteilung 55Überdehnungsruptur: –– Kephalopelvines Missverhältnis, fetale Makrosomie –– Hoher Geradstand –– Kindliche Querlage –– Armvorfall sub partu –– Polysystolie, hypertone Wehentätigkeit (Wehensturm) –– Weichteildystokie –– Fetale Fehlbildung (z. B. Hydrozephalus, Tumor) 55Narbenruptur: –– Z. n. Sectio –– Z. n. Myomenukleation –– Z. n. traumatisierender Kürettage (Perforation) 55Violente Ruptur: –– Geburtshilfliche Operation –– Unfall (z. B. Kfz) –– Stumpfes oder scharfes (Unter-) Bauchtrauma 55Spontanruptur: –– Plazentationsstörung (Plazenta percreta/ increta) –– Uterusfehlbildung –– Endometriose, Adenomyosis –– Intramurale Abszessbildung

Durch die Uterusruptur kommt es zur intraperitonealen Blutung in die Bauchhöhle. Vom vollständigen Durchreißen der Gebärmutterwand ist eine inkomplette Form, »gedeckte« Uterusruptur (Peritoneum viscerale bleibt erhalten, Rupturstelle extraperitoneal), abzugrenzen. Diese Form der »stillen« Uterusruptur kann a-/oligosymptomatisch verlaufen. Einer peripartal drohenden Uterusruptur geht eine massive Schmerzhaftigkeit des unteren Uterinsegments, eine Zunahme der Wehentätigkeit (Wehensturm) und ein Hochsteigen der Bandl-Furche voran. Leitsymptome der stattgefundenen Ruptur sind dagegen 44ein akuter Zerreißungsschmerz mit abdomineller Abwehrspannung, 44ein schlagartiges Sistieren der Wehentätigkeit und

19

44eine sich rasch entwickelnde mütterliche hämorrhagische Schocksymptomatik (Blässe, Unruhe, Dyspnoe Kollaps). Fakultativ können Kindsteile in der Bauchhöhle der Mutter tastbar sein, oder es kann eine vaginale Blutung auftreten. Kardiotokographisch ist die kindliche Herztonregistrierung durch akute Hypoxiezeichen (Dezelerationen, Bradykardie) gekennzeichnet und die Wehenkurve durch den vollständigen Wegfall des intrakavitären Tonus der Gebärmutter (intrauterine Drucksonde). Die Akuttherapie der Uterusruptur umfasst 44die sofortige Tokolyse (intrauterine Reanimation des Feten), 44die Schockbekämpfung bei der Mutter (O2-Gabe, Substitution von Flüssigkeit und Blutbestandteilen) und 44die umgehende Laparotomie mit Kindsentwicklung und Wundrevision des Uterus. Eine Prophylaxe mittels primärer oder sekundärer Sectio kann in Einzelfällen im Gefolge engmaschiger klinischer Kontrollen und durch die Beachtung etablierter Risikofaktoren möglich werden. Das Ende des Falls … 24 Stunden nach dem Autounfall kann Petra K. die Intensivstation wieder verlassen. Sowohl die Kreislaufparameter als auch die Blut- und Gerinnungswerte haben sich stabilisiert. Petra K. wird auf die Wöchnerinnenstation der geburtshilflichen Klinik übernommen und kann am 7. postoperativen Tag zusammen mit ihrer Tochter die Klinik verlassen.

19.2 Fallnachbetrachtung

2 Wochen nach dem geschilderten Einsatz übergibt das Rettungs- und Notarztteam einen leicht verunfallten Radfahrer an die gleiche Klinikbesatzung. Nach rascher Naht der Platzwunde des »helmlosen« Radlers ist noch Zeit für eine kurze kritische Nachbetrachtung des Unfalls von Petra K. und des präklinischen und klinischen Verlaufs. Es wird diskutiert, welche medizinischen und organisatorischen Fehler sind in dem geschilderten Fall aufgetreten sind.

298

Kapitel 19 · Verkehrsunfall einer Schwangeren

19.2.1 Präklinische Versorgung

Der Rettungsdienst hat unter dem Stichwort »Polytrauma nach Verkehrsunfall« eine schwangere Patientin versorgt. In der vorliegenden Situation war der betreuende Frauenarzt gleichzeitig der ersteintreffende Laienhelfer und wurde in die Diagnose und Therapie der Patientin miteinbezogen. Die systematische Vorgehensweise des Rettungsdienstes brachte zusätzlich zur Verdachtsdiagnose »akutes Abdomen« nebenbefundlich auch die vermutete Ursache des Unfalls, die Hypoglykämie aufgrund mangelnder Nahrungsaufnahme bei gleichzeitigem Stress, hervor. Die Kombination aus Polytrauma und Schwangerschaft ist eine für den Rettungsdienst seltene Situation. Die Voranmeldung in der Klinik mit dem Hinweis auf eine schwangere Patientin erfolgte korrekt. Dennoch hätte der vor Ort anwesende Frauenarzt die Thematik einer möglichen traumatischen vorzeitigen Plazentalösung oder Uterusruptur als Differenzialdiagnose formulieren können. Die Auswahl der Zielklinik richtet sich, wie angemerkt, nach den möglichen Behandlungsoptionen auf der einen und der entsprechenden Entfernung und daraus folgenden Fahrzeit auf der anderen Seite. Bei vermuteten 10 min Zeitdifferenz zwischen einer Klinik der Schwerpunktversorgung und einem Zentrum der Maximalversorgung hätte die Auswahl zugunsten des Universitätsklinikums erfolgen sollen (Transportzeitverlängerung sind bis 15 min akzeptabel). Erfahrungsgemäß stehen in Zentren der Maximalversorgung sowohl umfangreichere Diagnostikmöglichkeiten (z. B. MRT) als auch weitere Fachabteilungen (Pädiatrie, Neonatologie) direkt zur Verfügung. Zudem ist der innerklinische Zeitbedarf für Transporte/Herstellen adäquater Logistik mit in Rechnung zu stellen. 19.2.2 Innerklinische Vorgehensweise

19

Eine Schockraumanmeldung durch den Rettungsdienst löste in der Aufnahmeklinik einen vorher definierten Ablauf aus. Hierzu zählt insbesondere die Bereitstellung der entsprechenden personellen Ressourcen. Beim Hinweis auf eine schwangere Patientin mit abdomineller Symptomatik und Schockzeichen

hätte das übliche Schockraumteam von Beginn durch mit einem Fachkollegen aus der Geburtshilfe ergänzt werden müssen. Hierdurch hätte die fach- und organspezifische Ultraschalluntersuchung durch einen bei schwangeren Patientinnen erfahrenen Untersucher sichergestellt werden können. Da präklinisch keine gezielte Untersuchung des Kindes erfolgte, bestand sehr lange Unklarheit über die Vitalwerte des Kindes. Die Diagnosestellung und die Indikation zur Sectio hätte somit früher erfolgen können. Die Entscheidung, die Patientin zur Sectio in den OP zu verbringen, bedingt u. U. für den Feten einen kostbaren Zeitverlust. Hierbei spielen innerklinische Transportwege und Zeiten ebenso eine Rolle wie die Möglichkeiten zur operativen Versorgung im Schockraum. Erschwerend kommt bei einer Notsectio hinzu, dass auch Behandlungsmöglichkeiten für das Neugeborene vorhanden sein müssen. Insofern ist die Entscheidung zur Verlegung in den Kreißsaal-OP und die Durchführung der Entbindung in für das operative Team vertrauten Rahmenbedingungen zwar nachvollziehbar, sie wäre in einer Einrichtung der Maximalversorgung aber wahrscheinlich zu vermeiden gewesen. Allerdings stellt jeglicher innerklinische Transport für Mutter und Kind ein potenzielles Risiko dar. Im konkreten Fall resultiert der »nachvollziehbare« Transport in den Kreißsaal aus der falschen Klinikwahl (Verkettung von Nachteilen) und der nicht auf diese Situation eingestellten Schockraumausstattung. Die Entscheidung gegen eine Repetitionsdosis des Analgetikums und für eine sonographische Nachuntersuchung ist nicht nachvollziehbar. Im modernen Versorgungskonzept sollten beide Maßnahmen parallel erfolgen. > Eine Zurückhaltung bei der Analgesie zur besseren Beurteilung der Schmerzursache ist aus heutiger Sicht obsolet.

Weiterführende Literatur Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) (2016) AWMF S2k-Leitlinie 015-063. Peripartale Blutungen, Diagnostik und Therapie. http://www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/015-063l_S2k_Peripartale_Blutungen_Diagnostik_Therapie_PPH_2016-04.pdf

299 Weiterführende Literatur

Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (2016) S3 – Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung. AWMF Register-Nr. 012/019. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ ll/012-019.html Koswig S, Börnert C (2016) Strahlentherapie in der Schwangerschaft. Prakt Gynäkol Geburtshilfe 21: 38–46 Strauss A (2017) Polytrauma bei Schwangeren – gibt es da auch was als Standard? J Anästhesie Intensivbehandlung 2: 102–112 Strauss A, Gräsner JT, Ohnesorge H, Sanders L (2012) Geburtshilfliche Notfälle II – Perinatale Gefahrensituationen. Notarzt 28: 259–272

19

301

Sepsis in der Schwangerschaft Holger Maul

20.1

Falldarstellung – 302

20.1.1 20.1.2 20.1.3 20.1.4 20.1.5

Wie interpretieren Sie die Befunde? – 302 Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? Gibt es Risikofaktoren? – 303 Welche Aufklärungspflichten bestehen? – 304 Welche therapeutischen Optionen ergeben sich? – 305 Welche maternalen Komplikationen könnten bei ­Amnioninfektionssyndrom auftreten? – 308 Welche Methoden zur Diagnostik könnten jetzt noch infrage kommen? – 308 Wie bewerten Sie den Verlauf nach Erhalt der Histologie? – 311 Welche Maßnahmen würden Sie in einer weiteren Schwangerschaft vorschlagen? – 312

20.1.6 20.1.7 20.1.8

20.2

Fallnachbetrachtung – 312



Weiterführende Literatur – 313

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_20

20

302

Kapitel 20 · Sepsis in der Schwangerschaft

20.1 Falldarstellung

Was geschah …

20

Frau Baum war aufgeregt und traurig zugleich, sie weinte. Jahrelang hatten sie und ihr Mann sich Kinder gewünscht und nichts unversucht gelassen. Sie verschwieg anderen gegenüber gerne, dass sie durch In-vitro-Fertilisation und intrazytoplasmatische Spermieninjektion in Spanien dann doch noch schwanger geworden war – ihre erste Schwangerschaft mit nun 39 Jahren. Frau Baum war nie ernsthaft krank gewesen, die Schwangerschaft war bis jetzt in Woche 23 + 5 ohne Probleme verlaufen. Doch vor 2 Tagen, da hatte sie so ein »Druckgefühl nach unten« verspürt, gelegentlich wurde auch die Gebärmutter hart. Frau Baum hatte Angst und ließ sich sofort in das nächstgelegene, kleinere Krankenhaus bringen. Dort hatte man ihr ohne große Rücksicht auf ihre psychische Situation und in Unkenntnis ihrer Vorgeschichte gesagt »Der Zug ist wohl abgefahren«, und ihr nach einer Spiegeleinstellung mitgeteilt, dass die Fruchtblase wohl schon in der Scheide zu sehen, also in Kürze mit einer Frühgeburt zu rechnen sei. Als daraufhin Frau Baum ihren Mann, der sich auf Dienstreise befand, über die Situation informierte, konnte sie vor Erregung kaum sprechen: beide waren sich einig, es sollte alles für ihr Baby getan werden. Die diensthabende Oberärztin des Krankenhauses begann dann nach kurzem Aufklärungsgespräch auch sofort mit der Lungenreifeinduktion (Betamethason 12 mg i.m.), einer tokolytischen Therapie (Fenoterol 2 µg/min) und der Gabe von Magnesiumsulfat zur fetalen Neuroprotektion (5  g als Bolus, 1 g/h als Erhaltungstherapie), da sie davon ausging, dass das Kind innerhalb der nächsten 24 Stunden zur Welt kommen würde. Ungeachtet der frühen Morgenstunde, es war 5 Uhr, informierte die Oberärztin ihren Chef, der die sofortige Verlegung von Frau Baum in das nächstgelegene Perinatalzentrum anordnete. Bevor der Transport erfolgte, schaffte es Frau Baum noch, ihren Mann über die Verlegung zu informieren. Dann ging alles ganz schnell; ca. 15  Minuten später traf Frau Baum in dem Klinikum mit angeschlossenem Perinatalzentrum ein, sie wurde im

Kreißsaal sofort von der Oberärztin Frau Dr. Wente, die bereits über die Situation informiert war, sowie von Hebamme Katharina begrüßt. Frau Dr. Wente erklärte Frau Baum, dass sie sich jetzt erst einmal selbst ein genaues Bild machen müsse und erklärte ihr die Untersuchungsschritte. Aufnahmeuntersuchung Uterus am Nabel, tonisiert, fetale Herzfrequenz auskultatorisch ca. 160/min, Blutdruck der Mutter 130/80 mmHg, Herzfrequenz 90/min. Dann erfolgt die Spekulumeinstellung: hier lässt sich etwa 3 cm kranial des Hymenalsaums die die gesamte Scheide ausfüllende Fruchtblase darstellen. Die Portio selbst ist nicht sichtbar, da sie von der Fruchtblase überdeckt wird. Innerhalb der Fruchtblase lassen sich »Flocken« erkennen, die die Oberärztin als sog. »Sludge« deutet (Zelldetritus und Entzündungszellen). Das Fruchtwasser erscheint grünlich-tingiert, leicht blutiger Schleim hängt von der vorderen Muttermundlippe über die Fruchtblase hinab in die Scheide. Die Oberärztin entnimmt mit aller Vorsicht mikrobiologische Abstriche, Hebamme Katharina hat inzwischen die Temperatur von Frau Baum gemessen, sie beträgt 36,8 °C. Die Oberärztin legt einen Venenzugang und entnimmt Blut für die Laboruntersuchungen. Kurz darauf erklärt sie Frau Baum, dass sie zusätzlich noch eine Ultraschalluntersuchung durchführen will. Der kleine Junge liegt in dorsosuperiorer Querlage, die Füßchen des Kindes, die sich lebhaft bewegen, befinden sich unmittelbar vor dem eröffneten inneren Muttermund. Das sonographische Schätzgewicht beträgt ca. 600 g.

20.1.1 Wie interpretieren Sie

die Befunde?

Sonographische Befunde  Darstellung in . Abb. 20.1. In dieser Situation vorrangige Laborparameter Die Temperatur von Frau Baum liegt bei 36,8 °C. Frau Baum ist sehr aufgeregt, die Herzfrequenz liegt bei 92 SpM. Das C-reaktive Protein (CRP) liegt bei 15,6 mg/l (normal bis 5 mg/l). Die Leukozyten im mütterlichen Blut sind bei 20,4 G/l (normal bis 10,4 G/l).

303 20.1 · Falldarstellung

a

20

b

. Abb. 20.1  a Koronarschnitt: Hinter der Harnblase ist die in die Scheide prolabierende Fruchtblase als fast kreisrunde echoarme Struktur sichtbar. Die Blasenfüllung trägt mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dazu bei, dass die Fruchtblase nicht noch weiter nach kaudal prolabiert. b Longitudinalschnitt: Auf dem Grund der prolabierenden Fruchtblase lässt sich vermutlich Sludge zur Darstellung bringen. Er imponiert als echoreiche, inhomogene, leicht aufzuwirbelnde Struktur. Sludge besteht aus Leukozyten und Detritus. Differenzialdiagnostisch ist immer auch an Mekonium (im vorliegenden Fall ist das durch die Fruchtblase schimmernde Fruchtwasser tatsächlich grün) oder an Vernix caseosa zu denken

20.1.2 Was ist Ihre Verdachtsdiagnose?

Gibt es Risikofaktoren?

Bei Frau Baum besteht eine akut drohende Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit. Aufgrund des fortgeschrittenen Befunds besteht außerdem der hochgradige Verdacht auf eine Infektion der Eihäute, der Dezidua und möglicherweise auch des Fruchtwassers sowie des Feten. Aus der Anamnese ergeben sich als Risikofaktoren für das Vorliegen einer intraamnialen Infektion 44die Nulliparität, 44eine offensichtlich schon längere Zeit bestehende überwiegend subklinische Wehentätigkeit und 44das aller Wahrscheinlichkeit nach auch mekoniumhaltige Fruchtwasser. Weitere typische Risikofaktoren wie Blasensprung, sexuell übertragbare Erkrankungen oder Nikotinoder Alkoholabusus liegen nicht vor. Auch eine bakterielle Vaginose besteht nicht. Das Nativpräparat zeigt zwar reichlich Leukozyten im Vaginalabstrich und eine nur spärliche Besiedelung mit stäbchenförmigen Bakterien (DöderleinFlora), jedoch – auch zum Erstaunen von Oberärztin Wente – ansonsten normale Vaginalepithelien.

Clue cells sind auch bei längerer Durchsuchung des Objektträgers unter dem Mikroskop nicht zu finden. Das Screening auf Chlamydien war am Anfang der Schwangerschaft erfolgt und ergab einen negativen Befund. Über B-Streptokokken, Ureaplasmen oder Mykoplasmen kann zum Zeitpunkt der Aufnahme keine Aussage getroffen werden, da mit ersten Ergebnissen der Abstriche frühestens nach 2–3 Tagen zu rechnen ist.

Definition: intraamniale Infektion (IAI) 55Infektion von Fruchtwasser, Eihäuten, Plazenta, Dezidua 55Manifeste oder subklinische Infektion 55Ex post: histologisch gesicherte ­Chorioamnionitis (kann auch nichtinfektiös sein) 55Eine der Hauptursachen für peripartales mütterliches Fieber 55Assoziiert in 20–40% aller Fälle mit neonataler Sepsis 55Assoziiert mit periventrikulärer Leukomalazie und spastischer Zerebralparese (überschießende fetale Immunreaktion?)

304

Kapitel 20 · Sepsis in der Schwangerschaft

. Tab. 20.1  Klinisches Erscheinungsbild einer intraamnialen Infektion Fieber ≥ 37,8 °C bzw. ≥ 38,0 °C

100% der Fälle, da ­Voraussetzung für die Diagnose

Uteriner Druckschmerz

4–25%

Maternale Tachykardie > 100/min

50–80%

Fetale Tachykardie > 160/min

40–70%

Übelreichender Ausfluss

Variabel

Leukozyten > 12/15 G/l

79–90%, Einfluss der Lungenreifeinduktion

Bakteriämie

Insgesamt 5–10%

– GBS

– 18%

– E. coli

– 15%

Laktatazidämie

Sepsiszeichen, ungünstiges maternales Outcome

GBS Gruppe-B-Streptokokken.

. Tab. 20.1 gibt einen Überblick über das klinische Erscheinungsbild einer intraamnialen Infektion.

Epidemiologie der intraamnialen Infektion Höchste Inzidenz bei (drohender) Frühgeburt 55Inzidenz abhängig vom Gestationsalter und vom klinischen Verlauf 55PPROM (preterm premature rupture of membranes, vorzeitiger Blasensprung) –– < 27 SSW: 41% –– 28–36 SSW: 15% –– > 36 SSW: 2% 55IAI ist assoziiert mit –– 1/3 der Fälle von vorzeitiger Wehentätigkeit –– 40% der Fälle von PPROM –– 75% der Fälle von PPROM, die nach Aufnahme Wehen entwickeln

20

So geht es weiter … Der Mann von Frau Baum bricht seinen geschäftlichen Termin sofort ab, und es gelingt ihm bereits

2 Stunden nach der Information durch seine Frau, direkt in das Perinatalzentrum zu kommen. Kurz vor Abschluss der Aufnahmeuntersuchung durch Oberärztin Wente trifft Herr Baum in der Klinik ein. Seine erste Frage lautet: »Wie geht es denn nun weiter?«

20.1.3 Welche Aufklärungspflichten

bestehen?

> Frau Baum hat zwar bereits maximalen Therapiewunsch angegeben, es ist aber sicherzustellen, dass sie auch verstanden hat, welche Folgen mit dem Wunsch nach Maximaltherapie einhergehen.

Es sollten mit ihr und ihrem Mann folgende Themen in aller Ausführlichkeit besprochen werden: 44Bei 23 + 5 SSW befindet sich die Schwangerschaft in einem Bereich, bei dem in Deutschland im Fall der Geburt provisional care möglich ist, d. h. zunächst provisorische Versorgung mit der jederzeitigen Möglichkeit des Therapieabbruchs. Die Eltern können sich aber auch bewusst gegen ein solches Vorgehen entscheiden. Die Überlebenschancen liegen zwar in dieser Schwangerschaftswoche bei inzwischen etwa 80%, die Wahrscheinlichkeit für ein völlig gesundes Überleben des Kindes ist aber sehr gering (. Tab. 20.2). Bei etwa der Hälfte der überlebenden Kinder ist mit mehr (z. B. spastische Zerebralparese) oder weniger (z. B. Lernbehinderung, Autismus) schwerwiegenden Behinderungen zu rechnen, die u. U. lebenslange intensive Betreuung erfordern. Die Prognose wird dadurch verschlechtert, dass die Induktion der Lungenreife mit Betamethason höchstwahrscheinlich nicht abgeschlossen werden kann und dass selbst im Fall ihrer Komplettierung ein erhebliches Risiko für eine auch das Kind betreffende intrauterine Infektion besteht. 44Im Fall der unbedingten Entscheidung zur Maximaltherapie ist das Spektrum der Therapiemaßnahmen eng und nicht evidenzbasiert. Praktisch alle Maßnahmen sind

20

305 20.1 · Falldarstellung

. Tab. 20.2  Risikoeinschätzung mithilfe des NICHD-Algorithmus ohne und mit Lungenreifeinduktion (bezogen auf den Fall Baum) Outcome

Ohne Lungenreifeinduktion

Mit Lungenreifeinduktion

Alle Kinder

Mechanisch beatmete Kinder

Alle Kinder

Mechanisch ­beatmete Kinder

Überleben

30%

37%

48%

52%

Überleben ohne tiefgreifende entwicklungsneurologische Beeinträchtigung

18%

22%

32%

34%

Überleben ohne moderate bis schwere entwicklungsneurologische Beeinträchtigung

10%

11%

18%

20%

Tod

70%

63%

52%

48%

Tod oder tiefgreifende entwicklungsneurologische Beeinträchtigung

82%

78%

68%

66%

Tod oder moderate bis schwere entwicklungsneurologische Beeinträchtigung

90%

89%

82%

80%

in ihrer Wirkung nicht in ausreichendem Maße durch Studien abgesichert, und man bewegt sich bei der medikamentösen Therapie (s. unten) praktisch ausnahmslos außerhalb der Zulassung (off label). Verbindliche Standards für diese Situation liegen folglich nicht vor. In derartigen Situationen kommt der klinischen Erfahrung des betreuenden Geburtshelfers (good clinical practice) wegweisende Bedeutung zu, wie im Folgenden dargestellt wird. 44Unabhängig von der geburtshilflichen Problemstellung sollte ein neonatologisches Beratungsgespräch (für die betroffene Patientin, ihre Angehörigen, aber auch die betreuenden Gynäkologen) durchgeführt werden. In diesem Gespräch sollte auch die palliative Versorgung des Frühgeborenen gegenüber den Eltern angesprochen werden. Eine Hilfestellung zur Beratung der Eltern ist online verfügbar über das NICHD Neonatal Research Network (NRN): Extremely Preterm Birth Outcome Data (https://www.nichd.nih.gov/about/org/der/ branches/ppb/programs/epbo/pages/epbo_case.aspx) (. Tab. 20.2).

20.1.4 Welche therapeutischen

Optionen ergeben sich?

z Tokolyse

Die zur Neuroprotektion bereits zum Einsatz gebrachte hochdosierte Magnesiumsulfatinfusion wirkt auch tokolytisch. Der Einsatz der Tokolytika Partusisten (Fenoterol) und Tractocile (Atosiban) kann und sollte zusätzlich erwogen werden (ggf. Aufklärung über die Anwendung außerhalb der Zulassung (off-label use): Partusisten ist ab 22 + 0 SSW zugelassen, Tractocile ab 24 + 0 SSW). Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang die immer wiederkehrende Diskussion, dass gerade bei V. a. intrauterine Infektion eine Wehenhemmung dazu beitragen kann, Infektionszeichen zu maskieren und die Infektion zu verschleppen oder diese entweder nicht rechtzeitig zu erkennen oder sogar zu aggravieren. Diese Zusammenhänge sind aber bisher nicht bewiesen. Nach klinischen Erfahrungen des Autors ist nicht davon auszugehen, dass eine tokolytische Therapie die Symptome einer intrauterinen Infektion verschleiert. Vielmehr hat der Autor die Erfahrung gemacht, dass Wehen trotz tokolytischer Therapie die Diagnose »intrauterine Infektion« eher erhärten, während ein gutes Ansprechen auf die Therapie eine schwere Infektion eher unwahrscheinlich macht.

306

Kapitel 20 · Sepsis in der Schwangerschaft

Da weder Fenoterol noch Atosiban antiinflammatorisch wirken, könnte der zusätzliche oder alternative Einsatz des Prostaglandinsyntheseinhibitors Indometacin mit antiinflammatorischer Wirkung zur Wehenhemmung infrage kommen (Dosierung: oral/ rektal: initial 50–100 mg; 25 mg alle 4–6 h für 48 h). Auch die Kombination von Magnesium, Fenoterol (oder Atosiban) und Indometacin hält der Autor in einer derartigen Extremsituation ausnahmsweise für gerechtfertigt. Der Einsatz von Nifedipin in Kombination mit hochdosiertem Magnesium kann Einzelberichten zufolge lebensbedrohliche kardiale und pulmonale Komplikationen (Lungenödem) zur Folge haben. Auf die Infusion von Magnesium allerdings zu verzichten, hält der Autor aufgrund der nachgewiesenen neuroprotektiven Wirkung (Evidenzlevel I) nicht für vertretbar.

Antibiotika Der Einsatz von Antibiotika bei erhaltener Fruchtblase ist umstritten. Im vorliegenden Fall bei prolabierender Fruchtblase ist sie aber nach Auffassung des Autors notwendig. Aufgrund der Assoziation von Frühgeburt, vorzeitigem Blasensprung und negativem kindlichem Outcome mit Mycoplasma, Ureaplasma, Streptokokken und v. a. gramnegativen Keimen der Darmflora sollten Antibiotika mit breitem Spektrum eingesetzt werden. Um die genannten Keime zu erfassen, sollten einerseits Makrolide (z. B. Erythromycin, Clindamycin, Azithromycin) und Penicilline (z. B. Penicillin G, Ampicillin, Amoxicillin) zum Einsatz kommen. Solange kein Blasensprung vorliegt, sind auch Penicilline in Kombination mit β-Lactamase-Hemmern möglich. Cephalosporine stellen eine weitere mögliche Option bei Penicillinallergie dar. ! Cave Kreuzallergien!

20

In den USA gehören die in Deutschland wegen ihrer Oto- und Neurotoxizität in der Schwangerschaft kontraindizierten Aminoglycoside (Gentamicin) zum Therapiestandard. Bei längerdauernden Verläufen und falls keine andere Alternative in Betracht kommt, kann auch Imipenem (Carbapenem, Meropenem) eingesetzt werden.

Progesteron Intravaginal Progesteron einzusetzen, erscheint in dieser Situation bei prolabierender Fruchtblase aus rein technischen Gründen nicht mehr angebracht. Auch wenn möglicherweise positive Effekte zu erzielen wären, gibt es für den Einsatz von Progesteron in dieser Situation keine überzeugende Evidenz. Ein schwangerschaftsverlängernder Effekt – für vaginales Progesteron und Progesterongel gleichermaßen – bei Einlingsschwangerschaften und einer Zervixlänge < 25 mm vor der abgeschlossenen 24. SSW – konnte nachgewiesen werden; dieser Effekt dürfte in der fortgeschrittenen und akuten Situation aber nicht mehr zu erzielen sein. In einer randomisierten kontrollierten Doppelblindstudie konnte durch die kombinierte Gabe von vaginalem Progesteron (200 mg/Tag) und Tokolytika (z. B. Nifedipin) bei Schwangeren mit vorzeitigen Wehen zwischen 24 und 34 SSW keine signifikante Schwangerschaftsverlängerung erreicht werden. Andererseits konnte kein Effekt nach Sistieren der Wehen nachgewiesen werden. Es konnte aber gezeigt werden, dass nach Wehenarrest innerhalb von 48 h und anschließendem Einsatz von Progesteron die Frühgeburtenrate unterhalb von 37 SSW um 29% sinkt, die Rate an Prolongationen der Schwangerschaft über 10 Tage hinaus gesteigert und das perinatale Outcome verbessert werden kann. Kurzum: Positive Effekte durch Progesteron wären möglicherweise auch im vorliegenden Fall zu erreichen, man müsste dann aber Progesteron oral oder i.m.! (Reimport) verabreichen. Eine gesicherte Therapiemaßnahme ist Progesteron im vorliegenden Fall sicher nicht.

Arabin-Pessar Es liegen keine Daten vor, die den Einsatz des Arabin-Pessars in der geschilderten Situation rechtfertigen. Hinzu kommt, dass höchstwahrscheinlich rein technisch keine Chance bestünde, das Pessar in dieser Situation überhaupt noch einzulegen, da die Fruchtblase ja bereits weit in die Scheide prolabiert. Das Pessar stellt ansonsten eine einfache Option dar, wenn eine operative Cerclage vermieden werden soll oder kontraindiziert ist, der Muttermund aber noch so weit erhalten ist, dass das Pessar dort Halt findet.

307 20.1 · Falldarstellung

Cerclage Eine operative Cerclage kann in diesem Fall erwogen werden, sie ist aber sicher kein Standard oberhalb von 23 + 0 SSW. Der Autor würde eine Notfall-Cerclage allenfalls bis zu dieser (auch international befürworteten) Schwangerschaftswoche auch bei prolabierender Fruchtblase durchführen. Aufgrund des Umstands, dass bereits mit einer intraamnialen Infektion zu rechnen ist, sollte im vorliegenden Fall eher konservativ vorgegangen werden. Bei einer gesicherten intramnialen Infektion und auch schon bei dem dringenden Verdacht auf eine intramniale Infektion, wie im vorliegenden Fall, ist der Verschluss des Muttermundes jedoch kontraindiziert. Hinzukommt, dass die Cerclage-Anlage in der vorliegenden Situation schwierig und komplikationsbelastet (Blasensprung) wäre. In einer früheren Schwangerschaftswoche ist die Cerclage hingegen dadurch zu rechtfertigen, dass man im Fall von Komplikationen noch »weit genug« von einer potenziellen Lebensfähigkeit des Kindes entfernt ist und somit die dann auftretende lebensfähige Frühgeburt nicht als Komplikation des Eingriffs, sondern als deren »Erfolg« verstanden wird. Sollte es so sein, dass die Eltern zum Zeitpunkt der Aufnahme keine Entscheidung über die Durchführung einer Cerclage treffen wollen, kann auch zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal neu darüber nachgedacht werden. Ein solches Vorgehen ist zumindest denkbar. Jedenfalls ist durch keine Studie zu bewiesen, dass das Vorgehen grundsätzlich falsch wäre. Die Gefahr eines oft befürchteten »Einschlusses von Keimen« ist nach eigenen klinischen Erfahrungen unbegründet, wenn der Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung zur Entfernung der Cerclage (zunehmende Wehen, Unterbauchschmerzen, klinische Zeichen der Infektion, mütterliches Fieber etc.) getroffen werden muss, nicht verpasst wird.

Muttermundverschluss Die Wirksamkeit des totalen Muttermundverschlusses ist bisher durch keine prospektiv-randomisierte Studie abgesichert. Größere Fallserien und eigene Erfahrungen mit der Methode legen die Wirksamkeit in selektierten Fällen (z. B. zur Prophylaxe bei wiederholten Spätaborten oder frühen Frühgeburten) nahe. Es gibt auch Kliniken, in denen in einer solch

20

fortgeschrittenen Situation im Sinne eines »individuellen Heilversuchs« ein notfallmäßiger totaler Muttermundverschluss vorgenommen wird. Der Autor hält diesen in der beschriebenen Situation für kontraindiziert, weil er den Muttermundverschluss als prophylaktische Maßnahme versteht, durch die das Uterus-Cavum vor aszendierenden Infektionen aus der Scheide geschützt und quasi »keimfrei« gehalten werden soll. Im vorliegenden Fall ist damit aber mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu rechnen. So geht es weiter … Oberärztin Wente entscheidet sich gemeinsam mit dem Ehepaar Baum und nach Gespräch mit dem Oberarzt der Neonatologie für folgendes Vorgehen: Ein Zyklus Indometacin, zusätzlich intravenöse Therapie mit Fenoterol zur Tokolyse. Magnesium zur Neuroprotektion wird in der begonnenen Dosierung fortgesetzt. Außerdem wird die Hochlagerung des Beckens und auf ausdrücklichen Wunsch der Mutter strenge Bettruhe (Toilettengang auf der Bettpfanne) vereinbart. Frau Baum wird im Kreißsaal weiter überwacht und nicht auf die Station verlegt. Eine Antibiotikatherapie wird nach folgendem Schema begonnen: Einmalgabe von 1 × 1 g Azithromycin in Kombination mit Ampicillin 2 g i.v. alle 6 h. Eine ggf. erforderliche Umstellung soll nach Erhalt der Abstrich-Ergebnisse und nach Antibiogramm bzw. nach klinischer Symptomatik und weiterem Verlauf der Laborparameter (Leukozyten und CRP alle 6–24 h) erfolgen. Ziel ist es zunächst, die Lungenreifeinduktion abzuschließen. Sollte es zur Geburt des Kindes kommen, wünscht Frau Baum auch vor Abschluss der Lungenreifeinduktion die Maximaltherapie durch die Neonatologen. Sollte es zum Blasensprung kommen, ist das gesamte geburtshilfliche Team darüber informiert, dass aller Voraussicht nach die sofortige Sectio caesarea erfolgen muss. Am Folgetag ist das klinische Bild unverändert: Temperatur 36,9 °C. Kein Uteruskantenschmerz, kein sonstiger uteriner Druckschmerz, keine Wehen, weder von Frau Baum gespürt noch im Tokogramm nachweisbar. Das Kind liegt weiterhin in Fußlage. Die fetale Herzfrequenz liegt bei 150–160 Schlägen pro Minute. Es besteht keine mütterliche Tachykardie.

308

Kapitel 20 · Sepsis in der Schwangerschaft

Es finden erneut mehrere längere Gespräche mit dem Paar statt. Im Vordergrund steht der CRP-Anstieg auf 73  mg/l. Der Anstieg der Leukozyten auf > 30 G/l lässt sich nur unzureichend durch die Lungenreifeinduktion mit Glukokortikoden erklären (Lungenreifeinduktion mit Glukokortikoiden erhöht die Leukozytenzahl i. Allg. um nicht mehr als 2 G/l). Die Eltern werden von Oberärztin Wente rückhaltlos darüber aufgeklärt, dass eine Infektion der Plazenta und möglicherweise auch des Kindes zu befürchten ist, dass aufgrund des frühen Schwangerschaftsalters und der noch nicht komplett erfolgten Lungenreifeinduktion bei gleichzeitig fehlenden klinischen Zeichen der Infektion (normale mütterliche und fetale Herzfrequenz, kein Fieber, keine Wehentätigkeit) aber schwer zu entscheiden ist, welcher Weg nun der bessere sei. Frau Baum entscheidet sich gemeinsam mit ihrem Mann für eine Fortsetzung der Schwangerschaft, zumindest für die Komplettierung der Lungenreife. Es wird festgelegt, dass am Nachmittag das CRP, welches durch die Glukokortikoidgabe nicht beeinflusst wird, noch einmal kontrolliert wird, um abschätzen zu können, wie sich der weitere Verlauf gestaltet. Bei fulminantem Anstieg des CRP würde man den Kaiserschnitt noch am gleichen Abend vornehmen, um nicht das Risiko einer mütterlichen Sepsis einzugehen. Frau Baum wird auch darüber aufgeklärt, dass lebensbedrohliche Verläufe vorkommen können. Tatsache ist aber, dass die Kriterien eines Amnioninfektionssyndroms gegenwärtig nicht erfüllt sind (. Tab. 20.1).

Schocks das Risiko eines ARDS (acute respiratory distress syndrome), einer DIG (disseminierte intravasale Gerinnung) und konsekutiv auch von venösen Thromboembolien erhöht ist (Thromboseprophylaxe, bei zusätzlichen Risikofaktoren Fortsetzung bis 6 Wochen post partum!). Gerade bei Amnioninfektionssyndrom ist das Risiko für eine peripartale Blutung, die auf Uterotonika refraktär ist, signifikant erhöht (Risiko der Hysterektomie erhöht!).

20.1.5 Welche maternalen

20.1.6 Welche Methoden zur

Komplikationen könnten bei Amnioninfektionssyndrom auftreten?

> Schwere maternale Komplikationen sind bei frühem Einsatz von BreitspektrumAntibiotika selten! Daher kommt der frühen und großzügig indizierten antibiotischen Therapie größte Bedeutung zu.

20

Das Risiko für die Entwicklung einer Sepsis liegt damit bei 1,4%, wobei im Fall eines septischen

Mögliche Komplikationen bei Amnioninfektionssyndrom 55Assoziation mit pathologischer Wehentätigkeit (Polysystolie, Dauerkontraktionen, Wehensturm) bei vaginaler Geburt 55Uterine Atonie 55Postpartale Blutung (PPH) 55Endo(myo)metritis 55Besonders bei Sectio caesarea: Wundinfektionen, Endomyometritis, venöse Thromboembolien 55Lebensbedrohliche Verläufe sind möglich: Sepsis (1,4%), ARDS, DIG, Multiorganversagen

So geht es weiter … Frau Baum und ihr Mann informieren sich im Internet über weitere Möglichkeiten der Diagnostik. Schließlich möchten sie auch selbst alles dafür tun, einen glücklichen Ausgang zu erreichen.

Diagnostik könnten jetzt noch infrage kommen?

Grundsätzlich könnte eine Amniozentese zur Diagnosesicherung einer intraamnialen Infektion und Keimidentifizierung (mikrobiologische Diagnostik [Kultur]) eingesetzt werden. Sie stellt den »Goldstandard« in der Diagnostik einer intraamnialen Infektion dar. Das Problem besteht aber darin, dass eine Kultur mindestens 2–3 Tage in Anspruch nimmt und in der Akutsituation (z. B. bei therapierefraktärer vorzeitiger Wehentätigkeit) diese Zeit nicht zur

309 20.1 · Falldarstellung

20

. Tab. 20.3  Nachweis einer intraamnialen Infektion im Fruchtwasser Verfahren

Kriterium

Sensitivität

Spezifität

Kombination

Gram-Färbung

≥ 6 Leukozyten/HPF

24%

99%

90% Sensitivität

Glukosekonzentration

< 0,8 mmol/l

57%

74%

80% Spezifität

Leukozyten

> 30 Zellen/mm3

57%

78%

FPR 67%!!!

Leukozytenesterase

Chemstrip 9 Reagent Strip (≥ Spur)

85–91%

95–100%

HPF high-power field, FPR Falsch-positiv-Rate.

Verfügung steht. Außerdem besteht die Gefahr eines iatrogenen Blasensprungs. Daher wurden Studien mit rascher verfügbaren, eine mögliche Infektion widerspiegelnden Parametern im Fruchtwasser durchgeführt: Gramfärbung (Bakterien und Leukozyten), Glukosekonzentration, Leukozyten und Leukozytenesterase (. Tab. 20.3). Die prädiktiven Werte zum Nachweis einer intraamnialen Infektion liegen bei 25–75%.

Zytokinspiegel im Fruchtwasser Erhöhte Zytokinspiegel im Fruchtwasser und im Fetalblut sind assoziiert mit Infektion, Frühgeburt und SIRS (systemic inflammatory response syndrome) des Feten. In einer Studie an 305 Schwangeren mit vorzeitiger Wehentätigkeit, intakter Fruchtblase und positiver oder negativer Amnionkultur wurden folgende Richtwerte für Interleukin 6 (IL-6) ermittelt: Unabhängig vom Ergebnis des mikrobiologischen Befundes war der IL-6-Spiegel < 2,6 ng/ ml mit einem längeren medianen Intervall bis zur Geburt assoziiert (23–25 Tage) als ein IL-6-Spiegel > 39,2 nmol/l (< 1–2 Tage), und IL-6-Spiegel < 9 nmol/l waren mit einer niedrigeren neonatalen Gesamtmorbidität/Mortalität (21–25%) assoziiert als ein IL-6Spiegel > 39,2 nmol/l (72–81%). Außer der zu erwartenden Assoziation zwischen hohen IL-6-Spiegeln und ungünstigen Outcomes dürfte dieser Parameter nicht zielführend für die klinische Entscheidungsfindung sein. Unklar ist nämlich, wie mit grenzwertigen Befunden (zwischen 9 nmol/l und 39,2 nmol/l) zu verfahren ist und in welchen Abständen und im Fall welcher Symptomatik serielle Wiederholungen durchgeführt werden sollen.

! Cave Es ist davor zu warnen, das geburtshilfliche Vorgehen ausschließlich von IL-6-Spiegeln abhängig zu machen und dabei die klinische Symptomatik außer Acht zu lassen.

So geht es weiter … Am Nachmittag liegt das CRP bei 80 mg/l. Die Mutter ist fieberfrei. Es besteht keine mütterliche oder fetale Tachykardie. Es wird entschieden, den nächsten Morgen abzuwarten. Frau Baum soll früh morgens Blut abgenommen bekommen und bis zum Erhalt der Ergebnisse nüchtern bleiben, damit bei CRP-Anstieg die Sectio caesarea durchgeführt werden kann. Die mütterlichen Vitalparameter am nächsten Morgen sind weiterhin unauffällig (Temperatur 36,7 °C, Puls 92/min). Das CRP ist auf 78 mg/l stabil geblieben, die Leukozyten sind allerdings weiter gestiegen auf nunmehr 36 G/l. Es besteht kein Uteruskantenschmerz. Frau Baum spürt keine Wehen und auch keine Veränderung ihres klinischen Befindens. Im Gegenteil: sie fühlt sich eher etwas besser. Da sich insgesamt nichts an der Situation geändert hat, schließt sich Oberärztin Wente in Absprache mit der Chefärztin der Frauenklinik, Frau Dr. Büchler, die bis dahin mehrmals täglich über den Verlauf informiert wurde, dem ausdrücklichen Wunsch der Eltern an, weiter zuzuwarten. Man einigt sich darauf, dass bei jeglicher Veränderung der Situation (z. B. Temperaturanstieg > 37,5 °C) die sofortige Sectio caesarea erfolgen wird. Den Eltern ist klar, dass das Kind, das weiterhin in dorsosuperiorer Querlage liegt, unter keinen

310

20

Kapitel 20 · Sepsis in der Schwangerschaft

Umständen vaginal geboren werden kann. Läge das Kind in Schädellage, wäre eine vaginale Geburt bei Muttermunderöffnung und prolabierender Fruchtblase grundsätzlich denkbar, möglicherweise auch wesentlich einfacher als die Sectio caesarea. Den Eltern ist auch verständlich gemacht worden, dass sich durch weiteres Zuwarten und dem ständig vorhandenen Risiko eines Blasensprungs die Wahrscheinlichkeit für eine Notsectio mit u. U. erheblich erschwerter Kindsentwicklung ergibt. Auch der Chefarzt der Neonatologie, Herr Prof. Maler, verdeutlicht den Eltern noch einmal, welche negativen Auswirkungen eine erschwerte Kindsentwicklung (Hämatome) in Assoziation mit einer möglichen kindlichen Infektion (zusätzliches Risiko des Gerinnungsfaktorenverbrauchs) bei früher Frühgeburt haben kann. Die Eltern bestehen weiterhin auf ihrem Vorhaben. Im Verlauf des Tages finden alle 2 h Temperaturkontrollen statt, die unauffällig sind. Außerdem werden zwei weitere Laborkontrollen durchgeführt. Das CRP fällt auf 56 mg/l ab, die Leukozyten gehen auf 25 G/l zurück. Am Morgen des Folgetages ist das CRP dann erneut auf 76  mg/l angestiegen, die Leukozyten sind auf 22  G/l rückläufig. Eine Temperaturerhöhung liegt weiterhin nicht vor, auch keine mütterliche und fetale Tachykardie im CTG. Die inzwischen umfassend aufgeklärten, immer besser informierten und in das Vorgehen eingebundenen Eltern entscheiden sich dennoch, »alles auf eine Karte zu setzen« und lehnen die Sectio caesarea ab. Die Entscheidung wurde wiederum gemeinsam mit der Chefärztin der Frauenklinik beraten und getroffen, aufgrund des hohen Risikos Umstellung der Antibiotikatherapie auf Meropenem 1 g 1–0–1. Es bleibt bei den weiterhin engmaschigen klinischen Kontrollen (stündliche Temperatur- und Pulskontrollen, CTG-Kontrolle alle 3 h für jeweils 30 min). Der weitere Verlauf gestaltet sich – für Fr. Dr. Wente sehr überraschend – unauffällig. Inzwischen trifft auch der Befund der Mikrobiologie ein. Mikrobiologischer Befund (Abnahme bei Aufnahme): »Reichlich E. coli.« Kein Nachweis von Mycoplasma, Ureaplasma oder Chlamydien (. Tab. 20.4). Am nächsten Vormittag gibt Frau Baum nach einigem Zögern an, dass sie wieder vermehrten »Druck

. Tab. 20.4  Keimspektrum des Amnions bei intraamnialer Infektion (bei 404 Schwangeren mit intraamnialer Infektion; Sperling et al. 1988) Keim

n

Anteil (%)

Ureaplasma urealyticum

190

47,0

Gram-negative Anaerobier

155

38,4

Mycoplasma hominis

123

30,4

Bacteroides bivius

119

29,5

Gardnerella vaginalis

99

24,5

B-Streptokokken

59

14,6

Peptostreptococcus spp.

38

9,4

Escherichia coli

33

8,2

Enterococcus spp.

22

5,4

Fusobacterium spp.

22

5,4

Bacteroides fragilis

14

3,5

nach unten« verspüre. Oberärztin Wente versucht Frau Baum davon zu überzeugen, die Sectio caesarea durchführen zu lassen. Das CRP ist auf 103 mg/l angestiegen, die Leukozyten sind auf 16  G/l abgefallen. Dr. Wente erklärt, das Risiko für das Kind steige weiter an, der bisherige Verlauf sei günstiger als erwartet gewesen, man dürfe den »Bogen nun nicht überspannen«. Sie argumentiert auch mit dem anstehenden Wochenende. Man sei am Perinatalzentrum zwar immer auf alles vorbereitet, dennoch sei die personelle Ausstattung in den Dienstzeiten und am Wochenende nicht vergleichbar mit den Möglichkeiten bei einem geplanten Vorgehen. Dieser Umstand gelte für jedes Perinatalzentrum. In Anbetracht der neu aufgetretenen Symptomatik, der wieder angestiegenen Entzündungswerte, der abgeschlossenen Lungenreife und des klinischen Befunds (prolabierende Fruchtblase, dorsosuperiore Querlage mit Vorliegen der Füße) sei auch bei noch normaler Temperatur (36,9 °C) die Sectio caesarea indiziert. Nach einer weiteren Stunde Bedenkzeit für das Ehepaar Baum entscheidet sich Frau Baum letztlich für die Durchführung der Sectio caesarea.

Auszug aus dem OP-Bericht – Kindsentwicklung und Maßnahmen zur Neuroprotektion

20

311 20.1 · Falldarstellung

» … Darstellung des unteren Uterinsegments. Zunächst Austastung des Beckens. Es zeigt sich, dass die Füße und der Steiß des Kindes letztlich ebenfalls bis in das mittlere Scheidendrittel ragen. Es wird nun zunächst eine Uterotomie angelegt, ohne dabei die Fruchtblase zu eröffnen. Die Uterotomie wird dann digital erweitert. Jetzt wird die Hand bis in das Becken hinabgeschoben und sachte die Scheide nach oben ‚ausgemolken‘, um den Steiß des Kindes auf Höhe der Uterotomie zu bringen. Als dies erreicht ist, wird unterhalb der Uterotomie das Kind gehalten und dann von oben Druck auf den Uterusfundus ausgeübt, um die gesamte fetoplazentare Einheit in

einem Stück durch die Uterotomie zu entwickeln. Die gesamte fetoplazentare Einheit inklusive der Plazenta wird vor die Bauchdecke gebracht. Es zeigt sich, dass das intraamniale Fruchtwasser dick grün ist. Es wird jetzt die Fruchthöhle mit einer Pinzette eröffnet und das Kind sehr vorsichtig abgetrocknet. Die Nabelschnur pulsiert. Sie wird mit einer Verzögerung von etwa 60 s und nach vormalig viermaligem Ausstreichen lang abgeklemmt. Das Kind wird der Hebamme übergeben, die das Kind an das bereitstehende Neonatologie-Team übergibt … « Kindsdaten:

Geburtsdatum/-zeit:

xx.xx.20xx/14:02 Uhr

Geschlecht:

Männlich

Gewicht:

570 g

Länge:

29 cm

pH: 7,32/7,36

BE: –4,0

Apgar:

5/8/8

Die Plazenta wird zur Diagnosesicherung in das Institut für Pathologie gesandt. Dies ergibt folgenden Befund: Makroskopischer Befund 1. (a–d) Eine angedeutet schüsselförmige, 125 × 140 × 25 mm messende, getrimmt 22 g schwere Plazenta mit intakter Chorionplatte und zart gefurchter Basalplatte. Aus lamellierenden Schnitten rot-braunes, stellenweise leicht abgeblasstes Parenchym. Die Basalplatte umschrieben leicht verdickt. Die Eihäute glatt, glänzend mit einem anhängenden, 32 × 18 × 6 mm großen, zart rötlichen weichen Knoten. a–d: Eihäute mit Querschnitt Knoten 2. Nabelschnur (zu 1.) eine parazentral inserierende, 130 mm lange, 9 mm messende Nabelschnur. Auf der Schnittfläche drei zarte Gefäßlumina. 3. Abradat (laut telefonischer Rücksprache zusammen mit der Plazenta in einem Gefäß): Koagel und membranöse Fragmente von zusammen 20,7 g und 91 × 54 × 24 mm messend. Mikrosopischer Befund (6 Blöcke HE) 1. Plazentagewebe mit überwiegend reifen kleinen Plazentazotten mit prominenter Vaskularisierung.

KU:

22 cm

Noduläre Trophoblastproliferate. Vermehrtes Plazentafibrinoid. Keine intra- oder intervillösen Granulozytenansammlungen. Die Chorionplatte mäßig dicht granulozytär durchsetzt. Die Dezidua hämorrhagisch durchtränkt und kleinherdig nekrotisch. Die Einhäute gleichfalls mit granulozytärer Durchsetzung. 2. Die Nabelschnur mit zwei isomorphen arteriellen und einem venösen Blutgefäß. Keine leukozytären Infiltrate. 3. Leukozytär durchsetzte und hämorrhagisch durchtränkte, herdförmig nekrotische Dezidua.

20.1.7 Wie bewerten Sie den Verlauf

nach Erhalt der Histologie?

Im Rahmen der Histologie lässt sich also eine maternale Immunreaktion (Entzündung des Chorioamnions, Chorioamnionitis) ohne fetale Immunreaktion (Entzündung der Nabelschnur, Funisitis) nachweisen. > 100% der Fälle einer Funisitis gehen einher mit einer Chorioamnionitis, 60% der Fälle einer Chorioamnionitis gehen einher mit einer Funisitis.

Kapitel 20 · Sepsis in der Schwangerschaft

312

Rückblickend war es also richtig, die Schwangerschaft durch Sectio caesarea zu beenden, auch wenn kein Fieber bestand und somit die klinische Symptomatik für die Diagnose »intraamniale Infektion« noch nicht ausreichend war. Bei schweren Verläufen kommt es zusätzlich zu einer von der Nabelschnur auf die fetalen Gefäße der Chorionplatte übergreifenden Chorionvaskulitis. In etwa 70% der Fälle ist bei auffälliger Histologie auch eine bakterielle Besiedelung nachweisbar. Bei Nachweis einer Besiedelung des Fruchtwassers hat die Histologie eine Sensitivität von 83–100% und eine Spezifität von 23–52%. Bei histologischem Nachweis der Infektion kann die Bakteriologie aufgrund unterschiedlicher Mechanismen negativ ausfallen (Hypoxiereaktion, Mekonium, geringe Sensitivität des Mykoplasmen-Nachweises, Antibiotikatherapie).

es gibt auch keine weiteren Komplikationen im Wochenbett.

20.1.8 Welche Maßnahmen würden

Sie in einer weiteren Schwangerschaft vorschlagen?

Im Rahmen der Entlassung wurde mit Frau Baum besprochen, dass im Fall einer erneuten Schwangerschaft früh Vorkehrungen gegen eine erneute Frühgeburt getroffen werden können. Mit der vaginalen Progesterongabe ab SSW 16 + 0 (z. B. 200 mg intravaginal bis zur 37. SSW) lässt sich bei Frauen mit einer Frühgeburt in der Anamnese eine erneute Frühgeburt in 40–50% der Fälle verhindern. Außerdem wurde die Möglichkeit einer prophylaktischen Cerclage oder eines prophylaktischen totalen Muttermundverschlusses im Fall einer erneuten Schwangerschaft bzw. die frühe Einlage eines Pessars besprochen, um das Wiederholungsrisiko zusätzlich zu senken. Zum Zeitpunkt der Entlassung kann sich Frau Baum allerdings keine erneute Schwangerschaft vorstellen.

Das Ende des Falls … Kindliche Entwicklung Das Kind wird nach 12 Wochen stationärer Behandlung auf der Intensivstation nach Hause entlassen. Es treten keine frühgeburtsassoziierten Komplikationen auf. Vorübergehend kommt es zwischen dem 5. und 7. Lebenstag zu Verdauungsstörungen, die sich aber ohne weitere Therapiemaßnahmen in Wohlgefallen auflösen. Das Neurosonogramm ist im Verlauf und bei Entlassung unauffällig. Zu keinem Zeitpunkt bestehen klinische Zeichen einer kindlichen Infektion. Mütterlicher Verlauf Frau Baum wird am 5. Tag nach der Sectio aus der stationären Behandlung nach Hause entlassen. Sie hat sich rasch erholt. Postpartal kommt es zwar noch zu einem weiteren Anstieg der Entzündungsparameter, Fieber liegt zu keinem Zeitpunkt vor,

20.2 Fallnachbetrachtung

Der vorliegende Fall beschreibt einen individuellen Heilversuch in einer komplizierten geburtshilflichen Situation. Evidenzbasiert war die Lungenreifeinduktion und Tokolyse über 48 h, um dann die Sectio caesarea durchzuführen. Aus medizinischer Sicht ist umstritten, ob in Anbetracht der hohen Entzündungswerte die Schwangerschaft überhaupt so

. Tab. 20.5  Verlauf der Entzündungsparameter im Überblick

20

Tag

1 (Aufnahme)

2

2

3

3

3

4

4

5 (Tag der Sectio)

5 (Tag der Sectio)

Tag 1 p.p.

Tag 3 p.p.

Uhrzeit

12:06

7:17

13:28

6:46

12:17

18:28

6:29

12:14

6:35

11:08

9:43

10:07

Leukozyten (G/l)

20,4

31,5

34,7

36,5

32,2

25,4

22,8

20,6

16,0

16,0

24,9

10,6

CRP (mg/l)

15,6

70,3

80,8

77,8

65,6

56,3

73,3

85,7

103,7

105,4

124,9

32.4

313 Weiterführende Literatur

lange hätte prolongiert werden dürfen. Andererseits lag aber bis zuletzt das Vollbild einer klinisch manifesten intrauterinen Infektion nicht vor (. Tab. 20.5). Andererseits wurde die Sectio caesarea dann zu einem Zeitpunkt indiziert, bei dem sich bis auf eine leichte klinische Symptomatik gegenüber der Zeit zuvor nur wenig verändert hatte und insbesondere kein Fieber vorlag. Bei kritischer Beurteilung erscheint dieses Vorgehen inkonsequent, weil eben das Vollbild der intrauterinen Infektion nicht gegeben war. Darüber hinaus wurde mit der personellen Besetzung am Wochenende argumentiert, obwohl auch in den Nächten zuvor die Versorgungssituation nicht besser gewesen war. Dennoch sollten solche Tatsachen nicht verschwiegen oder bagatellisiert werden, und selbstverständlich haben sie auch Einfluss auf die klinische Entscheidungsfindung. Derartige Problemkonstellationen sollten offen angesprochen werden, um unter gar keinen Umständen zu hohe Erwartungen zu wecken. Derartige Kommunikationsfehler können im Nachhinein zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führen. Glücklicherweise hat die Patientin postpartal keine Sepsis entwickelt. Außerdem war es glücklichen Umständen zu verdanken, dass die Patientin keine weiteren schweren Folgen davongetragen hat (z. B. postpartale Blutung, Wundinfektion, Thromboembolie). Günstig wirkten sich in diesem Zusammenhang die Willensstärke der Patientin und ihre frühe Bereitschaft zur Mobilisation aus. Außerdem war die Patientin nicht übergewichtig und Nichtraucherin. Im Nachhinein haben die Ärzte richtig gehandelt. Es lag eine Chorioamnionitis ohne Funisitis vor. Eine nachweisbare Infektion des Kindes bestand nicht. Es war sicher auch richtig, nach entsprechender rückhaltloser Aufklärung über die möglichen Konsequenzen den von den Eltern gewünschten Weg, so weit vertretbar, zu unterstützen. Ungeachtet des erfreulichen Ergebnisses muss darauf hingewiesen werden, dass jeder Schritt der Entscheidung lückenlos zu dokumentieren ist, um im Fall von juristischen Auseinandersetzungen mit den Kostenträgern einen sicheren Nachweis erbringen zu können, dass korrekt gehandelt wurde. Empfehlenswert ist in sehr komplizierten Fällen, den Eltern auch während des Aufenthalts Kopien der

20

Gesprächsdokumentation auszuhändigen, um ein Höchstmaß an Transparenz zu erreichen. Der Fall zeigt auch, dass optimale organisatorische Rahmenbedingungen (rechtzeitige Verlegung in ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe, qualifizierte Betreuung durch Geburtshelfer und Neonatologen) entscheidend sind für ein günstiges Outcome solcher Situationen. Nur so ist es möglich, in enger Abstimmung mit den Eltern eine derart komplizierte Situation, in der der Verlauf – kurzfristig, mittelfristig, langfristig – von erheblichen Komplikationen für Mutter und Kind gekennzeichnet ist, zu bewältigen und auch forensisch abzusichern.

Weiterführende Literatur Combs CA, Gravett M, Garite TJ et al (2014) Amniotic fluid infection, inflammation and colonization in preterm labor with intact membranes. Am J Obstet Gynecol 210(2): 125. e1–125.e15 Hartling L, Liang Y, Lacaze-Masmonteil T (2012) Chorioamnionitis as a risk factor for bronchopulmonary dysplasia: a systematic review and meta-analysis. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 97: F8 Leviton A, Paneth N, Reuss ML et al (1999) Maternal infection, fetal inflammatory response, and brain damage in very low birth weight infants. Developmental Epidemiology Network Investigators. Pediatr Res 46: 566 Martinez de Tejada B, Karolinski A et al; 4P trial group (2015) Prevention of preterm delivery with vaginal progesterone in women with preterm labour (4P): randomised doubleblind placebo-controlled trial. BJOG 122(1): 80–91 Ramsey PS, Lieman JM, Brumfield CG, Carlo W (2005) Chorioamnionitis increases neonatal morbidity in pregnancies complicated by preterm premature rupture of membranes. Am J Obstet Gynecol 192: 1162 Romero R, Nicolaides K, Conde-Agudelo A et al (2012) Vaginal progesterone in women with an asymptomatic sonographic short cervix in the midtrimester decreases preterm delivery and neonatal morbidity: a systematic review and metaanalysis of individual patient data. Am J Obstet Gynecol 206(2): 124.e1–19 Saccone G, Suhag A, Berghella V (2015) 17-alpha-hydroxyprogesterone caproate for maintenance tocolysis: a systematic review and metaanalysis of randomized trials. Am J Obstet Gynecol 213(1): 16–22 Shatrov JG, Birch SC, Lam LT et al (2010) Chorioamnionitis and cerebral palsy: a meta-analysis. Obstet Gynecol 116: 387 Sperling RS, Newton E, Gibbs RS (1988) Intraamniotic infection in low-birth-weight infants. J Infect Dis 157: 113 Wu YW, Colford JM Jr (2000) Chorioamnionitis as a risk factor for cerebral palsy: a meta-analysis. JAMA 284: 1417

315

Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter? Ioannis Mylonas

21.1

Falldarstellung – 316

21.1.1 21.1.2

An welche Erkrankung denken Sie? – 316 Wie häufig ist diese Erkrankung? Wie lange ist die Inkubationszeit? – 316 Welches sind die Symptome eines Herpes genitalis? – 317 Welches sind die wichtigsten Indikationen einer i.v.-Behandlung? Welche Therapieoption hatte die Frauenärztin mit hoher Wahrscheinlichkeit genutzt? – 318 Ist eine intrauterine Virusübertragung für den Feten gefährlich? – 318 Ist eine peripartale Infektion für das Neugeborene gefährlich? Kann das Virus auch ohne Symptome während der Geburt auf das Kind übertragen werden? – 319 Sind präventive Maßnahmen zur Vermeidung eines Kaiserschnitts bei Herpes-genitalis-Infektion möglich? – 320 An welche Differenzialdiagnosen denken Sie? – 321 Hat der Assistentsarzt bei der Untersuchung alles richtig gemacht? – 321 Wie erfolgt die Diagnose eines Herpes genitalis? – 322 War das geschilderte Vorgehen bei V. a. Herpes genitalis richtig? – 323 Welche Symptome zeigt ein neonataler Herpes? – 327 Welche medikamentösen Maßnahmen zur Prophylaxe eines neonatalen Herpes und zur Vermeidung eines Kaiserschnitts können ergriffen werden? – 327

21.1.3 21.1.4

21.1.5 21.1.6

21.1.7 21.1.8 21.1.9 21.1.10 21.1.11 21.1.12 21.1.13

21.2

Fallnachbetrachtung – 328



Weiterführende Literatur – 329

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_21

21

316

21 42

Kapitel 21 · Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?

21.1 Falldarstellung Die Vorgeschichte Die 27-jährige Magdalena liegt um 4:00 Uhr morgens wach im Bett und streicht über ihren Bauch. Er wird alle 10 Minuten hart. Die Schmerzen sind aber eher gering. Allerdings kann sie das nicht genau sagen, da es ihre erste Schwangerschaft ist. Hinzu kommt, dass sich der äußere Genitalbereich heute etwas stärker unangenehm mit einem prickelnden, teilweise brennenden Gefühl meldet. Dieses Gefühl hatte sie seit gestern wahrgenommen; sie hatte es bislang aber ignoriert gehabt. Jetzt, in den frühen Morgenstunden, erinnert sie sich an eine vorangegangene Episode mit ähnlichen Symptomen vor 3 Jahren, die nach einem Tauchurlaub am Roten Meer und einer sehr flüchtigen Bekanntschaft genauso angefangen hatte. Allerdings waren die Beschwerden damals viel schlimmer. Sie erinnert sich, dass sie sogar Fieber und Schmerzen beim Wasserlassen hatte. Da die damaligen Beschwerden durch Naturheilmittel nicht besser wurden, ging sie zu ihrer Frauenärztin. Dort erhielt sie eine entsprechende Therapie, und seitdem hatte sie keinerlei Probleme mehr.

21.1.1 An welche Erkrankung

denken Sie?

Die häufigste Ursache der beschriebenen, plötzlich aufgetretenen Symptome ist Herpes genitalis, eine Infektion mit dem Herpes-simplex-Virus (HSV). Es existieren 2 Typen: 44HSV-1, verantwortlich für Herpes labialis, 44HSV-2 als Ursache für Herpes genitalis. > Obwohl bei einem Herpes genitalis meist eine Infektion mit HSV-2 vorliegt, treten mittlerweile auch vermehrt HSV1-Infektionen des Genitaltrakts auf.

Etwa 75–90% der mit HSV-2 infizierten Personen sind sich einer Infektion nicht bewusst. Da fast 75% aller Patientinnen mit genitalem Herpes – unabhängig davon, ob es sich um eine Primärinfektion oder ein Rezidiv handelt – keine oder sogar atypische Symptome aufweisen, gestaltet sich eine korrekte Diagnose recht schwierig.

! Cave Die primäre Gefahr in der Schwangerschaft besteht in der Übertragung des Virus auf den Feten bzw. das Neugeborene mit teils schweren klinischen Verläufen.

21.1.2 Wie häufig ist diese

Erkrankung? Wie lange ist die Inkubationszeit?

Die Infektion mit HSV ist weltweit eine der am häufigsten auftretenden – durch Geschlechtsverkehr übertragenen – Viruserkrankungen. Humane Herpesviren sind DNA-Viren, die morphologisch als globuläre Partikel mit einem Durchmesser von 150–180 nm erscheinen. Während der Inkubationszeit von 2–12 Tagen kommt es zur Replikation von HSV und schließlich zum Auftreten der lokalen und systemischen Symptome der Primärinfektion. Synchron wird HSV zu den lokalen sensomotorischen Ganglien transportiert und tritt dort in die Latenzphase ein. Das Genom des genitalen HSV ist primär in den Wurzelganglien der Sakralnerven nachzuweisen, jedoch stellen auch andere sensorische und autonome Ganglien Orte der Latenzphase dar. Trotz der ausgeprägten zytopathischen Eigenschaft kann HSV eine latente Infektion induzieren, die eine lebenslange Präsenz im Wirtsorganismus gewährleistet. Bei einer rekurrierenden Infektion werden verstärkt Herpes-simplex-Viren gebildet und durch die Ganglienzellen zur epidermalen Körperoberfläche transportiert, wo sie die mukosalen oder epidermalen Zielzellen erneut infizieren.

Sehr hoher Durchseuchungsgrad in der Bevölkerung 55Erwachsene mit HSV-1: ca. 90–95% 55Erwachsene mit HSV-2: ca. 10–30% (bis zu 60% der Personen mit häufig wechselnden Sexualpartnern sind betroffen) 55Die Inzidenz rezidivierender HSV-Infektionen beträgt ca. 10–20%

317 21.1 · Falldarstellung

Wie häufig kommt die Erkrankung in der Schwangerschaft vor? Serologische Untersuchungen aus den USA zeigen, dass 22% der Schwangeren mit HSV-2 infiziert sind. Interessanterweise zeigten 63% eine Seropositivität gegen HSV-1, und bei 13% konnten abgelaufene Infektionen beider Herpes-simplex-Viren nachgewiesen werden. In Skandinavien wird die Seroprävalenz von HSV-2 auf ca. 33% während der Schwangerschaft geschätzt, wobei die Rate in Kanada mit 17% niedriger ist. Vereinzelte Untersuchungen in Deutschland weisen auf eine Durchseuchungsrate mit HSV-2 von 20–25% in der Normalbevölkerung hin. Patienten mit HSV-2-Antikörpern werden im Erwachsenenalter auf ca. 15-40% geschätzt, wobei die Prävalenz bei Schwangeren zwischen 6,3% und 8,9% angenommen wird. Die Infektionsrate während der Schwangerschaft liegt in Abhängigkeit von der untersuchten Population zwischen 8 und 60 Infektionen pro 100.000 Lebendgeburten. So geht es weiter … Zu Beginn ihrer Schwangerschaft hatte Magdalena diese Episode einer Herpes-genitalis-Infektion ihrer Frauenärztin nochmals in Erinnerung gerufen. Magdalena war es damals, kurz nach ihrem Urlaub am Roten Meer, nicht gut gegangen. Sie hatte sich sehr schwach und krank gefühlt. Ihre Temperatur war leicht erhöht gewesen. Auch im äußeren Genitalbereich hatten sich zahlreiche mit Flüssigkeit gefüllte Pusteln und Ulzerationen gezeigt. Ausgeprägte Schmerzen an den Labien, vermehrter vaginaler Ausfluss und Schwellungen in der Leistengegend waren ebenfalls aufgetreten. Von der Frauenärztin hatte sie bei Verdacht auf einen Herpes genitalis damals eine antivirale Therapie erhalten.

21.1.3 Welches sind die Symptome

eines Herpes genitalis?

Eine Primärinfektion mit HSV verursacht v. a. Blasenbildung und Ulzerationen an den äußeren Genitalien und am Gebärmutterhals und kann zu Schmerzen, Dysurie, vaginalem Ausfluss und lokaler Lymphadenopathie führen. Solche vesikulären und ulzerativen Läsionen werden ebenfalls am Innenschenkel, Gesäß, Perineum oder an der perianalen Haut beobachtet. Allerdings kann eine

21

HSV-Infektion auch weitere Symptome und Erkrankungen verursachen:

Manifestationen einer Herpes-genitalisInfektion 55Mukokutane Manifestation –– Herpes labialis, Herpes facialis, Herpes integumentalis (vorwiegend durch HSV-1 verursacht) –– Heilung nach 10–20 Tagen –– Häufigste Form eines Herpes recurrens oder recidivans –– Gingivostomatitis und Stomatitis herpetica (primär HSV-1) –– Herpes genitalis (Vulvovaginitis, Balanitis) vorwiegend durch HSV-2 verursacht (ca. in 3% der Fälle durch HSV-1) –– Häufigste genital übertragene Kontaktinfektionen –– Sie treten nach Primärinfektion und als rekurrierender Herpes auf 55ZNS-Infektionen –– Herpes-Enzephalitis ist in Mitteleuropa die häufigste nekrotisierende Enzephalitis (ca. 50%) –– 30% nach Primärinfektionen und 70% als rekurrierender Herpes –– Hohe Letalität (bis zu 70%), wobei viele überlebende Patienten schwerwiegende Residuen behalten 55Disseminierte Infektionen –– Disseminierter Herpes simplex mit Streuung des Virus: –– Ekzema herpeticatum –– Beteiligung des Auges (primär HSV-1) –– Ösophagitis –– Hepatitis –– Beteiligung von weiteren inneren Organen (HSV-1 und HSV-2) mit oft tödlichem Verlauf

Bereits vorhandene HSV-1-Antikörper können die klinischen Manifestationen einer nachträglich erworbenen HSV-2-Infektion mildern. Generell führt eine genitale HSV-1-Infektion zu einem klinisch ausgeprägteren Bild, jedoch zu weniger Rezidiven im Vergleich zu HSV-2. Die Symptome der

318

21 42

Kapitel 21 · Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?

Rezidive einer HSV-Infektion können denen einer Primärinfektion ähneln. Jedoch weisen diese Patientinnen weniger ausgeprägte Symptome als nach einer ersten Krankheitsepisode auf. Prodromale Symptome wie z. B. Juckreiz, Schmerzen oder Neuralgie können Stunden oder Tage vor einer rezidiven Herpes-Episode auftreten.

Symptome einer Herpes-genitalis-­ Infektion 55Primärinfektion: –– Blasenbildung und Ulzeration an den äußeren Genitalien und am Gebärmutterhals –– Vulvaschmerzen, Dysurie, vaginaler Ausfluss –– Lokale Lymphadenopathie 55Rezidiverkrankung: –– Ähnlich der Primärinfektion, allerdings weniger ausgeprägt –– Juckreiz, Schmerzen oder Neuralgie können Stunden oder Tage vor einer rezidivierenden Herpes-Episode auftreten

21.1.4 Welches sind die wichtigsten

Indikationen einer i.v.Behandlung? Welche Therapieoption hatte die Frauenärztin mit hoher Wahrscheinlichkeit genutzt?

Aciclovir, Famciclovir und Valaciclovir werden zur oralen Therapie eines Herpes genitalis eingesetzt (. Tab. 21.1). Hauptindikationen einer i.v.-Behandlung 55Herpes-Enzephalitis 55Ausgedehnte mukokutane Herpesläsionen 55Starke Beschwerden 55Disseminierte Herpesinfektionen

Da die Patientin im geschilderten Fall keine dieser Indikationen aufwies, war die Therapie damals oral

erfolgt; die häufigste Variante ist die Nutzung von Aciclovir. Wahrscheinlich hatte sie zusätzlich eine Zinksulfat-Salbe zum Abtrocknen der Läsionen genutzt. Als Schmerzmittel kommt v. a. Ibuprofen zur Anwendung. > Eine Therapie mit lokalen antiviralen Cremes ist bei der Behandlung des Herpes genitalis obsolet.

So geht es weiter … Magdalena hatte gelesen, dass das Herpesvirus gefährlich für das ungeborene Kind sein kann. Die Frauenärztin beruhigte sie, da eine Infektion des Feten nur extrem selten stattfindet. Allerdings solle sie auf mögliche Beschwerden sowie Hauterscheinungen achten, die für einen Herpes sprechen könnten. Eine Vorstellung bei ihr oder in der Geburtsklinik wäre dann nötig. Magdalena wollte auf gar keinen Fall einen Kaiserschnitt und fragte, ob sie etwas tun könne, um diesen zu vermeiden. Die Frauenärztin beruhigte die Patientin wieder und erklärte, dass es keine Möglichkeit gäbe, einem solchen Ausbruch vorzubeugen, vor allem nicht in der Schwangerschaft. Sie riet allerdings zur Vermeidung von Sonnenexposition und zur Minimierung von Stresssituationen. Nun hat es den Anschein, dass die Geburt allmählich beginnt. Magdalena ist eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin. Ihr Mann ist bereits zur Arbeit gegangen. Sie ruft ihn kurz an, bestellt sich ein Taxi und fährt in die große Geburtsklinik in der Stadt.

21.1.5 Ist eine intrauterine

Virusübertragung für den Feten gefährlich?

Eine intrauterine Übertragung des Virus auf den Feten ist möglich, allerdings sehr selten. Eine Transmission findet wahrscheinlich bei 4–5% aller neonatalen HSV-Erkrankungen statt. Geht man von einer mittleren Inzidenz von 1:5000 Geburten mit einer intrauterinen Transmissionsrate von 5% aus, so ist ca. 1 Fall pro 100.000 Geburten von einer intrauterinen HSV-Infektion betroffen. Das Risiko einer intrauterinen Virusübertragung ist während der ersten 20 SSW am höchsten und kann

319 21.1 · Falldarstellung

21

. Tab. 21.1  Therapieoptionen bei Herpes genitalis Infektion

Medikament

Dosierung

Behandlungsdauer (Tage)

Primärinfektion

Aciclovir p.o.

5 × 200 mg/Tag p.o.

5

3 × 400 mg/Tag p.o.

10

Valaciclovir

2 × 1 mg/Tag p.o.

10

Famciclovir

3 × 250 mg/Tag p.o.

5–10 (noch keine Zulassung)

Foscarnet (bei Aciclovir-Resistenz)

2–3 × 40 mg/kgKG/Tag i.v.

7–21

In schweren Fällen Aciclovir i.v.

3 × 5 mg/kgKG/Tag i.v.

5–7

Rezidiverkrankungen

Bemerkungen

Aciclovir p.o.

5 × 200 mg p.o.

5

Aciclovir p.o.

3 × 400 mg/Tag p.o.

5

Valaciclovir p.o.

2 × 500 mg/Tag p.o.

5

Famciclovir

2 × 125 mg/Tag p.o.

5

Bei ausgeprägten Schmerzen: zusätzliche Therapie mit Schmerzmitteln (z. B. Ibuprofen) Eine alleinige lokale Therapie eines Herpes genitalis mit antiviralen Cremes ist obsolet Zusätzliche lokale Applikationen von Zinksulfat-Salben möglich

44einen Abort oder 44eine Totgeburt oder 44eine Frühgeburt verursachen. Ebenfalls kann sie zu ausgeprägten Erkrankungen oder sogar zu fetalen Fehlbildungen führen, wobei die perinatale Mortalität mit ca. 50% angenommen wird:

Fetale Erkrankungen/Fehlbildungen durch HSV-Infektion 55Herpes-Sepsis des Neugeborenen mit Aphten, Konjunktivitis und Fieber 55Generalisierte Bläscheneruption 55Ekzema herpeticatum 55Meningoencephalitis herpetica 55Mikrozephalie 55Krampfanfälle 55Koma 55Mikroopthalmie 55Dysplasie der Retina 55Chorioretinitis 55Geistige Retardierung

21.1.6 Ist eine peripartale Infektion für

das Neugeborene gefährlich? Kann das Virus auch ohne Symptome während der Geburt auf das Kind übertragen werden?

Bei bis zu 90–95% der Fälle eines neonatalen Herpes beruht das Risiko auf einer perinatalen Infektion durch direkten Kontakt mit infiziertem maternalem Genitalsekret. 44Diese Art der Transmission ist mit einer neonatalen Infektionsrate von 40–50%, einer neonatalen Mortalität von 40% und einer Morbidität von 20% verbunden. 44Im Gegensatz dazu führt die rekurrierende Infektion nur in etwa 1–5% der Fälle zu einer neonatalen Infektion, bedingt durch maternale IgG-Antikörper und geringe Virusmengen. Bislang sind nur wenige Daten für eine neonatale Herpes-Erkrankung bei immunsupprimierten Patientinnen vorhanden. Da HIV-positive Frauen eine höhere Inzidenz einer HSV-2-Infektion im Vergleich zur normalen Population haben (ca. 80%),

320

21 42

Kapitel 21 · Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?

scheint das Risiko einer asymptomatischen oder oligosymptomatischen genitalen Virusausscheidung zum Zeitpunkt der Geburt erhöht. Die asymptomatischen Phasen zwischen klinischen Manifestationen des Genitalherpes sind von Bedeutung, da HSV periodisch in latent infizierten Zellen reaktiviert werden kann. > Der Großteil der sexuellen Übertragungen von HSV erfolgt während der asymptomatischen Phasen, da sich die Patientinnen der asymptomatischen Virusausscheidung nicht bewusst sind und keine klinische Symptomatik auftritt.

Fast alle HSV-2-seropositiven Patientinnen zeigen eine intermittierende Ausscheidung des Virus an der genitalen Mukosa, wobei meist milde bzw. keine Symptome dieser Erkrankung vorhanden sind. Interessanterweise ist die asymptomatische Virusausscheidung bei HSV-2-infizierten Frauen höher als bei Frauen mit einer HSV-1-Infektion. 21.1.7 Sind präventive Maßnahmen zur

Vermeidung eines Kaiserschnitts bei Herpes-genitalis-Infektion möglich?

Eine Reaktivierung des Virus kann durch zahlreiche Faktoren ausgelöst werden. Dabei scheinen Sonneneinwirkung und Stress eine große Rolle zu spielen. Allerdings sind die meisten Faktoren derzeit unbekannt. Demzufolge ist eine Prophylaxe für einen Herpes-Ausbruch nur in sehr beschränktem Maße möglich. Aber auch während der Schwangerschaft kann eine virale Replikation medikamentös unterdrückt werden. Dies hat v. a. zum Ziel, die Replikation und Virusausscheidung im Genitalsekret zu senken und dadurch eine intrapartale Infektion des Neugeborenen zu vermeiden. Als Nebeneffekt wird, durch die Hemmung der Virusreplikation, ein klinisches Rezidiv vermieden und somit ein Kaiserschnitt nicht nötig. 44Die Behandlung von Schwangeren im 3. Trimenon mit einer Aciclovir-Dosis von 4 × 200 mg/Tag über einen Zeitraum von 2–4

Wochen vor der Entbindung vermindert die Zahl der Kaiserschnittentbindungen (ab der 36 + 0 SSW). 44Eine Aciclovir-Prophylaxe ist sowohl beim primären als auch beim rezidivierenden Herpes genitalis effektiv. Allerdings könnte eine prophylaktische Aciclovir-Behandlung in bestimmten Situationen, wie z. B. bei Oligohydramnion oder fetaler Niereninsuffizienz, eine Gefahr für das Kind darstellen. So geht es weiter … Dr. Müller, Assistenzarzt im letzten Ausbildungsjahr, sieht sich Magdalena an. Vier von fünf Kreißsälen sind belegt, wobei derzeit zwei der werdenden Mütter, die als Risikoschwangerschaften klassifiziert wurden, kurz vor der Geburt stehen. Die beiden anderen Schwangeren befinden sich noch in der Eröffnungsphase. Dr. Müller liest schnell die Einträge im Mutterpass, während sich Magdalena sehr verunsichert vom CTG-Gerät befreit und regungslos vor ihm sitzt. Ein kurzer Blick auf das CTG ergibt unauffällige Herzaktionen und regelmäßige uterine Kontraktionen alle 10  min. Es ist Magdalenas erste erfolgreiche Schwangerschaft, vor eineinhalb Jahren hatte sie eine missed abortion in der 8. SSW (IIG/0P). Sie ist nun in SSW 38 + 5. Ansonsten ist die Familienanamnese komplett unauffällig. Sie hat eine HashimotoThyreoiditis, die aber medikamentös gut eingestellt ist. Ansonsten hat sie keine Allergien, sie nimmt keine weiteren Medikamente ein, seit zwei Jahren raucht sie nicht mehr, und Alkohol ist in der Schwangerschaft »untersagt«. Die Schwangerschaft wurde ambulant von der Frauenärztin betreut. Alle nötigen und vorgeschriebenen Untersuchungen wurden durchgeführt und im Mutterpass dokumentiert. Die serologischen Untersuchungen zeigten sich unauffällig. Die durchgeführten Ultraschalluntersuchungen ergeben eine unauffällige und zeitgerechte Entwicklung eines männlichen Feten. Trotz der Zeitnot – Dr. Müller wird wegen eines auffälligen CTG noch in Kreißsaal 1 verlangt – macht er noch einen orientierenden Ultraschall, der eine unauffällige II. Schädellage des Kindes zeigt. Kopfumfang, Abdomendurchmesser (ATD) und Femurlänge sind im Normbereich. Die Plazenta befindet sich an der

321 21.1 · Falldarstellung

Hinterwand. Soweit beurteilbar, ist die Doppler-Sonographie unauffällig. Der Assistenzarzt untersucht nun die Schwangere. Magdalena berichtet ihm kurz über die schmerzhaften und brennenden Beschwerden an der linken Labia majora. Äußerlich zeigt sich eine leichte Rötung an der linken Labie mit 3–4 Hauteffloreszenzen mit jeweils ca. je 1–2  mm Durchmesser (. Abb. 21.1). Eine sehr kleine Hauteffloreszenz scheint eine mit Flüssigkeit gefüllte Pustel zu sein. Bei Berührung ist diese sehr schmerzhaft. Dr. Müller denkt an einen Herpes genitalis, wobei der Befund jedoch sehr uncharakteristisch und untypisch ist. Die vaginale Untersuchung ergibt einen geöffneten Muttermundbefund von 3  cm mit noch wulstiger Zervix. Die Fruchtblase ist intakt. Bevor er in den Kreißsaal eilt, bespricht Dr. Müller mit Magdalena, dass die Geburt jetzt langsam losgehe und sie demzufolge stationär aufgenommen werden müsse. Sie solle gleich auf Station gebracht werden, und er würde sich noch einmal bei ihr

21

melden. Er überlegt noch, ob er einen Abstrich für die weitere Diagnostik entnehmen sollte. Allerdings, da es gerade 5:00 Uhr morgens ist, erscheint es nicht sinnvoll, eine mikrobiologische Diagnostik durchzuführen, da der Abstrich erst viel später abgeholt werden könnte und die Ergebnisse mindestens 2–3 Tage auf sich warten lassen würden. Außerdem wird bei jedem Stationstreffen und jeder internen Fortbildung erwähnt, dass solche Abstriche nicht nützlich sind und demzufolge, v. a. aus Kostengründen, nicht durchgeführt werden sollen. Magdalena wird von der Hebamme auf die Station gebracht. Der Bauch wird weiterhin alle 10  min hart, wobei die Schmerzen etwas stärker werden. Ihr Mann ruft besorgt an, und die Hebamme erklärt ihm die Situation. Er verspricht, so schnell es geht, bei ihr zu sein.

21.1.8 An welche Differenzialdiagnosen

denken Sie?

Eine Reihe von infektiösen Erkrankungen können solche Symptome verursachen. Dazu zählen v. a. folgende: Herpes genitalis: Differenzialdiagnosen 55Varicella-Zoster-Virus 55Vulvovaginalkandidose (pustulös) 55Syphilis 55Herpes Zoster 55Ulcus molle 55Lymphogranuloma venereum 55Schwangerschaftsbedingte Dermatosen 55Andere bläschenbildende Dermatosen (Impetigo u. a.)

21.1.9 Hat der Assistentsarzt bei

der Untersuchung alles richtig gemacht?

. Abb. 21.1  Akute Symptomatik in der Schwangerschaft (38 + 5 SSW)

Die klinische Untersuchung ergab eine Eröffnung des Muttermundes, die für den Beginn der Eröffnungsperiode sprach. Ein durchgeführtes CTG war unauffällig und der Ultraschall ebenfalls. Allerdings hätte

322

21 42

Kapitel 21 · Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?

Dr. Müller im Rahmen der allgemeinen Anamnese nochmals explizit nach einer Herpes-Infektion fragen müssen, da solche Befunde häufig nicht im Mutterpass eingetragen werden. Vor allem in Bezug auf die Hautläsionen wäre eine exakte Anamnese über eine vorangegangene ähnliche Erkrankung nützlich gewesen. Dr. Müller hat zwar eine klinische Untersuchung durchgeführt, aber aufgrund der schwierigen Diagnosestellung und der anderen bedeutenden Differenzialdiagnosen wäre eine Spekulum-Untersuchung notwendig gewesen. Dabei kann Fluor vaginalis gewonnen und mit einem Phasenkontrastmikroskop analysiert werden (z. B. zum Ausschluss von Vulvovaginalkandidose, bakterieller Vaginose oder Trichomoniasis). Eine Beurteilung des Muttermundes wäre ebenfalls wichtig gewesen, da sich nur sehr wenige Infektionserkrankungen am Muttermund manifestieren. > Vor allem Syphilis und Herpes können ulzerative Läsionen an der Zervix verursachen.

44Da eine Syphiliserkrankung im 1. Trimenon gemäß den Mutterschaftsrichtlinien abgeklärt wurde (und negativ war), ist eine neue Syphilisinfektion bei gleich bleibendem Partner nicht sehr wahrscheinlich. 44Ein Herpes Zoster manifestiert sich entlang den Dermatomen und nicht isoliert am Muttermund. 44Lymphogranuloma venereum und Ulcus molle stellen in Mitteleuropa seltene Erkrankungen dar, und das Risiko kann häufig durch eine ausführliche Sexualanamese (z. B kürzlich erfolgte Auslandsreisen der Patientin oder ihres Partners mit ungeschütztem Geschlechtsverkehr) eingeschätzt werden. > Eine Infektion mit Herpesviren kann in ca. 50% der Fälle ulzerative Effloreszenzen an der Zervix hervorrufen.

21.1.10  Wie erfolgt die Diagnose eines

Herpes genitalis?

Die Diagnose genitaler HSV-Infektionen gestaltet sich oftmals schwierig, da sehr häufig keine oder sogar atypische Symptome auftreten.

> Allgemein wird die Diagnose klinisch anhand der prodromalen Schmerzsymptomatik und der typischen kleinen vesikulären Effloreszenzen bei der Schwangeren gestellt.

Da eine Infektion mit Herpesviren in ca. 50% der Fälle ulzerative Effloreszenzen an der Zervix hervorrufen kann, ist eine Spekulum-Untersuchung sinnvoll. Aus den Vesikeln lässt sich bei diagnostischer Unsicherheit leicht Herpes-Antigen durch effloreszierende Antikörper nachweisen und eine Virusanzucht bzw. PCR-Diagnostik durchführen. Allerdings dauert eine solche Bestimmung einige Tage. Die Bestimmung des serologischen HSV-Status der Schwangeren kann in bestimmten Situationen hilfreich sein (. Tab. 21.2). Allerdings gehören solche routinemäßigen Untersuchungen (Screening) nicht zu den aktuellen Empfehlungen, da einerseits typenspezifische serologische Tests gegenwärtig nicht weit verbreitet sind und andererseits ihre Zuverlässigkeit fraglich ist. Eine typenspezifische Untersuchung zur Identifizierung des entsprechenden HSV-Typs kann hilfreich sein, da dadurch ggf. eine bessere Beratung und Einschätzung eines fetalen Infektionsrisikos möglich ist. > Die Bestimmung des serologischen HSV-Status der Schwangeren könnte in bestimmten unklaren Situationen hilfreich sein.

So geht es weiter … Dr. Müller ruft, nachdem das CTG in Kreißsaal 1 wieder normal ist und er einen regelrechten Geburtsfortschritt festgestellt hat, den sehr erfahrenen geburtshilflichen Oberarzt Dr. Meier wegen Magdalena an. Er berichtet von seinen Befunden und davon, dass er die Patientin mit V. a. Geburtsbeginn stationär aufgenommen hat. Dabei erwähnt er auch die sehr kleinen Effloreszenzen an der Vulva und schildert seine Verdachtsdiagnosen; allerdings empfinde er den klinischen Befund als eher uncharakteristisch. Dr. Meier fragt nach, wie ausgeprägt der Befund ist und ob weitere pathologische Befunde vorliegen. Dr. Müller verneint weitere allgemeine Symptome wie Fieber, Husten oder Lymphknotenschwellung der Patientin. Der Oberarzt sagt, dass dieser Befund »alles Mögliche« darstellen könnte, und legt fest, dass eine

323 21.1 · Falldarstellung

21

. Tab. 21.2  Serologische Parameter einer HSV-Infektion. Ein negatives Ergebnis für Anti-HSV-1/2-IgM schließt eine akute Infektion nicht aus. Nach AWMF – S2k-Leitline Labordiagnostik schwangerschaftsrelevanter Virusinfektionen (www.awmf-online.de) HSV-Serologie Anti-HSV1/2-IgG

HSV-1-PCR Anti-HSV1-IgG

Anti-HSV2-IgG

HSV-2-PCR

Infektionsstatus

Anti-HSV1/2-IgM













Empfänglich







– oder+

+



HSV-1-Primärinfektion

+



+

– oder+

+



HSV-1-Primärinfektion bei HSV-2-Latenz

+

+



– oder+

+



HSV-1-Infektion oder Rekurrenz

+

+



+





Klassifikation bei fehlendem Erregernachweis schwierig







– oder+



+

HSV-2-Primärinfektion

+

+



– oder+



+

HSV-2-Primärinfektion bei HSV-1-Latenz

+



+

– oder+



+

HSV-2-Infektion, Rekurrenz

+



+

+





Klassifikation bei fehlendem Erregernachweis schwierig

+

+









Abgelaufene HSV-1-Infektion

+



+







Abgelaufene HSV-2-Infektion

+

+

+







Abgelaufene HSV-1-und HSV-2-Infektion

– negativ, + positiv.

vaginale Geburt angestrebt werden soll. Die Patientin soll sicherheitshalber eine prophylaktische antibiotische Therapie mit einem Penicillin erhalten, vor deren Beginn noch ein mikrobiologischer Abstrich entnommen werden sollte, auch wenn die Krankenhausverwaltung aus finanziellen Gründen solche Untersuchungen ablehnt. Unter der Geburt sollen die sichtbaren Effloreszenzen vorsorglich desinfiziert und abgeklebt werden. Der Assistenzarzt geht zur Patientin und unterrichtet sie über das weitere Vorgehen. Er legt einen intravenösen Zugang und bemerkt, dass die Wehen häufiger werden und die Patientin nun auch heftiger atmet. Er untersucht sie erneut und stellt fest, dass der Muttermund jetzt 4 cm geöffnet ist. Er organisiert alles für die bei Magdalena bevorstehende Geburt.

21.1.11  War das geschilderte Vorgehen

bei V. a. Herpes genitalis richtig?

Sowohl die Anamnese als auch die klinischen Befunde sprechen für einen rezidivierenden Herpes genitalis in der 39. SSW. Hätte der Assistenzarzt noch eine Spekulum-Untersuchung durchgeführt, wäre ein einzelnes Ulkus am Muttermund aufgefallen, was die Diagnose erhärtet hätte. Da die peripartale Übertragung des Virus auf das Kind durch die Passage von infiziertem Genitalsekret erfolgt, besteht schon seit Jahrzehnten die Vorgabe bzw. Empfehlung, bei allen schwangeren Frauen, bei denen der V. a. aktive genitale HSV-Infektion besteht (oder prodromale Symptome einer HSV-Infektion vorliegen) einen Kaiserschnitt durchzuführen (. Abb. 21.2, . Abb. 21.3).

Wunsch nach größtmöglicher Sicherheit

Wunsch der Mutter

Aktive Läsionen zum Zeitpunkt der Geburt

Positiver Virusnachweise

Sequenzielle Virusnachweise im Genitalsekret

. Abb. 21.2  Algorithmus für eine primäre Herpesinfektion während der Schwangerschaft

Spontangeburt

Keine aktive Läsionen zum Zeitpunkt

1. Trimenon

Antivirale Therapie

Wunsch nach Spontangeburt

Zwei Konsekutive negative Virusnachweise

Bei zukünftiger Schwangerschaft vorgehen wie bei rekurrierende Herpesinfektion

Diagnose und Therapie

Keine Schwangerschaft Beginn 2. Trimenon

Genitale Effloreszenzen

Primäre Herpesinfektion

Kaiserschnitt

Neonatale antivirale Therapie

Intrapartale antivirale Therapie

Unaufhaltsame Geburt (Kaiserschnitt nicht möglich)

Spontangeburt

Planbare Geburt

Antivirale Therapie

3. Trimenon

Geburtsmodus/Planung

Antivirale Therapie

Ende 2. Trimenon

324 Kapitel 21 · Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?

21 42

Aktive Läsionen zum Zeitpunkt der Geburt

Positiver Virusnachweis

Wunsch der Patientin nach größtmöglicher Sicherheit

Kaiserschnitt

Spontangeburt

Ohne Symptome

Prophylaktische antivirale Therapie ab der 36. SSW

Keine Symptome

Intrapartale antivirale Therapie

Unaufhaltsame Geburt (Kaiserschnitt nicht möglich)

Neonatale antivirale Therapie

Spontangeburt

Planbare Geburt

Geburtsmodus/Planung

Antivirale Therapie

Genitale Effloreszenzen 3. Trimenon

325

. Abb. 21.3  Algorithmus für eine rezidivierende Herpesinfektion während der Schwangerschaft

Spontangeburt

Keine aktive Läsionen zum Zeitpunkt

Zwei konsekutive negative Virusnachweise

Sequenzielle Virusnachweise im Genitalsekret

Wunsch der Patientin nach Spontangeburt

Antivirale Therapie

Genitale Effloreszenzen 1. und 2. Trimenon

Rezidivierende Herpesinfektion

21.1 · Falldarstellung

21

326

21 42

Kapitel 21 · Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?

Da die Patientin aktive genitale Läsionen hat, ist in diesem Fall die Sectio caesarea indiziert. Da sie bereits unter der Geburt ist, sollte die operative Entbindung zeitnah durchgeführt werden. > Bei allen schwangeren Frauen, bei denen der V. a. aktive genitale HSV-Infektion besteht oder prodromale Symptome einer HSV-Infektion vorliegen, sollte ein Kaiserschnitt durchgeführt werden.

Für den Fall, dass die Patientin sich mit Herpes-Effloreszenzen und weit fortgeschrittener Geburt vorstellt, sind welche Maßnahmen erforderlich? Die zu ergreifenden Maßnahmen haben als Ziel, eine peripartale Infektion des Neugeborenen zu verhindern. Aus diesem Grund ist ein Kaiserschnitt indiziert. Dieser sollte spätestens innerhalb von 4–6 h nach Blasensprung erfolgen, da sonst keine Vorteile für das Kind zu erwarten sind. Wenn die Geburt allerdings schon weit fortgeschritten oder ein Kaiserschnitt nicht möglich ist, sollte auf folgende Maßnahmen geachtet werden: ! Cave 55 Vermeidung einer Amniotomie, 55 Verzicht auf das Legen einer kindlichen Kopfelektrode (CTG-Ableitung), 55 Vermeidung einer Saugglocken- bzw. Zangenentbindung, 55 i.v.-Gabe von Aciclovir sollte erwogen werden, 55 Information an die Kinderärzte.

Das vermeintliche Ende des Falls … Die Spontangeburt bei Magdalena verläuft komplett unauffällig. Die beiden Hauteffloreszenzen werden desinfiziert und dann abgeklebt. Die Eröffnungsperiode dauert 9 h. Der Blasensprung erfolgt kurz vor der Geburt mit dem Abgang von klarer Flüssigkeit. Das Kind wird komplikationslos aus II. Schädellage geboren. Die vollständige Plazenta folgt nach 24 min. Der weitere Verlauf gestaltet sich unauffällig, sodass die Patientin am 3. postpartalen Tag entlassen werden kann. Das Neugeborene hat sich gut adaptiert und zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Die Eltern gehen glücklich und zufrieden mit ihrem Kind nach Hause.

Wie sollte ein aktiver Herpes genitalis in der Schwangerschaft therapiert werden? Schwangere Frauen mit einer ersten klinischen Episode oder einem Rezidiv können mit Aciclovir oder Valaciclovir behandelt werden, da mit diesen Medikamenten die meisten Behandlungserfahrungen während der Schwangerschaft bestehen (. Tab. 21.1). Da Aciclovir und Valaciclovir offiziell nicht für die Behandlung in der Schwangerschaft zugelassen sind, sollten die Schwangeren vor einer antiviralen Therapie informiert und beraten werden (off-label use). Über eine Zunahme sowohl von fetalen Fehlbildungen bzw. Frühgeburten wurde nicht berichtet, auch wenn langfristige Ergebnisse noch ausstehen. > Eine suppressive Behandlung mit Aciclovir (oder Valaciclovir, v. a. in den USA) ab der vollendeten 36. SSW bis zur Geburt reduziert signifikant sowohl die Häufigkeit klinischer Manifestationen als auch die Virusausscheidung bei der Geburt.

Dadurch wird das Risiko einer vertikalen Übertragung verringert und eine Kaiserschnittentbindung vermieden. Daher empfiehlt sich die prophylaktische Gabe von Aciclovir oder Valaciclovir im 3. Trimenon für alle schwangeren Frauen mit regelmäßigen Rezidiven eines genitalen Herpes und/oder mit einer aktiven genitalen HSV-Infektion kurz vor oder zum Zeitpunkt der Geburt. Es geht aber noch weiter … 6 Wochen nach der Geburt erhält OA Dr. Meier den Anruf eines Kollegen aus der benachbarten Kinderklinik, der sich über die Geburt von Magdalenas Kind erkundigen will. Er schaut im Computer den Geburtsbericht nach und berichtet den Kollegen, dass der Schwangerschaftsverlauf – soweit bekannt – und die Geburt komplett unauffällig waren. Die Kinderärzte berichten ihm, dass das Neugeborene 4 Wochen nach Geburt mit ausgeprägten Symptomen einer Meningoenzephalitis bei ihnen eingeliefert wurde. Die durchgeführte Lumbalpunktion sowie das MRT ergaben eine ausgeprägte HerpesEnzephalitis. Ebenfalls konnte eine Herpes-Hepatitis sowie ophthalmologische Herpes-Keratitis nachgewiesen werden.

327 21.1 · Falldarstellung

21.1.12  Welche Symptome zeigt ein

neonataler Herpes?

Bei bis zu 95% der Fälle eines neonatalen Herpes erfolgt eine Infektion durch direkten Kontakt mit infiziertem maternalem Genitalsekret. Diese Transmission ist mit einer neonatalen Infektionsrate von 40–50%, einer neonatalen Mortalität von 40% und einer Morbidität von 20% verbunden. Im Gegensatz dazu führt die rekurrierende Infektion nur in etwa 1–5% der Fälle zu einer neonatalen Infektion. Eine neonatale HSV-Infektion kann mit unterschiedlichen Symptomen einhergehen und wird in drei unterschiedliche Verlaufsformen unterteilt, wobei die Übergänge ineinander fließend sind: Geringgradig mit lokaler Erkrankung von Haut, Auge und Mund  Diese Manifestation mit den typischen

Effloreszenzen an Haut, Auge und Mund (ohne Beteiligung des ZNS oder anderer Organe) betrifft ca. 45% der infizierten Kinder. Ohne eine rechtzeitige Therapie mit Aciclovir kann es zu einer Beteiligung des zentralen Nervensystems und einer generalisierten HSV-Dissemination kommen. Obwohl die Prognose mit einer Therapie sehr gut ist, kann es zu weiteren Krankheitsausbrüchen während der Kindheit (v. a. an der Haut) kommen. Infektionen des zentralen Nervensystems  Eine Infektion des ZNS kommt bei ca. 30% der infizierten Neugeborenen vor. Es zeigen sich primär Lethargie, Unruhe, Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme sowie Krämpfe mit oder ohne Hauteffloreszenzen. Mit einer rechtzeitigen Aciclovir-Behandlung sinkt die Mortalität auf ca. 6%. Allerdings zeigen bis zu 50% der überlebenden Kinder neurologische Auffälligkeiten. Schwerwiegende disseminierte Erkrankung mit Einbeziehung multipler Organe  Eine disseminierte Ver-

breitung von HSV führt zur Beteiligung multipler Organe und zum klinischen Bild einer Sepsis. Diese Form betrifft ca. 25% der HSV-infizierten Neugeborenen. Mit einer intravenösen Aciclovir-Therapie sinkt die Mortalitätsrate auf 30%. Allerdings sind die rechtzeitige Diagnose und Therapie für die kindliche Prognose entscheidend.

21

21.1.13  Welche medikamentösen

Maßnahmen zur Prophylaxe eines neonatalen Herpes und zur Vermeidung eines Kaiserschnitts können ergriffen werden?

Durch die hohe Rate an asymptomatischen und dadurch nichtdiagnostizierten HSV-Infektionen sind prophylaktische Maßnahmen erschwert. Die Entwicklung eines Impfstoffs, welcher eine Infektion mit HSV-1 und HSV-2 verhindert, wäre sicher die beste präventive Strategie, um die Häufigkeit des Herpes neonatorum zu senken. Allerdings steht gegenwärtig noch kein effektiver prophylaktischer oder auch therapeutischer Impfstoff zur Verfügung. 44Es empfiehlt sich die prophylaktische Verabreichung von Aciclovir (oder Valaciclovir) im 3. Trimenon für alle schwangeren Frauen mit 44rezidivierendem Herpes genitalis, 44einer aktiven genitalen HSV-Infektion kurz vor dem oder zum Zeitpunkt der Geburt. 44Eine Behandlung von Schwangeren im 3. Trimenon mit einer Aciclovir-Dosis von 4 × 200 mg/Tag über einen Zeitraum von 2–3 Wochen (meistens Beginn ab der SSW 36 + 0) vor Entbindung vermindert die Zahl der Sectio-Entbindungen. 44Eine Aciclovir-Prophylaxe ist sowohl beim primären als auch beim rezidivierenden Herpes genitalis effektiv. ! Cave Eine prophylaktische Aciclovir-Behandlung könnte allerdings in bestimmten Situationen, wie z. B. bei Oligohydramnion oder fetaler Niereninsuffizienz, eine Gefahr für das Kind darstellen.

Welche Maßnahmen können in der Schwangerschaft und während der Geburt ergriffen werden, um das Risiko eines neonatalen Herpes zu verringern? Unabhängig von einer medikamentösen Therapie bzw. Prophylaxe sollte eine Kaiserschnittentbindung bei allen schwangeren Frauen, bei denen der

328

21 42

Kapitel 21 · Brennende Bläschen an der Vulva – was steckt dahinter?

V. a. aktive genitale HSV-Infektion besteht (oder ausgeprägte und typische prodromale Symptome einer HSV-Infektion vorliegen) durchgeführt werden (. Abb. 21.2, . Abb. 21.3). > Durch einen Kaiserschnitt vor dem Blasensprung wird das Risiko einer intrapartalen Übertragung auf das Neugeborene reduziert.

44Im Fall eines notwendigen Kaiserschnitts sollte dieser spätestens innerhalb von 4–6 h nach Blasensprung erfolgen, da sonst keine Vorteile für das Kind zu erwarten sind. 44Wird die Primärinfektion während der ersten beiden Trimester der Schwangerschaft erworben, können sequenzielle Virusnachweise im Genitalsekret ab der 32. SSW durchgeführt werden. Zeigen zwei aufeinanderfolgende Erregerbestimmungen ein negatives Ergebnis und liegen zum Zeitpunkt der Entbindung keine aktiven genitalen Herpesläsionen vor, könnte eine vaginale Entbindung angestrebt werden (. Abb. 21.2, . Abb. 21.3). 44Im Fall einer Primärinfektion zum Ende des 2. Trimenons sollte, aufgrund der lang anhaltenden Ausschüttung des Virus im Genitalsekret, die Prävention eines neonatalen Herpes mit einem Kaiserschnitt mit der Schwangeren ausführlich besprochen werden (. Abb. 21.2). 44Eine Amniotomie unter der Geburt sollte vermieden werden. 44Des Weiteren sollte auf das Legen einer kindlichen Kopfelektrode während der Geburt zur besseren CTG-Ableitung verzichtet werden. 44Eine Saugglocken- bzw. Zangenentbindung sollte ebenfalls vermieden werden, da das Risiko einer HSV-Übertragung hierdurch erhöht wird. 44Ein prophylaktischer Kaiserschnitt bei Frauen mit anamnestisch rezidivierendem Herpes genitalis zur Verhinderung einer maternofetalen Transmission ist nicht indiziert. Es müssten ca. 1580 Kaiserschnitte vorgenommen werden, um einen Fall von neonatalem Herpes zu verhindern.

Welche präventiven Maßnahmen können ergriffen bzw. mit der schwangeren Patientin besprochen werden? 44Eine ausführliche Anamnese sollte bei allen schwangeren Frauen und deren Partner bei der ersten Untersuchung erhoben werden. > Patientinnen mit einem rezidivierenden Herpes genitalis sollten über das relativ geringe Transmissionsrisiko, die Möglichkeit einer prophylaktischen Aciclovir-Gabe und einer Kaiserschnittentbindung hingewiesen werden.

44Frauen mit einer positiven HSV-Anamnese sollte geraten werden, während eines Rezidivs vom Geschlechtsverkehr abzusehen (auch oraler Verkehr). 44Eine ausführliche Aufklärung und Beratung über das mögliche Ansteckungsrisiko sollte bei Frauen mit einer negativen HSV-Anamnese erfolgen. 44Kondome scheinen das Risiko einer sexuellen HSV-Übertragung in bis zu 50% der Fälle zu reduzieren und bieten diesbezüglich einen Transmissionsschutz. 44Die Bestimmung des serologischen HSV-Status der Schwangeren kann in bestimmten Situationen hilfreich sein. Allerdings gehören solche routinemäßigen Untersuchungen (Screening) nicht zu den aktuellen Empfehlungen. 44Eine spezifische Untersuchung zur Identifizierung des entsprechenden HSV-Typs könnte in bestimmten Situationen hilfreich sein, da dadurch eine bessere Beratung und Einschätzung eines fetalen Infektionsrisikos bedingt möglich ist. 21.2 Fallnachbetrachtung Das vorläufige Ende des Falls Der Oberarzt ist durch den Bericht aus der Kinderklinik erschüttert und veranlasst eine Besprechung zur kritischen Reflexion dieses Falls im gesamten Team. Dabei werden sowohl die bislang bekannten präventiven Maßnahmen als auch mögliche Fehlinterpretationen analysiert.

329 Weiterführende Literatur

Das Kind wird inzwischen in der Kinderklinik behandelt, der Ausgang der Herpes-Enzephalitis ist jedoch unklar.

Wie wäre die Betreuung dieser Patientin besser verlaufen? 44Ein Eintrag im Mutterpass über eine vorangegangene Herpes-Infektion wäre nützlich gewesen. 44Die Patientin hätte ab SSW 36 + 0 bis zur Geburt eine antivirale Prophylaxe mit Aciclovir bekommen sollen. 44Bei vorhandenen Herpes-Effloreszenzen hätte eine Kaiserschnittentbindung durchgeführt werden müssen. 44Sowohl eine ausführliche Anamnese als auch eine Spekulum-Untersuchung wären nötig gewesen, um eine Herpes-Infektion zu bestätigen. 44Ein ausführliches Gespräch mit der Schwangeren über die Notwendigkeit eines Kaiserschnitts bei V. a. aktive Herpesinfektion und die Benennung des Risikos wären sinnvoll gewesen.

Weiterführende Literatur Bernstein DI, Bellamy AR, Hook EW et al (2013) Epidemiology, clinical presentation, and antibody response to primary infection with herpes simplex virus type 1and type 2 in young women. Clin Infect Dis 56(3): 344–351 Friese K, Mylonas I, Schulze A (2013) Infektionserkrankungen der Schwangeren und des Neugeborenen. Springer, Berlin Heidelberg New York Garland SM, Steben M (2014) Genital herpes. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 28: 1098–1110 James SH, Kimberlin DW (2015) Neonatal herpes simplex virus infection: epidemiology and treatment. Clin Perinatol 42: 47–59, viii Mylonas I, Friese K (2009) Infektionen in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Elsevier Urban & Fischer, München Mylonas I (2011) Herpes genitalis in der Schwangerschaft. Gynäkologe 44: 623–629 Mylonas I (2015) Herpes genitalis. Gynäkologe 48: 795–800 Mylonas I (2016) Sexuell übertragbare Erkrankungen – Ein Leitfaden für Frauenärzte. Springer, Berlin Heidelberg New York Stephenson-Famy A, Gardella C (2014) Herpes simplex virus infection during pregnancy. Obstet Gynecol Clin North Am 41: 601–614

21

331

Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand Alexander Strauss

22.1

Falldarstellung – 332

22.1.1

Wie ist die geburtshilfliche Ausgangssituation der Patientin einzuschätzen? – 333 Wie schätzen Sie den geburtshilflichen Verlauf von Frau Küçük im zeitlichen Kontext ein? – 334 Auf welche geburtshilfliche Diagnose hebt Ana Küçük ab? Und wie ist diese definiert, einzuteilen, verursacht und zu behandeln? – 334 Wie entwickelt sich der Geburtsverlauf? Überprüfen und begründen Sie Ihre Diagnose und skizzieren Sie Ihr geburtshilfliches Management – 337 Beantworten Sie die Frage von Frau Küçük. Warum kommt es bei ihr in den Morgenstunden des Mittwochs zum Geburtsstillstand? – 338

22.1.2 22.1.3 22.1.4

22.1.5

22.2

Fallnachbetrachtung – 343



Weiterführende Literatur – 344

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_22

22

332

Kapitel 22 · Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand

22.1 Falldarstellung

22

Dienstbeginn … Gerade habe ich meine Nachtdienstwoche begonnen. Anlässlich der Montagnachmittag-Übergabe hatte mich der Chef beiseite genommen: »Dr. Neuland! Die Stapel Ihrer nicht diktierten Arztbriefe haben gerade begonnen, Deckenhöhe zu erreichen. Diesen Missstand haben Sie doch sicherlich Ende der Woche behoben, nicht wahr?« Da geht die Woche ja schon mal super los. Zu Beginn der Schichtdienstwoche hatte ich mir einmal einen ruhigen Dienst gewünscht; aber nicht zum Diktieren! Viertel nach vier, ich schlurfe mürrisch meine Runde über die Station. Alles ruhig. Auf dem Weg in den Kreißsaal ruft mir noch eine bereits umgezogene Kollegin hinterher: »Virginia, nimm‘s Dir doch nicht so zu Herzen. Geht uns allen mal so mit dem Bürokram.« »Toller Trost, Du Übersoll-Erfüllerin«, will mir über die Lippen. Aber irgendwie hat sie ja auch ein bisschen Recht, der Riesenberg ungeschriebener Briefe kommt ja nicht von ungefähr. Der Saal ist, Gott sei Dank, leer und zwei erfahrene Hebammen haben Dienst. Keine ganz schlechten Bedingungen … also rein ins Arztzimmer, Tür zu und bloß keine Störungen … Nach einer Stunde klopft Jalia Doula, eine der Hebammen, an die Tür. Den Kopf nicht aus der Akte nehmend rufe ich: »Moment, hab’s gleich!« Mist, gerade läuft es so gut. Also langsam erheben und ab in die Kreißsaal-Aufnahme. Im Untersuchungsraum finde ich zwei Frauen mit Kopftuch, und ich kann aufgrund der Statur zunächst gar nicht sofort erkennen, bei wem es sich um meine Patientin handeln wird. »Frau Kiz Küçük, 24  Jahre, türkischstämmige deutsche Zweitgebärende, diätetisch eingestellter Gestationsdiabetes (GDM), Z. n. Vakuum«, hilft Jalia und deutet auf die jüngere der beiden Frauen. »ET + 8, Wehen seit 2 Stunden.« Frau Küçük liegt auf der Liege am CTG. Unauffällige Herztöne bei 130 SpM und Wehen alle 3–4 Minuten erkenne ich im Vorbeigehen. Ich begrüße die beiden und erfahre von Frau Küçük in akzentfreiem Deutsch, dass sie sich in Begleitung ihrer Mutter, Ana Küçük, befindet, welche sie unter der Geburt unterstützen wird. »Wie geht es Ihnen denn?«, will ich wissen. »Soweit gut«, antwortet Frau Küçük. »Die Wehen haben ca. um 4 Uhr begonnen und sind dann immer stärker geworden. Vor einer halben Stunde haben wir uns dann auf den

Weg gemacht.« »Wie stark und häufig spüren Sie die Wehen denn jetzt?«, frage ich. »Na, so alle paar Minuten und seit 5 Uhr immer stärker.« »Und gab es in Schwangerschaft irgendwelche Besonderheiten? Jalia, haben wir eine Akte?«, will ich weiter wissen. »Nein, die Patientin ist heute zum ersten Mal da«, lautet die Antwort der Hebamme. »Probleme in der Schwangerschaft gab es auch keine«, ergänzt Ana Küçük. Nun ergreift ihre Tochter das Wort: »Ja, alles war immer normal. Um etwas weiter auszuholen: am 18. September des vergangenen Jahres erhielt ich meinen positiven Schwangerschaftstest. Mir tat aber nur die Brust weh. Meine Mutter meinte schon am Tag vor dem Test, dass ich schwanger sei. Ich war mir sicher, nicht schwanger zu sein, doch sie hatte Recht! Wir freuen uns auf unser Baby. Zwischen Weihnachten und Silvester erfuhren wir dann, dass wir einen Buben bekommen … « »Ok, ok«, unterbreche ich hier die mir etwas zu ausführlich werdende Eigenanamnese. »Wie waren Ihre letzten Tage?« »Als Stichtag war der 26. Mai ausgerechnet. Aber der Tag kam, und es passierte nichts. Auch die Tage danach tat sich überhaupt nichts, außer dass die Füße jetzt überhaupt nicht mehr in die Schuhe passen«, offenbart Frau Küçük und unterstützt die Schilderung durch demonstratives Vorstrecken ihrer tatsächlich enorm angeschwollenen Unterschenkel und Füße. »Die Überwachung über ET erfolgte zweitägig durch den Niedergelassenen«, beschleunigt die Hebamme den Informationstransfer »und für Mittwoch hat Frau Küçük bereits eine Einweisung zur Einleitung bei uns in der Tasche.« »Na, dann wollen wir mal untersuchen.« Nach diesen Worten versucht Kiz Küçük, sich auf der Liege zu drehen. Mit der Hilfe ihrer Mutter und von Hebamme Jalia gelingt dies schließlich auch. Nun bitte noch den Unterleib freimachen – kein leichtes Unterfangen. Endlich kann ich den Muttermundbefund tasten, denke dabei aber vorwiegend an meine Aktenberge: 44 Zervixlänge: 2 cm 44 Konsistenz: mittel-derb 44 Position: mediosakral 44 Muttermundweite: Fingerkuppe einlegbar 44 Höhenstand (vorangehender Kindsteil, VT): fest im Beckeneingang (–4) 44 Blutung: geringe altblutige Spuren am Handschuh

22

333 22.1 · Falldarstellung

Da ich Frau Küçük nun schon einmal auf der Liege habe, mache ich schnell noch eine Übersichtssonographie; dann habe ich die Aufnahme durch und Jalia, so meine Hoffnung, kümmert sich weiter um die Patientin, während ich zu meinen Arztbriefen zurückkehren kann. 44 Fetus in I. Schädellage, Plazenta Fundus/ Hinterwand, Fruchtwassermenge normal 44 Biometrie: Biparietaler Durchmesser (BIP) Frontookzipitaler Durchmesser (FRO) Kopfumfang (KU) Abdomenumfang (AU) Femurlänge (FL) Gewichtsschätzung (Hadlock III)

108 mm

(90. Perzentile)

126 mm

(95. Perzentile)

368 mm 349 mm 76 mm 3980 g

(75. Perzentile) (55. Perzentile) (50. Perzentile) (80. Perzentile)

44 Dopplersonographie: A. umbilicalis: Resistance-Index (RI) 0,52 44 Herzaktion regelhaft (Sinusrhythmus), Kindsbewegungen vorhanden, keine augenfälligen sonomorphologischen Auffälligkeiten Beim Verlassen der Aufnahme und auf dem Weg in Kreißsaal II fällt mir der am Rande schon während der Aufnahme wahrgenommene Körperbau von beiden Frauen auf. »Wieviel wiegen Sie denn und wie groß sind Sie?«, frage ich, schon im Gehen. »151 cm und zuletzt so um die 83 kg«, erhalte ich zur Antwort. Dann erwischt Frau Küçük die nächste Wehe. Sie muss stehen bleiben und sich am Handlauf festhalten. Mutter und Hebamme Jalia bugsieren Frau Küçük in den nächstgelegenen freien Kreißsaal und unmittelbar in das Kreißbett.

22.1.1 Wie ist die geburtshilfliche

Ausgangssituation der Patientin einzuschätzen?

Anamnese  Adipositas II (BMI 36,4), Körperhöhe 5. Perzentile (. Tab. 22.1). Terminüberschreitung  Z. n. vaginal-operativer

Entbindung.

Symptomatik  44Unterschenkelödeme, Wehen.

. Tab. 22.1  Körpermaße (Normwerte Deutschland) Körperhöhe (Erwachsene)

5. Perzentile

50. Perzentile

95. Perzentile

Männer

162,9 cm

173,3 cm

184,1 cm

Frauen

151,0 cm

161,9 cm

172,5 cm

Vaginaler Befund  Unreifer Zervixbefund, Frucht-

blase tastbar, minimale Zeichnungsblutung, zur Tragzeit/geburtshilflichen Symptomatik adäquater Höhenstand.

Fetale Zustandsdiagnostik  CTG: FHF unauffäl-

lig, regelmäßige Wehentätigkeit, Sonographie: eutropher Fetus in Schädellage bei unauffälligen Funktionsparametern (Fruchtwassermenge, Nabelschnurarteriendurchblutung).

Diagnose  V. a. endogenen Geburtsbeginn.

… die Nacht … Als ich wenige Minuten später am Kreißsaal-Stützpunkt vorbeikomme, höre ich Frau Küçük durch die angelehnte Tür von Saal II stöhnen: »Die Wehen sind schrecklich, sie sind überall. Im Bauch, im Rücken, im Hintern und den Oberschenkeln.« Jalia bereitet für ihre Patientin ein Wannenbad vor, »dort wird es mit den Wehen bestimmt erträglicher werden.« Erst kurz vor 11 Uhr höre ich wieder von Frau Küçük. Na, das scheint ja gut geklappt zu haben mit der Wanne, geht mir durch den Kopf. »Befundstatus idem, Wehentätigkeit noch spürbar, aber deutlich weniger heftig«, so die Hebamme am Telefon. »Die Patientin ist erschöpft und möchte versuchen zu schlafen.« »Na, dann lassen wir sie doch einmal ein Bisschen zur Ruhe kommen und forcieren die Geburt jetzt nicht in die Nacht hinein«, stimme ich zu und autorisiere so die Verlegung auf Station. Kurz vor Mitternacht kommt es beim Toilettengang von Frau Küçük auf Station zum Fruchtwasserabgang. Das im Anschluss unauffällige Kontroll-CTG werde ich erst am nächsten Morgen vorgelegt bekommen. Irgendwann in der Nacht ist Frau Küçük dann für ca. 2 Stunden tatsächlich auch noch eingeschlafen. Als ich morgens nochmals vorbeikomme, ist sie ziemlich fertig, und ich habe das Gefühl,

334

22

Kapitel 22 · Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand

dass sie schon zu diesem Zeitpunkt kaum noch Kräfte hat. Aber, ich werde eines Besseren belehrt … Was ein Mensch so alles aushält, ist eigentlich unbeschreiblich. Gleich nach dem Frühstück wird Frau Küçük auf Station durch eine Hebamme untersucht und bei unverändertem Muttermundbefund und unauffälligem CTG zum Spazierengehen geschickt. Ich habe Dienstschluss und bin nach der Morgenbesprechung um 8 Uhr auch flugs auf und davon. Schließlich darf ja schon heute Abend wieder hier in »der Anstalt« antreten.

22.1.2 Wie schätzen Sie den

geburtshilflichen Verlauf von Frau Küçük im zeitlichen Kontext ein?

Regelmäßige, klinisch wie kardiotokographisch objektivierbare Wehentätigkeit seit 15 h. Darunter keine relevante Muttermundprogredienz. Frühzeitiger Blasensprung. Diagnose   Geburtsbeginn, Latenzphase der

Eröffnungsperiode.

… da capo … Mit Beginn meines zweiten Nachdienstes in dieser Woche erfahre ich zu meiner Überraschung, dass Kiz Küçük noch immer schwanger ist. Stirnrunzeln; neuer Tag, neuer Versuch. Die Wehentätigkeit ist jetzt regelmäßig und kräftig. Der Befund hat sich über den Tag allerdings kaum verändert: Zervixlänge 1  cm, weich, Gebärmutterhals mediosakral. Muttermund bequem fingerdurchgängig, Abgang unwesentlicher Mengen von rosa tingiertem Fruchtwasser. »Virginia, kannst du mal nachsehen? Wir kommen so nicht weiter!«, fordert mich die Hebamme Flo Nachtigall auf, die in dieser Schicht die Patientin betreut. »Das kann doch nicht sein!«, empört sich Ana Küçük nach der Untersuchung. »Nicht dass meine Tochter nicht mehr kann, sondern sie will einfach nicht mehr. Es ist jetzt 7 Uhr abends! Die Schmerzen den ganzen Tag lang, die bringen doch einfach nichts! Nur 2 cm offen? Zwei Zentimeter nach zwei Tagen! Ich glaube, Ihr wollt uns fertig machen!«, hält sie mir zur Begrüßung heftig entgegen.

22.1.3 Auf welche geburtshilfliche

Diagnose hebt Ana Küçük ab? Und wie ist diese definiert, einzuteilen, verursacht und zu behandeln?

Regelmäßige und anhaltende Wehentätigkeit sowie (sukzessive) Eröffnung des Muttermundes markieren den Beginn des Geburtsvorgangs (der Eröffnungsperiode). Die Geburtsdauer wird dann als der nachfolgende Zeitraum bis zur Geburt des Kindes verstanden. Dieser unterteilt sich in unterschiedliche Segmente: Geburtsvorgang – Einteilung 55Eröffnungsperiode: –– Latenzphase –– Aktivitätsphase –– Akzelerationsperiode –– Dezelerationsperiode 55Austreibungsperiode –– Frühe Austreibungsperiode –– Pressperiode

Ana Küçük moniert den zögerlichen geburtshilflichen Verlauf mit einem Geburtsbeginn (frühzeitiger Blasensprung in der Eröffnungsperiode) um 23:55 Uhr des vergangenen Tages. Speziell vermutet sie damit intuitiv die Diagnose einer protrahierten Eröffnungsperiode.

Protrahierte Geburt Eine protrahierte Geburt bezeichnet eine Geburtsdauer von mehr als 18 h bei Erst- und > 12 h bei Mehrgebärenden. Die Prävalenz der protrahierten Geburt liegt bei 4–8% aller Entbindungen. Eine verlängerte Latenzphase mit unregelmäßiger Wehentätigkeit vor Beginn der aktiven Eröffnungsperiode wirkt sich dabei als ungünstiges Prognosekriterium für eine protrahierte Geburt aus. Diese Verzögerungen im Geburtsverlauf können zu jedem Zeitpunkt sub partu auftreten: Protrahierte Eröffnungsperiode  Die mittlere Dauer

der Eröffnungsperiode beträgt 7,7 h für Nulliparae und 5,4 h für Multiparae. Von einer protrahierten Eröffnungsperiode wird bei Erstgebärenden ab 17,5 h und bei Mehrgebärenden ab 13,8 h gesprochen.

335 22.1 · Falldarstellung

> Regelrechte Aktivitätsphase = wehenbedingte Zervixdilatation: > > 1,2 cm/h (Nullipara), > 1,5 cm/h (Multipara) Protrahierte Austreibungsperiode   Die mittlere Dauer der Austreibungsperiode beträgt 54 min für Nulliparae und 18 min für Multiparae. Eine Leitungsanästhesie verlängert die Austreibungsperiode dabei jeweils im Mittel um 20–30 min. Daraus leitet sich die klinisch fundierte Übereinkunft ab, von einer verlängerten Austreibungsperiode für Erstgebärende ab 2 h (bzw. ab 3 h mit Regionalanästhesie) zu sprechen. Im Fall von mehrgebärenden Patientinnen verkürzt sich die entsprechende Frist auf 1 h (bzw. 2 h mit Regionalanästhesie). Bei verzögerter Austreibung ist eine klinische Beurteilung der Gebärenden, des Feten und der austreibenden Kräfte erforderlich. Diese Parameter helfen zu entscheiden, ob aus Gründen der Geburtsmechanik eine verlängerte Wehenphase vorliegt und/oder eine Intervention erforderlich wird. > Regelrechte Austreibungsperiode = wehenbedingtes Tiefertreten des vorangehenden Kindsteils (VT):

22

55Kephalopelvines Missverhältnis 55Fetale Haltungs- und Einstellungsanomalien 55Regionalanästhesie 55Makrosomie (Geburtsgewicht > 4000 g = 2% [80% vaginale Geburt]): Für die Geburtsdauer ist vielmehr vornehmlich die Kopfgröße (KU > 95. Perzentile) und weniger das Kindsgewicht maßgeblich (→ verdoppelte Kaiserschnittwahrscheinlichkeit). Nur 24% der durch das Geburtsgewicht als makrosom klassifizierten Feten weisen einen Kopfumfang > 95. Perzentile auf. Absolut trifft diese Konstellation nur auf 6% aller Feten zu.

Klinische Folgen  44Erhöhte peripartale Infektionsmorbidität, 44erhöhtes Atonie-Risiko, 44psychoemotionale Belastung der Mutter, 44erhöhte Neugeborenen-Morbidität (früh > spät).

> > 1,0 cm/h (Nullipara), > 2,0 cm/h (Multipara) Protrahierte Pressperiode  Die Pressperiode beginnt

durch Druck auf den Plexus lumbosacralis, sobald der VT die Beckenmitte erreicht. Durch reflektorische Bauchpresse kommt es zur Verdopplung des intrauterinen Drucks.

> Regelrechte Pressperiode (8–12 Presswehen) = unwillkürlich und willkürlich bedingtes Tiefertreten des VT bis zur Geburt: > < 30 min (Nullipara) < 20 min (Multipara)

Ursachen von protrahierten ­Geburtsverläufen 55Hypoaktive bzw. dyskoordinierte Wehentätigkeit 55Zervixdystokie

Geburtshilfliches Vorgehen bei ­protrahierter Geburt 55Ursachenprüfung (u. a. Anamnese, CTG, Wehentätigkeit, Temperatur, Labor) 55Palpatorischer Befund (Ausschluss von Einstellungs-/Haltungsanomalien), ggf. Lagerungsmaßnahmen 55Mobilisierung der Mutter durch ­Lagerungsmaßnahmen (ggf. aufrechte Körperhaltung zur Unterstützung des Geburtsverlaufs) 55Ggf. Amniotomie 55Ggf. Spasmolytika, zentral wirksame Analgetika 55Ggf. Oxytocin-Infusion bei hypoaktiver Wehentätigkeit 55Ggf. Anlage einer Periduralanästhesie (PDA) 55Ggf. Tokolyse bei dyskoordinierter Wehentätigkeit

336

22

Kapitel 22 · Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand

55Kontrolle der Reaktionen des Feten auf zusätzliche Stimulationsmaßnahmen des Geburtsverlaufs mittels CTG 55Bei Erfolglosigkeit der aktiven Propagation des vaginalen Geburtsverlaufs ggf. vaginaloperative Intervention (6-fache Wahrscheinlichkeit) oder Sectio caesarea (2-fache Wahrscheinlichkeit)

Prävention  44Zielgerichtete Geburtsvorbereitung, 44bedarfsgerechte Anxiolyse, 44persönliche Betreuung sub partu.

... Geduld … Also, ab in den Kreißsaal und Beginn einer i.v.-Wehenstimulation. Mutter Küçük beobachtet unsere Maßnahmen genau. »Die Wehen sind so stark«, meldet sich ihre Tochter nach 45  Minuten, »kaum auszuhalten!« Sie könne weder sitzen noch stehen noch liegen oder sonst etwas. Telefonisch erreiche ich den diensthabenden Oberarzt PD Dr. Haus. »Gregor, ich habe hier die Patientin Küçük … « »Ja, weiß ich genau, habe ich bei Übergabe gehört«, unterbricht er mich. »Jetzt starke Wehen, die sie kaum aushalten kann. Befund aber noch nicht wirklich reif. Ich würde trotzdem gerne eine PDA legen lassen. Was meinst Du?« Nach kurzer Überlegung entscheidet er sich: »Einverstanden. Du solltest dann allerdings unbedingt das Essen bestellen; ich habe schon einen Mordshunger. Die Bestellliste habe ich Dir im Kreißsaal-Arztzimmer liegen lassen«. So erhalte ich zwei oberärztliche Anweisungen in einem Atemzug. Nachdem die Anästhesisten gegangen sind, sind auch die Wehen von Frau Küçük – ebenso schnell, wie sie gekommen waren – auch schon wieder Geschichte. Frau Küçük ist jetzt allerdings so entspannt und schmerzfrei, dass sie rasch ein wenig Schlaf der vergangenen unruhigen Nacht nachholt. Um 90 Uhr meldet sich Flo Nachtigall mit einem Muttermundbefund: verstrichen, 4  cm, pralle Fruchtblase und ordentlich Druck. Während der tokographisch gut aufzuzeichnenden Wehen reagiere der Fetus immer wieder leicht mit.

Um Mitternacht – ich habe bisher einen superruhigen Dienst – will ich mir, bevor ich mich hinlege, noch einen eigenen Eindruck verschaffen. Die Muttermunderöffnung ist jetzt auf 7  cm progredient. »Na also!« und »Weiter so!« gebe ich Flo noch mit auf den Weg und steuere direkt mein Dienstzimmer an. Nachtruhezeit ist ja so was von kostbar! Um 2:30 Uhr ist der Muttermund auf 8  cm weitergegangen, was ich allerdings erst später erfahre. Die Wehen sind sehr stark. Um 5 Uhr noch immer 8 cm bei inzwischen eindrucksvoller Geburtsgeschwulst. Flo und ihre Kolleginnen sind sich hinsichtlich des Pfeilnahtverlaufs uneinig. Ich werde angerufen und um die Indikation zum Wiederbeginn des Wehentropfs gebeten – schlaftrunken finde ich das in Ordnung. Vor allem aber die rasch wieder herzustellende Ruhe in meinem Dienstzimmer ist toll. Diese erweist sich allerdings als trügerisch und währt nur 30 Minuten. »Frau Küçük hat wieder solche Schmerzen«, dringt es an mein Ohr. »Kann die Anästhesie nicht nochmal zu Nachspritzen kommen?« »Klasse Idee«, entfährt es mir, und ich lege quasi schon wieder schlafend auf. Um 6:30 Uhr – ich werde zu einer postoperativen gynäkologischen Schmerzpatientin gerufen – mache ich einen Abstecher durch den Kreißsaal und komme gerade zeitgerecht zur nächsten Untersuchung. »Mache ich jetzt mal selber«, sage ich rasch zu Flo Nachtigall und trete mit ihr in Kreißsaal II. Die PDA ist optimiert und die Oxytocin-Infusion läuft auf 90  ml/h. Frau Küçük ist erschöpft und jammert in einem unverständlichen Singsang leise vor sich hin. Das etwas eingeschränkt oszillierende CTG weist, ausgehend von einer Baseline bei 160 SpM, gelegentliche leichte variable Dezeleration auf. Die vaginale Tastuntersuchung ergibt einen Muttermundbefund von 8 cm mit wulstig-ödematöser Restzervix und einem Höhenstand am Beckeneingang, allerdings mit ausgeprägter Geburtsgeschwulst. Mit Blick auf das nahende Schichtende lasse ich den Tropf nochmals erhöhen. Bei der Tastuntersuchung empfinde ich palpatorisch die Körpertemperatur von Frau Küçük als hoch. »Flo, wann haben wir zuletzt die Temperatur gemessen?« »Ist schon etwas her, wollte ich als Nächstes machen«, erhalte ich zur Antwort, während das Thermometer schon beflissen vorbereitet wird. »Na, dann mal los«, feuere ich sie in Gedanken angesäuert an, »das ist bei uns doch

337 22.1 · Falldarstellung

standardmäßig bei allen Patientinnen als regelmäßige Kontrolle festgelegt!«

22.1.4 Wie entwickelt sich der

Geburtsverlauf? Überprüfen und begründen Sie Ihre Diagnose und skizzieren Sie Ihr geburtshilfliches Management

Die protrahierte Eröffnungsperiode (Aktivitätsphase, Akzelerationsperiode) der Entbindung von Kiz Küçük mündet nach 29 h in einen Geburtsstillstand über 4 h in der Eröffnungsperiode.

Geburtsstillstand Als Geburtsstillstand wird der Zeitpunkt bezeichnet, zu dem es nach mehr als 2 h nach Beginn der Aktivitätsphase der Eröffnungsperiode oder nach mehr als 1 h in der Austreibungsperiode zu keinem Geburtsfortschritt gekommen ist. Diese Definitionen gelten indessen nur unter Ausschöpfung sämtlicher Maßnahmen zur Förderung der vaginalen Geburt. Andernfalls ist von einem protrahierten Geburtsverlauf zu sprechen. Ein Geburtsstillstand tritt bei 2–6% aller anamnestisch unbelasteten Gebärenden auf. Formen  44Geburtsstillstand im Beckeneingang, 44Geburtsstillstand auf Beckenmitte, 44Geburtsstillstand auf Beckenboden, 44Geburtsstillstand während der Eröffnungsperiode, 44Geburtsstillstand während der Austreibungsperiode.

Geburtsstillstand: Ursachen 55Wehenschwäche (65%) 55Einstellungsanomalie (25%) 55Kephalopelvines Missverhältnis Prädiktion  In multivariaten Voraussagemodel-

len zur Prädiktion geburtsmechanischer Probleme in der Eröffnungs- und Austreibungsperiode sind

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Sensitivitätswerte von 57%, eine Spezifität von 75% sowie ein positiver Voraussagewert von 35% nicht zu übertreffen. Risikofaktoren eines Geburtsstillstands 55Eröffnungsperiode: –– Vorzeitiger Blasensprung –– > 6 h Zeitintervall zwischen PDA und vollständiger Muttermunderöffnung –– Fetale Makrosomie (Diabetes) –– Schwangerschaftsinduzierte Hypertonie (SIH)/Präeklampsie –– Erhöhtes mütterliches Alter (> 35 Jahre) –– Haltungs-, (Einstellungs-)Anomalie (u. a. Deflexionshaltung) –– PDA –– Terminüberschreitung/Übertragung (≥ 41 + 0 SSW) –– Chorioamnionitis –– Fruchtwassermengenveränderungen –– Beckenverengerungen –– Z. n. perinatalem Todesfall –– Z. n. Kinderwunschbehandlung 55Austreibungsperiode: –– Verlängerung der der Eröffnungsperiode –– Höhenstand +2 des VT bei vollständig geöffnetem Muttermund –– Fetale Makrosomie (Diabetes) –– Nulliparität –– Geringe mütterliche Körperhöhe (< 150 cm) –– (Haltungs-), Einstellungsanomalie (u. a. hintere Hinterhauptslage, hoher Geradstand) –– PDA

Geburtsstillstand: Diagnose 55Eröffnungsperiode: –– Offene Fruchtblase (spontan gesprungen oder eröffnet) –– Fehlende weitere Muttermunderweiterung unter Ausschöpfung aller nichtoperativen Maßnahmen zur Förderung einer Spontangeburt

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Kapitel 22 · Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand

(Wehenstimulation, Lagerungswechsel, Analgesie) –– Latenzzeit von > 2 h –– Pathologische FHF (häufiger, verglichen mit einem Geburtsstillstand in der Austreibungsperiode) 55Austreibungsperiode: –– Offene Fruchtblase (spontan gesprungen oder eröffnet) –– Trotz zervixwirksamer Wehentätigkeit kein Tiefertreten des VT –– Latenzzeit von > 1 h –– Polysystole Wehentätigkeit (> 5 Wehen/10 min) ± Veränderungen der fetalen Herzfrequenz (FHF) bei (iatrogener) Überstimulation

Geburtshilfliches Vorgehen bei ­Geburtsstillstand 55Überprüfung der mütterlichen und fetalen Parameter (CTG, Wehentätigkeit, Temperatur, Labor) 55Palpatorischer Befund (Ausschluss von Einstellungs-/Haltungsanomalien) 55Mobilisierung der Mutter, Lagerungsmaßnahmen (ggf. aufrechte Körperhaltung zur Unterstützung des Geburtsverlaufs) 55Prinzip der aktiven Geburtsleitung (bei Wehenschwäche u. a. Oxytocin-Infusion) und weitere engmaschige Beobachtung der Patientin (u. a. CTG unabdingbar) 55Anlage einer PDA (wirkt nicht unbedingt geburtsverzögernd – kann durch muskuläre/psychologische Entspannung förderlich eine Geburt ohne Zeitdruck zu Ende zu bringen) 55Bei Versagen aller Maßnahmen: befundadaptierte Vorbereitung zur Sectio caesarea oder zur vaginal-operativen Geburt

Komplikationen  44Chorioamnionitis, insbesondere nach vorzeitigem Blasensprung (Folge der verlängerten Geburt),

44sekundäre Wehenschwäche (Erschöpfung des Myometriums, Infektionsfolge), 44Verletzungen der Geburtswege (spontan, v. a. aber iatrogen). … der Oberarzt … Temperatur 38 °C, Laborwerte (7:00 Uhr): Erythrozyten 4,8 T/l Hämoglobin 6,33 mmol/l, Hämatokrit 39%, Leukozyten 16,1  G/l, Thrombozyten 135  G/l, C-reaktives Protein 4,5 mg/l, Prothrombinzeit 83%, aktivierte partielle Thromboplastinzeit < 45 s. Übergabe im Kreißsaal (8:15 Uhr): Frau Kiz Küçük macht bei der gemeinsamen Visite mit der Tagesmannschaft einen völlig fertigen Eindruck. Auch wenn sie sich aufgrund ihrer stoischen Natur nur wenig anmerken lässt, ist ihr die Erschöpfung doch deutlich ins Gesicht geschrieben. Auch die z. T. fordernde Natur von Ana Küçük scheint purer Übernächtigung gewichen zu sein. Dem Versuch von Dr. Haus, der Patientin eine Perspektive zu geben, wie es nun weitergehen soll, werden durch Frau Küçük immer nur Tränen entgegengebracht. »Sie will doch ihr Baby so gerne normal zur Welt bringen«, springt ihr die Mutter bei. »Das wollen wir auch, aber das Baby ist steckengeblieben und kann nicht auf natürlichem Weg heraus«, so Gregor Haus eindrücklich. »Wir haben über viele Stunden alle gemeinsam alles versucht, aber jetzt ist ein Kaiserschnitt nicht mehr vermeidbar. Und das ohne weiteren Zeitverzug.« »Aber warum?« ist das Einzige, was die Patientin immer wieder sagt.

22.1.5 Beantworten Sie die Frage von

Frau Küçük. Warum kommt es bei ihr in den Morgenstunden des Mittwochs zum Geburtsstillstand?

Ein Geburtsstillstand kommt durch die Unmöglichkeit der Passage des Feten durch das kleine Becken zustande. Trotz aller Anpassungsmechanismen aufseiten des Kindes wie auch der Mutter bzw. der Wehenkraft schreitet der Geburtsvorgang nicht fort. Dabei spielen Wehenschwäche, abnorme Kindslagen oder ein kephalopelvines Missverhältnis alleine oder in Kombination die kausal entscheidende Rolle.

339 22.1 · Falldarstellung

22

Wehenschwäche

Abnorme Kindslage

Als Wehenschwäche wird eine ungenügende oder unproduktive Ausprägung der Wehentätigkeit während der Geburt bezeichnet. Bei hypotoner Wehenschwäche sind die Wehen – bei normalem Grundtonus des Myometriums – zu schwach, zu kurz oder von zu geringer Frequenz. Dabei ist zwischen einer von Anfang an unzureichenden, primären (bereits von Geburtsbeginn an nur wenig aktives/ zu aktivierendes Myometrium) und einer erst im Verlauf der Geburt auftretenden sekundären Wehenschwäche (Erschöpfung der Gebärmuttermuskulatur z. B. durch Down-Regulation der Oxytocin-Rezeptoren infolge von Überstimulation) zu unterscheiden.

Die Kenntnis aller mit der Kindslage in Zusammenhang stehenden Faktoren ist entscheidend für das Verständnis des Funktionsablaufs der Geburtsmechanik. Sie wird mit vier Begriffen beschrieben: 44Lage (Situs), 44Stellung (Positio), 44Haltung (Habitus), 44Einstellung (Presentatio).

Ursachen von Wehenschwäche 55Primäre hypotone Wehenschwäche: –– Dystope Erregungsbildung im Myometrium –– Medikamente –– Uterusruptur –– Stoffwechselstörungen (u. a. Hypokalzämie) 55Sekundäre hypotone Wehenschwäche: –– Überdehnung der Gebärmutter (Makrosomie, Polyhydramnie, Mehrlinge) –– Protrahierte Geburt u. a. durch Haltungs-/ Einstellungsanomalien 55Eine hypertone Wehenschwäche ist charakterisiert durch –– Einen erhöhten myometranen Grundtonus und eine gesteigerte Frequenz der Wehen –– Dauer und Stärke der Wehen sind dabei nicht zwingend von der Norm abweichend –– Diese Form der Wehenstörung ist durch mangelnde Produktivität bezogen auf die Zielgröße Geburtsfortschritt infolge unkoordinierter Kontraktionen des Myometriums gekennzeichnet –– Therapeutisch können hier Tokolytika eingesetzt werden

z z Regelwidrige Haltung (Habitus)

Durch Ausbleiben der physiologischen Beugebewegung (Flexio) des kindlichen Kopfes im Rahmen der Geburt verbleibt dieser in unterschiedlich starkem Maße gestreckt (deflektiert) und vergrößert dadurch die Größe des für einen erfolgreichen vaginalen Geburtsverlauf maßgeblichen Durchtrittsplanums (. Tab. 22.2). Die Mehrzahl der Deflexionshaltungen ist assoziiert mit dorsoposteriorer Einstellung, d. h., es liegt gleichzeitig eine Stellungsanomalie vor. Klinische Folgen  44Protrahierter Geburtsverlauf – insbesondere in der Austreibungsperiode, 44Geburtsstillstand trotz adäquater Wehentätigkeit, 44vermehrte/ausgedehntere Geburtsverletzungen (mechanische Belastung des ­fibromuskulären Geburtskanals und Damms durch das größere Durchtrittsplanum wie auch gehäufte geburtshilfliche Manipulationserfordernisse bei protrahierter Geburt/ Geburtsstillstand), 44absolute Sectio-Indikation bei (vaginal) geburtsunmöglicher Konstellation.

Diagnostik: vaginale Tastuntersuchung bei regelwidriger Haltung 55Vorderhauptslage: große Fontanelle als Leitstelle 55Stirnlage: Stirn als Leitstelle, große Fontanelle und Augenbrauen tastbar 55Gesichtslage: Kinn, Mund und Nase tastbar

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Kapitel 22 · Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand

. Tab. 22.2  Einteilung peripartaler Haltungsanomalien (Ausmaß der Deflexion)

22

Haltung

Vorderhauptslage(geringster Grad der Streckhaltung)

Stirnlage(ungünstigste Streckhaltung)

Gesichtslage(stärkster Grad der Streckhaltung)

Durchtrittsplanum (Umfang)

34 cm

35–36 cm

34 cm

Leitstelle

Große Fontanelle

Stirn

Gesicht

Geburtshilfliches Vorgehen bei regelwidriger Haltung 55Vorderhauptslage: Abwarten, Lagerung auf der Seite des Hinterhaupts, Wehenschwäche behandeln, großzügige Indikation zur PDA, ggf. vaginal-operative Geburtsleitung oder Sectio caesarea 55Stirnlage: Sectio-Indikation; mentoanteriore Stirnlage ist auf vaginalem Weg geburtsunmöglich (da weitere Deflexion bei Kopfaustritt aus dem Geburtskanal nicht möglich wäre) 55Gesichtslage: (Großzügige) Sectio-Indikation; mentoanteriore Gesichtslage ist für die vaginale Entbindung geburtsunmöglich (da weitere Deflexion bei Kopfaustritt aus dem Geburtskanal nicht möglich wäre)

z z Regelwidrige Einstellung (Presentatio)

Die Beziehung des VT zum Geburtsweg definiert im Falle einer Abweichung von der geburtsmechanisch jeweils günstigsten Konstellation die Regelwidrigkeiten der Einstellung. Die Einstellung des VT (Kopf) richtet sich dabei nach seiner Haltung und ist in Abhängigkeit vom Höhenstand zu beurteilen (. Tab. 22.3). Klinische Folgen  44Protrahierter Geburtsverlauf, insbesondere in der Austreibungsperiode, 44Geburtsstillstand trotz adäquater Wehentätigkeit, 44absolute Sectio-Indikation bei (vaginal) geburtsunmöglicher Konstellation,

44vermehrte/ausgedehntere Geburtsverletzungen (ausgeprägtere mechanische Belastung von Weichteilrohr und Damm durch größeres Durchtrittsplanum wie auch gehäufte geburtshilfliche ­Manipulationserfordernis bei protrahierter Geburt), 44Uterusruptur (hoher Geradstand).

Diagnostik bei regelwidriger Einstellung 55Hoher Geradstand: –– Hoch stehender VT (Kopf ) bei fehlendem Tiefertreten –– Pressdrang trotz hoch stehendem Kopf –– Protrahierter Geburtsverlauf –– Zangemeister-Handgriff positiv (Kopfhand gleich hoch oder höher als Symphysenhand) –– CTG-Anomalien 55Tiefer Querstand: –– Tief stehender VT (Kopf ) bei fehlendem Tiefertreten –– Pressdrang ohne Geburtsfortschritt –– Protrahierter Geburtsverlauf/ Geburtsstillstand –– CTG-Anomalien gehäuft 55Scheitelbeineinstellung: –– Kopf tritt nicht tiefer –– Pressdrang –– Protrahierter Geburtsverlauf 55Hintere Hinterhauptslage: –– Protrahierter Geburtsverlauf/ Geburtsstillstand

341 22.1 · Falldarstellung

22

. Tab. 22.3  Einteilung peripartaler Einstellungsanomalien Einstellung

Hoher Geradstand

Tiefer Querstand

Hintere Hinterhauptslage

Scheitelbeineinstellung (Asynklitismus)

(Untersuchungs-) Befund

Kindlicher Kopf steht bei gesprungener Fruchtblase und adäquater Wehentätigkeit über dem querovalen (knöchernen) Beckeneingang und befindet sich in anteriorposteriorer Ausrichtung (Pfeilnahtverlauf, Kopf nicht gebeugt, beide Fontanellen auf gleicher Höhe tastbar)

Kopf des Kindes steht quer (Pfeilnahtverlauf ) vor dem längsovalen Beckenausgang

Rücken des Kindes ist nach dorsal gerichtet Große Fontanelle kommt unter der Symphyse zu liegen, kleine Fontanelle führt)

Pfeilnaht ist im Beckeneingang nach ventral (vordere Scheitelbeineinstellung, [Asynklitismus], NägeleObliquität) oder nach dorsal (hintere Scheitelbeineinstellung, [Asynklitismus], Litzmann-Obliquität) abgewichen. Damit gerät das vordere (Naegele) bzw. das hintere (Litzmann) Scheitelbein in Führung

Wehenanomalien

Fetale Fehlbildung

Pathologische Beckenform

Pathologische Beckenform

Wehenanomalien

Fetale Fehlbildung

Caput succedaneum (Geburtsgeschwulst) Eine meist passagere Tendenz zum hohen Geradstand zeigt sich in der dann protrahierten Eröffnungsperiode bei ca. 2–3% aller Geburten Nur bei 0,5% aller Geburten hat die Fehleinstellung im Geburtsverlauf auch in der Austreibungsperiode Bestand Dorsoanteriorer, vorderer, hoher Geradstand (65%) Dorsoposteriorer, hinterer, hoher Geradstand (35%) Ursachen

Pathologische Beckenform (langes, plattes oder allgemein verengtes Becken) Fetale Fehlbildung (u. a. Makrozephalie) Vorliegen kleiner Teile des Feten Wehenanomalien Muskuläre Dystokien im unteren Uterinsegment Tiefsitzende Myome Idiopathisch

Wehenanomalien

342

Kapitel 22 · Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand

. Tab. 22.4  Kephalopelvines Missverhältnis: Diagnostik

22

Untersuchung

Fetale Faktoren

Mütterliche Faktoren

Abdominale Palpation

Fetale Haltung/Einstellung (u. a. Handgriff nach Zangemeister)

Pathologische Befunde (z. B. Myom)

Vaginale Palpation

Mangelnder Eintritt des VT in das kleine Becken trotz zervikaler Eröffnung, Regelwidrigkeit der fetalen Haltung/Einstellung, Vorfall kleiner Teile/Nabelschnur

Zervixbefund (Position, Konsistenz, ­Pathologie), Muttermunderöffnung, pathologische Befunde (z. B. tief sitzendes Myom)

Sonographie

Fetale Makrosomie, Regelwidrigkeit der fetalen Haltung/Einstellung

Pathologische Befunde (z. B. tief sitzendes Myom)

Kardiotokographie

Auffälligkeiten der fetalen Herzfrequenz

Dysfunktionelle Wehentätigkeit

Beckenaustastung



Beckenmaße, Beckenform, knöcherne ­Pathologie/Weichteilpathologie (1%)

Geburtshilfliches Vorgehen bei ­regelwidriger Einstellung 55Hoher Geradstand: –– Wechsellagerung ggf. unter Tokolyse (Schaukellagerung, ggf. Knie-Kopf- oder Knie-Ellenbogen-Lagerung) –– PDA (Schmerzbekämpfung → muskuläre Entspannung) –– Wärme, Massage, Aromatherapie –– Nicht unumstritten: Kegelkugelhandgriff nach Liepmann –– Bei Persistenz Schnittentbindung unvermeidlich 55Tiefer Querstand: –– Seitenlagerung auf die Seite des kindlichen Rückens (kleine Fontanelle), Behandlung der Wehenschwäche –– Bei verzögerter Austreibungsperiode vaginal-operatives Vorgehen 55Scheitelbeineinstellung: –– Vordere Scheitelbeineinstellung (Nägele): vaginale Geburt (protrahiert) möglich –– Hintere Scheitelbeineinstellung (Litzmann): vaginal geburtsunmöglich, daher Sectio-Indikation 55Hintere Hinterhauptslage: –– Seitenlagerung auf die Seite des kindlichen Rückens (kleine Fontanelle), Behandlung der Wehenschwäche –– Bei verzögerter Austreibungsperiode vaginal-operatives Vorgehen

Kephalopelvines Missverhältnis Unter einem kephalopelvinen Missverhältnis sind geburtsmechanische Diskrepanzen zwischen mütterlichen und fetalen Einflussfaktoren bezogen auf einen vaginalen Geburtserfolg zu verstehen. In diesem Sinne ist unter Beachtung auch der funktionellen Dimension die Beurteilung von Dysproportionen der Maße/Einstellung/Haltung des Feten, aber auch bestimmter Beckenbedingungen (mütterliche Körpermaße, Morphometrie, Adipositas) die Aufgabe des Geburtshelfers zu verstehen. Relatives kephalopelvines Missverhältnis Passage-

störung infolge ungenügender Ausschöpfung der Anpassungsmechanismen von Becken, Kopf und Wehenkraft.

Absolutes kephalopelvines Missverhältnis Anato-

misch bedingte Unmöglichkeit der Passage durch das kleine Becken trotz Anpassungsmechanismen aufseiten des kindlichen Kopfes (Schädelnähte, Rotation) wie auch des mütterlichen Beckens (Syndesmosen). Da ein kepahlopelvines Missverhältnis metrisch nur selten mit Sicherheit zu diagnostizieren ist (Ausnahme MRT-Pelvimetrie), wird der weniger präzise, aber klinisch besser zugängliche Begriff des mangelnden/protrahierten Geburtsfortschritts als Hinweiszeichen auf ein vermeintliches/drohendes oder tatsächliches kepahlopelvines Missverhältnis eingesetzt. Eine mit hinreichender Sicherheit erfolgende Vorhersage des Geburtserfolgs ist daher im klinischen Alltag schwierig. Dies bedeutet, dass abseits

343 22.2 · Fallnachbetrachtung

der anamnestisch oder pelvimetrisch a priori zu klassifizierenden Fälle die Feststellung kephalopelvines Missverhältnis nicht ohne einen ernstzunehmenden vaginalen Geburtsversuch gestellt werden kann (. Tab. 22.4). Die Diagnose einer fetalen Makrosomie ist ab einem Geburtsgewicht > 95. Perzentile bezogen auf populationsadaptierte Nomogramme (männliches Einlings-Neugeborenes in Deutschland: 4350 g) zu stellen. Das mittlere Gewicht männlicher Neugeborener liegt dabei bei 3600 g. Ursächlich kann neben konstitutionellen Faktoren u. a. mütterlicher Diabetes mellitus/GDM, aber auch eine verlängerte Tragzeit wirksam werden.

Geburtshilfliches Vorgehen bei kephalopelvinem Missverhältnis 55Relatives kephalopelvines Missverhältnis: –– Beseitigung reversibler Ursachen der Passagestörung im kleinen Becken: –– Lagerungsmaßnahmen (ggf. unter Tokolyse) –– Unterstützung der Wehenkraft –– PDA (muskuläre Entspannung) –– Ggf. vaginal-operative Geburtsbeendigung –– Bei Persistenz: Schnittentbindung unvermeidlich 55Absolutes kephalopelvines Missverhältnis: –– Sectio caesarea

das Ende des Falls Abgelenkt – der Chef will nach Dienstschluss heute Morgen schon einmal ein Update zu meiner Diktieraktion haben – bin ich kaum in der Lage, der insistierenden Dringlichkeit der Patientinnenaufklärung meines Oberarztes zu folgen. Letztlich nehme ich als Zwischenstand die Weigerung von Frau Küçük, sich von der Vorstellung einer vaginalen Geburt zu verabschieden, mit in meinen freien Vormittag. Nachdem ich »ohne abgerissenen Kopf« das Sekretariat des Klinikleiters verlasse, lässt mich der Fall nicht los. Neugierig wie ich bin, rufe ich nach zu kurzem, mäßig erholsamem Schlaf um 14:10 Uhr von zu Hause aus im Kreißsaal an, um zu hören, wie es mit der Geburt von Frau Küçük weitergegangen ist. »Das

22

war vielleicht ein Hin und Her«, teilt mir die gerade bei uns hospitierende Hebammenschülerin Cindy vorlaut mit. »Sectio ist doch klar! Um 10:33 Uhr war Ilias Küçük dann mit 54 cm und 4690 g endlich da. Und dann auch noch die Infektion mit Fieber bis 39 °C. Das hätte sie auch einfacher haben können.« »So einfach erscheint Geburtshilfe in der Rückschau«, denke ich bei mir, während ich auflege. »Aber, das wirst Du auch noch erfahren.«

22.2 Fallnachbetrachtung

Welche medizinischen/organisatorischen Verbesserungsmöglichkeiten sehen Sie im geschilderten Fall? Patientin 24-jährig, II-gravida, I-para, ET + 10, BMI 36,4, Körperhöhe 151 cm, GDM (diätetisch eingestellt). Geburtshilfliche Anamnese (vor 2 Jahren): Z. n. Terminüberschreitung (ET + 4), Makrosomie (weibliches Neugeborenes 4160 g und 52 cm) und Z. n. Vakuumextraktion bei protrahierter Austreibungsperiode und drohender kindlicher Hypoxie (pathologisches CTG). 44Mit seinem Überwachungskonzept 2-tägiger Kontrollintervalle während der neuerlichen Terminüberschreitung verhält sich der niedergelassene Facharzt abweichend von der zugehörigen aktuellen Leitlinie. Ebenso entspricht die Verordnung der Krankenhausbehandlung zur Geburtseinleitung an ET + 10 nicht den aktuellen Leitlinienempfehlungen. 44Der im Rahmen der Aufnahme-Ultraschalluntersuchung durchgeführten Dopplersonographie der A. umbilicalis mangelt es an Rationale (keine Indikation, Termineffekt). 44Die anamnestischen Risikofaktoren für die Entwicklung der Kaskade kephalopelvines Missverhältnis → protrahierter Geburtsverlauf → Geburtsstillstand finden in der geburtshilflichen Betreuung keine Berücksichtigung: 44Geringe mütterliche Körperhöhe (5. Perzentile) = Risikofaktor für ein kepahlopelvines Missverhältnis. 44Mütterliche Adipositas II = Risikofaktor für einen protrahierten Geburtsverlauf/ Geburtsstillstand.

344

Kapitel 22 · Protrahierter Geburtsverlauf und Geburtsstillstand

44Diätetisch eingestellter GDM = Risikofaktor

22

für Makrosomie/Terminüberschreitung/ protrahierten Geburtsverlauf/Geburtsstillstand/kepahlopelvines Missverhältnis. 44Z. n. Terminüberschreitung = Risikofaktor für neuerliche Terminüberschreitung/ protrahierten Geburtsverlauf/Geburtsstillstand in der Eröffnungsperiode. 44Z. n. protrahierter Austreibungsperiode = Risikofaktor für protrahierte Austreibungsperiode/Geburtsstillstand. 44Z. n. vaginal-operativer Geburt – die Indikation wird nicht geklärt und somit das Wiederholungsrisiko nicht wahrgenommen. 44Aktuell hinzutretende (potenzielle) Geburtshemmnisse aggravieren die Gesamtsituation und werden einzeln wie auch in ihrer Summationswirkung nicht beachtet: 44Neuerliche Terminüberschreitung = Risikofaktor für Makrosomie/protrahierten Geburtsverlauf/Geburtsstillstand. 44Prolongiertes Zeitintervall (9,2 h) zwischen der Anlage der PDA und dem Erreichen einer vollständigen Muttermunderöffnung = Risikofaktor für Geburtsstillstand in der Eröffnungsperiode (hier bei Muttermundweite 8 cm). 44Die Verlängerung der Eröffnungsperiode bis zum Geburtsstillstand ist bei der Mehrgebärenden mit 32,3 h ausgeprägt und bleibt dies auch unter Berücksichtigung des geburtsverzögernden Effekts der PDA. 44Der frühzeitigen Geburtsgeschwulstentwicklung wird hinsichtlich ihrer Genese wie auch ihrer Dynamik keine Beachtung zuteil. 44Ein Geburtsstillstand in der Eröffnungsperiode ist bereits am Mittwochmorgen um 5 Uhr gegeben. Die Diagnose wird dagegen erst um 8:15 Uhr mit einer Latenz von 3,2 h gestellt. Die spätestens ab diesem Zeitpunkt indizierte abdominale Schnittentbindung kann aufgrund der nichtgelungenen Führung der Patientin erst nach weiteren 2,3 h (um 10:33 Uhr) vorgenommen werden. 44Die Diagnose des durch den protrahierten Geburtsverlauf mitverursachten Amnioninfektionssyndroms (Fieber sub partu, erhöhte Laborparameter) wird verzögert (fehlende

Kontrollen) und verkannt und bleibt bis zur Stellung der Sectio-Indikation und in der Bewertung ihrer Dringlichkeit geburtshilflich unberücksichtigt.

Weiterführende Literatur Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und AWMF S1-Leitlinie (2014) Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung. AWMF-Registernummer 015/065. http://www.awmf.org/uploads/ tx_szleitlinien/015-065l_S1_Termin%C3%BCberschreitung_%C3%9Cbertragung_02-2014-verlaengert.pdf Kainer F (2016) Facharztwissen Geburtsmedizin, 3. Aufl. Elsevier, Urban & Fischer, München Schneider H, Husslein P, Schneider KTM (2016) Die Geburtshilfe, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Strauss A, Janni W, Maass N (2009) Klinikmanual Gynäkologie und Geburtshilfe. Springer, Berlin Heidelberg New York Rath W, Gembruch U, Schmidt S (2010) Geburtshilfe und Perinatalmedizin, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart

345

Mehrlingsschwangerschaft und -geburt Franz Bahlmann

23.1

Falldarstellung – 346

23.1.1 23.1.2 23.1.3

23.1.11 23.1.12

Wie lautet die Verdachtsdiagnose? – 346 Welche Maßnahme muss nun durchgeführt werden? – 347 Welche Aussagekraft hat die Nackentransparenz im 1. Trimenon? Welche Möglichkeiten stehen zur weiteren Abklärung zur Verfügung? – 349 Was ist das häufigste Problem bei monochorialen Zwillingen? – 350 Worauf muss im Rahmen der Schwangerenvorsorge geachtet werden? – 353 Welche dopplersonographischen Untersuchungen sind bei Zwillingen von Bedeutung? – 355 Worauf muss die Frauenärztin bei Miriam in den ­Folgeuntersuchungen achten? – 357 Was bedeutet das konkret? – 358 Welche Risiken bestehen in dieser Situation? – 358 Wie sind die Empfehlungen? Welche Risiken gibt es bei der Zwillingsgeburt? – 359 Welche Maßnahmen müssen nun ergriffen werden? – 363 Worauf muss nun geachtet werden? – 364

23.2

Fallnachbetrachtung – 364



Weiterführende Literatur – 365

23.1.4 23.1.5 23.1.6 23.1.7 23.1.8 23.1.9 23.1.10

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_23

23

346

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

23.1 Falldarstellung

Zur Vorgeschichte …

23

Miriam S. ist nach drei erfolglosen Kinderwunschbehandlungen (ICSI) endlich schwanger geworden. Die Freude bei ihr und ihrem Mann Peter war und ist riesig groß. Alles war so aufregend und neu – wäre da nur nicht die ständige Übelkeit am Morgen. Die frisch niedergelassene Frauenärztin stellte bei der ersten Untersuchung in der 8. SSW fest: »Alles sieht gut aus, es sind zwei! Beide Embryonen haben sich richtig in der Gebärmutter eingenistet und sind zeitgerecht entwickelt.« Mit der Diagnose einer Zwillingsschwangerschaft keimte bei den zukünftigen Eltern zunächst ein mulmiges Gefühl auf, das jedoch schnell einem sehr positiven wich. Die Frauenärztin sagte: »Freuen Sie sich, wir schaffen das gemeinsam. Wir nehmen jetzt noch Blut ab und legen dann den Mutterpass an.« Wow – Mutterpass, wie sich das anhört, irgendwie förmlich, aber auch so schön. Eine Kontrolluntersuchung bei der Frauenärztin in 2 Wochen wurde vereinbart. Zwischenzeitlich würden alle Untersuchungsergebnisse eintreffen: die Blutgruppe, der Rhesusfaktor, der Hämoglobinwert und der Rötelntiter. Die Befunde: Blutgruppe 0 Rh-negativ, der Hämoglobinwert lag bei 7,3  mmol/l und der Rötelntiter zeigte einen ausreichenden Schutz von 1:128. Auch war die Untersuchung im Urinstix unauffällig. Der Blutdruck betrug 110/70  mmHg und das Körpergewicht 64  kg bei einer Körpergröße von 170  cm. Alles war prima. Soweit, so gut. Miriam und Peter S. hatten in den Tagen zuvor noch im Internet gegoogelt und herausgefunden, dass zwischen zweieiigen und eineiigen Zwillingen unterschieden wird. Was würde dies nun für ihre Schwangerschaft bedeuten? Beide sprachen die Frauenärztin auf dieses Thema an, doch sie beruhigte und entgegnete: »Eineiige Zwillinge weisen ein höheres Risiko auf. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich die Verteilung der Plazenta noch nicht genau feststellen. Am besten überweise ich Sie mit 12 Schwangerschaftswochen zu einem Zwillingsexperten. Der hat noch bessere Geräte und auch mehr Erfahrung mit Zwillingen, und dann wären Sie auch schon frühzeitig an eine Klinik mit Expertise in der Zwillingsüberwachung und -geburt angebunden.« »Gut«, dachten Miriam und Peter, »das klingt vernünftig«, und sie fieberten

diesem Termin mit einer Mischung aus Freude und etwas Unbehagen entgegen. Und nun das! Zuerst Schmierblutungen und dann noch in Menstruationsstärke! Es ist Samstagnachmittag, 16 Uhr. Miriam hat Angst. Sie ist allein zu Hause. Peter ist wie jeden zweiten Samstag beim Fußball-Bundesligaheimspiel. Miriam legt sich mit leichten Unterbauchkrämpfen ins Bett. Da die Beschwerden sich nicht bessern, ruft sie Peter auf dem Handy an und schildert ihre Situation, woraufhin sich Peter gleich nach Hause begibt. Als Peter 45 Minuten später zu Hause eintrifft, weint Miriam. Peter versucht zu beruhigen und sagt: »Komm, wir fahren gleich in die Klinik.« Um 17:45 Uhr treffen beide in der Schwangerenambulanz ein. Oh je, noch 4 Patientinnen sind vor ihnen!!! Die freundliche Ambulanzschwester Nicolina kommt aber nach wenigen Minuten und fragt nach den Gründen ihres Kommens. Sie erfasst die persönlichen Daten und den Versicherungsstatus von Miriam. Des Weiteren nimmt sie den Mutterpass an sich und erkundigt sich nach ihrem Befinden. Sie sagt in einem sanften Ton: »Es dauert nicht mehr lange, die Ärztin kommt gleich, und ich bereite schon alles für die Untersuchung vor.«

23.1.1 Wie lautet die

Verdachtsdiagnose?

Die klinische Beschwerdesymptomatik weist auf eine Abortsymptomatik hin. Diese tritt gehäuft im 1. Trimenon und bei Z. n. reproduktionsmedizinischen Maßnahmen auf. Die klinische Beschwerdesymptomatik geht häufig einher mit dem Auftreten von vaginalen Blutungen unterschiedlicher Stärke und krampfartigen Unterbauchschmerzen. So geht es weiter … Nach 10  Minuten kommt Frau Dr. M., eine junge dynamische Assistenzärztin im 5. Ausbildungsjahr. Nach einer kurzen freundlichen Begrüßung werden Miriam und Peter S. in das Untersuchungszimmer geführt. Die Stammdaten von Miriam und die Schwangerschaftsdaten inkl. des Datums der letzten Periode werden schnell in das Computerprogramm eingegeben. »Laut Berechnung des Computers sind Sie jetzt genau in der Schwangerschaftswoche 10 + 4«, sagt die Assistenzärztin. »Ja das kommt hin, wir

347 23.1 · Falldarstellung

hatten eine künstliche Befruchtung«, erwidert Peter. Frau Dr. M. erklärt kurz und prägnant die nun folgenden Untersuchungsschritte. »Am besten beginnen wir als Erstes mit der Ultraschalluntersuchung und schauen nach den Herzaktionen der beiden Kinder«, sagt die Assistenzärztin und bittet Miriam, sich für die vaginale Untersuchung freizumachen und auf dem gynäkologischen Stuhl Platz zu nehmen. Miriam S. zittert vor Aufregung und schaut ängstlich zu ihrem Mann hinüber. Frau Dr. M. lächelt beiden routiniert, aber dennoch empathisch zu. »Lassen Sie uns in aller Ruhe schauen. Wir werden einen Ultraschall durch die Scheide durchführen. Dadurch haben wir eine bessere Sicht.« Vorsichtig wird die mit einem Gummiüberzug versehene Vaginalsonde in die Scheide geführt. Miriam S. hat große Angst. »Hoffentlich ist alles in Ordnung!« denkt sie. Schon nach wenigen Sekunden kann Miriam S. die Herzaktionen der beiden Embryonen und auch zarte Bewegungen auf dem Ultraschallmonitor sehen. Miriam spürt ihren Puls bis in den Kopf schlagen, sie ist glücklich, dass die beiden Kinder leben, und Frau Dr. M bestätigt ihre Beobachtung. » … und was ist mit den Blutungen?«, fragt Peter S. besorgt. »Die sind derzeit nur minimal, aber ich sehe im Ultraschall ein kleines Hämatom hinter der Plazenta. Das kann die Ursache für die Blutungen und Folge einer Plazentaeinnistungsstörung sein«, erklärt die Ärztin. Des Weiteren erklärt Frau Dr. M.: »So, wie ich den Ultraschallbefund einschätze, handelt es sich um eine monochoriale Zwillingschwangerschaft, d. h., aller Voraussicht nach sind Ihre Zwillinge eineiig.« Abschließend führt Frau Dr. M. noch eine SpekulumUntersuchung durch, um eine andere Blutungsquelle auszuschließen. »Wann war denn Ihr letzter Krebsabstrich vom Gebärmutterhals?«, fragt die Assistenzärztin. »Etwa vor 4  Monaten, und das Ergebnis war unauffällig«, entgegnet Miriam S.

23.1.2 Welche Maßnahme muss nun

durchgeführt werden?

> Bei Rh-negativen Schwangeren und Blutungen in der Schwangerschaft muss eine antenatale Rhesusprophylaxe (300 μg) durchgeführt werden, da ansonsten ein erhöhtes Risiko für eine

23

Rhesusinkompatibilität insbesondere für eine Folgeschwangerschaft besteht!

So geht es weiter … Frau Dr. M. beruhigt das Paar und empfiehlt nun eine Rhesusprophylaxe. Die werdenden Eltern sind einverstanden, und Schwester Nicolina appliziert das Immunglobulin intramuskulär. Die vaginalen Blutungen sind nur noch minimal nachweisbar, und die Unterbauchkrämpfe haben nachgelassen, sodass Frau Dr. M. mit dem Paar eine ambulante Kontrolle durch die Frauenärztin in 10–14 Tagen vereinbart und körperliche Schonung empfiehlt. Erleichtert machen sich Miriam und Peter S. auf den Heimweg. Am Abend muss Peter S. immer wieder an den von der Ärztin verwendeten Begriff »monochoriale Zwillingsschwangerschaft« denken. Schließlich begibt er sich an seinen Laptop und googelt den Begriff …

Allgemeines zu Mehrlingen Die klassische Hellin-Regel besagt, dass auf etwa 80 Geburten eine Zwillings- und auf 802 (= 6400) Geburten eine Drillingsschwangerschaft kommt. In den letzten 30 Jahren haben Mehrlingsschwangerschaften jedoch eine deutliche Zunahme erfahren. Beispielsweise ist die Rate der Zwillingsgeburten in den USA zwischen 1980 und 2009 um 76% angestiegen und umfasst nunmehr ca. 3% aller Geburten. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Zunahme verschiedener reproduktionsmedizinischer Maßnahmen wie medikamentöse Ovulationsinduktion, In-vitro-Fertilisation und intrazytoplasmatische Spermieninjektion. Die Inzidenz der Mehrlingsschwangerschaften im 1. Trimenon liegt allerdings im Vergleich zum 2. und 3. Trimenon deutlich höher, was insbesondere auf das Zugrundegehen einer Embryonalanlage (sog. vanishing twin) zurückzuführen ist. Die Inzidenz des vanishing twin ist allerdings derzeit nicht exakt evaluiert und beträgt schätzungsweise 50%. Klinische Hinweise für einen vanishing twin und für Abortbestrebungen können vaginale Schmierblutungen und ziehende Unterbauchschmerzen sein. In aller Regel ist davon auszugehen, dass bei ca. zwei Dritteln aller Zwillinge eine dizygote (zweieiige) und bei einem Drittel eine monozygote (eineiige) Form vorliegt. Dizygote Zwillinge haben immer zwei Fruchthöhlen und zwei getrennte Plazenten, während

348

23

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

monozygote Zwillinge bei etwa einem Drittel der Fälle eine diamnial-dichoriale Form und bei zwei Dritteln der Fälle eine diamnial-monochoriale Form aufweisen. Bei etwa 1% aller monozygoten Zwillinge tritt eine monoamniale-monochoriale Plazentationsform auf. Die Angaben zur Inzidenz der Plazentationsformen variieren in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden Population und dem dadurch unterschiedlichen Verhältnis der monozygoten und dizygoten Schwangerschaften. Die sonographische Unterscheidung von monozygoten und dizygoten Zwillingen ist für die Schwangerschaftsüberwachung, die frühzeitige perinatologische Risikoeinschätzung und die Geburtsplanung von entscheidender Bedeutung. Die Diagnostik und das perinatologische Management insbesondere von monochorialen Mehrlingsschwangerschaften erfordern spezielle perinatalmedizinische Kenntnisse und antenatale Überwachungs- und Therapiestrategien der fetomaternalen Einheit. Diese Anforderungen haben ihren Ausdruck in den Mutterschafts-Richtlinien gefunden, die die sonographische Beurteilung der Chorionizität fordert. Der beste Zeitpunkt für die Festlegung der Chorionizität liegt im Bereich des 1. Trimenons. Die Plazentationsverhältnisse sollten immer im Mutterpass schriftlich und bildlich dokumentiert werden. Während bei der Plazentabeurteilung in 35% der Fälle getrennte Plazenten gefunden werden, finden sich bei den übrigen gemeinsamen Plazenten 34% dichorial-diamnial, 29% monochorial-diamniale und 1,2% monochorial-monoamniotische Formen.

Bei einer fusionierten Plazenta weist eine dreiecksförmige zipfelige Aussackung (sog. Lambda-Zeichen) auf eine dichoriale-diamniale Plazentationsform hin (. Abb. 23.1a). Die Ausprägung dieses Zeichens kann allerdings sehr variabel sein. Das Fehlen des Lambda-Zeichens bzw. der sonographische Nachweis lediglich einer dünnen echoreichen Linie (sog. T-Zeichen) weist dagegen auf eine Monochorionizität hin (. Abb. 23.1b). > Die Kenntnis der Chorionizität ist eine wichtige Voraussetzung, um pränatale und perinatologische Risiken bei Mehrlingsschwangerschaften adäquat einschätzen zu können.

Diese Einschätzung ist umso bedeutsamer, da monochoriale Zwillinge eine wesentlich höhere Komplikationsrate und eine ca. 4- bis 5-fach höhere perinatale Verlustrate vor der 24. SSW aufweisen als dichoriale Zwillinge (. Abb. 23.2). Zur Festlegung und Überprüfung des Schwangerschaftsalters wird die Scheitel-Steiß-Länge des größeren Geminus herangezogen. So geht es weiter … Die vaginalen Blutungen bei Miriam haben glücklicherweise sistiert. Sie hat in den letzten Tagen wieder Vertrauen in ihren Körper gefunden. Heute ist der ersehnte Tag für die sonographische Ersttrimester-Diagnostik. Miriam S. befindet sich nunmehr in der SSW 12 + 4. Peter S. hat sich für diese

T-Zeichen

Lambda-Zeichen 

a

b

. Abb. 23.1  Sonographische Darstellung der Chorionizität im 1. Trimenon. a Lambda-Zeichen bei fusionierter dichorialerdiamnialer Plazenta, b T-Zeichen bei monochorialer-diamanialer Plazenta

23

349 23.1 · Falldarstellung

12 10 Perinatale Mortalität (%)

. Abb. 23.2  Vergleich der perinatalen Mortalität zwischen monochorialen und dichorialen Zwillingen. (Daten aus Dias u. Akolekar 2014)

Monochoriale Zwillinge

8 6 4 Dichoriale Zwillinge 2 0

15

Untersuchung extra Urlaub genommen, und nun warten beide im Wartezimmer ungeduldig auf die Untersuchung. Die Wartezeit beträgt schon über eine Stunde. Die Anspannung wächst. Endlich wird ihr Name aufgerufen. Oberarzt Dr. B. begrüßt das Paar und erklärt zunächst Ablauf, Sinn, Zweck und Aussagekraft der Untersuchung. Nach der Überprüfung der Herzschläge der beiden Feten beurteilt er die Plazenta. »Hier erkennen Sie eine hauchdünne Trennwand. Das sind die Eihäute. Die Plazenta ist an der Hinterwand lokalisiert, weist eine glatte Oberfläche und keine zipfelige Ausstülpung im Bereich der Eihäute auf. Das ist typisch für eine monochoriale, sprich eineiige Zwillingschwangerschaft«, sagt der Oberarzt. Miriam und Peter S. sind fasziniert von der hohen Detailauflösung der Ultraschallbilder. »Ist ja Wahnsinn, man erkennt sogar die einzelnen Finger!«, sagt Peter voller Begeisterung. Die Ultraschalluntersuchung verläuft ruhig, und Oberarzt Dr. B. erklärt detailliert die einzelnen Organstrukturen. Nun erfolgt die Vermessung der Nackentransparenz. Der erste Fetus wird stark vergrößert, und im Profil bzw. in der Seitenansicht wird die Nackenregion eingestellt. Der Messpunkt bewegt sich von Innenwand zu Innenwand, und ein Messwert von 1,3 mm wird erhoben. Nun erfolgt in gleicher Weise die Messung der Nackentransparenz für den zweiten Feten. Der Messwert beträgt beim zweiten Feten 2,2 mm.

20

25 30 Schwangerschaftswochen

35

40

23.1.3 Welche Aussagekraft hat

die Nackentransparenz im 1. Trimenon? Welche Möglichkeiten stehen zur weiteren Abklärung zur Verfügung?

> Die Messung der fetalen Nackentransparenz im Rahmen des Erstrimester-Screenings ist für die Risikoabschätzung von Trisomien ebenso wie bei Einlingsschwangerschaften anwendbar und mit einer Erkennungsrate von ca. 88% genauso aussagekräftig.

Anzumerken ist hierbei, dass bei dichorialen Zwillingsschwangerschaften und einer Nackentransparenz > 3,5 mm bzw. oberhalb der 95. Perzentile mit einer erhöhten Aneuploidie-Rate und strukturellen Fehlbildungen zu rechnen ist, während bei einer monochorialen Zwillingsschwangerschaft eine diskordante Nackentransparenz zwischen den beiden Zwillingen von mehr als 20% eher als ein Hinweiszeichen für die Entwicklung eines fetofetalen Transfusionssyndroms gedeutet werden muss und auch mit einem deutlich erhöhtem Risiko für einen intrauterinen Fruchttod eines oder beider Feten einhergeht. 44Die Risikoberechnung für eine Trisomie 21 bei dichorialen Zwillingsschwangerschaften erfolgt analog zu Einlingsschwangerschaften anhand

350

23

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

eines speziellen Algorithmus bestehend aus dem mütterlichen Alter, dem Gestationsalter und der Dicke der fetalen Nackentransparenz. 44Im Gegensatz dazu werden bei monochorialen Zwillingen die beiden Nackentransparenzmessungen gemittelt und dann der Risikoberechnung zugeführt.

Die neuen internationalen Empfehlungen (ISUOG) fordern generell 2-wöchige Ultraschallkontrollen bei allen monochorialen Mehrlingsschwangerschaften

So geht es weiter …

Ein häufiges Problem bei monochorialen Mehrlingsschwangerschaften ist das Auftreten eines fetofetalen Transfusionssyndroms mit einer Inzidenz von ca. 10%. Diese Besonderheit tritt in aller Regel zwischen 16 und 26 SSW auf und endet unbehandelt in über 95% der Fälle mit einem Spätabort bzw. bei ca. 5% mit einer extremen Frühgeburtlichkeit.

Miriam und insbesondere Peter S. haben sich ja schon vorab im Internet über die Risiken bei monochorialen Schwangerschaften informiert. Oberarzt Dr. B. erklärt, dass normalerweise ein ca. 10%iges Risiko für ein sog. fetofetales Transfusionssyndrom besteht. Dieses Risiko hat sich aber aufgrund der diskordanten Nackentransparenzmessungen der beiden Feten von mehr als 20% nunmehr auf 30% erhöht. Das Risiko für eine Trisomie scheint dagegen eher niedriger zu sein. Dennoch lässt das TrisomieRisiko die Eltern nicht in Ruhe – man hat ja schon so viel davon gehört … Oberarzt B. erklärt, dass es seit ein paar Jahren – als Alternative zu einer Amniozentese – die Möglichkeit gibt, eine genetische Untersuchung auf Trisomie 21, 13 und 18 nichtinvasiv aus dem mütterlichem Blut vornehmen zu lassen. Unter dem Begriff der NIPD (nichtinvasive Pränataldiagnostik) wird dabei die zellfreie fetale DNA (cffDNA) analysiert. Bei Einlingsschwangerschaften beträgt die Entdeckungsrate für eine Trisomie 21 über 99%. Ähnlich gute Detektionsraten werden bei Zwillingsschwangerschaften berichtet. Miriam und Peter S. finden diese Möglichkeit gut und entscheiden sich nach entsprechender Aufklärung für diese Diagnostik, zumal das Risiko für einen invasiven Eingriff in Form einer Amniozentese für Zwillinge immerhin 0,5–1,8% beträgt. Des Weiteren wird mit den Eltern eine sonographische Verlaufskontrolle vorwiegend zur Kontrolle der Fruchtwassermengen mit 17 SSW vereinbart. > Das sollte man wissen! Bei erhöhtem Risiko für das Auftreten eines fetofetalen Transfusionssyndroms, wie z. B. eine Diskordanz der Nackentransparenzdicke von mehr als 20%, sind engmaschige sonographische Kontrollen ab der 16. SSW in 2-wöchigen Abständen indiziert.

23.1.4 Was ist das häufigste Problem

bei monochorialen Zwillingen?

Fetofetales Transfusionssyndrom 55Ursächlich sind unbalancierte unidirektionale Blutströme über kleine arteriovenöse Gefäßanastomosen innerhalb eines oder mehrerer plazentarer Kotelydonen von einem Zwilling (sog. Spender, Donor) zum anderen Zwilling (sog. Empfänger, Rezipient, Akzeptor). 55Offenbar bedingt durch eine komplexe Architektur der plazentaren Gefäßanastomosen (arterioarteriell, venovenös und arteriovenös) resultiert als Folge einer chronischen unidirektionalen Blutvolumenverschiebung eine Hypervolämie mit konsekutiver Polyurie und die Entwicklung eines Polyhydramnions beim Akzeptor und eine Hypovolämie mit Ausbildung einer Oligurie und Oligo-/Anhydramnie beim Donor. 55Bei fortschreitender Hypervolämie und Anstieg des zentralvenösen Drucks resultieren beim Akzeptor neben einer Steigerung des renalen Blutflusses eine Dilatation der Vorhöfe mit konsekutiver Myokardhypertrophie sowie eine vermehrte Expression natriuretischer Peptide. 55Diese bewirken sowohl eine Inhibition von Angiotensin II und der renalen

351 23.1 · Falldarstellung

Reninsynthese mit konsekutiver Erhöhung der glomerulären Filtrationsrate als auch eine Abnahme der Aldosteronsynthese mit nachfolgender Erhöhung der Natriumausscheidung. 55Die Folge ist eine vermehrte Diurese und die Entwicklung eines Polyhydramnions, was wiederum zu vorzeitigen Wehen, zu einer isthmozervikalen Insuffizienz und dem Auftreten eines vorzeitigen Blasensprunges, mit der Konsequenz eines Spätaborts bzw. einer extremen Frühgeburtlichkeit führt. 55Mit zunehmendem Schweregrad (Einteilung nach Quintero) und fortschreitender Dauer des fetofetalen Transfusionssyndroms sowie als Folge der Hypervolämie und der sich daraus entwickelnden arteriellen Hypertension finden sich beim Akzeptor echokardiographisch häufig eine Myokardhypertrophie, eine dyskinetische Kardiomegalie, eine Pulmonalstenose und eine Trikuspidalklappenregurgitation. 55Dieses führt letztlich zu einer Myokardinsuffizienz mit Hydrops-Entwicklung und schließlich nach Ausschöpfen aller Reservekapazitäten zum intrauterinen Fruchttod.

Die pränatale Diagnose erfolgt sonographisch und wird anhand einer extremen Differenz der Fruchtwassermengen im Sinne eines Polyhydramnions/ Oligohydramnions mit fehlendem Nachweis einer Harnblasenfüllung des einen Zwillings und praller Harnblasenfüllung beim anderen Zwilling gestellt (. Abb. 23.3). In . Tab. 23.1 sind die sonographischen Kriterien für die Diagnose eines fetofetalen Transfusionssyndroms aufgeführt: Als kausale Therapiemöglichkeit hat sich heute die erstmals 1990 beschriebene fetoskopische Laserkoagulation fest etabliert (. Abb. 23.4). Diese Therapie wird in Deutschland nur an wenigen spezialisierten pränatalmedizinischen Zentren durchgeführt. Das Risiko für eine Fehlgeburt, einen vorzeitigen Blasensprung oder eine extreme Frühgeburt liegt zwischen 5% und 7%. Die Überlebensraten variieren in der Literatur zwischen 73% und 90,5% für das Überleben eines Zwillings und zwischen 50% und 69,5% für beide Zwillinge. Die Gesamtüberlebensraten (55–82,5%) sind abhängig vom Schweregrad des fetofetalen Transfusionssyndroms, einer verkürzten Zervixlänge < 15 mm und von der Expertise des Operateurs. Das mittlere Gestationsalter bei der Geburt beträgt 34 SSW. Neuromotorische Beeinträchtigungen werden zwischen 5% und 8% angegeben, wobei deren Häufigkeit von der Definition der Schädigung, den neurologischen Testmethoden und insbesondere von der extremen Frühgeburtlichkeit abhängig ist.

Stadium I nach Quintero

Stadium II nach Quintero

Fruchtwasser

Harnblasenfüllung Akzeptor

Akzeptor

Donor

Polyhydramnion

> 8 cm vor 20 SSW > 10 cm nach 20 SSW

Oligohydramnion < 2 cm

23

pralle Harnblase

nicht darstellbare Harnblase

Größter vertikaler Durchmesser

. Abb. 23.3  Sonographische Beurteilung der Fruchtwassermenge und der Harnblasenfüllung beim fetofetalen Transfusionssyndrom und Schwergradeinteilung nach Quintero

352

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

. Tab. 23.1  Sonographische Hinweiszeichen für ein fetofetales Transfusionssyndrom

23

Kriterium

Akzeptor

Donor

Geschlecht

Identisch

Identisch

Plazenta

Monochorial

Monochorial

Fruchtwasser

Polyhydramnion

Oligo-/Anhydramnion

Größtes Fruchtwasserdepot:

Größtes Fruchtwasserdepot:

< 20 SSW ≥ 8 cm

≤ 2 cm

> 20 SSW ≥ 10 cm Harnblase

Permanent gefüllte Harnblase, vergrößerte pralle Harnblase

Harnblase nicht nachweisbar, ­deutlich ­verkleinerte Harnblase

Nabelschnur

Verdickt

Dünn, evtl. marginale ­Nabelschnurinsertion oder Insertio velamentosa

Herz

Kardiomegalie, Myokardhypertrophie, Trikuspidalklappeninsuffizienz, evtl. Pulmonalstenose

Normal

Wachstum

Um 1–2 Wochen größer als der Donor

Um 1–2 Wochen kleiner als der Akzeptor

Doppler-Befund:

Kann sehr variabel sein:

Kann sehr variabel sein:

A. umbilicalis

Zero-/Reverse-Flow in 5%,

Zero-/Reverse-Flow in 19%,

Ductus venosus

a-Welle in 37% der Fälle erniedrigt

a-Welle in 9% der Fälle erniedrigt

Neurologische Untersuchungen über die Langzeitentwicklung von Kindern, die durch eine fetoskopische Lasertherapie behandelt wurden, ergeben in über 89% der Fälle unauffällige Befunde. So geht es weiter …

. Abb. 23.4  Fetoskopische Darstellung einer plazentaren arteriovenösen Anastomose beim fetofetalem Transfusionssyndrom

Miriam und Peter S. nehmen einen Vorsorgentermin bei ihrer Frauenärztin mit 17 SSW wahr. Die Ultraschalluntersuchung ergibt einen unauffälligen Befund der Fruchtwassermengen und des Wachstums der beiden Zwillinge. Die Frauenärztin sagt zu Miriam: »Wir müssen noch Ihren Blutdruck, Ihr Körpergewicht und den Hämoglobinwert bestimmen.« Die Messung des Blutdrucks ergibt einen Wert von 110/70  mmHg, der Hämoglobinwert liegt bei 6,9 mmol/l. »Oh!«, sagt Miriam, als sie das Gewicht auf der Waage sieht, »Ich habe schon 6 kg zugenommen.« »Diese Gewichtszunahme ist noch völlig normal«, erwidert die Frauenärztin, »allerdings müssen Sie aufgrund des abnehmenden

353 23.1 · Falldarstellung

Hämoglobinwerts nunmehr täglich eine Eisentablette einnehmen.« Die Frauenärztin bespricht nun die weiteren Untersuchungs- und Vorsorgeintervalle. Dabei betont sie nochmal die Wichtigkeit der nachfolgenden Ultraschalluntersuchungen.

23.1.5 Worauf muss im Rahmen

der Schwangerenvorsorge geachtet werden?

z Fruchtwasserbeurteilung

Die sonographische Fruchtwasserbeurteilung erfolgt entweder als Amniotic-Fluid-Index (AFI) mithilfe der 4-Quadranten-Messtechnik oder als Einzeldistanzmessung des größten Fruchtwasserdepots analog den Einlingsschwangerschaften. > Wichtig ist die gemeinsame Beurteilung der beiden Fruchthöhlen.

Bei gleichzeitigem Nachweis eines Polyhydramnions und eines Oligo-/Anhydramnions muss bei monochorialen Schwangerschaften ein fetofetales Transfusionssyndrom ausgeschlossen werden, während bei dichorialen Schwangerschaften an strukturelle (z. B. Anenzephalus, kongenitale Zwerchfellhernie, Ösophagusatresie, Duodenalstenosen) und genetische Malformationen des Feten sowie an einen Gestationsdiabetes gedacht werden muss. Bei normaler Fruchtwassermenge in einem bzw. dem Nachweis einer Oligo-/Anhydramnie im anderen Kompartiment sollten ein vorzeitiger Blasensprung und strukturelle fetale Fehlbildungen insbesondere aus dem urogenitalen System ausgeschlossen werden. Differenzialdiagnostisch kann auch eine chronisch-nutritive Plazentainsuffizienz mit diskordantem Wachstum der beiden Feten in Betracht gezogen werden. > In allen Fällen ist eine detaillierte sonographische Feindiagnostik inkl. dopplersonographischer Beurteilung des fetoplazentaren Gefäßsystems erforderlich.

23

Zervixsonographie Mithilfe der Transvaginalsonographie gelingt eine objektive und reproduzierbare Zervixlängenbestimmung sowie eine detaillierte Beurteilung des inneren Muttermundes ( . Abb. 23.5 ). Die Zervixlängenbeurteilung kann auch von transabdominal erfolgen, was aber technisch schwieriger ist. Wie bei der ­E inlingsschwangerschaft resultiert bei Mehrlingen im Schwangerschaftsverlauf eine Abnahme der Zervixlänge. Eine Zervixlänge > 35 mm geht mit keinem erhöhten Frühgeburtsrisiko einher. Unterhalb einer Zervixlänge von 25 mm und/oder bei Nachweis einer Trichterbildung im Bereich des inneren Muttermundes besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt. Nach der 24. SSW besteht in diesen Fällen keine Indikation für eine Cerclage. Zur Stützung des unteren Uterinsegments kann aber ein ArabinPessar ggf. in K ­ ombination mit 200 mg/Tag Progesteron transvaginal appliziert werden. Der therapeutische Nutzen dieser Kombinationstherapie wird derzeit in der Literatur kontrovers diskutiert. Einhellige Meinung besteht allerdings dahingehend, dass bei unauffälligen Mehrlingsschwangerschaften die Durchführung einer rein prophylaktischen Cerclage keinen Vorteil zur Vermeidung einer Frühgeburt bietet.

. Abb. 23.5  Transvaginalsonographische Darstellung einer isthmozervikalen Insuffizienz mit verkürzter Zervixlänge und Trichterbildung im Bereich des inneren Muttermundes

354

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

Nabelschnur

23

Bei Mehrlingsschwangerschaften finden sich gehäuft Nabelschnurinsertionsstörungen z. B. in Form einer marginalen Insertion oder als Insertio velamentosa. Die korrekte Vorhersage der Nabelschnurinsertion gelingt unter Zuhilfenahme des Farbdopplers mit einer hohen Verlässlichkeit. Eine signifikant höhere Rate an Nabelschnurinsertionsstörungen und -anomalien lässt sich bei durch ICSI oder IVF entstandenen Mehrlingsschwangerschaften im Vergleich zu spontan entstandenen Mehrlingen nachweisen. Des Weiteren kommen im Vergleich zu dichorialen Plazenten marginale Nabelschnurinsertionen 3-mal und eine Insertio velamentosa 2-mal so häufig bei monochorialer Plazenta vor. Diese Anomalien können ursächlich für intrauterine Wachstumsstörungen, vorzeitige Wehen, vorzeitige Blutungen und Plazentalösungen sein. Auch ist die Rate einer vorzeitigen Plazentalösung um den Faktor 3 höher als bei Einlingsschwangerschaften. > Die Kenntnis einer Nabelschnurpathologie ist bedeutsam für die Leitung der Geburt und v. a. für die Leitung der Plazentarperiode.

Wachstumsverlauf von Zwillingen Biometrische sonographische Verlaufsuntersuchungen sind zum Nachweis der Entwicklung von Wachstumsrestriktionen und der Dynamik einer Wachstumsdiskordanz geeignet. Hierfür sind serielle Messungen des fetalen Kopf- und Bauchumfangs sowie die Bestimmung der Femurlänge notwendig. Obwohl zwillingsspezifische biometrische Wachstumskurven zur Verfügung stehen, werden in aller Regel die gängigen Normkurven von Einlingsschwangerschaften zur Wachstumskontrolle angewendet. Das intrauterine Wachstum von Mehrlingen beginnt etwa ab der 30.–32. SSW, auf das Niveau der 10. Perzentile der Wachstumskurven abzuflachen. Diese mehrlingsspezifische Abflachung ist als physiologisch anzusehen. > Bei der sonographischen Wachstumsbeurteilung sollte insbesondere auf ein proportioniertes und stetiges Wachstum der Feten geachtet werden. Eine intrauterine Wachstumsrestriktion kommt bei Mehrlingen häufiger vor als bei

Einlingsschwangerschaften. Dies ist ein wichtiger Faktor für die erhöhte neonatale Morbidität und Mortalität der Kinder.

Die Diagnose einer intrauterinen Wachstumsrestriktion wird in aller Regel anhand eines geschätzten Fetalgewichts unterhalb der 10. Perzentile gestellt oder dann, wenn die Differenz des fetalen Schätzgewichts zwischen den Feten > 20% bzw. > 500 g beträgt. In diesem Fall wird von einer intrauterinen Wachstumsdiskordanz gesprochen. Die perinatale Mortalität liegt hierbei um das 2,5-Fache höher als im Vergleich zu eutroph und konkordant gewachsenen Feten. In diesen Fällen ist neben dem sonographischem Ausschluss von fetalen Fehlbildungen eine engmaschige biometrische und dopplersonographische Verlaufsuntersuchung in 2-wöchigen Abständen mit Beurteilung der Fruchtwassermenge ggf. in Kombination mit der Kardiotokographie indiziert. Die Ursachen für intrauterine Wachstumsstörungen bei Mehrlingen sind durch Plazentationsund Nabelschnurinsertionsstörungen, Infektionen, Blutungen sowie chromosomale Störungen begründet. Die Inzidenz von diskordantem Zwillingswachstum zeigt beim Vergleich von monochorialen und dichorialen Schwangerschaften keine Unterschiede und kommt mit einer Häufigkeit von ca. 10% vor. Eine Sonderform des diskordanten Wachstums bei monochorialen Zwillingen stellt die selektive intrauterine Wachstumsrestriktion (s-IUGR) dar. Hierbei kommt es zu einer frühen, häufig schon ab dem 2. Trimenon beginnenden Wachstumsabflachung des einen Feten bei eutrophem Wachstum des anderen Geminus. Die Fruchtwassermengen sind dabei weitgehend normal in beiden Kompartimenten, mit Entwicklung eines Oligohydramnions beim sIUGRFeten. Die Harnblasenfüllung ist bei beiden Feten weitgehend unauffällig. Der Schweregrad wird primär anhand der umbilikalen Dopplerflussprofile eingeteilt: 44Typ I: positiver enddiastolischer Fluss, 44Typ II: kontinuierlicher fehlender oder retrograder enddiastolischer Fluss, 44Typ III: zyklisch/intermittierend fehlender oder retrograder Fluss in der A. umbilicalis. Typ I   Die Überlebensrate beim Typ-I-sIUGR beträgt etwa 90%, wobei die intrauterine Fruchttodesrate eines oder beider Zwillinge etwa bei 4% liegt.

355 23.1 · Falldarstellung

Typ II  Das Risiko steigt für einen intrauterinen

Fruchttod auf ca. 30%. Die überlebenden Feten weisen eine hohe Frühgeburtenrate sowie in ca. 15% der Fälle eine deutlich erhöhte neurologische Schädigung auf.

Typ III  Die Situation der Feten ist mittels Ultraschall nicht vorhersehbar und mit der höchsten intrauterinen Fruchttodrate assoziiert. Die überlebenden Feten sind häufig sehr prämatur und weisen in über 20% der Fälle schwere neurologische Defizite auf. Interessant ist die Beobachtung, dass die neonatale Morbidität bei Nachweis pathologischer umbilikaler Strömungsmuster beim größeren Geminus mit 38% höher ist als beim sIUGR-Geminus mit 19%.

23.1.6 Welche dopplersonographischen

Untersuchungen sind bei Zwillingen von Bedeutung?

Aa. uterinae Mehrlingsschwangerschaften haben ein höheres Risiko für das Entstehen von hypertensiven Erkrankungen, insbesondere für die Entwicklung einer Präeklampsie (7 Kap. 15). Bei Zwillingen finden sich im Vergleich zu Einlingsschwangerschaften niedrigere Widerstandsindizes im uteroplazentaren Gefäßbett. Das uterine Dopplerflussspektrum erlaubt jedoch keine Aussage zum Schwangerschaftsausgang und weist keine Korrelation zum Auftreten einer Präeklampsie, einer vorzeitigen Plazentalösung, vorzeitigen Wehen bzw. einer Wachstumsdiskordanz von mehr als 25% auf. Ebenso existieren keine Unterschiede zwischen monochorialen und dichorialen Schwangerschaften. Somit sind routinemäßige Dopplerflussmessungen der beiden Aa. uterinae derzeit von geringer Bedeutung und können nicht empfohlen werden.

A. umbilicalis Systematische dopplersonographische Untersuchungen sind bisher nur in geringem Umfang durchgeführt worden. Anhand einer randomisierten sonographischen Überwachungsstudie an 526 Zwillingsschwangerschaften (DAMP-Studie) konnte gezeigt werden, dass eine lediglich dopplersonographisch überwachte Zwillingsschwangerschaft im Vergleich zu einer biometrisch und

23

dopplersonographisch überwachten Schwangerschaft keinen Unterschied im antenatalen, peripartualen und neonatalen Schwangerschaftsausgang aufweist. Es konnte aber gezeigt werden, dass mit beiden sonographischen Überwachungsregimen eine niedrigere perinatale Mortalität im Vergleich zu nichtüberwachten Zwillingsschwangerschaften erreicht werden kann. Bei symmetrischen konkordanten Wachstumsverläufen der beiden Feten innerhalb der zwillingsspezifischen Normkurven besteht aufgrund der vorliegenden Datenlage derzeit keine Indikation für eine dopplersonographische Beurteilung des fetoplazentaren Gefäßbetts. Resultiert im Rahmen von seriellen biometrischen Ultraschallverlaufskontrollen eine Wachstumsabflachung eines oder beider Feten unterhalb der 10. Perzentile bzw. eine Wachstumsdiskordanz von mehr als 500 g, sind als Konsequenz dopplersonographische Untersuchungen der A. umbilicalis indiziert. Bei Auftreten von pathologischen umbilikalen Dopplerflussprofilen ist in Abhängigkeit vom Gestationsalter und dem geschätzten Fetalgewicht ein individualisiertes Vorgehen mit den Eltern zu besprechen. Erhöhte Widerstandsindizes in der A. umbilicalis reflektieren eine Störung innerhalb des fetoplazentaren Gefäßbetts, die vorwiegend Ausdruck einer gestörten Trophoblasteninvasion bzw. einer gestörten Nabelschnurinsertion sind. Bei Nachweis von pathologischen umbilikalen Dopplerflussspektren ist eine stationäre Aufnahme mit detaillierter Überwachung der fetomaternalen Einheit inkl. Kardiotokographie und biophysikalischem Profil indiziert. Bei Vorliegen eines fetofetalen Transfusionssyndroms finden sich in der A. umbilicalis beim Donor signifikant höhere Widerstandsindizes im Vergleich zum Akzeptor. Beim Donor lässt sich in 19% der Fälle und beim Akzeptor in 5% der Fälle ein fehlender oder retrograder Fluss in der A. umbilicalis nachweisen. Aufgrund des dynamischen Geschehens findet sich aber eine große Variationsbreite im umbilikalen Strömungsmuster. Dies unterstützt die Hypothese, dass ein erhöhter fetoplazentarer Widerstand eines Feten für die Entstehung eines fetofetalen Transfusionssnydroms ursächlich ist.

Ductus venosus Die farbdopplersonographische Ableitung der Flussgeschwindigkeiten im Ductus venosus reflektieren, insbesondere während der atrialen Kontraktion (sog.

356

23

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

a-Welle), den rechtsatrialen Druck im Herzen. Eine erhöhte Pulsatilität im Ductus venosus bzw. eine abnehmende oder retrograde Flussgeschwindigkeit in der a-Welle finden sich bei einer Volumenbelastung im Rahmen eines fetofetalen Transfusionssyndroms oder beim gesunden Feten im Rahmen einer TRAP(twin reversed arterial perfusion)-Sequenz und sind Ausdruck einer schweren kongestiven Herzbelastung. Aufgrund der wechselnden Hämodynamik ist auch dieses venöse Strömungsmuster sehr variabel und zeitlich unterschiedlich in seinem Schweregrad. Im Rahmen einer chronisch-nutritiven Plazentainsuffizienz und gleichzeitig bestehender schwerer fetaler Wachstumsrestriktion ist ein Anstieg der Pulsatilität im Ductus venosus Folge einer hypoxämischen Myokardinsuffizienz. Eine erhöhte Pulsatilität im Ductus venosus kann aber auch einen Hinweis auf fetale Rechtsherzobstruktionen geben.

A. cerebri media Die dopplersonographische Beurteilung der A. cerebri media dient zum einen dem Nachweis einer hämodynamischen Umverteilung innerhalb des Feten im Rahmen einer Plazentainsuffizienz und zum anderen insbesondere bei monochorialen Zwillingen dem Nachweis einer sog. TAPS-Konstellation (twin anemia polycythemia sequence). Die Inzidenz liegt etwa bei 3% aller monochorialen Zwillinge. Hierbei kommt es über kleine arteriovenöse Anastomosen bei verringerten bzw. mehr oder weniger fehlenden arterioarteriellen Gefäßverbindungen zu einer langsamen, aber kontinuierlichen Blutvolumenverschiebung des einen Feten zum anderen Feten. Die Konsequenz ist die Entwicklung einer Anämie des einen Feten und eine Polyglobulie des anderen Feten. Das Besondere an dieser Situation ist, dass keine Fruchtwasservolumenunterschiede in den beiden Fruchtwasserkompartimenten bestehen. Die Diagnose erfolgt durch die Messung der maximalen Flussgeschwindigkeiten bei beiden Feten, wobei ein Unterschied > 1,5 MoM beim Donor und < 1,0 MoM beim Akzeptor diagnostisch richtungweisend ist. So geht es weiter … Miriam S. stellt sich in der 22. SSW erneut bei Oberarzt Dr. B. zum sonographischen ZweittrimesterScreening vor. Der Schwangerschaftsverlauf und die

Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen durch die niedergelassene Frauenärztin waren bisher unauffällig. Miriam fühlt sich wohl. »Ich bin so aufgeregt, hoffentlich ist alles gut!«, sagt Miriam S. zu ihrem Mann Peter. Als Miriam sich auf die Untersuchungsliege legt, tastet Oberarzt Dr. B. den Bauch von Miriam S. ab. Der Uterus ist weich und hat die Höhe des Bauchnabels erreicht. »Das sieht prima aus«, sagt er und beginnt mit der Ultraschalluntersuchung. »Die beiden Herzchen schlagen regelmäßig, beide Kinder bewegen sich rege, und die Fruchtwassermengen sind normal«, beruhigt der Oberarzt zu Beginn der Untersuchung die Eltern. Miriam und Peter S. sind nun gelassener und verfolgen auf dem Monitor gespannt die Ultraschalluntersuchung. Alle Organsysteme der beiden Feten und insbesondere die Herzen und das Gehirn werden sorgfältig untersucht und vermessen. Anmerkung Zwillingschwangerschaften weisen gegenüber Einlingsschwangerschaften ein 2-fach höheres Risiko für kongenitale Anomalien auf. Dabei werden alle Organsysteme betroffen. Monochoriale Zwillinge haben dabei ein deutlich höheres Risiko im Vergleich zu dichorialen Zwillingen (relatives Risiko 4,6 vs. 1,7). Anschließend werden mit dem Farbdoppler noch die Blutstromgeschwindigkeiten der A. umbilicalis, der A. cerebri media und des Ductus venosus analysiert. Alle Werte sind unauffällig. »Das Risiko für ein fetofetales Transfusionssyndrom ist nunmehr sehr gering« erklärt Oberarzt Dr. B. Den werdenden Eltern fällt ein Stein vom Herzen. »Nun kontrollieren wir abschließend noch die Länge der Zervix mit der Vaginalultraschallsonde, um das Frühgeburtsrisiko einschätzen zu können«, erklärt der Oberarzt. Die Zervix zeigt mit 37,8 mm eine normale Länge. Es werden im Weiteren 2-wöchige sonographische Verlaufskontrollen durch die niedergelassene Frauenärztin vereinbart. »Wenn Ihre Schwangerschaft weiterhin so unkompliziert verläuft, bitte ich Sie, sich mit 33/34 Schwangerschaftswochen erneut bei uns zum Geburtsplanungsgespräch und zu einer Ultraschalluntersuchung vorzustellen« empfiehlt Oberarzt Dr. B. und wünscht alles Gute für den weiteren Verlauf. »Ich freue mich so, dass bei unseren Babys alles gut ist, und vor allem darüber, dass kein Zwillingstransfusionssyndrom aufgetreten ist«, sagt Miriam zu Peter auf den Nachhauseweg.

357 23.1 · Falldarstellung

23

! Cave Ein Zwillingstransfusionssyndrom kann sich auch noch zu einem späteren Zeitpunkt entwickeln!

Durchführung von antenatalen CTG-Untersuchungen bei unkompliziert verlaufenden Zwillingsschwangerschaften – sowohl monochorial als auch dichorial – gibt es derzeit keine evidenzbasierten Daten.

23.1.7 Worauf muss die Frauenärztin

Die Zeit bis zur Geburt …

bei Miriam in den Folgeuntersuchungen achten?

Gemäß den aktuellen internationalen Empfehlungen (ISUOG) sind bei monochorialen Zwillingen Ultraschalluntersuchungen alle 2 Wochen durchzuführen, während bei unkomplizierten dichorialen Zwillingen Untersuchungsintervalle in 4-wöchigen Abständen ausreichend sind. Inhalte der Folgeuntersuchungen 55Bei den Ultraschalluntersuchungen sind zu messen: –– Fetales Wachstum –– Fruchtwassermengen –– Zervixlänge –– dopplersonographisch: die Strömungsmuster von A. umbilicalis und A. cerebri media 55Bei der Schwangeren sind zu kontrollieren: –– Gewicht –– Blutdruck –– Hämoglobinwert

Bei Mehrlingsschwangerschaften mit zunehmendem Gestationsalter treten gehäuft auf: 44Anämie, 44vermehrte hypertensive Zustände, 44Atem- und Rückenbeschwerden, 44vorzeitige Wehentätigkeit, 44Stauungsödeme in den Beinen. Speziell bei Miriam muss aufgrund des Rh-negativen Status eine antenatale Rhesusprophylaxe mit 300 μg um die 28. SSW durchgeführt werden. Kardiotokographische Kontrollen (CTG) sollten vorwiegend bei V. a. vorzeitige Wehentätigkeit oder Wachstumsabflachung eines oder beider Zwillinge ab der 30. SSW erfolgen. Für die routinemäßige

Miriam und Peter S. haben mittlerweile einen Schwangereninformationsabend besucht und sich die Räumlichkeiten von zwei Perinatalzentren angeschaut. Des Weiteren besuchen sie jetzt einen Geburtsvorbereitungskurs. Miriam beschäftigt sich in der letzten Zeit sehr intensiv mit der Frage des Geburtsmodus. Für beide kommt nur die Entbindung in einem dieser Zentren infrage, da diese eine Rundumversorgung sowohl für die Mutter als auch für die Kinder gewährleisten. Nur, für welche der beiden Kliniken entscheiden? Viele Meinungen strömen auf Miriam und Peter S. ein. Schließlich entscheiden Sie sich für die Klinik, in der sie schon ihre Ultraschalluntersuchungen bei Oberarzt Dr. B. haben durchführen lassen. »Die haben unsere ganzen Untersuchungsbefunde und verfügen über große Erfahrung im Umgang mit Mehrlingsgeburten«, sagt Peter S. Der weitere Schwangerschaftsverlauf gestaltet sich bei Miriam S. unauffällig. Die dritte Ultraschall-Screnning-Untersuchung bei der Frauenärztin mit 30 SSW zeigt bei beiden Feten ein konkordantes Wachstum und unauffällige Fruchtwassermengen. Die Kenntnis des physiologischen Zwillingswachstums ist wichtig, denn deren Wachstumsverlauf bewegt sich ab der 30. SSW auf das Niveau des unteren Konfidenzbereichs bezogen auf Einlingsnormkurven. Auch die Beurteilung der umbilikalen und zerebralen Strömungsgeschwindigkeiten zeigt unauffällige Werte. »Warum untersuchen Sie denn die Hirngefäße bei den beiden Kindern?« fragt Peter S. interessiert die Frauenärztin. »Nun, die Beurteilung der maximalen Flussgeschwindigkeiten gibt einen Hinweis darauf, ob der eine Fetus eine Blutarmut, eine sog. Anämie, und der andere zu viel Blut, eine sog. Polyglobulie, entwickelt. Diese Blutvolumenverschiebung erfolgt über plazentare, sog. arteriovenöse Gefäßverbindungen und kommt nur bei eineiigen Zwillingen in etwa 3% der Fälle vor. Das bezeichnen wir auch als TAPS-Sequenz (twin anemia polycythemia sequence)«, entgegnet die Frauenärztin. »Was

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23

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

es alles gibt«, denkt sich Peter S. und ist gemeinsam mit Miriam erleichtert, dass die Werte im Normbereich liegen. Der Bauchumfang nimmt kontinuierlich zu, aber Miriam klagt nun über zunehmende Rückenschmerzen. 2 Wochen später wird bei der Frauenärztin zum ersten Mal eine CTG-Untersuchung durchgeführt. Miriam verspürt seit ein paar Tagen immer wieder eine Verhärtung ihres Bauchs und ist deshalb ein wenig beunruhigt. Die Herztöne der beiden Kinder hat sie ja bereits bei den Doppleruntersuchungen gehört, aber nun kann sie beide gleichzeitig im Rhythmus hören. Als die Frauenärztin das CTG beurteilt, sagt sie: »Die Herztöne der beiden sind normal, aber ich sehe auch Kontraktionen auf dem CTG. Es ist besser, wir führen noch eine Vaginalsonographie zur Beurteilung der Zervixlänge durch.« Die Vermessung der Zervix ergibt eine Länge von 20 mm und eine kleine Trichterbildung.

23.1.8 Was bedeutet das konkret?

Anhand einer Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass eine vaginalsonographisch gemessene Zervixverkürzung von 20 mm und weniger zwischen 20 und 24 SSW den besten Vorhersagewert für eine Frühgeburt unterhalb von 34 SSW hat. Konkret heißt das, dass bei diesen Messwerten das Risiko für eine Frühgeburt unterhalb von 32 SSW von 6,8% auf 42,4% und unterhalb von 34 SSW von 15,3% auf 61,9% steigt. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass die Dynamik der Zervixverkürzung einen Einfluss auf die Frühgeburt hat. > Empfohlen werden daher serielle sonographische Kontrollen der Zervixlänge in 2-wöchigen Intervallen. Eine Verkürzung während dieser Zeit um mehr als 20% lässt das Frühgeburtenrisiko unterhalb von 28, 30, 32 und 34 SSW auf 15,8%, 15,8%, 31,6% und 36,8% steigen.

Weitere Biomarker zur Vorhersage einer Frühgeburt sind 44der sonographische Nachweis von Sludge im Fruchtwasser im Bereich des inneren Muttermundes und 44die Bestimmung von fetalem Fibronektin im Zervikalsekret.

So geht es weiter … Die Frauenärztin empfiehlt aufgrund der Beschwerden und der Zervixverkürzung eine stationäre Aufnahme. Miriam S. ist dieses Mal alleine zur Vorsorgeuntersuchung gegangen, und Peter kommt erst am nächsten Tag von einer Geschäftsreise zurück. Die überaus besorgte Miriam wird in der Frauenklinik aufgenommen. Die Kontrolluntersuchung bestätigt die Zervixverkürzung; im CTG sind regelmäßig alle 7 min Kontraktionen zu erkennen, die Miriam auch spürt. Die anschließende vaginale Palpationsuntersuchung ergibt eine weiche Konsistenz des Muttermundes mit leichter Zentrierung, aber erhaltener und geschlossener Portio. Da sich Miriam in der 32 + 4 SSW befindet, eine Zervixverkürzung aufweist und regelmäßige Kontraktionen verspürt, empfiehlt Frau Dr. H., die diensthabende Oberärztin, zunächst eine wehenhemmende Therapie in Form einer Bolus-Tokolyse mit Fenoterol sowie die antenatale Lungenreifinduktion mit Betamethason. »Zuvor müssen wir aber noch ein EKG von Ihnen schreiben, und ich höre mit den Stethoskop Ihre Lungen ab«, sagt Oberärztin H. Miriam ist sehr verängstigt und merkt mit Beginn der Tokolyse, dass ihr Herz schneller schlägt. Zum Ausschluss einer Infektion, einer Anämie und einer Präeklampsie nimmt die Oberärztin Dr. H. zusätzlich Blut für Blutbild, CRP-Bestimmung und HELLP-Labor ab. Hintergrund für diese Maßnahme ist, dass bei Zwillingsschwangerschaften ein 2,4fach erhöhtes Anämierisiko besteht (Definition: Hämatokrit < 30%, Hämoglobin < 6,2 mmol/l) und die Inzidenz bei bis zu 14,6% liegt. Die Angaben zum Präeklampsie-Risiko variieren in der Literatur zwischen 6% und 37%. Aber auch das Risiko für eine Hypertension (RR ≥ 140/90 mmHg) ist bei Zwillingsschwangerschaften gegenüber Einlingsschwangerschaften um den Faktor 2,5 erhöht und beträgt bei Zwillingsschwangeren 12,5%. Ergänzend wird noch ein mikrobiologischer Vaginalabstrich entnommen.

23.1.9 Welche Risiken bestehen in

dieser Situation?

Das Risiko für eine Zwillingsfrühgeburt mit 32 SSW liegt bei etwa 11%. Aufgrund der vorliegenden klinischen Symptomatik ist eine wehenhemmende

359 23.1 · Falldarstellung

Therapie indiziert. Diese sollte möglichst nicht länger als 48 h durchgeführt werden, muss jedoch individuell anhand der klinischen Situation entschieden werden. Zur medikamentösen Tokolyse werden verschiedene Substanzen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen und Nebenwirkungsprofilen eingesetzt. Zur klinischen Anwendung kommen in erster Linie 44das β-Sympathomimetikum Fenoterol (Partusisten), 44der Oxytocinrezeptor-Antagonist Atosiban (Tractocile) oder 44als Off-label-Therapie Nifedipin (Adalat) – ein Kalziumantagonist. Eine antenatale fetale Lungenreifeinduktion mit synthetischen Glukokortikoiden wie Betamethason (Celestan) ergänzt diese Therapie und reduziert sowohl die Rate an respiratorischen Problemen beim Neugeborenen als auch generell die neonatale Morbidität und Mortalität. Die Indikation für eine antenatale Lungenreifeinduktion wird analog zu den Indikationen bei einer Einlingsschwangerschaft gestellt. ! Cave Bei Mehrlingen besteht bei simultaner Applikation von Fenoterol und Glukokortikoiden ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Lungenödems der Mutter.

Die Pathophysiologie hierfür ist derzeit nicht geklärt, scheint aber mit dem vermehrten Herzzeitvolumen bei Mehrlingen, Lungenepithelveränderungen und den Wirkmechanismen von Fenoterol und Glukokortikoiden zusammenzuhängen. Eine Alternative zu dieser Tokolyse-Therapie stellt das Atosiban dar, welches in vielen Kliniken aufgrund des niedrigen Nebenwirkungsprofils auch als First-line-Therapie eingesetzt wird. Weitere ergänzende Therapieregime wie die transvaginale Applikation von 200 mg Progesteron und das transvaginale Legen eines Arabin-Pessars werden derzeit kontrovers diskutiert. Auch Kombinationstherapieregime werden diskutiert, wobei deren Evidenz derzeit noch nicht belegt und Gegenstand aktueller Untersuchungen ist. Ebenso besteht keine Evidenz für die Empfehlung von strenger Bettruhe und/oder eine routinemäßige Hospitalisation von asymptomatischen Zwillingsschwangeren mit verkürzter Zervix.

23

So geht es weiter … Glücklicherweise sistieren bei Miriam die Kontraktionen, und die Tokolyse kann abgesetzt werden. Auch zeigen die Ergebnisse der Blutuntersuchung, der mikrobiologische Vaginalabstrich und die Urinuntersuchung unauffällige Befunde. Nach 2  weiteren Tagen und zunehmender körperlicher Belastung kann Miriam S. wieder bei Wohlbefinden nach Hause entlassen werden. Zuvor wünscht sie sich aber noch ein Beratungsgespräch bzgl. des Geburtsmodus. Aktuell liegt der führende Geminus in einer Schädellage und der zweite Geminus in einer Beckenendlage. Die derzeitige sonographisch geschätzte Gewichtsdifferenz beträgt ca. 150  g. Das sind die Diskussionsgrundlagen für das Gespräch in der 33. SSW über den Geburtsmodus.

Wie sind die Empfehlungen? Welche Risiken gibt es bei der Zwillingsgeburt?

23.1.10

57% der Zwillinge werden vor der 37 SSW geboren ( . Abb. 23.6). Dabei erfolgt die Entbindung bei dichorialen Zwillingen im Mittel mit 37 SSW und bei monochorialen Zwillingen im Mittel mit 36 SSW (. Abb. 23.7). Ein Gestationsalter von mehr als 38 + 0 SSW sollte nicht überschritten werden, da ansonsten eine erhöhte perinatale Morbidität und Mortalität resultiert (. Abb. 23.8). Bei unauffälligem Wachstumsverlauf von Zwillingen besteht allerdings kein signifikanter Unterschied zwischen monochorialen und dichorialen Zwillingen hinsichtlich des fetalen Outcome (. Abb. 23.9). In den letzten Jahren hat eine zunehmende Zentralisierung von Zwillingsgeburten in sog. Twin-Clinics stattgefunden. Diese spezialisierten Kliniken haben in aller Regel den Status eines Perinatalzentrums der Stufe I und umfassen die Vorhaltung eines erfahrenen geburtshilflichen, anästhesiologischen und neonatologischen Teams. Zudem ist hier ist die Möglichkeit eines schnellen geburtshilflichen Intervenierens, wie z. B. die Durchführung einer Notsectio möglichst unterhalb von 10 min, gegeben. Sie weisen eine hohe Geburtenrate und insbesondere eine hohe Rate an Zwillingsgeburten auf. Perinatalstatistiken belegen, dass in Deutschland gegenwärtig mehr als 90% aller Zwillinge in den Perinatalzentren entbunden werden.

360

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

35

Einlinge

Geburtszeitpunkt (%)

30

23

25

Zwillinge

20 15 10 5 0

24

26

28

30

32

34

36

38

40

42

44

Schwangerschaftswochen . Abb. 23.6  Vergleich des Geburtszeitpunkts zwischen Einlingen und Zwillingen. (Daten aus Sairan et al. 2002)

30

Dichoriale Zwillinge Geburtszeitpunkt (%)

25

Monochoriale Zwillinge

20 15 10 5 0

26–27 27–28 28–29 29–30 30–31 31–32 32–33 33–34 34–35 35–36 36–37 37–38 38–39 39–40 >40

Schwangerschaftswochen . Abb. 23.7  Vergleich des Geburtszeitpunkts zwischen monochorialen und dichorialen Zwillingen. (Daten aus STORK 2012)

> Die Entscheidung über den Geburtsmodus liegt grundsätzlich bei den werdenden Eltern. Der Geburtshelfer sollte in einem ergebnisoffenen Beratungsgespräch anhand der vorliegenden geburtshilflichen Situation und unter Berücksichtigung der physischen und psychischen Verfassung der Schwangeren den Spontanpartus

und den Kaiserschnitt evidenzbasiert thematisieren.

Die Erfolgsrate für eine vaginale Geburt bei Zwillingen liegt zwischen 66% und 90% und ist insbesondere von der Erfahrung des Geburtshelfers abhängig. Trotzdem sind die Sectio-Raten bei Zwillingen in den USA im Zeitraum zwischen 1995–2008 von

23

361

Risiko für Totgeburten bezogen auf 1000 Schwangerschaften

23.1 · Falldarstellung

16 12

8 4 0

28

30

32

34 36 Schwangerschaftswochen

38

40

42+

. Abb. 23.8  Risiko für Totgeburten bei Zwillingen während der Schwangerschaft. (Daten aus Sairan et al. 2002)

Risiko für Totgeburten bezogen auf 1000 Schwangerschaften

10

8

Monochoriale Zwillinge 6

4

Dichoriale Zwillinge

2

0

26+0 − 27+6

28+0 − 29+6

30+0 − 31+6

32+0 − 33+6

34+0 − 35+6

> 36+0

Schwangerschaftswochen

. Abb. 23.9  Vergleich der Totgeburtenrate zwischen monochorialen und dichorialen Zwillingen. (Daten aus Dias u. Akolekar 2014)

54% auf 75% gestiegen und auch in Deutschland wird gegenwärtig über ähnlich hohe Sectio-Raten (bis zu 80%) berichtet. Für die Geburtsplanung von Zwillingen und die Festlegung des Geburtsmodus müssen drei klinisch relevante Befunde geklärt werden: 44Lage der Kinder, 44Gestationsalter, 44Gewichte der beiden Kinder.

In ca. 40–45% der Fälle liegen beide Kinder in Schädellage Bei dieser Konstellation kann den Eltern eine vaginale Entbindung empfohlen werden, sofern keine geburtshilflichen Kontraindikationen vorliegen. Das geschätzte Geburtsgewicht sollte über 1500 g bzw. das Gestationsalter oberhalb von 32 SSW liegen, die Gewichtsdiskordanz sollte nicht mehr als 20% betragen. Unter diesen Bedingungen liegen die

362

23

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

Erfolgschancen für eine vaginale Geburt zwischen 66–90%. Für eine primär geplante Sectio caesarea zur Verbesserung des perinatalen Outcome gibt es derzeit keine evidenzbasierten Belege, sodass diese Geburtsoption nicht primär empfohlen werden sollte. Nach der Geburt des ersten Zwillings sollten die Nabelschnur unmittelbar abgeklemmt, eine sonographische Lagekontrolle des zweiten Zwillings durchgeführt sowie die kindlichen Herztöne im CTG kontrolliert und abgeleitet werden. Ein aktives Vorgehen zur Beschleunigung der Geburt ist bei unauffälligem CTG nicht zwingend erforderlich. Allerdings sollte dem Geburtshelfer bekannt sein, dass ein zeitliches Intervall zwischen der Geburt des ersten und des zweiten Zwillings von mehr als 30 min mit einer signifikant höheren Azidoserate des zweiten Kindes einhergeht. In diesen Fällen sollte eine Unterstützung der Wehentätigkeit durch eine Oxytocin-Infusion und eine Amniotomie erfolgen. Ganz entscheidend ist aber eine sichere CTG-Ableitung der kindlichen Herzfrequenz, ggf. auch als interne Ableitung. Das Risiko für eine sekundäre Sectio beim zweiten Zwilling liegt etwa bei 4%, z. B. aufgrund eines Nabelschnurvorfalls, einer vorzeitigen Plazentalösung oder einer Einstellungsanomalie.

In ca. 35–40% der Fälle liegt der führende Zwilling in Schädellage und der zweite in Quer- oder Beckenendlage Der Geburtsmodus bei dieser Konstellation wurde bisher kontrovers diskutiert. Das geburtshilfliche Management ist insbesondere abhängig von der Größe des zweiten Zwillings (zwischen 1500 g und 3500 g), einer Wachstumsdiskordanz (nicht größer 20%) und insbesondere von der Erfahrung des geburtshilflichen Teams. Die Indikation für eine subpartale Periduralanästhesie ist nicht zwingend in jedem Fall, aber individuell und großzügig zur Analgesie und Entspannung zu stellen. Anhand einer großen internationalen randomisierten kontrollierten Multicenterstudie, der sog. Twin-Birth-Studie, konnte gezeigt werden, dass hinsichtlich des perinatologischen und maternalen Outcome keine signifikanten Unterschiede zwischen einer geplanten Sectio caesarea und einer geplanten vaginalen Geburt bestehen. Die neonatale Mortalität und Morbidität betrug in der geplanten Sectio-Gruppe

2,2%, bei der geplanten vaginalen Geburt 1,9%. Diese Ergebnisse können jedoch nur in erfahrenen und auf Zwillingsgeburten spezialisierten Zentren erreicht werden. Eine 2-Jahres-Nachsorgeuntersuchung der Kinder der Twin-Birth-Studie zeigt weiterhin, dass kein signifikanter Unterschied in der Mortalität und in der neurologischen Entwicklung der Kinder besteht. Neurologische Entwicklungsstörungen wurden in der Gruppe mit geplantem Kaiserschnitt in 4,6% und in der Gruppe mit einer vaginalen Geburt in 4,9% der Fälle gefunden. Diese Erkenntnisse können zur Beratung der Zwillingseltern herangezogen werden. Nach der Geburt des ersten Zwillings gibt es die Möglichkeit, den zweiten Geminus mithilfe einer äußeren bzw. einer kombinierten inneren-äußeren Wendung in eine Schädellage zu drehen oder aber die Geburt aus einer Beckenendlage durchzuführen. Die Erfolgschancen liegen in der Hand des erfahrenen Geburtshelfers bei ca. 70–75%. Aufgrund der höheren Komplikationsraten bei der äußeren Wendung, wie Nabelschnurvorfall, vorzeitige Plazentalösung und Dezeleration im CTG, wird aber derzeit eher die Entbindung aus einer Beckenendlage empfohlen. Für die Durchführung dieser Zwillingsgeburt müssen optimale logistische Bedingungen in der Klinik vorliegen, wie ein in Bereitschaft stehendes erfahrenes geburtshilfliches, anästhesiologisches und neonatologisches Team und die Möglichkeit, eine Notsectio unterhalb von 10 min durchführen zu können. Zudem ist die Expertise des geburtshilflichen Teams entscheidend, die nur durch hohe Geburtenraten insbesondere von Zwillingsgeburten gewährleistet ist.

In ca. 20% der Fälle liegt der führende Zwilling nicht in Schädellage Prinzipiell ist eine Spontangeburt aus einer Beckenendlage möglich. Dennoch besteht in der Literatur weitgehend Konsens darüber, dass bei einer Beckenendlage oder einer Querlage des führenden Zwillings die Sectio caesarea zu empfehlen ist. So geht es weiter … Miriam fühlt sich nach dem Beratungsgespräch gut aufgeklärt. Nachdem die Hebamme ihr auch noch den Kreißsaal gezeigt hat, ist sie motiviert für die Spontangeburt. Abends erzählt sie Peter von dem Gespräch und ihren Eindrücken.

363 23.1 · Falldarstellung

In den folgenden Tagen klagt Miriam immer wieder über Rückenbeschwerden, über geschwollene Beine mit Wassereinlagerungen und ein zunehmendes Ziehen in die Scheide. Wöchentlich wird nun eine CTG-Untersuchung durchgeführt. Die Herztöne der beiden Kinder sind immer gut abzuleiten und zeigen ein unauffälliges Muster. Mit 36 + 0 SSW führt die Frauenärztin nochmals eine Ultraschalluntersuchung durch. Die Dopplerflussmessungen in der Nabelschnurarterie und im Gehirngefäß zeigen unauffällige Werte. »Wie schwer sind denn die beiden?«, möchte Miriam wissen. »Der erste Zwilling liegt in einer Schädellage und hat ein Schätzgewicht von 2550 g, der zweite Zwilling liegt weiterhin in einer Beckenendlage und hat ein Gewicht von 2360  g«, erwidert die Frauenärztin. 2 Tage später, es ist ein sonniger Sonntagmorgen, verspürt Miriam in den Morgenstunden ein ziehendes und immer stärker werdendes Hartwerden des Bauchs. Miriam muss tief durchatmen und sagt zu Peter: »Oh, ich glaube es geht jetzt los!« Miriam und Peter rufen schnell ein Taxi und fahren kurz darauf in die Klinik. Aufnahme im Kreißsaal Miriam und Peter S. befinden sich im Vorwehenzimmer des Kreißsaals. Es ist 11:33 Uhr. Hebamme Monika erhebt den vaginalen Tastbefund. »Sie haben ja schon eine Muttermundweite von 5 cm – prima. Die Fruchtblase steht noch, und das führende Köpfchen drückt auch schon fest nach unten«, sagt die Hebamme und ergänzt: »Jetzt schreiben wir noch ein CTG, um die Herztöne der beiden Kinder zu kontrollieren.« Miriam hat seit 30 Minuten regelmäßige Wehen, und es tut weh. Sie atmet tief, und stöhnt in jeder Wehe. Peter atmet in jeder Wehe mit und massiert ihren Rücken, so gut es eben geht. Schließlich kommt der diensthabende Oberarzt Dr. L. und führt noch eine orientierende Lagekontrolle der beiden Kinder mit dem Ultraschall durch. »Die Lage der Kinder hat sich nicht geändert, das CTG ist prima, und Sie haben regelmäßig Wehen«, stellt er fest und motiviert beruhigend weiter zur Spontangeburt. Miriam hat regelmäßige Wehen und kommt mit den Wehenschmerzen gut zurecht. »Zur Sicherheit und zur Unterscheidung Ihres Herzschlags von dem der beiden Kinder legen wir bei Ihnen noch einen sogenannten Pulsoxymeter an Ihren Finger an«, erklärt Oberarzt Dr. L.

23

Um 16:10 Uhr untersucht Hebamme Monika erneut und sagt: »Prima, der Muttermund ist nun schon komplett geöffnet, und das Köpfchen ist fest im Beckeneingang.« Miriam ist müde, die Wehentätigkeit lässt nun auch nach. Die Fruchtblase steht noch. Nach Evaluation des gesamten Geburtsverlaufs beschließen Oberarzt Dr. L. und Hebamme Monika in Absprache mit den Eltern, zunächst eine OxytocinInfusion zur Unterstützung der Wehentätigkeit zu geben und dann die Fruchtblase zu eröffnen. In der Folge kontrolliert Hebamme Monika die Herztöne der beiden Kinder und vergewissert sich, dass einerseits beide Kinder getrennt voneinander abgeleitet werden und auch die mütterliche Herzfrequenz sich von beiden Kindern unterscheidet. Des Weiteren bereitet sie die Reanimations- und Wärmeeinheit vor, fährt das Ultraschallgerät in den Kreissaal und trifft Vorbereitungen für die Geburt. Nun eröffnet Oberarzt L. die Fruchtblase, wobei klares Fruchtwasser abgeht. Es ist jetzt 17:00 Uhr, und Miriam verspürt einen zunehmenden Druck im Becken und auf den Damm. Die Wehen sind wieder intensiver und regelmäßiger geworden. Miriam liegt in der Seitenlage. Sie atmet unter der Anleitung der Hebamme tief und ruhig in der Wehenpause, während der Wehe versucht Miriam, das Köpfchen stöhnend millimeterweise zum Beckenausgang herauszudrücken. »Du hast es gleich geschafft!«, motiviert Peter, der auch die ganze Zeit mit atmet und Miriam die Schweißperlen von der Stirn tupft. Oberarzt L. kontrolliert die Ableitung der beiden Herztöne, die Reanimationseinheit, die Funktionsfähigkeit des Ultraschallgeräts und informiert abschließend das neonatologische und anästhesiologische Team für die Bereitschaft. »Alles ist gut vorbereitet, und Ihr Geburtsverlauf ist völlig normal« sagt Oberarzt L. in einem ruhigen Ton. Um 17:42 Uhr ist es soweit: Nach 5 kräftigen Presswehen in Seitenlage wird der erste Zwilling geboren. »Es ist ein gesundes Mädchen«, sagt die Hebamme und legt das Neugeborene auf die Brust der Mutter.

Welche Maßnahmen müssen nun ergriffen werden?

23.1.11

Unmittelbar nach der Geburt des ersten Zwillings müssen die Herztöne des zweiten Zwillings mit dem CTG bzw. mit dem Ultraschall kontrolliert werden.

364

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

> Auf eine kontinuierliche CTG-Registrierung ist zu achten.

23

Des Weiteren erfolgt die sonographische Lagekontrolle des zweiten Zwillings. Die häufig durchgeführte externe Schienung des zweiten Zwillings ist nicht nötig und auch nicht evidenzbasiert. Bei unauffälligen kindlichen Herztönen kann zunächst in Ruhe abgewartet werden und das Neugeborene der Frau zum Bonding in einer entspannten und ruhigen Atmosphäre auf die Brust gelegt werden. Häufig sistiert nach der Geburt des ersten Zwillings die Wehentätigkeit, sodass eine Erhöhung der Oxytocin-Dosis empfehlenswert ist. Ein aktives Vorgehen, z. B. mittels einer Amniotomie der zweiten Fruchtblase, sollte nur bei pathologischem CTG oder bei V. a. vorzeitige Plazentalösung erfolgen. Gleichzeitig sollte in diesen Situationen eine Sectio-Bereitschaft hergestellt sein, um ggf. umgehend eine Notsectio durchführen zu können. Bei unauffälligem Verlauf wird ein aktives geburtshilfliches Vorgehen nach etwa 30 min empfohlen. So geht es weiter … Miriam ist erschöpft und dennoch überglücklich, ihr Baby im Arm halten zu können. Peter hat gerade die Nabelschnur mit der Schere durchtrennt. »Ganz schön derb«, meint er, nachdem er der Hebamme die Schere zurückgegeben hat. Assistenzärztin Dr. C. entnimmt noch Blut aus den Nabelschnurgefäßen für die pH-Wert-Bestimmung. »So, jetzt müssen wir uns um den zweiten Zwilling kümmern!«, sagt Oberarzt Dr. L. Peter bekommt jetzt seine in warme Handtücher eingepackte Tochter auf den Arm. Was für ein Moment! Die erneute Lagekontrolle des zweiten Zwillings zeigt weiterhin eine komplette Beckenendlage. Die Wehentätigkeit wird wieder intensiver. Hebamme Monika weist Miriam an, nun in eine Knie-Ellenbogen-Position zu wechseln. Gemeinsam schaffen sie den Positionswechsel. Nach drei Presswehen springt die zweite Fruchtblase. Die vaginale Tastuntersuchung ergibt, dass es zu keinem Nabelschnurvorfall gekommen ist und der kindliche Steiß sich nunmehr in Beckenmitte befindet. Nach zwei weiteren Presswehen wird dann um 18:05 Uhr das zweite Mädchen spontan aus einer kompletten Beckenendlage geboren. Nach einem

kurzen Moment beginnt das Neugeborene zu schreien. Alle sind nun erleichtert und freuen sich über den erfolgreichen Geburtsverlauf.

23.1.12  Worauf muss nun geachtet

werden?

Aufgrund der Überdehnung des Uterus besteht ein erhöhtes uterines Atonierisiko. Daher müssen der Fundusstand, der Uterustonus, die uterine Blutung unmittelbar nach der Plazentarperiode kontrolliert werden. > Eine intravenöse Atonieprophylaxe mit Oxytocin ist obligat.

Es ist geschafft! Nachdem die Plazenta vollständig geboren wurde und Oberarzt Dr. L. noch dem Dammriss zweiten Grades mit einer Dammnaht versorgt hat, kann Miriam endlich ihre beiden Töchter in den Armen halten. Peter liegt ebenfalls an Miriams Seite im Kreißbett und sagt zu ihr: »Du warst toll.«

23.2 Fallnachbetrachtung

Die Betreuung und Überwachung von Mehrlingsschwangerschaften stellt eine große Verantwortung für den betreuenden Frauenarzt und Pränatalmediziner dar. Mehrlingsschwangerschaften weisen im Vergleich zu Einlingsschwangerschaften eine 3- bis 6-fach höhere Rate an Schwangerschaftskomplikationen auf. Der Geburtshelfer muss daher in der Lage sein, neben den maternalen und perinatalen Komplikationen die speziellen fetalen Entwicklungsstörungen rechtzeitig zu diagnostizieren, um auftretende Probleme und Komplikationen adäquat beraten und umsichtig therapieren zu können. 44Die Schwangerenvorsorge umfasst neben einer Aufklärung über das Überwachungskonzept und mögliche perinatologische Risiken die Durchführung der fetalen Nackentransparenzmessung beider Feten und die Festlegung des

365 Weiterführende Literatur

Plazentationstyps zwischen 11 und 14 SSW. Die Plazentationsverhältnisse sollten hierbei immer im Mutterpass schriftlich und bildlich dokumentiert werden. 44Anlässlich des 2. Ultraschallscreenings (19–22 SSW) erfolgt die sonographische Beurteilung der Zervix, die Überprüfung der Nabelschnurinsertion, die Überprüfung der Fruchtwassermenge und die Durchführung einer sonographischen Detailbeurteilung der fetalen Organe einschließlich der fetalen Echokardiographie. 44Ab der 16. SSW sollten bei monochorialen Zwillingsschwangerschaften die Fruchtwassermenge sowie die Harnblasenfüllung der beiden Feten in 2-wöchigen Intervallen sonographisch kontrolliert werden. 44Bei Nachweis eines fetofetalen Transfusionssyndroms sollte den Eltern aufgrund des kausalen Therapieansatzes, der zunehmenden Verbesserung der Erfolgsraten und insbesondere im Hinblick auf eine bessere neuromotorische Entwicklung im Kindesalter, die Möglichkeit der fetoskopischen Lasertherapie als Therapie der ersten Wahl an einem dafür spezialisierten Pränatalzentrum angeboten werden. 44Im Rahmen des 3. Ultraschall-Screenings ist insbesondere auf das fetale Wachstumsmuster der beiden Feten zu achten und eine intrauterine Wachstumsrestriktion auszuschließen. Mehrlinge sollten immer in einem Perinatalzentrum entbunden werden. 44Der Entbindungsmodus ist abhängig von den Wünschen und der Vorgeschichte der Eltern. Eine vaginale Entbindung kann empfohlen werden, wenn das Schwangerschaftsalter oberhalb von 32 SSW bzw. ein sonographisches Schätzgewicht von mehr als 1500 g vorliegt, der Gewichtsunterschied weniger als 20% beträgt und der führende Zwilling in Schädellage liegt. 44Während der Geburt muss eine sichere Ableitung der kindlichen Herztöne ggf. mit einer kombinierten externen und internen Ableitung erfolgen. 44Neben einem erfahrenen geburtshilflichen Team muss eine neonatologische, anästhesiologische und eine operative Bereitschaft für unvorhergesehene Notfallsituationen sub partu hergestellt sein.

23

44Unmittelbar post partum besteht für die Mutter ein erhöhtes Atonierisiko. Der vorliegende Fall zeigt insgesamt einen optimalen Verlauf einer monochorialen Zwillingsschwangerschaft. Die Schwangerschaftsüberwachung, die Aufklärung und das geburtshilfliche Vorgehen wurden regelrecht durchgeführt.

Weiterführende Literatur Arabin B, Kyvernitakis I (2011) Vaginal delivery of the second nonvertex twin. Obstet Gynecol 118: 950–954 Asztalos EV, Hannah ME, Hutton EK et al (2016) Twin birth study: 2-year neurodevelopmental follow-up of the randomized trial of planned caesarean or planned vaginal delivery for twin pregnancy. Am J Obstet Gynecol 214: 371–372 Bahlmann F (2009) Monochorionic twin pregnancy and the following problems. Z Geburtsh Neonatol 213: 234–247 Barrett JFR (2014) Twin delivery: method, timing and conduct. Best Pract Res Clin Obstet Gynecol 28: 327–338 Barett JFR, Hannah ME, Hutton E et al (2013) A randomized trial of planned caesarean of vaginal delivery for twin pregnancy. NEJM 369: 1295–1305 Blickstein I (2016) Delivery of vertex/novertex twins: did the horses already leave the barn? Am J Obstet Gynecol 214: 308–310 Burges JL, Unal ER, Nietert PJ, Newman RB (2014) Risk of latepreterm stillbirth and neonatal morbidity for monochorionic and dichorionic twins. Am J Obstet Gynecol 210: 578.e1–9 Conde-Agudelo A, Romero R (2014) Prediction of preterm birth in twin gestations using biophysical and biochemical tests. Am J Obstet Gynecol 211: 583–595 Conde-Agudelo A, Romero R, Hassan SS, Yeo L (2010) Transvaginal sonographic length for the prediction of spontaneous preterm birth in twin pregnancies: a systematic review and meta-analysis. Am J Obstet Gynecol 203: 128. e1–e12 D’Antonio F, Khalil A, Dias T, Thilaganathan B (2013) Early fetal loss in monochorionic and dichorionic twin pregnancies: analysis of the Southwest Thames Obstetric Research Collaborative (STORK) multiple pregnancy cohort. Ultrasound Obstet Gynecol 41: 632–636 Delbaere I, Goetgeluk S, Derom C et al (2007) Umbilical cord anomalies are more frequent in twins after assistant reproduction. Hum Reprod 22: 2763–2767 Dias T, Akolekar R (2014) Timing of birth in multiple ­pregnancy. Best Pract Res Clin Obstet Gynecol 28: 319–326 Diehl W, Diemert A, Hecher K (2014) Twin–twin transfusion syndrome: treatment and outcome. Best Prac Res Clin Obstet Gynecol 28: 227–238

366

23

Kapitel 23 · Mehrlingsschwangerschaft und -geburt

Ebbing C, Kiserud T, Johnsen SL et al (2013) Prevalence, risk factors and outcomes of velamentous and marginal cord insertions: a population-based study of 634,741 pregnancies. PLOSone 8: e70380 Emery SP, Bahtiyar MO, Moise KJ (2015) The North American Fetal Therapy Network Consensus Statement. Management of complicated monochorionic gestations. Obstet Gynecol 126: 527–584 Fox NS, Gupta S, Lam-Rachlin J et al (2016) Cervical pessary and vaginal progesterone in twin pregnancies with a short cervix. Obstet Gynecol 127: 625–630 Giles W, Bisits A, O’Callaghan S, Gill A; DAMP Study Group (2003) The Doppler assessment in multiple pregnancy randomised controlled trial of ultrasound biometry versus umbilical artery Doppler ultrasound and biometry in twin pregnancy. Br J Obstet Gynaecol 110: 593–597 Khalil A, Rodgers M, Baschat A et al (2016) ISUOG Guidelines: role of ultrasound in twin pregnancy. Ultrasound Obstet Gynecol 47: 247–263 Lewi L, van Schoubroeck D, Gratacos E et al (2003) Monochorionic diamniotic twins: complications and management options. Curr Opinion Obstet Gynecol 15: 177–194 Practice Bulletin Number 144 (2014) Multifetale gestations: twin, triplet, and higher-order multifetal pregnancies. Obstet Gynecol 123: 1118–1132 Rode L, Tabor A (2014) Prevention of preterm delivery in twin pregnancy. Best Prac Res Clin Obstet Gynaecol 28: 273–283 Rossi AC, Mullin PM, Chmait RH (2011) Neonatal outcomes of twins according to birth order, presentation and mode of delivery: a systematic review and meta-analysis. BJOG 118: 523–532 Sairam S, Costeloe K, Thilaganathan B (2002) Prospective risk of stillbirth in multiple-gestation pregnancies: a population-based analysis. Obstet Gynecol 100: 638–641 Senat MV, Deprest J, Boulvain M et al (2004) Endoscopic laser surgery versus serial amnioreduction for severe twin to twin transfusion syndrome. N Engl J Med 351: 136–144 Spiegelman J, Booker W, Gupta S et al (2016) The independent association of a short cervix, positive fetal fibronectin, amniotic fluid sludge and cervical funneling with spontaneous preterm birth in twin pregnancies. Am J Perinatol 33: 1159–1164 STORK (Southwest Thames Obstetric Research Collaborative) (2012) Prospective risk of late stillbirth in monochorionic twins: a regional cohort study. Ultrasound Obstet Gynecol 39: 500–504

367

Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin Henning Ohnesorge

24.1

Falldarstellung – 368

24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4 24.1.5 24.1.6

Was wissen Sie über das Achondroplasie-Syndrom? – 368 Welcher Geburtsmodus kommt bei schwangeren Frauen mit Achondroplasie infrage? – 369 Welche Anästhesie zur Sectio? – 370 Allgemeinanästhesie bei Achondroplasie? – 371 Empfehlungen zur Anästhesie bei Achondroplasie – 372 Akut-Tokolyse – 374

24.2

Fallnachbetrachtung – 376



Weiterführende Literatur – 376

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9_24

24

368

24

Kapitel 24 · Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin

24.1 Falldarstellung

24.1.1 Was wissen Sie über das

…Die Vorgeschichte …

Das Achondroplasie-Syndrom ist die häufigste Form von genetisch bedingtem Minderwuchs mit einer von Häufigkeit von 1:20.000–100.000. Der Erbgang ist autosomal-dominant, in 80–90% der Fälle liegt eine Spontanmutation zugrunde. Es handelt sich um eine Punktmutation im Fibroblastenwachstumsfaktor-Rezeptor-Gen (FGFR-3), das auf Chromosom 4 lokalisiert ist. Bei Achondroplasie erfolgt eine Hemmung der Knorpelproliferation und eine Störung der enchondralen Ossifikation mit der Folge eines verminderten Wachstums v. a. der Röhrenknochen, was zu dem typischen klinischen Bild eines dysproportionierten Minderwuchses führt. Darüber hinaus imponieren ein relativ großer Schädel mit Mittelgesichtsdysplasien, Becken- und Wirbelsäulenveränderungen und Beinachsendeformitäten. Typisch ist ferner die sog. Dreizackhand. Embryonen mit homozygoter Mutation sind i. Allg. nicht lebensfähig und sterben bereits intrauterin ab. Lebenserwartung und Intelligenz von heterozygoten Mutationsträgern sind nicht beeinträchtigt, auch liegt eine normale Fertilität vor. Die hohe Zahl von Spontanmutationen unter den Mutationsträgern spricht aber für eine relativ geringe Reproduktionsrate unter den Betroffenen.

Britta P. gilt als »kleine Powerfrau« – diesen Spitznamen hat sie seit ihrer Kindheit, seit sie weiß, dass sie immer kleinwüchsig bleiben wird. Sie leidet unter einem Achondroplasie-Syndrom und ist auch jetzt, mit 35  Jahren, nur 125  cm groß. Sie ist nach 12  Jahren zum zweiten Mal schwanger, und dieses Mal möchte sie sich besser auf die Geburt vorbereiten, nachdem beim letzten Mal alles schief gegangen war. Damals war sie unvorbereitet in die Klinik gekommen, und ohne viel Federlesens wurde ein Kaiserschnitt in Vollnarkose gemacht. Das Ganze war immer noch ein Alptraum für sie. Vor allem auch, weil sie immer noch der Meinung war, alles gespürt zu haben – wie ihr der Bauch aufgeschnitten wurde, die Schmerzen und dann der Schrei eines Babys – erst dann war sie richtig eingeschlafen. Der Narkosearzt hatte das Ganze als Einbildung abgetan und von irgendwelchen anderen Schwierigkeiten berichtet, an Einzelheiten erinnerte sich Britta aber nicht mehr. Zumindest war sie seitdem nie wieder im Krankenhaus gewesen, auch eine Operation am Arm, die eigentlich notwendig gewesen wäre, hatte sie wegen ihrer Angst, dass sie trotz Vollnarkose wieder alles spüren würde, nie durchführen lassen. Erzählt hatte sie davon aber nur ihrem Mann; noch einmal wollte sie sich nicht als Simulantin abstempeln lassen. Britta ist inzwischen in der Selbsthilfegruppe für kleinwüchsige Menschen aktiv und kämpft seit Jahren für eine Gleichbehandlung kleinwüchsiger Menschen. Frauen mit Achondroplasie-Syndrom, die ein Kind geboren haben, kennt sie allerdings nur wenige. Ihre Frauenärztin hat Britta geraten, sich frühzeitig in der Klinik vorzustellen, um die Geburt zu planen, und dabei schon angedeutet, dass wohl wieder ein Kaiserschnitt notwendig sein würde. Das Baby sei zu groß für ihr kleines Becken. Irgendwie ist Britta darüber ja auch froh. Sie weiß, dass ihre Kleinwüchsigkeit erblich ist, aber ihr Mann ist ja »normal groß«, sodass die Chance auf ein normal großes Kind bei 50:50 liegt.

Achondroplasie-Syndrom?

> Diese Veränderungen haben sowohl aus geburtshilflicher als auch aus ­anästhesiologischer Sicht erhebliche Implikationen für das peripartale Management.

Wie geht es weiter? Britta vereinbart einen Vorstellungstermin im Kreiskrankenhaus, das 10  km von ihrem Wohnort entfernt ist. Nach dem, was sie bei ihrer ersten Geburt dort erlebt hat, würde sie zwar lieber in ein anderes Krankenhaus gehen, aber sie wohnt auf dem Land, und die nächste größere Klinik ist mehr als 60  km weit weg. Bereits bei der telefonischen Anmeldung erwähnt sie ihr Achondroplasie-Syndrom und bekommt einen Termin in der 32. SSW.

369 24.1 · Falldarstellung

Als sie zum Termin erscheint, ist die Arzthelferin zwar sehr freundlich, sie wirkt aber genauso wie die junge Ärztin, Frau Dr. Müller, die das Aufnahmegespräch führt, sehr verunsichert. Britta berichtet, dass die Schwangerschaft bisher völlig problemlos verlaufen sei, und erzählt auch von ihrer ersten Geburt hier im Krankenhaus. Die junge Ärztin macht nochmals eine Ultraschalluntersuchung und bittet sie, sich noch einen Moment zu gedulden, bis der Oberarzt Dr. Ohlsen Zeit hat, denn sie selbst hat keine Erfahrung mit der Entbindung bei kleinwüchsigen Menschen. Nach etwa einer Stunde hat der Oberarzt dann Zeit, er bittet Britta in den Untersuchungsraum und befragt sie zunächst noch einmal. Nachdem er sich die Ultraschallbilder angesehen und Britta untersucht hat, bestätigt er, dass eine normale Geburt eher nicht infrage kommt. Ihr Geburtskanal sei für ein Baby wahrscheinlich zu schmal. Mit Sicherheit ließe sich dies zwar nie sagen, aber er würde ihr zu einem geplanten Kaiserschnitt raten. Dieser würde im Allgemeinen für Frauen mit Achondroplasie-Syndrom empfohlen. Wenn Britta mit einem Kaiserschnitt einverstanden sei, würde er empfehlen, auch frühzeitig einen Termin in der Prämedikationsambulanz der Narkoseabteilung zu vereinbaren.

24.1.2 Welcher Geburtsmodus kommt

bei schwangeren Frauen mit Achondroplasie infrage?

In Standardlehrbüchern zur Geburtshilfe wird der geplante Kaiserschnitt als Geburtsmodus für Frauen mit einem Achondroplasie-Syndrom empfohlen. Bei Menschen mit Achondroplasie-Syndrom ist das Becken typischerweise durch relative breite Beckenschaufeln und ein eher schmales Kreuzbein charakterisiert. Dies führt funktionell zu einem Abknicken der Beckenachse nach vorn und zu einer konsekutiven Hyperlordose der LWS. Häufig ergibt sich daraus ein relativ hoch stehender Uterus in der Spätschwangerschaft, sodass eine Entbindung bereits vor der Reife des Feten erfolgen muss, da die Patientinnen unter respiratorischen Problemen leiden.

24

Dies gilt insbesondere für Frauen, die bereits vor der Schwangerschaft aufgrund von durch die Achondroplasie bedingten Thoraxveränderungen unter Atemproblem litten. …so geht es weiter … Der Termin in der für das Narkose-Aufklärungsgespräch ist eine Woche später. Dr. Martin Hausschild muss heute den unbeliebten Arbeitsplatz in der Prämedikationsambulanz übernehmen, da sein Kollege krank geworden ist. Martin ist im 2. Ausbildungsjahr und würde viel lieber praktische Erfahrungen im OP sammeln, anstatt hier zu sitzen und dreißigmal das Gleiche zu erzählen. Der Zeitdruck ist das Unangenehmste an der Prämed, alle 10–15 Minuten kommt der nächste Patient. Und dann auch noch diese Frauen aus der Geburtshilfe, die immer Sonderwünsche haben: »Kann ich das Baby auch gleich sehen?« Oder auch: »Ich habe aber Angst vor der Rückennarkose, dass tut doch so weh!« Martin war zuletzt während des PJ im Kreißsaal-OP bei einem Kaiserschnitt dabei gewesen, hier ist das allerdings nur erfahrenen Kollegen vorbehalten. Und jetzt auch noch eine Frau mit Achondroplasie! Davon hat er zum letzten Mal im Studium etwas gehört; genetisch bedingter Minderwuchs, das weiß er noch. Das alte Narkoseprotokoll hat die Sprechstundenhilfe bereits herausgesucht, es ist aber kaum zu lesen. Auf jeden Fall war es damals ein Kaiserschnitt in Vollnarkose. Wenn er die Aufzeichnungen richtig entziffert, war die Intubation wohl schwierig. Im Gespräch ist die Patientin aber sehr nett, und bis auf den Kleinwuchs scheinen keine Besonderheiten vorzuliegen. Die Gesichtsform ist etwas auffällig, mit einer Sattelnase und einem prominenten Mund, und es fällt ein ausgeprägtes Hohlkreuz mit einem eher kräftigen Gesäß auf. In der Untersuchung der Lendenwirbelsäule sind keine Dornfortsätze zu tasten. Vorsichtshalber ruft Martin noch die Oberärztin Dr. Anneliese Hoffmann, die für den Kreißsaal zuständig ist, an. Aufgrund der unklaren anatomischen Verhältnisse empfiehlt diese, die Patientin für eine Vollnarkose aufzuklären. Gleichzeitig sollte ein Video-Laryngoskop für das Management des schwierigen Atemwegs vorgehalten werden.

370

Kapitel 24 · Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin

24.1.3 Welche Anästhesie zur Sectio?

24

Die Anästhesie für die Sectio gilt aufgrund der physiologischen Veränderung der Schwangerschaft auch heute noch als Risikonarkose und steht immer noch an 7. Stelle der direkten Todesursachen im Rahmen der Schwangerschaft. Darüber hinaus wird das Narkosemanagement durch den Umstand erschwert, dass nahezu alle Anästhetika die Plazentaschranke passieren und somit auch das ungeborene Kind beeinflussen. Grundsätzlich kommen drei verschiedene Anästhesieverfahren zum Einsatz: 44Allgemeinanästhesie, 44Spinalanästhesie (SPA), 44Epiduralanästhesie (EDA). Diese weisen jeweils unterschiedliche Vor- und Nachteile auf (. Tab. 24.1). z Allgemeinanästhesie

Die Allgemeinanästhesie hat den Vorteil der sehr schnellen Durchführbarkeit bei Fehlen von absoluten Kontraindikationen. Allerdings weist die Allgemeinanästhesie gerade in der Schwangerschaft nicht unerhebliche Risiken

auf. Diese sind v. a. assoziiert mit der schwierigen Sicherung des Atemwegs, der bei einer Sectio in Vollnarkose obligat erfolgen sollte. In der Schwangerschaft spielen verschiedene Aspekte eine Rolle: Einerseits gilt eine Schwangere spätestens ab der 18. SSW aufgrund einer Verminderung des Tonus des unteren Ösophagus-Sphinkters als nicht mehr nüchtern und weist somit ein erhöhtes Aspirationsrisiko auf. Weiterhin ist die Apnoe-Toleranz einer Schwangeren v. a. zu Ende der Schwangerschaft stark vermindert. Dies liegt auf der einen Seite auf der Verringerung der funktionellen Residualkapazität (FRC) der Lunge, die zu einer reduzierten Sauerstoffreserve in der Lunge führt; gleichzeitig besteht ein durch die Schwangerschaft ein um bis zu 25% gesteigerter Sauerstoffverbrauch der Schwangeren. Auf der anderen Seite setzt die Gefährdung des ungeborenen Lebens durch Sauerstoffmangel sehr viel früher ein als die Folgen für die Mutter. Die Situation wird dadurch erschwert, dass in der Schwangerschaft ca. 10-mal häufiger schwierige Intubationsverhältnisse vorliegen, als dies in einem Vergleichskollektiv der Fall ist. Ursache hierfür ist v. a. eine Schwellung der Schleimhäute des oberen Atemwegs. In der Summe tragen Probleme mit der Atemwegssicherung und Aspiration so zu nahezu der Hälfte der

. Tab. 24.1  Vor- und Nachteile verschiedener Anästhesieverfahren zur Sectio Bewertung

Allgemeinanästhesie

Spinalanästhesie

Epiduralanästhesie

Vorteile

Sehr schnelle Durchführbarkeit (Notsectio)

Einfachere Technik (im Vergleich zur EDA)

Geringere Inzidenz von Hypotensionen

Bewusstseinsverlust der Mutter (?)

Schnelle Wirksamkeit

Titrierbar

Selten unzureichende ­(einseitige) Wirkung

Postoperative Analgesie

Geringe Medikamentendosis Nachteile

Hypoxie Aspiration Medikamentenwirkung auf das Neugeborene Bewusstseinsverlust der Mutter Fehlende Option zum frühen Bonding

EDA Epiduralanästhesie.

Hypotension

Höhere LokalanästhetikaDosierung Verzögerter Wirkeintritt Häufiger unzureichende (einseitige) Wirkung

371 24.1 · Falldarstellung

anästhesieassoziierten Todesfälle bei, obwohl in die Allgemeinanästhesie heute nur noch in weniger als 10% der Narkosen in der Geburtshilfe ausmachen. Weiterhin problematisch ist der transplazentare Transfer der eingesetzten Anästhetika, mit Ausnahme der Muskelrelaxanzien, die zu einer Beeinträchtigung des Neugeborenen führen können. Aufgrund der modifizierten Narkoseführung unter Verzicht auf Opioide bis zur Abnabelung des Neugeborenen ist die Inzidenz von Wachheit in Narkose (Awareness) bei Kaiserschnitten im Vergleich zu anderen Operationen deutlich erhöht. Eine vorausgegangene Awareness führt nicht selten zu einem posttraumatischen Belastungssyndrom, insbesondere mit einer ausgeprägten Angst vor Wiederholungsfällen. > Vorteil der Allgemeinanästhesie ist die auch im Notfall sehr schnelle Durchführbarkeit. Daher gilt die Vollnarkose als Standardverfahren für Notsectiones, bei denen eine unmittelbare Gefährdung für die Mutter und/oder das Kind besteht, unter der sich die Risiken v. a. der Atemwegssicherung unterordnen müssen.

Spinal- und Epiduralanästhesie Diese rückenmarknahen Anästhesieverfahren haben sich aufgrund der geringen Inzidenz von schwerwiegenden Komplikationen für die Mutter und das Kind als Standard in der anästhesiologischen Versorgung von Patientinnen zur Sectio etabliert. Ein Vorteil dieser Verfahren ist die fehlende Notwendigkeit der Sicherung des Atemwegs und die damit verbundene Vermeidung der o. g. Komplikationen und die geringen bis fehlenden Medikamentenwirkungen auf das ungeborene Leben. Dazu kommt die psychologische Komponente, dass die Mutter die Geburt ihres Kindes auch bei einem Kaiserschnitt aktiv erleben kann und ein frühzeitiges Bonding möglich ist. ! Cave Nachteilig bei allem rückenmarknahen Verfahren ist die Sympathikolyse, die v. a. bei einer Spinalanästhesie rasch einsetzt und in Kombination mit dem Cava-Kompressionssyndrom gehäuft zu einer hypotonen Kreislaufdysregulation führt.

24

Aufgrund fehlender Autoregulation steht die uteroplazentare Perfusion in direkter Abhängigkeit vom maternalen Blutdruck. Gleichzeitig ist die fetale Sauerstoffversorgung direkt proportional zum plazentaren Blutfluss. Somit führt ein Blutdruckabfall der Mutter zu einer fetalen Sauerstoffminderversorgung. Nach heutigem Verständnis ist der Blutdruckabfall nach Spinalanästhesie im Wesentlichen durch einen Abfall des peripheren arteriellen Widerstands bedingt, der durch eine Zunahme des Herzzeitvolumens (teil-)kompensiert wird. Daher sind rückenmarknahe Regionalanästhesien bei kardialen Erkrankungen, die mit fehlender Möglichkeit zur Steigerung des Herzzeitvolumens verbunden sind (z. B. Aortenklappenstenose), kontraindiziert. Zur Behandlung der mütterlichen Hypotension nach Spinalanästhesie werden international daher auch bevorzugt α-Rezeptor-Agonisten wie Phenylephrin empfohlen. Im deutschen Sprachraum hat sich der Einsatz von Cafedrin/Theoadrenalin (Akrinor) bewährt. Weitere Kontraindikation für rückenmarknahe Anästhesieverfahren sind Gerinnungsstörungen, die mit der Gefahr eines epiduralen Hämatoms und einer bleibenden neurologischen Schädigung bis zur Querschnittslähmung verbunden sind. Als Hinweis auf die Überlegenheit einer Spinaloder Epiduralanästhesie gegenüber einer Allgemeinanästhesie kann die Tatsache gewertet werden, dass das Royal College of Anaesthetists eine Rate von über 95% in Regionalanästhesie durchgeführten geplanten Kaiserschnitten als Qualitätskriterium beschreibt. 24.1.4 Allgemeinanästhesie bei

Achondroplasie?

Es wird kontrovers diskutiert, ob Patienten mit einem Achondroplasie-Syndrom gehäuft einen schwierigen Atemweg aufweisen. Grundsätzlich ist aber aufgrund der Gesichtsform mit einer Sattelnase, Mittelgesichtshypoplasie und einem prominenten Unterkiefer mit erschwerten Intubationsbedingungen zu rechnen, die in der Schwangerschaft noch unübersichtlicher werden können. Gleichzeitig bestehen häufig restriktive Lungenveränderungen, die durch den hoch stehenden Uterus (7 Abschn. 24.1.2) weiter aggraviert werden.

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Kapitel 24 · Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin

> Somit besteht bei Patientinnen mit Achondroplasie-Syndrom im Rahmen einer Allgemeinanästhesie zur Sectio caesarea ein deutlich erhöhtes Hypoxie-Risiko, mit einem erheblichen Schädigungsrisiko für die Mutter und den Feten.

24

Der Stellenwert der Video-Laryngoskopie im Management des schwierigen Atemwegs ist unbestritten, allerdings ist die Bedeutung dieses Verfahrens in der besonderen Situation des Kaiserschnitts in Allgemeinanästhesie bisher nie evaluiert worden. …so geht es weiter … Für Britta ist die Empfehlung, den Kaiserschnitt in Vollnarkose durchführen zu lassen, nicht akzeptabel. Bereits bei dem Gedanken daran, wieder alles zu spüren, bekommt sie Herzrasen und Schweißausbrüche. Sie fragt ihre Frauenärztin, ob es nicht eine andere Möglichkeit gäbe. Ihre Frauenärztin kann ihr leider keine Antwort geben, sie sagt ihr aber, dass sie sich natürlich auch noch einmal in einem größeren Krankenhaus vorstellen könnte, vielleicht hätte man dort ja eine andere Lösung. Also meldet sich Britta in der großen Klinik, die fast eine Stunde entfernt ist, an. Auch hier berichtet sie von ihrem Achondroplasie-Syndrom und stellt die Frage, ob eine Teilbetäubung im Fall eines Kaiserschnitts möglich ist. Inzwischen ist sie in der 36. SSW. Dr. Carolin Clausen ist bereits eine erfahrene Geburtshelferin und arbeitet für ihre Weiterbildung zur speziellen Geburtshilfe und Perinatalmedizin noch einmal in der Schwangerenambulanz. Als sie von der Anmeldung der kleinwüchsigen Patientin hört, freut sie sich auf diesen spannenden Fall. In der Untersuchung der Patientin bestätigt sich das typische Bild mit einer ausgeprägten Hyperlordose mit entsprechend verkipptem Becken und hochstehendem Uterus, sodass sie als Entbindungsmodus nur eine Sectio empfehlen kann. Für die Patientin scheint diese Information keine Überraschung zu sein, allerdings macht sie sich große Sorgen wegen der Narkose. Daraufhin ruft Carolin den geburtshilflichen Anästhesiedienst an und informiert die Kollegin schon einmal über diesen besonderen Fall. Dr. Sophie Jessen ist Fachärztin für Anästhesie und seit einiger Zeit für die Geburtshilfe eingeteilt. Heute ruft ihre Kollegin Carolin aus der Schwangerenambulanz an, um mitzuteilen, dass sich eine

Patientin mit Achondroplasie-Syndrom zur Einholung einer Zweitmeinung vorstellen wird, und bittet sie, noch heute eine Prämedikation zu ermöglichen. Aufgrund der anatomischen Verhältnisse bei der Patientin sei eine Re-Secto notwendig. Noch steht Sophie für mindestens eine Stunde im OP, sodass sie um ein wenig Geduld bittet; sie nutzt die Zeit danach noch, um sich ein wenig zu einzulesen, denn – ehrlich gesagt – sagt ihr Achondroplasie herzlich wenig.

24.1.5 Empfehlungen zur Anästhesie

bei Achondroplasie

Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) hat ein Projekt ins Leben gerufen, um die anästhesiologische Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen zu verbessern. Experten haben Handlungsempfehlungen für inzwischen nahezu 90 seltene Erkrankungen erarbeitet, die, nachdem sie einem Peer-review-Prozess unterzogen wurden, unter http://www.orphananaesthesia. eu frei zugänglich sind. Für das Achondroplasie-Syndrom liegt eine solche Zusammenfassung vor und bietet sich als Grundlage für die Planung einer anästhesiologischen Versorgung an. Auch in dieser Zusammenfassung der anästhesiologischen relevanten Aspekte des Achondroplasie-Syndroms wird auf das Dilemma zwischen schwierigem Atemweg und schwieriger Regionalanästhesie hingewiesen. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch, dass neben der typischen Hyperlordose gehäuft spinale Engpass-Syndrome vorliegen, die die Ausbreitung einer rückenmarknahen Regionalanästhesie schwer vorhersehbar machen (7 Übersicht: Mögliche anästhesieassoziierte Probleme bei Achondroplasie-Syndrom). Insgesamt liegen zwar mehrere Fallberichte von erfolgreich durchgeführten rückenmarknahen Anästhesieverfahren zur Sectio bei Achondroplasie-Patientinnen vor, v. a. in älteren Übersichtsarbeiten wird aber eine Allgemeinanästhesie auch zur Durchführung eines Kaiserschnitts favorisiert. Somit existieren keine klaren Handlungsempfehlungen für die Durchführung einer Anästhesie zur Sectio bei Achondroplasie-Syndrom; die Entscheidung sollte nach einer individuellen Nutzen-Risiko-Analyse erfolgen.

373 24.1 · Falldarstellung

24

Mögliche anästhesieassoziierte Probleme bei Achondroplasie-Syndrom (mod. nach Oppitz u. Speulda 2011) 55Schwieriges Atemwegsmanagement (einschließlich kleinerer Tubusgröße) 55Hypersalivation 55Gehäufte Atemwegsinfekte 55Gefahr der zervikomedullären Kompression bzw. Rückenmarkischämie 55Schwierige rückenmarknahe Regionalanästhesie mit z. T. unvorhersehbar hoher Ausbreitung 55Erhöhte Adipositasrate 55Neigung zu Schlafapnoe-Syndrom (obstruktiv und/oder zentral) 55Erhöhtes kardiovaskuläres Risiko 55Hohe Gefahr eines intraoperativen Lagerungsschadens

… so geht es weiter … Im Aufklärungsgespräch für die Narkose fragt Dr. Sophie Jessen gezielt nach kardiopulmonalen Einschränkungen und auch nach Symptomen einer Spinalkanalstenose. Daraufhin berichtet die Patientin, sie hätte in den letzten Wochen eine zunehmende Einschränkung ihres Bewegungsradius, allerdings vorwiegend aufgrund von Schmerzen in den Hüften. Rückenschmerzen habe sie schon immer, deshalb sei sie vor 2 Jahren auch beim Orthopäden gewesen, der sie einmal in »die Röhre« geschickt hatte; dort sei aber »alles OK« gewesen. Die Bilder habe sie damals auf CD mitbekommen. Sonst sei alles in Ordnung, seit einigen Wochen sei sie zwar etwas kurzatmig, aber das kenne sie aus der ersten Schwangerschaft. Wegen des ausdrücklichen Wunsches der Patientin nach einer Teilbetäubung telefoniert Sophie noch mit ihrem Oberarzt, und zusammen mit den Geburtshelfern einigen sie sich auf folgendes Vorgehen: Die Patientin schickt die CD mit den Bildern schnellstmöglich in die Klinik, und erst danach wird die Entscheidung getroffen, ob eine rückenmarknahe Anästhesie durchführbar ist. Um Verzögerungen zu vermeiden, wird die Patientin sowohl über die Risiken einer Spinal-/Epiduralanästhesie als auch einer Allgemeinanästhesie aufgeklärt. Nachdem die Bilder eingetroffen sind, wird eine definitive

. Abb. 24.1  MRT der Lendenwirbelsäule der Achondroplasie-Patientin (Sagittal, T2), 2 Jahre vor der Schwangerschaft

Planung erstellt und die Patientin über das geplante Vorgehen telefonisch informiert. Einige Tage später trifft die CD mit MRT-Aufnahmen der LWS ein (. Abb. 24.1). Erkennbar ist ein Normbefund des Spinalkanals ohne Hinweise auf ein Kompressionssyndrom. Allerdings besteht eine ausgeprägte Hyperlordose mit einem Fettgewebspolster über der gesamten LWS. Somit gibt es keine Kontraindikationen für eine rückenmarknahe Regionalanästhesie, insbesondere ist auch keine unkontrollierte Ausbreitung zu erwarten. Aufgrund der Hyperlordose und des Weichteilpolsters, die nach der klinischen Untersuchung in der Schwangerschaft noch erheblich zugenommen haben, ist jedoch mit einer deutlich erschwerten Anlage zu rechnen. Aufgrund der schwierigen Punktionsverhältnisse erscheint eine Spinalanästhesie als einfachste Möglichkeit, eine Regionalanästhesie zu realisieren (. Tab. 24.1). Da die übliche Landmarkentechnik aufgrund des Weichteilpolsters nur mit Schwierigkeiten durchzuführen sein würde, entscheiden sich die Anästhesisten, eine sonographische Identifikation des

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Kapitel 24 · Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin

Punktionsorts zu planen, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Mit den Geburtshelfern wird allerdings noch einmal das insgesamt erhöhte Narkoserisiko der Patientin thematisiert. Aus Anästhesiesicht sollte auf jeden Fall ein ungeplantes Vorgehen vermieden werden, insbesondere da ein erhöhtes Risiko für eine nichterfolgreiche Spinalanästhesie besteht und besondere Vorkehrungen für den schwierigen Atemweg getroffen werden müssen. Daher wird ein Entbindungstermin in der 39. SSW vereinbart.

der Notfall 2 Tage später setzen – zunächst unregelmäßig – Wehen ein, und Britta entschließt sich, in die größere Klinik zu fahren, auch wenn die Fahrzeit ihr etwas Angst macht. Deshalb gibt sie aus dem Auto schon in der Klinik Bescheid, dass sie auf dem Weg ist. Auf halber Strecke zur Klinik platzt dann auch die Fruchtblase, und die Wehen werden regelmäßiger. Als sie um 18:00 Uhr in der Klinik ankommt, hat sie alle 3–5 min kräftige Wehen. Im Kreißsaal nimmt sie zunächst eine Hebamme in Empfang. Ihre Akte liegt schon vor, der Anruf hat aus dem Auto hat sich also gelohnt. Nach einer kurzen Untersuchung durch die Scheide legt die Hebamme ein CTG an, dann ruft sie allerdings sofort den Arzt. Irgendetwas scheint hier nicht gut zu sein. Britta bekommt Angst. Dr. Rolf Jung, seit Kurzem Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, hat heute Dienst im Kreißsaal, sein Hintergrunddienst ist vor einer halben Stunde nach Hause gegangen. Jetzt wird er von der Hebamme informiert, dass gerade eine Patientin mit regelmäßigen Wehen bei leicht eröffnetem Muttermund und auffälligem CTG aufgenommen worden sei. Die Akte sei schon herausgesucht worden, eigentlich sei aufgrund eines mütterlichen Kleinwuchses eine primäre Re-Sectio in 10 Tagen geplant gewesen. In der Geburtsplanung sei auch vermerkt, dass ein erhöhtes Narkoserisiko besteht. Auf der zentralen Überwachung erkennt Rolf variable Dezlerationen bei einer zu hohen Grundfrequenz von etwa 180/min und einer regelmäßigen Wehentätigkeit. Angesichts des pathologischen CTG besteht für ihn keine Frage, dass jetzt die Indikation zu einer sofortigen Sectio besteht. Während er die Patientin informiert, soll die Hebamme schon

einmal das OP-Team und die Anästhesie zur Notsectio rufen. Als er die Patientin über seine Entscheidung aufklärt und andeutet, dass für eine Teilbetäubung möglicherweise keine Zeit mehr sei, gerät sie in Panik und sagt, sie würde auf keinen Fall wieder eine Vollnarkose akzeptieren. Die Patientin ist kaum noch zugänglich und widersetzt sich dem Transport in dem OP. Ihr Ehemann berichtet von ihren Schmerzen und der Wachheit während des letzten Kaiserschnitts. Rolf fängt die Anästhesistin Sophie auf dem Weg in den OP gerade noch ab und schildert die Situation. Aus seiner Sicht besteht die dringliche Indikation zur Sectio, für Verzögerungen sei das CTG zu schlecht. Eine schnelle Spinalanästhesie kann Sophie aber nicht versprechen, sie sie hatte ja schon während der Prämedikation ausdrücklich auf die Schwierigkeiten einer Spinalanästhesie, aber auch einer Vollnarkose hingewiesen. Außerdem würde die Patientin jetzt auch noch eine Vollnarkose ablehnen, sodass die Alternative wäre, die Patientin gegen ihren Widerstand in den OP zu bringen und dort die Narkose einzuleiten.

24.1.6 Akut-Tokolyse

Angesichts des CTG mit zumindest zwei pathologischen Parametern und dem dringenden V. a. kephalopelvines Missverhältnis ist die dringliche Sectio indiziert. Als Akutmaßnahme kann aber eine Tokolyse unter kontinuierlicher CTG-Kontrolle zu einer Verbesserung der fetalen Sauerstoffversorgung beitragen. ! Cave Als Kontraindikation besteht allerdings in diesem Fall die fetale Tachykardie, die durch die Gabe eine Tokolytikums aggraviert werden kann.

das Ende des Falls In dem Dilemma zwischen der Gefährdung des Kindes und der Gefährdung der Mutter entscheidet Rolf zusammen mit der Anästhesistin Sophie, dass der Versuch einer Tokolyse angezeigt ist, und er informiert auch den Neonatologen über die Gefahr der fetalen Nebenwirkungen. Gleichzeitig lässt

375 24.1 · Falldarstellung

Sophie das notwendige Equipment für das Management eines schwierigen Atemwegs vorbereiten. Als der Patientin eine Teilbetäubung in Aussicht gestellt wird, lässt sie sich in den OP bringen. Unter der Tokolyse lassen sich die Wehentätigkeit und die Dezelarationen weitgehend unterdrücken, allerdings steigt die fetale Herzfrequenz auf knapp 190/min. Mit dem Ultraschallgerät gelingt es, einen geeigneten Punktionsort für die Spinalanästhesie zu identifizieren (. Abb. 24.2). Die Punktion danach ist unproblematisch, und 20  min nach Einschleusen der Patientin in den Operationssaal erfolgt die Freigabe zur Operation. Die operative Entbindung gestaltet sich wegen der Narbenbildung bei Z. n. Sectio leicht erschwert, 6 min nach Hautschnitt kann das männliche Neugeborene dem Neonatolgen zur Erstversorgung übergeben werden. Nach einer leichten respiratorischen Anpassungsstörung, die eine kurzfristige C-PAP-Beatmung erfordert, stabilisiert er

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sich rasch, und 15 min nach der Geburt liegt der kleine Karl auf der Brust der Mutter zum Bonding. Der Apgar-Wert wird mit 7/8/9 festgelegt, der Nabelschnur-pH zeigt mit 7,18 eine leichte Azidose. Die initial bestehende erhöhte Herzfrequenz des Kindes normalisiert sich innerhalb der ersten 2 Stunden. Am Tag nach der Entbindung entschuldigt sich Britta P. beim geburtshilflichen Team für ihre »hysterische« Reaktion, v. a. aber dafür, dass sie im Prämedikationsgespräch nicht auf ihre ausgeprägte Angst vor einer Vollnarkose hinwiesen hatte. Natürlich habe sie ihr Baby nicht gefährden wollen, aber auch rückblickend sei eine Vollnarkose für sie nicht akzeptabel. Als sie über das bekanntermaßen erhöhte Awareness-Risiko im Rahmen einer Vollnarkose für einen Kaiserschnitt erfährt, kann sie eine psychologische Betreuung für sich annehmen, in deren Verlauf später auch die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung gestellt wird.

. Abb. 24.2  Sonographie der unteren Lendenwirbelsäule (Sektorschallkopf, 2–5 MHz). Zur besseren Darstellung sind die erkennbaren knöchernen Strukturen (Proc. spinosi L2–5 Kreuzbeinoberfläche) hervorgehoben

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Kapitel 24 · Besonderheiten der geburtshilflichen Anästhesie bei einer Risikopatientin

24.2 Fallnachbetrachtung

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Bereits zur Planung geburtshilflicher Anästhesieverfahren ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit v. a. bei Risikopatienten notwendig. Hierzu ist gerade bei seltenen Erkrankungen eine Vorabinformation aller an der Behandlung beteiligten Fachdisziplinen erforderlich, da das Wissen um eine optimale Behandlung in diesen Fällen nicht immer vorausgesetzt werden kann. Im Notfall ist eine Abwägung zwischen kindlichen und mütterlichen Risiken notwendig. Gerade in der Situation bei einem erhöhten Narkoserisiko für die Mutter muss ggf. eine Verzögerung durch die Narkoseeinleitung trotz bestehender Indikation für eine rasche Entbindung akzeptiert werden, um das Anästhesierisiko der Mutter in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Dabei ist kann auch eine Gefährdung des Feten nicht immer ausgeschlossen werden. Ob in dem beschrieben Fall unabhängig vom erhöhten Narkoserisiko die Durchführung einer Allgemeinanästhesie bei der plötzlichen Ablehnung durch die Patientin auch aus medikolegaler Sicht vertretbar gewesen wäre, ist zu diskutieren. Einerseits liegt eine unterschriebene Aufklärung auch für eine Allgemeinanästhesie vor, und die Entscheidungsfähigkeit der Patientin unter Wehen ist eingeschränkt, sodass in Frage steht, ob sie die Tragweite ihrer aktuellen Entscheidung mit der damit möglicherweise bestehenden Gefährdung des Kindes erkennen kann. Andererseits ist die Entscheidung entsprechend den Äußerungen des Ehemanns nachvollziehbar. > Maßgeblich bei der nichteinwilligungsfähigen Patientin ist ihr mutmaßlicher Wille bezogen auf das Wohlergehen von Mutter und Kind.

Die Feststellung des mutmaßlichen Willens obliegt den behandelnden Ärzten. Hierzu sind anamnestische Daten aus persönlichen Kontakten und der Dokumentation wie auch fremdanamnestische oder anderweitige Informationen zum Verhalten der Patientin maßgeblich, um abzuleiten, wie sie sich in einer potenziellen Bedrohungssituation für sich oder ihr Kind verhalten würde. Dabei darf/ muss der Arzt den Maßstab einer sich risikoadaptiert vernünftig verhaltenden Patientin voraussetzen.

Weiterhin ist gerade in der geburtshilflichen Situation die Einleitung einer Allgemeinanästhesie entgegen der ausdrücklichen Willensäußerung der Patientin ohne eine deutliche Gefährdung des Kindes kaum möglich.

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Serviceteil Stichwortverzeichnis – 378

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 W. Rath, A. Strauss (Hrsg.), Komplikationen in der Geburtshilfe, https://doi.org/10.1007/978-3-662-53873-9

378

Stichwortverzeichnis

A ABCDE-Schema  291 abdominal rescue  173 Abort  196, 202 Abwehrspannung  231 Achondroplasie-Syndrom  368 –– Allgemeinanästhesie  371 –– anästhesieassoziierte Probleme  372 –– MRT Lendenwirbelsäule  373 –– peripartales Management  369 Aciclovir  318, 320, 326–327 Adipositas  43, 119, 130, 214, 238, 256, 333 Adnexe, zystischer Befund  200 Adnexektomie  105 AIDS-Vollbild  20 akutes Abdomen  81, 201, 225 –– Anamnese  229 –– bildgebende Verfahren  233 –– Erstversorgung  228 –– körperliche Untersuchung  230 –– Merkmale  232 Allgemeinanästhesie  234, 370 –– bei Achondroplasie  371 Amnioninfektionssyndrom, Komplikationen  308 Amniotic-Fluid-Index  353 Amniozentese  308 Analgesie –– Indikationen in der Schwangerschaft  229 –– WHO-Stufenschema  229 Anämie  47, 119, 243, 265, 286 Anästhesie zur Sectio  367, 370 Aneuploidie  349 Angsterkrankung, postpartale  178 Anhydramnion  147, 353 Anti-D-Prophylaxe  205 Antibiotika –– Endomyometritis  96 –– in Schwangerschaft und Stillzeit  235 –– intraamniale Infektion  306 –– Mastitis  97 –– Puerperalsepsis  99, 102 –– Pyelonephritis  97 –– vorzeitige Wehentätigkeit  116 Antidepressiva und Stillen  285 Antipsychotika und Stillen  285 antiretrovirale Therapie  21, 23 –– in der Schwangerschaft  35 –– Medikamente  36

–– Resistenz  33 –– unerwünschte Wirkungen  37 –– unter der Geburt  37 Apgar-Score  156, 166 Appendizitis  227 –– Differenzialdiagnosen  228 –– Druckpunkte  231 –– Einteilung  227 Arabin-Pessar  115, 123, 306, 353 ARDS (acute respiratory distress syndrome)  71, 308 Arteria cerebri media, Dopplersonographie  356 Arteria umbilicalis –– Blutfluss  11 –– Dopplersonographie  355 –– Flussprofile  354 Arteria uterina, Dopplersonographie  355 Arztvorbehalt  150 Asthma bronchiale  265 Asynklitismus  341 Atonieprophylaxe  364 Aufklärung, Prinzipien  3 Austreibungsperiode  334 –– kontinuierliche CTGRegistrierung  148 –– pathologisches CTG  138, 152, 155, 168 –– protrahierte  43, 335 –– Stillstand  337 Awareness (Wachheit in Narkose)  371 Azidämie, fetale  152, 157 Azidose  157 –– Einteilung  255

B Baby Blues  277–278 Baby-Blues  177 Ballonkatheter, transzervikaler  186, 188–189 Beckenendlage, Zwillinge  362 Behandlungsfehler, Definition  160 Beinödem  265 Beinvenenthrombose, tiefe  265–266 Betamethason  114, 305 Biometrie, fetale  3, 6, 9 –– Wachstumskurven  354 bipolare Störung  277 Bishop-Score  183 Blasensprung, vorzeitiger  81, 119, 296, 304

Blumberg-Zeichen  231 Blutgasanalyse  255 Blutung während der Spätschwangerschaft  77 –– Ursachen  82, 85 Blutung, postpartale  68, 308 –– Risikofaktoren  65 Blutverlust –– Beurteilung  45 –– Folgen  47 –– Hämoglobinwert  48 Bradykardie, fetale  138–139, 153, 159, 189 brain-sparing effect  11, 147 Bromocriptin  269, 285

C Cabergolin  286 Candida-Mykose und HIV  20 Cavum-Tamponade  53 CD4-Lymphozyten  33 Cerclage  115, 121, 307, 312 Chorioamnionitis  303, 311, 338 Chorionizität  348 –– und Geburtszeitpunkt  359 –– und perinatale Mortalität  348 –– und Totgeburtenrate  361 Chorionvaskulitis  312 CTG Siehe Kardiotokographie

D D-Dimere  268 Dekompensation, kardiale  265 Depression, postpartale  177, 276 –– Diagnostik  286 –– Differenzialdiagnosen  277 –– Symptome  276 –– und Stillen  285 Diabetes mellitus Typ 1  256 –– Pathophysiologie  256 Diabetes mellitus Typ I  252 –– Differenzialdiagnosen  253 Diazepam  219 Dihydralazin  241 disseminierte intravasale Gerinnung  71, 218, 308 –– klinische Hinweise  71 Dopplersonographie  6 –– pathologische Flussmuster  11 Douglas-Raum, freie Flüssigkeit  200

379 Stichwortverzeichnis

Ductus venosus –– Blutfluss  11–12 –– Dopplersonographie  355 Dysplasie, vulvär/vaginal/perianal  20, 34

–– –– –– –– ––

Checkliste für die Praxis  208 Prädilektionsstellen  203 Risikofaktoren  203 therapeutisches Vorgehen  204 Wiederholungsrisiko  206

E

F

Efavirenz  37 Eileiterschwangerschaft –– Langzeitfolgen  206 –– Lokalisation  201, 203 –– Sonographie  198 Eileiterschwangerschaft Siehe auch Extrauteringravidität Einstellungsanomalie, peripartale  335, 337, 341 –– Diagnostik und geburtshilfliches Vorgehen  340 –– Schulterdystokie  168 Ejektionsfraktion, linksventrikuläre  269 Eklampsie  68, 246 –– atypische Verlaufsformen  215 –– Differenzialdiagnosen  216 –– Komplikationen  218 –– Manifestation  214 –– postpartale Überwachung  222 –– Prodromalsymptome  69, 215 –– Risikofaktoren  214 eklamptischer Anfall  214 –– antikonvulsive Behandlung  219, 242 –– Phasen  217 –– Therapie  218 ektope Schwangerschaft Siehe Extrauteringravidität Endomyometritis  95 –– Erreger  96 Endotoxinschock  105 –– klinisches Bild  106 Enteritis  228 EPDS (Edinburgh Postnatal Depression Scale)  279 Epiduralanästhesie  370 –– Kontraindikationen  371 Epilepsie  214 Episiotomie  43 Erb-Lähmung  170, 174 Eröffnungsperiode  334 –– pathologisches CTG  138 –– protrahierte  334 –– Stillstand  337 Ersteinschätzung  80 Erythrozyten, fragmentierte  244 Erythrozytenkonzentrat  56, 73 Extrauteringravidität  196, 199, 228

Famciclovir  318 fetal distress  8 Fetalblutanalyse  149 –– Bewertung  153 fetofetales Transfusionssyndrom  350 –– Diagnose  351 –– Merkmale  350 Fibrinogen  49 Fibrinogenkonzentrat  56, 73 Fibronektin, fetales  358 Fibronektintest  115 FIGO-Klassifikation 151 Frischplasma, gefrorenes  56, 73 Fruchtwasserbeurteilung  353 Fruchtwasserembolie –– assoziierte Risikofaktoren  66 –– Diagnosekriterien  68 –– Differenzialdiagnosen  68 –– interdisziplinäres Vorgehen  76 –– Risikofaktoren  68 –– Symptomatik  67 –– Verblutungstod  72 Fruchtwassermenge  6, 351 Frühgeburt  113, 218 –– Aufklärung  122, 304 –– biochemische Tests  115 –– Einschätzung kindlicher Outcome  305 –– kindliche Folgeerkrankungen  119, 122 –– Prophylaxe  119, 312 –– Risiko  28, 358 –– Risikoberechnung  113, 116 –– Risikofaktoren  118 –– Spätabnabelung  126 –– Tokolyse  305 –– und Fibronektintest  115 –– und Zervixlänge  114 –– Zeitpunkt  120 Frühgeburtlichkeit  36, 350 Funisitis  311

G Gaskin-Manöver  172–173 Gastroenteritis  253 Geburt, Notfallsituationen  79, 290 Geburt, protrahierte  334

A– H

–– geburtshilfliches Vorgehen  335 –– Ursachen  335 Geburtseinleitung nach vorangegangener Sectio  182 –– Erfolgsaussichten  130, 183 –– Leitlinien-Empfehlungen  187 –– Methoden  186 –– Uterusrupturrisiko  184 Geburtseinleitung, Indikationen  166 Geburtsstillstand  136, 331 –– Diagnose  337 –– Formen  337 –– geburtshilfliches Vorgehen  338 –– Risikofaktoren  337 Geburtsverlauf, protrahierter  136, 148 Geburtsvorgang, Einteilung  334 Geradstand, hoher  84, 341 Gerinnungsstörungen, Erstmaßnahmen  73 Gesichtslage  339 Gestationsalter  5 –– Berechnung  4 Gestationsdiabetes  148, 165, 169, 256, 353 Gewichtsgrenzwerte, maternale  179 Glasgow Coma Scale  290 Gravidarium  5

H Halluzinationen, akustische  283 Haltungsanomalie, peripartale  335, 340 Handlungsalgorithmen im Kreißsaal  46, 58, 60, 142, 241, 249 Haptoglobin  243 hCG (humanes Choriongonadotropin)  196 –– Nachweis  197 –– Verlaufskontrolle  205 Heilversuch, individueller  127, 312 Hellin-Regel  347 HELLP-Syndrom  148, 218, 222 –– Handlungsalgorithmus  242 –– maternale Indikationen zur Entbindung  245 –– Nachuntersuchungen und Langzeitauswirkungen  248 –– Oberbauchschmerzen  239 –– Wiederholungsrisiko  247 Herpes genitalis  316 –– Diagnose  322 –– Differenzialdiagnosen  321 –– Handlungsalgorithmus  323 –– präventive Maßnahmen  320 –– Symptome  317

380 Stichwortverzeichnis

–– Therapie  319 –– und HIV  20 Herpes neonatorum  319 –– medikamentöse Prophylaxe  327 –– Sectio caesarea  328 –– Symptome  327 Herpes Zoster  322 Herpes-Enzephalitis  317 Herz-Kreislauf-Stillstand  63, 218 Herzfrequenz, fetale  147, 149, 166, 168 –– Einflussfaktoren  151 –– kardiotokographische Beurteilung  150 Hinterhauptslage  341 Hirnödem  260 HIV (humanes Immundefizienzvirus) –– Transmissionsprophylaxe  36 –– Typen  21 HIV-Infektion  19 –– beim Neugeborenen  38 –– Diskordanz  24–25 –– Häufigkeit  19 –– maternofetale  22, 36 –– Überträgernachweis  22 –– Übertragung  21–22 –– und Genitalkarzinom  34 –– und Stillen  39 –– Verlauf  20, 33 –– zusätzliche Untersuchungen bei Schwangeren  32 HIV-Test –– Bestätigungstest  30 –– Bestimmungen  22 –– Genauigkeit  30 –– in der Schwangerschaft  24, 26 –– Suchtest  29 HPV (humanes Papillomvirus)  20 HSV (Herpes-simplex-Virus) –– Durchseuchung  316 –– fetale Erkrankungen durch  319 –– intrauterine Übertragung  318 –– peripartale Infektion  319, 323 –– Primärinfektion  317, 324 –– Rezidiverkrankung  318, 325 –– Serologie  322 –– Typen  316 humanes Choriongonadotropin Siehe hCG humanes Immundefizienzvirus Siehe HIV humanes Papillomvirus Siehe HPV Hyperemesis gravidarum, atypische  253 –– Laborparameter  254 Hyperfibrinolyse  48, 71, 247 Hyperglykämie  256 –– Symptome  257 Hyperinsulinämie  258

Hyperkaliämie  256, 258, 260 Hyperkoagulabilität  234 Hypermagnesiämie  219, 222 Hyperosmolarität  256 hypertensiver Notfall  241 Hypertonie  148, 214, 239 –– Akutbehandlung  241 –– antihypertensive Therapie  220 Hypoglykämie  292 Hyponatriämie  256, 260 Hypophosphatämie  256, 258 Hypothermie und Blutgerinnung  291 Hysterektomie  73, 105 –– Indikation  140 –– peripartale  53

I Insertio velamentosa  354 Insulinersatz  259 Insulinresistenz, physiologische  256 Integraseinhibitor  36 intraamniale Infektion –– Antibiotika  306 –– Definition  303 –– Epidemiologie  304 –– Keimspektrum  310 –– Nachweis  309 –– Risikofaktoren  303 –– sonographische Befunde  302 –– Symptome  304 intrauterine growth restriction (IUGR)  5, 147, 238, 354 –– perinatale Interventionen  9 –– Phasen  14 –– pränatale Interventionsstrategien  8 –– Prognose  14 –– selektiv  354 –– Ursachen  7 intrauteriner Fruchttod  85, 119, 349 –– bei Ketoazidose  258 IUGR Siehe intrauterine growth restriction

J Jacquemier-Manöver  172

K Kaiserschnitt Siehe Sectio caesarea Kapillarlecksyndrom  232 Kardiomyopathie, peripartale  68–69, 265 –– Diagnostik  268 –– Prognose  271

–– Risikofaktoren  269 –– Symptome  269 –– Therapie nach Rekompensation  271 Kardiotokographie –– kontinuierliche  148 Kardiotokographie (CTG)  8, 168 –– antepartale Überwachung  147 –– Beurteilung fetaler Herzfrequenzmuster  150 –– intrapartale Überwachung  148 Kegelkugelhandgriff nach Liepmann  342 kephalopelvines Missverhältnis  84, 335, 337 –– absolut  342 –– Diagnostik und geburtshilfliches Vorgehen  342 –– relativ  342 Ketoazidose  253 –– fetale Komplikationen  258 –– Komplikationen  260 –– Laborparameter  254 –– Symptome  257 –– Therapie  259 –– Ursachen  257 Ketonämie  256 Kindslage, abnorme  84, 339 –– Diagnostik und geburtshilfliches Vorgehen  339 Kleidotomie  173 Kleinhirnhemisphärenbreite  5 Klumpke-Lähmung  170, 174 Kondom, Schutzwirkung  25 Kontrastmittel  294 Krampfanfall Siehe eklamptischer Anfall Kristeller-Handgriff  171

L Lambda-Zeichen  348 Lamivudin  37 Lanz-Punkt  231 Laparoskopie  234 Laserkoagulation, fetoskopische  351 lebensmüde Gedanken  281 Litzmann-Obliquität  341 Luftnot, Differenzialdiagnosen  264 Lungenembolie  69, 108, 265 –– Diagnostik  266 –– EKG  266 –– Häufigkeit der Symptome  266 Lungenödem  218, 220, 247, 359 Lungenreifeinduktion  116, 122, 124, 256, 305, 359 Lymphadenopathie  20

381 Stichwortverzeichnis

M Magnesium, neuroprotektiver Effekt  126, 305 Magnesiumintoxikation  220, 243 Magnesiumsulfat  219, 242 Makrosomie, fetale  43, 84, 165, 169, 335 Mastitis puerperalis  96 Mazzanti-Manöver  172 McBurney-Punkt  231 McRoberts-Manöver  171, 173 Mehrlingsschwangerschaft  118, 345 –– Folgeuntersuchungen  357 –– Häufigkeit  347 –– monochoriale  348, 350 –– Wachstumsverlauf  354 Mehrlingsschwangerschaft Siehe auch Zwillingsschwangerschaft Methotrexat  88, 205 Methylergometrin  50, 246 Misoprostol  51 Mississippi-Klassifikation  244 Mitralklappeninsuffizienz  264 Multiorganversagen  71 multiresistente Keime  118 mutmaßlicher Wille  376 Muttermundverschluss  307, 312 Mutterpass  2, 26 Myokardinfarkt  68–69 –– Diagnose  69

N N-terminales pro-B-natriuretisches Peptid  267 Nabelschnurabriss  44 Nabelschnurinsertionsstörung  354 Nabelschnurkompression  13 Nabelschnurumschlingung  13 Nackentransparenz  349 Naegele-Regel  5 Nägele-Obliquität  341 Narbenruptur  133, 139 Nervenrekonstruktion  176 Neuroprotektion  126, 305 NICHD-Algorithmus  305 nichtnukleosidischer ReverseTranskriptaseInhibitor  36 Nichtopioidanalgetika  229 Notfall-CT-Angiographie  267 Notfalltokolyse  154 –– Kontraindikationen  154 Notsectio –– Anästhesie  371 –– vorzeitige Plazentalösung  86

Notsectio Siehe auch Sectio caesarea Nukleosid-/Nukleotidanaloga  36

O Oberbauchschmerzen, Differenzialdiagnosen  240 Oligohydramnion  147, 351, 353 Opioidanalgetika  229 Östrogenmangel  286 Ovarialvenenthrombose  96, 98 –– Adnexektomie  105 –– CT  99 –– Hysterektomie  105 –– Komplikationen  108 –– Laparaskopie  100 –– Pathogenese  100 Oxytocin –– Geburtseinleitung nach Sectio  188 –– Prävention von postpartaler Blutung  43–44 –– und Uterusrupturrisiko  136, 188 –– Uterusatonie  50

P Palpitationen, Differenzialdiagnosen  264 Periduralanästhesie  137 Perikardtamponade  265 Peritonismus  231 Placenta accreta/increta/percreta  88 Placenta praevia  43, 53, 65, 82, 85, 88 –– Diagnose  88 Plazentainsuffizienz  9, 12, 147 Plazentalösung, vorzeitige  68, 81–82, 218, 245, 292, 294, 296 –– Auslöser  84 –– Gradeinteilung  85 –– Maßnahmen  86 –– prädisponierende Faktoren  87 –– Sectio caesarea  86–87 –– Symptome  85 Plazentarandsinusblutung  82 Plazentationsstörung  84 Plexus-brachialis-Parese  169–170 –– Formen  174 –– Prävention  175 –– Therapieoptionen  176 Pneumocystis carinii  20 Pneumonie  265 Pneumothorax  265 Polyhydramnion  84, 351, 353 Polysystolie  136 Polytrauma  292 postpartale Blutung  246

I– R

–– Blutverlust  45 –– Definition  45 –– Kardinalprobleme und Folgen  57 –– Risikofaktoren  42 posttraumatische Belastungsstörung  177, 277 Präeklampsie  65, 148 –– Akutbehandlung  241 –– Diagnostik  218, 241 –– Handlungsalgorithmus  242 –– Nachuntersuchungen und Langzeitauswirkungen  248 –– Risikofaktoren  239 –– Symptome  69, 214, 238 –– Wiederholungsrisiko  247 Pressperiode, protrahierte  335 Progesteron, vaginale Gabe  306, 312 Progesteronsupplementation  115, 121–122 Prostaglandine  43, 186, 188 Proteaseinhibitor  36 Proteinurie  65, 214, 238 provisional care  304 Pseudogestationssack  199 Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG)  284 Psychose, postpartale  178, 265, 277 Puerperalsepsis  91, 94 –– Antibiotika  99, 102 –– Definition  105 –– Differenzialdiagnosen  95, 99 –– Keime  105 –– Scoring-Systeme  102 –– Therapie  102 –– Ursachen  95 Pyelonephritis  97

Q Querlage, Zwillinge  362 Querstand, tiefer  341

R Re-Sectio  130 –– mütterliches Risiko  131 –– neonatale Morbidität  132 Re-Sectio Siehe auch Sectio caesarea Reanimation  74 Reanimation, intrauterine  154 Rhesusprophylaxe  347, 357 Rissblutung  50 Rotationsthrombelastometrie  48, 55, 73 Rovsing-Zeichen  231 Rubin-Manöver  172

382 Stichwortverzeichnis

S Salpingektomie  204 Schädellage, Zwillinge  361 Scheitel-Steiß-Länge  5, 348 Scheitelbeineinstellung  341 Schilddrüsenfunktionsstörung  286 Schock  68 –– Arten  232 –– Definition  232 –– Zeichen  293 Schock, hämorrhagischer  47, 200, 204 Schock, hypovolämischer  87, 140 Schock, peritonealer  202–203 Schock, septischer  94 –– Endotoxinschock  105 Schock-Index  47, 232 Schulterdystokie  165 –– Einteilung  168 –– forensische Aspekte  179 –– klinisches Vorgehen  172 –– Risikofaktoren  169 –– Wiederholungsrisiko  176 Schultergeradstand, hoher  168 –– Diagnostik  170 –– Komplikationen und Folgen  170 –– Maßnahmen  172 Schulterquerstand, tiefer  168 –– Maßnahmen  172 Schwangerschaft –– 1. Trimenon  5 –– Dauer  4 –– Feststellung  2, 26 –– Notfallsituationen  79, 290 Schwangerschaft, ektope Siehe Extrauteringravidität Schwangerschaftsabbruch  28, 119 Schwangerschaftstachykardie, physiologische  47 Sectio caesarea  66 –– abnorme Kindslage  339 –– Allgemeinanästhsie  370 –– Amnioninfektionssyndrom  308 –– Epiduralanästhesie  370 –– Fruchtwasserembolie-Risiko  67 –– Frühgeburt  124 –– Geburtseinleitung nach vorangegangener  130, 182, 184 –– HELLP-Syndrom  245 –– Herpes genitalis  320, 326 –– intraamniale Infektion  312 –– IUGR  12 –– kephalopelvines Missverhältnis  343 –– postpartales Blutungsrisiko  43 –– Präeklampsie/Eklampsie  221 –– Schulterdystokie  175 –– Spinalanästhesie  370

–– Trauma  296 –– und Endomyometritis  96 –– Wachheit in Narkose  371 –– Zwillinge  362 Sectio caesarea Siehe auch Notsectio Sectio caesarea Siehe auch Re-Sectio Sepsis  308, 327 –– Definition  94 –– Labor-Referenzwerte  97 –– Management-Algorithmus  107 –– Schweregrad  102 Sepsis im Wochenbett Siehe Puerperalsepsis Sepsis Siehe auch Puerperalsepsis Serokonversion  21, 30 SGA Siehe small for gestational age SIRS (systemic inflammatory response syndrome)  94, 309 Sludge  303, 358 small for gestational age (SGA)  5 somatoforme Störung  253 Spätabnabelung  44, 126 Spätabort  350 Spinalanästhesie  370 –– Kontraindikationen  371 standard operating procedures (SOP)  109 Stellungsanomalie, peripartale  339 Steroidprophylaxe, antenatale  9 Stillen –– und Konzeption  196 –– und vaginale Blutungen  195 –– unter Antidepressiva  285 –– unter Antipsychotika  285 Stirnlage  339 Strahlendosis, intrauterine –– fetale Schädigung  294 –– radiologische Diagnostik  293 Subinvolutio uteri  96 Suizid, erweiterter  283 Suizidalität  279 –– Stadien  282 Sulproston  51, 55, 72, 246 suprasymphysärer Druck  172–173 Sympathikolyse  371 Syphilis  322

T T-Zeichen  348 Tachykardie  265 Tenofovir  37 Terminfestlegung  2, 4 Thromboembolie  308 Thromboembolie-Prophylaxe, postpartal  61, 222, 247

Thrombophlebitis, septische  96 Thrombozytenkonzentrat  56, 73 Thrombozytopenie bei HELLPSyndrom  244 Tokolyse  124, 297, 305, 359, 374 –– Indikationen  114 –– wirksame Substanzen  125 Tokolyse Siehe auch Notfalltokolyse toxic shock syndrome Siehe Endotoxinschock Tranexamsäure  55, 73 Transvaginalsonographie  5 Trauma in graviditate  289 –– Diagnostik und Therapie  89 –– Folgen  81, 296 –– Häufigkeit  88 –– Risikofaktoren  291 –– Sectio caesarea  296 –– Ursachen  295 Triage  78 Trisomie 21 –– Risiko  349 Tubarruptur  202–203, 205 Turtle-Phänomen  169 Twin-Clinic  359

U Überwachung –– antepartal  146 –– intrapartal, Empfehlungen  149 Ulkuserkrankung  253 Ultraschalluntersuchung  3 –– Befunde  6 Unterbauchschmerzen  193 Uterinsegment, unteres –– Dicke  132, 189 Uterotonika  50, 96, 186 –– Therapieversagen  53 Uterusatonie  50, 68, 72, 308 –– Behandlung  50 Uteruskantenschmerz  96 Uterusruptur  68, 82, 85, 130, 296, 340 –– Einteilung  297 –– Leitsymptome  89 –– pathologisches CTG  137–138, 189 –– Risiko nach vorangegangener Sectio  186 –– Risikofaktoren  131, 184 –– Symptome  138, 297 –– Ursachen  84

V Vaginose, bakterielle  303 Valaciclovir  318, 326

383 Stichwortverzeichnis

vanishing twin  347 Vasa praevia  82 Verblutungstod, Tubarruptur  201 Verbrauchskoagulopathie  71, 87, 244, 247 Verlust-/ Verdünnungskoagulopathie  49, 247 –– Substitutionstherapie  55 Video-Laryngoskopie  372 Vigilanzstörung, Differenzialdiagnosen  292 Virchow-Trias  100 Viruslast  30, 33 Volumenmangelschock Siehe Schock, hypovolämischer Vorderhauptslage  339

W Wachstumsrestriktion, intrauterine Siehe intrauterine growth restriction (IUGR) Wehenschwäche  337, 339 –– Ursachen  339 Wehensturm  84, 169 Wehentätigkeit, vorzeitige  81, 111, 295, 304 –– Antibiotikagabe  116 –– Diagnose  114 –– Frühgeburt  113 –– Risikofaktoren  118 Wells-Score  266 Wochenbettdepression Siehe Depression, postpartale Wochenbettfieber –– Definition  93 –– Risikofaktoren  94 –– Ursachen  93 Woods-Manöver  172–173

Z Zangemeister-Handgriff  340 Zavanelli-Manöver  173 Zeichnungsblutung  82, 85 Zerreißungsschmerz  297 zervikale intraepitheliale Dysplasie (CIN)  20 Zervixkarzinom  20, 34 Zervixlänge –– Frühgeburtsrisiko  114 –– Messung  114 Zervixreife vor Geburtseinleitung  131, 183, 186 Zervixverkürzung  36, 351, 353, 358

Zidovudin  37 Zwangseinweisung  284 Zwangsgedanken  283 Zwillingsgeburt –– führender Zwilling  362 –– Geburtsmodus  361 –– zweiter Zwilling  363 Zwillingsschwangerschaft –– Geburtszeitpunkt  359 –– Häufigkeit  347 –– Plazentationsform  348 –– Risiko für Totgeburt  361 Zwillingsschwangerschaft Siehe auch Mehrlingsschwangerschaft Zwillingstransfusionssyndrom  357 Zytokinspiegel im Fruchtwasser  309

S– W