Kommentierungsverfahren und Kommentarformen: Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, 4.-7. März 1992, autor- und problembezogene Referate 9783110941630, 9783484295056

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German Pages 273 [276] Year 1993

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Kommentierungsverfahren und Kommentarformen: Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, 4.-7. März 1992, autor- und problembezogene Referate
 9783110941630, 9783484295056

Table of contents :
“Und das Wort hab’ ich vergessen”. Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine
Über die Erläuterungen zu Hofmannsthals Lyrik
Zum Kommentar der neuen historisch-kritischen Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Georg Trakls
Libretti: eine von den Editoren vergessene Gattung? Überlegungen zur kommentierenden Herausgabe von Operntextbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts
Kontinuität und Problembewußtsein / Die Erläuterungspraxis der Schiller-Nationalausgabe
Kommentierungsprobleme von Zensurmanuskripten am Beispiel von Johann Nestroys “Der Talisman”
Kommentar, Interpretation und ästhetische Analyse. Zur Bedeutung der Kommentierung für das Verständnis der Dramen Frank Wedekinds am Beispiel “Der Kammersänger”
“Verstehen Sie Anspielungen?” Probleme einer Kommentierung der Werke Ernst Barlachs
Zur Edition und Kommentierung frühneuzeitlicher Reiseberichte unter dem Gesichtspunkt der Fremdheitserfahrung und -vermittlung. Ein Werkstattbericht
Beziehungen zwischen Textentwicklung und Kommentierung bei den französischsprachigen Werken Heinrich Heines
Geschichtsquellen und politische Zeitbezüge als Kommentierungsprobleme historischer Dichtung – dargestellt an Adalbert Stifters “Witiko”
Dichter-Kommentar. Am Beispiel der Fußnoten- und Anmerkungspraxis im historischen Roman
Interpretation statt Kommentar. Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach: Kritische Texte und Deutungen
Die Kommentierung als interdisziplinäre Forschungsaufgabe am Beispiel der Carl von Ossietzky- und Kurt Tucholsky-Gesamtausgaben
Fragmente im Werkprozeß. Zur konstitutiven Bedeutung des Kommentars für eine kritische Edition der nachgelassenen Todesarten-Prosa Ingeborg Bachmanns
Kaiser Joseph und die anachronistischen Töchter. Zum Kommentieren von Reflexen des Mündlichen
Lassen sich Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften aufstellen?
Die Autobiographie als Sonderfall für die Kommentierung am Beispiel von Goethes “Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit”
Zu Aufbau und Interdependenz von Erläuterungen und Register bei der Kommentierung von Goethes Tagebüchern
Kommentar und Autorenbiographie bei der Edition von D.H. Lawrence
Das Tagebuch als literarischer Text. Zur Kommentierung von Gerhart Hauptmanns Tagebüchern
Kommentierende und kommentierte Briefe. Zur Kommentargestaltung bei Briefausgaben
Probleme der Kommentierung in Auswahlausgaben am Beispiel der Edition des Briefwechsels zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Zur wechselseitigen Bedingtheit von Brief- und Werkkommentierung. Kritische Bemerkungen zu Kommentierungsfragen der Briefe Heines
Ins Stammbuch geschrieben. Überlegungen zur Kommentierung von Stammbuch-Editionen
Kommentierung von Übersetzungen
Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben. Bertolt Brechts Werke in 30 Bänden
Die Ermittlung personenbezogener Informationen für den Kommentar der Czepko-Ausgabe
Zur Ermittlung von Personendaten. Erfahrungen, Probleme, Wünsche
Vom heuristischen Wert eines kommentierenden Registers
Die Praxis der computerunterstützten Edition am Beispiel der Nachlaßgedichte Eichendorffs im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten
Der produktionsorientierte Stellenkommentar in der Computer-Edition
Einsatz von EDV bei der Nachlaß-Erschließung am Beispiel Hubert Fichte
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Citation preview

B E I H E F T E

ZU

editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER

Band 5

Kommentierungsverfahren und Kommentarformen Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate

Herausgegeben von Gunter Martens

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Publiziert mit Unterstützung

der Hamburgischen

Wissenschaftlichen

Stiftung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kommentierungsverfahren und Kommentarformen : Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition 4. bis 7. März 1992 ; autor- und problembezogene Referate / hrsg. von Gunter Martens. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Beihefte zu Editio ; Bd. 5) NE: Martens, Gunter [Hrsg.]; Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition; Editio / Beihefte ISBN 3-484-29505-8

ISSN 0939-5946

© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: H u g o Nädele, Nehren

Inhalt

Wolfram Groddeck "Und das Wort hab' ich vergessen". Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine

1

Andreas Thomasberger Über die Erläuterungen zu Hofmannsthals Lyrik

11

Eberhard Sauermann I Hermann Zwerschina Zum Kommentar der neuen historisch-kritischen Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Georg Trakls

17

Bodo Plachta Libretti: eine von den Editoren vergessene Gattung? Überlegungen zur kommentierenden Herausgabe von Operntextbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts

25

Horst Νahler Kontinuität und Problembewußtsein / Die Erläuterungspraxis der Schiller-Nationalausgabe

38

Jürgen Hein Kommentierungsprobleme von Zensurmanuskripten am Beispiel von Johann Nestroys "Der Talisman"

47

Elke Austermühl Kommentar, Interpretation und ästhetische Analyse. Zur Bedeutung der Kommentierung für das Verständnis der Dramen Frank Wedekinds am Beispiel "Der Kammersänger"

55

VI

Inhalt

Ulrich Bubrowski "Verstehen Sie Anspielungen?" Probleme einer Kommentierung der Werke Ernst Barlachs

62

Francesco Ferraris / Sabine Wagner Zur Edition und Kommentierung frühneuzeitlicher Reiseberichte unter dem Gesichtspunkt der Fremdheitserfahrung und -Vermittlung. Ein Werkstattbericht ...

73

Renate Francke Beziehungen zwischen Textentwicklung und Kommentierung bei den französischsprachigen Werken Heinrich Heines

80

Wolfgang Wiesmüller Geschichtsquellen und politische Zeitbezüge als Kommentierungsprobleme historischer Dichtung - dargestellt an Adalbert Stifters "Witiko"

86

Hugo Aust Dichter-Kommentar. Am Beispiel der Fußnoten- und Anmerkungspraxis im historischen Roman

93

Jens Stäben Interpretation statt Kommentar. Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach: Kritische Texte und Deutungen

99

Dirk Grathoff/Gerhard Kraiker Die Kommentierung als interdisziplinäre Forschungsaufgabe am Beispiel der Carl von Ossietzky- und Kurt Tucholsky-Gesamtausgaben

108

Dirk Gotische Fragmente im Werkprozeß. Zur konstitutiven Bedeutung des Kommentars für eine kritische Edition der nachgelassenen Todesarten-Prosa Ingeborg Bachmanns

117

Sigurd Paul Scheichl Kaiser Joseph und die anachronistischen Töchter. Zum Kommentieren von Reflexen des Mündlichen

124

Inhalt

VII

Hans-Gerd Koch Lassen sich Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften aufstellen?

133

Walter Hettche Die Autobiographie als Sonderfall für die Kommentierung am Beispiel von Goethes "Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit"

141

Jochen Golz Zu Aufbau und Interdependenz von Erläuterungen und Register bei der Kommentierung von Goethes Tagebüchern

150

Dieter Mehl Kommentar und Autorenbiographie bei der Edition von D.H. Lawrence

162

Peter Sprengel IReni Sternke Das Tagebuch als literarischer Text. Zur Kommentierung von Gerhart Hauptmanns Tagebüchern

169

Brigitte Leuschner Kommentierende und kommentierte Briefe. Zur Kommentargestaltung bei Briefausgaben

182

Regina Nörtemann Probleme der Kommentierung in Auswahlausgaben am Beispiel der Edition des Briefwechsels zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim

188

Christa Stöcker Zur wechselseitigen Bedingtheit von Brief- und Werkkommentierung. Kritische Bemerkungen zu Kommentierungsfragen der Briefe Heines

194

Henning Buck Ins Stammbuch geschrieben. Überlegungen zur Kommentierung von Stammbuch-Editionen

203

Heidrun Bärenfänger /Elisabeth Blakert Kommentierung von Übersetzungen

210

VIII

Inhalt

Günter Berg Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben. Bertolt Brechts Werke in 30 Bänden

216

Ulrich Seelbach Die Ermittlung personenbezogener Informationen für den Kommentar der Czepko-Ausgabe

223

Sabine Schäfer Zur Ermittlung von Personendaten. Erfahrungen, Probleme, Wünsche

231

Günter Arnold Vom heuristischen Wert eines kommentierenden Registers

237

Ursula Regener Die Praxis der computerunterstützten Edition am Beispiel der Nachlaßgedichte Eichendorffs im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten

242

Walter Morgenlhaler Der produktionsorientierte Stellenkommentar in der Computer-Edition

251

Nikolaus Tiling Einsatz von EDV bei der Nachlaß-Erschließung am Beispiel Hubert Fichte

256

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

262

Vorwort des Herausgebers

Der editorische Kommentar - Brückenschlag zwischen Text und Leser - gehört zu den problemreichsten und vielfach umstrittenen Aufgaben des Herausgebers. Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen über Form und Funktion der Kommentierung macht dieses wichtige Instrument textphilologischer Vermittlung zu einer editorischen Beigabe, die ihrer Zielsetzung in zahlreichen Fällen kaum gerecht zu werden vermag, ja den Benutzer der Editionen oftmals in Verwirrung und Ratlosigkeit entläßt. Zwei Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Beginn der siebziger Jahre suchten nach einer terminologischen und verfahrensmäßigen Klärung der anstehenden Problematik. Doch die Lage hat sich seitdem kaum geändert: Noch immer bietet sich in vielen Neuausgaben das Bild einer weitgehenden Orientierungslosigkeit in Fragen der Kommentargestaltung, und es ist kaum zu übersehen, daß diese Situation den jungen Herausgeber eher zum Verzicht als zu einem sinnvollen Einsatz kommentierender Erläuterungen animiert. So war es denn symptomatisch, daß der Aufruf der "Arbeitsgemeinschaft germanistischer Edition" zur Beteiligung an einem erneuten internationalen Kolloquium über "Kommentierungsverfahren und Kommentarformen" ein ungewöhnlich großes Echo fand. Von den mehr als 60 Referaten, die auf der Hamburger Tagung im März 1992 zum Vortrag kamen, werden in diesem fünften "Beiheft zu editio" die autor- und problembezogenen Beiträge vorgelegt. Die theoretischen und auf einen Überblick bedachten Referate werden demgegenüber in Band 7 von "editio" zum Abdruck kommen. Den in den vorliegenden Band aufgenommenen Arbeiten ist die Orientierung an der jeweiligen editorischen Praxis gemeinsam. Am konkreten Einzelfall werden hier Schwierigkeiten, die bei der Kommentierung auftreten, aufgezeigt und Möglichkeiten der Lösung zur Diskussion gestellt. Die zumeist knapp gehaltenen Referate sollen dem künftigen Herausgeber Erfahrungen und Anregungen vermitteln und nicht zuletzt auch dem Benutzer der Ausgaben ein angemessenes Problembewußtsein nahelegen. Die in diesem Beiheft gesammelten Beiträge sind entsprechend nach Problembereichen gruppiert. So werden einleitend an Gedichten von Heinrich Heine, Hugo von Hofmannsthal und Georg Trakl Grundsatzfragen und Methoden der Kommentierung poetischer Texte diskutiert und in fünf weiteren Beiträgen die wichtige Funktion des Kommentars bei der Erschließung dramatischer Werke aufgezeigt. Fragen, die sich bei der Erläuterung von Prosatexten ergeben, werden an exemplarischen Fällen, die von der Reiseliteratur der frühen Neuzeit bis zu den nachgelassenen Schriften Ingeborg Bachmanns reichen, erörtert. Schwierigkeiten stellen sich dem kommentierenden Herausgeber vor allem bei der Edition von autobiographischen Schriften, von Tage-

χ

Vorwort

büchern und Briefen. Vorschläge für allgemeine Richtlinien sind ebenso Gegenstand der acht Beiträge zu diesem Problemfeld, wie Verfahrensweisen, die im Zuge der Neubearbeitung von Texten Goethes, Heines, D.H. Lawrence und G. Hauptmann entwickelt wurden. In jeweils einzelnen Referaten werden Fragen der Kommentierung von Stammbüchern, von Übersetzungen und - aus der Sicht des Verlages - von Studienausgaben behandelt. Die technische Organisation der Kommentararbeit steht schließlich im Mittelpunkt einer letzten Grippe von Arbeiten. Zwei Referate weisen Wege zur Ermittlung von Personendaten, die kommentierende Funktion von Registern wird am Beispiel der Briefe Herders vorgestellt und an Texten von Eichendorff, Keller und Hubert Fichte wird der Einsatz der EDV in der Kommentierungsvorbereitung und -praxis vorgeführt. Allen Referenten wurde nach dem Vortrag auf der Hamburger Tagung Gelegenheit geboten, während des Kolloquiums gewonnene neue Erkenntnisse und durch Diskussionsvoten angeregte Korrekturen bei der Überarbeitung für den Druck zu berücksichtigen. Aus Zeit- und Kostengründen mußte allerdings darauf verzichtet werden, daß die Verfasser die Drucklegung durch Korrekturlesen kontrollieren konnten. Der Herausgeber übernimmt daher die Verantwortung für die photomechanische Wiedergabe der hier abgedruckten Texte. Die in Hamburg durchgeführte drucktechnische Aufbereitung und elektronische Speicherung der eingereichten Beiträge wäre ohne das Entgegenkommen der "Arbeitsstelle für literarische Kultur in Hamburg" und insbesondere ohne die unermüdliche Mithilfe von Erle Bessert und meiner Tochter Anja Post-Martens nicht möglich gewesen. Allen, die uns bei Durchführung der Arbeit zur Seite standen, bin ich zu großem Dank verpflichtet - ebenso auch dem Niemeyer-Verlag, der die Druckvorbereitung sachkundig betreute. Danken möchte ich an dieser Stelle auch der Behörde für Wissenschaft und Forschung in Hamburg und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Kolloquium durch großzügige Zuschüsse förderten, und der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, die durch einen Druckkostenzuschuß das Erscheinen dieses Beiheftes ermöglichte. Hamburg, im Oktober 1992

Gunter Martens

Wolfram Groddeck

"Und das Wort hab' ich vergessen" Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine

Die Frage, was unter Intertextualität zu verstehen sei, wird zum Teil schon durch den Umstand beantwortet, daß es eine Vielfalt von Definitionsversuchen gibt, die von poststrukturalistischen Konzeptionen einer globalen Intertextualität bis zu hermeneutisch gebändigten Orientierungsversuchen einer sozusagen lokalen Intertextualität reichen. Ein gemeinsames Merkmal der verschiedenen divergierenden Definitionsvorschläge ist aber darin zu erkennen, daß der Text unterm Gesichtspunkt der Intertextualität immer schon als ein Ensemble von Texten erscheint, als ein Plural. Die Pluralisierung des Textes durch die Theorie der Intertextualität berührt zunächst die Frage nach dem Sinn eines solchermaßen betrachteten Textes. Ein als intertextuell erkannter Text kann kaum mehr einen eindeutigen Sinn haben, dieser konstituiert sich vielmehr aus dem Zusammenwirken seiner Intertexte, d.h. der Beziehungen, welche er zu bestimmten Referenztexten unterhält. Solche Referenztexte werden auch Prätexte genannt, eine Bezeichnung, die im Französischen als pritexte noch den Nebensinn von Vorwand oder Scheingrund konnotiert. Je mehr Prätexte in einem Text sichtbar werden, um so komplexer wird sein Sinn. Sinnkomplexion ist daher ein Terminus der Intertextualitätstheorie, der für die Auslegung eines Textes insofern brisant ist, als er die Möglichkeit von eindeutiger Interpretation prinzipiell in Frage stellt. Ich möchte auf die hermeneutischen Konsequenzen des Phänomens der Sinnkomplexion nicht weiter eingehen, zumal die Debatte darüber - die man mit Julia Kristevas Lektüre von Michail Bachtins Dialogizitäts-Konzept1 in den sechziger Jahren beginnen lassen kann - inzwischen zwar zu zahlreichen differenzierten Ausformulierungen geführt hat, aber keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden kann. In ihrem 1990 erschienenen Buch "Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne", das eine umfassende Darstellung der aktuellen Intertextualitätstheorien versucht, stellt Renate Lachmann fest: der "Begriff selbst ist nun alles andere als luzid oder gar definitiv" 2 und macht dann, in einer bemerkenswert selbstbezüglichen Überlegung, folgende Beobachtung:

Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Hrsg. von Jens Ihwe. Bd.3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, Teil II; Frankfurt/M. 1972, S.345-375. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990, S.55.

2

Wolfram Groddeck Die Intertextualitätstheoretiker selbst repräsentieren ein Modell von Intertextualität, insofern die zitierende, alludierende, replizierende Verflechtung ihrer Theorieprodukte nachgerade einen neuen Typ literaturwissenschaftlichen Diskurses zu entwerfen scheint. 3

Anscheinend erfaßt der veränderte, pluralisierende Blick auf den Text auch die theoretische Reflexion über diese Texte. Ich denke, daß dies kein Kuriosum einer theoretischen Hypertrophie ist, sondern höchst konsequent aus dem Gegenstand der Theorie selber entspringt. Der einfachste Fall von Intertextualität, das Zitat im Text, berührt nämlich schon ein fundamentales Problem aller Literaturwissenschaft, das der Metasprache. Und eines der wichtigsten Ergebnisse der Intertextualitätsdiskussion dürfte vielleicht die Erkenntnis sein, daß das Zitat in einem Text zugleich einen Metatext zum zitierenden Text darstellt. Renate Lachmann kann dazu bereits Roman Jakobson zitieren, der diese Einsicht von Valentin N.Volosinov übernommen und sie so formuliert hat: "Zitierte Rede ist Rede in der Rede, Rede über Rede".4 Oder, wie Renate Lachmann selbst bündig formuliert: "der Text im Text ist Text über den Text".5 Die komplexe Wechselbeziehung von zitiertem und zitierendem Text als Konstituierung eines Metatextes wirkt sich auch auf die Rede über diese Wechselbeziehung aus, auf die Theorie der Intertextualität. Um hier ein medizinisches Gleichnis zu gebrauchen: Intertextualität ist ein Virus, das auch die Theorie ansteckt, und ich möchte nun versuchen, die Editionstheorie damit anzustecken, in therapeutischer Absicht sozusagen, weil ich glaube, daß die Editionswissenschaft hie und da noch einen allzuheilen Begriff vom Text hat. 6 Dabei möchte ich das Virus Intertext nicht auf den empfindlichen Begriff des edierten Textes, sondern nur auf den der philologischen Text-Kommentierung übertragen. Und auch hier soll es zunächst nicht um die Frage des interpretierenden Kommentars und auch nicht um den Sachkommentar gehn, sondern nur um das Teilgebiet des Zitatnachweises. In der Diskussion, ob man bei kritischen Texteditionen überhaupt kommentieren soll, dürfte die Problematik des Zitatnachweises das hartnäckigste Argument sein für die Beibehaltung von Kommentierung in historisch-kritischen Ausgaben. Anders gesagt: die Aufgabe, Zitate im Text nachzuweisen, liegt der eigentlichen Aufgabe des Editors, den Text mit seinen Varianten herauszugeben, am nächsten. Wenn der Herausgeber eines Textes sich darauf einläßt, gerät er allerdings unter einen gewissen Zugzwang. Zum einen muß er alle Zitate suchen, die als offensichüiche im Text stehen, zum anderen sollte er Zitate auch dann erkennen, wenn sie im Text nicht als solche gekennzeichnet sind. Der kritische Anspruch einer vollständigen Erschließung der offenen und der verdeckten Zitate ist aber kaum einzulösen - der Kommentator scheitert früher oder später an den Grenzen seiner eigenen Belesenheit.

3

Lachmann, vgl. Anm.2, S.56.

4

Lachmann, vgl. Anm.2, S.170. Lachmann, vgl. Anm.2, S.63.

5 6

Vgl. dazu weiterführend Gunter Martens: Was ist - aus editorischer Sicht - ein Text? Überlegungen zur Bestimmung eines Zentralbegriffs der Editionsphilologie. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S.135-156.

"Und das Wort hob' ich vergessen"

3

Das bedeutet aber keine wirkliche Schande für den Herausgeber, denn auch der Autor des zu kommentierenden Textes ist sich selten aller Zitate bewußt, die er in seinen Text setzt, oder - um es präziser zu sagen - auch der Autor muß nicht alle Zitate kennen, die sich in seinen Text gesetzt haben. Man könnte durchaus die Behauptung aufstellen, daß die offensichtlichen Zitate in einem Text gar nicht die wichtigsten oder interessantesten sind, sondern daß es vielmehr die latenten, die unbewußten, oder gar die zufalligen Zitate sind, welche den Text literarisch determinieren. Das unkontrollierte Zitat, der Text ohne Anführungszeichen, redet im Text mit und macht ihn vielstimmig und unverwechselbar. Das offensichtliche Zitat kann durchaus nur von "schwacher intertextueller Intensität" sein - um hier eine Kategorie von Manfred Pfister zu übernehmen - , auch wenn häufig zitiert wird, sobald das Zitat im Text lediglich Einverständnis mit der Tradition oder den Lesern stiftet. Der ganze Bereich der klassischen Bildungszitate ist - so gesehen - ohne große intertextuelle Bedeutung. Wenn das Zitat, die Anspielung, die Parodie usw. sich jedoch dialogisch zum Prätext verhält, dann wird der Intertext umso intensiver, "je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in semantischer und in ideologischer Spannung zueinander stehen."7 Das dialogische Zitat, welches den Text intertextuell zum Reden bringt, ist aber häufig im Text nicht gekennzeichnet, und seine Entdeckung und die philologische Identifikation setzt voraus, daß der Kommentator den Text gerade in seiner Vielstimmigkeit begreift. Demgegenüber ist das Autoritätszitat oder das Bildungszitat, das immer - oder jedenfalls vorläufig noch - leicht zu erkennen ist, in der Regel von nur "schwacher intertextueller Intensität". Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß die Beschränkung des Kommentars auf die Nachweise offensichtlicher Zitate sich auf den edierten Text insofern auswirkt, als sie diesen konservativer, glatter, linearer erscheinen läßt, als er eigentlich ist. Die Unterscheidung in autoritative und dialogische Zitate deckt sich allerdings nicht mit der Unterscheidung in beabsichtigte und unbewußte Zitate. Diese Unterscheidung mag problematisch erscheinen, wenn eine Intention des Textes oder gar des Autors durch die Intertextualitätstheorie selber bereits in Frage gestellt ist, und - wenn ich das richtig sehe - wird die Unterscheidung in bewußte und unbewußte Zitate von den konsequenten Theorien der Intertextualität auch nicht thematisiert. Die Editionstheorie, für welche die Autorintention nach wie vor einen hohen Grad von Verbindlichkeit hat, muß sich jedoch mit dieser Differenz auseinandersetzen - und sei es nur, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß zwar ein beabsichtigtes Zitat meistens als ein solches zu erkennen ist, daß aber ein unbewußtes Zitat niemals mit Sicherheit als ein nicht beabsichtigtes qualifiziert werden kann. Das Zitat im Text, bewußt oder nicht bewußt, führt also, erkannt oder nicht erkannt, ein gewisses Eigenleben, das von den Intentionen des Textes gelenkt wird, das aber mindestens ebensosehr dessen Intentionen lenkt. Dazu ein Zitat von Ossip Mandelstam: "Das Zitat ist kein Exzerpt, das Zitat ist eine Zikade". 8 Die Metapher von der "Zikade" setzt das "Zitat" vom bloßen "Exzerpt" ab durch die Merkmale der Lebendigkeit und vor

Intertextualität. Hrsg. von U. Broich und M. Pfister. Tübingen 1985, S.29. Ossip Mandelstam: Das zweite Leben. München und Wien 1991, S.69.

4

Wolfram Groddeck

allem der Hörbarkeit. Das Zitat in einem Text ist eine eigensinnige Erinnerung, welche die Ruhe des Textes zu stören vermag. Denn das Zitat, so ließe sich diese Beobachtung pointieren, das Zitat ist der Stoff aus dem die Texte gemacht sind. Aufgefaßt als eigensinnige Erinnerung im Text, macht das Zitat deutlich, daß der Text ein Gedächtnis hat. Vielleicht ist es sogar die wesentlichste Eigenschaft von Texten, Gedächtnis zu sein. Wenn Texte Gedächtnis sind oder haben, dann müssen sie auch vergessen können. Denn in der Selbstvergessenheit des Textes als zitierendem liegt die Voraussetzung, daß er sich gegen die Zitate als Text behauptet. Ich möchte nun die skizzierten theoretischen Überlegungen am Modell eines konkreten literarischen Textes veranschaulichen. Das 56. Gedicht aus dem "Lyrischen Intermezzo" in Heinrich Heines "Buch der Lieder" lautet so: Allnächtlich im Traume seh' ich dich, Und sehe dich freundlich grüßen, Und lautaufweinend stürz' ich mich Zu deinen süßen Füßen. Du siehst mich an wehmüthiglich, Und schüttelst das blonde Köpfchen; Aus deinen Augen schleichen sich Die Perlenthränentröpfchen. Du sagst mir heimlich ein leises Wort, Und giebst mir den Strauß von Zypressen. Ich wache auf, und der Strauß ist fort. Und das Wort hab' ich vergessen.9

Das Gedicht stellt durch die letzte Zeile seinen Sinn demonstrativ in Frage. Dies ist für Hermeneuten kein alltäglicher Vorfall. Und auch im Gedicht selbst führt es zum allnächtlichen Wiederholungstraum. Überhaupt enthält das Gedicht in der ersten Strophe einige auffällige Wiederholungsfiguren. Im zweiten Vers wird das "seh' ich dich" vom ersten Vers wiederholt. Im vierten Vers markiert sich die Wiederholung in dem kühnen Schlagreim von den "süßen Füßen", der schon bei den allerersten Hörerinnen und Hörern des Gedichtes eine "lachende Opposition" provozierte. 10 Die inszenierte Rätselhaftigkeit des Traumgedichtes reizt zur Interpretation oder wenigstens zur klärenden Kommentierung. Während sich Ernst Elster in "Heinrich Heines Sämtliche Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe" jeden Kommentars zu diesem Gedicht enthält, 11 und Klaus Briegleb in seinem knappen Kommentar noch kein Zitat am Werk vermutet, sondern die Sinn-Lakune durch den Verweis auf das "zyklische Kernthema" im "Buch der Lieder", nämlich die "vier gleichmäßig entfalteten Grundmotive[] Liebe, Freiheit, Poesie und Tod", zu kompensieren versucht, 1 2 findet sich im Kommentar der Düsseldorfer Heine-Ausgabe zunächst eine 9 10 11 12

DHA 1,189. DHA 1, 843. Heinrich Heines Sämtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster, Leipzig und Wien 1887-1890, Bd.l. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. München und Wien 1976, Bd.l, S.713.

"Und das Wort hob' ich vergessen"

5

beschreibende Interpretation, welche den vermißten Sinn des Gedichtes durch einfühlsame Paraphrase vereindeutigt: der Liebhaber hofft auf die Rückkehr der Geliebten: er und sie kommen im Traum zusammen. Aber bald ist alles vergessen. Wie Nebel verschwindet die Vision.13

Für den Schluß des Gedichtes verweist der Kommentar aber auf einen anderen literarischen Text, der in unserer Terminologie als Prätext zu klassifizieren wäre: vgl. Traumszene in "Heinrich von Ofterdingen": "Sie" [Mathilde] sagte ihm ein wunderbares geheimes Wort in den Mund, was sein ganzes Wesen durchklang. Er wollte es wiederholen, als [...] er aufwachte. Er hätte sein Leben darum geben mögen, das Wort noch zu wissen. (Novalis, "Schriften", hrsg. von J. Minor, Jena 1907, IV, 163).

Der Kommentator fügt dem Quellenhinweis noch eine Erklärung des ganzen Gedichtes hinzu: Wenn es nicht vergessen worden wäre, gäbe das Wort den Schlüssel zum Glück.

Auch der entsprechende Band in der Heine-Säkularausgabe, sieben Jahre nach dem ersten Band der Düsseldorfer Ausgabe erschienen, verweist auf dasselbe Novalis-Zitat, er verzichtet aber klug auf jede Interpretation: Das ganze Gedicht und insbesondere diese Strophe könnte durch eine Szene aus Novalis' "Heinrich von Ofterdingen" angeregt worden sein.14

Es folgt dann die Novalis-Stelle, die schon im Kommentar der Düsseldorfer Ausgabe steht, die aber jetzt nach der Tieck-Schlegelschen Ausgabe von 1815, dritte Auflage, zitiert wird. Eine Begründung, warum das Gedicht überhaupt auf diese Novalis-Stelle anspielen soll, wird in beiden Ausgaben nicht gegeben. Es handelt sich ja nicht um ein wörtliches Zitat, lediglich das Wort "Wort" kommt in beiden Texten vor und nur die dargestellte Szene weist bei beiden Autoren eine gewisse Ähnlichkeit auf. Das ist für einen Quellennachweis an sich zu wenig. Heine hat aber den "Heinrich von Ofterdingen" anscheinend wirklich gelesen. Jedenfalls schreibt er selber davon in der "Romantischen Schule", wo er Novalis im zweiten Buch das ganze vierte Kapitel widmet. Heine zitiert hier den Anfang des "Heinrich von Ofterdingen" - übrigens nach dem Erstdruck 15 von 1802 - und betont die Bedeutung der "blauen Blume". Die Zitierung der Anfangssätze des "Heinrich von Ofterdingen" gerät dabei zum Lehrstück über die Logik der Intertextualität. Heine beschreibt seine Lektüre des Romans von Novalis: Alte Erinnerungen erwachen, selbst Sophia trägt so wohlbekannte Gesichtszüge, und es treten uns ganze Buchenalleen ins Gedächtniß, wo wir mit ihr auf und abgegangen und heiter gekost. Aber das alles liegt so dämmernd hinter uns, wie ein halbvergessener Traum. [...] Ich denke mir nemlich als Muse der novalisschen Poesie eben dasselbe Mädchen, das mich zuerst mit Novalis bekannt machte.

13 14 15

DHA 1, 842f. HSA 1 Κ 1, S.275. DHA 8, 1361.

6

Wolfram Groddeck als ich den rothen Maroquinband mit Goldschnitt, welcher den Ofterdingen enthielt, in ihren schönen Händen erblickte. Sie trug immer ein blaues Kleid und hieß Sophia. 16

Die Novalis-Leserin Sophia in Heines Text der "Romantischen Schule" hat mit der Gestalt der Sophia in dem Buch, welches sie noch kurz vor ihrem Tode liest (Heine-Zitat: "sie hatte sich die Schwindsucht herausgelesen") so fatale Ähnlichkeit, daß selbst der Kommentar zur Stelle in DHA, Band 8, einräumen muß: Trotz einiger empirischer Anhaltspunkte erscheint es fraglich, ob der 'Postmeisterinn' und ihrer Schwester 'Sophia' reale Erfahrungen zugrunde liegen.17

Heines Lektüre des "Heinrich von Ofterdingen" in der "Romantischen Schule" bildet also einen Modellfall intertextueller Textproduktion und der Roman von Novalis scheint sich daher als nachgerade idealer Prätext für Heines Gedichte anzubieten. Die Frage ist nur, ob Heine den Roman von Novalis, den er in der "Romantischen Schule" weiterschreibt, 1822, als er das Gedicht vom Wiederholungstraum schrieb, überhaupt schon kannte. Manches spricht dafür, daß Heine den "Heinrich von Ofterdingen" erst zehn Jahre später, als er die "Romantische Schule" schrieb, kennengelernt hat. Zwar ist es eine der Grundaporien aller Quellenforschung, daß man nie beweisen kann, das jemand etwas nicht gelesen hat, aber der positive Beweis wirkt in diesem Falle doch recht dürftig. Im Kommentar zum achten Band der DHA wird nämlich festgestellt: wie man aus Spuren im 'Buch der Lieder' ersehen kann, muß Heine Novalis' Roman "Heinrich von Ofterdingen" schon Anfang der zwanziger Jahre kennengelemt haben (DHA 1,828ff. und 843). 18

Im Rückverweis auf den Kommentar im ersten Band wird deutlich, daß im "Buch der Lieder" nur drei solcher Novalis-Spuren nachgewiesen werden konnten, die jetzt - im Kommentar des achten Bandes - zum Beweis für Heines frühe Lektüre des NovalisRomans werden. Die eine Spur bleibt völlig rätselhaft, denn beim Lemma "Mit bräutlichem Gesicht" liest man den kommentarlosen Kommentar: "vgl. die 'blaue Blume' Heinrich von Ofterdingens". 19 Die zweite Spur erschöpft sich im Stichwort Funken, das Heine und Novalis verwenden. 20 Die dritte und letzte Spur des Novalis-Romans im "Buch der Lieder" ist die fragliche Traumszene, die, ich wiederhole es, keinerlei wörtliche Entsprechung in Heines Gedicht hat. Mit dem wiederholten Hinweis auf Novalis wird Heines Gedicht in den beiden historisch-kritischen Ausgaben intertextuell auf die Frühromantik festgelegt. Zu fragen ist aber, ob hier nicht, kraft der normativen Wirkung des philologischen Kommentars, dem Text Heines ein Wort in den Mund gelegt wird, das nicht nur den Prozeß der Sinnkonstitution im Gedicht stillegt, sondern Heines Text semantisch schlicht verfälscht, oder - um in der Sprache der Zunft zu reden - sekundär verderbt.

16 17 18 19 20

DHA DHA DHA DHA DHA

8, 194f. 8, 1362. 8, 1360. 1, 828, Lemma zu 175,8. 1, 830, Lemma 174,17.

"Und das Wort hab' ich vergessen"

7

Es geht mir nicht darum, den Kommentaren Ungenauigkeiten anzukreiden, sondern nur darum aufzuzeigen, wie aus vereinzelten kommentatorischen Mutmaßungen literarische Pseudo-Referenzen entstehen. Der Novalis-Intertext in Heines Gedicht ist wesentlich ein Effekt des quellensuchenden Kommentars. Und damit möchte ich mich noch einmal dem Wortlaut von Heines Gedicht zuwenden. Die letzte Strophe: Du sagst mir heimlich ein leises Wort, Und giebst mir den Strauß von Zypressen. Ich wache auf, und der Strauß ist fort, Und das Wort hab' ich vergessen.

evoziert nämlich einen Prätext, der dem Gedicht viel näher steht. Im zehnten Gedicht der "Traumbilder" 21 - das ebenfalls im "Buch der Lieder" steht - geht es um das gleiche Motiv wie im Gedicht vom Wiederholungstraum: Nur einmahl aus Ihrem Munde Möcht' ich hören ein liebvolles Wort,-

Und dieses Gedicht beginnt mit den Versen: Da hab' ich viel blasse Leichen Beschworen mit Wortesmacht;

Die zweite Strophe weist diesen Anfang, der so nachdrücklich von der "Macht der Worte" redet, als literarische Reflexion aus, indem sie eine deutliche Anspielung macht: Das zähmende Sprüchlein vom Meister Vergaß ich vor Schauer und Graus;

Die Anspielung ist so offensichtlich, daß sie fast schon als Bildungszitat bezeichnet werden kann - und wird auch von beiden kritischen Heine-Ausgaben korrekt nachgewiesen. Es handelt sich um die Verse aus Goethes "Zauberlehrling", die wörtlich so lauten: Hab ich doch das Wort vergessen! Ach das Wort, worauf am Ende Er das wird, was er gewesen.·^

Wenn man die letzte Zeile des Gedichtes aus dem "Lyrischen Intermezzo" - "Und das Wort hab' ich vergessen" - nun nicht mehr auf Novalis, sondern auf Goethes Vers im "Zauberlehrling" bezieht - "Hab ich doch das Wort vergessen", - ein Verfahren, das sich aufgrund der Wörtlichkeit der Entsprechung immerhin empfiehlt - so bekommt die von Heine dargestellte Traumszene einen ganz anderen, witzigeren Sinn. Die Erinnerung an das vergessene Meisterwort ("in die Ecke, Besen, Besen/Seids gewesen") enthält zwar nicht "den Schlüssel zum Glück" für romantisch Liebende, sie deckt aber die literarische Logik von Heines Gedicht auf, wenn man darüber nachdenkt.

21 22

DHA 1, 53. DHA 1, 676. HSA 1 K, S.161.

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Wolfram Groddeck

Hier darf ich kurz an die theoretischen Implikationen erinnern, die ich eingangs skizziert habe: Der Text im Text entwirft einen Metatext, sagte ich, das Goethe-Zitat in der letzten Zeile des Gedichtes wird demnach zu einer Aussage über Heines Gedicht, es reflektiert sein literarisches Verfahren und provoziert zugleich einen zweiten Goetheschen Prätext. Denn über das Balladenzitat bestimmt sich der träumende Dichter nun selbst als der "Zauberlehrling" vom alten "Meister" Goethe. "Seine Wort und Werke /Merkt ich" - läßt Goethe den Zauberlehrling sagen. Und Goethes "Zauberlehrling" Heine hat sich auch, meine ich, die "Wort und Werke" des Meisters gemerkt - auch wenn in Heines Gedicht zunächst das Gegenteil behauptet zu werden scheint. Ein Werk von Goethe, das Heine vielleicht am meisten bewunderte und sich auch gut gemerkt hat, ist der "West-östliche Divan". Berühmt sind die Worte, welche Heine über dieses Werk Goethes im ersten Buch der "Romantischen Schule" fand, und seine Bemerkung, "daß man sich wundert wie dergleichen in deutscher Sprache möglich war". 23 In diesem Wunderwerk der deutschen Sprache, Goethes "West-östlichem Divan", den Heine nachweislich schon 1820 kennengelernt hat, 24 läßt sich auch ein weiterer Prätext für die letzte Strophe in Heines Gedicht vom Wiederholungstraum entdecken, welcher das "Zauberlehrling"-Zitat erst eigentlich evident macht. Im Abschnitt "Blumen- und Zeichenwechsel" aus den "Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans" beschreibt Goethe eine "seltsame Mittheilungsart", die freilich eine "leidenschafdiche Divination" voraussetze: wenn ein Liebendes dem Geliebten irgend einen Gegenstand zusendet, so muß der Empfangende sich das Wort aussprechen, und suchen was sich darauf reimt. 25

Aus der Liste von Zeichen, die Goethe hier anführt, ergibt sich der Schlüssel für das literarische Verfahren in Heines Gedicht. Er liegt in der rätselhaften Gabe, welche die Geliebte dem Dichter im Traum überreicht: "Und giebst mir den Strauß von Zypressen". Bei Goethe lesen wir - an der zitierten Stelle - , was sich darauf reimt: Strauß [.··] Cypressen

Ich bin zu Haus. Will's vergessen. 26

Damit ließe sich vielleicht sogar die Beziehungsproblematik der Liebenden im Gedicht entschlüsseln, indem sich zeigt, daß die Geliebte bereits vergeben ist - "zu Haus" - und es, nämlich das Verhältnis mit dem Dichter, vergessen will. Und es wird auch mensch-

23 24

25 26

DHA 8, 161. Vgl. DHA 1, 584 und DHA 8, 1331. - Ferner George F. Peters: '"So glücklich, so hingehaucht, so ätherisch'. Heines Beurteilung des 'West-Östlichen-Divan'". In: HJB 1983, S.30-46. Zur Wirkung des Divan-Intertextes beim späten Heine vgl. auch Wolfram Groddeck: "'Der Asra'. Intertextualität und Poetologie in einem Gedicht aus Heinrich Heines 'Romanzero'". Erscheint in: HJB 1992. Goethe s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd.6. Stuttgart und Tübingen 1827, S.126ff. Ebda. S.129.

"Unddas Wort hab' ich vergessen"

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lieh verständlich, warum der Dichter das, was ihm seine Geliebte dergestalt verblümt zu verstehen gibt, lieber vergessen will und weiterträumt. Aber der doppelte Goethesche Intertext macht Heines Gedicht darüberhinaus zu einem poetologisch raffinierten Text, indem das Vergessen des Wortes "vergessen" das Gedicht und seine Wiederholbarkeit erst ermöglicht. Diese Paradoxie oder der - mit Jean Paul zu reden - "witzige Zirkel" 27 vom Vergessen des Wortes vergessen drückt sich in einer Ambiguitas der letzten Zeile aus. Die läßt sich nämlich auch anders betonen, indem man haben als Vollverb nimmt und dann bemerkt, daß das vergessene Wort buchstäblich schon dasteht: "Und das Wort hab' ich vergessen ". Über die wörtlichen Zitate aus Goethes "Zauberlehrling" und aus dem "West-östlichen Divan", vermittelt durch die motivische Anspielung auf ein eigenes Gedicht Heines aus dem "Traumbilder"-Zyklus, entdeckt sich das Gedicht aus dem "Lyrischen Intermezzo" als ein virtuoses Spiel mit Zitaten, bei dem man jetzt auch das Novalis-Zitat ruhig noch mitspielen lassen könnte. Dabei sollte spürbar geworden sein, was in der Theorie der Intertextualität als Sinnkomplexion bezeichnet wird, und die Pointe des Gedichtes im Wort vergessen wird, verstanden als Zitat, nun wirklich zu einer Zikade. - Ich hoffe, daß das Phänomen der Intertextualität nun nicht als theoretische Grillenfängerei erscheint, sondern in seiner unmittelbaren Relevanz für die philologische Kommentierung deutlich geworden ist. Die Beobachtungen zur Wirkweise von Zitaten im poetischen Text Heines lassen sich wohl verallgemeinern, und es zeigt sich, daß die philologische Kommentierung dem edierten Text keineswegs äußerlich bleibt, sondern durchaus einen ungewollten Eingriff in seine Sinnstruktur bewirken kann. Durch den Hinweis auf die Novalis-Stelle bedeutet Heines Gedicht vom Wiederholungstraum etwas anderes als in der Perspektivierung auf die beiden Goethetexte. Wäre nun also der Kommentar zu Heines Gedicht aus dem "Lyrischen Intermezzo" in den beiden Historisch-kritischen Ausgaben zu korrigieren? Wenn man dem zustimmen und den Novalis-Hinweis durch die beiden Goethe-Zitate ersetzen wollte, so ergäbe sich daraus allerdings ein 'Dilemma' ganz eigener Art. Denn dasselbe Lemma, "Und das Wort hab' ich vergessen", wäre jetzt mit zwei verschiedenen Zitathinweisen zu versehen, die ohne ausführliche Erläuterung ihres Zusammenhanges kaum evident zu machen sind. Das scheinbar technische Problem des doppelten Zitatbeleges im Kommentar zum Text wird zum Indiz dafür, daß die Einsicht in Intertextualität sich nicht mehr mit dem herkömmlichen Typus des positivistischen Quellen-Kommentars verträgt, der auf die Herstellung von Eindeutigkeit festgelegt ist. Auch wenn sich vielleicht - durch eine geschickte Glossierung der beiden GoetheZitate - der Intertext dieses einen Heine-Gedichtes rekonstruieren ließe, so dürfte man auch hier nicht prinzipiell ausschließen, daß weitere intertextuelle Bezüge existieren, welche die Sinnkonstitution des Gedichtes mitbestimmen. Denn mit der ausdrücklichen Nennung der beiden Goethezitate werden automatisch alle anderen möglichen Prätexte

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Jean Paul: Werke. Bd. 5: Vorschule der Ästhetik. Hrsg. v. Norbert Miller. München 3 1973, S.179.

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Wolfram Groddeck

ausgeschlossen, der intertextuelle Raum wird begrenzt und verkürzt. Auch ein intertextuell inspirierter Kommentar wird sich letztlich dem reduktionistischen Charakter der Gattung Kommentar nicht entziehen können. Gerade der Umstand, daß Heines Texte bisher so gründlich kommentiert, um nicht zu sagen überkommentiert wurden, kann historisch als Effekt ihrer eigenen intensiven Intertextualität begriffen werden. Sie figurieren textuelle Erinnerung. Auch wenn der Editionsphilologe fürchtet, daß das Gedächtnis der Texte - und das ist ja Intertextualität - mit der historischen Distanz schwinden könnte, kann er in diesen Prozeß nicht kommentierend eingreifen, ohne der Dialogizität des Textes autoritär ins Wort zu fallen und das vorwegzunehmen, was er zu verhindern suchte. Es erscheint also, im Blick auf die Intertextualität, ratsamer, im traditionellen Typus des lemmatischen Kommentars historisch-kritischer Ausgaben generell auf den Nachweis nicht expliziter Zitate in poetischenTexten zu verzichten. Denn nur in diesem Verzicht bleibt die Sinnstruktur des poetischen Textes unangetastet, und auch Heines Gedicht bleibt nur so das, was es ist, nämlich traumversunken und zitatvergessen. Aber dieses negative Fazit eines vom Kommentar rein zu haltenden edierten Textes ist - zumindest im Falle Heines - unhistorisch gedacht. Heine wurde kommentiert, man kann sogar sagen überkommentiert. Und das ist kein ärgerlicher Zufall, sondern selber durchaus ein Effekt der intensiven Intertextualität von Heines Texten. Sie figurieren textuelle Erinnerung, und diesem Prozeß kann sich der Herausgeber nicht entziehen. Denn das Gedächnis der Texte - und das ist ja Intertextualität - droht mit der historischen Distanz zu schwinden. Die herausgeberische Verantwortung läge darin, ohne die Anmaßung autoritärer Festlegungen, die Dialogizität der edierten Texte wachzuhalten, indem man die wörtlichen Entsprechungen mit Aufmerksamkeit verfolgt und die Widersprüchlichkeit im Kommentar nicht scheut, die dann entsteht, wenn sich zwei oder mehr Zitate zu einer Textstelle melden. Gerade Herausgeber mit historisch-kritischem Anspruch könnten im Zusammenspiel der Intertexte mitspielen, selbst dann, wenn der Schatten des Kommentators länger und wechselhafter ausfallen sollte als der vielzitierte Schatten des Editors.

Andreas Thomasberger

Über die Erläuterungen zu Hofmannsthals Lyrik1

Aufgaben- und Problemstellung In den Editionsprinzipien der Kritischen Ausgabe Sämtlicher Werke Hugo von Hofmannsthals lautet die Definition der 'Erläuterungen': Der Kommentar besteht in Wort- und Sacherklärungen, Erläuterungen zu Personen, Zitat- und Quellennachweisen, Erklärungen von Anspielungen und Hinweisen auf wichtige Parallelstellen. Auf interpretierende Erläuterungen wird grundsätzlich verzichtet. (1459, II 503) 2

Beabsichtigt ist demnach die Einzelstellenerläuterung, wie sie seit den in der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe formulierten Prinzipien Friedrich Beißners von einer Reihe kritischer Ausgaben (z.B. Brentano, Mörike) geboten wird. Zunächst abgesehen von der Frage nach einer übergreifenden Kommentierung, läßt die prinzipielle Aufgabenstellung sich nicht problemlos bei der Erläuterung von Werken einer bestimmten Gattung, hier der Lyrik, verwirklichen. Kann eine Worterklärung noch auf bewußt vom Autor verwandte ältere Wortformen eingehen oder sich auf regionalsprachliche Besonderheiten (Austriazismen) beziehen (z.B. I 125, 405, 415, II 221, 234), gibt die Lyrik Hofmannsthals nur in wenigen Ausnahmefällen Anlaß zur Erläuterung von Personen und Sachen (z.B. I 142, II 369, 431f.). Versteht man allerdings unter Sachen die objektiv benennbaren Komponenten der Gedichte selbst, können unter diesem Stichwort Hinweise auf Metrik oder Strophenform zusammengefaßt werden. Derartige Hinweise geben die Lyrikbände nicht durchgängig, sondern nur bezüglich besonderer Beispiele. Auf die Nachweise von Zitaten und Quellen werde ich ausführlicher eingehen; zur Anordnung im Apparat kann hier schon gesagt werden, daß Quellen oder biographische Faktoren, die mit der Entstehung eines Gedichtes im nächstem Zusammenhang stehen, im Abschnitt 'Entstehung' genannt sind. Die Nähe diese Zusammenhanges illustriert in bezug auf Quellen das Beispiel einer fremdsprachigen Vorlage für eine Übersetzung, die zum eigenen Gedicht wird, oder eines Quellentextes, den der Autor weitgehend wörtlich übernimmt.3 In der Tat problematisch erscheinen mir die "Erklärungen von Anspielungen" und die "Hiri1

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3

Dieser Beitrag ist dem Andenken von Emst Zinn gewidmet. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke I. Gedichte 1. Hrsg. von Eugene Weber. Frankfurt/M. 1984. Hugo von Hofmannsthal: Sämdiche Werke II. Gedichte 2. Hrsg. von Andreas Thomasberger und Eugene Weber. Frankfurt/M. 1988. - Zitiert mit römischer Band- und arabischer Seiten- und Zeilenziffer. Z.B. I 103/411 (nach S.T. Coleridge), 94/382, 95/386, 96/389 (nach "Des Knaben Wunderhorn"); II 145/432 ("Wunderhorn"), 159/450 (Coleridge).

Andreas Thomasberger

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weise auf wichtige Parallelstellen". Hier besteht die Gefahr einer vom Editor abhängigen Auswahl, die zugleich den Lesern Richtungen vorgibt, in die sich deren Vorstellung nicht notwendig bewegen müßte. So könnten in Hofmannsthals Lyrik tendenziell unbegrenzbar viele Anklänge gehört werden, und die Eingrenzung auf die zu nennenden hin sollte nicht durch den Horizont des Kommentierenden bedingt sein. Begründetere Auswahlkriterien werde ich noch erörtern. Über die anscheinende Vollständigkeit oder die befragenswerte Wichtigkeit hinaus bringen die Hinweise auf Parallelstellen gravierende methodische Probleme mit sich. Zum einem stellen sie den Versuch dar, den konkreten Arbeitszusammenhang des Autors, der gemäß der Einteilung der meisten Kritischen Ausgaben nach Gattungen auseinandergenommen wurde, wieder anzudeuten. Dies könnte eine chronologisch geordnete Edition, die aber weitgehend genaue Datierungen des Überlieferten voraussetzte besser. Zum anderen bieten sie eine fragwürdige Hilfe für das Verstehen, da sie die Einmaligkeit einer Wendung in den Zusammenhang von scheinbar Ähnlichem ziehen 4 und, vor allem, da sie die Bedeutung vernachlässigen, die der Ort, an dem eine Wendung im jeweiligen Werkkontext steht, konstituiert. So können in Dramen, erzählerischen und essayistischen Texten Hofmannsthals, die zeitlich nebeneinander entstanden sind, durchaus ähnliche Formulierungen oder die gleichen Bilder auftreten wie in Gedichten; einige Gedichtstrophen werden leicht verändert in Dramen aufgenommen, einige grundsatzartig verwandte Bilder oder einige Chiffren 5 finden sich im gesamten Werk; aber immer wird der bloße Hinweis darauf sinnlos bleiben, wenn er nicht dazu anregt, den Bedeutungsmodifikationen der Stelle im jeweiligen Kontext nachzugehen. Die Problematik der formelhaften Wendung "Auf interpretierende Erläuterungen wird grundsätzlich verzichtet" ist bekannt; ich werde dennoch anhand von Beispielen versuchen, Hinweise auf Quellen, die nur innerhalb der Edition möglich sind, zu unterscheiden von solchen, die eine literaturwissenschaftliche Interpretation des Textes erarbeiten kann.

Quellen und Kanäle Angesichts der weitgehenden Uneingrenzbarkeit dessen, was Hofmannstahl aus dem Gesamtbereich kultureller Erscheinungen kannte, ist es nötig Mittel zu finden, die Kriterien dafür benennen lassen, wann der Hinweis auf einen Bezug auf Vorliegendes begründet ist. Aus der Kenntnis des Nachlasses kann eine solche Begründung in eine Erläuterung aufgenommen werden, wenn z.B. Aufzeichnungen oder Briefe Lektürehinweise enthalten. Ein weiteres, nicht vollständig überliefertes, aber dennoch hilfreiches Mittel bietet die nachgelassene Bibliothek, zumal viele Bände Eintragungen, Anstreichungen oder Lektüredaten aufweisen. Dazu kommen Kenntnisse über die dem Autor

Vgl. dazu: Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Frankfurt/M. 1970, S.28.

2

Zum Begriff der Chiffre vgl. in meiner Habilitationsschrift "Verwandlungen - Interpretationen der sprachlichen Bedeutung von Genese und Gestalt im lyrischen Werk Hugo von Hofmannsthals" (erscheint voraussichtlich: Tübingen, Herbst 1992) das erste Kapitel, dort zu der Chiffre "Stadt", im vierten Kapitel zu "Garten", im zwölften zu "Turm".

Ober die Erläuterungen zu Hofinannsthals Lyrik

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vorliegenden Zeitschriften und von ihm besuchten oder erreichbaren Kunstsammlungen. Aufgrund dieser Bezugspunkte erscheint der Hinweis auf Anspielungen nicht mehr beliebig und damit auch nicht mehr unbegründet einseitig. Das Beispiel der Nachdichtung eines Keats-Gedichts - entstanden Ende Juli 1912 — soll dies verdeutlichen. Hofmannstahl gestaltet den Anfang des Gedichts "Welcome joy, and welcome sorrow" (II 479) in acht Versen als "Versuchte] im Rhythmus" (II 476, 24). Er beginnt mit "Seid willkommen bös und gut" (Π 184), was neben dem Bezug auf Keats die Aufnahme eines Verses von Waither von der Vogelweide darstellen könnte. Dieser wird in Wolfram von Eschenbachs "Parzival" (297, 24f.) überliefert und lautet: "guoten tac, boese unde guot" (II 479,39-44). Soweit wäre die Behauptung einer Anspielung wenig überzeugend. Aus dem Briefwechsel mit Rudolf Borchardt geht jedoch hervor, daß Hofmannsthal im Juli 1912 im Jahrbuch "Hesperus" den Borchardtschen Aufsatz über Stefan Georges "Siebenten Ring" wieder las (II 476,20) und dort die Wendung vor Augen hatte, die er mit dem ersten Vers seiner Nachdichtung aufnahm: '"Willekommen bös unde gut"' (II 480, lf.) lautet der Vers in Borchardts Abwandlung. Der vage Hinweis auf eine mögliche Anspielung läßt sich derart zeitlich und wörtlich genau begründen. Erst damit verliert er die Beliebigkeit und wird sinnvoll für die Leser. Wenn auch das Beispiel eine außerordentlich glückliche Fügung für die Erläuterung darstellt, soll es doch zugleich ein Maß dafür geben, wann Erklärungen von Anspielungen überzeugend sein können. Der Nachweis von Zitaten läßt sichtbar werden, daß mit dem Auffinden der Quelle die Bedeutung des Zitats für Hofmannsthals Werk noch keineswegs erkennbar wird. Daß das Motto "Psyche, my Soul. Edgar Poe" (I 32) aus einem Gedicht Poes zitiert ist, daß ein griechisches Motto für "Welt und Ich" (I 211,15f.) aus Xenophons "Symposion" stammt oder daß mit dem Vers "Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?" (I 320, 29), den Hofmannsthal als Motto erwog, Goethes "Faust" (Erster Teil, Vers 2724) zitiert wird, hat für Hofmannsthals Werk nur wenig bedeutende Aussagekraft. Der eigene Sinn zeigt sich erst mit dem Hinweis auf die Mittlerquelle, namentlich darauf, daß das PoeMotto bereits von Jean Morfas verwandt worden war, dessen Gedichte Hofmannsthal zum fraglichen Zeitpunkt las (1181,15-27), daß er den Satz Xenophons der dritten Auflage von Walter Parters Buch "The Renaissance" entnahm (1212,22 - 213,14), aus der er sich Auszüge für ein Essay anfertigte, und schließlich, daß der "Faust"-Vers von Richard Beer-Hofmann als Motto vor eine Novelle ("Das Kind" Berlin 1894) gesetzt worden war und dieses im Briefwechsel der Freunde hervorgehoben ist Erst die Kenntnis dieser Vermittlungsschritte läßt Hofmannsthals Umgang mit Überliefertem in einigen Aspekten bemerkbar machen, und darauf muß die Erläuterung hinweisen. Weitere Aspekte zeigen sich mit der Aufnahme einer Quelle zu einem bestimmten Zweck und der Entfernung davon im Lauf der Textgeschichte. Das Gedicht "Großmutter und Enkel" (I 91 f.) - entstanden im Juli 1899 - nimmt Metrum, Reimform, Reimworte und einzelne Wendungen aus Goethes Gedicht "An den Mond" auf (I 375,10-25), es erscheint im Goethe-Heft der "Jugend" vom August 1899. Für spätere Drucke im eigenen Weikkontext ändert Hofmannsthal den Anklang des Verses "Löset mir die Seele ganz" an Goethes "Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz" zu "Öffnet mir die Seele ganz"

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Andreas Thomasberger

und entfernt sich damit deutlich von einer besonders suggestiven Übereinstimmung. Entsprechendes gilt für Rückbezüge innerhalb des eigenen Werkes. Ein anderes Problem, das die Erläuterung erörtern muß, stellen lateinische Titel dar, die mit aller Wahrscheinlichkeit von Hofmannsthal selbst gebildet wurden. Hier muß die Nichtnachweisbarkeit eines Zitats weitestgehend überprüft werden und die letzlich nicht aufzugebende Unsicherheit Ausdruck finden (I 59, II 223, fingiertes Zitat: II 234). Während also die zu erläuternden Anspielungen und nachzuweisenden Zitate hinsichtlich ihrer Auswahl und der Beschreibung der Vermittlungsschritte begründet sein sollten in der Kenntnis des Nachlasses, die den Lesern nicht in der Weise möglich sein kann wie den Edierenden, kann andererseits der Bezug auf eine Quelle durch die Interpretation des mit der Ausgabe vorliegenden Textes nahegelegt werden.Während die Erläuterung Hinweise zum Text aus Kenntnis des Gesamtfundus des Überlieferten gibt, 6 geht die Interpretation vom Text aus und trägt ein Verständnis des Gedichts vor - um die Differenzierung des Begriffs Interpretation im Sinne Hans Zellers aufzugreifen. 7 Zwei Beispiele sollen andeuten, was ich unter Textinterpretation, die nicht in die Erläuterungen gehört, verstehe. Wenn im Gedicht "Ein Knabe" (I 58) zweimal "Hyazinthen" (Vers 3 und 18) genannt sind, scheint dies kein Anlaß, auf die "Metamorphosen" Ovids hinzuweisen, wo im 1 O.Buch der Mythos von Hyacinthus erzählt wird (Verse 162-219). 8 Erst die Deutung der sinnkonstituierenden Bezüge des ganzen Gedichts, die die Bedeutung der einzelnen Stelle im Kontext erarbeitet, kann zeigen, daß in der zweiten Hälfte, in der Geschichtlichkeit gestaltet wird, die mythische Geschichte genau aufgenommen ist, wenn es heißt: "[...] Hyazinthen hatte er im Haar, / Und ihre Schönheit wußte er, und auch, / Daß dies der Trost des schönen Lebens war." (Verse 18-20). Daß dieses Wissen das Wissen um zeitlich zurückliegende Bedeutungen einschließt und damit die Kenntnis des Mythos, kann nur genau und in bezug auf die gesamte Textgeschichte begründet zur Diskussion gestellt werden, 9 nicht aber Anlaß zum Hinweis auf eine Anspielung geben. Die Verse 21-24 des Gedichts "Botschaft" lauten: "Zwei Jünglinge bewachen seine (des Gartenturms, A.T.) Thür, / In deren Köpfen mit gedämpften Blick / Halbabgewandt ein ungeheures / Geschick Dich steinern anschaut dass Du schweigst:" (I 78). Die Geschichte der Textstelle zeigt, daß zunächst von "Zwei fre[md] und xx wie Gefesselte", dann von "Zwei [...] von riesenhafter Trauer und gefesselt" (I 338,2-3) die Rede war. Dies muß nicht auf eine Quelle verweisen, auch wenn Assoziationen sich einstellen sollten. Wieder zeigt erst die Gesamtinterpretation, daß an dieser Stelle des Gedichts notwendig von Kunstgestalten die Rede sein muß, und die Kenntnis der Quelle für Hofmannsthals Vorstellung von den Werken Michelangelos zu dieser Zeit, die Monographie

Den Begriff 'Fundus' übernehme ich von Hermann Klings: Historisch-kritische Methode und die Idee des Zwecks. Editorische Tätigkeit als Wissenschaft. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd.38, 1984, Heft 1, S.62. Hans Zeller: Befund und Deutung. In: Texte und Varianten. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S.79. Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text hrsg. von Erich Rösch. München 9 1980, S.366-371. Vgl. dazu das 8. Kapitel meiner Arbeit: Thomasberger 1992, vgl. Anm.5.

Über die Erläuterungen zu Hqfmannsthals Lyrik

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von Hermann Knackfuß (dazu: 1256,30 - 257,5), gibt Anlaß, hier an die beiden Sklaven zu denken. Auch dies kann nur mit ausführlicher Begründung zur Diskussion gestellt werden 10 und nicht in einer Erläuterung als Quellennachweis Aufnahme finden. Während die Begründung für eine mögliche Erläuterung demnach auf dem genauen Nachweis beruhen soll, daß der Autor die Quelle zum fraglichen Zeitpunkt kannte und wie vermittelt sie ihm gegenwärtig war, kann die Interpretation des Textes aufgrund der Bedeutung der Bezüge, die das Werk konstituieren, begründen, daß an einer bestimmten Stelle die Aufnahme einer Quelle vorliegt; diese Begründung wird aber ausschließlich von der Interpretation argumentierend vorgetragen.

Erläuterungen oder Kommentar? Die bisher dargestellten Unterschiede in der Begründung für die Aufnahme eines Hinweises in eine Erläuterung einerseits und für den Zusammenhang der Interpretation andererseits scheinen der Unterscheidung von positiv fundierter Einzelstellenerläuterung und hermeneutisch reflektiertem "Vollkommentar"11 zu entsprechen. Ich denke aber, daß zurückhaltende Erläuterungen, zurückgehalten von dem im überlieferten Fundus Nachweisbaren, nicht Ausdruck von Positivismus sein müssen. Im Gegenteil schiene mir ein übergreifender Kommentar innerhalb der Kritischen Ausgabe in bezug auf Hofmannsthals Lyrik gerade aus methodischen Erwägungen zur Erkenntnisbedeutung äußerst problematisch. Sollte dieser Kommentar nicht den "Erkenntnisprozeß" einseitig initiieren, 12 sondern wenigstens diejenigen Konstituentien dieses Prozesses zutreffend und vollständig benennen, die einen möglichen Begriff des jeweiligen Gedichts erarbeiten lassen könnten, hätte er auf alle Relationen und Momente einzugehen, die sinnkonstituierend wirksam sind. So wäre z.B. zu kommentieren, in welcher Weise Hofmannsthal mit negativen Anspielungen auf Tradiertes arbeitet, da in jedem Gedichte auch die Dinge mitspielen, die nicht in ihm vorkommen, indem sie rings um das Ganze ihre Schatten legen ("Shakespeares Könige und grosse Herren" 1905).13

Die Gattung der Lyrik und näherhin eine Lyrik, die in hermetischer Konzentration erscheint, verlangt stets die Berücksichtung aller sinnkonstituierenden Elemente, wenn nicht von etwas die Rede sein soll, das mit der Sprachgestalt des Gedichts nur wenig zu tun hat. Dies wäre nicht ein unzureichender, sondern ein falscher Kommentar, der den problematischen Charakter der Sache des Gedichts verstellte. Aus diesen Gründen scheint es mir nicht zufällig, daß die Forderung eines übergreifenden Kommentars durchweg mit Beispielen begründet wird, die anderen Gattungen oder Textsorten entnommen

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Dazu das 12. Kapitel in Thomasberger 1992, vgl. Anm.5. Begriff nach Manfred Windfuhr: Zum Verständnis von Kommentar und Genese. In: editio 5, 1991, S.173. Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme der Kommentierung. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller-Seidel. Boppard 1975, S.46. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I. 1891-1913. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S.37.

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Andreas Thomasberger

sind, wie Briefen, 14 Tagebüchern 15 oder theoretischen Schriften, 16 nächstenfalls einer so explizit Zeitbezüge aufweisenden Lyrik wie der Heines. 17 Die Kriterien der dafür zweifellos erforderlichen Kommentierung können nur sehr begrenzt für eine Lyrik wie die Hofmannsthalsche Geltung beanspruchen. Ein weiteres Problem stellt der Einbezug "Der Forschungsergebnisse und die Transparenz auf den Stand der wissenschaftlichen Diskussion" dar, 18 wenn ein Werkkomplex erstmals vollständig der Öffentlichkeit vorgelegt wird und deshalb Forschungsergebnisse, die auf seiner Kenntnis beruhen, nicht vorliegen können. Hier muß die Edition sich als grundlegende Anregung des wissenschaftlichen Gesprächs verstehen, und deshalb bedarf sie in erster Linie eines Bewußtseins der Angemessenheit des von ihr vorzulegenden. 19 Da in unserem Sprachraum nicht davon die Rede sein kann, daß [d]ie vielen Leserbriefe an die Redaktion, die in der Presse erscheinenden Rezensionen und Kritiken zu der Veröffentlichung zeigen, in welchem Umfang textologische Probleme heutzutage den sowjetischen Leser fesseln, der sich lebhaft für solche scheinbar speziellen Probleme wie [...] den Charakter der Anmerkungen [...] interessiert,20

muß der Charakter der Erläuterungen unterschieden werden von dem der Gesamtinterpretation. Angemessenheit kommt dem Charakter der Erläuterungen nicht zu, wenn sie unbegründet Assoziationen enthalten und den Lesern, die sich nur selten als Gesprächspartner zeigen, willkürlich Richtungen vorgeben und andere Möglichkeiten verstellen. Angemessen der Kritischen Ausgabe, die den Text aufgrund der Interpretation der Handschriften und Drucke vorlegt, scheint mir in bezug auf die Lyrik Hofmannsthals und die vergleichbarer Autoren eine Kommentierung, die in Form von asketischen Erläuterungen Bedeutungsaspekte nennt, die nachweislich im Zeitraum der Textgeschichte im Horizont des Autors lagen und deshalb als erkenntniserweiternde Hinweise zum Text, der Grundlage der Werkinterpretation, mit Recht hinzutreten können.

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Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben. In: Probleme der Kommentierung, vgl. Anm.12, S. 13-32. Marita Mathijsen: Commentary in Editions of Historical Texts. In: editio4, 1990, S.183-194. Ulrich Joost: Der Kommentar im Dienst der Textkritik. In: editio 1,1987, S. 184-197. Helmut Koopmann: Für eine argumentative Edition. In: Edition et Manuscripts. Probleme der ProsaEdition. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern e.a. 1987, S.45-57. Höchst interessante und einleuchtende Überlegungen bei Gerhard Kluge: Über die Notwendigkeit der Kommentierung kleinerer Regie- und Spielanweisungen in Schillers frühen Dramen. In: editio 3,1989, S.9097. Windfuhr 1991, vgl. Anm.ll, S.171-177. Ricklefs 1975, vgl. Anm.12, S.69. Vgl. Jochen Schmidt: Die Kommentierung von Studienausgaben. In: Probleme der Kommentierung, vgl. Anm.12, S.82. V.S. Necaeva: Die Entwicklung der sowjetischen Textologie im Bereich der neueren russischen Literatur. In: Texte und Varianten, vgl. Anm.7, S.332.

Eberhard Sauermann I Hermann Zwerschina

Zum Kommentar der neuen historisch-kritischen Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Georg Trakls1

Vorbemerkung Unter Kommentar einer wissenschaftlichen Ausgabe verstehen wir alles, was die Textdarstellung und den deskriptiven Teil der Überlieferung begleitet, also auch Entstehungsgeschichte, diskursive Textkritik, Textgeschichte, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte.2 Wir planen Kommentar-Kapitel, die für das Gesamtwerk Trakls gelten (z.B. bzgl. der Arbeitsweise Trakls); andere Abschnitte des Kommentars werden sich auf eine Gruppe von Werken beziehen (z.B. bzgl. des biographischen Hintergrunds und des kulturellen Umfelds der im Herbst des Jahres 1913 entstandenen Gedichte); die EinzelstellenErläuterungen schließlich werden vor allem Orts- und Eigennamen sowie 'Zitate' aus Texten Trakls und anderer Autoren betreffen, wobei wir möglichst alle Übernahmen von Hölderlin und Rimbaud zu erfassen suchen. Wir versuchen der Forderung zu entsprechen, daß ein Kommentar das beigebrachte dokumentarische Material vermitteln sollte, indem er auf dessen Erkenntnis- und Interpretationspotenzen hinweist. 3 Wir haben die Kommentierung von Titelfiguren im Werk Trakls nicht zuletzt deshalb zum Thema unseres Referats gewählt, weil diese für ihn selbst von besonderer Bedeutung waren: bei seiner einzigen öffentlichen Lesung am 10.12.1913 in Innsbruck wählte er neben "Die junge Magd" noch die Gedichte "Helian", "Sonja", "Afra", "Sebastian im Traum", "Kaspar Häuser Lied" und "Elis".

1. Die Erläuterungen zu Trakls Titelfiguren Informationen zu den Titelfiguren im Werk Trakls wollen wir den Benützern der neuen HKA in den Einzelstellen-Erläuterungen mitteilen. Bei Trakl kommen folgende, in vier Gruppen zu ordnende Titelfiguren vor: a) historische Personen, die der durchschnittlich gebildete Leser als solche erkennt, nämlich Karl Kraus, Novalis und Kaspar Hauser; b) Figuren, die der unvoreingenommene Leser vorerst nur als geläufige Vornamen zur

Diese in Voibereitung befindliche Faksimile-Ausgabe soll im Verlag Stroemfeld/ Roter Stern (Basel, Frankfurt) erscheinen. Vgl. Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben. In: Probleme der Kommentierung. Hrsg. von Wolfgang Frühwald u.a. Boppard 197S (= Kommission für Germanist. Forschung, Mitteilung I), S.13-32, hier S.16 u. 23. Vgl. Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. Ebda. S. 33-74, hier S.51 u. 61ff.

Sauermann / Zwerschina

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b) Figuren, die der unvoreingenommene Leser vorerst nur als geläufige Vornamen zur Kenntnis nehmen wird: Angela, Johanna, Sonja und Sebastian; sie könnten sich z.T. als legendäre oder literarische Figuren herausstellen; c) Figuren, die vom Leser primär als literarische aufgefaßt werden dürften: Afra, Melusine, Luzifer, Sonja, Sebastian, vielleicht auch Elis; sie könnten sich z.T. als legendäre oder mythische Figuren herausstellen; d) Figuren, die der Leser in keiner der bisherigen Kategorien unterbringen dürfte: Helian, vielleicht auch Elis. Es zeigt sich, daß das gleiche editorische Problem, nämlich die Titelfiguren im Sinne eines Kommentars zu erläutern, verschiedene Kommentierungsverfahren erfordert, und zwar deshalb, weil man sich den verschiedenen Figuren mit unterschiedlichen Fragestellungen nähert. Die Frage 'Wer ist mit diesem Namen gemeint?' ist im Falle von "Helian" sinnvoll, im Falle von "Karl Kraus" wäre der Benutzer peinlich berührt. Im letzteren Fall wäre die Fragestellung 'In welchem Verhältnis stand Trakl zu Karl Kraus?' eine angemessene. Im Falle des Gedichts "Sonja" ist die Frage sinnvoll, ob damit die Figur aus Dostojewskis "Schuld und Sühne" gemeint sei, da ja Trakl als Liebhaber russischer Literatur, namentlich der Werke Dostojewskis, bekannt ist. Im Gedicht "Afra" könnte die entsprechende Frage lauten, ob die von der Prostituierten zur Heiligen gewandelte Afra gemeint sei oder das Altarbild dieser Heiligen, das Trakl möglicherweise in Thaur, einer kleinen Vorortgemeinde Innsbrucks, besichtigt hat.

2. Der Kommentar zum Gedichttitel "Karl Kraus" Im Falle des Gedichts "Karl Kraus" gehen wir von der Fragestellung aus: 'In welchem Verhältnis stand Trakl zu Kraus zum Zeitpunkt, als dieses Gedicht entstand?'. Ein späterer Zeitpunkt interessiert uns hier nicht, da eine diesbezügliche Information nichts für das Verständnis dieses Gedichts leisten würde. Das Faktische ist schnell zusammengefaßt, die Beziehung zwischen Kraus und Trakl läßt sich folgendermaßen charakterisieren: Es ist nur ein Treffen bezeugt; die gegenseitige Wertschätzung betraf jedenfalls die literarische Tätigkeit des jeweils anderen, Trakl hatte Grund zur Dankbarkeit, vielleicht fühlte er sich als 'collega minor'. Die EinzelstellenErläuterung in der neuen HKA könnte folgendermaßen lauten: Karl Kraus (1874-1936): erster Versuch Trakls, mit Kraus Koniakt aufzunehmen, im Juli 1910; Kraus reagierte wahrscheinlich nicht darauf. Persönliches Kennenlernen im August 1912 in Innsbruck. Am 1. Oktober 1912 Veröffentlichung des Kraus zugeeigneten Gedichts "Psalm" II im "Brenner", als Dank dafür Kraus' Aphorismus über die Siebenmonatskinder in der "Fackel" vom 7. November 1912. Ende März 1913 verwendete sich Kraus persönlich für Trakl bei Kurt Wolff, dem späteren Verleger von Trakls Gedichtbanden. Für eine persönliche Freundschaft zwischen Kraus und Trakl gibt es bis Juni 1913, als das Gedicht "Karl Kraus" erschien, keinen Hinweis. Quellen: Trakls Briefe 15 und 37, Röck-Tagebuch 1166.

An dieser Stelle des Kommentars werden die Umstände, der Anlaß für Trakl, dieses Gedicht zu schreiben, nicht genannt; diesbezügliche Informationen erhält der Leser im Abschnitt 'Entstehungsgeschichte': das Gedicht stellt Trakls Beitrag zur "Rundfrage über Karl Kraus" im "Brenner" vom 15. Juni 1913 dar. (Die Rundfrage inszenierte Ludwig von Ficker nach dem 29. März 1913, dem Datum einer Kraus-Lesung in München, als

Zum Kommentar der neuen historisch-kritischen Ausgabe Georg Trakls

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Reaktion auf eine in der Münchner Wochenschrift "Zeit im Bild" veröffentlichte Verunglimpfung von Kraus.)

3. Der Kommentar zum Gedichttitel "Helian" War es im Falle des Gedichts "Karl Kraus" die Frage nach der Art der Beziehung zwischen Kraus und Trakl, so könnte im Falle des Gedichts "Helian" die Frage 'Wer ist mit Helian gemeint?' von Interesse sein. Die Antwort auf diese Frage soll unmittelbar vor der Darstellung der Genese des Gedichts stehen, da wir davon ausgehen, daß der betreffende Benutzer an dieser Stelle eine Antwort auf diese Frage erwartet. Erfährt er hier, daß "Helian" sich vom altsächsischen "Heliand" herleite, oder daß der Name eine Verschlüsselung des christlichen "Heiland" sei oder die Gestalt Christi des Heilands vermischt mit dem Ich Trakls meine, oder daß "Helian" eine Traklsche Spielart zu (pauvre) Lelian, dem Anagramm Paul Verlaines darstelle, so wird er das Gedicht jeweils mit einem ihn einschränkenden Vorwissen lesen: sowohl Zustimmung als auch Skepsis beeinflussen ja im Sinne jeweiliger Selektion die Wahrnehmung. Die Aufgabe des Kommentators bestünde darin, die 'richtige' Deutung des Namens "Helian" an dieser Stelle des Kommentars anzuführen. Wir können uns nun aber für keine der in der Trakl-Forschung angebotenen Lösungen entscheiden: eine Überprüfung ergibt nämlich, daß diese großteils weltanschaulich bedingt sind. Wir selber haben aber keine bessere Lösung anzubieten! Und nun meinen wir, daß dem von uns stillschweigend vorausgesetzten Erklärungsbedürfnis und der Sache am ehesten gedient ist, wenn wir an dieser Stelle des Kommentars unser Unwissen eingestehen, sodaß die EinzelstellenErläuterung folgendermaßen lauten könnte: Helian: männlicher, wahrscheinlich von Trakl erfundener (Vor-)Name. Rekurrenten (außer in "Helian"): HKA II 106,24 (Sept.1912); I 421,19, 423,54, 423,58 (Dez.1912); I 424,9 (Jan.1913); I 353,6 (Juni/Juli 1914).

Dem Benützer der HKA kann eine eindeutige Namen-Bedeutung-Relation nicht angeboten werden, weshalb ihm an dieser Stelle die Rekurrenten des Wortes "Helian" in Trakls Gesamtwerk genannt werden, sodaß er in die Lage versetzt wird, zumindest eine 'Bedeutungs-Richtung' vorzufinden. Die Leistung eines solchen Kommentars bestünde in folgenden Möglichkeiten: a) Eine dem Leser vorschwebende Bedeutung des Namens "Helian" könnte unmittelbar auf ihre Tragfähigkeit in den Rekurrenten überprüft werden. b) Wäre eine solche eindeutige Auslegung des Namens dadurch ausgeschlossen, böte sich dem Leser die Möglichkeit, Assoziationen an den Namen "Helian" zu knüpfen, deren Art und Richtung durch die Rekurrenten kanalisiert wären. c) Die Rekurrenten könnten erweisen, daß Trakl den Namen immer dann verwendete, wenn es ihm um das Ausdrücken besonderer Antagonismen in einer Figur ging (z.B. Antike vs. christliches Abendland: ein Spannungsfeld, das gerade im Zusammenhang mit "Helian" in der Forschung ausführlich diskutiert wurde und wird). d) Die Aufzählung der Rekurrenten erleichtert es dem Leser auch, außertextliche Überlegungen anzustellen, etwa folgender Art: Sind die Rekurrenten einer bestimmten

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Schaffensperiode Trakls zuzuordnen? Korrespondieren die Entstehungszeiten mit bestimmten biographischen oder anderen Umständen? Kommen die Rekurrenten nur in "Brenner"-Gedichten vor, aktivierte der Name also einen dem "Brenner'-Kreis eigenen 'Code'? Die oben erwähnten Deutungsversuche des Namens "Helian" in der bisherigen TraklForschung sollten aber dem Leser nicht verschwiegen werden; der Kommentarteil, der sich mit der Rezeption des Gedichts befaßt, scheint uns der geeignete Ort dafür zu sein.

4. Der Kommentar zum Gedicht "Kaspar Hauser Lied" Der Bedeutungsspielraum von Trakls "Kaspar Häuser Lied" kann unseres Erachtens nur dann erschlossen werden, wenn Trakls Wissensstand und Erkenntnisinteresse in bezug auf die Kaspar-Hauser-Geschichte bzw. -Rezeption rekonstruiert, aber auch der Wissensstand seiner Zeitgenossen skizziert werden; letztlich geht es um die Frage, inwiefern Trakl die Kaspar-Hauser-Geschichte bearbeitet, Bekanntes verdunkelt oder Neues eingebracht hat. Wer das "Kaspar Hauser Lied" liest, tut dies unweigerlich auf der Folie seiner Kenntnis der Kaspar-Hauser-Geschichte. Daß Trakl individuellen Formen des 'KasparHauser-Mythos' Vorschub geleistet hat, zeigen schon der Titel und die Verwendung der Er-Form für die handelnde (bzw. erduldende) Person: es ist nicht ein Lied des Kaspar Häuser, sondern eher ein Lied über Kaspar Hauser oder gar nur ein Lied, das an jemanden wie Kaspar Häuser erinnert. In der alten historisch-kritischen Trakl-Ausgabe4 wird das "Kaspar Hauser Lied" wie alle anderen Texte nicht erläutert. In der Trakl-Forschung findet sich die Auffassung, der Text des "Kaspar Hauser Lieds" könne aus sich selbst und nicht erst nach Kenntnisnahme der sog. Parallelen oder der Entstehungsgeschichte zureichend verstanden werden; dies geht Hand in Hand mit der Behauptung, die Kaspar-Hauser-Geschichte werde im "Kaspar Hauser Lied" niemals wörtlich genau zitiert, und führt schließlich doch zur Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte dieses Gedichts, freilich unter Heranziehung einer falschen Quelle ("Ich will ein Reiter werden" stamme aus Eichendorffs "zerbrochenem Ringlein": "Ich möcht' als Reiter fliegen/Wohl in die blut'ge Schlacht [...] /Ich möcht' am liebsten sterben") und unter Berufung auf die verfälschte biographische Situation Trakls (dieser Vers sei im Zusammenhang mit Trakls Entschluß vom Herbst 1913 zu sehen, die Reaktivierung beim Militär [Kavallerie?] zu betreiben;5 damals betrieb Trakl jedoch seine Anstellung im Arbeitsministerium / Sanitäts-Fachrechnungsdepartement). In der Trakl-Forschung findet sich auch die Auffassung, jedes Zuviel an Kenntnis der historischen Verhältnisse, d.h. der Lebensumstände der Titelfigur, könne eher schaden als nützen und lenke vom Wesentlichen ab; gleichzeitig wird jedoch paraphrasiert, Kaspar

Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Hist.-krit. Ausgabe. 2 Bde. Hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar. Salzburg 1969 bzw.2„ erg. Aufl. 1987. Emst Erich Metzner: Die dunkle Klage des Gerechten poisie pure? Rationalität und Intentionalität in Georg Trakls Spätwerk, dargestellt am Beispiel "Kaspar Hauser Lied". In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 55, 1974, S.446-472, hier S.452,454 u. 462.

Zum Kommentar der neuen historisch-kritischen Ausgabe Georg Trakts

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Hauser trete nicht ein in die Zimmer der Träumenden, habe noch den Schnee ins kahle Gezweig fallen sehen, sei am 14. Dezember vom Dolch des Mörders im Schneesturm getroffen worden und am 17. Dezember gestorben,6 ohne daß zwischen dem historischen Kaspar Hauser und dem "Er" in Trakls Gedicht unterschieden wird. Oder die Auffassung, weil das "Kaspar Hauser Lied" in großen Zügen dem Leben Kaspar Hausers folge, erhalte es einen fixierbaren zeitlichen Ablauf und werde in Einzelheiten interpretierbar, deren Festlegung auf einen bestimmten Sinn in anderen Gedichten Trakls sehr problematisch wäre7 - eine Auffassung also, durch die Trakls nicht zuletzt in den syntaktischen Ambivalenzen greifbares Bemühen, die Festlegung auf einen Sinn gerade zu verhindern, negiert wird. An Faktoren, die den soziokulturellen Hintergrund der im Herbst 1913 entstandenen Werke Trakls kennzeichnen, wären in Hinblick auf das "Kaspar Hauser Lied" zu nennen: Trakls Arbeitslosigkeit, sein Wunsch, ins Gebirge zu gehen, sein Bedauern, schon wochenlang ohne Nachricht von Freunden zu sein, sein Plan, nach Galizien 'auszuwandern'; ferner seine intensivierte Beschäftigung mit Hölderlins späten Hymnen,8 seine Bekanntschaft mit Legenden, die gehäufte Verwendung von "Legende" und erstmalige Verwendung von "Sage" in seinem Werk sowie die damalige Entstehung der legendenhaften bzw. mythischen Gedichte "Afra", "Sebastian im Traum", "Kaspar Häuser Lied" und "An Novalis". Nicht außer acht bleiben sollte schließlich das LyrikVerständnis des "Brenner"-Herausgebers und Trakl-Mäzens Ludwig v. Ficker: der Dichter als Seher, als Verkünder eines neuen Menschentums; die wahren Gedichte seien immer die, die sich nicht erklären lassen.9 Unter 'Entstehungsgeschichte' wären folgende 7 Punkte zu berücksichtigen: 1. Informationen zur Biographie Kaspar Hausers und Kaspar-Hauser-Rezeption, u.a.: am 26.5.1828 taucht ein ca. 16jähriger Knabe in Nürnberg auf, der kaum sprechen kann; wenn er Wünsche oder Empfindungen ausdrücken will, sagt er (allerdings im Dialekt): "Ich möchte ein solcher Reiter werden wie mein Vater einer gewesen ist"; Anfang 1832 erscheint Feuerbachs Studie "Caspar Hauser Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen"; am 14.12.1833 fügt ein Unbekannter Kaspar Häuser mit einem Messer schwere Verletzungen zu, an denen er drei Tage später stirbt - Informationen also, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest bei literarisch Interessierten Allgemeingut waren. Hier sollte auch auf Parallelen und Unterschiede zum "Kaspar Hauser Lied" hingewiesen werden, etwa in der Art: was Trakl an der Kaspar-Hauser-Geschichte nicht so interessiert hat, daß er es in sein "Kaspar Hauser Lied" übernommen hätte, sind die Aspekte

Herbert Thiele: Das Bild des Menschen in den Kaspar-Hauser-Gedichten von Paul Verlaine und Georg Trakl. Bemerkungen zu einem Gedichtvergleich im Deutschunterricht der Prima. In: Wirkendes Wort 14, 1964, S.351-356, hier S.351 u. 354. Albert Hellmich: Klang und Erlösung. Das Problem musikalischer Strukturen in der Lyrik Georg Trakls. Salzburg 1971 (= Trakl-Studien 8), S.143. Wahrscheinlich anhand der Ausgabe: Hölderlins Werke in vier Teilen. Hrsg. von Marie JoachimiDege. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart (1908) Vgl. Will Schellers Beiträge über Lyrik im "Brenner" vom 15.4. und 1.5.1913 sowie Fickers Änderungsvorschlag.

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'vornehme Abstammung', 'Gefangenschaft', 'Sozialisation', 'Experimente', 'Bosheit', 'Betrug'; hingegen kann man 'Reinheit', 'Sprachlosigkeit', 'Außenseitertum', 'Verfolgung' und 'Ermordung' im Gedicht gespiegelt sehen. 2. Der Hinweis auf Trakls Lektüre der Rimbaud-Übertragung K. L. Ammers (Leipzig 1907), wo in der Einleitung Rimbaud und in der Biographie Verlaine mit Kaspar Häuser gleichgesetzt werden, auf Trakls Lektüre der Verlaine-Anthologie mit dem Gedicht "Gaspard Häuser chante" (Berlin-Leipzig 21907) und von Wassermanns Roman "Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens" (Stuttgart 1908). 3. Der Hinweis auf das verschollene Puppenspiel "Kaspar Hauser", das Trakl in der ersten Hälfte 1910 oder früher verfaßte, sowie auf die Kaspar-Hauser-Reminiszenzen in seinem "Dramenfragment" vom Frühjahr 1914, das in Teilen auf eine Vorstufe aus der Zeit um 1910 zurückgeht. 4. Der Hinweis auf Trakls Brief 29 (vor dem 21.4.1912) mit der Aussage: "Wozu die Plage. Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben", und die Verbindung mit seiner Aussage, ein fremder Wille werde ihn vielleicht ein Jahrzehnt hier (im Gamisonsspital in Innsbruck) leiden lassen. 5. Der Hinweis auf eine Stelle in Röcks Tagebuch (14.12.1912), "Trakl zu früh geboren", und den möglichen Bezug zu Kraus' auf Trakl gemünzten Vergleich mit Siebenmonatskindern ("Die Fackel", 7.11.1912) und zur ersten Zeile der letzten Strophe von Verlaines "Gaspard Häuser chante" ('Bin ich zu früh, bin ich zu spät geboren?'). 6. Der Hinweis auf das Urteil Martina Wieds über Wassermanns Kaspar-Hauser-Roman im "Brenner" (vom 1.5.1913), hier werde eine rätselhafte Existenz zu einem Menschheits-Symbol im Sinne Rousseaus gestaltet. 7. Der Hinweis auf Kaspar-Hauser-Literatur in der Bibliothek Fickers, nämlich: Antonius von der Linde: "Kaspar Hauser. Eine neugeschichtliche Legende" (1887); Kurt Martens: "Kaspar Hauser. Drama" (1903); Jakob Wassermann: "Caspar Häuser oder Die Trägheit des Herzens" (Daumer über Kaspar Hauser: "Es ist wie eine uralte Legende, dies Emportauchen eines märchenhaften Geschöpfs aus dem dunkeln Nirgendwo; die reine Stimme der Natur tönt uns plötzlich entgegen, ein Mythos wird zum Ereignis"). Unter 'Einzelstellen-Erläuterungen' wäre auf alle Übereinstimmungen des "Kaspar Hauser Lieds" mit seinen Quellen und auf etwaige Abweichungen davon hinzuweisen, damit der Leser Trakls Arbeit mit bestimmten Texten kennenlemen kann; z.B.: "Er wahrlich ... des Baums" (V.3-6)] Vgl. Hölderlins "Der Rhein": "[Wenn Rousseau] die Last der Freude bedenket,/Dann scheint ihm oft das beste,/[...] im Schatten des Walds,/In frischer Grüne zu sein,/[...] bei Nachtigallen zu lernen. //Und herrlich ist's, [...] abends nun/Dem milderen Licht entgegenzugehn" (V.158ff.). "Die dunkle Klage seines Munds" (V.l 1)] Vgl. Rimbauds "Paris lebt auf': "Im Mund des Dichters wird das Wort zur wilden Klage" (V.65); vgl. Wassermanns "Caspar Hauser": von Caspar Häuser kamen nur wenige Worte, bald klagend, bald freudig (S.8); "Caspars wehmütige Klage" (S.223). "Ich will ein Reiter werden" (V.12)] Vgl. Wassermanns "Caspar Hauser": Caspar Hauser: "Ich möcht' ein solcher Reiter werden wie mein Vater" (S.24) womit Wünsche und Empfindungen ausgedrückt werden.

Zum Kommentar der neuen historisch-kritischen Ausgabe Georg Trakls

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"Ungeborner" (V.22)] Vgl. Verlaines "Gaspard Hauser chante": "Bin ich zu früh, bin ich zu spät geboren?" (V.13); Vgl. Wassermanns "Caspar Hauser": Caspar: "ich hab' ja früher auch nicht gelebt" (S.417). Im Hinblick auf die Behandlung des "Kaspar Hauser Lieds" in der Trakl-Forschung möchten wir abschließend festhalten: Ein quellenkritischer Kommentar sollte sich abgrenzen von jener 'Interpretation', "der die vermeintliche Aktualität des Textes nur als Vorwand des Sich-Selber-Wiederfindens im Vergangenen, letztlich als Anlaß intellektueller Selbsterbauung dient"; 10 deshalb halten wir die "Repräsentanz der Forschungsergebnisse" nicht für die wichtigste Qualität eines Kommentars, 11 ja eine solche Forderung jedenfalls bei einer Trakl-Ausgabe geradezu für einen Irrweg: hieße das doch, die typischen, eben 'repräsentativen' Deutungen des "Kaspar Hauser Lieds", auch wenn sie in sich widersprüchlich sind oder gar den Text außer acht lassen, darlegen und zugleich widerlegen zu müssen.

Nachtrag12 Was in Trakls Werk von uns kommentiert werden wird und was nicht, wird selbstverständlich von unserer subjektiven Sichtweise und Lektüreerfahrung abhängen. An einem Beispiel sei dargelegt, wo für uns die Grenze zwischen der 'primären Dunkelheit' eines poetischen Textes und seiner 'sekundären Dunkelheit' verläuft, wobei (nach Martens) nur letztere erhellt werden sollte: Beim Gedicht "Grodek" wird es sinnvoll sein, unter 'Entstehungsgeschichte' und 'Textgeschichte' auf die Schlacht beim galizischen Städtchen Grodek (8.-11.9.1914) und auf Trakls Bericht über seinen Einsatz in einer Sanitätskolonne (in "Erinnerung an Georg Trakl") hinzuweisen, ferner die Entstehungszeit der verschollenen 1. Fassung (etwa zwischen 10.9. und 6.10.1914, jedenfalls noch "im Feld") und der laut Ficker am Schluß verkürzten 2. Fassung (zwischen 25. und 27.10.1914) anzugeben. Unter 'Einzelstellen-Erläuterungen' wird beim Lemma "Grodek" (V.l) auf diese Ausführungen verwiesen werden. Beim Lemma "Schwester" hingegen ("Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain, / Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter", V. 13f.) werden wir uns jeglichen Verweises auf Trakls Schwester Margarethe Langen geb. Trakl enthalten, weil "Schwester" im Werk Trakls nicht eine Chiffre für Gretl darstellt. Wir werden aber auch keinen Verweis auf die Sage um Ödipus' Tochter Antigone bringen - erstens weil aus dem Kontext ein Bezug zum Kern dieser Sage (der normwidrigen, aber ethisch gerechtfertigten Beerdigung des Polyneikes durch seine Schwester Antigone) keineswegs zwingend ist und zweitens weil ein Beleg für eine Beschäftigung Trakls mit dieser Sage nicht erbracht werden kann. (Daher wäre die Möglichkeit, im Bild der "Schwester" Trakls Sehnsucht nach Gretl zu vermuten, oder die - in Wendungen wie "zürnender Gott" V.9 10

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Hans-Joachim Mähl: Probleme der quellenkritischen Kommentierung, behandelt an Textbeispielen der Novalis-Edition. In: Die Nachlaßedition. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern u.a. 1979 (= Jahrbuch für Internat. Germanistik A/4), S.103-118, hier S.l 16. Ricklefs 1975, vgl. Anm.3, S.69. Diese Ergänzung halten wir aufgrund der Referatsdiskussion (vor allem mit Kanzog und Zeller) für nötig.

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bzw. "Altäre ... Flamme" V.16f. - 'Signalwörter' für einen Bezug zum Geistesleben der Antike zu sehen oder aus Trakls vermutlicher Lektüre von Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" oder aus seiner bewiesenen Lektüre von Hölderlins Werk, das auch das Stück "Antigonä" enthält, auf Trakls Kenntnis der Antigone-Sage zu schließen, Teil einer Interpretation und nicht Bestandteil des Kommentars.)

Bodo Plachta

Libretti: eine von den Editoren vergessene Gattung? Überlegungen zur kommentierenden Herausgabe von Operntextbüchem des 17. und 18. Jahrhunderts

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Beinahe jeder Beitrag, der sich einem Operntext aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nähert, beginnt mit der Klage, daß er ein von der Forschung nicht nur vernachlässigtes, sondern auch mit Argwohn betrachtetes Feld betritt. Definitorische Unsicherheiten, was ein Libretto denn eigentlich sei und Zweifel an der literarischen Qualität einer Gattung, die allein schon durch die landläufige Charakterisierung als "der Musick gehorsame Tochter" 1 in das Abseits einer literarischen Sonderform verbannt ist, bestimmten und bestimmen trotz einer Vielzahl neuerer Ansätze in der Librettoforschung 2 nach wie vor die Diskussion. Dieser Skepsis trägt auch ein Zitat aus Peter Hacks' erstmals 1975 veröffentlichtem "Versuch über das Libretto" Rechnung, in dem sämtliche Vorurteile und Vorbehalte zusammengefaßt sind und denen im Verlauf dieser Überlegungen ein Gegengewicht entgegengesetzt werden soll. Für Hacks stellt sich die Ausgangslage folgendermaßen dar; ein Libretto ist eine Menge von Worten und geht gelegentlich bei Reclam zu kaufen. Darüber hinaus sind kaum Bestimmungen dieses Dings unternommen worden. Für die Praxis ist es schlichtweg entweder ein eingestrichenes mittelmäßiges Stück oder das heimliche Laster eines Komponisten. Für die Theorie ist es derjenige Teil der Oper, auf den einzugehen nicht lohnt.3

Sicherlich hält diese lapidare Feststellung der Realität nicht stand. Dem deutschsprachigen Opernlibretto des 17. Jahrhunderts wurde von verschiedenen Seiten Beachtung geschenkt, auch dem Verhältnis von Text und Musik in Mozarts Opern ist ausführlich nachgegangen worden, doch das Hauptaugenmerk widmeten Literaturwissenschaftler 4 der romantischen Oper, dem äußerst dominanten Phänomen Richard Wagner mit seiner Konzeption des "Musikdramas" und schließlich der Literaturoper als Ergebnis der

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Brief Wolfgang Amadeus Mozarts an seinen Vater Leopold Mozart vom 13. Oktober 1781. Zitiert nach: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Hrsg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg. Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch. Bd.3. Kassel, Basel, Paris, London, New York 1963, S.167. Beispielsweise die in folgenden Sammelbänden enthaltenen Aufsätze: Oper und Opemtext. Hrsg. von Jens Malte Fischer. Heidelberg 1985, und Oper als Text. Romanistische Beiträge zur LibrettoForschung. Hrsg. von Albert Gier. Heidelberg 1986. In: Geschichte meiner Oper. München 1980, S.199-306, hier S.209. Vgl. hierzu den instruktiven Überblick bei Christoph Nieder: Von der "Zauberflöte" zum "Lohengrin". Das deutsche Opemlibreuo in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, S.2-6.

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Zusammenarbeit zwischen Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, um nur einige wenige prägnante Stationen zu nennen. Doch für das 17. und 18. Jahrhundert sind die negativen Befunde offensichtlich, nicht nur was eine übergreifende historische Beschreibung, sondern auch was die Verfügbarkeit des Materials außerhalb von Archiven angeht. Wer sich heute mit dem Operntextbuch als literarischer Gattung im 17. und 18. Jahrhundert beschäftigt, betritt daher editorisches "Niemandsland"5 und sieht sich mit einer unübersehbaren Zahl von in den verschiedensten europäischen und überseeischen Archiven überlieferten Libretti konfrontiert. Schätzungen, es hätten sich bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert 30.000 Operntexte überliefert, von denen wohl ein Drittel deutschsprachig seien, sind kaum zu hoch angesetzt. Eine Untersuchung, die herausgefunden hat, daß am Ende des 18. Jahrhunderts im Repertoire deutscher Bühnen fast 90% der dramatischen Texte Libretti waren, 6 bestätigt wiederum nicht nur den quantitativen Rahmen, sondern markiert ebenso deutlich die kulturhistorische Bedeutung des Operntexts als literarischer Gebrauchsform. Obwohl mit der Aufführung der ersten Oper, Ottavio Rinuccinis "Favola di Dafne" 1594 in Florenz (im Druck 1600), die innovative Absicht verbunden war, durch ein neues literarisches Genre die Tradition des antiken Dramas wiederzubeleben, fanden Oper und Operntext in kürzester Zeit ihren Weg in eine erneute Konvention. 7 Obwohl das Libretto dem Drama zugeordnet wird, sind Operntexte, die eine sorgfältig konstruierte und ausgearbeitete Intrige vorweisen können, in der Minderzahl. Die Opernkonvention forderte vielmehr von Anfang an eine "Abfolge von Krisensituationen",8 in denen die mit ihnen verbundenen Leidenschaften und Affekte wie Liebe, Eifersucht, Haß, Wut, Raserei, Milde oder Verzeihen als Antriebskräfte und Schlüsselelemente der Handlung für das Publikum jederzeit deutlich erkennbar waren und gleichzeitig Raum für opulente Arien sowie für die gesangskünstlerische Darstellung der Protagonisten schufen. Ein Libretto mußte auch bestimmten musikalischen Normen folgen; die Handlung mußte so angelegt sein, daß sich die Hauptakteure in eine gleichwertige Anzahl von Arien teilten oder daß jeweils am Aktschluß die Möglichkeit für größere Ensemble- oder Chorszenen gegeben war. Von ebenso präzisen Erwartungen war auch der Opernschluß bestimmt. Während die französische Operntradition gemäß der Orientierung an der klassizistischen französischen Tragödie einen tragischen Handlungsschluß favorisierte, galt für die italienische Oper und die ihr weitgehend folgende deutschsprachige Librettistik seit der Opernreform von Apostolo Zeno und Pietro Metastasio ein glücklicher Ausgang, ein "lieto fine", ebenso als verbindlich wie eine eingeschränkte Per-

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Klaus Günter Just: Musik und Dichtung. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Wolfgang Stammler. 1. überarb. Aufl. Berlin 1962, Bd.3, Sp. 699-750, hier Sp.699. Reinhart Meyer: Der Anteil des Singspiels und der Oper am Repertoire der deutschen Bühnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert. Kolloquium der Arbeitsstelle 18 Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster. Heidelberg 1981, S. 27-76, hier S.27. Vgl. Klaus Günter Just: Das Opernlibretto als literarisches Problem. In: Ders.: Marginalien. Probleme und Gestalten der Literatur. Bern, München 1976, S.27-45, hier S.28. Albert Gier: Einleitung. In: Gier 1986, vgl. Anm.2, S.10.

Libretti: eine von den Editoren vergessene Gattung?

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sonenzahl oder die Zuordnung von Arientypen zu spezifischen Affektdarstellungen. 9 Dieser formale Rahmen ließ sich erweitem und variieren, das Moment des Statuarischen wurde aber in der strengen Trennung von Rezitativ und Arie zum bestimmenden Element der Gattung schlechthin. Operntexte wurden in ihrer Mehrzahl nicht neu erfunden, ihre Verfasser griffen im Regelfall auf Vorlagen zurück, die in irgendeiner Weise bereits literarisch bearbeitet worden waren. 10 Aspekte wie Zeitgemäßheit oder die erfolgversprechende und bühnenwirksame Umsetzung eines Stoffes zählten für jeden Librettisten mehr als Originalität. So bildete sich schon im 17. Jahrhundert ein Kanon von operntauglichen Stoffen heraus, in deren Mittelpunkt mythologische, allegorische, historische und legendäre Persönlichkeiten standen. Allein Christoph Willibald Gluck hat in seinen sechs großen Reformopern sicherlich nicht ohne Absicht Libretti als Kompositionsgrundlage gewählt, die beliebte mythologischen Figuren wie Orpheus und Eurydike, Alkestis, Iphigenie, Paris und Helena oder den auf Ariost zurückgehenden Märchenkreis um Armida in den Mittelpunkt des Bühnengeschehens stellten. 11 Anna Amalie Abert hat es als ein "ungeschriebenes Gesetz" der Oper bezeichnet, daß mit solchen Stofftraditionen ein Hang zum "Außergewöhnlichen" verbunden war, mit dessen Hilfe sich besonders anschaulich moralisch oder ethisch vorbildliche Handlungsmuster erarbeiten ließen. Sogar im 'Verismo' der italienischen Oper des ausgehenden 19. Jahrhunderts war dieses Prinzip noch aktuell, obwohl das "Außergewöhnliche" dort oftmals nur noch in der Vordergründigkeit einer exotischen Kulisse bestand. Dabei darf man gerade im 17. und 18. Jahrhundert nicht übersehen, daß die Oper und ihre textlichen, dramaturgischen, motivischen und szenischen Komponenten auch entscheidend vom höfischen Ort ihrer Auftraggeberschaft abhängig war. Ein beinahe 'zu Tode komponiertes' und in unzählig variierenden Fassungen überliefertes Opernmodell wie die "Clemenza di Tito", 12 in dem das Handeln eines milden Herrschers verklärt wird, ist ohne das Selbstverständnis fürstlicher Auftraggeber, die sich als aufgeklärte Herrscher auf der Opernbühne gerne wiedererkannten, nicht vorstellbar. Die Tatsache, daß Metastasios 27 Drammi per musica über tausendmal, einige von ihnen mehr als siebzigmal in neuer Textbearbeitung komponiert worden sind, 13 illustriert nicht nur die tatsächliche Hegemonie der italienischen opera seria, sondern betont auch den Anspruch des habsburgischen Hofdichters Metastasio auf die dramatische Mustergültigkeit und universelle Verwendbarkeit seiner Libretti. Dieser hier nur äußerst punktuell skizzierte und sicherlich ausweitbare Katalog von Librettospezifika führt vor, daß die leichte Reproduzierbarkeit solcher Merkmale zwar die Herstellung von Operntexten förderte; sie brachte dabei jedoch eine Vielzahl von 9

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Hierzu besonders Ludwig Finscher: Die opera seria. In: Mozart-Jahrbuch 1973/74. Salzburg 1975, S.21-32. Vgl. Harald Fricke: Schiller und Verdi. Das Libretto als Textgattung zwischen Schauspiel und Literaturoper. In: Fischer 1985, vgl. Anm.2, S.95-115, hier S.95f. Vgl. Anna Amalie Abert: Der Geschmakswandel auf der Opembühne, am Alkestis-Stoff dargestellt. In: Die Musikforschung 6,1953, S.214-235, hier S.215. Vgl. hierzu Helga Lühning: Titus-Vertonungen im 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur Tradition der Opera seria von Hasse bis Mozart. Köln, Laaber 1983. Donald J. Grout: Α Short History of Opera. New York 1947, S.183, Anm.9.

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qualitätsmindernden, nicht immer leicht überschaubaren Einzelproblemen mit sich: z.B. das Ausschreiben bereits komponierter und erfolgreich aufgeführter Libretti, die Übernahme von Arien aus der einen in eine andere Oper, die Bevorzugung bestimmter Stoffe sowie die starre oder auch flexible Befolgung der normsetzenden Prinzipien, sei es der opera seria, sei es der tragödie lyrique. Viele Zeitgenossen konnten diese librettistischen Phänomene schließlich nur noch als Verfallserscheinungen charakterisieren und heftig kritisieren, da sie sich nicht mehr mit dem poetischen Reformwillen der Aufklärungsepoche in Einklang bringen ließen. Begleitet wurde die Oper im 17. und 18. Jahrhundert daher nicht nur in Deutschland von kritischen Reflexionen, die die Gattung entweder als das "galanteste Stück der Poesie" 14 rühmten oder als "ungereimteste[s] Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat", 15 verdammten und im Rahmen ihrer Kontroversen die Gattung selbst zum Wandel, zur Selektion und zur Ausprägung eines spezifischen Durchsetzungsvermögens zwangen.

2. Diese wenigen Vorbemerkungen betonen nicht nur die Notwendigkeit von Vorstößen, die großen editorische Lücken auf diesem Gebiet zu verringern, sie skizzieren auch den Rahmen und die Bedingungen für konzeptionelle Erwägungen, wie eine modellhafte Edition und Kommentierung von Operntextbüchern beschaffen sein könnte. Ohne an dieser Stelle emeut das Für und Wider von Reprinteditionen erörtern zu wollen, 16 seien nur die Quantität des Materials und seine spezielle Überlieferung als gedruckte Broschüren mit häufig üppigem Vignetten- und anderem Buchschmuck, Kupfern oder typographisch besonders ausgestatteten Huldigungsadressen und Widmungen als Argumente für einen letztlich auch aus finanzieller Perspektive zu verantwortenden Reprint angeführt. Das, was wir heute als Operntextbuch bezeichnen, erwarb der zeitgenössische Opernbesucher im Theater; es sollte ihm durch Mitlesen während der Aufführung im meistens erleuchteten Zuschauerraum ermöglichen, der Handlung zu folgen. Daß diese Heftchen ihren Zweck oftmals erfüllten, zeigen die immer wieder feststellbaren Kerzenwachsspuren auf einzelnen Heftseiten. Neben dem italienisch-, französisch- und deutschsprachigen Textbuch, das jeweils den Operntext in der Originalsprache der Aufführung abdruckte, war es an verschiedenen deutschen Bühnen üblich geworden, dem Opernbesucher auch Textbücher an die Hand zu geben, die im Paralleldruck außer dem fremdsprachigen Original eine Übersetzung ins Deutsche lieferten. Diese Übersetzungen verfolgten in erster Linie die Absicht, den Inhalt des Librettos wiederzugeben und

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Menantes [d.i. Christian Friedrich Hunold]: Die Allerneueste Art/Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschaft geneigten Gemiithem / Zum Vollkommenen Unterricht/Mit Uberaus deutlichen Regeln/und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet. Hamburg 1735, S.394. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [...]. Dritte und vermehrte Auflage [...]. Leipzig 1742, S.757. Vgl. hierzu Hans-Gert Roloff: Probleme der Edition barocker Texte. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 4,1972, H.2, S.24-69, hier S.32f.

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konnten deshalb häufig die sprachliche und stilistische Qualität der Vorlage nicht erreichen. Aber gerade solche Übersetzungen waren in zahlreichen Fällen für die Popularisierung und Verbreitung eines neuen Opernstoffes verantwortlich. Probleme der Textkonstitution oder die Erörterung textkritischer Details, zumal es sich bei vielen Opemtextbüchern auch noch um Unikate handelt, erübrigen sich. Ebenso sollen hier spezielle Probleme der Reproduktion bei falscher Paginierung, Druckfehlern oder Textverlust durch unachtsames Beschneiden der Exemplare unerörtert bleiben. Dagegen werden aber Fragen nach der Auswahl und Anordnung der Texte umso wichtiger, und hier ist auch schließlich der Kommentator gefordert.17 Bei der Edition und Kommentierung von Operntextbüchern kann es nicht vornehmlich um den Einzeltext eines Autors gehen; bis auf wenige Ausnahmen zählen die in deutscher Sprache schreibenden Librettisten im Gegensatz zu ihren italienischen und französischen Kollegen ohnehin nur zu den poetae minores, deren Texte meist nur durch die Prominenz ihrer Komponisten in der Literaturgeschichte weiterlebten. Die Gattung wird in der editorischen Erschließung auch nur unter dem Gesichtspunkt der Reihenbildung und im Kontext von kohärenten Textensembles adäquat beschreibbar. Dies läßt sich allein schon an den verschiedenen Opernverzeichnissen oder Handbüchern von Bühnenrepertoires ablesen. Deren bibliographische Erfassung des Materials kann insgesamt als äußerst zufriedenstellend bezeichnet werden und bildet stets die Grundlage von musik- oder literaturhistorischen Librettountersuchungen. Die großen Opemrepertorien verzeichnen nicht nur das Material in größtmöglicher Vollständigkeit, auch die Nachweise von Standorten werden zunehmend lückenlos. Zwei Modelle von Repertorien, an denen keine Edition und ebensowenig die hier vorgetragenen Überlegungen vorbeikommen können, sind üblich: 1. die alphabetische (und innerhalb des Alphabeths chronologische) Erfassung stoff- und themen-

So gut wie keine Hilfe erhält man dabei von musiköwissenschaftlichen Editionen. Musikeditionen unterliegen im Vergleich mit Editionen literarischer Texte grundsätzlich anderen Zielsetzungen. Die Fixierung von Musik in ein Notensystem ist immer auf die spätere klangliche Realisation ausgerichtet. Die großen Musikeditionen als "Urtextausgaben" wollen "der Wissenschaft einen einwandfreien Originaltext der Werke [...] bieten und gleichzeitig als zuverlässige Grundlage für praktische Aufführungen dienen" (Johann Sebastian Bach: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Güttingen und vom Bach-Archiv Leipzig. Kassel, Basel, London, New York 1954ff. Die Mozart- und die Schubert-Ausgabe formulieren dieselben Prinzipien. Vgl. hierzu auch die Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben. Im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen. Kassel, Basel, Paris, London, New York 1967). Die Musikeditoren verstehen unter "Kommentar" erläuternde Hinweise zu Eingriffen in den Notentext, um den Abstand zwischen einer nach modernen Prinzipien erfolgenden graphischen Fixierung und der historisch realen Klanggestalt des musikalischen Werks zu verringern. Den Gegensatz zu den Zielen eines literaturwissenschaftlichen Kommentars pointiert Klaus Harro Hilzinger (Über kritische Edition literarischer und musikalischer Texte. In: Euphorion 68, 1974, S. 198-210, hier S.204) im Vergleich zum musikwissenschaftlichen Verständnis von Kommentar folgendermaßen: "Literaturwissenschaftliche Edition, die sich auf die Darstellung der Historizität eines Kunstwerks beschränkt, auf die einmalige Textgestalt und die einmaligen Entstehungsbedingungen, verfehlt den spezifischen Charakter ihres Gegenstands, die immer neue Realisierung in der Rezeption und Vermittlung verschiedener historischer Zeitabschnitte. Nicht nur der Kommentar ist der Cht, wo sich die Edition als Kristallisationsform des Kunstwerks bewußt werden kann, schon in der Bewertung und Darstellung des Textmaterials, ja in der Wahl des zu edierenden Gesamt- oder Teilwerks ist kritische Interpretation enthalten."

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verwandter Libretti unterschiedlicher Provenienz 18 und 2. die Verzeichnung einer einzelnen Sammlung, die sich meistens weitgehend auf das Repertoire eines Opernhauses stützt. 19 Beide Modelle ließen sich für eine Edition übernehmen und begründen, je nachdem, was die Edition leisten soll. Doch die Entscheidung für das eine oder andere Modell hat Konsequenzen für die spätere Nutzung der Edition, denn es geht ja nicht nur um eine möglichst umfangreiche Dokumentation des Materials, sondern auch um eine Entscheidung, wie ein Kommentar angelegt werden soll, womit zwangsläufig auch die Frage zu beantworten ist, unter welchen Aspekten die so aufbereiteten Operntexte anschließend rezipiert und von der Forschung weiterverwertet werden. 3. Zunächst sollen hier einige Überlegungen zu einem Editions- und Kommentierungsmodell auf der Basis der Dokumentation fortlaufender Textreihen, also die Zusammenfassung von stoff- und themenverwandten Libretti, angestellt werden. Einmal abgesehen von der Schwierigkeit, eine repräsentative Auswahl zu treffen, hätte für den Literaturwissenschaftler ein solches Modell, das die Spezifika der Gattung und die Konsistenz oder Varianz von Stoffbearbeitungen aufdecken würde, auf den ersten Blick viele Vorzüge. In der Librettoforschung finden sich zudem immer wieder ergebnisreiche Arbeiten, die einen Stoff über einen längeren Zeitraum hinweg in seinen differierenden Realisationen analysieren. Am Beispiel einiger "Alceste"-Opern, deren Auswahl weitgehend zufällig oder von der Prominenz von Komponisten wie Lully, Händel oder Gluck mitbeeinflußt war, besonders aber von der Erreichbarkeit des Materials und der Tatsache abhing, daß sich darunter eine Vielzahl deutschsprachiger Bearbeitungen befand, soll ein solches Kommentarmodell zumindest in seinen groben inhaltlichen Konturen kurz vorgeführt werden. 20 Die einschlägigen Opemrepertorien listen für das 17. und 18. Jahrhundert 29 Opernkompositionen auf, 21 in denen der Alkestis-Mythos im Zentrum der Bühnenhandlung steht, wobei sich allerdings sämtliche Textfassungen auf nur zwei Vorlagen zurückverfolgen lassen. Schon Christoph Martin Wieland hatte die positive Aufnahme seiner "Alceste" mit der Musik Anton Schweitzers bei der Weimarer Uraufführung vom 28. Mai 1773 zum Anlaß 18

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Franz Stieger: Opernlexikon. Tutzing 1975, oder Claudio Sartori: I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800. Catalogo analitico con 16 indici. Cuneo 1990 (inzwischen 2 Bde. erschienen). Die in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel verwahrten Operntextbücher verzeichnet: Libretti. Verzeichnis der bis 1800 erschienenen Textbücher. Zusammengestellt von Eberhard Thiel unter Mitarbeit von Gisela Rohr. Frankfurt/Main 1970 (Kataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Die neue Reihe. Bd.14). Bei dieser Sammlung handelt es sich überwiegend um das Repertoire der Opembühne Braunschweigs bzw. Wolfenbüttels. Die berühmte Washingtoner Sammlung dagegen folgt keinen spezifischen Sammelschwerpunkten, vgl. Library of Congress. Catalogue of Opera Librettos Printed Before 1800. Prepared by Oscar George Theodore Sonneck. Washington 1914 (Nachdruck New York 1967). An der lokalen Musikforschung orientiert sich auch Renate Brockpählen Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland. Emsdetten 1964. Dieser Überblick folgt Abert 1953, vgl. Anm.ll. Es wurden aber durch die erneute Sichtung des Materials einige andere Schwerpunkte gesetzt. Beispielsweise Stieger 1975, vgl. Anm.18, Teil 1: Titelkatalog. Bd.l, S.17, 30f., 85.

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genommen, im "Teutschen Merkur" (1774) "Über einige ältere deutsche Singspiele die den Nahmen Alceste führen" 22 zu handeln. Ihn interessierten bei seiner Kommentierung neben der Herkunft des Stoffes besonders deutschsprachige Bearbeitungen, um im Kontext einer neuen Debatte um den Wert von Oper und Operntext deren "Beytrag für die kritische Geschichte des Deutschen Theaters" zu belegen. 23 Wieland nennt als wesentliche Merkmale der Stofftradition die "heldenmüthige Aufopferung" und die "wunderbare Wiederbelebung" der Protagonistin. 24 In der Tat hatte der euripideische Tragödienstoff um den durch götdiches und menschliches Versagen dem Tod geweihten thessalischen König Admetos seit seiner ersten Bearbeitung als dramma per musica für die venezianische Opembühne durch Aurelio Aureli ("L'Antigona delusa da Alceste", Musik: Pietro Andrea Ziani) in der Karnevalssaison 1660 eine besondere Verwendbarkeit als Librettostoff an den Tag gelegt. Der Orakelspruch, der dem König Rettung für den Fall verspricht, daß eine andere Person aus freien Stücken für ihn in den Tod gehe, die Bereitschaft seiner Ehefrau Alkestis, für den Gatten ihr Leben aufzuopfern und die Rückgewinnung ihres Lebens durch Herakles' heldenhaften Kampf gegen die Mächte der Unterwelt, schufen einen Rahmen, der zwar in allen "Alceste"-Opern erkennbar ist, jedoch je nach Aufführungsort und Aufführungsbedingungen teilweise abenteuerliche Freiräume für verändernde oder ausschmückende Eingriffe in den Stoff offenließ. Den Gepflogenheiten der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts entsprechend, bedient sich der Librettist einer Vielzahl von Zutaten, die er in der Vorrede euphemistisch als "accidenti verissimi" 25 bezeichnet, und die Wieland in seinem "Alkestis"-Aufsatz noch veranlaßten, von dieser Oper als einem "Raritätenkasten"26 zu sprechen. Nicht nur, daß in Aurelis Text Figuren hinzuerfunden werden, die als Kontrastpaar zu Admet und Alceste zusätzliche Verwicklungen in die Handlung bringen, auch Alceste siecht nicht wie in der Vorlage dahin, sondern tötet sich bühnenwirksam mit einem Dolch. Ebenso breiten Raum nehmen die Szenen ein, in denen Herakles in die Unterwelt hinabsteigt und Alceste aus der Macht des Hades befreit. Damit ist angedeutet, daß diesem Libretto eine Reihe von opemtypischen Elementen und Möglichkeiten für opulenten Maschinenzauber hinzugefügt worden sind, die dieses venezianische Gemisch aus tragischen und burlesken Versatzstücken zu einer wichtigen Vorlage auch für deutsche Librettisten werden ließen - etwa die 1693 zur Eröffnung des Leipziger Opernhauses aufgeführte "Alceste" von Paul Thiemich und Nikolaus Adam Strungk. Weitere "Alceste"-Versuche stellen unter dem Eindruck der Librettoreform von Zeno und Metastasio insgesamt eine Reinigung der Aurelischen Vorlage dar, wobei allerdings das Intrigenschema der zwei 22 23 24 25 26

In: Sämmtliche Werke. Bd.26: Singspiele und Abhandlungen. Leipzig 1796, S.269-320. Wieland 1796, vgl. Anm.22, S.273. Wieland 1796, vgl. Anm.22, S.274. Zitiert nach Abert 1953, vgl. Anm.ll, S.217, Anm.l. "Es war eine Art von R a r i t ä t e n k a s t e n , worin alles was im Himmel, auf Erden und unter der Erden zu sehen ist, in schönster Unordnung vor den Augen der Zuschauer vorbey zog; wo alles Natürliche durch Wunderwerke geschah; wo die Sinne immer auf Unkosten des Menschenverstandes belustiget, und das Wahrscheinliche, Anständige und Schickliche eben so sorgfältig vermieden wurde, als ob es mit dem Wesen der Opera nicht bestehen könnte. Je unnatürlicher, je besser, war das erste Gesetz eines Schauspiels, welches durch den großen Aufwand, den es erforderte, eine Belustigung der Fürsten wurde, und kaum würdig war Kinder zu belustigen" (Wieland 1796, vgl. Anm.22, S.276).

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sich zeitweise durchkreuzenden Liebespaare, auf der einen Seite Admet und Alceste, auf der anderen Seite ein Bruder des Königs und eine hinzuerfundene Prinzessin, noch nicht aufgehoben ist. Händeis 1727 in London aufgeführte Oper "Admeto, Re di Tessaglia" 27 folgt zwar nun dem Schema Metastasios in der straffen Handlungsstruktur und in der Konzentration auf einen zentralen Konflikt sowie der Verbannung komischer Elemente und Figuren von der ernsten Opernbühne, die Komplexität der Intrige und ihrer Auswirkungen auf die Figuren bleibt aber nach wie vor erhalten. Allerdings ist Händel durch seine Komposition eine wesentliche Pointierung gelungen, wenn er Admeto und Alceste mit besonders virtuosen Arien bedenkt, während die Arien des Konkurrenzpaares weitgehend in musikalischer Konventionalität verharren.28 Trotz aller Abhängigkeit von barocker Prachtentfaltung auf der Opernbühne setzt der zweite Ausgangspunkt für "Alceste"-Libretti andere Prioritäten. Jean Baptiste Lullys 1674 in Paris uraufgeführte Oper "Alceste ou le triomphe d'Alcide" auf einen Text von Philippe Quinault hat zwar das venezianische Muster besonders in der Vielfalt tragischer und komischer Handlungselemente zur Kenntnis genommen, orientiert sich jedoch im Bemühen um eine klare und einsichtige Motivation der Handlung wieder stärker am antiken Vorbild. Sicherlich ist diese Präzisierung des Handlungsablaufs, die auch durch zahlreiche Ballett- und Choreinlagen nur unterbrochen, nicht aber zerstört wird, durch das Festprotokoll am Hof Ludwigs XIV. bedingt. Entsprechend dem Operntitel sind nun Alceste und Alcide, so heißt hier Herakles, die handelnden Hauptfiguren, wobei Alcide nicht nur Freund Admätes ist, sondern auch als verzichtender Liebhaber der Alceste sein Charakterprofil erhält. Diese Liebe motiviert auch seinen Abstieg in den Hades, um die verstorbene Geliebte zu befreien. In den Mittelpunkt der Oper rückt damit auch französischer Tragödientradition folgend die apotheotische Verklärung von Alcides Tugendhaftigkeit, die insbesondere in seiner Selbstbezwingung gegenüber dem letztlich wiedervereinten Liebespaar Admäte und Alceste gipfeln. In Deutschland gelangt Quinaults Libretto schon 1680 in der Übersetzung von Johann Philipp Förtsch auf die Hamburger Opernbühne. Diese "Alceste", 29 zu der vermutlich Johann Wolfgang Franck die Musik komponierte, hat gegenüber der französischen Vorlage nur marginale Veränderungen erfahren, denn es ist eine Konstante der Hamburger Librettistik, übersetzte Libretti in neuer Komposition aufzuführen. Der Hamburger Opernkonvention entspricht auch die Einführung eines Spaßmachers, der der venezianischen Tradition folgte und der Publi27

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Admeto, Re di Tessaglia. Drama. Da rappresentarsi nel Regio Teatro di Hay-Market. Per le Reale Accademia de musica. London 1727. Zur Frage der Abhängigkeit von Vorlagen und zum vermuteten Librettisten (N. F. Haym oder Paolo A. Rolli) vgl. Georg Ellinger: Händel's Admet und seine Quelle. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1,188S, S .201-224, sowie Händel-Handbuch. Hrsg. vom Kuratorium der Georg-Friedrich-Händel Stiftung von Dr. Walter Eisen und Dr. Margret Eisen. Bd.l: Lebens- und Schaffensdaten. Zusammengestellt von Siegfried Flesch. Thematischsystematisches Verzeichnis: Bühnenwerke von Bemd Baselt. Kassel, Basel, Tours, London 1978, S. 285. Die Opempartitur ist zu finden in: Georg Friedrich Händel's Werke. Ausgabe der Deutschen Händelgesellschaft. Lieferung 73: Opern. Bd.19: Admeto. Leipzig [1877], Abert 1953, vgl. Anm.ll, S.220, Anm.8, nennt insbesondere die Arien Admetos "Ah sl, morrö" (II, 8) und Alcestes "Vedrö frä poco" (11,12) und stellt diese den Arien von Antigona "Sen vola lo sparvier" (1,10) und von Trasimedo "Chi 6 nato alle sventure" (11,9) gegenüber. Alceste. In einem Singe=Spiel vorgestellet. [Hamburg 1680]. (Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Textb. Sammelband 10).

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kumserwartung entgegenkommend die tragische Handlung und deren Figuren glossierte. 30 In Braunschweig, an einer weiteren wichtigen Bühne, die die deutschsprachige Oper pflegte, wurde 1719 Johann Ulrich Königs Libretto "Die getreue Alceste" mit der Musik von Georg Kaspar Schürmann zur Aufführung gebracht. Die Nähe zu Quinault und Lully ist zwar noch gegeben, doch die Bearbeitungsanteile sind ungleich größer als bei den Vorgängeropern. Die italienische Tradition der zwei konkurrierenden Protagonistenpaare wird in Königs Libretto wiederbelebt; es wird eine Frauenfigur, Hyppolite, hinzuerfunden, die Herakles liebt und ihm in Männerkleidung überallhin folgt. Nachdem Herakles wie in der französischen Vorlage auf Alceste verzichtet hat, erhört er schließlich doch Hyppolite, so daß neben Alceste und Admet ein weiteres Liebespaar auf der Bühne vereint werden konnte. König, auch in opernästhetischen Fragen ein wichtiger Verfechter einer deutschsprachigen Librettistik, hat in seinem Vorwort explizit festgehalten, durch die Figur der Hyppolite sei der "italienische und französische Goüt zusammen vereinigt worden, welches, wie ich aus der Erfahrung überzeugt bin, allzeit bei der Aufführung die beste Würkung gehabt." 31 Die Unentschiedenheit der deutschsprachigen Librettistik zwischen den beiden großen europäischen Operntraditionen war ein unübersehbarer Faktor, der die Gattung nicht nur in Mißkredit brachte, sondern auch ihren von Zeitgenossen oft beschworenen literarischen Rang aushöhlte. Allein die Tatsache, daß immer öfter italienische Arien in deutschsprachige Libretti montiert wurden - auch in Königs "Alceste" ist dies der Fall stellte die deutsche Librettistik immer mehr in Frage und sicherte der italienischen opera seria über Jahrzehnte hinweg die Vormachtstellung auf den deutschen Bühnen. Erst Ranieri de' Calzabigi und Gluck erreichten mit der 1767 in Wien (französische Fassung 1776 in Paris durch Le Blanc du Roullet) aufgeführten "Alceste" eine neue Akzentuierung des Stoffs. 32 Dieses neben "Orfeo ed Euridice" ebenfalls als Reformoper gefeierte Werk bricht zwar nicht mit den italienischen und französischen Opemmustern, kehrt aber vom verwirrenden Intrigennetz ab und favorisiert nun Kategorien des Einfachen, des Erhabenen und des Humanen. Als Verkörperung der opferbereiten, liebevollen Gattin stellt nun Alceste das ideelle Zentrum der Opernhandlung dar, dem sich alle anderen Figuren unterordnen müssen. Das Außerordentliche der Handlung wird hervorgehoben, das Erscheinen von Göttern auf der Bühne bei Alcestes Opfergelübde und ihrem Tod wird am Schluß durch die Präsenz Apollons verstärkt, so daß nun auch Herakles nur mehr die Funktion einer Randfigur bleibt. Der Gesamtkonzeption entsprechend entwarf Calzabigi einfache, aber durch Chor- und Ballettszenen unterstützte Tableaus, die jedoch keine dekorativen Absichten mehr verfolgten, sondern die Größe der 'Idee' betonen sollten. Wielands Gluck-Verehrung ist bekannt, ebenso die Bedeutung, die er diesem Komponisten im Rahmen seines Konzepts eines deutschen Sing30

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In Hamburg gelangte 1696 unter dem Titel "Der siegende Bühne. Librettist und Komponist sind jedoch nicht mehr zu ermitteln. Zitiert nach Abert 1953, vgl. Anm.ll, S.223. Christoph Willibald Gluck: Sämtliche Werke. Begründet von Rudolf Gerber. Hrsg. von Gerhard Croll. Abt. I: Musikdramen. Bd.3, Teilbd. a: Notenbd.: Alceste (Wiener Fassung von 1767). Tragedia per Musica in drei Akten von Ranieri de' Calzabigi. Hrsg. von Gerhard Croll. Kassel, Basel, London, New York 1988.

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spiels beimaß. In seinem "Merkur"-Aufsatz "Versuch über das Deutsche Singspiel" 33 hatte er für das deutschsprachige Opernlibretto ebenfalls Einfachheit, Natürlichkeit und Harmonie gefordert, allerdings der Musik als einer der Dichtung untergeordneten Kunst nur Vergnügen und Rührung als Aufgaben zugestehen wollen. Wielands "Alceste" zeichnet sich durch Handlungsarmut und Verzicht auf dramatische Effekte aus. Seinem librettistischen Programm entsprechend konzentriert sich Wieland darauf, die "Empfindung" und die "innere Gemüthsbewegung" der Opemfiguren darzustellen. 34 Um eine endgültige Aussage über die Be- und Verarbeitung des Alkestis-Stoffes auf der Opernbühne machen zu können, müßte die Reihe der Textbeispiele verdichtet, auch der jeweiligen sprachlichen Umsetzung im Detail nachgegangen werden. Doch diese Kommentarskizze deutet bereits an, daß ein Opernlibretto in einer solchen Beispielreihe durchaus als "Produkt literarischer Reflexion" anzusehen ist und daher, wie KlausGünther J u s t 3 5 formuliert, deren Konkretion "in der Spiel- und Spiegelwelt der Bühne von Fall zu Fall" berücksichtigt und in dieser Weise auch kommentiert werden müßte. Dabei hat Just den zu beschreibenden literarischen Gehalt eines Opemtextes weniger in der "immer neuefn] Spiegelung des gleichen Stoffes", sondern vielmehr in der jeweiligen Rezeption von Stoffen und Themen sowie der Übertragung in ein "vollkommen anderes Medium" gesehen. Diesen Vorgang von Rezeption und Produktion unterschied er in drei Aspekte, die hier als vorläufiges Kommentierungsziel für eine Operntextedition nach stofflichen Gesichtspunkten zitiert werden sollen: 1.) Der Librettist als Redaktor bearbeitet eine Vorlage hinsichtlich bestimmter charakteristischer Situationen. 2.) Oct Librettist als Lyriker bearbeitet das sprachliche Material der Vorlage hinsichtlich einer "Skala der Emotionen", um damit besonderen Raum für Arien zu schaffen. 3.) Der Librettist als Maler verfügt über eine besondere Fähigkeit zur Imagination, um dramatische Situationen in große und kontrastreiche Schaubilder umzusetzen, die dem optischen Aspekt der Oper und dem Schaubedürfnis des Publikums entsprechen. 36 4. Die Erforschung der Frühen Neuzeit hat stets ein zentrales Anliegen in der Dokumentation kultureller und literarischer Leistungen unter territorialen, regionalen, kommunalen oder institutionellen Gesichtspunkten gesehen. Dieses Konzept darf bei der editorischen Dokumentation der Operngeschichte nicht übersehen werden. Um die Theatergeschichte des deutschen Sprachraums angemessen einschätzen zu können, bedarf es der Darstellung der einzelnen Bühnen vor dem immer wieder Ausnahmen und Sonderkondi-

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In: Wieland 1796, vgl. Anm.22, S.229-267, 321-342. Wieland 1796, vgl. Anm.22, S.324. Just 1976, vgl. Anm.7, S.29. Just 1976, vgl. Anm.7. S.30.

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tionen hervorrufenden zersplitterten territorialen Hintergrund. Für eine solche Darstellung fehlt jedoch die entsprechende Materialbasis. Das Modell, das Repertoire einer einzelnen Opernbühne zu edieren und zu kommentieren, bietet sich auch deshalb an, weil der Editor nicht nur vom überlieferten Material her gesehen auf geschlossene Sammlungen zurückgreifen, sondern sich auch hinsichdich der Kommentierung an einer Reihe substantieller, wenn auch manchmal methodisch bereits veralteter Untersuchungen zu einzelnen Opernhäusern orientieren kann. Übergreifende Kommentierungsziele könnten dabei sein: Entstehung und Entwicklung der jeweiligen Bühne, Aufführungsbedingungen, biographische Hinweise zu den Librettisten, inhaltliche Merkmale des Repertoires, Anteil von ernsten und komischen Opern am Repertoire, Abhängigkeit von Mustern bzw. Charakteristika der Bearbeitung, Diskussion von opemästhetischen Aspekten in den Vorreden, Bühnenbild und Kostüme, Publikumswirkung aufgrund von Besprechungen in zeitgenössischen Periodika. Als exemplarischer Fall der deutschsprachigen Librettistik, der sowohl von der Literatur- als auch von der Theater- und Musikwissenschaft gut erforscht wurde, gilt die Hamburger Opernbühne. Für das Hamburger Musiktheater stehen mit dem Nachdruck von 21 Libretti durch Reinhart Meyer 37 oder der von Eberhard Haufe herausgegebenen Sammlung von 101 komischen Arien 38 Texte zur Verfügung, auf deren Grundlage sich auch aus der Kommentarperspektive eine zusammenfassende Darstellung skizzieren läßt. Neben einer Stadt wie Nürnberg oder Residenzen wie Torgau, Bayreuth, Halle-Weißenfels und Braunschweig nimmt Hamburg im 17. Jahrhundert eine Sonderstellung in der "ortsgebundenen" deutschen Opernlandschaft ein. 39 Die politische und wirtschaftliche Position der Hansestadt ermöglichte die Errichtung einer ohne Nachahmung gebliebenen Institution, die 1678 von Hamburger Bürgern als Aktiengesellschaft gegründet worden war und die weitgehend unabhängig von externen Einreden ein künstlerisches Profil entwickelte, das an den Schnittstellen zwischen Barock und Frühaufklärung den eigenständigsten deutschen Beitrag zur europäischen Operngeschichte geliefert hat. Komponisten wie Johann Wolfgang Franck, Johann Sigismund Kusser, Reinhard Keiser, Johann Mattheson, Georg Philipp Telemann oder Georg Friedrich Händel und Librettisten wie Christian Friedrich Hunold (Menantes), Johann Ulrich König, Barthold Feind, Friedrich Christian Bressand, Christian Heinrich Postel, der Pastor Hinrich Elmenhorst und der Bürgermeister Lucas von Bostel waren die Garanten für den auch von Zeitgenossen wahrgenommenen hohen künstlerischen Anspruch der Hamburger Oper. Aus der Menge von etwa 2.000 überlieferten Libretti der zwischen 1678 und 1738 im Theater am

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Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit von 1678-1730. Hrsg. von Reinhart Meyer. 3 Bde. München 1980. Willi Flemming haue schon 1933 in seinem Band "Die Oper" (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Barock. Barockdrama. Bd.5) drei Texte Hamburger Librettisten herausgegeben. Wer in Liebes-Früchten wehlet... 101 komische Arien der Hamburger Barockoper (1678-1738). Hrsg. und erläutert von Eberhard Haufe. Holzstiche von Karl-Georg Hirsch. Weimar [1971], Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg (1878-1738). 2 Bde. Wolfenbüttel 1957, hier Bd.l, S.9. Die nachfolgende Zusammenfassung folgt der grundlegenden Darstellung von Wolff.

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Gänsemarkt aufgeführten Opern lassen sich 250 verschiedene Titel herauslösen.40 Viele dieser Opern beruhten auf venezianischen Vorlagen, auch dies ein Beleg dafür, daß sich die Hamburger Oper nicht an einem höfisch-aristokratischen, sondern an einem bürgerlichen Modell, wie dem in Venedig praktizierten, orientierte. Doch die Originalität der Hamburger Librettistik liegt nicht darin, daß ein von höfischen Traditionen freies Operntextbuch entwickelt worden ist; vielmehr liegen wesentliche Elemente einer spezifisch deutschsprachigen Librettistik in der Erschließung neuer Stoffgebiete, wie dies in den zahlreichen biblisch-religiösen Opern und in den äußerst beliebten volkstümlichen Lokalsingspielen am deutlichsten wird. Allenthalben sind französische und italienische Opemvorlagen ebenso erkennbar wie Einflüsse englischer oder niederländischer Wanderbühnen. Die Hamburger Librettisten greifen immer wieder auf einen Fundus unterschiedlichster Vorlagen zurück, um sich schließlich in der dramaturgischen Bearbeitung, besonders aber in der formalen und sprachlichen Weiterentwicklung der italienischen da capo-Arie, als wesentlich nachhaltiger von der Dramatik eines Lohenstein oder von der Lyrik der zweiten schlesischen Schule beeinflußt zu zeigen. Auch die Einführung einer komischen Person läßt zwar den Einfluß Venedigs und volkstümlicher Spektakelgattungen erkennen, macht aber dennoch in der Individualisierung dieser Figuren als Teufel, Diener, Kuppler oder komische (von einem Mann gespielte) Alte das Typische des Hamburger Repertoires offensichtlich. Für das Scheitern des Hamburger Projektes war eine Reihe von künstlerischen und organisatorischen Gründen verantwortlich. Der musikalische Spielbetrieb konnte nicht mehr auf dem hohen Niveau früherer Jahrzehnte gehalten werden, ebenso erlahmte die Produktivität der Hamburger Librettisten. Das deutschsprachige Operntextbuch wurde nach und nach durch Neukompositionen italienischer und französischer Originallibretti verdrängt, wodurch der spezifische Charakter des Hamburger Musiktheaters zusehends verloren ging. Johann Mattheson machte darüber hinaus 1728 in seiner Schrift "Der Musikalische Patriot" auch den großen Anteil komischer Opern für den künstlerischen Niedergang des Repertoires verantwortlich.41 Aber die ausschlaggebenden Gründe für das Scheitern des Hamburger Projekts liegen in der frühaufklärerischen Grundsatzkritik an der Oper als einer 'unnatürlichen' Kunstform. Allen voran war es Gottsched, der seit 1728 die Hamburger Librettistik attackierte und seine Kritik besonders an der überbordenen Metaphorik, an dem in spätbarocker Tradition stehenden artistischen Sprechen und an einem ausufernden Maschinenwesen festmachte. 42 1738 stellte die Oper am Gänsemarkt ihren Spielbetrieb als stehendes Musiktheater ein; Hamburg wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten nur noch von wandernden Truppen bespielt.

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Walter Schulze: Die Quellen der Hamburger Oper (1678-1738). Eine bibliographisch-statistische Studie zur Geschichte der ersten stehenden deutschen Oper. Hamburg, Oldenburg 1938, S . l l . Wolff 1957, vgl. Anm.39, Bd.l, S.342. In den "Zufälligen Gedanken von dem Pathos in den Opern" (Leipzig 1734) nahm Gottsched ein Libretto von Christian Heinrich Postel ("Der Grosse König Der Africanischen Wenden GENSERICUS [...]", 1699) als Beispiel, an dem er seine Kritik vorführte.

Libretü: eine von den Editoren vergessene Gattung?

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5. Ein Plädoyer für die editorische Erschließung von Operntexten des 17. und 18. Jahrhunderts muß aber auch ein Plädoyer für einen Kommentar sein, der die Gattung nicht in Einzeltexte atomisiert, sondern sie in ihrem Abhängigkeitsverhältnis zu Vorlagen und zur jeweiligen Bühne erläutert. Dies dürften die vorgetragenen Überlegungen deutlich gemacht haben. Bei einer Gattung, die von mehreren wissenschaftlichen Disziplinen beansprucht wird, muß der textbegleitende Charakter eines Kommentars im Mittelpunkt stehen, so daß die punktuelle Erläuterung, so wünschenswert sie im Einzelfall auch sein mag, hinter das übergeordnete Anliegen zurücktreten muß. In der heutigen Diskussion um die verschiedenen Kommentarpraktiken ist das Eingeständnis unumstritten, daß der Grad an Erläuterungsbedürftigkeit kaum generell und allgemeinverbindlich definiert werden kann, die Abhängigkeit vom zu kommentierenden Gegenstand muß zwangsläufig verschiedene Schwerpunkte setzen. Für die weiterführende Arbeit von Musik-, Theater- oder Literaturwissenschafdern unbedingt notwendig ist aber nicht nur die Erhellung des zeitgenössischen Hintergrunds der Textbücher, sondern auch die Rekonstruktion der Herkunft eines Librettos und die Erläuterung der graduellen Unterschiede hinsichtlich der Textbearbeitung, sei es mit Blick auf die Themen- und Stoffgeschichte, sei es mit Blick auf ein bestimmtes Repertoire. Kontinuität, Wandel und Veränderungen müssen aber auch in dramaturgischer und sprachlicher Hinsicht kommentiert werden. Hinzu kommen operntheoretische Aspekte in den häufig recht umfangreichen Vorreden ebenso wie eine übergeordnete Fragestellung nach dem historischen Selbstverständnis der Librettisten. 43 Sicherlich sind diese Überlegungen auch durch eine begleitende Sichtung des Materials zu prüfen, zu modifizieren und zu präzisieren. Ob und wie eine Edition von Operntexten realisiert werden kann, wird auch von vielen äußeren Faktoren abhängen. Doch jede kommentierende Edition, wie immer sie auch aussehen mag, wird dazu beitragen, die Gattung Oper von den sie traditionell begleitenden Vorurteilen freizulegen, und am Ende wird Peter Hacks' Bonmot: "Die hebräische Schrift hat keine Vokale, die Arie keine Konsonanten"44 vielleicht nicht mehr mit einer verbindlichen Feststellung verwechselt werden können.

43 44

Vgl. zu diesem Kriterienkatalog Meyer 1980, vgl. Anm.37, Bd.1, S.XII. Hacks 1980, vgl. Anm.3, S.263.

Horst Ν ahler

Kontinuität und Problembewußtsein Die Erläuterungspraxis der Schiller-Nationalausgabe

Die Bände der "Schiller-Nationalausgabe"1 enthalten neben den Texten der Werke Schillers, der Briefe von und an Schiller sowie der Gespräche und Lebenszeugnisse eine Anzahl von Beigaben, die jeweils den Anmerkungsteil bilden. Sie sind aufeinander beziehbar und konstituieren in dieser Eigenschaft ein System, das die Texte möglichst umfassend erschließt. Es gibt Rechenschaft über die Textgestalt, Angaben zur Überlieferung, zu Textfassungen und Varianten, es bezieht die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ein, und es versucht, in übergreifende biographische, allgemein-historische, literaturgeschichtliche, fachgeschichtliche und ästhetische Zusammenhänge einzuführen. Die zuletzt genannten Bestandteile jenes Systems, mit denen das nicht ohne weiteres zugängliche historische Umfeld der Texte berücksichtigt wird, sollen hier zum Zweck der Analyse isoliert betrachtet werden, obwohl die Verflechtungen mit allen anderen Abschnitten der Edition selbstverständlich nicht völlig außer acht gelassen werden können. Gegenstand unserer besonderen Aufmerksamkeit sind also die Erläuterungen im engeren Sinne, d.h. vor allem die Einleitungen der Bände, die Einzelstellenkommentare, aber auch Tabellen, Übersichten, bibliographische Angaben und Darstellungen zusammenfassender Art (z.B. die diskursiven Beschreibungen von Quellen werken), die den Einzelstellenkommentar von ständig zu wiederholenden Angaben oder von zu vielen Verweisen entlasten. Die Erläuterungspraxis der Schiller-Nationalausgabe hat über Jahrzehnte hinweg eine erstaunliche Kontinuität bewiesen, obwohl am Beginn des Unternehmens das editorische Problembewußtsein noch nicht voll entwickelt war und obwohl aus diesen und anderen Gründen detaillierte methodische Vorgaben oder genaue Richtlinien für die Bandbearbeiter nicht existierten. Ein wichtiges äußeres Kriterium für diesen Umstand war und ist die Organisationsform der Ausgabe. Die möglicherweise als Idealfall anzusehende KonSchillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des SchillerNationalmuseums und der Deutschen Akademie hrsg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke (seit 1948: Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Naüonalmuseums hrsg. von Julius Petersen und Hermann Schneider; seit 1961: Begründet von Julius Petersen. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [Goethe- und Schiller-Archiv] und des Schiller-Naüonalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese; seit 1980: Begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [Goethe- und Schiller-Archiv] und des SchillerNationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers und Siegfried Seidel; seit 1992: Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Naüonalmuseums Marbach von Noibert Oellers und Siegfried Seidel.) - Weimar Hermann Böhlaus Nachfolger 1943ff. (= SNA.)

Kontinuität und Problembewußtsein

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stellation, daß ein stabiles kleines Team von Wissenschaftlern nach exakt festgelegten Grundsätzen die Komplexe einer Ausgabe erarbeitet, d.h. den Materialfundus anlegt und von vornherein einheitliche Darbietungsformen anstrebt, diese Konstellation hat es bei der Schiller-Nationalausgabe nie gegeben. Vielleicht hätte die Starrheit einer solchen Struktur in den wechselvollen Zeitläufen, die die Ausgabe überstehen mußte, sogar zusätzliche Schwierigkeiten bereitet. In der Schiller-Nationalausgabe verblieb die wissenschaftliche Verantwortung für die Anlage des Ganzen bei den Gesamtherausgebern - und auch sie wechselten mehrmals - , die Gestaltung der einzelnen Bände aber war weitgehend auch von den Bearbeiter-Persönlichkeiten abhängig. Es waren in vielen Fällen ausgewiesene Spezialisten, die für die Ausgabe als freie Mitarbeiter tätig wurden. Diese organisatorische Besonderheit ermöglichte Elastizität und gab Spielraum für formale und inhaltliche editorische Entscheidungen, freilich um den Preis einer geringeren Homogenität. Das notwendige Mindestmaß an Geschlossenheit und Gleichmäßigkeit innerhalb der Ausgabe war in Einzelfallen Anlaß zu schwierigen Bemühungen um tragfahige Kompromisse, die aber schließlich immer erreicht wurden. So bewegt sich die Erläuterungspraxis der Schiller-Nationalausgabe zwischen gewissen Toleranzgrenzen. Abgesehen von der individuellen Handschrift der Bearbeiterpersönlichkeiten, die sich auch bei strengster methodischer Disziplin wahrscheinlich nie völlig wird unterdrücken lassen, wird die Variationsbreite der Apparate vornehmlich von zwei Koordinaten bestimmt, einer zeitlichen, d.h. einer durch die Entwicklung innerhalb wissenschaftsgeschichtlicher Prozesse veränderten, und einer werkspezifischen, d.h. einer durch die Eigenarten von Werken und Werkgruppen oder auch durch Überlieferungsbesonderheiten von Texten beeinflußten Koordinate. Diesen beiden Aspekten, die zur wesentlichen inhaltlichen Problematik unseres Gegenstandes hinführen, soll nachgegangen werden, nicht ohne die Tatsache ihrer gegenseitigen Überlagerung zu berücksichtigen. Die Entstehungszeit der Schiller-Nationalausgabe (etwa seit 1940) fiel in eine Epoche stürmischer theoretischer und praktischer Entfaltungen auf dem Gebiet der neu-germanistischen Editionen. Die Neukonstituierung der literaturwissenschaftlichen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg kann man unter vielen Gesichtspunkten sehen. Einer der wichtigsten ist die Stärkung der Grundlagenforschung und die Erarbeitung eines neuen methodischen Potentials dafür. Das Wechselverhältnis zwischen geistesgeschichtlichen und philologischen Aufgabenstellungen erhielt andere Perspektiven und machte deutlich, daß die verstärkten editorischen Bemühungen der fünfziger und sechziger Jahre die Reaktion auf einen Erschöpfungszustand im Reservoir der traditionellen Germanistik darstellten. Die Entstehungszeit der Schiller-Nationalausgabe in ihren Anfängen fiel also gleichsam mit einem fruchtbaren Moment der allgemeinen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung zusammen, und die Ausgabe erhielt aus dieser besonderen Situation heraus wichtige Impulse. Am Anfang standen die noch weitgehend von Julius Petersen geprägten "Leitsätze für die Bearbeitung der Nationalausgabe von Schillers Werken" 2 , die im November 1940 Leitsätze für die Bearbeitung der Nationalausgabe von Schillers Werken. Ausgegeben im November 1940. Vom VerwaltungsausschuB der Schiller-Naüonalausgabe. [Typoskript.]

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Horst Nahler

ausgegeben und in den Jahren 1942 und 1943 ergänzt wurden. Sie beschreiben in relativ großzügiger Weise die Orientierungspunkte und Rahmenbedingungen des geplanten Unternehmens. Ein großflächiges Ziel wird benannt, wenn von einer "Monumentalausgabe" die Rede ist, die "die Bedeutung des Dichters aus seiner Zeit für unsere Zeit, für unser Volk und für die Welt lebendig" machen und erklären solle. 3 Mit derartigen Formulierungen, die den Geist der Zeit zu erkennen geben, wurde die Absicht einer möglichst breiten Wirkung akzentuiert vorgetragen. Das, was in unserer Gegenwart inzwischen als unterschiedliche Funktion von historisch-kritischen Ausgaben und von Studien- und Leseausgaben erkannt und anerkannt ist, blieb 1940 in eigentümlicher Unscharfe, wenn es hieß: Die Ausgabe soll unbedingte Zuverlässigkeit in bezug auf Gestaltung des Textes mit vollständiger Deutung alles dessen, was der Erklärung bedarf, vereinigen und bei Ausbreitung alles wissenschaftlichen Materials doch vermeiden, durch einen ausschließlich gelehrten Charakter den genießenden Leser abzustoßen.4

Damit wurde ein verständliches Wunschbild vorgetragen, das die Gefahren einer allzu esoterischen Gelehrsamkeit ausschließen sollte, das jedoch noch nichts von der in den darauffolgenden Jahrzehnten verfeinerten und spezialisierten editorischen Arbeitsweise erkennen ließ. Es wurde ein Ziel formuliert, das sozusagen alle denkbaren Bedürfnisse potentieller Leser oder Benutzer befriedigen sollte, das im Umfang des Materials von der kritischen Textwiedergabe bis zum Wörterbuch und zur Bibliographie reichte und das in der Darbietungsweise spezifisch wissenschaftliche Gesichtspunkte mit Grundsätzen der hinführenden Anregung und des leichten Zugangs verbinden wollte. Dieser an sich legitime Vorsatz wurde aber ohne eingehende theoretische Reflexion und ohne die genaue Kenntnis der daraus abzuleitenden Teilschritte ausgesprochen. Auch herrschten über den Umfang des Materials und die zu seiner Bewältigung notwendige Arbeitszeit in dieser frühen Phase keine realistischen Vorstellungen. Die Verwirklichung der ursprünglichen Ziele war daher aus praktischen und theoretischen Gründen nur mit Abstrichen und in modifizierter Weise möglich. In bezug auf die Erläuterungen wurde der allgemeine Zweck der Ausgabe 1940 folgendermaßen präzisiert: "In den Anmerkungen zu jedem einzelnen Werk soll die brauchbare Literatur darüber zusammengestellt sein, ohne daß eine Vollständigkeit in bezug auf belanglose Zeitungsaufsätze, Schulprogramme usw. erstrebt wird." 5 Von einer derartigen Auswahlbibliographie, wie sie in einigen der ersten Bände der Schiller-Nationalausgabe vorgelegt wurde, nahm man bald Abstand. Der Verzicht darauf war ein erstes Beispiel für sinnvolle Reduzierungen des ursprünglich zu allgemein gehaltenen Arbeitsprogramms, für Reduzierungen, in denen sich das wachsende Bewußtsein für die spezifisch editorischen Leistungen ausdrückte, zu denen eben die Bibliographie nicht gehört. Daß eine umfangreiche bibliographische Arbeit von jedem Herausgeber und Bandbearbeiter im Vorfeld der Edition dennoch geleistet und zur Grundlage der weiteren Forschungen genommen werden mußte, versteht sich von selbst. 3 4 5

Leitsätze (vgl. Anm.2), S.l. Leitsätze (vgl. Anm.2), S.l. Leitsätze (vgl. Anm.2), S.4.

Kontinuität und Problembewußtsein

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In den "Leitsätzen" von 1940 heißt es zu den Erläuterungen im engeren Sinn weiterhin: Überhaupt sollen die Erläuterungen sich nicht auf kleinliche Einzelerklärung verzetteln, sondern an wichtigen Stellen ausführlicher Interpretation Raum geben. [...] Alles, was Worterklärung und Namenerklärung betrifft, soll, wenn es sich nicht um einen vereinzelten Fall handelt, der nur bei der Deutung einer einzigen Stelle in Frage kommt, dem Register und Wörterbuch des letzten Bandes zugewiesen werden, so daß alle Namen wie die mythologischen, philosophischen und ästhetischen Begriffe an dieser Stelle eine einheitliche Erklärung finden, die auch auf etwaige Widersprüche der Anwendung hinweist.6

Auch diese wohlgemeinte Absicht ließ sich nicht so geradlinig verwirklichen, wie das den Gründungsherausgebern der Ausgabe, allen voran Julius Petersen, vorschwebte. Die größeren Zeiträume in der Realisierung des Unternehmens machten es zunächst einmal erforderlich, daß jeder Band für sich allein benutzbar war, ohne von den viel später zu erwartenden Gesamtregistem und Glossaren abhängig zu sein. Dieser Umstand führte zu einer Intensivierung der sogenannten Wort- und Sacherläuterungen, d.h. in jedem Band wurde mit zunehmender Dichte möglichst jede historische Person, jedes erwähnte oder indirekt bedeutsame literarische Werk, jeder biographische oder allgemeinhistorische Sachverhalt verifiziert, oder es wurde auf Lücken in den Ermittlungen aufmerksam gemacht. Auch der historische Sprachgebrauch, mit Einschluß mundartlicher oder fachsprachlicher Elemente, wurde weitgehend in die Erläuterungen einbezogen. Diese immer bedeutsamer erscheinende Gruppe der sprachlichen und sachlichen Einzelerläuterungen wird gelegentlich als Ausbreitung bloßen lexikalischen Wissens in ihrer Wichtigkeit verkannt. Angestrebt wurde in der Schiller-Nationalausgabe nicht die Übernahme von Angaben aus Nachschlagewerken in den Apparat, sondern die Bereitstellung, Auswertung und Erweiterung eines Grundfaktenwissens im Hinblick auf seine Bedeutung für den Autor, für die zu erläuternden Texte und für die literaturgeschichtlichen Zusammenhänge. Als knappes Beispiel für eine solche Sacherläuterung sei eine Briefstelle angeführt: Am Neujahrsabend wurde die Schöpfung von Heidn aufgeführt, an der ich aber wenig Freude haue [...]. (Schiller an Kömer. 5. Januar 1801.)

Die zugehörige Erläuterung in der Schiller-Nationalausgabe lautet: Schöpfung von Heidn] Gemeint ist Joseph Haydns Oratorium "Die Schöpfung", Text von Gottfried van Swieten (1733-1803) nach einer englischen Vorlage, Anfang April 1798 vollendet und am 29. April 1798 in Wien uraufgeführt. - Schiller hatte sich, wie aus seinem Brief an Goethe vom 11. Dezember 1800 hervorgeht, bei Carl Theodor von Dalberg in Erfurt um die Partitur bemüht. Die Premiere in Weimar am 1. Januar 1801 blieb die einzige dortige Aufführung des Werkes unter Goethes Theaterleitung.7

Um auch den angestrebten Charakter des Sprachkommentars kurz vorstellen zu können, folgt ein Beispiel aus dem "Fiesko"-Drama: Morgen will ich deine Zeitungen hören. (Fiesko zum Mohren. Fiesko 1,9.)

6 7

Leitsätze (vgl. Anm.2), S.4-5. SNA 31,1 und 190.

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Horst Νahler

Im Apparat wird die Stelle folgendermaßen berücksichtigt: Zeitungen] 'Zeitung' hier noch in der Bedeutung von 'Nachricht', 'Neuigkeit'. Nach Adelung [...] war der Begriff in diesem Sinne bereits veraltet. Die Bezeichnung wurde jedoch von Schiller in Übereinstimmung mit dem Gebrauch seiner Heimat oft verwendet [...]. 8

Während also die Sprach- und Sacherläuterungen im Verlauf der Entwicklung der Schiller-Nationalausgabe größeres Gewicht und zunehmende Dichte erhielten, wurden andere Elemente der Ausgabe beschnitten, und zwar vor allem solche, die paraphrasierenden und interpretierenden Charakter hatten. Das betraf vor allem die Einleitungen der Bände. In den "Leitsätzen" von 1940 war festgelegt, sie hätten "in lesbarer, leicht faßlicher und anziehender Form das Wesentliche über das eingeleitete Werk, seine Stellung im Gesamtschaffen Schillers, seine ästhetische wie seine gedankliche Bewertung vorzubringen". 9 Solche Einleitungen finden sich in den Bänden 23 und 27 der Briefabteilung sowie in den frühen Dramenbänden, wobei beträchtliche Unterschiede in ihrer Anlage auffallen. Zum Teil wurde die Darstellung der Entstehungsgeschichte oder anderer sachlicher Bezüge (z.B. das Verhältnis zu Korrespondenzpartnern) einbezogen, zum Teil wurde in essayistischer Weise ein gedanklicher Bogen zur Gegenwart gespannt, und es wurde versucht, die wissenschaftliche und theatralische Rezeption des 20. Jahrhunderts einzubeziehen, was in diesem Rahmen ohnehin nur in subjektiver Auswahl möglich war. Noch anders konzipiert ist die von Hermann Schneider verfaßte Einführung in den "Wallenstein"-Band, die eine eigene Interpretation des Werkes bietet. Substanzreich und gut lesbar war sie durchaus den ursprünglichen "Leitsätzen" der Ausgabe verpflichtet; aber sie war eben nicht auf die übrigen Teile der Edition bezogen und wirkte ein wenig wie eine repräsentative Zutat. Den Bühnenbearbeitungen Schillers wiederum schickte Hans Heinrich Borcherdt Einleitungen voraus, die beinahe das Gepräge eigenständiger Abhandlungen tragen. Sie enthalten einen ausführlichen Exkurs über das Verhältnis von Autor und Theater in der klassischen Zeit und gehen auf die besonderen Eigenschaften von Bühnenmanuskripten in dieser Zeit ein. Auch diese an sich wertvollen und anregenden Darstellungen wirken in ihrem Exkurs-Charakter wie eine nicht unbedingt notwendige schmückende Beigabe zu der Edition. Mit dem Beginn der Herausgeberschaft von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese (1958) kündigte sich ein Wandel an, der zwar unter anderem von äußeren Einflüssen geprägt war, aber daneben auch ein neues, durch Arbeitserfahrungen differenziertes Methodenbewußtsein widerspiegelte. Die äußeren Einflüsse waren die einer schwierigen und gefährdeten Existenz der Ausgabe zwischen den politischen und ideologischen Lagern. Ein gesamtdeutsches wissenschaftliches Unternehmen in der Zeit um 1961 mußte sich in vielerlei Hinsicht äußerste Zurückhaltung auferlegen, um sein Überleben zu sichern. Aber nicht das allein führte zu Modifikationen des Editionsrahmens. Hinzu kamen die inzwischen angewachsenen Erkenntnisse von einer längeren als der ursprünglich angenommenen Arbeitsdauer und vor allem die durch eine praktische wissenschaftliche Arbeitsteilung erzwungene Besinnung auf die vorrangigen Bestandteile einer historisch-kritischen Ausgabe und damit die Zurückdrängung von ornamentalen und re8

SNA 4,29 und 442.

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Leitsätze (vgl. Anm.2), S.4.

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präsentativen Beigaben. So kam es in dem Protokoll einer Mitarbeitersitzung vom Jahre 1959 zu folgenden Formulierungen: Um der Ausgabe eine lange Gültigkeit zu sichern, sollen alle subjektiven Elemente nach Möglichkeit ausgeschaltet werden. Einleitungen und Anmerkungen müssen knapp, sachlich unterrichtend und ohne politische oder weltanschauliche Stellungnahme sein. Interpretationen sollen nur so weit gegeben werden, als sie zum Verständnis des Werkes unerläßlich sind. Die weiterreichenden Forderungen Julius Petersens [...] nach einer ästhetischen und gedanklichen Bewertung der Werke wurden zurückgewiesen. Die Einleitungen haben keine Werkdeutungen zu geben, und die Anmerkungen sollen sich auf sachliche Kommentierung beschränken. Stärker noch als in den Werkbänden sollen in den Briefbänden Einleitungen und Kommentar auf das Notwendigste beschränkt werden. [...] Die Erläuterungen haben sich grundsätzlich auf das zu beschränken, was unbedingt zum Verständnis des behandelten Briefes notwendig ist. Die biographischen Mitteilungen sind knapp zu halten, und längere Zitate sollen nur dann im Wortlaut gebracht werden, wenn sie an schwer zugänglicher Stelle publiziert sind; in allen anderen Fällen genügt ein Verweis auf den Druck. 1°

Der äußere Zwang ist diesen Sätzen zweifellos abzulesen. Man könnte deshalb der Meinung sein, hier sei aus der Not eine Tugend gemacht worden, oder man habe sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückgezogen. Doch ist das gewachsene editorische Methodenbewußtsein in dem Protokoll von 1959 ebenfalls deutlich spürbar. Die ersten nach der veränderten Zielsetzung erschienenen Bände waren ein Briefband (Bd.30, hrsg. von Lieselotte Blumenthal) und die beiden Bände der philosophischen Schriften (Bde. 20 und 21, unter Mitarbeit von Helmut Koopmann hrsg. von Benno von Wiese). Damit legten die beiden neuen Gesamtherausgeber auch praktische Muster ihrer Konzeption vor. Die Bände, so unterschiedliche Texte sie auch enthielten, hatten eine Gemeinsamkeit, die noch über die Beschlüsse von 1959 hinausging und seither für alle weiteren Bände Bestand hatte: Es fehlte eine allgemeine Einleitung völlig. An ihrer Stelle wurden zu Beginn des Anmerkungsteils in sachlicher Form die Grundsätze der Edition dargestellt. Eigentlich erst von diesem Zeitpunkt an gab der Editor in der Schiller-Nationalausgabe jeweils grundsätzlich Rechenschaft über die Teilschritte seiner geleisteten Arbeit. (Allerdings hatten auch frühere Bände, insbesondere der erste Band der Briefabteilung - Bd.23, hrsg. von Walter Müller-Seidel - schon beachtliche Methodenbeschreibungen enthalten. Doch standen diese Abschnitte früher mehr am Rande, während sie jetzt in eine zentrale Position rückten.) In dem von Lieselotte Blumenthal herausgegebenen Briefband 30 heißt es über die Erläuterungen: Sie "beschränken sich auf die zum Verständnis des vorliegenden Briefes notwendigen Sacherklärungen." 11 Das stimmt fast völlig mit der Formulierung des Protokolls von 1959 überein. Benno von Wiese ist in Band 21 wesentlich ausführlicher. Seiner Beschreibung der Erläuterungsgrundsätze ist das Ringen um Kompromisse in der Darstellungsform des Apparates anzumerken. Es werden Zugeständnisse sichtbar; aber es werden strikte Grenzen dort gezogen, wo dem Herausgeber eine sozusagen faktologische Erläuterungspraxis unangemessen zu sein scheint:

Ό Protokoll der Sitzung der Mitarbeiter der Schiller-Nationalausgabe am 5. März 1959 in Bonn. [Typoskript] ,S .3-4. 11 SNA 30,230.

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Horst Ν ahler Den E r l ä u t e r u n g e n gehen fast ausnahmslos kurze Einführungen zu den jeweiligen Schriften voran; diese sollen dem grundsätzlichen Verständnis dienen, sind jedoch so sachlich wie möglich gehalten und vermeiden daher bewußt jede subjektive Interpretation. Es erscheint dem Herausgeber sinnvoller, an Stelle einer ausführlichen, aber naturgemäß sehr zeitgebundenen Einführung in Schillers Philosophie, die nur allgemein auf Einflüsse, Abhängigkeiten, Verbindungen und Zusammenhänge zu sprechen kommen kann, den Nachweis von Beziehungen innerhalb des Schillerschen Gesamtwerks und von geistesgeschichtlich bedeutsamen Querverbindungen vom Einzelfall aus zu geben. Der Herausgeber verzichtet andererseits aber auch auf eine unübersehbare Fülle von Einzelerklärungen und gibt nur dort Hinweise, wo diese zum Verständnis von Textstellen, Schillerscher Anspielungen oder übergreifender Problemzusammenhänge unbedingt erforderlich sind. Die Erläuterungen sollen nicht etwa an die Stelle eines Konversationslexikons treten und erklären daher auch nicht jedes halbwegs unbekannte Fremdwort Dagegen versuchen sie, dem Verständnis gedanklicher und geschichtlicher Zusammenhänge zu dienen. So sind vor allem die für das Schillersche Philosophieren zentralen Begriffe und Aussagen ausführlich und in größerem Zusammenhang kommentiert. [...] Das erstrebenswerte und auch vom Herausgeber erstrebte Ziel eines in sich bereits zusammenhängenden und fortlaufend lesbaren Kommentars ließ sich im Rahmen dieser Ausgabe allerdings nicht überall voll erreichen. 12

Besonders der letzte Satz ist außerordentlich vielsagend. Das Ideal eines den Text begleitenden, fortlaufend lesbaren Kommentars ist eine für die Einführung in Schillers philosophische Begriffswelt gut nachvollziehbare Forderung. Aber auch andere Gründe können eine solche Form der Erläuterungen herausfordern. Im Apparat zum "Don Karlos" wurde von Paul Böckmann geltend gemacht, daß sich die lange und komplizierte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Werks durch die zusätzliche Hilfe einer der Handlung folgenden, aber auf die Verhältnisse in den einzelnen Fassungen hinweisenden zusammenhängenden Darstellung besser erhellen ließe. Freilich erscheinen in diesem sogenannten "Kommentar zur Akt- und Szenenfolge" wieder paraphrasierende Elemente; und es ließen sich auch Überschneidungen zum Einzelstellenkommentar nicht vermeiden. Aber die besondere Überlieferungslage rechtfertigte eine Zusammenschau von dichterischen Motiwerflechtungen, wie sie sonst schwer nachzuvollziehen gewesen wären. Dieser Apparat zum "Don Karlos" in der Nationalausgabe ist ein bemerkenswerter Fall, in dem sich werkspezifische Besonderheiten und methodische Verfahren aus den verschiedenen Entstehungszeiten der Ausgabe überlagern. Der Ausnahmefall "Don Karlos" verdeutlicht im Grunde das eigentlich in jüngster Zeit anders geartete Erläuterungsmodell der Nationalausgabe. Die möglichen, aber zu vermeidenden Extreme der "subjektiven Interpretation" und der bloßen bezugslosen Anhäufung von Faktenwissen sind leicht zu benennen. Dennoch sind die Grenzen zu ihnen gelegentlich schnell, häufig auch unbewußt, überschritten, wenn der Kommentar entweder zu wenig weiterführende Substanz besitzt oder wenn er andererseits mit der Aufschließung von literarischen Strukturelementen des betreffenden Werks verknüpft werden soll. So sprengt schon die notwendige Einführung in die spezielle philosophische Begriffswelt Schillers die Grenzen eines asketisch strengen Sachkommentars, wie ihn dagegen Band 10 (hrsg. von Siegfried Seidel, 1980) in einer

12

SNA 21,102.

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Form vorführte, in der - zeitbedingt - auch geringe Ansätze zu komplex oder kontrovers auszutragenden Fragestellungen ausgespart blieben. 13 Die seit 1978 tätigen Herausgeber Norbert Oellers und Siegfried Seidel arbeiteten auf eine Präzisierung der Erläuterungsgrundsätze hin. Im Protokoll einer Mitarbeiterbesprechung vom September 1979 wurden die nunmehr gültigen Zielvorstellungen für die Anmerkungsteile der Schiller-Nationalausgabe festgehalten: [Es] herrschte [...] fast völlige Übereinstimmung darüber, daß grundsätzlich Sacherläuterungen zum besseren Verständnis der Werke geboten werden müssen und daß auf Interpretationen (im Sinne von subjektiv bestimmten 'möglichen Textdeutungen') gänzlich zu verzichten sei. - Es wurde unterschieden zwischen allgemeinen zusammenfassenden (übergreifenden) Erläuterunge (a) und Einzelstellen-Erläuterungen (b). Die allgemeinen Erläuterungen sollten verdeutlichen: Autorintention sowie Genese und Eigenart des Werkes (z.B.: Dokumente zur Entstehungsgeschichte, Entstehungsgeschichte, historische Einordnung des Werks und seiner intendierten Bedeutung), Art der Quellenbenutzung, evtl. Zusammenhänge im Einzelwerk und Beziehungen zu anderen Werken Schillers, Beziehungen zu älteren und zeitgenössischen Werken anderer Autoren, Beziehungen zu außerliterarischen Erscheinungen, Wirkungsgeschichte (bis 1805). Die Einzelstellen-Erläuterungen enthalten vor allem: Wort- und Begriffserklärungen, Erläuterungen historischer Daten und Fakten, Angaben zur Quellenverwendung im einzelnen (Zitate sind evtl. zweisprachig zu bieten) sowie Hinweise auf spezielle Bezüge, die unter (a) im allgemeinen abgehandelt wurden.14

Realisiert wurden diese Prinzipien mit unterschiedlichem Erfolg. Sie bewirkten aber insgesamt eine zunehmende Dichte und einen erhöhten Informationsgehalt der Kommentare. Relativ einheitlich ließen sich die Anmerkungsteile der Briefabteilung gestalten, weil hier jene Textelemente weniger in Betracht kamen, deren literaturgeschichtlicher und ästhetischer Stellenwert kommentarbedürftig erschien, und weil es von der Sache her vordringlich um eine Aufarbeitung der biographischen Einzelheiten ging. Die Schwierigkeiten lagen dabei in der Berücksichtigung historischer Nachbardisziplinen (Wirtschaftsgeschichte, Verlagsgeschichte, Medizingeschichte usw.), deren Erkenntnisse nicht immer unmittelbar auf Schillers Briefe anwendbar waren. - Bei den Werken war die Form des Kommentars in stärkerem Maße vom spezifisch ästhetischen Charakter der Texte oder der Textkomplexe abhängig, gelegentlich auch von der Art der Überlieferung (wie im Falle des "Don Karlos"). Die historischen Dramen, die historischen Schriften und in wieder anderer Weise die Übersetzungen verlangen eine ausführliche Bewertung der von Schiller benutzten Quellen und häufig einen auf die Einzelstellen bezogenen Vergleich. Fragmentarisch überlieferte Texte stellen den Editor in den Erläuterungen nochmals vor zusätzliche Aufgaben. Herbert Kraft hat sie so beschrieben: Die Erläuterungen sollen aus dem Stoff - den Quellen, den literarischen und historischen Vorlagen eine Folie herstellen, vor der die Form des Fragments erkennbar wird; so sollen dessen Lücken auch kommentierend nicht ausgefüllt, sondern bezeichnet werden. Aber die erkennbaren Strukturlinien können durch die Wiederholung des Kontextes (der dem Autor im Gedächtnis war) weiter aus-

13 Vgl. dazu: Helmut Koopmann: Für eine argumentative Edition. Probleme der Kommentierung am Beispiel der Philosophischen Schriften Schillers und Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart". In: Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Bd. 19.) 1987, S.45-57, bes. S.47-51. 14

Treffen von Mitarbeitern der Schiller-Naüonalausgabe vom 28.- 30. September 1979 in Weimar. Ergebnisprotokoll (zusammengestellt von Norbert Oellers und Siegfried Seidel). [Typoskript], S.l-2.

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Horst Νahler gezeichnet werden, als es der bloße Text des Fragments ermöglicht, genauer: aufgeschlossen wird die Potentialität des Textes. 15

Die so bezeichneten und wohl nicht bestreitbaren Aufgaben des Herausgebers machen deutlich, daß eine völlig eindeutige Trennung zwischen Sachkommentar und Interpretation immer wieder auf Schwierigkeiten stößt. Aber es gilt die Tatsache zu beachten, daß eine Abhandlung und ein erläuternder Werkkommentar grundsätzlich unterschiedliche Funktionen haben. Auch darauf hat Herbert Kraft aufmerksam gemacht: Im Unterschied zur Textsorte Abhandlung sind die Erläuterungen nicht hierarchisch gegliedert, das heißt, sie, die bloß nebeneinander stehen, müssen für die Interpretation erst noch auf der Bedeutungsebene hierarchisiert werden; in ihrer Präsentation sind die Erläuterungen summierend, schon durch die Lemmatisierung, welche ihre Textsorte begründet. [...] Hat die Wissenschaft überhaupt ihre Ausdrucksformen entwickelt, ist es am Ende allein eine Frage der Organisation innerhalb dieser Wissenschaft, wie sie ihre Ergebnisse veröffentlicht: die Erläuterungen können und müssen auf das verzichten, wofür es eine andere wissenschaftliche Textsorte als Publikationsform gibt. 16

Damit ist das Wesentliche für die methodische Einordnung der erläuternden Teile der Schiller-Nationalausgabe ausgesprochen. Keine umfangreichen Spezialuntersuchungen, keine hierarchischen oder synthetischen Darstellungsformen, keine Exkurse in angrenzende Gebiete haben hier ihren Platz, sondern dem Text untergeordnete, von ihm abgeleitete Explikationen, die auch im Sinn eines Nachschlagewerks, eines Kompendiums für den punktuellen Zugriff nutzbar sein müssen. Die mit dieser Grundeinstellung verbundenen Beschränkungen haben wenig mit einem positivistischen Ausgangspunkt zu tun; denn dieser würde den Erkenntniswert aller über das rein Faktische hinausgehenden Darstellung überhaupt leugnen. Das Gegenteil ist in den Bänden der Schiller-Nationalausgabe der Fall, oder es wird zumindest angestrebt. In der Erkenntnis einer notwendigen wissenschaftlichen Arbeitsteilung will die Ausgabe möglichst zuverlässig und umfassend das Material für großräumige Untersuchungen bereitstellen und damit in der Gesamtheit der Forschung den analytischen Teil übernehmen.

15 16

SNA 12,357. Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S.186-187.

Jürgen Hein

Kommentierungsprobleme von Zensurmanuskripten am Beispiel von Johann Nestroys "Der Talisman"

"Ein Zensor", so läßt Nestroy 1848 den Journalisten Ultra in "Freiheit in Krähwinkel" definieren, is ein Mensch gewordener Bleistifter, oder ein bleistiftgewordener Mensch, ein fleischgewordener Strich über die Erzeugnisse des Geistes, ein Krokodil, das an den Ufern des Ideenstromes lagert und den darin schwimmenden Literaten die Köpf abbeißt;

und weiter heißt es über die Zensur: Die Zensur is die jüngere von zwei schändlichen Schwestern, die tltere heißt Inquisition. Die Zensur is das lebendige Geständniß der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können. Die Zensur is etwas, was tief unter dem Henker steht, denn derselbe Aufklärungsstrahl, der vor sechzig Jahren dem Henker zur Ehrlichkeit verholfen, hat der Zensur in neuester Zeit das Brandmal der Verachtung aufgedrückt 1

Auf den Selbstkommentar Nestroys, der sowohl die Institution der Zensur wie die Praxis des Zensors charakterisiert, komme ich noch an anderer Stelle zurück und verweise überdies auf seine Auseinandersetzung mit der Zensurbehörde anläßlich von "Mein Freund" (1851).2 Hier sollen zunächst einige mit der Überlieferung des "Talisman" zusammenhängende Probleme genannt werden. Im Originalmanuskript des "Talisman" (H), bei dem es sich um eine Entwurf-Handschrift handelt - die Reinschrift scheint verschollen - fehlen nach 1,5 (Auftrittslied Titus) alle Couplets (1,15; 11,22; 111,16), das Quodlibet (111,11) und die Szene 111,16.3 sie 1 2

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Johann Nestroy: Sämtliche Werke [SW], vgl. Anm.3, Bd.5, S.152. Vgl. den in SW Bd.15 mitgeteilten Zensurakt, vgl. Anm.14. Folgende Textgrundlagen wurden benutzt: (1) "Titus Feuerfuchs oder Die Schicksalsperücken. Posse in 3 Aufzügen . J. Nestroy 1840". Eigenhändige Handschrift Nestroys. St. B. Wien; Signatur: I.N. 39.426 (= H) (2) "Der Talisman. Posse in 3 Akten von Joh. Nestroi. Censur-Buch". Theatermanuskript von fremder Hand. ÖNB, Theatersammlung; Signatur Carl Th T. 4a (= Z) (3) "Der Talisman. Posse mit Gesang in drei Acten von Johann Nestroy. Mit einem allegorischen illuminirten Bilde". Wien (Verlag und Druck von Joh. Bapt. Wallishausser) 1843 (= D) (4) Komische Theatergesänge , No.388 (Lied, gesungen von Hrn Nestroy: Der hat weiter nit g'schaut), No.389 (Lied, gesungen von Mad. Rohrbeck: Die Männer habn's gut), No.390 (Lied, gesungen von Hm Nestroy: Ja, die Zeit ändert viel), No.391 (Lied, gesungen von H m Nestroy: No, da hab' i schon gnu). (A. Diabelli und Comp.) Wien [1841] (= NS) (5) "Der Talisman. Posse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy". Johann Nestroy: Gesammelte Werke , Bd.2, hg. von Vincenz Chiavacci und Ludwig Ganghofer, Stuttgart 1890, S.67124. (=CG) (6) "Der Talisman. Posse mit Gesang in drei Akten". Johann Nestroy: "Sämtliche Werke", Bd. 10, hrsg. von Fritz Brukner und Otto Rommel, Wien 1927, S.383-493. (= SW)

Jürgen Hein

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fehlen auch i m Zensurmanuskript (Z), während der Druck (D) - ebenso die früher als in D in Form eines Klavierauszuges gedruckten Lieder ( N S ) - zum Teil jene Elemente enthalten, zu denen sich auch Vorarbeiten und Entwürfe finden. Offenbar hat Nestroy in diesen Partien w i e auch in den Dialogen eine Art Selbstzensur geübt, deren Zusammenhänge und Interferenzen mit der 'offiziell' gehandhabten Theaterzensur w i e diese selbst der K o m m e n t i e r u n g bedürfen. Hierzu bietet der Vergleich v o n Η mit Ζ und D i m Kontext der Produktionsbedingungen des Vormärz Theaters eine Grundlage. 4 D i e bisherigen Editionen ( S W Bd.10, 1927; Herles 1971) bringen nur eine zumeist unkommentierte A u s w a h l der Zensureingriffe. 5 Otto R o m m e l bestreitet überdies die Funktion von Ζ für die Textkonstitution: Ζ ist, obwohl doch sicherlich aus H, bzw. aus der nach Η angefertigten (verlorenen) Originalhandschrift ohne Zwischenglied abgeleitet, deshalb als Textgrundlage nicht brauchbar, weil sein Verfasser sichtlich bemüht ist, durch Vermeidung zahlreicher "gefährlicher" Wendungen der Zensur zuvorzukommen. Der Anhang verzeichnet nur einige Beispiele solcher Vorzensur aus den ersten sieben Szenen, da ein vollständiges Verzeichnis den Variantenapparat auf das Zehnfache seines Umfangs anschwellen würde. 6 D e m ist mit Siegfried Scheibe die Bedeutung von Erstdruck und zensurierter Fassung zu für Textkonstitution entgegenzuhalten: Uns interessiert heute natürlich ein Werk in der Form, in der es der Autor seinem Publikum unterbreiten wollte, also eine nichtzensurierte Textform. Ist sie überliefert (etwa in Form einer vollständigen Hand schrift oder eines späteren vollständigen Druckes), wird der Editor dieser Textfassung vor der des Erstdrucks den Vorzug geben. Aber wirkungsgeschichtlich ist nicht diese Textfassung, sondern der von der Zensur verstümmelte Erstdruck von Bedeutung, der in der Edition also trotzdem in entsprechender Weise zugänglich gemacht werden müßte, ganz abgesehen davon, daß die Zensureingriffe für die Untersuchung der gesellschaftlichen Zeitumstände von großer Wichtigkeit sind.7

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(7) "Der Talisman. Posse mit Gesang in drei Acten". Text und Materialien zur Interpretation besorgt von Helmut Herles. Berlin, New York 1971. (= Herles) Zu diesen Bedingungen vgl. Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. Raimund und Nestroy. Darmstadt (1978) 2 1991, S.81f.; - ders.: Johann Nestroy. Stuttgart 1990, S.46f.; - Johann Hüttner: Vor- und Selbstzensur bei Johann Nestroy. In: Maske und Kothurn 26, 1980, S.234-249; - Klaus Kanzog: Literarische Zensur. In: Reallex. d. dt. Literatur gesch., Bd.4, 21984, S.998-1049; - ders.: Textkritische Probleme der literarischen Zensur. Zukünftige Aufgaben einer literaturwissenschaftlichen Zensurforschung. In: "Unmoralisch an sich ...". Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Herbert G. Göpfert und Erdmann Weyrauch, Wiesbaden 1988, S.309-331; vgl. ferner: Hugo Aust: Gottes rote Tinte. Zur Rechtfertigung der Zensur in der RestauiationszeiL In: Nestroyana 9,1989, S.35-48; - Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982, S.98-113,162-170 und 176-183; - Friedrich Walla: Krokodil am Geistesstrom oder die jüngere Schwester der Inquisition: Johann Nestroy und die Zensur. In: Nestroyana 9,1989, S.22-34. - Vgl. ferner Anm.ll und zum Vergleich Η - Ζ: Herles 1973, vgl. Anm.5, S.124-129. Eine ausführlichere Sammlung von Beispielen mit ansatzweisem Kommentar bringt Helmut Herles: Nestroy und die Zensur. In: Jürgen Hein (Hrsg.): Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1973, S.121-132, bes. S.124-129. SW. Bd.10, S.614. Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: Probleme der neugermanistischen Edition. Besorgt von Norbert Oellers und Harunut Steinecke. ZfdtPhil. 101,1982, Sonderheft, S.23; vgl. ders.: Zur Darstellung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio 2), S.21 und 27; ders.: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit In: editio 4,1990, S.57-72.

Kommentierungsprobleme von Zensurmanuskripten

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Das Verhältnis zwischen Η, Ζ und D bedarf daher einer tiefergehenden Kommentierung. In zwei Fußnoten bringt Rommel ein paar Beispiele für die "ungemein ängstlich[e] und vorsichtigfe]" Art des "Vorzensors" und äußert die Vermutung: Vermutlich konnte Nestroy damit rechnen, daß der mit der Überwachung der Aufführung betraute Polizeibeamte nicht das ganze Stück mitlas, sondern sich darauf beschränkte, an der Hand des amtlich zensurierten Exemplars zu konstatieren, ob die vom Zensor beanstandeten Stellen tatsächlich vermieden wurden. Was aber im Zensurmanuskript nicht angestrichen war, hatte Aussicht, durchzugehen. Für den Druck war die Zensur ohnehin milder.8

Auffallig sind in Ζ weniger die Beanstandungen des Zensors, der z.B. verlangt, den Namen des Schriftstellers "Herr von Platt" in "Herr von Plitt" oder "Plütt" umzuändern, 9 als die vorsorglich überhaupt weggelassenen bzw. veränderten Wörter und Passagen, die z.T. in D wieder vorkommen. Das Verhältnis zwischen Η, Ζ und D kommentiert Helmut Herles so: Die Originalhandschrift ist nicht nur unvollständig, sie ist auch qualitativ in verschiedenen Einzelheiten schlechter als der WALLISHAUSSER-Druck. Nestroy unterwarf sich einer Selbstzensur, die zwar nicht so weit geht wie in dem für die offizielle staatliche Zensur "frisierten" Zensurmanuskript, die ihn aber dennoch auf erotische, religiöse und soziologische Bemerkungen vorsorglich verzichten läßt. Eine Ursache für die noch unbefriedigende Qualität der Reinschrift ist demnach das Doppelspiel Nestroys aus Rücksicht auf die Zensur. Ein anderer Grund für die Mängel der Handschrift ist die Tatsache, daß sie noch nicht auf dem Theater erprobt ist. Der Druck dagegen berücksichtigt in der Regel die doppelte Buchführung des Autors gegenüber der Zensur, indem er fast alle Stellen aufnimmt, die der Selbstzensur oder gar den Strichen des Zensors zum Opfer gefallen war. Außerdem spiegelt der Druck die Erprobung auf dem Theater wider.10

Diese Ausführungen wie auch einige der Äußerungen seines editorischen Vorgängers Rommel stellen eher Vermutungen dar, als daß sie sich auf Textbefunde stützen könnten. Dazu wäre ein umfassender Vergleich der Textzeugen, einschließlich der Vorarbeiten und des Szenariums nötig. 11 Überdies stellt sich das Problem der Kommentarbedürftigkeit dieser Texte. Aussagen über eine mögliche Selbstzensur Nestroys - etwa für die Kopie des einzureichenden Zensurbuches - können angesichts fehlender Hinweise in H, z.B. durch Vermerke, 'Kringel', Korrektur in roter Tinte, wie es sie bei anderen Stücken gibt, und des fehlenden Zensuraktes nur vage bleiben. Immerhin könnte aus den Auslassungen und Streichungen in Ζ und im Vergleich mit der Zensurpraxis bei anderen Stücken durch den Kommentar eine Art 'Zensurprofil' rekonstruiert werden, das vielleicht sogar Aussagen über die Selbst- oder Vorzensur zuließe. Dabei wären auch gattungsspezifische Fragen (z.B. Vorgaben der Possen-Produktion, Unterschiede zwischen Theater- und Buchzensur, Status der Lied-Einlagen, Drama als 'fließender Text') sowie der Status von

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SW. Bd.10, S.614. Der Theaterzettel weist die Form "Plütt" auf. Herles 1971 (vgl. Anm.3), S.97f.; vgl. Herles 1973 (vgl. Anm.5) und ders.: Nestroys Komödie: "Der Talisman". Von der ersten Notiz zum vollendeten Werk. Mit bisher unveröffentlichten Handschriften. München 1974. Vgl. Anm.12 und 23.

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Zensurmanuskripten und Probleme der Überschneidung 'textkritischer' und 'erläuternder' Kommentarteile zu bedenken.12 Je nach Materiallage gelingt es nur in Ansätzen, den historischen Zensur-Horizont und die Konsequenzen für den schreibenden Schauspieler zu erhellen, etwa die zu erwartenden Schwierigkeiten mit der Zensur schon bei der stofflichen Adaption der Vorlage oder die Verfahren der Selbstzensur während des Schreibprozesses bzw. die Anweisungen an den Kopisten für die Gestaltung des Textbuches, das bei der Zensur einzureichen ist. 13 Das vorliegende Zensurbuch zum "Talisman" läßt Rückschlüsse auf die Selbstzensur Nestroys zu, wenngleich aufgrund des fehlenden Zwischengliedes zwischen Η und Ζ keine eindeutigen 'Beweise' vorliegen. Hinzuweisen ist femer auf den besonderen Status von Theatertexten, insbesondere von Possentexten, und ihre ständigen Veränderungen im Blick auf Zensurvor Schriften; sie sind meist 'vorbeugend' und 'offener1 konzipiert. Die kommentarbedürftigen Quellen spiegeln objektiv, d.h. an Zensurvorschriften nachvollziehbar, Rücksichten auf die Zensur wider, z.T. aber wohl auch eher subjektive Auslegungen durch den einzelnen Zensor. Die Überlieferung des "Talisman" zeigt, daß ein Stellen-Kommentar dem Leser kaum eine Einsicht in die Zensurpraxis mit ihren verschiedenen Ebenen zwischen Selbstzensur, gesetzlichen Zensurbestimmungen und subjektiven oder willkürlichen Eingriffen einzelner Zensurbeamter vermitteln kann. Denkbar wäre ein zu kommentierender synoptischer Abdruck von Η und Z. Im Idealfall, wenn Zensurakt, Zensurbuch und Dokumente der Vorzensur erhalten sind, kann sich die Kommentierung auf ein Mindestmaß beschränken. Im Falle des "Talisman" ist das Zensurbuch erhalten, nicht aber der Zensurakt, im Falle von "Theaterg'schichten durch Liebe, Intrige, Geld und Dummheit" (1854) ist es umgekehrt. In beiden Fällen lassen sich Art und Grund der Zensur nicht mehr am Text nachvollziehen; hier kann der Kommentar versuchen, auf dem Hintergrund erhaltener Dokumente wenigstens ein - ich sagte es schon -'Zensurprofil' zu beschreiben. 14 Der Zensurakt und andere Quellen bedürfen ebenfalls der Kommentierung. Erhellend sind neben der Dokumentation geübter Praxis vor allem auch Nestroys eigene Äußerungen und Stellungnahmen - Formen des Selbstkommentars - in Briefen, in Eingaben an die Zensur, 15 aber auch als'Possen-Aussage', wie in "Freiheit in Krähwinkel". [...] die Dichter haben ihre beliebteste Ausred' eingebüßt. Es war halt eine schöne Sach', wenn einem nichts eing'fallen is und man hat zu die Leut' sagen können: "Ach Gott! Es is schrecklich, sie verbieten einem ja alles."

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Herles 1973 (vgl. Anm.5) vermutet bereits in Nestroys Vorarbeiten zum "Talisman" Selbstzensur; - zum Verfahren der Selbstzensur vgl. Hüttner (vgl. Anm.4); zu allgemeinen Fragen vgl. Jürgen Hein: Aspekte der Nestroy-Edition. In: editio 3,1989, S.114-124. Als Beispiel sei das Problem einer u.a. aus Zensurgründen nicht realisierten Offenbach-Bearbeitung erwähnt, vgl. Johann Nestroy: Briefe, vgl. Anm.15, S.225-227. Vgl. Anm.4, ferner die Dokumente bei Adalbert Zaleisky: Handbuch der Gesetze und Verordnungen, welche für die Polizei-Verwaltung im österreichischen Kaiserstaate von 1740-1852 erschienen sind. 3 Bde. Wien 1854-1856 und Otto Rommel: Nestroy und die Zensur, SW. Bd.15, S.364-398. Vgl. die bei Rommel (Anm.14) aufgeführten Dokumente, die Hinweise in den Aufsätzen von Hüttner und Walla sowie Johann Nestroy: Briefe. Hrsg. von Walter Obermaier. Wien, München 1977.

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[...] und blättern Sie vier Monat' zurück in diese österreichischen Blätter, so werden Sie außer ein bisserl Theaterpolemik nichts anders finden als: Neueröffnete Gasthauslokalität, - abermaliger Zierdezuwachs in der Residenz, - prachtvolle Dekorierung, - gediegener Geschmack des Herrn Pritscheiberger, - prompte Bedienung durch höfliche Kellner, - zum Schlüsse ein serviler Appendix über das gemütliche Glück in Wien. - Ja, so tief hat eine niederträchtige hohe Zensur die öffentlichen Organe erniedrigt [...].16

An die eingangs zitierte Passage aus demselben Stück erinnernd, darf nicht vergessen werden, daß Nestroys Selbstkommentar 1848 nur gesagt werden durfte, weil die Zensur für eine kurze Zeit aufgehoben war und die Zensurpraxis gelockert wurde. Für andere Possen mag man die entsprechenden Rückschlüsse auf die 'Schere im Kopf bei Autor und Schauspieler, auf das Nicht-Gesagte, nur Angedeutete ziehen, wobei die Grenzen zwischen Kommentar und Interpretation als Deutung des Nicht-Gesagten fließend werden. Die umfangreiche Literatur zum Problem der Kommentierung zeigt trotz kontrovers geführter Diskussion in einigen Punkten Gemeinsamkeiten, die für unsere Thematik von besonderem Interesse sind. 17 Hingewiesen wird auf den Zusammenhang von Befund und Deutung und darauf, daß Edition immer auch schon Interpretation ist. Danach steht der Kommentar im Dienst der Textkritik; im Blick auf das hermeneutische Prinzip besteht seine Funktion in der Erhellung des Zusammenhangs von Textkonstitution, Rezeption und Interpretation. Gefordert wird die Aufbereitung historischen Materials zur Klärung des Kontextes der Werkentstehung im Bewußtsein der subjektiven Verstehens- und Erkenntnisvoraussetzungen des Editors. Der Kommentar soll über Sachinformationen auf der Faktenebene hinausreichen, er zielt nach Manfred Windfuhr im Anschluß an Wolfgang Frühwald nicht auf das Verständnis einzelner Textstellen, sondern des ganzen Werkes und müsse "über enzyklopädisches Detailwissen hinaus in semantische und poetische Tiefendimensionen einführen", besonders bei Texten, "in denen sich Begriffe und ästhetische Systeme erheblich gewandelt haben". 1 8 Er nennt als erläuterungsbedürftig folgende Bereiche: Leitbegriffe des Textes, 'Reaktion' auf Texte anderer bzw. "Intertextualität", Übernahmen und Abweichungen; Quellenerfassung und Quellenkritik seien komplexer anzulegen, das ästhetische Verständnis könne durch Hinweise auf Gattungsbesonderheiten, Aufbau strukturen, Motive usw. gefördert werden, dies lasse sich aber nicht in Einzelerläuterungen auflösen. Poetische Texte dürfe man nicht als historische Dokumente behandeln, bei denen nur die Faktenebene für erläuterungsbedürftig gehalten werde. Die hier genannten Aspekte sind für die Kommentierung des Zensurhorizontes und die Problematik des Verstehens aus historischem Abstand von großer Bedeutung.19

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SW. Bd.5, S.141 und 143. Vgl. zuletzt Siegfried Scheibe et al.: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988 und Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin et al. Darmstadt 1990 sowie die dort verarbeitete Literatur. Manfred Windfuhr: Zum Verständnis von Kommentar und Genese. Diskussionsbeitrag. In: editio 5, 1991, S.172. Vgl. Kraft, vgl. Anm.17, S.180: "Die Aufgabe der 'Erläuterungen' ist es, die Form des Werkes erkennbar zu machen: einen geschichtlichen Hintergrund zu zeichnen, vor dem die ästhetische Kontur

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Die folgenden Beispiele (Einzelstellen; Vergleich Η mit Z) zeigen nur einige Aspekte notwendiger Kommentierung, so etwa die Beschreibung der Strategie der Vermeidung obsoleter Anspielungen durch Abschwächung, des Weglassens ganzer Passagen, aber auch den Hinweis auf den Zusammenhang mit der Textgenese (z.B. 12/34: "Gehilfe der Wittwe", eine Ergänzung in Η wird in Ζ weggelassen). Überdies illustrieren die 'Literaten-Szene' (11,23-24) und der Schluß (111,21), wie durch Wegfall bzw. Streichung eben nicht nur einzelne Stellen, sondern der gesamte Kontext betroffen werden. Die Beispiele beziehen sich überwiegend auf die durch die Zensur geschützten Bereiche Gesellschaft, Staat, Kirche (z.B. 9 / 2 6 f „ 11/36, 25/8, 3 9 , 1 4 - 1 7 , 4 4 / 2 9 f „ 6 1 / 1 5 , 62/3 lf.), auf die 'anerkannte' Literatur (42/23ff.) und vor allem auf erotisch-sexuelle Anspielungen (z.B. 12/32, 12/34, 25/31-35, 31/7, 48/12, 54/9, 6 1 / 1 2 ) . 2 0 [...] ein Stellwagen ist das pfiffigste Unterschied des Standes jeden Menschen aufsitzen laßL [...] und wenn man sich auch den Kopf aufsetzt, es nutzt nix, das Vorurtheil is eine Mauer, von der sich noch alle Köpf die gegen sie ang'rennt sind, mit blutige K[ö]pf zurück gezogen haben. Er möcht' also bey unserer jungen sauberen Gärtnerinn-Wittwe Gehilfe weiden? TITUS. Gehilfe der Wittwe? Wie g'sagt, ich -qualificier·' mich zu Allem. [...] wenigstens, was ich von die Millionär weiß, so führen fast alle aus millionarischer Gewinn-Vermehrungspassion ein so fades trockenes Geschäftsleben, was kaum den blühenden Nahmen -Vegetation· verdient. TITUS. Die Perücken wirckL FLORA (seine Haare betrachtend ). Nein diese Schwärze, ganz italiaenisch TITUS. Ja, es geht schon schon beynahe in s Sicilianische hinüber. Meine Mutter war eine südliche Gärtnerinn[.] FLORA. Weiß Er aber daß Er sehr ein eitler Mensch ist,? mir scheint Er brennt sich die Locken

9/26f. weil... aufsitzen laßt Z: weil er jeden Menschen sitzen laßL 11/36-12/2 das Vorurtheil ...gezogen haben. Z: fehlt.

12/32f. Gehilfe werden . Z: in 'Dienst geh'n. 12/34 TITUS H: (+ Gehilfe der Wittwe?+). - Gehilfe der Wittwe? Z: fehlt. - ich ... zu Allem . Z: mir is alles recht. 25/4-8 wenigstens ... verdient. Z: fehlt.

25/15 Die Perücken . Z: Der Talisman . 25/27 italiaenisch . Z: Süd-Länder . 25/28 Sicilianische. Z: Äquatorische südliche . Z: sicilianische .

des Werkes erscheint, sein geschichtlicher Stellenwert, der Erkenntnis stand, welcher innerhalb der Geschichte des Bewußtseins mit ihm erreicht ist." 20 Zu weiteren Einzelstellen-Beispielen vgl. Herles 1973 (vgl. Anm.5). - Seiten- und Zeilenzahl beziehen sich auf Haupttext und Apparat der in Vorbereitung befindlichen Edition: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Stücke 17/1 "Der Talisman". Hrsg. von Jürgen Hein und Peter Haida. Wien / München 1992/93. - Auf die Dokumentation der in der Vortragsfassung genannten Literarischen Szene' (11,23-24) und des Schlusses (111,21) wird hier aus Platzgriinden verzichtet

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Kommentierungsprobleme von Zensurmanuskripten (will mit der Hand nach den Locken fahren.) TITUS (zurückprallend ). O, nur nit anrühren, ich bin sehr kitzlich aufn Kopf. FLORA. Kindischer Mensch [...] [...] denn wie viele ganze Kerls gehn mit z'riss'ne Röck herum! [...] über meine Bengelhaftigkeit [...] können dann gleich auch • Complottemachen [...] solche Züge sind nicht für lebenslängliche Schleyer geformt. [...] man macht dadurch überhaupt dem Ehstand ein sehr schlechtes · Compliment · , daß man nur immer die verstorbenen Männer, die ihn schon überstanden haben "die seeligen" heißt. Stolz in die unbekannten Welten blicken [.··] Das sind die neuen metaphisischen Galanterien [...] Man braucht ihnen nur Lobeserhebungen und Schmeicheleyen um's Maul zu streichen, so sagt jeder, "ah der Mann versteht's - [.··] Ich hab' geglaubt Sie sind ein Marquis, eine Mischung von Baron, Herzog und Großer des Reich's? FRAU v.CYPRESSENBURG. Wozu brauchen Damen einen Jäger? TITUS. Nein, er betreibt ein stilles abgeschiedenes Geschäft, ein Geschäft bey dem die Ruhe das einzige Geschäft ist, er liegt von höh'rer Macht gefesselt, und doch ist er frey und unabhängig, denn er ist Verweser seiner selbst - er ist todt [...] haibeten Heurathsantrag gemacht. [...] der Zorn überweibt Sie [.·.]. TITUS. Das ist · Ottokars · Glück u[nd] Ende [...] TITUS. Oder gesetzt, lieber Abgeordneter, ich vergesset das Völkerrecht und schlaget Ihnen nieder, Bey ein Haar hätt' er mich beym Haarzopfen erwischt. Wenn der den Zöpfen sieht so is aus; denn das glaubt er mir doch nicht daß mir aus Kränckung ein Zöpfen g'wachsen is.

25/31-35 (will mit der Hand ... Kindischer Mensch . Z: fehlt.

26/lf. denn wie ... Röck her' um! . Z: fehlt. 31/7 meine Bengelhaftigkeit. Z: mich 35/4 dann ... Complotte machen . Ζ, T, D, CG: uns dann auch gleich z'sammreden, 38/28f. lebenslängliche Schleyer geformt. Z: ewiges Wittwenthum geschaffen/ 9/14-17 man macht... "die seeligen" heißt. Z: fehlt

39/20 Welten . Z: Wolken 39/23 metaphisischen Z: fehlt. 42/23-25 Man braucht ... sagt jeder . Ζ, T, D, CG: Ich darf nur ihre Sachen göttlich finden, so sagt sie gewiß.

44/29f. eine Mischung ... des Reich's? Ζ: fehlt. 48/12 Damen . Z: wir 49/36-50/1 ein Geschäft. Ζ, T, D, CG: fehlt. 50/3 denn er ... seiner selbst. Z: fehlt. 54/9 haibeten . Z: fehlt. 61/12 überweibt. Z: übermannt 61/15 Ottokars Z: mein 62/31 Abgeordneter. Z: Mann 62/31f. das Völkerrecht. Z: mich ein wenig

80/40 beym Haarzopfen. Z: den Catogan ; T, CG: Zöpfen 81/3-6 (umarmt ihn ... Hände kommt). Z: fehlt 81/10 Zöpfen. Z: Catogan 81/12 ein Zöpfen g'wachsen is. Ζ: einen Catogan kriegt hab'

Eine Kommentierung müßte über nur punktuelle Erläuterungen von Einzelstellen hinausgehen. Dazu ist im Blick auf die von Klaus Kanzog genannten drei Bereiche eine umfassende Aufarbeitung sowohl des historischen Kontextes, soweit anhand erhaltener Dokumente möglich, als auch der jeweiligen konkreten Textgenese und des aktuellen 'Anspielungshorizontes' erforderlich; insbesondere geht es um die Aufdeckung der

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"strukturellen Zusammenänge und Wirkungsfaktoren".21 Bei der Kommentierung wird sich das Problem stellen, ob und wie die herangezogenen Texte des kulturellen Umfeldes ihrerseits einer editorischen und kommentierenden Behandlung bedürfen. Ein zusammenfassender Überblickskommentar, der die Einzelstellenkommentierung ergänzt, müßte die Aufgabe der 'Rehistorisierung' des Textes leisten, Normen, 'System' der Zensur und mentalitätsgeschichtliche Hintergründe beschreiben, auch die Zensur als Entstehungsbedingung von Texten themasieren. Er hat sich dabei jeglicher Vermutung zu enthalten und auf nicht 'Erklärbares' oder Rekonstruierbares explizit hinzuweisen. 22 Im vorliegenden Falle hieße das, mit dem Kommentar bereits beim Schreibprozeß selbst anzusetzen, d.h. die Unterschiede in den Vorarbeiten gegenüber Η als auch zensurbedingte zu analysieren und zu beschreiben, z.B. Rücksichten auf die Zensurvorschriften während der Aneignung und Bearbeitung der französischen Vorlage. 23 Anschließen sollte sich eine systematische und kategoriale Beschreibung der zensierten Passagen, gegebenenfalls unter Hinzuziehung anderer Stücke und weiterer zeitgenössischer Quellen, wobei - soweit möglich - zwischen Selbstzensur und offizieller Theaterzensur bzw. Buchzensur (für D) zu unterscheiden ist.

21 Klaus Kanzog: Probleme der Kommentierung. In: K.K.: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleist. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München 1970, S.220. 22 Anregungen durch Vorträge und Diskussionen der Hamburger Tagung wurden ohne Einzelnachweis eingearbeitet 23 Ansätze dazu macht Herles 1973, vgl. Anm.5, S.127-129.

Elke

Austermühl

Kommentar, Interpretation und ästhetische Analyse Zur Bedeutung der Kommentierung für das Verständnis der Dramen Frank Wedekinds am Beispiel "Der Kammersänger"

Seinen großen Erfolg auf den zeitgenössischen Bühnen verdankt der "Kammersänger" seiner - 'Kastration', wie es Wedekind formulierte.1 Der 1897 entstandene Einakter entwickelte sich zu Lebzeiten des Autors zu dessen meistinszeniertem Drama. Seine Popularität verdankt es nicht nur seiner - moralisch vergleichsweise unverfänglichen Inhaltlichkeit; populär wurde der "Kammersänger" vor allem durch die Streichungen und Änderungen, die die Theater vornahmen, um das Stück als Komödie spielen zu können. Als satirische Posse auf den kommerzialisierten Kunstbetrieb und auf die arrogante Geistlosigkeit des zeitgenössischen Virtuosentums eroberte das Stück von 1903 an die deutschen Bühnen.2 In einem Brief an die Direktion des Irving Place Theatres in New York schreibt Wedekind 1907: Seit Jahren wurde in den Aufführungen des Kammersängers alles das, um dessentwillen ich das Stiick geschrieben habe, herausgestrichen, und es blieb eine Hanswurstiade übrig, bei deren Anblick ich mich vergeblich fragte, aus welchen Gründen ich sie zu Papier gebracht haben sollte. Vor allen Dingen war in dieser Hanswurstiade der Tod der verliebten Frau gänzlich unverständlich, so daß sich eine Theaterdirektion [Max Reinhardt] bei ihrer Darstellung des Stückes einmal den Scherz geleistet hat, die Frau nach ihrem Tod wieder aufstehen zu lassen.3

Zwei Jahre später veröffentlichte Wedekind in einer Neuauflage des Dramas ein Vorwort, um dort "gegen jeden, auch den geringsten Strich in diesem Stücke ausdrücklich zu protestieren, auch auf die Gefahr hin, daß der 'Kammersänger· daraufhin für alle Zeiten von der deutschen Bühne verschwindet".4 Durch den Rekurs auf weitere Selbstkommentare wird zwar verständlich, warum sich der Autor gegen eine Komödien-Interpretation des "Kammersängers" verwahrt: Es ist aber höchst zweifelhaft, ob diese Selbstkommentare - und deren Präsentation im Kommentar - geeignet sind, dem Leser zu einem Verständnis zu verhelfen, das dem Sinnpotential des Dramas gerecht wird. Die Selbstkommentare legen nahe, den "Kammersänger" als Schlüsselstück5 zu verstehen, und führen zu der Auffassung, das Drama sei offenbar nur geschrieben, "damit Wedekind mit der ihm die Aufnahme verweigernden

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In unveröff. Notizen (Notizbuch 58,1909), Stadtbibliothek München, Wedekind-Nachlaß. Zur Theatergeschichte des Einakters vgl. Günter Seehaus: Frank Wedekind und das Theater. Remagen-Rolandseck 1973, S.260ff. Gesammelte Briefe (GB). Hrsg. von Fritz Strich. Bd.2. München 1924, S.196. Der Kammersänger. 4. Auflage. Berlin 1909. So z.B. Paul Fechter: Frank Wedekind. Der Mensch und das Werk. Jena 1920, S.72; Klaus Wolfram Thomas: Gerardo-Dühring: Ein Selbstgespräch Wedekinds. In: GQ 44,1971, S.185-190.

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Kunstwelt vermittels eines Kunstdialogs Abrechnung halten kann".6 In der Tat weist der Autor mehrfach darauf hin: "Professor Dühring bin ich selber, so wie ich mir mit dreiunddreißig Jahren dem Theater gegenüber erschien".7 Auch der Rekurs auf den historisch-biographischen und werkgenetischen Kontext bestätigt diese Deutung. "Der Kammersänger" entstand in einer Lebensphase, in der sich der nun schon 30-34-jährige Wedekind verzweifelt um die Aufführung eines seiner Dramen bemühte. Nach erfolglosen Versuchen in München begab er sich Ende 1896 nach Berlin, um dort - wiederum vergeblich - Kontakte zu einflußreichen Theaterleuten zu knüpfen. Während hier Ibsen und Hauptmann gefeiert werden, verläßt Wedekind im August 1897 unverrichteter Dinge die Stadt und reist zu seiner Schwester Erika nach Dresden. Dort schreibt er in den folgenden zwei Monaten den "Kammersänger" nieder. Erika Wedekind ist inzwischen zur Königlichen Hofopemsängerin avanciert und hat sich auf einer Reihe von Gastspielen als Gesangsvirtuosin einen Namen gemacht. Während der Niederschrift des "Kammersängers" ißt der erfolglose Bruder bei ihr, wie er sich ausdrückt, "das Gnadenbrod".8 Zwar läßt sich die These, für Gerardo habe Erika Wedekind Modell gestanden,9 nicht durch einschlägige Dokumente belegen. Verbürgt ist aber, daß Wedekind zur Entstehungszeit des "Kammersängers" zahlreiche Kontakte zu Mitgliedern der Dresdner Hofoper hatte.10 Verbürgt ist auch, daß er später selbst betonte: Ich war mir bewußt, eine außergewöhnlich scharfe, brutale Intelligenz zum Vorbild gehabt zu haben, wie ich sie an einem Dutzend lebendiger Kammersänger gesehen und bewundern gelernt hatte.11

Trotz solcher äußerer Korrespondenzen führen die Selbstäußerungen des Autors und Informationen zum autobiographisch-werkgenetischen Kontext hermeneutisch in die Irre. Ein Kommentar, der sich auf die Präsentation entsprechender Zeugnisse beschränkt und auf weitergehende Erläuterungen verzichtet, trägt nicht zum Verständnis des Dramas bei, sondern er sorgt für die Reduktion des vielfältigen Sinnpotentials, das der Wortlaut des Textes selbst bereitstellt und das der Kommentar verfügbar machen sollte. Die Namen von Wedekinds dramatischem Personal sind nur selten willkürlich gewählt. In den meisten Fällen implizieren sie bestimmte außerliterarische Konnotationen, die aufgrund der historischen Distanz heute meist schwer aktualisierbar sind. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß der außerliterarischen Anspielung - auf historische Personen, Fakten und Sachverhalte - eine zentrale Bedeutung im dramatischen Kalkül des

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Thomas, vgl. Anm.5, S.185. Was ich mir dabei dachte. In: Gesammelte Werke (GW). Bd.9. München 1921, S.429. - Auch in der Beilage zu einem unveröff. Brief an Georg Brandes vom 19.1.1909 heiBt es: "Der alte Professor Dühring spricht Wort für Wort meine eigenen Gefühle aus." (Georg-Brandes-Archiv, Königl. Bibliothek Kopenhagen) GB 1, vgl. Anm.3, S.284. Vgl. Tilly Wedekind: Lulu. Die Rolle meines Lebens. München / Bern / Wien 1969, S.35: "Die Gespräche mit ihr [Erika] notierte er gleich an Ort und Stelle für seinen "Kammersänger", der damals in ihrem Haus entstanden ist."; sowie Kadidja Wedekind: Frank Wedekind und sein Einakter "Der Kammersänger". In: Blätter der Freunde des Landestheaters Kiel 1976/77, S.5-23. Vgl. die uv. Briefe Wedekinds an seine Mutter vom 23.VIII.1897 u. 8.IX.1897, Stadtbibliothek München, Wedekmd-Nachlaß. Vorrede zu Oaha (1909). In: GW 9, vgl. Anm.7, S.438.

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Autors zukommt, ohne daß jedoch in eindimensionaler Weise unmittelbar auf Faktisches Bezug genommen wird. Wedekind nennt seinen Kammersänger nicht zufallig "Gerardo". Zeitgenossen werden sich nur mit Mühe der Assoziationen haben erwehren können, die der Name dieser Bühnenfigur ausgelöst hat. Einer der populärsten Gesangsstars seiner Zeit hieß Alexander Girardi. Der bekannte österreichische Volksschauspieler und Operettensänger war - wie Wedekinds Gerardo - vor seiner Bühnenausbildung in einem handwerklichen Beruf tätig: zwar nicht als Tapezierer - wie es vom Kammersänger gesagt wird - aber als Schlosser. Obwohl Girardi über keinerlei Notenkenntnisse verfügt haben soll, feierte er als Johann-Strauss-Interpret, als Komiker und als Jugendlicher Liebhaber, aber auch als Tenor wahre Triumphe. 1896 löste er wegen Vertragsstreitigkeiten sein Engagement am Theater an der Wien und trat seitdem vor allem auf Gastspielreisen auf. 12 Die Anspielung auf den vokstümlichen Operettenliebling Girardi bringt das Bild vom klassischen Wagner-Sänger, das Wedekinds Gerardo zunächst verkörpern scheint, ins Wanken. Die Anspielung generiert einen Hintersinn, die dem idealistischen Vermittler der Wagnerschen Kunst Facetten des populären Stars und Komikers verleiht. Der Schleier künstlerischer Erhabenheit, der den Tristan-Interpreten umgibt, wird - bereits per Namensgebung - gelüftet. Im Laufe des Dramas wird dieses Bild vom klassischen WagnerSänger dann schließlich systematisch demontiert. Hinter der Maske des Tristan wird die "brutale Intelligenz" des Kammersängers sichtbar. Miß Coeurne, Prof. Dühring und Helene, die der Illusion einer idealen Einheit von Kunst und Künstler bzw. Kunst und Leben leidenschaftlich aufgesessen sind, 13 werden im Gespräch mit Gerardo eines besseren belehrt. Doch das Drama geht im Plädoyer für die rationale Ernüchterung nicht auf. Nicht nur die Kunst-Illusion wird demontiert; auch die brutale illusionslose Intelligenz Gerardos wird ihrer Lebensferne überführt. Denn der Selbstmord Helenes beweist, daß auch der Kammersänger einer Illusion aufgesessen ist. Sein 'gesunder Menschenverstand' ist nur scheinbar zur realitätsgerechten Lebensbewältigung geeignet. Die Welt Wagners wird schließlich durch das Leben hinterrücks bestätigt: An der Leidenschaft der kompromißlos liebenden Frau erlebt der abgebrühte Tristan-Interpret den Realitätsgehalt seiner Bühnenrolle. 14 Den literarisch gebildeten Zeitgenossen war es möglich, diese kritische Sichtweise der Gerardo-Figur nicht erst am Dramenschluß zu entwickeln. Man mußte nicht mit der Philosophie Eugen Dührings vertraut sein, um zu wissen, daß er als Vertreter des nüchternen Rationalitätsprinzips auch auf dem Gebiet der Literatur galt. Weiteren Kreisen bekannt wurden die Kriterien der Dühringschen Literaturkritik 1893 durch sein zweibändiges Werk "Die Größen der modernen Literatur". Das Buch löste eine Flut von Besprechungen aus und eröffnete besonders in naturalistischen Kreisen eine lebhafte litera12

13 14

Vgl. dazu Wilhelm Kosch: Deutsches Theaterlexikon. Klagenfurt/Wien 1953. Bd.3, S.555f.; Günter Tolar: So ein Theater! Die Geschichte des Theaters an der Wien. Wien 1991, S. 155-159 u.ö. Vorwort. In: GW 3, vgl. Anm.7, S.197. Insofern rührt die Änderung des Dramenschlusses durch Max Reinhardt in der Tat an einem Hauptnerv des Stückes; Wedekinds Vorwurf, das Stücke werde dadurch kastriert, entspringt also nicht etwa künstlerischer Eitelkeit

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Elke Austermühl

rische Debatte. Zu den Kritikern Dührings zählte Heinrich Hart, der sich besonders ausführlich mit dessen Schiller-Einschätzung auseinandersetzte. Dühring zitierend führt Hart aus, daß dieser die "Jungfrau von Orleans" für ein "religiös royalistisch verzücktes Landmädchen" hält, "voll von Aberglauben und Wahn"; 15 Schiller selbst werfe Dühring vor, daß er, "sich in falsche idyllische Gefühle verlierend, die Rechte des Verstandes hintansetzte und eine handgreiflich abergläubische und auch sonst beschränkte Denkweise mit poetischem Heiligenschein umgab". 16 Heinrich Hart, zweifelsohne gegen jeden Verdacht idealistischer Befangenheit erhaben, kommentiert dazu: "Ich genieße eben das Drama als eine ästhetische Erregung, während Dühring es mit dem Verstände durchwühlt."17 Daß nun nicht der Kammersänger, sondern der idealistische Komponist den Namen "Dühring" trägt, deutet die Funktion an, die der außerliterarischen Anspielung bei Wedekind zukommt. Der unmittelbare referentielle Verweis auf die historische Person selbst ist nämlich gar nicht intendiert. Wedekind geht es um die Konnotationen, die dem historischen Namen anhaften. Nicht nur im "Kammersänger" wird bevorzugt Material außerliterarischer bzw. 'lebendiger' Herkunft dramatisch verarbeitet: Ins Drama eingesprengt sind Facetten 'lebendiger' - also nicht künstlich-künstlerischer Wirklichkeit. Eines der Leitmotive des "Kammersängers" - die Beziehung zwischen Kunst und Leben - wird also auch auf formal-ästhetischer Ebene variiert. Die These von der montageaitigen Arbeitsweise Wedekinds läßt sich durch eine Reihe weiterer Beispiele. Auf zwei von ihnen sei abschließend verwiesen. Das erste Beispiel zeigt, daß der Autor dem scheinbar weltfremden Komponisten einen ganz erstaunlichen Realitätssinn bescheinigt. Die Schimpftirade gegen die "blutarmen" Produktionen der "Ochsgenies" und "Philisterseelen", wie Dühring die Wagner-Epigonen nennt, weist den erfolglosen Komponisten als gut informierten Kenner und scharfsichtigen Kritiker der zeitgenössischen Musikszene aus. Der Text, den er spricht, stammt aus einem musikkritischen Feuilleton, das im September 1896 in der von Julius Schaumberger herausgebenen Münchner Zeitschrift "Mephisto" erschien. Der Autor ist Wedekinds langjähriger Freund Richard Weinhöppel, der später als Hans Richard bzw. Hannes Ruch bei den "Elf-Scharftichtem" mitwirkte und wie Wedekind selbst zu den ständigen Mitarbeitern des "Mephisto" gehörte. Unter dem Pseudonym "Richard" veröffentlichte Weinhöppel eine Glosse mit dem Titel "Richard Wagner und was dann?". Die zentralen Gedanken und die Schlüsselbegriffe dieses Artikels hat Wedekind dem Komponisten Dühring wörtlich in den Mund gelegt. 18 Daß Wedekind sich "gegen jeden, auch gegen

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16 17 18

Heinrich Hart: Eugen Dühring und die moderne Literatur (1893). In: Ders., Literarische Erinnerungen. Ausgewählte Aufsätze. (Gesammelte Werke, Bd. 3). Berlin 1907, S.308. - Vgl. dazu auch Heinrich Hart: Mit und ohne Dühring. In: Freie Bühne 4,1893, Bd.l, S.210ff. Hart: Eugen Dühring [...], vgl. Anm.15, S.309. Ebda "[...] Unsere Komponisten haben sich in Wagner verrannt, und sind vor lauter sublimer Technik um Leib und Leben gekommen, um das gerade, was aus dem in allen Künsten dilletirenden Jüngling Wagner die größte, abgeschlossenste Erscheinung gemacht hat. Unsere Künstler haben kein Blut, keinen Pulsschlag. 'Meistersinger', wie sie Wagner selber in unsterblicher Weise parodiert hat. Sie sind Menschen mit hochragenden Entwürfen, mit himmelanstrebenden Konstruktionen, aber ohne Raketensatz, ohne Temperament, unfähig, ihre Konstruktionen mit lebendigem Fleisch auszufüllen. Sie gebären ihre Kinder 'im Geiste und in der Wahrheit'. Sie haben keinen Stachel im Fleisch. Sie

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den geringsten Strich"19 verwahrt und grundsätzlich 'beim Wort' genommen sein will, hat u.a. auch hierin seine Ursache. Das zweite Beispiel betrifft die Oper des alten Komponisten, aus der er einige - bisher immer nur als Ulk verstandene - Kostproben gibt. Bei den im "Kammersänger" zitierten Passagen aus Dührings Oper "Hermann" handelt es sich nun aber keineswegs um beliebig austauschbaren fingierten Klamauk, sondern um authentische Werkzitate. Die Vorlage, der sie entnommen sind, ist ein Opernlibretto Frank Wedekinds mit dem Titel "Nirwana".20 Der bisher unveröffentlichte Text, an dem Wedekind im Sommer 1896 gearbeitet hatte, blieb Fragment, weil der Autor keinen Komponisten fand, der sich für die musikalische Realisation interessieren ließ. Auch das Wissen um die Herkunft und um den Entstehungszusammenhang dieses Librettos ist geeignet, das scheinbar eindimensional gezeichnete Dühring-Bild zu demontieren. Aus dem "Nirwana" -Fragment läßt sich ablesen, daß die geplante Oper ausdrücklich nicht in der Tradition des Wagnerschen Musikdramas konzipiert war; vielmehr werden dramatische Motive Wagners dazu benutzt, um sie mit Versatzstücken der romantischen und veristischen Oper zu kontrastieren und ironisch zu brechen.21 Ein Jahr nach dem Abbruch der Arbeit greift nun Wedekind im "Kammersänger" auf das Werk zurück und benutzt es, wie es scheint, zur Verspottung einer seiner Dramengestalten. Doch die Vermutung, darin dokumentiere sich lediglich eine Distanzierung der Autors von seinem Werk, vereinfacht die Funktion, die den Opernzitaten im Drama zukommt. Denn nicht die Oper selbst wirkt im Drama lächerlich, sondern sie wird es durch den Kontext, in den Wedekind sie stellt Lächerlich wirkt sie nur deshalb, weil Dühring fragmentarisch, ohne Bezug zum Werkganzen, aus ihr zitiert Damit korrespondiert auch Wedekinds Zeichnung des Komponisten: Es ist nicht die Qualität seines Werkes, die Dühring zur komischen Figur macht, sondern die Bedeutung, die sie in seinem praktifühlen sich behaglicher, als es Wagner je gethan, ob sie im grauen Elend sitzen oder in Amt und Würden. [...] Die nachwagner'schen Komponisten sind Köche, die exquisit kochen können, und denen nur lediglich die nöthigen Viktualien fehlen. Sie stillen den Hunger statt aus der Natur, aus dem Kochbuch. [...] Während jede große Kunst vor Allem aus der Herzensnaivetät als ihrem Mutterboden aufwächst, verstehen es die Epigonen des großen Meisters mit Hülfe der Kunst Naivetät zu machen. Das schmeckt, wenn es auf die Zunge kommt, wie ein plattirtes Siberbesteck. [...] Diese im Treibhaus großgezogenen angehenden Geistesriesen beginnen mit der Prätension, Kunst zu schaffen, und zum lebendigen Leben gelangen sie nie. Im besten Fall schaffen sie Kunst für Künstler, aber nicht für hungrige, durstige Menschenkinder mit Schwächen und Gebrechen, mit guten Trieben und schlechtem Gewissen. Das Lebensmark hat ihnen die Sonne Wagners aus den Knochen gesogen; es sind jugendliche Greise, die es meisterhaft verstehen, die Muse zu amüsiren, aber ihren Schooß zu befruchten gelingt ihnen nicht. [...]" (Mephisto 1, 18%, Nr.l, S.5f.) Vgl. dazu die Passage im "Kammersänger" in: GW 3, vgl. Anm.7, S.219. 19 Vgl. Anm.3. 20 Darauf hat erstmals Friederike Becker hingewiesen. "Nirwana" war eine Auftragsarbeit für Baron von Grote. Das Projekt wurde vermutlich deshalb nicht realisiert, weil es Wedekind nicht gelang, einen geeigneten Komponisten für seine Arbeit zu interessieren. (Vgl. Friederike Becker: Tannhäuser, Lohengrin und der Fliegende Holländer brachten mich schließlich auf die richtige Spur.' Annäherungen Wedekinds an die Oper. In: Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien. Hrsg. von Elke Austermühl, Alfred Kessler und Haitmut Vinson. Darmstadt 1989, S.155ff.) 21

Vgl. ebda.

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Elke Austermühl

sehen Leben einnimmt. Lächerlich an Dühring ist die Tatsache, daß er sein Lebenswerk unter grotesk-komischer Mißachtung der Realität geschaffen hat. Sein Lebenswerk bleibt ein Werk für die Schublade.22 Die Hinweise zum "Kammersänger" können Schwierigkeiten und Chancen einer angemessenenen Wedekind-Kommentierung nur andeuten. Exemplarisch sollte gezeigt werden, daß die Edition schon dann interpretative Weichen stellt, wenn der Kommentar auf jegliche "Erläuterungen" verzichtet und sich auf die Präsentation scheinbar wertfreier und 'objektiver1 Zeugnisse bzw. Autorkommentare beschränkt. In diesem Fall legt der Kommentar eine Werkrezeption nahe, die wesentliche Sinndimensionen des literarischen Textes verschüttet, die Verständnis nicht fördert, sondern verkürzt. Dagegen sollte es Aufgabe einer hermeneutisch interessierten Kommentierungsarbeit sein, den Besonderheiten des literarischen Textes Rechnung zu tragen. 23 Sie sollte das Ziel verfolgen, dessen semantische Potenz sichtbar zu machen und die ästhetischen 'Ursachen' dieses Sinnpotentials aufzudecken. Zu diesem Zweck darf sich der Kommentar nicht auf die Ausräumung von Verstehenswiderständen oder die Erhellung sog. 'dunkler' Textstellen beschränken, weil sich interpretativ relevante Fakten auch hinter solchen Textstellen verbergen, die dem Benutzer keine Verstehensschwierigkeiten bereiten. Am Beispiel des "Kammersängers" sollte außerdem gezeigt werden, daß es einer hermeneutisch interessierten Kommentierung nicht um die Identifikation referentieller Verweise auf Historisch-Faktisches gehen kann, weil die im literarischen Text verarbeiteten "Pragmata"24 nicht dem unmittelbaren außersprachlichen Verweis dienen. Sie fungieren dort vielmehr als ästhetisches Material, das aufgrund seiner spezifischen zeitgeschichtlichen 'Herkunft' eine spezifische konnotative Belastung aufweist und dieser Konnotationen wegen Verwertung findet. Aufgabe einer hermeneutisch interessierten Kommentierung sollte es sein, die semantischen Implikationen des verarbeiteten ästhetischen Materials offenzulegen, indem sie den zeitgeschichtlichen und/oder literarhistorischen Kontext rekonstruiert, aus dem dieses Material seine Bedeutung bezieht; d.h. er hat die Quellen, die form-, Stoff- und motivgeschichtlichen Anleihen sowie die kultur- und zeitgeschichtlichen Bezüge, auf die sich der literarische Text zwecks Sinnkonstitution anspielend bezieht, transparent zu machen. Wie die Hinweise zum "Kammersänger" gezeigt haben, sind die Ergebnisse einer derartigen Kommentierung einerseits zu interpretativen Zwecken verwertbar, weil sie zur Wahrnehmung von Bedeutungsdimensionen beitragen, die der Text nur implizit zur

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Wedekinds Motive, sich dem musikalischen Genre zuzuwenden, waren dagegen taktisch motiviert. Ein Erfolg auf der Opernbühne hätte auch seinen Dramen die lange verschlossene Tür zum Theater öffnen können. Als damit nicht zu rechnen war, legte er die Arbeit konsequenterweise beiseite (vgl. ebda.). Darauf hat bekanntlich Ulfert Ricklefs in seinem Beitrag zum Editoren-Kolloquim in Frankfurt/M. bereits 1972 eindringlich hingewiesen (Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme der Kommentierung. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller Seidel. Bonn-Bad Godesbeig 1975. Nachdr. Weinheim 1987, S.33-74). Zum Begriff vgl. Wolfgang Pross: Historische Methodik und philologischer Kommentar. In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der "Theoriedebatte". Hrsg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Haitmut Böhme und Jörg Schönen. Stuttgart 1992, S.277.

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Sprache bringt. Der Wert dieser Ergebnisse liegt andererseits aber auch auf ästhetischpoetologischem Gebiet, weil sie geeignet sind, Einsichten in das ästhetische Verfahren eines Autors zu gewähren. Im Falle Wedekinds führen diese Einsichten dazu, dessen bisherige literarhistorische und poetologische Einschätzung zu revidieren: Charakteristisch für die Dramatik Wedekinds ist nicht in erster Linie deren provokative Inhaltlichkeit, sondern ihr Herstellungsverfahren. Seine Dramen sind das Ergebnis eines ästhetischen Kalküls, das pragmatischen Zeithorizont und literarische Tradition per Anspielung, Zitat und Montage zum Sprechen bringt und die ganzheitliche Kunstform mit disparaten Aspekten authentischer Wirklichkeit systematisch zu zersetzen trachtet. Kunst und Wirklichkeit werden in einem vielschichtig oszillierenden Konstrukt facettenreich miteinander und gegeneinander verwoben, um einander wechselseitig in Frage zu stellen.

Ulrich

Bubrowski

"Verstehen Sie Anspielungen?" Probleme einer Kommentierung der Werke Emst Barlachs

Wie sollte der Kommentar in einer Edition, die sich die Darbietung der Genese von Texten ausdrücklich zur Aufgabe gemacht hat, beschaffen sein? Die Frage impliziert bereits eine erste - allgemeine - Antwort: Kommentar und Ausgabentyp müssen miteinander korrespondieren. Ein einfaches Kombinieren etwa von historisch-kritischer Edition einerseits und dem Kommentarverfahren der Studienausgabe andererseits, wie es mitunter gefordert wurde1, wäre von vornherein eine Mesalliance, würden doch in einem solchen Falle zwei unterschiedliche, ja streng genommen inkompatible Systeme lediglich äußerlich zusammengepreßt. Ist dagegen - und das ist selbstverständlich - eine fruchtbare Partnerschaft zwischen Text und Kommentar angestrebt, so müssen beide Bereiche aufeinander bezogen sein, und zwar nicht nur punktuell, sondern strukturell; das heißt: der Typ der Textdokumentation prädestiniert den Charakter und die Prinzipien der Kommentierung. Eine Ausgabe, deren wesentliches Anliegen - über dieses Ziel besteht Einhelligkeit in der editionstheoretischen Debatte - die Darstellung der Dynamik eines Textes, eines Werkes oder eines gesamten Oeuvres ist, eine Ausgabe, die eben Texte in ihrer Prozeßhaftigkeit freilegt und so eigentlich einen Schaffens- und Erkenntnisvorgang dokumentiert, kann nun konsequenterweise im Kommentar nicht so verfahren, als ginge es vielmehr nur um stabile, abgeschlossene und regungslose Sprachgebilde, wie sie die Studienausgabe - nolens volens - unterstellt und suggeriert. Der Kommentar einer Ausgabe, die sich das Herauspräparieren von Textbewegungen zum expliziten Ziel genommen hat, muß zwangsläufig - die eigenen Prinzipien ernst nehmend - die weitere Herausarbeitung und evtl. Erhellung der vorgefundenen Dynamik leisten. Kurz: der Kommentar einer textgenetischen Ausgabe soll nicht wie bei der Studienausgabe inhaltsfixiert, sondern textorientiert vorgehen. Er darf sich nicht auf einen - vermeindich vorgegebenen - expliziten, meist inhaltlich verstandenen Sinn konzentrieren, um diesen vereindeutigend zu entschlüsseln, gewissermaßen zu übersetzen - und so festlegend den Text zum Schweigen zu bringen. Vielmehr hat er sein Augenmerk auf die verzwickte Bewegung des labilen sprachlichen Gebildes selbst zu richten, dessen eine Ausprägung ja in der genetischen Darstellung empirisch greifbar ist. Jene komplexe Dynamik gilt es, 1

So etwa von Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben, In: Probleme der Kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft Frankfurt am Main, 12. bis 14. Oktober 1970 und 16. bis 18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Heibert Kraft und Walter Müller-Seidel. 1. Nachdruck der 1. Aufl. Weinheim 1987, S.1S; implizit auch schon von Klaus Kanzog: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München 1970, S.207ff.

Kommentierung der Werke Ernst Barlachs

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auch kommentierend zu beleuchten, um weitere ihr eigene Dimensionen herauszuarbeiten. Damit ist nicht das narrative Nachvollziehen der Werkgenese als Aufgabe bestimmt. Orientierungsmarke sollte vielmehr die Frage sein: wie funktioniert der Text? Der Text ist demnach als Text zu lesen und nicht als mimetischer Sinncontainer, den es 'einfach' auszuschöpfen gilt. Der Blick ist vielmehr zu lenken auf dessen spezifisches Verfaßtsein, auf das Zusammenspiel bzw. Gegeneinander seiner Elemente und auf die dadurch ausgelösten Zeichenprozesse. Die Möglichkeiten und Grenzen solchen Kommentierens seien im folgenden am Beispiel des Barlachschen Schreibens skizziert. Von seinem literarischen Produzieren spricht Barlach als von einem "herumflicken".2 Die Fertigstellung seines Dramas "Der blaue Boll" habe "viel Hin- und Herschieben, Abbrechen, Zuflicken, Hacken, Schneiden, Schaufeln, Würgen, Wüten usw. gekostet. [...] Aber einerlei, was es schließlich geworden, es geht wohl zusammen und ist im Einander der einzelnen Teile gefügt. Jetzt mögen die Leser ihren Kummer daran erleben." 3 Seinen Kummer erlebt auch der Kommentator, wird ihm doch in dieser Äußerung implizit die Aufgabe zugewiesen, in der Disparatheit "der einzelnen Teile" deren Zusammenspiel zu entdecken. Barlach sagt ausdrücklich: "es geht wohl zusammen und ist [...] gefügt". Der Text wird hier als ein Gefüge, ein Gewebe deklariert, das mühselig verflochten und verknotet wurde und dessen Einzelelemente schließlich auch miteinander verfilzt sein mögen, dem aber die Spuren gewaltsamen Zusammengesetztseins stets eingeschrieben bleiben. Was für den "Blauen Boll" zutrifft, ist für alle Texte Barlachs richtig: sie sind nie aus einem Guß, sondern durch und durch brüchige Gebilde.4 Gilt es nun, dem Funktionieren solchermaßen bestimmter Texte auf die Spur zu kommen, so sind zunächst die Flickstellen und Reibungsflächen, an denen die verschiedenartigen Teile zusammenstoßen, aufzuspüren. Nicht Einheit, nicht ein 'roter Faden' ist also zunächst zu suchen - solches wäre geradezu ein Verwischen der Werkspezifik sondern im Gegenteil: die Differenz der Teile, die Heterogenität des Textes als Ausweis seiner Eigentümlichkeit wäre zu rekonstruieren. Um Einblick in die Machart dieser Texte zu gewinnen, ist also deren mimetische - auf den ersten Blick vielleicht eindeutige - Oberfläche zu durchstoßen. Zu solcher "Entstaltung"5 animieren die Texte durchaus auch ihrerseits. Immer wieder gibt er diesbezügliche immanente Rezeptionssignale. So wird im "Armen Vetter" auf das Wegkratzen der Oberfläche als Verstehenstätigkeit ausdrücklich hingewiesen. Auf den Begriff "Ätznatronlaugenfabrikation" reagiert der Protagonist Iver mit der Frage: "Ist ein Symbol,

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5

Emst Barlach: Die Briefe II. 1925-1938. Hrsg. von Friedr. Dross. München 1969, S.508f. Barlach, Die Briefe II, vgl. Anm.2, S.55. Vgl. z.B. auch die Äußerungen Barlachs zum "Armen Vetter": "da geht's kraus her". (Emst Barlach, Die Briefe I. 1888-1924. Hrsg. von Friedrich Dross. München 1968, S.693); sowie zu den "Echten Sedemunds": "das Ganze ist ein Trödel von Vielerlei". (Ebda. S.576.) Walter Benjamin: Phantasie. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften VI. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt 1985, S.114.

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was?" 6 Und im "Blauen Boll" heißt es entsprechend.: "es kann mehr dahinter stecken als man denkt, kann anders kommen als ausgemacht ist".7 Hier wird genau die Erfahrung ausgesprochen, die der Rezipient macht, der sich näher auf die Barlachschen Texte einläßt. Dieses analytische Sich-näher-Einlassen bedeutet aber, sich von der habituellen Bedeutung der Rede nicht verführen und einlullen zu lassen und dem etwaigen Glauben an die Eindimensionalität der Texte und damit an die handlungsmäßige Unmittelbarkeit als zentralem Kommentierungsbereich abzuschwören. Von einer Doppelbödigkeit als Wesen dieser Texte ist grundsätzlich auszugehen. Wie die allzu selbstsicheren Barlachschen Helden, deren eigentliches Sein erst aufleuchet, wenn ihre fassadenhafte Markigkeit erschüttert wird, so erlauben auch die Texte nur dann einen Blick in ihr kompliziertes Innenleben, wenn man sie gegen den Strich bürstet. Zu einem solchen 'anderen' Lesen, zum tiefergreifenden Entziffern des Palimpsests, laden sie allerdings durchaus auch direkt ein: überall geben sie Signale und streuen Stolpersteine aus, öffnen "dünne, feine Spalten",8 in denen eine pulsierende Sinndynamik aufzuhaschen ist. An diesen Nähten und Schnittpunkten hat der Kommentar einer textgenetischen Ausgabe anzusetzen. Die Vielzahl der 'störenden' Stellen, der 'sperrigen' Wörter, der "Schroffen utnd] Zacken" 9 an der Textoberfläche, die in den fremdwirkenden Partikeln im vertrauten Umfeld, in den unerklärbaren Stellen innerhalb verständlichen Kontextes, in allen Anomalien 10 und in jedem Widersinn manifest werden, all diese Hindernisse einer glatten Rezeption weisen den Text als ein Konglomerat bzw. als ein kompliziertes Ensemble von vielen Texten aus und stellen gleichzeitig die Einstiegsluken zu dessen Tiefendimension dar. Barlachs Schreiben ist als in hohem Maße intertextuelle Operation zu bestimmen. Der Kommentar nun hätte die vielfältigen Fremdkörper im intertextuell organisierten Text zu identifizieren und in ihrer schreibstrategischen und sinnkonstitutiven Funktion einsichtig zu machen. Konkret wäre kommentierend einzugehen auf die große Anzahl von expliziten und kryptischen - auch werkimmanenten - Zitaten, auf Floskeln, Sprichwörter, Wortneuprägungen, Wortumformungen, auf antiquiertes, verballhorntes und anderes irgendwie aus dem Rahmen eines homogenen (Mikro-) Kontextes fallendes Sprechen, etwa auch mißverstandene Wörter, Wortspiele, Kalauer usw. In diesen Zusammenhang gehört auch die Berücksichtigung etwaiger Quellenbezüge, diese besonders unter dem Aspekt der Differenz. Wichtig sind ferner alle im Text auftauchenden Eigennamen, vor allem auch im Verlaufe der Werkgenese vorgenommene Namensänderungen wie andere gegenüber Vortexten abweichende Positionen; des weiteren wären zu berücksichtigen die diversen Formen von Anspielungen auf außerliterarische Bereiche wie sozialgeschichtliche und autobiographische Bezüge usw. Durch die hier erwähnten Operationen dringen 6

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Emst Barlach: Der arme Vetter. Berlin 1918, S.13; ausdrücklich heißt es an dieser Stelle: "Man beizt alles ab damit. Firnis, Farbe, Schein und alles." Emst Barlach: Der blaue Boll. Berlin 1926, S.9. Ernst Barlach: Die Sündflut. Berlin 1924, S.65. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften 1.3. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt 1974, S.1242. Vgl. Michael Riffaterre: L'intertexte inconnu. In: literature. N.41: Intertextualit6s M6di6vales. Paris 1981, S.5.

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externe Stimmen in den Text ein und treten mit diesem in dialogische Konfrontation. Ein auf den ersten Blick vielleicht als einsinnig angenommenes Werk entpuppt sich so als äußerst schillerndes, multiperspektivisches Gebilde, in dessen Stimmengewirr sich immer neue, überraschende Lesarten und Sinnvarianten ergeben. Im Kommentar kann es daher nicht um das Herauspräparieren eines glatten Bedeutungsklartextes gehen - derartige Versuche sind im Falle Barlachs bisher übrigens immer gescheitert - , sondern um die Herstellung eines Einblicks in die Sinngenese des Textes. Das hier Gesagte sei wenigstens kurz an Barlachs zweitem Drama "Der arme Vetter" illustriert. Dieses Werk erweist sich als synkretisches Gebilde, dessen Oberflächenkohärenz nur notdürftig gegeben ist. Diverse, aus einander fremden Stilkonventionen stammende Textpartien geben dem Stück eine bröckelige Konsistenz. So findet sich Dialekt neben Hochsprache, biblisches Vokabular neben Seefahrerjargon, Geschäftssprache neben ekstatischem Ausbruch, Schreien neben Flüstern, die Phrase neben dem individuellen Ton, der Gesang neben dem Gegröhle usw. Das Stück enthält zahlreiche Zitate bzw. Anspielungen auf Werke von Goethe, Büchner, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Klaus Groth, Fontane, Thomas Mann, Luther, Richard Wagner, das Alte und Neue Testament, diverse Volkslieder 11 usw. Ferner dringt eine breite Schicht von zeitgenössischen Realitätspartikeln, also von außerliterarischem Material, in den Text ein: die Namen mehrerer Figuren 12 etc. stammen aus Barlachs Hamburger Erfahrungsbereich und werden gewissermaßen zitiert; dem allen unterliegt darüber hinaus ein evtl. theologisch zu nennender Diskurs, der wiederum von einem in sich gefächerten autobiographischen Feld durchkreuzt wird usw. Diese Linien sind nun vielfach miteinander verflochten und verzahnt, so daß durch die im einzelnen nicht immer mehr überschaubaren Konstellationen ein Verweisungszusammenhang mit einem geradezu unausschöpflichen Bedeutungsreichtum entsteht, und gerade dadurch jede dogmatische Sinnfestlegung erschüttert, alle Bedeutungsstarre verflüssigt wird. Das sei an einem Beispiel wenigstens angedeutet. Ginge es im Kommentar lediglich um die "Vergegenwärtigung des Vergangenen, Auffrischung des Verblaßten, Einholung des Verschollenen", 13 also - darauf läuft es hinaus - eigentlich um Begriffs- und Sacherklärungen, die dem Nachvollziehen des Phänotextes dienen, dann würde die Mitteilung, daß der Name des Dampfers "Primus", auf den die Osterausflügler im "Armen Vetter" warten, einen Reflex aus Barlachs unmittelbarem Erfahrungsbereich darstellt, lediglich als marginale Kuriosität zu werten sein, deren Erwähnung vielleicht ohne großen Schaden unterbleiben könnte. Im Hinblick auf das Sinnspiel unter der Textoberfläche und damit im Hinblick auf Barlachs Schreibart allerdings ist es ein höchst interessantes Detail.

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Die diversen Einzelnachweise mögen einer systematischen Untersuchung des Problems vorbehalten bleiben. So z.B. die Namen der Wirtsleute und des Kapitäns. Hölderlin: Sämtliche Werke. (Große Stuttgarter Ausgabe). Hrsg. von Friedrich BeiBner. Sechster Band: Briefe. Zweite Hälfte. Lesarten und Erläuterungen. Hrsg. von Adolf Beck. Stuttgart 1954, S. 480.

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Wenn Barlach neben vielen anderen den Namen des Raddampfers, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts regelmäßig auf der Elbe verkehrte, 14 als Realitätspartikel in den Text einwebt, dann unterstreicht er, daß er das präsentierte unerhörte Dramengeschehen nicht in einem jenseitigen, irrealen oder sonst unverbindlichen Bereich, sondern ausdrücklich im Hier und Jetzt ansiedelt, ein Zug, der nicht unbedeutend für die Gesamteinschätzung seines Schreibens ist. Im vorliegenden Text selbst nun entfaltet der sprechende Name eine eigenartige Dynamik: er tritt in Korrespondenz mit diversen Begriffen und Figuren, die auf verschiedene Weise soziale Exponiertheit bezeichnen: so etwa mit der Stütze der Gesellschaft namens Siebenmark, der ausdrücklich immer wieder als "Herr" 15 tituliert wird; aber auch mit Iver, dem Gegenspieler, von dem der Text sagt, er stamme "aus sehr gutem Hause". 16 In diese Reihe gehören auch die Bezeichnungen für Gott: "hoher Herr", 17 "Herrgott" 18 usw., aber durchaus auch eine Figur wie Frau Venus, die mit "Gefolge" 19 auftritt und der ein "Thron" 20 als Requisit beigeordnet ist. Bereits hier wird deutlich, daß der Text durch dieses verweisende Ineinem-Atemzug-Nennen hierarchische Konventionen gründlich durcheinanderwirbelt und disparate Figuren in eine Reihe stellt. An einer ganz versteckten Stelle des Dramas findet sich ein weiterer Niederschlag des genannten Wort- und Vorstellungsfeldes. Auf die Frage der Frau Keferstein, ob es denn in den Dünen "geheuer" sei, antwortet der Schiffer Bolz auf merkwürdige Weise: "Unbedingt, gnä'ge Frau! Das heißt - wenn's so trifft, dann trifft man hier herum in den Sandbergen Monarchen." 21 Im Kontext werden diese nun ausdrücklich mit "Heerscharen" 22 assoziiert, welche - ob himmlisch oder irdisch - die herausragende Position der Monarchen auf jeden Fall unterstreichen. Barlach, dem Kommentator ein Zeichen gebend, läßt die verdutzte Rezipientin der Rede, Frau Keferstein, fragen: "Was sind denn das für welche?" Darauf Bolz: "Monarchen? Düwel ok - Monarchen sünd Monarchen."23 Die Offensichtlichkeit, ja Eklatanz solchen Unsinns bzw. besser: solch intratextueller Inkohärenz indiziert geradezu das Vorhandensein einer Anomalie, also einer Stelle komplexer Codierung und stellt somit eine Aufforderung des Textes dar, nach verstecktem Sinn zu suchen. Eindeutig ist die Passage durch das Wort "Monarchen" mit dem oben angedeuteten Vorstellungsbereich gesellschaftlicher Exponiertheit verknüpft. Ist also die Stelle - der zweimalige Gebrauch des Wortes "treffen" legt das nahe - ein vielleicht etwas aufdringlicher Hinweis auf Iver, jenen besseren Herren, der etwas später von einem Schuß getroffen in eben diesen Dünen gefunden wird? Sicher, dieses auch aber noch weit mehr. Die Stelle verweist ebenfalls auf Siebenmark, der ja am Ende des 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. "Hamburgischer Correspondent", 172. Jg., Nr.336, Abend-Ausg., 21. Juli 1902, S.4. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.30, 34 u.ö. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S. 13. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.46. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.24. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.70. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.70. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.10. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S . l l . Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S . l l .

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Dramas ausdrücklich auch von einem "Schuß" "getroffen" 24 wird, nämlich dem zurückweisenden Wort Fräulein Isenbarns. Das Disparate wird also weiter angenähert, vereinheitlicht, indem es veruneindeutigt wird: die antagonistisch verschiedenen Herren, Iver und Siebenmark, gewinnen Ähnlichkeit, fallen sie doch beide gewissermaßen vom hohen Roß. Als vom Thron gestoßene erscheinen aber auch die bisweilen in den Dünen spukenden Monarchen. Die gängige, so hochtrabende Vokabel ist nämlich als ein 'Fremdwort' aus dem niederelbischen Dialekt zu enttarnen und entspricht etwa den hochdeutschen Bezeichnungen "Landstreicher", "Strolch', 25 "Bettler" 26 "schlechter Kerl". 27 Man hat den Eindruck, daß Barlach diese Episode einzig wegen der Spannung und Verweisungspotenz, die sich aus dem Widerspruch zwischen der habituellen und der hier aktualisierten Bedeutung ergibt, in den Text eingefügt hat. In kaum zu überbietender Konzentration enthält ein einziges Wort das, was es normalerweise bezeichnet und zugleich quasi dessen Gegenteil. Dieser Widerspruch innerhalb desselben Vorstellungs- und Sprachbereichs findet sich ähnlich in der Figur Ivers wieder, der zwar "aus sehr gutem Hause", 28 "aber verbummelt, verlumpt" 29 ist, wie übrigens auch in der Figur des Siebenmark, der gegen Ende ja buchstäblich 'auf den Hund kommt' 30 und bellend durch die Dünen läuft. Wen wundert es da noch, daß auch dem Dampfer "Primus" jener Widerspruch innewohnt: einerseits technische "Sensation der Hanseaten" 31 geht er andererseits mit der Signatur der Demontage Hand in Hand: das Schiff havarierte in der Nacht zum 21. Juni 1902 auf der Elbe. 3 2 Dabei fanden 103 Ausflügler den Tod. Der Erste ist also der Letzte geworden. Von diesem Unfall nun führt eine Linie zu einem weiteren Heruntergekommenen des Dramas, dem schönen Emil, einer lebensgroßen Stoffpuppe. Er, als "Lumpensack" 33 eingeführt, wird nun seinerseits ambiguisiert und erfährt eine eigentümliche Erhöhung: in der Flickenattrappe läßt Barlach neben Fräulein Isenbarn - nicht zufällig ist sie Tanzpartnerin der Puppe - echte Menschlichkeit anklingen, scheint doch in dieser Vogel24

Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S. 125. Heinrich Teuf Hadeler Wörterbuch. Der plattdeutsche Wortschatz des Landes Hadeln (Niederelbe). Dritter Band. Neumünster 1959, S.154. 2 6 Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch (Volksausgabe). Hrsg. von Otto Mensing. Zweiter Band. F bis J. Neumünster 1929, Sp.465f. 27 Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 18.Aufl., bearbeitet von Waither Mitzka. Berlin 1960; S.485. 28 Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.13. 29 Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.13. 30 Siehe Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.106ff. 31 So auf einer Gedenktafel an der Elbe in Hamburg. Die zeitgenössischen Zeitungsberichte hoben einhellig die hervorragende technische Beschaffenheit des Schiffes heraus. So betonte etwa die "Hamburgische Börsen-Halle", 98.Jg., Nr.354 Nachmittags-Ausgabe, 31. Juli 1902, S.3, das Schiff "war aus Eisen, nicht aus Holz gebaut". Die "Hamburger Neueste Nachrichten", 6Jg., Nr.185, 9. August 1902, S.3, zitieren einen Brief Moltkes an seine Braut, in dem er von einer Elbfahrt berichtet und die Schnelligkeit des Schiffes lobt. 32 Die gesamte Hamburger Presse berichtete mehrere Wochen lang detailliert über die Katastrophe, die Hinterbliebenen, die Anteilnahme der Bevölkerung usw. 33 Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.79.

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scheuche - durch den Namen und weitere Anspielungen signalisiert - der Kellner Emil Eberhard durch, der wahre neue Mensch, der nämlich seinerzeit fünf Passagiere aus dem sinkenden Schiff rettete und bei einem weiteren Versuch selbst ertrank. 34 Er, Held und Opfer zugleich, erscheint auch im Text durchaus doppelbödig, allerdings in charakteristischer Umakzentuierung: das hierarchischer Konvention zufolge Unterste, ja Untermenschliche verweist auf die Krone der Humanität. Eine solche vielleicht überzogen anmutende Auffassung des schönen Emil, die sich zudem in diametralen Gegensatz zur einhellig negativen Einschätzung der Figur durch die gesamte Barlach-Rezeption begibt, läßt sich indes weiter untermauern, denn hinter dem Namen Emil steckt wiederum weit mehr, als man soeben noch vermutet hat, wird nicht allein der unter Selbstaufgabe Menschen rettende Kellner aufgerufen. In einem nachgelassenen Wachstuchheft aus dem Jahre 1907, der Zeit also, aus der die ersten Skizzen zum "Armen Vetter" stammen, findet sich ein weiterer Schlüssel zu diesem Namen. Barlach notiert dort u.a. die Wörter "Eme" und "Ador". 35 Diese bezeichnen zwei Figuren, die übrigens auch in dem Fragment "Aus Seespecks Wedeler Tagen" 36 und in anderen nachgelassenen Texten eine Rolle spielen. Die Wörter werden von Barlach suggestiv mit den Namen "Emil" und "Adolf' in Zusammenhang gebracht, so als seien jene aus diesen entwickelt. An einer anderen Stelle desselben Heftes nun findet sich ein hochinteressanter Hinweis: Barlach dekuvriert dort die Wörter als "französirte Namen", Namen, in denen die Begriffe "Aime" und "Ador6" versteckt sind. Er erklärt "Aime" ausdrücklich als "von einem Weib [...] geliebt", aus "mon Aime" 37 hergeleitet. - Vor diesem Hintergrund erscheint es als geradezu geboten, anzunehmen, daß auch im Namen des schönen Emil Spuren dieser auszeichnenden Bedeutung aktiv präsent sind, daß auch der neue Bezug die Figur aufwertet. In die gleiche Richtung weist übrigens noch ein anderer 'Prätext'. In einem Entwurf zum "Armen Vetter" aus dem Jahre 1911 mit dem Titel "Z.d.Osterleuten" heißt es entsprechend: "Der schöne Emil (der alte Sünder) bekommt einen Erzengelposten."38 Das destruierende Durchstoßen der Handlungsoberfläche also gibt den Text als von anderen Texten unterminiert zu erkennen. Diese fremden Stimmen erst bringen ihn überhaupt zum Klingen, indem sie ihn semantisch akzentuieren und - durch die bestehende labile Spannung zwischen den Ebenen - vervieldeutigen und so eine schier unauslotbare Komplexität konstituieren. Noch einmal zurück zu den "Monarchen", an denen dieses Phänomen weiter einsichtig gemacht werden kann. Jene Stelle ist auch als ein Glied in der umfassenden Ver34

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Die Zeitungen berichten, Eberhard weigerte sich, der Aufforderung nachzukommen, an seine eigene Sicherheit zu denken und von Bord zu gehen, mit den Worten: "Es sind noch Kinder unten, die erst gerettet werden müssen." U.a. "Hamburgischer Correspondent". Jg.172, Nr.338,22. Juli 1902, S.3. Das Heft befindet sich beim Barlach-Nachlaß, Emst Barlach Gedenkstätte Güstrow, Signatur LM 4, S. 65 recto. Ich danke den Herren Ernst Barlach, Ratzeburg, und Hans Barlach, Hamburg, für die freundliche Genehmigung, aus den unveröffentlichten Manuskripten zu zitieren. Erschienen in: Die weißen Blätter. Eine Monatsschrift. 7 Jg., Zwölftes Heft. Berlin, Dezember 1920, S.561-570. Barlach, Nachgelassenes Manuskript, vgl. Anm.35, S.59 recto. Barlach, Nachgelassenes Manuskript, Güstrow, Sign. LM 52, S.131 v . Siehe auch: Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.44: der schöne Emil sei "nur von außen ein Lump".

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weisungskette der 'theologischen' Unterschicht des Dramas zu lesen. Fast unmerklich werden die "Monarchen" mit Sünde und Teufel in Verbindung gebracht, jeweils im Dialekt offenbart ("sünd") bzw. versteckt ("Düwel"). Wie diese weltlichen Herren, die bei genauem Hinsehen ja keine Herren sind, mit dem Herrscher der Tiefe in einem Atemzug genannt werden - übrigens wird Iver entsprechend widersprüchlich als "verflixter Heiliger" 39 bezeichnet so hat auch der Herr des Himmels durchaus eine "Kehrseite"40. Der ohnehin schon wenig respektvolle Ausdruck "Herrgottsvadder" 41 - in einem Entwurf hieß es noch "Herrgottsvater" und wurde in einer Spätkorrektur in die aktuelle profane Form verwandelt - wird mit einem sicherlich sehr zweideutigen Epitheton eingeleitet: es ist vom "allerwertesten" die Rede. Die "Heerscharen" nun, mit denen die Monarchen zu tun haben und mit denen man gemeinhin das Beiwort 'himmlisch' zu assoziieren geneigt ist, erscheinen als entsprechend banalisiert: sie sind auch als Läuse in den Kleidern der Landstreicher zu entziffern. Hohes und Niederes, oben und unten fließen also überall ineinander, werden schließlich ununterscheidbar. Die durch die Gegensatzbildung und systematische Konstruktion von Doppelbödigkeit geleistete Infragestellung u.a. überkommener religiöser Anschauungen wird nun noch dadurch auf die Spitze getrieben, daß im Gespräch des Schiffers Bolz mit Frau Keferstein ein Diskurs durchschimmert, der ebenfalls die Auflösung orthodoxer Positionen betreibt. Gemeint ist der Beginn von Thomas Manns Erstlingsroman "Buddenbrooks". Dort kommuniziert die katechisierte Tony, auf den Knien ihres Großvaters sitzend, mit diesem folgendermaßen: "Was ist das. - Was - ist das ..." "Je, den Düwel ook, c'est la question, ma tres chere demoiselle!"42 Zur Erinnerung: im "Armen Vetter" entspinnt sich auf das Stichwort "Monarchen" hin das folgende Spiel: F r a u K e f e r s t e i n . Was sind denn das für welche? B o l z . Monarchen? Düwel ok - Monarchen sünd Monarchen. [...] gnä'ge Frau - - 4 3

In teils wörtlicher und vor allem deutlich strukturhomologer Anknüpfung öffnet Barlach hier gewissermaßen ein Fenster zu dem Roman hin und blendet dessen zersetzenden religiösen Diskurs als latente, aber hörbare fremde Stimme in sein Drama ein. Dieses geschieht weniger im Sinne einer Affirmation der dem Text impliziten Positionen als vielmehr zu deren Kontrastierung und Facettierung. Was im ersten Romankapitel von "Buddenbrooks" zwar durchaus schattiert, aber doch eher eindimensional geschieht, ist letztlich ein ironisches Spiel mit dem Gegeneinander eigentlich unverbindlicher Haltungen zur Religion, dargestellt aus der Perspektive distanzierter Überlegenheit. Bei Barlach impliziert die Stelle dagegen - wenn auch in humoristischer Form versteckt und übrigens schon dadurch von vorneherein gebrochen - eine äußerst komplizierte 'Theologie'. Sie manifestiert ein ernstes, durchaus grüblerisch zu nennendes Fragen nach dem Wesen Gottes und der Stellung des Menschen. (Dieses Problem kann hier nur angerissen 39 40 41 42 43

Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.72. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.72. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.72. Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. l.Bd. (10.Aufl.). Berlin 1904, S.9. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.lOf.

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werden.) "Monarchen" haben im Kontext des Dramas neben den bereits genannten auch etwa die Bedeutungen, die sich mit 'höchste Stufe des Seins' (Gott) und 'Krone der Schöpfung' (Mensch) umschreiben ließen. Der Text nennt nun "Monarchen" und den Teufel in einem Atemzug, stellt sie gewissermaßen als gleichwertig nebeneinander - ein Punkt, dessen nähere Ausführung hier übersprungen sei - und identifiziert daraufhin andererseits Monarchen mit Monarchen ("Monarchen sünd Monarchen."), was zunächst etwa mit 'Gott ist nur mit sich identisch' usw. übersetzt weiden könnte, womit sich ein Widerspruch zur Sicht, der Teufel stünde in Gottes Nachbarschaft, auftut. Liest man nun "sünd" als 'Sünde', so ergibt sich ein weiterer Sinn: durch Sünde wird der Monarch, das gekrönte Wesen, zum Monarchen, dem heimatlosen Landstreicher und Bettler. - Was im Roman auf expliziter Ebene geschieht, nämlich das einigermaßen ungebrochene und deutliche Naserümpfen über das "Heiligste",44 das dort allerdings ausschließlich in fassendenhafter Erstarrung gezeigt wird, bietet das Drama in solcher Eindeutigkeit nicht - im Gegenteil: der zerfasernd differenzierende und dialektisch nuancierende Barlach-Text kommt zu keinem Ergebnis bzw. zu sehr verschiedenen, einander ausschließenden Positionen, denn nicht die apodiktische Artikulation, sondern Frage, Widerspruch, Zweifel und Paradoxie sind seine Verfahrensweisen. Der Bezug auf "Buddenbrooks" verkompliziert die in Rede stehende Dramenpassage auch insofern, als mit ihm u.a. auch eine generelle Infragestellung der hin- und herwendenden Grübeleien, also möglicherweise deren Qualifizierung als "himmelschreiender Mumpitz"45 signalisiert sein könnte. Gerade die Verschränkung von in konventioneller Sicht Einander-Ausschließendem und entsprechend als Nonsens zu Wertendem findet immer wieder statt und ist in allen Poren des Textes anzutreffen. Das geschieht geradezu exemplarisch in der paradoxen Wendung der Frage, ob der Herrgott allmächtig sei und "Nord-Süd" 46 steuern könne. Es ergibt sich emeut ein merkwürdig changierendes Gottesbild. Der Text konstatiert einerseits explizit, Gott sei nicht omnipotent. Vor dem Hintergrund des soeben Entwickelten, der Vereinigung bzw. dem Ineinanderlaufen von Gegensätzen - man erinnere sich auch etwa eines Satzes wie: "Teufel und Gott sind eins." aus dem "Diario Däubler 4 7 - wird man dem Herrgott die Fähigkeit, "Nord-Süd" steuern zu können, durchaus auch zubilligen müssen und folglich seine Allmacht unterstellen. Was die eine Ebene des Textes aufbaut, stellt die andere in Frage und umgekehrt. Was hier als platter "Unsinn"48 erscheint, entfaltet sich dort als komplexer Tiefsinn - gemäß dem immanenten Strukturhinweis: "Je klügere Sachen Sie sagen, desto dümmer kommen Sie mir vor". 49 Noch verzwickter wird es, wenn man die Wendung "Nord-Süd" als charakteristischerweise abgewandeltes, die Wortfolge umkehrendes Zitat aus Büchners

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Thomas Mann, Buddenbrooks, vgl. Anm.42, S.13. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.47. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.24. Vgl. auch die ähnlich komprimierte paradoxe Formulierung S.l 12: "Rechtslinks". Ernst Barlach: Das dichterische Werk in drei Bänden. Dritter Band. Die Prosa II. Hrsg. von Friedrich Droß. München 1959, S.380. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.25. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.47.

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"Woyzeck" 50 liest, mittels dessen dann sogleich wieder die gewonnene höchst unsichere Sicht umgestoßen und weiter kompliziert wird. 51 Durch den Bezug auf Büchners Drama wird ein Bild von Gott in den Text eingespiegelt, das die Vertracktheit der Position potenziert: nämlich die in der Szene "Der Hauptmann. Woyzeck" ungeklärte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes: "wenn wir in den Himmel kämen, so müßten wir donnem helfen", 52 sagt Woyzeck. Die Ambivalenz des Gottesbildes, die in der Kneipenszene des "Armen Vetter" entfaltet wird, wird im Kontext des "Woyzeck" zu einer geradezu beklemmenden Unsicherheit, die im einzelnen gar nicht mehr auszudeuten ist. Die pointierte Wendung "Nord-Süd" ruft nun allerdings nicht allein diese eine Szene des Büchnerschen Dramas auf; das Teilchen erinnert vielmehr an den gesamten Text, dem es entstammt, und spielt diesen so in die eigene Sinngenerierung ein. In anknüpfender Distanznahme zu "Woyzeck" variiert "Der arme Vetter" u.a. die Figurenkonstellation jenes Werks. Das Dreiecksverhältnis Woyzeck-Marie-Tambourmajor erscheint bei Barlach in den Figuren Siebenmark-Fräulein Isenbarn-Iver - ähnlich der Büchnerschen Prägung "Süd-Nord" - gewissermaßen anagrammatisch umarrangiert und semantisch revoziert, wobei auch diese Transaktion die Sinndichte des Barlach-Textes weiter vervielfältigt. Ich breche hier ab, ohne die angesprochenen Bezüge auch nur annähernd vollständig durchgespielt, andere auch nur erwähnend berücksichtigt zu haben. Deutlich wurde aber entgegen der landläufigen Meinung, die eher Rustikalität unterstellt, das kaum überbietbare Raffinement des Barlachschen Schreibens. Ausgehend von einem mehr oder weniger beliebigen, zunächst harmlos aussehenden und isoliert erscheinenden Detail, gemeint ist der Name des Dampfers "Primus", wurde ein Vernetzungssystem einsichtig, das den gesamten Text erfaßt. Dieser gerät, hat die Entzifferung seines Palimpsests auch nur zaghaft begonnen, in rotierende Bewegung: er kombiniert, konfrontiert, konterkariert nahezu alles mit allem, geht auch über sich hinaus in andere Texte und läßt sich im Dialog mit ihnen von deren Positionen infizieren, durchkreuzen, akzentuieren oder hinterfragen. Unter der bisweilen diffusen Inkohärenz der Textoberfläche offenbart sich eine hochorganisierte, feinstrukturierte zusammenhängende Sinnebene, die im Aufbrechen und Hinterfragen konventioneller Wertdichotomien neue, äußerst differenzierte, dynamische Positionen aufbaut. Oberfläche und Tiefendimension des Textes scheinen weit auseinanderzuklaffen und sich von einander wegzubewegen; recht eigentlich aber sind sie dialektisch engstens aufeinander bezogen, denn nur aus der Heterogenität der Einzelteile resultiert jener vielstimmige Dialog und aus diesem die nuancierte Komplexität des Sinngewebes. So konnte Barlach mit Recht sagen: "es geht wohl zusammen und ist [...]

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Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische GesammtAusgabe. Eingel. und hrsg. von Karl Emil Franzos. Frankfurt 1879, S.164. Solche vemneindeutigende Ambivalentisierung findet sich auch als Tendenz innnerhalb der Genese des Werkes. So wurde der in den ersten Entwürfen noch semantisch klar festgelegte Name "Christlieb", der dem Protagonisten eignete, im Verlauf der Werkentstehung durch den weit weniger eindeutigen "Iver" ersetzt. Georg Büchner's Sämmtliche Werke, vgl. Anm.50, S.165. Die neueren Woyzeck-Ausgaben lesen: "wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnem helfen." So z.B. Georg Büchner, Woyzeck. Kritisch hrsg. von Egon Krause. Frankfurt 1969, S.62.

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gefügt". 5 3 Die intra- und - qualitativ durchaus unterschiedlichen 54 - intertextuellen Referenzen erweisen sich dabei als das zentrale integrierende und sinnkonstituierende Verfahren. Durch sie vor allem tut sich das offenbar unbegrenztes Sinnspiel auf, erzeugen sich geradezu in Kettenreaktionen ganze Sinnkomplexe. Die allerdings kann ein Kommentar nicht einfangen, er müßte denn unendlich sein. Was könnte er dann aber in der Praxis versuchen? Er sollte zumindest auf das dem Text innewohnende Potential für solche Sinnexplosionen hinweisen. Er sollte das Material bereitstellen, das es erlaubt, den Text lesend in Bewegung zu setzen. Dieses müßte auf zwei Ebenen geschehen: auf der Ebene der Erläuterung und der Ebene der Erörterung. In Erläuterungen wäre jeweils auf die Bruch- und Schnittstellen des Textes zu verweisen, also durch Worterklärungen, Zitatnachweise usw. Das könnte in sehr kurzer und knapper Form geschehen, da der Kommentar nicht selbst entfalten, kombinieren und gar das Sinnpotential ausschöpfen, sondern lediglich dem Leser Handreichungen offerieren soll, solches zu tun und das Angebot schöpferisch und eigenständig wahrzunehmen und mit dem Vorrat an eigenen, anderen Erfahrungen und Kenntnissen weiter oder neu anzugehen. Der Kommentar sollte den Leser lediglich in Stand setzen, am Sinnspiel des Textes teilzunehmen bzw. sich auf dieses einzulassen. In unserem Falle wären dazu die entsprechenden Erläuterungen der Begriffe "Primus", "Monarchen", "schöner Emil" usw. sowie Hinweise auf Anklänge an "Buddenbrooks" und "Woyzeck" erforderlich. Diese bleiben indes totes Vokabular und bloßer Wissensqualm ohne die Einbettung in ein Bezugssystem. Eine solche nun, so scheint mir, kann - wenn überhaupt - nur durch erörternde Einführungen in die verschiedenen Textdiskurse und ihr Funktionieren geleistet werden. In solchen Erörterungen sollte der Leser Angebote für den dynamisierenden Gebrauch der Erläuterungen erhalten, um dann auf eigene Faust auf lesende Entdeckungsfahrt gehen zu können. Dazu brauchte prinzipiell der Kommentar nur exemplarisch zu sein, d.h. er müßte versuchen, einige der Schlagadern des Textes zu erfassen. - Das ist die graue Theorie! Ob es indes in der Praxis gelingen kann, die Spielregeln entsprechend zu vermitteln, bleibt fraglich. Die Schwierigkeiten, dem Wesen solch hochentwickelten Textes kommentierend beizukommen, scheinen übergroß, und wie zur Ermunterung, es dennoch - weiter - zu versuchen, läßt Barlach den Wirt Jan dem skeptisch bekümmerten Kommentator zurufen: "Sehn Sie, [...] in den Frauen stecken ebensoviel Geheimnisse als im Katechismus man kümmt äwer mit de Tid dorachter, damit trösten Sie sich man." 55 Allein, die textologische Weisheit aus dem Munde des Kneipenwirts kann nur dem wirklich zum Trost gereichen, der sich auch Ivers Frage hinter die Ohren schreibt: "Verstehen Sie Anspielungen?"56

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Barlach, Die Briefe II, vgl. Anm.2, S.55. Ohne einer ontologischen Sicht von Intertextualität generell das Wort zu reden, wird hier der Begriff eher weit gefaßt und auch auf Außerliterarisches bezogen, allerdings nur da, wo sich konkrete Realitätsreferenzen ergeben, wo klar eingrenzbare Realitätspartikel in den literarischen Text eingehen wie z.B. der Name des Dampfers "Primus". Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.51. Barlach, Der arme Vetter, vgl. Anm.6, S.78.

Francesco Ferraris I Sabine Wagner

Zur Edition und Kommentierung frühneuzeitlicher Reiseberichte unter dem Gesichtspunkt der Fremdheitserfahrung und -Vermittlung Ein Werkstatt-Bericht.

Als Mitarbeiterinnen an dem Projekt "Stellung und Funktion des Exotismus in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit"1 beschäftigen wir uns mit der Erstellung des Kommentars für die von Wolfgang Neuber und Ulrich Knefelkamp (Bamberg) geplante kommentierte Textausgabe der - gemessen an der Zeit ihrer Abfassung - frühesten deutschen Reiseberichte über Amerika. Die Entstehungsgeschichte dieser Reiseberichte ist in engem Zusammenhang mit dem Kolonisationsversuch der Augsburger Weiser in Venezuela (1528-1556) zu sehen. Im einzelnen sind dies: der Reisebericht Nikolaus Federmanns, verschiedene Briefe Philipps von Hutten, Aufzeichnungen Hieronimus Köhlers und ein Brief Titus Neukomms; vier Reiseberichte, die bei gemeinsamem historischem Hintergrund sehr unterschiedliche Überlieferung, Textkonstitution und Autorintention aufweisen und somit einer sinnvollen einheitlichen Kommentierung bedürfen. In der Edition wird daher dem Textabdruck mit Zeilenkommentar ein zweiter Teil folgen, der neben Einführungen in den historischen Hintergrund des Welser-Unternehmens in Venezuela und zum gattungstheoretischen Kontext des frühneuzeitlichen Reiseberichtes jeweils einen historischen und einen literaturwissenschaftlichen Kommentar zu den einzelnen Texten bietet. Der Reisebericht Nikolaus Federmanns über seine erste Venezuela-Reise (1530-32)2 wurde posthum von seinem Schwager Hans Kiffhaber herausgegeben und erschien 1557 in Hagenau. Nach Kiffhabers und Federmanns eigenen Angaben beruht der zentrale Teil über die Expedition ins venezolanische Landesinnere auf den spanisch abgefaßten protokollarischen Aufzeichnungen eines den Zug begleitenden Notars. Ein Umstand, der keine Ausnahme darstellt, denn die Protokollierung eines Eroberungszuges nach Verlauf, Weg, Bevölkerung, Ausbeute etc. unterlag im 16. Jahrhundert einer zunehmenden Reglementierung; allerdings gelangten diese für den Indienrat bestimmten Protokolle in der Regel nicht an die Öffentlichkeit. Die Übersetzung dürfte zunächst für die Weiser als Rechenschaftsbericht über den gegen anderslautende Vorschriften unternommenen Zug bestimmt gewesen sein. Federmann beabsichtigte wohl selbst die Veröffentlichung, da dem Text zu entnehmen ist, daß er diesem rein narrativen Bericht eine ethnographische Beschreibung beifügen wollte.3 1

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Dieses vom österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaften (FFW) finanzierte Projekt wird seit März 1991 unter der Leitung von Wolfgang Neuber am German. Institut in Wien durchgeführt. Nikolaus Federmann: Jndianische Historie. [...] Hagenau (Sigmund Bund) 1557. Federmann 1557, vgl. Anm.2, B1.12r, B1.14v, B1.28r, B1.32v, B1.45r.

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Kiffhabers Ausgabe erreichte nur eine Auflage. Im Gegensatz zu den anderen beiden selbständig gedruckten Berichten deutscher Amerika-Reisender des 16. Jahrhunderts, denen Hans Stadens und Ulrich Schmidels,4 wurde Federmanns "Indianische Historia" weder in die Reiheneditionen von Reiseberichten durch Theodor de Bry und Levinus Hulsius aufgenommen,5 noch in anderer europäischer Amerika-Literatur der Frühen Neuzeit rezipiert. Philipps von Hutten Briefe aus Venezuela erschienen ebenfalls posthum, und zwar ohne Angabe des Autors als Anhang an die deutsche Übersetzung zweier Cortes-Briefe, die 1550 in Augsburg Philipp Ulhart druckte.6 Die an den Vater und andere Verwandten gerichteten Briefe sind in dieser Ausgabe nur in Auszügen aufgenommen und nicht als Briefe ausgewiesen. Zu ergänzen ist die Ausgabe Ulharts mit der von Meusel 1785 herausgegebenen "Zeitung aus Jndia", die weitere Briefe enthält und erstmals den Autor nennt. 7 Huttens und Federmanns Berichte gelangten, wenn auch nicht zu ihren Lebzeiten, so zumindest schon im 16. Jahrhundert an die Öffentlichkeit, während Köhlers Aufzeichnungen und Neukomms Brief erst Anfang unseres Jahrhunderts im Druck erschienen.8 Eine Abschrift von Titus Neukomms Brief an Mutter und Bruder findet sich in der von Ulrich Neukomm angelegten Lindauer Stadtchronik von 1608 überliefert.9 Hieronimus Köhlers tagebuchähnliche Aufzeichnungen waren ebenfalls für einen familiären Gebrauch bestimmt, sie sind im Familienbuch der Nürnberger Köhler überliefert.10 Keiner der Autoren konnte also zu einer Ausgabe seines Textes Stellung nehmen. Folglich lag dessen Präsentation, d.h. die Vorgabe an den Leser, wie der Text zu verstehen sei, allein beim Herausgeber. Die zeitgenössischen Ausgaben Ulharts und Kiffhabers dürften der Intention des jeweiligen Autors aufgrund zeitlicher Nähe und Vertrautheit mit Kontext und Zweckgebundenheit der Berichte am nächsten kommen. Hier steht,

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Hans Staden: Waihaftige Historia vnd beschreibung eyner Landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschenfresser Leuthen/in der Newenwelt America gelegen/ [...]. Marburg (Andreas Kolbe) 1557. Ulrich Schmidel: Warhafftige vnd liebliche Beschreibung etlicher fuernemen Indianischen Landschafften vnd Insulen [...]. In: [Sebastian Franck], Ander theil dieses Weltbuchs [...]. Frankfurt/Main (Sigmund Feyerabend, Simon Hüter) 1567. De Brys 14-teilige Reihenedition von Amerika-Reiseberichten, die sogn. "Grandes Voyages", erschien in Frankfurt zwischen 1590 und 1634, Hulsius' "26 Schiffahrten" in Nürnberg und Frankfurt 15981650. Philipp von Hutten: [Briefe aus Venezuela, dat. 1538-1540], In: Hernando Cortäs: Von dem Newen Hispanien [...]. Augsburg (Philipp Ulhart) 1550, B1.LF-LVIIV. Philipp von Hutten: Zeitung aus Jndia. In: Historisch-litterarisches Magazin. Hrsg. v. Johann Georg Meusel. l.Teil. Bayreuth/Leipzig 1785, S.51-117. Eine Auswahl von Hieronimus Köhlers Reiseaufzeichnungen erschien in: Hannah S. Amburger: Die Familiengeschichte der Koeler. Ein Beitrag zur Autobiographie des 16. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 30, 1931, S.153-288. Der Brief Neukomms wurde erstmals von Joetze abgedruckt, vgl. Brief eines Lindauers aus Venezuela vom Jahre 1535. Mitgeteilt von Franz Joetze. In: Forschungen zur Geschichte Bayerns 15,1907, S.271-278. S.18-26. Im folgenden zit. als Neukomm 1608. Hieronimus Köhler: [Aufzeichnungen seiner Reise von Antwerpen nach Sevilla und zurück, im Rahmen seiner Autobiographie im Familienbuch der Nürnberger Köhler.] Handschrift a: Familienbuch der Nürnberger Köhler. British Library, Sign. Add.15217, Fol.l3 v -43 v . Handschrift b: Familienbuch der Nürnberger Köhler. Germanisches National Museum, Sign.2910, Fol.l7 v -35 r .

Zur Edition und Kommentierung frähneuzeitlicher Reiseberichte

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wie bei allen gedruckten Reiseberichten des 16. Jahrhunderts, der Nutzen im Sinne einer Wissenserweiterung über den neuen Kontinent im Vordergrund. Mit diesem Argument rechtfertigt Ulhart ausdrücklich seinen Hutten-Abdruck trotz der, wie er sagt, fehlerhaften und nicht korrigierbaren Vorlage, 11 und Kiffhaber sieht den Zweck von Federmanns "Historia" gar in der Demonstration göttlichen Wirkens in der Welt. 12 Unabhängig von ihrem Erscheinungsdatum veröffentlichen alle späteren Ausgaben von denen hier nur einige genannt werden - diese Berichte unter rein historischem Gesichtspunkt, wobei einzig Meusel (1785) vom aufklärerischen Standpunkt her den Umgang des Autors Hutten mit dem Unbekannten zumindest thematisiert: Freylich wuenschet man es wohl noch umstaendlicher und interessanter: allein, wer wird es von Reisenden jener Zeit erwarten, die mehr Durst nach Gold, als Begierde nach Kenntniß des Menschen und der Natur in ferne Lande trieb. 13

Klüpfel 14 ediert Federmanns Bericht unter dem Aspekt der "Deutschen in Amerika", ähnlich Joetze 15 , dessen Abdruck von Neukomms Brief stark patriotisch motiviert scheint. Dieser Aspekt erreicht seinen Höhepunkt in Arnold Federmanns nationalsozialistisch gefärbter Ausgabe der "Historia" seines Vorfahren. 16 Der literarische Wert der Reiseberichte wird von allen Herausgebern fast negiert, da am ästhetischen Reisebericht des 18. und 19. Jahrhunderts gemessen. Am ehesten verständlich ist diese Beschränkung auf historische Faktizität bei Amburgers KöhlerAusgabe 17 im Rahmen biographischer Forschungen, worin folglich alle Amerika-Passagen fehlen. Friedes 18 Versuch, Federmanns Bericht aufgrund stilistischer Argumente als objektive ethnographische Quelle zu deuten, schlägt fehl wegen völliger Verkennung des Protokoll- und Fragmentcharakters. Unsere Edition will Reiseberichte des 16. Jahrhunderts nicht als rein historische Quellen zeigen, sondern als literarische Texte im zeitlichen Kontext. Der Abdruck folgt daher den jeweiligen Handschriften bzw. Erstausgaben, auf Kürzungen, Aktualisierungen oder 'Korrekturen' in Wortlaut und Diktion wird verzichtet. Über die philologische Gestaltung hinaus stellt sich das methodische Problem einer sinnvollen literaturwissenschaftlichen Kommentierung verschiedener Textsorten mit unterschiedlicher, zum Teil fragmentarischer Überlieferung. Die Eroberungsgeschichte Amerikas und die faktischen Folgen für die Alte und die Neue Welt sind weitgehend geklärt, weniger aber, trotz bedeutender kulturhistorischer

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Hutten 1550, vgl. Anm.6, Bl.LF. Federmann 1557, vgl. Anm.2, Bl.A ij r . Hutten 1785, vgl. Anm.7, "Vorerinnerungen", B.4V. - Aus drucktechnischen Gründen wird in den Zitaten dieses Beitrages das über den Vokalen a, ο und u gesetzte e, sowie auch das Uber dem u gesetzte ο nachgestellt. (Anm. des Hrsg.) N. Federmanns und H. Stades Reisen in Südamerika. Hrsg. v. Karl Klüpfel. Stuttgart 1843 (Bibliothek d. Literarischen Vereins Bd.47). Vgl. Anm.8. Deutsche Konquistadoren in Südamerika. Mit einem Nachdruck der "Indianischen Historia" des Nikolaus Federmann d. J. von Ulm. Hrsg. von Arnold Federmann. Berlin 1938. Vgl. Anm.8. Nikolaus Federmann: Indianische Historia. Mit einer Einführung von Juan Friede. München 1965.

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Ansätze, 19 die Wahmehmungsstrukturen des neu Entdeckten und Unbekannten in den Köpfen der Europäer. Somit sehen wir die Bedeutung dieser Berichte vor allem in der Dokumentation der Fremdheitserfahrung und ihrer literarischen Vermittlung. Das literaturwissenschafdiche Hauptanliegen der Neuedition besteht darin, diesen Aspekt für den heutigen Leser nach dem Verständnis des 16. Jahrhunderts erfaßbar zu machen. Unerläßlich hierfür ist die Berücksichtigung gattungstheoretischer Voraussetzungen. Den Reisebericht als eigene literarische Gattung, als poetische Reise-Beschreibung individuellen Erlebens, gibt es in der Frühen Neuzeit nicht. Er versteht sich vielmehr als "Historia", d.h. als Narratio und Descriptio gleichermaßen beinhaltender 'wahrhaftiger' Bericht persönlicher Historiographie, weshalb seine stilistischen Vorgaben und Darstellungsmuster nicht in der zeitgenössischen Poetik zu suchen sind, sondern in den deutschsprachigen Rhetoriken des 16. Jahrhunderts. Diese entwickelten sich aus dem Normierungsbedürfnis des populärjuristischen Sprachgebrauchs und orientieren sich an antiken Vorbildern, insbesondere Cicero und Quintillian. 20 Der Reisebericht als Berichterstattung ist hiernach in seiner Funktion des Informierens /docere bereits an die niedere Stilebene des genus humile und die Bedingungen möglichster Kürze und Affektfreiheit gebunden. Weiter bestimmen spezielle stilistische Erfordernisse und Zweckgebundenheit der jeweiligen Textsorte, ob es sich etwa um einen Brief, um Tagebuchaufzeichnungen im Rahmen einer Familienchronik oder um ein Protokoll handelt, sowie die Intention des Autors und der Entstehungskontext die Darstellung des Fremden maßgeblich. Die Frage ist also, welche Mittel angesichts dieser Rahmenkonstitution den einzelnen Texten zur Verfügung stehen, um nach der Auffassung des historischen Lesers ein Empfinden von Alterität zu erzeugen und wie dieses im Kommentar einer Neuedition zu entschlüsseln ist. Da es hier für eine Annäherung nicht genügt, alles dem heutigen Leser möglicherweise Unbekannte an Begriffen und Hintergründen zu erklären, entschieden wir uns für eine doppelte Form der Kommentierung. Ein fortlaufender Zeilenkommentar in Form von Fußnoten übernimmt Begriffserklärungen, Personenverifizierungen, Vermerke von Druckfehlern und Lesarten der Vorlagen, zusätzlich Querverweise und Hinweise auf bestimmte Momente der Fremdheitswahrnehmung, soweit sie das Prinzip der Verständnishilfe betreffen. Ein gesonderter literaturwissenschaftlicher Kommentar zu den jeweiligen Berichten befaßt sich mit deren gattungstheoretischem, funktionellem und

Als mittlerweile Standardwerke seien hier angeführt: Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. München 1976. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. FrankfurtM 1985. Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Berlin 1981. Etwa: Formulari und teutsch rethorica. Augsburg (Anton Sorg) 1482; Heinrich Geßler: Formulare und tiitsch Rethorika. Straßburg 1493; Friedrich Riederer: Spiegel der waren Rhetoric. Freiburg i.B. 1493; Abraham Sawr. Penus Notariorum. Frankfurt/M. 1580. Eine Bibliographie bei Reinhard M.G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefsteilem des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969, S.248ff. Zur Bedeutung für die Textkonstituüon des frühneuzeitlichen Reiseberichts s. Wolfgang Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt/M. 1989, S.50-67 und ders.: Fremde Welt im europaischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen 121), S.117 - 147.

Zur Edition und Kommentierung frühneuzeitlicher Reiseberichte

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entstehungsgeschichtlichem Kontext und der daraus resultierenden spezifischen Darstellung Amerikas und seiner Bewohner. Hierbei ist auf die Ausgewogenheit beider Kommentarformen zu achten bzw. die Überfrachtung bereits des Zeilenkommentars zu vermeiden. Zur Erläuterung einige Beispiele: Titus Neukomm, Angehöriger einer Lindauer Patrizierfamilie, schildert in einem Privatbrief an seine Mutter und seinen Bruder auf dessen Bitte hin das Aussehen der Venezolaner [...] so wisse das daß hiesige Volck oder Jndianer, ain Volck klain von Leib, nit groß von Person ist, sein praun, vnd gehen nackent, allain das sie jr schäm bedecken, das Mansbild mit einem gewex, das wext wie im Teütschland die Kürbißen, allain das sie klain vnd Langlecht waxen, vngefarlich einer spann lang, vnd einer vmbgefaßten spann in die dick, das schneiden sie hinden vmb ain wenig ab, vnd machen es hol, vnd stecken es also an Jr schäm, vnd binden es mit einem Baumwollin schnierlin vmb den Leib, das es fomen gradhinauß raget vnd die zwo schellen, bedecken sie nit, lassen sie nun also hinab hangen. Das Weibsbildt bedeckt ir schäm mit einem düchlin von Baumwoll gemacht, von vill gemel vnd färben das tragen sie der gestalt, binden ain Baumwollin schnierlin vmb den Leib, nemlich vnderhalb dem Nabell, vnd stecken das Baumwollin Diechlin vomen darunder, das lassen sie zwischen den bainen hindurch gehen, vnd stecken es hinden auch durch das Schnierlin, Also das sich das Weibsbild hinen, vnd fomen bedeckt, ist schier ain Manier wie die Menner Im Teütschland die Briechen tragen, aber das Mansbild bedeckt sich nit weiter dann wie gesagt, mit einem khlainen Kerbeßlen, sonst gehen sie nackend wie sie Gott auff die Welt geschaffen hat, wie Du dann hiemit auf einem papier verzeichnet auch sehen Vnd abnemen magst [...]. 1

Außer Wortklärungen, etwa zu "Schellen" oder "Briechen", gibt der Zeilenkommentar an, daß die erwähnte Zeichnung nicht überliefert ist und verweist auf eine inhaltlich übereinstimmende Beschreibung bei Hutten. 22 Im Textkommentar wäre die spezifische Fremdheitsdarstellung zu erläutern. Das faszinierende Moment ist für Neukomm eindeutig das Penisfutteral. Zwar enthält er sich, wie vom frühneuzeitlichen Briefstil bei Beschreibungen gefordert, einer expliziten Meinungsäußerung. Er kann aber im privaten Kontext seinem Staunen durch Wiederholungen Ausdruck verleihen, ohne gegen das Gebot der Kürze zu verstoßen. Anders Hutten, dessen in einen Privatbrief integrierter Bericht über eine dreijährige Expedition ins venezolanische Landesinnere offenbar zur Weitergabe bestimmt war. Bedingt durch die Perspektive seiner militärischen Funktion deutet Hutten die Nacktheit der Männer primär als Wehrlosigkeit. Neukomm bindet seinem Leser gemäß seine Beschreibung an europäische Vergleiche an, so das Lendentuch der Indianerinnen an die deutschen Bnichhosen; ähnlich Hutten, dessen Assoziation hierzu, "wie ain Badmaid", allerdings den indirekt wertenden Aspekt der Schamlosigkeit enthält. Die beigefügte Zeichnung durch Neukomm schließlich deutet weniger auf künstlerische Ambitionen hin, sondern auf eine auch in der reisetheoretischen Literatur, der Apodemik bzw. ihren Vorläufern, em-

21 22

Neukomm 1608, vgl. Anm.9, S.21f. Hutten 1SS0, vgl. Anm.6, B1.LIF: "Es ist hie henimb ain arm Land/ain bloß/nackend/Bestialisch volck/aber in aller boßhait fast listig/gehn gantz nackent / barfuoß/ vnd barhaupt / Bedecken die Weiber jr schäm mit ainem thuoch/ hinden vnd fomen fast / wie ain Badmaid bedeckt. Die maenner haben ain außgehilerten Kirbsen/wie ain horen/da sy jr schäm einthuon [...] Item 400. Christen zuo fuoß vnd hundert zuo Roß/sein dreyssig tausent Indianern starck genuog/ dann es ist ain bloß volck [...]".

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Ferraris/ Wagner

pfohlene Memoriertechnik: die anhand der schriftlichen Aufzeichnung schrittweise nachvollziehbare Verbildlichung soll eine spätere Rekonstruktion erleichtem.23 Hieronimus Köhler, ein Nürnberger Kaufmann, der selbst nie nach Venezuela sondern nur bis Sevilla gelangte, fügt seinem Reisebericht dennoch eine Beschreibung des Landes, in das er reisen wollte, bei: [...] Es hatt auch Jn dissen landen Scharmunckel, Affen, meerkatzen, hannen vnd hennen, auch hassen, Gaiss vnnd Gembssenn, doch alls einer andern artt, dan manss hie Zu landt hat, deren Zu Zeitten, auss Lass Jndias mit frembdem volck etc. gebracht werdenn. 2 4

Abgesehen von der im Zeilenkommentar zu lösenden Frage, was ein "Scharmunckel" ist, ist hier bemerkenswert, daß Köhler mangels eigener Anschauung seine Informationen aus mündlichen Berichten und Flugschriften sammelte, diese aber durch den Verweis auf seinen eigenen Erfahrungsbereich - die Hafenstadt Sevilla, wo er diese Tiere theoretisch hätte sehen können - zu verifizieren versucht. Mehr noch als in Neukomms vergleichender Darstellung manifestiert sich in Köhlers Terminologie die Grenze europäischer Fremdheitswahrnehmung: Die Fauna Amerikas entspricht der Europas und ist doch "anders", aber eben diese Andersartigkeit ist nicht formulierbar. Philipp v. Hutten, Vetter Ulrichs v. Hutten und mit dem Gouverneur Georg Hohermut auf einem Conquistazug in Venezuela, beschreibt bei der Rückkehr der verhungernden Teilnehmer nach Coro 'exotische' Erfahrungen anderer Art: Es haben auch etlich wider die natur menschen flaisch gessen / nämlich ward ain Christ gefunden / so ain vierthail von ainem jungen Kind in ainem newen hafen / mit etlichen kraeutern gekocht het / auch die Pferd so erschossen [...] vmb viertausent boeses Golds verkaufft worden / [...] vil eilend leüt / wie die Indier an etlichen orten allhie für Schilt tragen / eingemacht/gesotten vnnd gessen [,..]. 25

Der Zeilenkommentar merkt hierzu an, daß es sich bei "boeses Golds" um einen wiederholten Lesefehler des Drucker-Verlegers für "Pesos" handelt, der aber im Frühneuhochdeutschen, als "boese" im Sinn von gering, schlicht, durchaus Sinn ergibt. Ähnlich die "eilend leüt". Zwar ist der nachfolgenden Erklärung, daß die Indianer solche als Schilde trügen, und einer Parallelstelle 26 zu entnehmen, daß es sich um "eilend heüt", also Hirschhäute, handeln muß, doch bezog der Drucker den Begriff wohl auf die vorhergehende und im Rahmen von Amerika-Reiseberichten durchaus gängige Kannibalismusschilderung. Im Textkommentar zu beachten ist also das Phänomen, daß sich hier zur Fremdheitswahrnehmung des Reisenden die des Daheimgebliebenen gesellt. Nikolaus Federmann, Stellvertreter des Gouverneurs Ambrosius Dalfinger, übersetzte das von einem spanischen Notar geführte Protokoll seiner Expedition unter strikter Beibehaltung des populärjuristischen Stils. Eine Aufforderung zur friedlichen Unterwerfung, die er an die Indianer richten läßt, gibt er folgendermaßen wieder:

24 25 26

Vgl. Wolfgang Neuber: Imago und Pictura. Zur Topik des Sinn-Bilds im Spannungsfeld von Ars Memorativa und Emblematik (am Paradigma des "Indianers"). In: Text und Bild, Bild und Text. DFGSymposion 1988. Hrsg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, XI), S.245-261, bes. S.247ff. Köhler, Handschrift a, vgl. Anm.10, B1.40v. Hutten 1550, vgl. Anm.6, Bl.LVI". Hutten 1550, vgl. Anm.6, B1.LIVV.

Zur Edition und Kommentierung frühneuzeitlicher Reiseberichte

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"so sy [...] sich wie freünd guotwillig ergeben / woelle ich [...] auch ihr freündt sein/vnnd sie von ihren feinden helffen schützen vnnd erretten / Wa aber das nicht / vnd sy sich meiner angebotner freündtschafft widern thetten/ woelle ich ihnen nachstellen / auch sie / ihre landt vnd veldgebew / verhergen vnd verprennen/auch sie/vnd ihre weib vnd kinder fahen/jha für Eschlauos vnd verkauffte leilt haben vnd vergeben/vnd in allem wie ain rechter abgesagter feindt gegen ihnen leben vnd mich erzaigen."27

Was zunächst wie eine individuelle Äußerung Federmanns klingt, ist die Übertragung der letzten Sätze des berühmt-berüchtigten "Requerimiento", eines juristischen Dokuments der Conquista, dessen Verlesung vor der Eröffnung von Feindseligkeiten obligatorisch war. 28 Dies klärt bereits der Zeilenkommentar, ebenso die besondere Bedeutung etwa des Begriffs "freündt" im juristischen Kontext. Darüber hinaus ist im Textkommentar die legitimatorische Funktion dieser Wiedergabe im Rahmen eines offiziellen ConquistaBerichts zu erläutern. Besondere Aufmerksamkeit verdient der in früheren Editionen durchweg als individueller Stil, wahlweise als "schwerfällig, ungelenk" 29 oder "wenig literarisch" 30 mißgedeutete juristische Sprachgebrauch der "Indianischen Historia", der die Wahrnehmung des Fremden auch sprachlich nur in Form der An-Eignung zuläßt. Als Ziel dieser Edition sehen wir die Entwicklung einer literaturwissenschaftlichen Kommentierung frühneuzeitlicher Reiseberichte, die es ermöglicht, diese Texte in ihrem gattungstheoretischen Kontext und in ihrer Bedeutung als Dokumente frühneuzeitlicher Fremdheitserfahrung und -Vermittlung zu erfassen sowie Fehlinterpretationen im Sinne des individuell-ästhetischen Reiseberichts des 18. und 19. Jahrhunderts oder der Reduzierung auf ihre historische Faktizität zu vermeiden. Insbesondere die Nebeneinanderstellung von vier in Überlieferung und Funktion variierenden Berichten bietet die Möglichkeit methodischer Überlegungen zur Problematik der jeweiligen Alteritätsdarstellung. Unsere Arbeit an dieser Edition verdeutlichte uns, daß eine germanistische Kommentierung neben philologischen und quellenkritischen auch kulturwissenschaftliche Aufgaben übernehmen kann und soll.

27 28

29 30

Federmann 1557, vgl. Anm.2, Bl.D iij v f. Die entsprechende Stelle lautet: "Si ansi lo hicierdes, hariis bien y aquello que sois obligados a Sus Altezas, y nos en su nombre vos rescibiremos con todo amor e caridad [...] Y si no lo hicierdes, y en ello dilaciön maliciosamente pusierdes, certificoos que con la ayuda de Dios, nosotros entraremos poderosamente contra vosotros y vos haremos guerra por todas las partes y maneras que pudi6remos, y vos subjectaremos al yugo y obediencia de la Iglesia y de Sus Altezas, y tomaremos vuestras personas y de vuestras mujeres e hijos y los haremos esclavos y como a tales los venderemos y dispornemos dellos como Sus Altezas mandaren, e vos tomaremos vuestros bienes y vos haremos todos los dafios y males que pudidremos, como a vasallos que no obedecen ni quieren rescibir a su seflor y le resisten y contradicen [...]"; ziL n. Bartholom6 Las Casas: Historia de las Indias 3, LVII. Madrid 1961 (ΒΕΑ, Obras escogidas, Bd.II), S.309. Als Verfasser gilt, nach Las Casas, der königliche Jurist Palacios Rubios. Klüpfel in Federmann 1843, vgl. Anm.14, S.207. Friede in Federmann 1965, vgl. Anm.18, S.Vni

Renate Francke

Beziehungen zwischen Textentwicklung und Kommentierung bei den französischsprachigen Werken Heinrich Heines

Zu dem angekündigten Thema "Textkonstitution und Kommentierungspraxis, ein methodischer Zusammenhang" stellen meine Ausführungen einen sehr pragmatischen und noch dazu von einem seltenen Fall ausgehenden Beitrag dar: Sie beschäftigen sich mit den Beziehungen der Textentwicklung, die sich zwischen Heines deutschen Werken und den entsprechenden französischsprachigen Texten ergeben, speziell zwischen der "Romantischen Schule" und "De 1'Allemagne", sowie mit den Folgerungen, die daraus für die Kommentierung entstehen. Trotz der Spezifik dieser Probleme meine ich, daß sie auch verallgemeinerungswürdige Aspekte haben, die zur Diskussion von Kommentierungstheorie und -praxis beitragen können. Die historisch-kritische Heine-Säkularausgabe (HSA), die von der "Stiftung Weimarer Klassik" (bis vor kurzem unter dem Namen "Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar" bekannt) und vom "Centre National de la Recherche Scientifique" in Paris herausgegeben wird, ist die einzige Ausgabe, die Heines firanzösischsprachige Schriften als selbständige Werkabteilung bietet. Mehrere Gründe waren dafür maßgebend. Bei den französischen Versionen von Heines Werken, die während seines fünfundzwanzigjährigen Aufenthalts in Paris veröffentlicht wurden, handelt es sich nicht um schlichte Übersetzungen. Heine übersetzte zwar keine seiner Schriften selbst, wirkte aber bei der Übertragung mit seinem von den französischen Zeitgenossen gerühmten sicheren Sprachgefühl mit und setzte den Texten mit eigenen französischen Schöpfungen seines Sprachwitzes Schlaglichter auf. Sowohl in Auswahl und Anordnung der Texte wie in kleinen Details der Arbeit mit dem Wort wird erkennbar, daß sich Heine auf den Bildungs- und Interessenhorizont des französischen Publikums orientierte. Die französischsprachigen Weike Heines haben denn auch eine selbständige Rezeption erfahren, die bekanntermaßen eine große Wirkung auf die französische Literatur ausübte. Die Berechtigung einer selbständigen französischsprachigen Abteilung bei einer Heine-Edition wird auch nachdrücklich durch die Tatsache unterstützt, daß es eine Ausgabe letzter Hand von diesen Werken gibt: die von Heine betreuten, 1855-1857 im Pariser Verlag Michel L6vy fitres erschienenen "(Euvres completes". (Sie werden in den Bänden 13-19 der HSA wieder vorgelegt.) Diese abschließende Ordnung ist Heine für seine deutschen Werke versagt geblieben, obwohl er seinen Verleger Campe immer wieder zu einer Gesamtausgabe gedrängt hat. Umso wichtiger ist die Dokumentation des Autorwillens in der französischen Ausgabe.

Beziehungen zwischen Textentwicklung und Kommentierung

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So erscheint es auch editorisch angemessen, die deutschen und die französischsprachigen Werke gleichberechtigt zu behandeln. Wie jeder deutsche Werkband erhält auch jeder französischsprachige Textband in der HSA einen selbständigen Kommentar mit den Teilen Entstehung, Überlieferung, Variantenapparat und Erläuterungen zu jeder Texteinheit sowie mit einem knapp erläuternden Personenregister. Darüber hinaus enthalten die Kommentarbände zu den französischsprachigen Werken Konkordanzen, in denen die Unterschiede zu den entsprechenden deutschen Texten von einem Satz Umfang ab verzeichnet sind. Das Hauptanliegen des Kommentars zu den französischsprachigen Texten ist es, die Spezifika dieser Texte in Bezug auf den französischen Adressaten herauszustellen. Deshalb beziehen die Entstehungsgeschichten in der Regel die Entstehung der deutschen Textvorlagen nur soweit mit ein, wie deren Kenntnis als Voraussetzung für die französische Textentstehung nötig ist. Die Überlieferung zu den französischsprachigen Werken Heines ist mannigfaltig. Sie umfaßt Handexemplare der deutschen Texte mit Heines Arbeitsspuren (Übersetzungsvorschlägen, neuen deutschen Formulierungen für die Übersetzung, Anstreichungen, ja Eselsohren), Übersetzungsmanuskripte von fremder Hand mit französischen Korrekturen von Heine, französische Drucke (Zeitschriftendrucke und die beiden französischen Werkausgaben), Handexemplare der ersten französischen Werkausgabe aus den 30er Jahren mit Heines Arbeitsspuren, deutsche und französische Entwürfe von Heines eigener Hand. Die Auswertung und Darstellung aller dieser Textzeugen erfolgt wie zu den deutschen Texten in Form eines negativen Apparats. Die Verzeichnung der Arbeitsgänge in den deutschen Übersetzungsvorlagen fällt notwendigerweise aus dem Rahmen des schematisierten Apparats, sie bedarf deskriptiver Zusätze in Form von Editorbemerkungen. In den "Erläuterungen" berühren sich französischer Text und deutsche Vorlage noch enger. Hier werden alle Unterschiede zwischen beiden dargelegt. Aus der Fülle der Details werden sowohl Heines sprachliche Leistung bei der Übertragung als auch seine Intentionen in Bezug auf die verschiedenen Adressaten erst deutlich. Der Abschnitt "Erläuterungen" ist mit dem entsprechenden Teil des deutschen Kommentars abgestimmt, d.h., wenn der französische Text der deutschen Vorlage entspricht, werden deren Erläuterungen (zu literarischen, historischen und ästhetischen Erscheinungen und Zusammenhängen) im Kommentar zum französischen Text nicht wiederholt. Diese Kommentierungsverfahren gehen von dem einfachen Fall aus, daß Heine französische Texte als Bearbeitungen und Übersetzungen bereits gedruckt vorliegender deutscher Texte herausgegeben hat. Es gibt jedoch in Heines CEuvre auch noch eine Reihe von Texten, die aus mehreren wechselweise an französische oder deutsche Leser gerichteten Fassungen entstanden sind. Die Darstellung ihrer Entwicklung stellt besondere Anforderungen an den Kommentar. Es handelt sich um die zwischen 1832 und 1835 entstandenen Texte über die Geschichte der deutschen Religion, Literatur und Philosophie, die Heine französisch in zwei Bänden mit dem Titel "De l'Allemagne" 1835 und (durch andere Texte erweitert und verändert) erneut 1855 herausgab. Wie bei der Gesamtausgabe ist es Heine auch bei

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Renate Francke

dieser Geistesgeschichte nur im französischen Medium gelungen, sie geschlossen vorzulegen. Die Bedingungen des deutschen Buchmarkts verhinderten ein gleiches Angebot an das deutsche Publikum. Die deutschen Versionen erschienen in verschiedenen Einzelpublikationen. Der erste Anstoß zu dieser Arbeit ging von dem französischen Publizisten Bohain aus, der Heine 1832 aufforderte, für seine neugegründete Zeitschrift "L'Europe littiraire" einige Artikel über die zeitgenössische deutsche Literatur zu schreiben. Welche Bedeutung Heine diesem Auftrag beimaß, geht aus einem Brief an einen Freund hervor, der im April 1835 in einer Hamburger Zeitschrift veröffentlicht wurde. Darin heißt es: "Ich werde in jenem Journale alles Mögliche thun, um den Franzosen das geistige Leben der Deutschen bekannt zu machen; dieses ist meine jetzige Lebensaufgabe, und ich habe vielleicht überhaupt die pazifike Mission, die Völker einander näher zu bringen."1 Die Entstehungsgeschichte von "De l'Allemagne" und den entsprechenden deutschen Werken ist aus den weitgehend erhaltenen Überlieferungsträgern gut zu erschließen. Im November/Dezember 1832 entstand der Text zu den ersten drei Artikeln. Er liegt als Reinschrift von Heines Hand vor. Ein Übersetzungsvorschlag von Heines Hand darin, der Berücksichtigung fand, erlaubt den Schluß, daß er als Übersetzungsvorlage diente. Während der Übersetzer Adolphe Loeve-Veimars die Übertragung vornahm, arbeitete Heine an der Fortsetzung der Artikel. Im März 1833 erschienen die ersten drei unter dem Titel "Etat actuel de la littörature en Allemagne" in "L'Europe littöraire". Gleichzeitig bereitete Heine eine deutsche Publikation bei dem Pariser deutschen Verlag Heideloff und Campe vor. Er überarbeitete dafür die Reinschrift, die nun als deutsche Druckvorlage diente (das beweisen Setzervermerke im Manuskript). Das im April 1833 erscheinende Bändchen trug den Titel "Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland". Die "Europe littöraire" brachte im April den vierten und fünften, im Mai den sechsten bis achten Artikel heraus, die wieder nach einer deutschen Reinschrift von Heines Hand übersetzt worden waren. In der ganzen Artikelfolge war Heine jedoch noch nicht zu seinem eigentlichen Thema, dem gegenwärtigen Stand der Literatur in Deutschland gekommen, sondern nur bis zur Jenaer Romantik. Etwas hastig handelte er nun, vermutlich im April 1833, in einem neunten Artikel Jean Paul, Werner, Fouqud und Uhland ab und Schloß mit einem Bekenntnis zu den Schriftstellern des Jungen Deutschland ab. Dieser Artikel wurde nicht mehr in "L'Europe littiraire" veröffentlicht Er ist mit zwei Reinschriften und einer Reihe von Vorstufen aus dem Nachlaß überliefert. Die Reinschrift der zweiten Artikelfolge überarbeitete Heine ebenfalls und gab sie zum Druck zu Heideloff und Campe. Im Juni 1833 erschien der zweite Teil der "Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland". In der "Vorrede" kündigte Heine einen dritten und vierten Teil an. Eine andere Arbeit hielt ihn aber davon ab. Wieder als Auftragswerk für eine französische Zeitschrift, angeregt diesmal von Prosper Enfantin, dem 'pere' der Saint-Simonisten, verfaßte er im Jahr 1834 drei Artikel über deutsche Religions- und Philosophiegeschichte. Sie erschienen in der Übersetzung von Adolphe Heinrich Heine: Säkularausgabe. Bd.21. Briefe 1831-1841. Bearbeitet von Fritz H. Eisner. Berlin, Paris 1970, S.51.

Beziehungen zwischen Textentwicklung und Kommentierung

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Specht im März, Oktober und Dezember 1834 in der "Revue des Deux Mondes". Wieder überarbeitete Heine nach der Übersetzung die deutsche Vorlage und reichte sie diesmal bei seinem Hamburger Verleger Julius Campe zum Druck ein. Im Januar 1835 erschien die Arbeit unter dem Titel "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" im zweiten Band des "Salon". In den Reinschriften, nach denen die Übersetzungen und die deutschen Drucke hergestellt wurden, findet sich eine ganze Anzahl von Streichungen, Korrekturen und wieder aufgehobenen Streichungen, deren genetische Zuordnung im Apparat erst durch die Bestimmung ihrer Funktion im deutschen oder im französischen Entstehungsprozeß möglich wird. Das Bemühen, "die Völker einander näher zu bringen", ist in der Arbeit am Text zu verfolgen. So hat Heine beispielsweise Passagen in der Reinschrift, in denen er mit der deutschen Untertänigkeit hart ins Gericht geht, für die Übersetzung gestrichen, für den deutschen Druck aber wieder aufgenommen. Umgekehrt verzichtet er etwa auf Bemerkungen über militärische Niederlagen der Franzosen in der deutschen Publikation. Die nächste Arbeitsetappe brachte die Zusammenfassung und Überarbeitung aller französischen Artikel zu einer Buchpublikation mit dem Titel "De l'Allemagne" im Rahmen der von Eugene Renduel herausgegebenen Werke in Einzelbänden. Dafür versuchte Heine auch die Literaturgeschichte fortzusetzen. Von mehreren bereits angelegten Entwürfen wurden jedoch nur ein Text über den Unterschied zwischen deutscher und französischer Romantik, der als "Pröface" dienen sollte, und ein weiterer über den französischen Philosophen Cousin fertiggestellt. Aus den Quellen zur Geschichte der Religion arbeitete Heine einen Text über den germanischen Volksglauben, die "Elementargeister", für den zweiten Band von "De l'Allemagne" aus. Den notwendigen Umfang erhielt der Band durch "Citations", Auszüge aus verschiedenen Quellenwerken zur Literatur und Philosophiegeschichte. Die Buchausgabe von "De l'Allemagne" erschien im April 1835. Damit war der Komplex Deutschland für Heine aber noch nicht abgeschlossen. Im Sommer 1835 arbeitete er weiter an der Literaturgeschichte. Er nahm den nicht mehr in der "Europe littöraire" veröffentlichten neunten Artikel und die Vorarbeiten zu "De l'Allemagne" wieder vor und verband Teile daraus mit neuen Entwürfen zu drei neuen Kapiteln. Nun überarbeitete er die beiden Bändchen "Zur Geschichte der neueren schönen Literatur" (dabei berücksichtigte er auch Textänderungen, die er in "De l'Allemagne" gegenüber den französischen Zeitschriftenpublikationen vorgenommen hatte), gliederte sie neu, fügte die drei neuen Kapitel und als letztes die deutsche Übersetzungsvorlage der "Pröface" sowie als Anhang den Cousin-Abschnitt an und brachte das Ganze unter dem Titel "Die romantische Schule" im November 1835 bei Campe in Hamburg heraus. Eine Generation später, 1855, gab Heine im Rahmen der "CEuvres completes" "De l'Allemagne" nochmals heraus, wieder in zwei Bänden, aber in anderer Anordnung, mit neuen Texten. Einer davon, "Aveux de l'auteur", war ebenfalls zuerst französisch, dann deutsch veröffentlicht worden. In den frühen Texten über Literatur und Philosophie wurden manche Details gegenüber der Ausgabe von 1835 geändert. Diese Prozesse lassen sich in den Entstehungsgeschichten zu den deutschen (HSA Bd.8, Über Deutschland. 1833-1836) und den französischen Texten (HSA Bd.16/17,

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De l'Allemagne, Bd.I und II) nachvollziehbar beschreiben, wobei die Besonderheiten der deutschen bzw. der französischen Textentwicklung jeweils herausgestellt werden. Problematischer ist die Darstellung der Überlieferungssituation und die Aufarbeitung aller genetischen Abläufe im Apparat. Die HSA betrachtet als ihre Hauptaufgabe die Darbietung gesicherter Texte "in der Gestalt", wie es im Vorwort heißt, "in der sie mit Billigung des Dichters dem Lesepublikum seiner Zeit bekannt geworden sind".2 Der edierte Text gibt also den Bezugsrahmen für den Kommentar. Überlieferung und Genese sind als Belege für die Begründung des edierten Textes unverzichtbare Bestandteile des Kommentars, aber sie verselbständigen sich nicht. Die Überlieferungsträger sind in ihrer Funktion ganz bestimmten deutschen oder französischen Texten zuzuordnen, und ebenso sind die verschiedenen Phasen der Genese zumeist ganz bestimmten deutschen oder französischen Textstellen zuzuordnen. Insofern wäre ein gemeinsames Überlieferungsverzeichnis und ein gemeinsamer Apparat mit allen genetischen - deutschen und französischen - Abläufen eher ein Hindernis für die Bestimmung der deutschen und der französischen Textkonstitution. Es empfiehlt sich also ein getrenntes Verfahren: Sowohl für den deutschen wie für den französischen Text wird ein eigenes Überlieferungsverzeichnis angelegt, in dem alle für den jeweiligen Text benutzten Überlieferungsträger aufgenommen sind. Dabei kommen bestimmte Textträger, die für beide Ausgaben benutzt wurden, in beiden Überlieferungsverzeichnissen vor. Hier muß die Beschreibung der materiellen Beschaffenheit die unterschiedlichen Funktionen in ihrem schriftlichen Niederschlag exakt kennzeichnen. Schwierigkeiten bei der Apparatgestaltung bereitet der Umstand, daß Heine für "Die romantische Schule" auf Manuskripte (Reinschriften und noch davor liegende Konzepte) zurückgegriffen hat, die ursprünglich für französischsprachige Fassungen entstanden waren. Es handelt sich ausschließlich um deutsche Texte. Manche sind nicht bis zur Übersetzung gediehen, und sie haben auch keine Entsprechung in den französisch publizierten Texten von "De l'Allemagne". Die Bindung des Apparats an den Text, also an mit Seiten- und Zeilenzahlen genau bezeichnete Stützworte beim negativen Apparat läßt es bei diesen Überlieferungsträgern geboten erscheinen, nicht nur die zum Text der "Romantischen Schule" führenden Varianten im Apparat der "Romantischen Schule" zu verzeichnen, sondern auch die davor und ihnen zugrundeliegenden Schichten, die für die französischsprachige Fassung entstanden waren. Diese beiden Funktionen müssen im Apparat exakt bezeichnet werden, entweder durch Zusätze zur Sigle und/oder Editorbemerkungen. Im Apparat des französischsprachigen Bandes werden die Lesarten und Entstehungsvarianten aus den französischen Überlieferungsträgem verzeichnet. Für die Vorstufen in den deutschen Übersetzungsvorlagen wird generell auf den Apparat des entsprechenden deutschen Bandes verwiesen. Es ist zu erwägen, ob im Kommentar zu dem französischsprachigen Band die deutschen Vorstufen nochmals als zusammenhängende Texte abgedruckt und durch einen Apparat erschlossen werden, der alle zu dieser Textstufe führenden Varianten Heinrich Heine: Säkularausgabe. Bd.I. Gedichte 1812-1827. Kommentar. Bearbeitet von Hans Böhm. Berlin, Paris 1982, S.17.

Beziehungen zwischen Textentwicklung und Kommentierung

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verzeichnet, nicht aber die bei der Überarbeitung für die "Romantische Schule" vorgenommenen Korrekturen. Eine weitere Vermittlung zwischen den Einzelstellen in den beiden Apparaten kann von den Erläuterungen vorgenommen werden, deren Aufgabe in der französischen Abteilung vor allem der Vergleich zwischen französischem und deutschen Text ist. In diesem Vergleich werden nicht einfach die Unterschiede zwischen den edierten Texten (und das sind in der Regel die jeweils letzten von Heine bearbeiteten Textfassungen) verzeichnet, sondern die Abweichungen der französischsprachigen Texte werden auf ihre Vorgaben in den deutschen Überlieferungsträgern zurückgeführt, und dazu wird exakt auf die Verzeichnung im Apparat des deutschen Textes verwiesen. Diese Verbindung von den Erläuterungen zum Variantenapparat wind auch im Kommentar zu deutschen Bänden hergestellt, wenn der edierte Text durch Vergleich mit seinen Vorstufen erhellt werden kann. Vielleicht kann dieses Verfahren auch dazu beitragen, die oft beklagte Scheu des Benutzers von historisch-kritischen Ausgaben vor dem Umgang mit dem Apparat abzubauen.

Wolfgang

Wiesmüller

Geschichtsquellen und politische Zeitbezüge als Kommentierungsprobleme historischer Dichtung Dargestellt an Stifters "Witiko"

Verfolgt man die gattungstheoretische Auseinandersetzung um den historischen Roman, zeichnet sich von Anfang an die "Vermischung von Fiktion und quellenmäßig belegter Geschichte" als "Kardinalproblem" des Genres ab;1 ein Problem, das aber sichtlich auch den Reiz dieser Gattung auszumachen scheint, denn gerade im "Verhältnis von dichterischer Fiktion und historischer Information" liegt die produktive Spannung, aus der der historische Roman seine spezifischen poetischen Möglichkeiten gewinnt.2 Mit dieser Spannung korrespondieren zwei gegensätzliche Forschungsperspektiven, die bis heute nur in Ansätzen miteinander verbunden sind: Dem positivistischen Interesse an der "Faktentreue der Geschichtsromane" steht der werkimmanent orientierte Aufweis "einer autonomen dichterischen Wahrheit, welche sich den [historischen] Stoff vollständig anverwandelt habe", gegenüber.3 Um diese Dichotomie, die auf der kategorialen Entgegensetzung von 'Geschichte' und 'Dichtung' beruht, zu überwinden, hat Michael Limlei "das Verhältnis von historischer Wirklichkeit und dichterischer Aussage" neu bestimmt, und zwar in der Weise, daß die Geschichte den Ausgangspunkt, die Dichtung den Zielpunkt einer "Transformation" darstelle.4 Limlei verschiebt damit den Blickpunkt vom "polare[n] Nebeneinander" auf die "spezifische Vermittlungsabsicht" zwischen geschichtlicher Welt und poetischem Entwurf des Dichters.5 Die Absicht, "Historie und Dichtung ineinander aufgehen zu lassen," enthalte, so Limlei, "eine Aussage über die historische und mittelbar über die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit" des Autors.6 Die Transformation des historischen Materials zur Geschichtsdichtung erfolgt also nicht nur von einer bestimmten Geschichtsperspektive des Autors aus, in dieser Transformation findet auch die Konfrontation des Autors mit gesellschaftlichen und politischen Prozessen der eigenen Zeit ihren Niederschlag. Diese gattungstheoretische Akzentverschiebung vermag in besonderer Weise für gattungsspezifische Kommentierungsprobleme zu sensibilisieren. Demnach stellen sich für 1

2

3

4 5 6

Hartmut Eggert: Der historische Roman des 19. Jahrhunderts. In: Handbuch des deutschen Romans. Hrsg. von Helmut Koopmann. Düsseldorf 1983, S.342-355, hier S.344. Hans Vilmar Geppert: Der "andere" historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskonünuierlichen Gattung. Tübingen 1976, S . l l . Michael Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung. Menschenbild und Gesellschaftsverständnis in den deutschen historischen Romanen (1820-1890). Frankfurt/M. u.a. 1988 (Studien zur Deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd.5), S.16f. Ebda. S.30. Ebda. S.25. Ebda. S.30.

Geschichtsquellen und politische Zeitbezüge

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die Kommentierung eines historischen Romans zwei Bereiche als besondere Aufgabe dar: 1. Die stofflichen Grundlagen, die vom Autor herangezogenen Geschichtsquellen. Sie sollten im Kommentar so aufbereitet werden, daß der oben angesprochene Transformationsprozeß sichtbar wird. Das kann nur gelingen, wenn neben den Übernahmen auch die Abweichungen und Auslassungen bezüglich der Geschichtsquellen berücksichtigt werden. 7 Insofern sich in der Aneignung der historischen Überlieferung eine bestimmte geschichtstheoretische Perspektive manifestiert, ist es notwendig, auch auf die Geschichtsauffassung des Autors einzugehen, gleichsam als komplementäre Ergänzung zur Präsentation der Quellen. Im Sinne der Rehistorisierungsfunktion des Kommentars scheint es weiters geboten, den Stellenwert der Stoffwahl, der benützten Quellen sowie der Geschichtsperspektive des Dichters im soziokulturellen Kontext der Entstehungszeit zu skizzieren. 2. Die politischen Zeitbezüge. Über die Art und Weise, wie im Medium eines geschichtlichen Stoffs und dessen poetischer Transformation geschichtliche Ereignisse bzw. gesellschaftspolitische Verhältnisse der Entstehungszeit des Werks reflektiert werden, ob parallelisierend, ob gegenläufig, ob affirmativ, kritisch oder problematisierend, darüber wird der Kommentar zu informieren haben. Als Nahtstelle zwischen Text und Kontext bieten sich dabei Äußerungen des Autors zu politischen Themen seiner Zeit an (Briefe, Tagebücher, Zeitungsartikel o.ä.). Ein solches Aufgabenprofil des Kommentars zu im Grunde genommen jeder Art von historischer Dichtung mag uns heute allzu selbstverständlich erscheinen. Wie sehr sich dieses aber neben der hier nicht explizierten kommentartheoretischen Diskussion den gattungstheoretischen Reflexionen der jüngsten Zeit verdankt, zeigt ein kurzer Blick auf eine bereits etwas ältere Ausgabe. Der Kommentar zu C.F. Meyers historischem Roman "Jürg Jenatsch" in der von Zeller und Zäch besorgten historisch-kritischen Ausgabe, bereits 1958 erschienen, ist noch ganz der Polarität von Geschichte und Dichtung verpflichtet. Bezeichnend für die durchgehende Perspektive, unter der Zäch das Verhältnis des Autors zu den Quellen im Kommentar darstellt, nämlich als Oppositionsverhältnis von historischer Wahrheit bzw. Faktentreue und dichterischer Freiheit, ist seine Feststellung: "Für kaum eines seiner Werke hat Meyer so gründliche Studien getrieben wie für den 'Jenatsch'. [...] Doch bewahrte er sich in der Gestaltung des Stoffs völlige künstlerische Freiheit." 8 Den Gründen für diese auffallende Diskrepanz zwischen intensivem Faktenstudium und starker Reduktion des historisch Fundierten im Roman geht sein Kommentar aber nicht weiter nach, sondern er begnügt sich beispielsweise mit dem lapidaren Hinweis, daß der historische

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Hinsichtlich der Kommentierung von Quellenbezügen literarischer Werke hat Jochen Schmidt bereits 1972 für eine "Gesamtcharakterisierung der Quellen auch in ihren völlig andersartigen Zügen" plädiert (Jochen Schmidt: Die Kommentierung von Studienausgaben. Aufgaben und Probleme. In: Probleme der Kommentierung. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter MüllerSeidel. Bonn-Bad Godesberg 1975, S.75-89, hier S.80). Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 10: Jürg Jenatsch. Hrsg. von Alfred Zäch. Bern 1958, S. 289.

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Jenatsch bei Meyer, wie in anderen dichterischen Bearbeitungen auch, "gegenüber der geschichtlichen Überlieferung veredelt" sei.9 Weiters impliziert die affirmative Haltung Zächs zur Erhebung des Dichters über seinen Stoff auch eine Wertung, die die überzeitliche poetische Wahrheit über die Vergänglichkeit der Geschichte stellt. Deshalb kommen die zeitgeschichtlichen Bezüge des "Jenatsch"-Romans nicht in den Blick - eine einzige Anmerkung spricht von der "Anspielung auf die Einigung Italiens 1860-70"10 - , obwohl in der Entstehungsgeschichte Meyers Brief an Haessel vom 26. September 1866 zitiert wird, in dem er die politische Aktualität des historischen Stoffs ausdrücklich hervorhebt, wenn es heißt, die Zeit der Handlung, der Dreißigjährige Krieg, werfe Fragen auf, "die jetzt die Welt bewegen: ich meine den Conflikt von Recht u. Macht, Politik und Sittlichkeit."11 Damit bezieht er sich wohl auf die Reichspolitik Bismarcks, war Meyer doch besorgt, ob das deutsche Publikum "die Parallele zur Bismarckschen Reichseinigung [...] deutlich genug aus der Geschichte Jenatschs [...] herauslesen würde." 12 Nach diesem Abstecher in die Geschichte der Kommentarpraxis, der den Zusammenhang zwischen Gattungstheorie und Kommentierung verdeutlichen sollte, zurück in die Gegenwart: Im folgenden wird exemplarisch vorgestellt, wie der Kommentar zum "Witiko" im Rahmen der neuen historisch-kritischen Stifterausgabe 13 dem skizzierten Aufgabenprofil der Kommentierung historischer Romane zu entsprechen versucht, indem er die Entstehung des Romans im Spannungsfeld von zeitgeschichtlichem Kontext, historischen Quellen und Geschichtsauffassung des Autors transparent macht. Bereits die Wahl des historischen Stoffs, die Stifter erst nach längeren Überlegungen 1855 getroffen hat, gewinnt zeitgeschichtliche Relevanz. Die Regierungszeit des Böhmenherzogs und späteren Königs Wladislaw II. (1140-1173), die in etwa den zeitlichen Rahmen der Romanhandlung absteckt, wird in Franz Palackys "Geschichte von Böhmen", einer der Hauptquellen Stifters, folgendermaßen beurteilt: [...] hatte Wladislaw II. nicht 33 Jahre lang das Heft in der Hand gehalten: die Einheit und Macht des böhmischen Staates wäre, bei den vielen Elementen innerer Auflösung, die immer deutlicher sich hervordrängten, noch im Laufe des 12. Jahrhunderts vielleicht unwiederbringlich zu Grunde gegangen. 14

Damit sind zentrale politische Probleme der Habsburgermonarchie angesprochen, die Stifter, und nicht nur ihn, seit der Revolution von 1848/49 beschäftigt und beunruhigt haben. Was der Autor infolge dieser politischen Entwicklungen in Briefen und Zeitungsartikeln über Recht, Ordnung und Gesetz, über die Niederwerfung der Revolution, über Staatsformen u.a.m. geäußert hat, ist in die ausführlichen Debatten des "Witiko" über

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Ebda. Ebda S.395. Ebda. S.277. Eggert 1983, vgl. Anm.l, S.353. Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Stuttgart u.a. 1978ff. Bd.5,1-5,3: Witiko. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. Stuttgart u.a. 1984-86. Franz Palacky: Geschichte von Böhmen. l.Bd.: Die Urgeschichte und die Zeit der Herzoge in Böhmen bis zum Jahre 1197. Prag 1836, S.417f.

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die böhmischen Thronstreitigkeiten des 12. Jahrhunderts, die als revolutionäres Geschehen beurteilt werden, eingeflossen. Der Kommentar weist entsprechende Bezugspunkte nach und schlägt damit auch eine Brücke zum Erfahrungshorizont der zeitgenössischen Leser. Als Beispiel soll die Kommentierung des Leitthemas der Verteidigung legitimer Herrschaft dienen. Herzog Wladislaw erklärt den Kriegern, nachdem sein Gegner, Konrad von Znaim, in der Schlacht am Wysoka vorerst aufgehalten werden konnte, sie hätten mit der Verteidigung des Herzogstuhls "für das Recht gekämpft". Der Kommentar dazu: 5,2/S.17,32 für das Recht gekämpft] Vgl. Stifter anläßlich der Kapitulation der Festung Komorn im Artikel Der 4. Oktober (Linzer Zeitung, 1849): Herrlich ist der Lorbeerkranz, den Oesterreichs Heere im Kampfe für das Recht errungen. (PRA 16, S. 80). Auch in den Beiträgen zum "Ehrenkranz" für Feldmarschall Radetzky [...] wird im Zusammenhang mit den Schlachten des Jahres 1848/49 in Italien immer wieder der Kampffür das Recht betont: "für des Kaisers Recht" (S.15), "Mit Gott für Recht und Ehre" (S.29) oder "das Schwert, dem Recht geweiht" (SJl).i5

In die Entstehungszeit des "Witiko" fällt neben der Revolution noch ein weiteres geschichtliches Ereignis, das den Komplex der legitimen Herrschaftsansprüche Österreichs berührt und das im Kommentar als Kontext Berücksichtigung findet: der Krieg von 1859 in Italien, dessen Ausgang Österreich zu Gebietsabtretungen gezwungen hat. Vor diesem zeitpolitischen Hintergrund erhalten einige Handlungssequenzen des "Witiko" die Funktion von Gegenbildern zu zeitgeschichtlichen Ereignissen. So z.B. die militärische Unterstützung des deutschen Königs, Konrad III., für Herzog Wladislaw, der darin eine aus allgemeinmenschlicher Sicht selbstverständliche Nachbarschaftshilfe erblickt: Es ist bei der Menschheit so, daß der Mensch dem Menschen, der Nachbar dem Nachbar, der Freund dem Freunde hilft. Wessen Haus brennt, dem stehen die bei, die um ihn sind. 16

Der Kommentar bemerkt dazu u.a.: Stifter hat seiner Enttäuschung über die 1859 ausgebliebene Unterstützung Österreichs durch Preußen gegen Italien - Fürst Windischgrätz unterhandelte damals erfolglos in Berlin - mit den Worten Ausdruck verliehen: von den natürlichen Helfern verlassen worden sein, ist endlich, falls es geschieht, doch um sehr vieles tröstlicher, als einer der Verlasser zu sein: aber Deutschland, das Land meiner Liebe und meines Stolzes, betrübt mich tief. Es sollte nicht eine Stimme in demselben geben, welche nicht mit Entrüstung gegen Lüge und Unrecht spricht, es sollte nicht ein Arm sein, der sich nicht dagegen erhebt (an Marie v. Hrussoczy, 11.7.1859)}1

Ein solches Gegenbild zur Zeitgeschichte stellen weiters die Mailänderkriege Kaiser Friedrich I. Barbarossa dar, von denen das umfangreiche Schlußkapitel des "Witiko" erzählt. Aufgrund der dicht gedrängten Ereignisse ist dieses letzte Kapitel des Romans auch besonders geeignet, zu zeigen, wie der Kommentar Stifters Aneignung der Geschichtsquellen und die damit verbundene Geschichtsauffassung vermittelt. Neben Wolfgang Wiesmüller: Edition und Interpretation. Am Beispiel von Adalbert Stifters "Witiko". 2 Bde. Habilschrift masch. Innsbruck 1991, Bd.2, S.244. Die Arbeit enthält u.a. das Druckkonzept für den Stellenkommentar zum "Witiko". Beim "Ehrenkranz" für Feldmarschall Radetzky handelt es sich um eine Festgabe zu dessen 90. Geburtstag, die 1856 vom Tiroler Radetzky-Verein in Innsbruck herausgegeben wurde. Wie viele andere Persönlichkeiten aus Politik und Kunst ist auch Stifter der Aufforderung zur Eintragung in diesen "Ehrenkranz" gefolgt 16 17

Süfter, Bd.5.2, 1985, vgl. Anm.13, S.42. Wiesmüller 1991, vgl. Anm.15, S.262.

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Palackys "Geschichte von Böhmen" (1836ff.) und Friedrich Raumers "Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit" (1823) hat der Autor für diesen Abschnitt noch eine spezielle Untersuchung von Florenz Tourtual, "Böhmens Antheil an den Kämpfen Kaiser Friedrich I. in Italien" (1865/66), herangezogen. An ihr orientiert sich Stifter sehr genau, was Chronologie, Schauplätze und Verlauf der Ereignisse betrifft. Der Kommentar darf sich aber nicht auf diesen Nachweis beschränken. Er hat die Selektionsprinzipien des Autors in den Blick zu nehmen, die im wesentlichen als Idealisierung und Harmonisierung charakterisiert werden können. 18 Zwei Beispiele müssen hier genügen: - Zum Verhältnis zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Herzog Wladislaw: Den historischen Quellen zufolge hat Wladislaw vor seiner Erhebung zum König Friedrich Barbarossa das Versprechen gegeben, diesen im Kampf gegen Mailand mit seinem gefürchteten böhmischen Heer zu unterstützen. Im "Witiko" wird dieser machtpolitische Zusammenhang verschleiert: Wladislaws Beteiligung am Mailänderzug erscheint als Dank für die Königskrone und als Verpflichtung dem römischen Reich gegenüber. Daß der Freundschaftsbund zwischen beiden Herrschern seit dem Italienzug "mit jedem Jahre lockerer und schwächer zu werden schien", 19 bis es 1168 zum offenen Bruch kam, konnte Stifter bei Palacky nachlesen; im "Witiko" finden sich nicht die geringsten Anzeichen dafür. Überhaupt bricht Stifter die eigentliche Romanhandlung mit dem Jahr 1162 ab und setzt das Mainzer Hoffest von 1184 an den Schluß, eine Apotheose der Einheit des römischen Reichs und der Macht des Kaisers. Er übergeht damit das die Reichspolitik Friedrichs überschattende Schisma sowie den anhaltenden Widerstand der oberitalienischen Städte. - Zu Kaiser Friedrich I. Barbarossa: In den Geschichtsquellen, insbesondere bei Raumer, wird die imperiale Machtpolitik Barbarossas in Italien durchaus ambivalent, ja kritisch gesehen, da Zerstörung und Unterdrückung letztlich nicht zum Erfolg geführt und schwere Belastungen für das Reich mit sich gebracht haben. Den Freiheitsbestrebungen der Städte wird dort bisweilen mit Verständnis begegnet. Stifter drängt diesen Aspekt zurück. Wenn z.B. bei Tourtual die Friedensbedingungen für Mailand als äußerst hart hingestellt werden, so fehlt diese Einschätzung im "Witiko". Während bei Tourtual die Unterwerfungszeremonie der Mailänder als besonders demütigende und überzogene Geste kaiserlicher Macht erscheint, wird sie bei Stifter indifferent dargestellt; der Kommentar markiert diesen Unterschied: Bd. 5.3/S.314.9-16 Die Bischöfe bis um den Hals] Vgl. Tourt. S50f.: "Die beiden bischöfe führen alsbald in langem, feierlichen zuge den erzbischof herbei unter dem geleit des ganzen klerus, des domkapitels, der weltgeistlichen und der ordensleute, mit kreuzen, rauchfässern und sonstigem kirchlichen schmuck ; dann erscheinen die 12 vom kaiser ausgewählten Mailändischen konsuln im demüthigsten aufzuge, wie man es im vertrage bestimmt hatte, baarfuss, das blosse schwert auf den nacken gebunden; ebenso der rath und die vornehmsten der Stadt, dann das volk, mit stricken um den hals ." Tourtual fügt noch hinzu: "obgleich die konsuln dem kaiser ganz ausserordentliche

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Vgl. dazu in der neueren Stifterliteratur besonders Werner Hahl: Vom Gottesstaat Österreich Stifters "Witiko". In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Hrsg. von Herbert Zeman. Graz 1982, S.439-464, besonders S.440-444. Palacky 1836, vgl. Anm.14, S.452.

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summen geldes geboten hauen, damit ihnen diese schmach erlassen wurde; und soviel auch sonst das geld beim kaiser und am kaiserlichen hofe vermochte, diesmal blieb er unbeweglich, der stolz der Stadt sollte auch besonders in ihren häuptern gebrochen werden." 20

Stifter forciert die Rolle des Kaisers als "weltlicher Stellvertreter Gottes und Richter der Erde," 21 der die Bösen bestraft. Diese Vorstellung dürfte allerdings durchaus ihren Platz zumindest im österreichischen Bildungshorizont der damaligen Zeit gehabt haben. Die Darstellung der Unterwerfung Mailands in Peter Johann Nepomuk Geigers "Historischen Handzeichnungen" (Wien 1839/40, 2. Ausgabe 1861), die auch in das damals populäre und Stifter bekannte Geschichtswerk "Vaterländische Immortellen" (Wien 1838ff.) von Anton Ziegler aufgenommen wurde, deutet jedenfalls darauf hin. Dieses Bild (vgl. die Abbildung auf S.92), das auch der "Witiko"-Kommentar bringen wird, trägt die Unterschrift "Strafurtheil Kaiser Friedrich I. über die aufständischen Mailänder 1162." Es mutet wie eine Illustration zur folgenden Stelle im "Witiko" an, oder diese umgekehrt wie eine Beschreibung der ersteren: Und wieder nach drei Tagen kam das ganze Volk. Es war in hundert Schaaren abgetheilt. Sie hatten Stricke um den Hals, Asche auf dem Haupte, und Kreuze in den Händen. Sie brachten das Carrocio, das höchste Feldzeichen der Stadt. Es war ein Mastenbanner, das von einem eisernen Rüstwagen emporragte, und auf der Spitze das Kreuz und das Bildniß des heiligen Ambrosius trug. Das Carrocio wurde zertrümmert. Dann warf sich das Volk auf die Erde, und bat im Namen des Heilandes um Erbarmen.22

Der hier vorgeführte Befund des Kommentars korrespondiert nicht nur mit den bereits angesprochenen zeitpolitischen Ereignissen, besonders mit dem Italienkrieg von 1859, sondern auch mit einer bestimmten Facette von Stifters Geschichtsauffassung, die der Überblickskommentar referiert. 23 Gemäß Stifters Überzeugung, die Menschheit entwickle sich im Verlauf der Geschichte gesetzmäßig - er spricht vom "Sittengesetz" - zu moralischer Freiheit und Vernunftwürde empor, kann nichts, was sich dieser Entwicklung entgegenstellt, Bestand haben. "Solange die Geschichte spricht, hat Frevel nie auf Dauer gesiegt", so Stifters Worte im Brief vom 26. Juni 1866 an Josef Türck, übrigens im Zusammenhang mit der Konfrontation zwischen Österreich und Preußen; einen solchen "Frevel" sieht er offensichtlich in dem Bestreben Mailands, sich den kaiserlichen Rechten zu widersetzen - im Mittelalter ebenso wie zu seiner Zeit - , einen Frevel, der für Stifter mit Notwendigkeit Strafe nach sich zieht. Im Zusammenhang mit der erst kürzlich wieder von Manfred Windfuhr erhobenen "exegetischen Aufgabe" des Kommentars, dem Leser "das Verständnis des Werks auch im Hinblick auf wichtige Deutungsaspekte" zu ermöglichen bzw. zu erleichtern 2 4 könnte die hier angedeutete Verfahrensweise des Kommentars ein Zweifaches leisten: Zum einen 20 21 22 23

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Wiesmüller 1991, vgl. Anm.15, S.541. Stifter, Bd.5.3, 1986, vgl. Anm.13, S.314. Ebda. S.333. Als Entwurf dazu vgl. Alfred Doppler: Die Amoralität der Geschichte: Adalbert Stifters Verhältnis zur Geschichte. In: Alfred Doppler: Geschichte im Spiegel der Literatur. Aufsätze zur österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Innsbruck 1990 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanist. Reihe, Bd.39), S.47-57. Manfred Windfuhr: Zum Verständnis von Kommentar und Genese. In: editio 5, 1991, S.173-177, hier S.173.

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wird durch die Rekonstruktion des Selektionsprozesses aus den Geschichtsquellen und der geschichtstheoretischen Position ein bestimmter Problemhorizont des Autors sichtbar gemacht, von dem her sein Werk gedeutet werden kann. Zum anderen ermöglicht die Einbettung des Werks in den geschichtlich-politischen Horizont seiner Entstehungszeit, also gewissermaßen seine 'Re-Pragmatisierung', ein Verständnis seiner damaligen Aktualität, die dem heutigen Leser nicht mehr gewärtig ist.

Strafurtheil Kaiser Friedrich I. über die aufständischen Mailänder 1162

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Dichter-Kommentar Am Beispiel der Fußnoten- und Anmerkungspraxis im historischen Roman.

Vorab eine Klarstellung: Wer die "heil'gen Hallen" des Kommentars betritt, hat sich nicht etwa gegen die Finanzierung von Starfightern und akademischem Nachwuchs und für 'fleischfressende' Werk-Konserven, gemeinhin historisch-kritische Ausgaben genannt, entschieden,1 sondern wandelt noch immer in der ursprünglichen Landschaft der sich selbst tragenden Alltagssprache, gehört doch das 'Kommentieren' zu einem "der gebräuchlichsten Verhaltensmuster im Kommunikationsverhalten des Menschen".2 Mit einigem Recht ließe sich hier ein Diktum des alten Stechlin abgewandelt anwenden, demzufolge jener Gesprächspartner der "reinste Mensch" sei, der am meisten kommentiert. 3 Daß ein solches Ideal in der Wirklichkeit auch über die eigenen übergroßen Fuß-Noten stolpert, gehört dann zu den paradoxen Intermezzi unserer Schaustellungen in der wissenschaftlichen Manege. Wir haben uns in unserer 'Editionsdramaturgie' an die notwendige Differenzierung in textliche Hauptaktion und kommentierendes Zwischen- bzw. Nachspiel gewöhnt, vergessen jedoch, daß der beste Kommentar eigentlich 'subversiv' wirken will, indem er 'entstört', d.h. genau da verschwindet, wo er am dringlichsten wirkt; denn was wäre das für eine Bildbereinigung, die ständig ihre 'Putzmittel' vor Augen führte! Aber genau das tun ja unsere Apparate. Da mag es tröstlich sein zu beobachten, wie nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Dichter selbst ihr Werk kommentieren. Daß sie so etwas überhaupt tun, ist ja ohnehin bekannt, sei es als integrierte Reflexion, abgesetzte Note oder Buch übers Buch. Wenn für den gegenwärtigen Zusammenhang die Fußnoten- und Anmerkungspraxis im historischen Roman gesondert betrachtet wird, so bedeutet das nicht, daß solche Erläuterungen nur hier oder hier besonders häufig vorkämen. Wo immer 'gelehrte Dichter' das Wort ergriffen, schrieben sie gern mit solchen mehr oder minder "impertinenten"4 'Nachklang'-Effekten; und mindestens das eine bleibende Verdienst können sie für sich verbuchen, daß sie nämlich Humoristen auf den Plan riefen, die es ihnen auf eigene, vergnügliche Weise nachmachten (Wieland, Jean Paul).

Vgl. die Diskussion im Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 33-35 (1989-91). Roland Posner: Theorie des Kommentierens. Eine Grundlagenstudie zur Semantik und Pragmatik. Frankfurt/M. 1972, S.2. Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Abt.l, Bd.5.2. Aufl. München 1980, S.23. Johann Georg Hamann: Schriften zur Sprache. Hrsg. von Josef Simon. Frankfurt/M. 1967, S.155.

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Dennoch ist die gegenwärtige Eingrenzung sinnvoll. Sie lenkt den Blick auf eine literarische Formtradition, die wie keine andere mit dem Bezug auf Wirklichkeit arbeitet bzw. spielt und deshalb das 'Kommentieren' automatisch und auch charakteristisch vollzieht, entweder als Kontext- oder Marginal-Glosse. Wenn es Aufgabe des Kommentierens ist, geschichtlich bedingte Verschiebungen im Sprachgebrauch und Wissensarsenal zwischen aktueller Schreibsituation und 'entferntem' Publikum zu kompensieren, so erscheint gerade dieser funktionale Zusammenhang im historischen Roman als strukturbildendes Merkmal der grundlegenden Spannung zwischen "damals" und "heute". Inhalt, Art und Umfang dieses epischen Beiseite-Sprechens konstituiert unmittelbar ein Werk, das Vergangenheit oder im Medium der illustrierten Vergangenheit Gegenwart kommentiert. Der eigentliche historische Roman entstand aus der Wechselbeziehung zwischen Geschichtswissenschaft und epischer Kunst; 5 d.h. er übernahm die 'archivalische' Gewissenhaftigkeit oder überwand sie, je nachdem er sie imitierte oder parodierte (Walter Scotts "Rev. Dr. Dryasdust, F.A.S."). Das Prozeßbild dieses historischen Romans stellt sich dar als schweifender Blick von 'oben nach unten' bzw. manuelle Motorik 'von vorne nach hinten' und machte im selben Buchraum erfahrbar, was die akademische Lehre geflissentlich trennt: die künstlerische Phantasie von der positivistischen Erfahrung, die epische Breite von der bibliographischen Kurzschrift, die muttersprachliche Lebensfülle von der lateinischen Faktizität, das vergnügliche, vorwärtsdrängende Lesen von dem aufhaltenden, augenverderblichen Studieren. Für den historischen Roman mit Fußnoten und Anmerkungen lieferte Walter Scott das Vorbild. Doch erschöpft sich seine Annotationspraxis keineswegs im Nachweis der authentischen Momente im erzählten Geschehen; und wo dies geschieht, folgt daraus nicht automatisch, daß der historisch gewissenhafte Erzähler gerade durch die Wahl seiner Versicherungsmittel die eigene Geschichte als Fiktion "entlarvt".6 Der Unterschied bleibt im 'polyphonen' Gebilde Scottscher Prägung bzw. Qualität durchaus erhalten, und es hat wenig Sinn, die Fußnoten dichtungslogisch gegen die Erzählung auszuspielen.7 Vielmehr bilden sie im so intendierten epischen Kräftespiel jene Wagschale des Realen und der Realien, deren Gewicht auf der anderen Seite durch die poetischen Motti austariert wird und so den Balanceakt historischen Erzählens erzeugt. Bei Hauff wird dies seine augenfälligste Ausprägung erhalten. Scott 'würfelt' mit Fußnoten und Anmerkungen aus unterschiedlicher Feder, z.B. der des Autors und seines Laurence Templeton ("Ivanhoe"); er benutzt sie für Wort- und Sacherklärungen ebenso wie für weitausholende Exkurse; selbst vor einer Fußnote für die Anmerkung scheut er nicht zurück. Anachronismen werden verteidigt, historische Unwahrscheinlichkeiten dem Manuskript-Autor in die Schuhe geschoben, Anspielungen entschlüsselt und der Leser fürsorglich gelenkt. - Es gehört zur 'tragischen Ironie' dieser diversen Anhänge, daß sie

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Eberhard Lämmert: "Geschichte ist ein Entwurf': Die neue Glaubwürdigkeit des Erzählens in der Geschichtsschreibung und im Roman. In: GQ 63,1990, S.5-18. Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. [Zuerst 1964.] Nachdr. Frankfurt/ M. 1973, S.17. Vgl. dazu grundlegend Bernd W. Seiler: Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Stuttgart 1983.

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sich leicht abschneiden lassen; und so reicht zwar die Wirkungsgeschichte Scotts bis in die Gegenwart unserer Jugendliteratur, doch sucht man hier vergeblich nach dem, was auch an diesem Ort die kritische Überfluß-Probe vom Notwendigen abgekappt hat. Auch Willibald Alexis - der bekannteste Vermittler des Scottschen Genres in Deutschland - läßt z.B. in "Walladmor" (1824) - seine Fußnoten einer zweifachen Quelle entspringen, wie die Siglen "D.A." und "A.d.Ü." anzeigen. Die Palette der kommentierenden Ein- und Nachreden fallt hier noch bunter aus: Neben den üblichen Erläuterungen und Quellenbelegen stehen leserbesorgte Bestätigungen ("So lautet wirklich, geneigter Leser, ein altes, Wälsches Gesetz." II,223), 8 redaktionelle Hinweise ("Um nicht zu ermüden, habe ich die Reden des Wälschen Edelmannes in schlichtem Hochdeutsch wiedergegeben;" 11,182), Kritik am Dichter ("es ist zu verwundern, daß der gewandte Dichter der Dichtung keinen romantischen Schwung durch eine Umarbeitung der Englischen Uebersetzung gegeben hat." 111,18), Aufforderung ("Gütigster Recensent! Du wirst diese merkwürdige Entdeckung in Deiner Kritik doch nicht dem Leser in voraus verrathen", 111,297) und emphatischer Kommentar; so folgt etwa als Reaktion auf die Figurenrede "Aus Merseburg, der Hauptstadt des Harzes" die eher logographisch zu nennende Fußnote "!! A.d.Ü." (11,174). Die poetisch-wissenschaftliche Rahmenfunktion der Motti und Anmerkungen nimmt in Wilhelm Hauffs "Lichtenstein" (1826) die deutlichste Gestalt an. Sollen die Motti aus dem Schatz der schwäbischen Dichtung die prosaische Erzählung poetisieren, so sorgen die historiographischen Anmerkungen für den sicheren Grund einer Erzähl-Phantasie, der es nicht nur um Unterhaltung, sondern vor allem um Erhaltung des jüngst gestifteten Königtums geht.9 Die "Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte" zielt mit ihrem leitmotivischen Verfahren der historischen Beglaubigung und quellengestützten Argumentation auf die Erfüllung alter Vorausdeutungen in der Gegenwart ab und stützt mit der Besiegelung des Gewesenen die in der Restaurationszeit gefährdete, relativ fortschrittliche Monarchie aus Napoleons Hand. Wie Scott und Alexis sorgt sich Hauff um seinen Leser; die 'persönlichen Anmerkungen' nehmen zu, in denen der Erzähler mit seinem Publikum Gesprächssituationen stiftet. Ganz im Dienst der Ausmalung der "Bilder des öffentlichen und häuslichen Lebens in Mexiko" stehen die "Noten und Erklärungen" in Charles Sealsfields "Der Virey und die Aristokraten oder Mexiko im Jahre 1812" (1834). Sie konstituieren die 'InterferenzPoetik' mehrsprachiger Werke und inszenieren 'unterm Strich' den interkulturellen, transatlantischen Vergleich. Sie durch 'eigene', moderne "Anmerkungen" zu ersetzen, die nur sporadisch die originalen Noten aufnehmen, 10 legt nur die Schwächen einer Bearbeitungshaltung bloß, die um der Aktualisierung willen reine Textverfälschung (z.B. die Ausschaltung von Sealsfiels nordamerikanischer Perspektive) betreibt.

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Die Verweise beziehen sich auf Willibald Alexis: Walladmor. Faksimiledruck der Ausgabe aus dem Jahre 1824. 3 Bde. Leipzig 1967. Vgl. das Nachwort von Paul Michael Lützeler in der Ausgabe des Reclam-Verlags: Wilhelm Hauff: Lichtenstein. Romantische Sage aus der wüittembergischen Geschichte. Stuttgart 1988. So im Fall der Neuausgabe des Union Verlags Berlin 1985.

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Eine spezifisch wissenschaftliche Fratze der Anmerkungen zeigt sich eigentlich erst in Josef Victor von Scheffels "Ekkehard" (1855). Für sich fast schon "ein kleines Buch" füllend, 1 1 tritt das wörtliche Zitat in lateinischer Fachsprache in den Vordergrund; routiniert abgekürzte Quellenangaben wenden sich an die Lesekompetenz des Gelehrten. Dabei hat Scheffel durchaus populäre Absichten. Zwar erklärt er im Vorwort: Dem Wunsche sachverständiger Freunde entsprechend, sind in Anmerkungen einige Zeugnisse und Nachweise der Quellen angefühlt, zur Beruhigung derer, die sonst nur Fabel und müßige Erfindung in dem Dargestellten zu wittern geneigt sein könnten.

Doch heißt es weiter leserfreundlich: Wer aber auch ohne solche Nachweise Vertrauen auf eine gewisse Echtheit des Inhalts setzt, der wird ersucht, sich in die Noten nicht weiter zu vertiefen; sie sind Nebensache und wären überflüssig, wenn das Ganze nicht als Roman in die Welt ginge, der die Vermutung leichtsinnigen Spiels mit den Tatsachen wider sich zu haben pflegt.

So erscheint Scheffel geradezu als literatur-wissenschaftlicher Bilderstürmer, der den "Koloß seitheriger Wissenschaft" niederreißt, ohne sich von der akademischen Orthodoxie exkommunizieren zu lassen. Im Gegenteil bringt die dunkle Folie der Gelehrsamkeit die epische Vergangenheitsvision zum Leuchten. - Die zeitgenössische Kritik begrüßte diese "gelehrten Noten" als "etwas so durchaus Neues", 12 und selbst Fontane sah in ihnen "das Resultat der liebevollsten und ernstesten Studien" bewiesen. 13 Übrigens verschmähte es Scheffel bei all seinem habilitationsreifen Zitiergeschick nicht, in den Anmerkungen auch episch 'bei Seite' zu reden; so wechselt er zuweilen mit einem "Übrigens" oder "Wir können uns nicht enthalten" zum leichteren Plauderton über und versteht es hier, den Leser einfach anzureden, etwa so: "Bist du nicht auch schon, verehrte Leserin, in stiller Einsamkeit der Nacht [...]".14 Um Beweise, die 'auf dem Fuße' folgen, geht es auch dem Archäologen Georg Ebers, wenn er die "Errungenschaften emster Studien in ein von der Phantasie gewebtes Gewand kleidet" und die "Resultate seiner Forschungen einer möglichst großen Anzahl von Gebildeten in der das allgemeine Interesse am meisten ansprechenden Form zugänglich" macht (Vorwort zur 2.Aufl. von "Eine Ägyptische Königstochter"). Mit Fußnoten und Anmerkungen geharnischt, sucht sich diese zarte Phantasie vor den gelehrten Kollegen zu "rechtfertigen", während sie dem "Gebildeten" verspricht, auch "ohne Erklärungen" verständlich zu bleiben. Auch Ebers wahrt nicht immer die akademische Nüchternheit, sondern läßt sich gelegentlich zu exkursartigen Erzähleinlagen hinreißen oder schildert übergenau die Verfahren der Mumifizierung. Immer wieder argumentiert er für das Faktische des erzählten Zusammenhangs, pocht aber vereinzelt auch auf das Recht zur dichterischen "Freiheit"; 15 nur selten revidiert er frühere Entscheidungen

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Fontane (vgl. Anm.3), 3.Abt, Bd.l. S.405. Vgl. Hartmut Eggert: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 18501875. Frankfurt/M. 1971, S.166f. Fontane (vgl. Anm.l 1), ebda. J.V. von Scheffels Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Johannes Proelß. Bd.2. Stuttgart [1907], S.227, Anm.133. Georg Ebers: Ausgewählte Werke. Bd.l. Stuttgart [1914], S.610, Anm.325.

Dichter-Kommentar

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(Anm.274). 16 An einer Stelle spiegelt sich auch seine politische Einstellung (Anmerkung zu 'Helot': "Sklaven in Sparta, die sich ziemlich häufig der Dienstbarkeit, die übrigens im allgemeinen zu schwarz geschildert wird, zu entziehen suchten." 17 ) Es wäre interessant, die politisierenden Nachkommentierungen in unterschiedlichen Epochen zu verfolgen; es könnte sich so ein interessantes Bild des ideologisch eingefärbten Szientismus ergeben. Nur hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Fußnoten zu Sir John Retcliffs "historisch-politischem" Roman "Biarritz" in der bearbeiteten Neuausgabe des Deutschen Volksverlags (München 1924), der gerade im Bereich des berüchtigten Kapitels "Auf dem Judenkirchhof in Prag" vermeintlich erwiesene Faktenkommentare bringt. Sich heute über den Irrweg einer Realismus-Doktrin zu mockieren, die alert ihre Waffe 'bei Fuß' hält, ist nicht schwer, zumal die besten historischen Romane des 19. Jhs., Stifters "Witiko" und Fontanes "Vor dem Sturm" ohne diese Strategie auskommen. Dennoch verschwindet die Kommentierung nicht spurlos aus dem Genre. Gewiß sucht man bei Döblin, Feuchtwanger und Kesten vergeblich danach; und ob Heinrich Manns "Moralit£"-Nachschriften in "Die Jugend des Königs Henri Quatre" in den gegenwärtigen Zusammenhang passen, ist eher fraglich. Vielleicht aber haben sich Kommentierungsbedürfnis und -angebot auch nur gewandelt. Ein moderner Klassiker des Genres, Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt" (1988), bietet dem Interessierten "Ein Ovidisches Repertoire"; ein Glossar findet sich in Gisbert Haefs "Karthago" (1989) und Edgar Hilsenraths "Das Märchen vom letzten Gedanken" (1989). Hans Dieter Stövers populärer Roman "Agon oder Der Ring des Demetrios" (1989) präsentiert dem am "politischen Rahmengeschehen" interessierten Leser ein kommentiertes Personenverzeichnis, in dem er konsequent nach "h"- und "f"-Figuren (d.h. historischen und fiktiven) unterscheidet; hinzukommen Landkarten, Begriffslexikon, Zeittafel und Bibliographie. Selbstverständlich darf in diesem Reigen nicht ein zeitgenössischer Jean Paul des historischen Romans fehlen: In Jean d'Ormessons preisgekröntem Roman "La Gloire de l'Empire" (1971, dt. 1978) finden sich Fußnoten dieser Art: "Darüber unterrichtet am besten der ausgezeichnete Artikel von Max und Moritz Struwwelpeter in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft und historische Forschung, Berlin, Bd.XXII, S.722-791" (dt. Übers., S.24). Es gibt sogar einen Roman, der eigentlich nur aus Fußnoten 'alter Art' besteht, nunmehr aber "gegen den Strich" gelesen werden will und das aktuelle Bild vom 'anderen' historischen Roman 1 8 prägt: Alexander Kluges "Schlachtbeschreibung" (1964/1978). Unsere Revue der kleinen Noten sollte zeigen, daß Kommentieren zur literarischen Arbeit gehört, daß es unterschiedliche Formen annimmt und mit wechselndem Erfolg sein Ziel erreicht. Gerade der historische Roman erweist sich als lehrreiche Schnittstelle zwischen poetologischem Kalkül, wissenschaftlicher Enzyklopädie und didaktischer

16 17 18

Ebda. S.600, Anm.274. Ebda. S.555, Anm.45. Hans Vilmar Geppert: Der 'andere' historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen 1976.

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Hugo Aust

Pflege des Leseverständnisses. Zusammenfassend lassen sich folgende Momente festhalten: Strukturell gesehen stellt der kommentierende Apparat eine authentische Werkkomponente dar; er übt eine Brückenfunktion zwischen ästhetischer Fiktion, gemeinter Wirklichkeit und zeitgenössischem Publikum aus. Erzähltechnisch gesehen erweist er sich als heikles Mittel, dessen Anwendung nicht immer gelingt, kippt doch dieses augenfällige Darstellungsmittel leicht in seine eigene Parodie um. Im Leseprozeß gilt er als fakultative Werkseite, insofern sie Überlesen werden kann. Historisch bezeichnet er - der Orthographie vergleichbar - eine charakteristische Schwachstelle des Wortlauts, in die das 'Rauschen' der Überlieferung am ehesten eindringt. Philologisch gesehen begegnet in ihm ein (ambivalentes) Muster intentionaler 'Nachrede', das in der Kommentierungspraxis nicht übersehen werden sollte.

Jens Stuben

Interpretation statt Kommentar Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach: "Kritische Texte und Deutungen"

Die einzelnen Bände der von Karl Konrad Polheim herausgegebenen historischkritischen Ausgaben der Novellen Ferdinand von Saars1 und der Romane und Novellen Marie von Ebner-Eschenbachs 2 umfassen neben dem Text, dem Lesartenapparat, der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte auch jeweils eine eingehende Interpretation. Der Grund für die Aufnahme der Interpretation besteht vor allem darin, daß diese die Entscheidung für den kritischen Text, d.h. für die als edierten Text gewählte Fassung, beeinflußt und daß jene Entscheidung nur dann nachvollziehbar und überprüfbar gemacht werden kann, wenn die Interpretation mit abgedruckt wird. Der Teil "Deutung" ersetzt in den Bänden der Saar- und der Ebner-Eschenbach-Ausgabe die in historisch-kritischen Ausgaben sonst üblichen "Erläuterungen". Anstatt in einem übergreifenden Kommentar, der ohnehin von wichtigen Aspekten der Interpretation beeinflußt und von dieser schwerlich sauber zu trennen ist, werden die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen, die geistes- und literaturgeschichtlichen Bedingungen und die biographischen Voraussetzungen im Abschnitt "Deutung", meist zu Beginn, abgehandelt. Statt in einem Stellenkommentar finden Erläuterungen von Einzelstellen ihren systematischen Platz im Gang der Interpretation. Solche Einzelstellen sind oft mit dem Zentrum des Sinngehaltes einer Novelle verbunden und dann einer viel weitergehenden Erklärung bedürftig, als man sie in historisch-kritischen Ausgaben gewöhnlich findet. Ferdinand von Saar: Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. (Im folgenden zitiert als "Saar: KTD" + Bandzahl.) Bisher sind erschienen: Bd.l: Marianne. Kritisch hrsg. und gedeutet von Regine Kopp. Bonn: Bouvier 1980. Bd.2: Die Geigerin. Kritisch hrsg. und gedeutet von Heinz Gierlich. Bonn: Bouvier 1981. Bd.3: Seligmann Hirsch. Kritisch hrsg. und gedeutet von Detlef Haberland. Tübingen: Niemeyer 1987. Bd.4: Innocens. Kritisch hrsg. und gedeutet von Jens Stüben. Bonn: Bouvier 1986. (Nicht zitiert wird aus Ergänzungsbd. 1: Briefwechsel mit Abraham Altmann. Kritisch hrsg. und kommentiert von Jean Charue. Bonn: Bouvier 1984.) In Vorbereitung befinden sich weitere Bände. Marie von Ebner-Eschenbach: Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. (Im folgenden zitiert als "Ebner-Eschenbach: KTD" + Bandzahl.) Bisher sind erschienen: Bd.l: Unsühnbar. Kritisch hrsg. und gedeutet von Burkhard Bittrich. Bonn: Bouvier 1978. Bd.2: Bozena. Kritisch hrsg. und gedeutet von Kurt Binneberg. Bonn: Bouvier 1980. Bd.3: Das Gemeindekind. Kritisch hrsg. und gedeutet von Rainer Baasner. Bonn: Bouvier 1982. (Nicht zitiert wird aus Bd.4: Autobiographische Schriften I: Meine Kinderjahre. Kritisch hrsg. und gedeutet von Christa Maria Schmidt Tübingen: Niemeyer 1989). In Vorbereitung befinden sich weitere Bände.

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Jens Stuben

Die "Kritischen Texte und Deutungen" der Werke Saars und Ebner-Eschenbachs sind damit eine Ausgabe neuen Typs. 3 Vergleiche mit im herkömmlichen Sinne kommentierten Ausgaben der Werke dieser Autoren sind nicht möglich, denn historischkritische Ebner-Eschenbach- und Saar-Editionen hat es bis zu den "Kritischen Texten und Deutungen" nicht gegeben, noch liegen zeitgemäße Studienausgaben vor. Die bisher besten Ausgaben beider Autoren sind unkommentierte Leseausgaben - wie die WinklerAusgabe der Werke der Ebner-Eschenbach oder die (von Jakob Minor herausgegebenen) Sämtlichen Werke Ferdinand von Saars von 1908. Nur wenige Ausgaben sind m i t sehr knappen - Einzelstellenerläuterungen versehen worden: so eine Schulausgabe von Ferdinand von Saars Novelle "Innocens"4 von 1910 und eine in der DDR erschienene Saar-Auswahlausgabe.5 Umfassende und weiterführende Kommentare erschienen bei beiden Autoren früher nicht notwendig. Die Forschung hat sie - besonders Saar - viel zuwenig beachtet und gewürdigt. Gründliche Analysen der Romane der Ebner und der Novellen Saars waren bis auf sehr wenige Ausnahmen und Ansätze gar nicht vorhanden. Erst die neuere SaarForschung (Karl Konrad Polheim 6 und seine Schule) hat deutlich gemacht, daß dieser poetische Realist zu den Großen seiner Epoche gehört. Galt er früher als ein flacher Abschilderer der Wirklichkeit, so zeigt jetzt eine Reihe ausführlicher Interpretationen, daß er auf eine ihm eigene Weise hintergründig gearbeitet hat, indem er die Sinnebene systematisch unter einer scheinbar glatten Oberfläche versteckte. Die Kommentierung muß also mehr leisten, als nur zu einem vordergründigen Verständnis zu verhelfen; viele Begriffe, Namen usw. scheinen keineswegs erläuterungsbedürftig, sind es indessen doch, wenn der Zugang zu der philosophischen und psychologischen, um nicht zu sagen psychoanalytischen Tiefendimension einer Saarschen Novelle eröffnet werden soll. Um "herauszufühlen", was er als Dichter "eigentlich wollte", schrieb Saar selbst, "dazu gehört mehr, als lesen gelernt zu haben".7 Im folgenden nenne ich Beispiele für Erläuterungen, die in den bisher erschienenen Bänden der "Kritischen Texte und Deutungen" jeweils im Abschnitt "Deutung" gegeben werden: zunächst für solche Erläuterungen, wie sie sich in herkömmlichen historischkritischen Ausgaben und Studienausgaben (z.B. den Bänden des Deutschen KlassikerVerlags) im übergreifenden Kommentar befinden würden, dann Beispiele für Einzelstellenerläuterungen. Dabei handelt es sich um solche Erläuterungen, die unter der i

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Siehe Karl Konrad Polheim: Textkritik und Interpretation. Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar in wissenschaftlichen Einzelausgaben. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 7,1976, S.127-135. Wiederabdruck (unter dem Titel: Textkritik und Interpretation) in: Saar: KTD 1, S.V-XVI. Ferdinand von Saar: Innocens. Mit einer Einfahrung von Friedrich Panzer. Wien, Leipzig 1910 (Neuere Dichter für die studierende Jugend. Bd.20). Ferdinand von Saar: Requiem der Liebe und andere Novellen. Mit Einleitung hrsg. von HansHeinrich Reuter. 3.Aufl. Leipzig 1988 [l.Aufl. 1958] (Sammlung Dieterich. Bd.220). Siehe bes. Karl Konrad Polheim: Ferdinand von Saars Erzählkunst. Am Beispiel des "Brauer von Habrovan". In: Ferdinand von Saar. Ein Wegbereiter der literarischen Moderne. Festschrift zum 150. Geburtstag mit den Vortragen der Bonner Matinee und des Londoner Symposions. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Bonn 1985, S.ll-42. Im Brief an Marie zu Hohenlohe, 19.9.1879 (Wiener Stadt- und Landesbibliothek, IN 116253).

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Rubrik "Kommentar" fragwürdig wären - wie es Gunter Martens in seinem Beitrag 8 zeigt, die unter der Überschrift "Interpretation" jedoch dort stehen, wo man sie mit Recht erwartet. Am Anfang der Deutung von Saars Novelle "Marianne" steht die Einordnung in die literarische Tradition. Behandelt werden hier das Genre des Eheromans und die (an Goethes "Werther" erinnernde) Brief- oder eigentlich Tagebuch-Form. 9 Die Ausführungen der Editorin und Interpretin zum Motiv des Sündenfalls in der Erzählung und in der Literaturgeschichte werden ergänzt durch einen Hinweis auf die wichtige Rolle, die dieses Motiv in der Philosophie Arthur Schopenhauers spielt, von der Saar beeinflußt war. 10 Der Vergleich mit literarischen Vorbildern - wie Theodor Storms "Immensee" findet sich in der Interpretation von Saars Erzählung "Innocens" im Kapitel zu dem zentralen Thema "Entsagung".11 Darin wird - ebenso wie im entsprechenden Kapitel der Deutung von Saars Novelle "Die Geigerin" 12 - auch der literarhistorische Hintergrund, die Entsagungsliteratur des späten Goethe und des Biedermeier, aufgezeigt. Die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen der Handlung von Saars Novelle "Innocens", nämlich der Josefinismus in Böhmen mit seinem Hauptvertreter Bernard Bolzano 1 3 und der Kulturkampf nach dem Konkordat von 1855, werden in einem eigenen Kapitel am Anfang der Interpretation dieser Erzählung behandelt. Ebenfalls in den übergreifenden Kommentar würden Hinweise auf die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen gehören, die Saars Werke prägen. Eine ausführliche Erläuterung muß darauf aufmerksam machen, welche Funktion dieser autobiographischen Einzelheiten im durch die Interpretation erschlossenen Sinngefüge der Dichtung zukommt. Wie der Erzähler des "Innocens" lebte auch Saar als Soldat lange Zeit in Prag, dem Schauplatz der Novelle. Die Handlung spielt in der "Wyschehrader Citadelle" hoch über der Moldau und den Überresten der "Libussaburg". 14 Diese Ortsbezeichnungen können eigentlich nur "erläutert" werden, wenn bereits interpretiert wird: Im Kommentar wäre nicht nur anzugeben, wie der reale Raum - im Vergleich zum Handlungsraum in der Erzählung - beschaffen ist und wie ihn Saar erlebte, sondern es wäre auch die kulturhistorische und mythologische Bedeutung des Ortes und seine Symbolkraft zu bestimmen. Ähnliches gilt für das - Saar gleichfalls bekannte - Schloß Krummau in Böhmen in "Marianne", mit dem auf die Welt Adalbert Stifters angespielt wird. 15 Es ist ein Gestaltungsprinzip Saars, daß er "reale Räumlichkeiten außerordentlich genau beschreibt und ihnen zugleich im Verlauf der Erzählung symbolische Bedeutung

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9 10 11 12 13 14 15

Gunter Martens: Kommentar - Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? - Der Druck des Aufsatzes ist für editio 7 vorgesehen. Kopp, Saar: KTD 1, S.165-175. Kopp, Saar: KTD 1, S.169f„ S.238. Stuben, Saar: KTD 4, S.216f. Gierlich, Saar: KTD 2, S.167ff. Saar: KTD 4, S.244ff. Saar: KTD 4, S . l l , S.14. Dazu Stuben, Saar: KTD4, S.381ff. "Schloß K... in Böhmen", "das alte Stammschloß der Rosenberge" (Saar: KTD 1, S.22, S.18). Dazu Kopp, Saar: KTD 1, S.94f„ S.261f.

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verleiht"; 16 das oft aus der Erinnerung detailliert beschriebene faktische Lokal fällt mit dem sinnhaften Raum zusammen. 17 Eine Erläuterung des Lokals ist daher von einer Darstellung seines sinnbildlichen Gehalts kaum zu trennen, womit wir uns im Bereich der Deutung befinden. Wie verhält es sich mit fiktiven Ortsbezeichnungen? In Saars Novelle "Seligmann Hirsch" wird unter zahlreichen realen Ortsnamen, die im Zusammenwirken mit realistisch geschilderten Begebenheiten die Illusion von Wirklichkeit schaffen, als Hauptschauplatz zweimal ein "Gasthof zu den 'Drei Monarchen'" genannt. 18 Die bloße Angabe, daß in dem steirischen Ort, in dem die Handlung spielt, ein Gasthof dieses Namens nicht bestanden hat, wäre belanglos. Erst eine Erläuterung, welche die Bedeutung dieses fiktiven Namens im Kontext des Werkes insgesamt erkennen läßt, ist hilfreich. Gemeint sind mit den drei Monarchen, wie der Editor und Interpret aufgrund vieler verschlüsselter Hinweise im Text herausgefunden hat, die Könige Salomo, Attila und Lear. 19 Die Deutung zeigt auf, was diese Könige untereinander verbindet und welche Beziehungen zu der Titelfigur, die im "Gasthof zu den 'Drei Monarchen'" wohnt, bestehen. Zitate aus literarischen Werken haben ebenfalls eine über sich selbst hinausweisende Funktion, auf die eine Erläuterung aufmerksam machen müßte. So zitiert der Erzähler in "Seligmann Hirsch" folgende "Worte" eines "Dichters": "Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln, / Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln!"20 Der Editor und Interpret ergänzt die Angabe der Quelle dieses Zitats - es stammt aus den "Waldliedern" von Lenau durch Überlegungen zu seinem Stellenwert in der Erzählung. 21 Ein anderes Beispiel: "Pfingsten, das Weihefest des Sommers, war herangerückt." 22 Dieses nicht wörtliche Zitat aus Goethes "Reineke Fuchs" wird in der Interpretation der "Marianne" im Kapitel über die Mariensymbolik nachgewiesen.23 Ähnlich verhält es sich mit bloßen Anspielungen. So erinnert die "säkularisierte sündige Heilige" Maria Dornach in Marie von Ebner-Eschenbachs Roman "Unsühnbar" an die biblische Maria Magdalena;24 diese Auffassung wird von der Gesamtinterpretation bestätigt. Hinweise auf solche symbolischen Bezüge sind oft unentbehrlich, um literarische Gestalten verstehen zu können. In Marie Ebners "Bozena" erkennt man Anklänge u.a. an die Ilias, an Situationen im Nibelungenlied oder Parallelen zu Vorgängen um Kaiser Karl V. und Jakob Fugger. 25 Diese Anspielungen und Vergleiche sind damit noch nicht ausreichend kommentiert, daß man ihre Quellen benennt, sondern 16 17 18 19 20 21 22 23

24 25

Kopp, Saar: KTD 1, S.191. Kopp, Saar: KTD 1, S.242. Saar: KTD 3, S . l l , S.32. Haberland, Saar: KTD 3, S. 158, S. 214ff. Saar: KTD 3, S . l l . Haberland, Saar KTD 3, S.217. Saar: KTD 1, S.9. Kopp, Saar: KTD 1, S.274. Ein weiteres Beispiel in der Novelle "Marianne": "'Wer sich der Einsamkeit ergibt, ist bald allein,' singt Goethes Harfner" (Saar: KTD 1, S.7). Dazu Kopp, Saar: KTD 1, S.181, im Kapitel zum Aufbau der Novelle. - Ähnlich in "Bozena": Binneberg, Ebner-Eschenbach: KTD 2, S.285-292. Bittrich, Ebner-Eschenbach: KTD 1, S.343. Binneberg, Ebner-Eschenbach: KTD 2, S.267-279.

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es muß auch ihre Funktion im Zusammenhang des Erzählens erhellt werden: "Sie stiften zahlreiche Verbindungen und Kontakte innerhalb des Werkes und auch zwischen dieser Erzählung und anderen Dichtungen und werden so in zweifacher Hinsicht zu einem bedeutenden Integrationsfaktor." 26 Erläuterungsbedürftige Zitate können auch als Titel von Büchern oder Kunstwerken auftreten. In Saars Novelle "Die Geigerin" ist von einem Plan des Binnenerzählers die Rede, "eine Geschichte der Menschheit vom Standpunkte der Ethik aus zu schreiben, welche [...] eine Berichtigung des berühmten Buches von Thomas Buckle werden sollte". 2 7 Hier besagt der bloße Hinweis, um welches Buch es sich handelt - Henry Thomas Buckle: "History of Civilisation in England", um 1860 in englischer und in deutscher Sprache erschienen - gar nicht viel. Die volle Bedeutung zeigt erst die Untersuchung der kunstvollen epischen Architektonik, sie ergibt sich aus der Position dieser Stelle im Bau der Erzählung. 28 Der Herausgeber und Interpret legt dar, daß hier der Schlüssel zum Verständnis der Novelle liegt: Die Geschichte der Geigerin, die der Binnenerzähler erzählt, ist kein pathologischer Einzelfall, sondern das Beispiel für "die Geschichte der Menschheit vom Standpunkte der Ethik aus", d.h., das "auf den ersten Blick" - wenn eine zureichende Erläuterung fehlt - nur "private Schicksal einer Selbstmörderin wird zum Gleichnis" für das Leben des von seinen Anlagen und Trieben determinierten Menschen. 29 Ein Beispiel für den Titel eines Musikwerkes finden wir in Saars "Seligmann Hirsch": Die Hauptfigur dieser Erzählung pfeift "eine Arie aus Norma". 3 0 Diese Stelle könnte in einem Kommentar lediglich mit dem knappen Hinweis auf Bellinis Oper erläutert werden. Ihre Bedeutung erschließt sich dem Leser aber erst, wenn ihm auch die (einzige) Erwähnung dieses Werkes in Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung" bekannt ist, die ihm den Zugang zum Sinn der ganzen Novelle eröffnet. 31 Ebensowenig aufschlußreich wäre es, wenn die in Saars "Innocens" erwähnte "materialistische Schrift" 3 2 im Kommentar als eines der populären Bücher der Materialisten Moleschott, Vogt oder Ludwig Büchner identifiziert würde, ohne daß man darüber hinaus erführe, was der Hinweis auf diese Schrift zur Bestimmung des Wesens der Priestergestalt, die sie liest, und ihrer Geisteshaltung beiträgt. In Saars "Marianne" werden - mit bestimmter Aussageabsicht - "Aquarelle und Zeichnungen Genellis" und "Frauenköpfe Greuzes" genannt. 3 3 Es hülfe wenig, wenn nur die Lebensdaten und Werke dieser Maler angegeben würden; vielmehr gilt es

26 27 28

29 30 31 32 33

Binneberg, Ebner-Eschenbach: KTD 2, S.278. Saar: KTD 2, S.II. Der Hinweis auf diesen Geschichtsplan steht im Zentrum der Einleitung der Novelle (Gierlich, Saar: KTD 2, S.106). Gierlich, Saar: KTD 2, S.164f. Saar: KTD 3, S.15. Siehe die überzeugende Deutung von Haberland, Saar: KTD 3, S.162ff„ S.177, S.187ff. Saar: KTD 4, S.18. Dazu Stüben, Saar: KTD 4, S.239. Saar: KTD 1, S.lOf.

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aufzudecken, welche epische Funktion die Nennung dieser Namen hat, in welche Richtung sie das Verständnis des Lesers führen soll.34 Scheinbar kaum einer Erläuterung bedarf der - wie beiläufig erwähnte - Name "Darwin" in "Seligmann Hirsch". 35 Die Nennung dieses Namens hat indes eine viel weiter reichende Bedeutung, als sich zunächst, wenn man nur den engeren Kontext betrachtet, vermuten läßt. Diesen Sinngehalt vermag erst eine Interpretation aufzuzeigen, die Anklänge an Paläontologie und Abstammungslehre im Text mit berücksichtigt.36 Eine ähnlich unwichtig scheinende Anspielung ist die folgende Umschreibung eines Namens durch den Erzähler der "Geigerin": Dieser läßt sich "hin und wieder über die Frauen im allgemeinen zu einem Worte hinreißen, das an die Aussprüche des Frankfurter Weltweisen erinnerte". 37 Der Hinweis, daß damit Schopenhauer und dessen Auslassungen "Über die Weiber" gemeint sind, würde wiederum nicht weit führen; erklärt werden muß außerdem, welche aufschließende Bedeutung für die Charakteristik der Hauptpersonen diese Anspielung hat, sind doch die Charaktere hier wie in vielen Saarschen Novellen vor allem durch ihre Einordnung in die Anthropologie Schopenhauers zu verstehen. 38 Es müssen die Grundzüge der Metaphysik und Ethik dieses Philosophen referiert werden - wie es der Editor und Interpret getan hat - , um "die Voraussetzung für das Verständnis der gesamten Novelle" zu schaffen. 39 Mehrmals hat Saar in seinen Erzählungen auch Namen realer Personen, die zur Entstehungszeit bekannt waren, abgewandelt: Daß er in dem fiktiven Namen der Geigerin "Ludovica Mensfeld" den Namen einer damals populären Sängerin, Mansfeld, anklingen läßt, 40 muß im Kommentar gesagt werden. Aber das allein dient dem Verständnis der literarischen Gestalt noch nicht. Erst der Hinweis darauf, daß Saar hier einen typischen Fall aus der "Geschichte der Menschheit" vorführt, läßt die eigentliche Bedeutung dieses Namens erkennen: Der Binnenerzähler, der Historiker Walberg - auch sein Name ist sprechend - , studiert von seinem erhabenen Standort aus 41 die 'Menschen', speziell die Geigerin; sie sind das 'Feld' seiner Forschungen. Also haben beide Hälften des Namens "Mensfeld" eine Bedeutung. "Mens" erinnert aber nicht nur an 'Mensch', sondern auch an das lateinische 'mens': Der Name könnte auf den 'Verstand' hindeuten, der, obwohl als Proprium des homo sapiens geltend, das Handeln der Mensfeld gerade nicht bestimmt. Damit stellt die Geigerin freilich keine Ausnahme dar, sie ist vielmehr, vom Blickpunkt Schopenhauers gesehen, ein ganz gewöhnliches Exemplar der Spezies Mensch, das - wie alle übrige Welt - vom Willen beherrscht wird, dem gegenüber der Verstand zurücktritt. 34 35 36 37 38 39 40

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Siehe die überzeugende Deutung von Kopp, Saar: KTD 1, S.227-230. Saar: KTD 3, S.35. Siehe Haberland, Saar: KTD 3, S.201ff. Saar: KTD 2, S . l l . Vgl. Gierlich, Saar: KTD 2, S.114; Haberland, Saar: KTD 3, S.177ff. Gierlich, Saar: KTD 2, S . l l 1. Nach Rudolf Latzke, s. Gierlich, Saar: KTD 2, S.61.- Die folgenden Überlegungen zu dem sprechenden Namen "Mensfeld" gehen über die Ausführungen Gierlichs hinaus, beruhen aber auf dessen Interpretation der Figur. Gierlich, Saar: KTD 2, S.122; Stüben, Saar: KTD 4, S.412.

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Auch Vornamen literarischer Gestalten bedürfen im Grunde einer Erklärung, die ihre verborgene Bedeutung für die Konfiguration aufdeckt. Wenn z.B. Pavel in Marie Ebners Roman "Gemeindekind" gegen Ende des Monats Januar eine Läuterung und Wandlung erfährt, dann liegt es nahe, eine Beziehung zum Fest Pauli Bekehrung (25. Januar) herzustellen, wie der Editor und Interpret dies getan hat. 42 Peter im "Gemeindekind" hat dagegen einen '"Anti'-Namen": "er stellt genau das Gegenteil jenes Felsens dar", auf den Christus seine Kirche gründen wollte. 43 Eine Erläuterung erfordern oft auch Schlüsselbegriffe, die scheinbar ohne Kommentar verständlich sind: in Saars Novellen etwa "blinder Drang" 44 oder "Asket" 4 5 Bei diesen Begriffen ist darauf aufmerksam zu machen, daß sie im Lichte der Schopenhauerschen Weltanschauung gesehen werden müssen. Dasselbe gilt für die Beschreibung von Dingen oder Vorgängen, hinter denen man gar keinen Tiefsinn vermutet, die gleichwohl aber, wenn man sie in Verbindung mit den Hinweisen auf Darwin bzw. Schopenhauer bringt, erläuterungsbedürftig sind: z.B. das Kartenspiel, 46 die Zigarre 47 oder die Zigarrenspitze aus Bernstein. 48 Auch einzelne Symbole, deren Symbolcharakter unverkennbar, aber deren Bedeutungen heute nicht allgemein bekannt sind, müssen erläutert werden; hier reicht eine Erklärung ebenfalls nicht aus, die nicht den Kontext, in dem die Symbole zu einem dichten Geflecht verwoben sind, mit deutlich macht. Auch in diesen Fällen fügen sich die notwendigen Erläuterungen - etwa der Attribute der jungfräulichen Mutter Jesu, Maria, in "Innocens" und "Marianne" 49 des Symbolgehalts einzelner Pflanzen 50 oder Tiere 51 in den Gang der Interpretation ein. Gleiches gilt für Topoi wie den Topos des Gartens. 52 So erinnert z.B. der Schloßpark in "Unsühnbar" an den Garten Eden; er ist ein "gefährdetes Paradies, das wie das biblische zur Stätte eines Sündenfalles wird". 5 3 Die Erläuterung des Editors und Interpreten macht diese Beziehung nachvollziehbar und anschaulich. Zusammenfassend einige grundsätzliche Überlegungen und ein Plädoyer für die Interpretation anstelle des Kommentars, insbesondere bei von der Forschung bisher vernachlässigten Autoren wie der Ebner oder Saar: 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

52 53

Baasner, Ebner-Eschenbach: KTD 3, S.294. Baasner, Ebner-Eschenbach: KTD 3, S.302. Saar: KTD 2, S.33. Dazu Gierlich, Saar: KTD 2, S.112, S.146, S.157. Saar: KTD 2, S.14. Dazu Gierlich, Saar: KTD 2, S.l 16. Saar: KTD 1, S.15. Dazu Kopp, Saar: KTD 1, S.215. - Saar: KTD 3, S.18-21. Gierlich, Saar: KTD 2, S.138; Haberland, Saar: KTD 3, S.190f. Saar: KTD 3, S.13. Dazu Haberland, Saar: KTD 3, S.207. Siehe Kopp, Saar: KTD 1, S.220ff„ Stüben, Saar: KTD 4, S.300-305. Beispiele aus "Marianne": Rosen, Lilien, Apfelbaum, s. Kopp, Saar: KTD 1, S.220ff., S.231ff. Zum Beispiel: Bienen, Katze, Sperlinge, v.a. das Symbol des Wespenstiches in "Marianne" (Kopp, Saar: KTD 1, S.186, S.258ff.); Eidechse, Nachtigall, Lerche, v.a. das Symbol vom Feuertod des Falters in "Innocens" (Stüben, Saar: KTD 4, S.420ff.); bei der Ebner z.B. Tauben (Baasner, EbnerEschenbach: KTD 3, S.315). Kopp, Saar: KTD 1, S.240ff.; Stüben, Saar KTD 4, S.296. Bittrich, Ebner-Eschenbach: KTD 1, S.338.

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1. Erläuterungen, wie sie in historisch-kritischen Ausgaben üblich sind, lassen sich oft nur schwer von Interpretation abgrenzen, bei nicht wenigen ist diese Grenze - wenn sie sich denn überhaupt ziehen läßt - schon überschritten. 2. Die Grenze zwischen Interpretation und Erläuterungen ist besonders dann schwer zu ziehen, wenn unter der Aufgabe des Kommentars mehr verstanden wird als nur die Bereitstellung des kulturellen Wissens, das zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes als vorhanden angenommen, beim heutigen Leser jedoch nicht mehr vorausgesetzt werden kann; 54 wenn vielmehr der Kommentar dem Leser darüber hinaus Hinweise geben soll, die zu einem tieferen, umfassenden Verständnis des Werkes und seiner Teile im Sinne der "hermeneutischen Spirale" führen. Zu einem angemessenen Verständnis ist oftmals nur durch solche weiterführenden Erläuterungen zu gelangen, die Interpretationscharakter haben. 3. Nicht nur wirken sich die Erläuterungen darauf aus, welches Verständnis des Werkes der Benutzer gewinnt, indem sie dessen Interpretation in eine durch sie bestimmte Richtung lenken; auch das Umgekehrte gilt: die Erläuterungen setzen, je besser und brauchbarer sie sind, eine Interpretation bereits voraus. Bei allen kommentierten Ausgaben ist die Bedingung für die Aufnahme in den Einzelstellenkommentar und die Erläuterung selbst mehr oder weniger von interpretatorischen Überlegungen beeinflußt. 4. Wenn Interpretation und Erläuterungen einander bedingen und im einzelnen nur schwer voneinander zu trennen sind, erscheint es sinnvoll, aus der Not eine Tugend zu machen und die implizite Interpretation in der historisch-kritischen Ausgabe gleich mitzuliefern. Ein Abdruck der Interpretation, die den Hintergrund für die einzelnen Erläuterungen bildet und in der diese ihren Platz finden, legt somit deren Voraussetzungen offen dar und macht sie überprüfbar. Kurz: Erläuterungen im umfassenden Sinne setzen Interpretation voraus, sie ermöglichen und leiten Interpretation, sie sind zumeist selbst Interpretation. Abschließend sei auch auf kritische Einwände gegen die hier als Modell dargestellte umfassende Kommentierung eingegangen: Zunächst ist klar, daß bestimmte Einzelstellenerläuterungen innerhalb einer Interpretation für den eiligen Leser schwer auffindbar sein können - wenn sie auch ihre systematische Stelle im Gedankengang einnehmen. Dieser Nachteil kann aber ausgeglichen werden durch ein oder mehrere Register. Gravierender ist das Argument, daß Interpretationen wesentlich schneller veralten als Kommentare, daß die Subjektivität des Forschers eine noch größere Rolle spielt als beim Kommentar. Aber wenn durch die Interpretation im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe zugleich das Interesse der Forschung am Autor verstärkt wird, wenn so zum Widerspruch gegen die vorgelegte (im Falle Saars oft erste und einzige) Interpretation angeregt und endlich eine wissenschaftliche Diskussion, die über alte Deutungsklischees hinausgeht, in Gang gesetzt wird, so ist genau das Ziel der hier vorgestellten Editionen erreicht. Es wäre also geradezu zu begrüßen, wenn sich einzelne Bände der Saar- oder Ebner-Eschenbach-Ausgabe auf Grund neuer, differenzierterer,

Vgl. Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik. 31), S.184.

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stimmigerer Interpretationen einmal als überholt erweisen würden. Je größer das Mißverhältnis ist zwischen der Bedeutung eines Autors bzw. eines Textes und seiner Unterschätzung oder Nichtbeachtung in der Forschung, um so mehr erscheint eine die Interpretation einschließende historisch-kritische Ausgabe angebracht55

55

Vgl. Joseph P. Strelka: Edition und Interpretation. Grundsätzliche Überlegungen zu ihrer gegenseitigen Abhängigkeit am Beispiel von Werkausgaben neuerer deutscher Literatur. In: Textkritik und Interpretation. Festschrift für Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Heimo Reinitzer. Bern u.a. 1987, S.21-37, bes. S.36f.

Dirk Grathoff / Gerhard Kraiker

Die Kommentierung als interdisziplinäre Forschungsaufgabe am Beispiel der Carl von Ossietzky- und Kurt Tucholsky-Gesamtausgaben Ein Arbeitsbericht

Die "Oldenburger Ausgabe" der Sämtlichen Werke und Schriften Carl von Ossietzkys wird im Herbst 1994 in 8 Bänden beim Reinbeker Rowohlt-Verlag erscheinen. An ihr wird mit finanzieller Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit Anfang 1988 gearbeitet. Im Zuge der Bemühungen um die Namensgebung der "Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg", die im letzten Jahr schließlich vollzogen wurde, war der persönliche Nachlaß Carl von Ossietzkys 1981 von seiner Tochter Rosalinde in der Oldenburger Universitätsbibliothek deponiert und danach dort im Ossietzky-Archiv u.a. von den Mitherausgebern Werner Boldt und Elke Suhr bearbeitet worden (Transkription von Briefen u. dgl.). Mit Gründung der Carl von Ossietzky-Forschungsstelle im Jahr 1986 stießen die beiden Verfasser dazu und arbeiteten an den Editionsvorbereitungen im engeren Sinn. Inzwischen zählen eine Reihe von weiteren Mitarbeitern zur Forschungsgruppe, insgesamt ist heute ein Arbeitsteam von 12 Personen mit der Edition befaßt. Die Ausgabe wird in 6 Bänden das journalistische Werk Carl von Ossietzkys enthalten, hinzu kommen ein Band mit Briefen und Lebenszeugnissen sowie ein abschließender Registerband. Es handelt sich im Gesamtvolumen der Texte um mehr als 1000 kürzere journalistische Artikel, insbesondere politische Leitartikel, Kommentare und Glossen, kulturkritische Schriften, Buch- und Literaturbesprechungen, Theaterkritiken und literarische Essays. Die Texte werden grundsätzlich nach den autorisierten Drucken oder den - wenigen - erhaltenen Manuskripten ediert. In der Regel sind lediglich die Erstdrucke überliefert, so daß nur in Ausnahmefällen ein textkritischer Apparat eingerichtet werden kann. Die Texte sind zwischen 1910 und 1933 vorwiegend in Berliner Zeitungen und Zeitschriften wie der "Berliner Volks-Zeitung", dem "Montag Morgen", dem "Tage-Buch" und schließlich der "Weltbühne" erschienen, deren Herausgeber Ossietzky von 1927 bis zu seiner Verhaftung im Februar 1933 war. Die Ausgabe ist chronologisch geordnet (1910-21 /1922-24 /1925-26 /1927-28 /1929-30 /1931-33), bei einem Umfang von 620 bis 800 Seiten pro Textband, eine Aufteilung nach Textgenres war nicht sinnvoll, weil die Gattungsgrenzen zwischen politischen, kulturund zeitkritischen Schriften oftmals fließend sind. Ein Kernstück der Ausgabe bildet ein interdisziplinär erarbeiteter Sachkommentar, in dem die historischen, die zeitgeschichtlichen, die politischen, kulturellen und literarischen Verflechtungen der Schriften Ossietzkys dargelegt werden, um die Texte in ihrer engen kultur- und zeitgeschichtlichen Einbettung für heutige Leser zugänglich zu machen. Umfangmäßig betrachtet, stehen Texte und Kommentare durchschnittlich in einem Verhältnis von zwei

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Dritteln zu einem Drittel zueinander, wobei die Kommentare in einer kleineren Schrifttype gedruckt werden. Ein etwas geringerer Kommentarbedarf ist bei der Kurt Tucholsky-Gesamtausgabe gegeben, so daß wir von einem Text-Kommentar-Verhältnis von drei Vierteln zu einem Viertel ausgehen, allerdings sind die Kommentierungsprobleme oft ähnlich gelagert wie bei der Ossietzky-Ausgabe. Zur Vorbereitung der Tucholsky-Gesamtausgabe wurde mit finanzieller Unterstützung des Landes Niedersachsen im vergangenen Jahr die Tucholsky-Forschungsstelle in der Oldenburger Universitätsbibliothek eingerichtet. In ihr arbeiten Antje Bonitz und Michael Hepp, gestützt auf Kopien des Marbacher Kurt Tucholsky-Archivs, deren Leiterin Antje Bonitz zuvor war. Die Ausgabe entsteht in Kooperation mit der Kurt Tucholsky-Stiftung (Vorsitz: Fritz J. Raddatz). Die ersten drei Bände der Gesamtausgabe, zwei mit Texten und ein Briefband, werden 1995 beim Rowohlt-Verlag erscheinen. Mit den Registern wird die Ausgabe insgesamt 23 oder 24 Bände umfassen (darunter 15 Text- und ca. 6 Briefbände), das Erscheinen ist bis zum Jahr 2005 sukzessiv geplant. Gegenwärtig konzentrieren sich die Vorbereitungen auf die Einrichtung des Archivs in Oldenburg, die Erarbeitung eines detaillierten Editionsplans und die Edition des abschließenden Briefbandes. Wie die Ossietzky-Ausgabe wird auch diese chronologisch geordnet - sowohl im Bereich der Texte wie auch der Briefe. Da von Tucholskys Texten häufig Mehrfachdrucke und gelegentlich Manuskripte erhalten sind, wird der textkritische Apparat einen größeren Umfang als bei der Ossietzky-Ausgabe erfordern. Ossietzky und Tucholsky haben nicht allein als Herausgeber und verantwortliche Redakteure der "Weltbühne" in den Jahren nach 1926 zusammengearbeitet, beider Gesamtwerk hat eine vergleichbare Struktur und weist eine Reihe von Parallelen auf, wobei Tucholskys Texte, verknappt gesprochen, mehr ins Literarische, Ossietzkys mehr ins Politische tendieren. Die Genrepalette ist bei Tucholsky erheblich breiter, insbesondere im Bereich fiktionaler literarischer und lyrischer Texte, Parallelen finden sich bei kulturkritischen Schriften, bei Ossietzky überwiegen politische Kommentare und Glossen. Insgesamt ist bei Ossietzkys Texten ein höherer Grad an zeit- und kulturgeschichtlicher Verwobenheit gegeben, während Tucholsky häufiger zeitungebundene oder mindestens -ungebundenere Themen behandelt, man denke nur an seine bekannten Geschichten von den Löchern im Käse oder dem witzerzählenden Ehepaar. Daraus ergibt sich der höhere Kommentarbedarf der Ossietzky-Ausgabe. Ossietzkys Schriften sind in der Regel nicht selbst Berichte oder Reportagen über zeitgeschichtliche Ereignisse, lediglich bei Gerichts- oder Parlamentsberichten können sie sich solchen Genres annähern, sie haben vielmehr den Status von analytischen Kommentaren zu zeitgeschichtlichen Ereignissen, deren Details den damaligen Lesern aus der Tagespresse der zurückliegenden Zeit bekannt waren. Dieser Kenntnishorizont des Publikums, den Ossietzky bei seinen Lesern voraussetzen konnte, muß im Kommentar der Oldenburger Ausgabe zumindest in groben Grundkonturen rekonstruiert werden, damit die Texte heutigen Lesern verständlich werden können. Es versteht sich, daß ein derartiger Kommentar nicht durch die Konsultation von Nachschlagewerken oder wissenschaftlichen Darstellungen allein gewonnen werden kann, sondern vor allem

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durch die Lektüre zeitgenössischer Zeitungen der Weimarer Republik. Eine umfangreiche Sammlung von Mikrofilmen der entsprechenden Zeitungen in der Universitätsbibliothek Oldenburg ermöglicht der Forschungsstelle diese Arbeiten. Dort werden die Zeitungsartikel ausfindig gemacht, auf die Ossietzky sich entweder direkt zitierend bezieht, oder deren Kenntnis er beim Publikum annehmen konnte. Zwar sind im Kommentar häufig auch geschichtliche Ereignisse als solche zu erläutern, bei der Rekonstruktion des zeitgenössischen Kenntnishorizonts geht es indes vordringlich um die Art und Weise, wie Ereignisse durch die Medien zu den Zeitungslesern der Weimarer Republik gelangt sind. Bevor wir das Vorgehen an Beispielen verdeutlichen, seien zunächst einige Erläuterungen zum methodischen Verfahren gegeben. Alle Texte werden grundsätzlich interdisziplinär verschränkt von Seiten der Literaturwissenschaft wie von Seiten der Geschichts- und Politikwissenschaft bearbeitet. Selbstverständlich wird der literaturwissenschaftliche Kommentaranteil bei einer Theaterkritik überwiegen, der geschichtswissenschaftliche bei einer politischen Glosse, dennoch wird die Theaterkritik von einem Historiker ebenso 'gegengelesen' und mit bearbeitet wie umgekehrt die politische Glosse von einem Germanisten. Dies ist allein schon mit Rücksicht auf die miteinander verschränkten Metaphern- und Anspielungsfelder in den Texten Ossietzkys sinnvoll, der die Politik häufig zum Drama werden läßt. Übrigens sind alle an der Arbeitsgruppe beteiligten Stellen - von den Hilfskräften bis zu den Hauptherausgebern paritätisch zwischen den beteiligten Disziplinen aufgeteilt. In einem ersten Arbeitsschritt werden bei der Bearbeitung eines Textes die Eintragungen für das Personen- und Werkregister sowie für das Sachregister fixiert und der verbleibende Kommentarbedarf festgestellt. Die beiden Register leisten eine nicht unerhebliche Entlastung für den Zeilenkommentar. Über das Personen- und Werkregister werden erforderliche Sachinformationen über erwähnte Personen gegeben, und deren Werke (meist Bücher, aber auch Filme, Gemälde usw.), die bei Ossietzky genannt sind, erschlossen. Verweise auf allgemein bekannte Kunstwerke werden dabei nur im Register festgehalten, nicht noch gesondert im Zeilenkommentar ausgewiesen. Erwähnt Ossietzky z.B. den "Hamlet", so wird auf einen erläuternden Hinweis "Drama von Shakespeare" verzichtet, davon ausgehend, daß die Benutzer in der Lage sind, das Drama Shakespeare zuzuordnen und im Register unter dem Verfassemamen aufzusuchen. Anders wird bei weniger bekannten Werken verfahren. Erwähnt Ossietzky z.B. den "Fröhlichen Weinberg", so erfolgt im Zeilenkommentar der Hinweis auf Zuckmayer, um dadurch das Auffinden im Register sicherzustellen. Im Sachregister werden geschichtliche Ereignisse, Institutionen (z.B. Staaten, Ministerien, Theater) und Organisationen (z.B. Parteien) sowie Zeitungen und Zeitschriften verzeichnet, zugleich werden die erforderlichen Erläuterungen zu Sammelbezeichnungen wie "Hugenbergpresse", "Demokratische Presse" u. dgl. gegeben. Wenn zu bestimmten Personen, Werken oder Institutionen mehrfach an verschiedenen Stellen der Gesamtausgabe dieselben Informationen gegeben werden müssen, um dem Leser das Textverständnis zu ermöglichen, so können Querverweise innerhalb des Zeilenkommentars hier unterbleiben, denn diese Verweisfunktion wird von den beiden Registern geleistet. Im Register werden alle Nennungen in den Texten Ossietzkys verzeichnet und zugleich, durch kursiv gesetzte Zahlen kenntlich gemacht, die

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dazugehörigen Erläuterungen in den Zeilenkommentaren. Wenn ein Leser bei erwähnten Personen, Werken und Sachen wie geschichtlichen Ereignissen, Institutionen und Organisationen also einen Informationsbedarf hat, muß er zunächst über die Register erschließen, an welcher Stelle der Gesamtausgabe im Zeilenkommentar die erforderlichen Erläuterungen gegeben worden sind und dort nachschlagen. Wenn bei einzelnen Notationen durch Mehrfacherläuterungen allerdings ein Informationssalat zu entstehen droht, müßte im Interesse der Benutzerfreundlichkeit in solchen Fällen doch auf Querverweise im Zeilenkommentar zurückgegriffen werden - unsere Arbeitspraxis ist allerdings noch nicht weit genug fortgeschritten, um dies endgültig abschätzen zu können. Die Register erfüllen also eine doppelte Funktion: sie machen dem Leser die Informationen zugänglich, die für das Textverständnis erforderlich sind (und entlasten die Zeilenkommentare um aufwendige Querverweise), darüber hinaus kommt ihnen die übliche Registerfunktion zu, indem sachlich und thematisch zusammengehörige Fakten und Bereiche, die sich in verschiedenen Texten finden, ausgewiesen und damit auffindbar werden. Die Registereintragungen und Querverweise werden dabei übrigens nicht nach Band- und Seitenzahlen vorgenommen, sondern nach Nummern der Texte und Zeilenzahlen. Da die Texte alle relativ kurz und auch in der Gesamtheit überschaubar sind, werden sie jeweils mit einem einmontierten Zeilenzähler fixiert und am Ende chronologisch durchgezählt. Darauf sind dann die Zahlenangaben bezogen. Dies ist bei den gleichzeitig erscheinenden acht Bänden der Ossietzky-Ausgabe technisch möglich, bei den nacheinander erscheinenden Bänden der Tucholsky-Ausgabe werden wir anders verfahren müssen. Da im Falle der Ossietzky-Ausgabe nur in sehr wenigen Ausnahmefällen Textvarianten vorkommen, treten hier keine Probleme hinsichtlich der Darbietung des textkritischen Kommentars im Verhältnis zum Sachkommentar auf. Der Zeilenkommentar ist fast ausschließlich in Form von Sacherläuterungen angelegt, so daß die wenigen textkritischen Erläuterungen dann darin integriert werden. Das kann ebenso bei der Tucholsky-Ausgabe gehandhabt werden, wenngleich dort ein höherer Anteil von textkritischen Anmerkungen zu erwarten ist, manchmal auch gesondert verschiedene Fassungen eines Textes gedruckt werden müssen, in der Gesamtheit überwiegt dennoch der Sachkommentar. In der Erläuterungsform bemühen wir uns, so weit wie möglich mit einem Zeilenkommentar zu annotierten Stellen oder Passagen zu arbeiten, keine übergeordneten Darstellungen, Einleitungen o. dgl. voranzustellen. Nach den erforderlichen Angaben zur Verfassernennung (Ossietzky benutzte wie Tucholsky eine Reihe von Pseudonymen), dem Druck- und Nachdrucknachweis werden bei Theaterkritiken lediglich die nötigen Angaben zur besprochenen Aufführung vorangestellt (Inszenierungsdatum, Theater, Regisseur, Schauspieler), entsprechendes gilt bei Buch- und Literaturbesprechungen hinsichtlich der besprochenen Werke (bibliographische Angaben) bzw. bei Filmen (filmographische Angaben). Im Bedarfsfall kann darüber hinaus dem eigentlichen Stellenkommentar eine Rubrik "Kontext" vorangestellt werden, in der es in erster Linie nicht um den zeitgeschichtlichen Ereigniskontext geht, in dem der Gegenstand des betreffenden Artikels steht. Es geht vielmehr um den Darstellungskontext

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innerhalb der Schriften Ossietzkys selbst, also um Querverweise auf thematisch oder sachlich verwandte und zusammengehörige Schriften, soweit diese Verweise nicht durch die Register abgedeckt werden, und um den Kontext innerhalb des betreffenden Publikationsorgans, d.h. um Hinweise auf verwandte und zusammengehörige Artikel anderer Autoren in den voraufgegangenen oder folgenden Nummern der "Weltbühne" z.B. Solche Hinweise können auch auf andere Publikationsorgane ausgeweitet werden, obwohl die Auseinandersetzungen mit der fremden Presse meist besser "vor Ort" im Zeilenkommentar erläutert und dokumentiert werden. Durch die vorangestellten Erläuterungen zum Publikationskontext wird man dem besonderen Status journalistischer Texte erst gerecht werden können, die ja anders als ein geschlossenes Werk oder Buch nicht nur aus sich heraus leben, sondern zugleich immer auch aus ihrem Erscheinungskontext heraus. Das Verfahren sei an zwei Texten aus dem Jahr 1929 erläutert, die kurz hintereinander, am 3. und am 27. September in der "Weltbühne" erschienen. Der erste trägt den Titel "Zion"1 und wurde anläßlich blutiger Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern in Palästina geschrieben, hat also ein historisches Ereignis zum Gegenstand und Ausgangspunkt. Der zweite heißt "Die Kaufleute von Berlin" 2 und bezieht sich auf die Uraufführung von Walter Mehrings Stück "Der Kaufmann von Berlin" durch Erwin Piscator. Es ist also eine Theaterkritik, zugleich aber mehr als das, nämlich eine grundsätzliche Stellungnahme zu den heftigen Auseinandersetzungen um Mehrings Stück in der Öffentlichkeit und zugleich zum Theater Erwin Piscators. Der Kommentar zum Artikel "Zion" wird mit folgender Erläuterung zum "Kontext" eröffnet: Anläßlich blutiger Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern in Palästina ließ die "Weltbühne" (WB) neben Ossietzky zwei Schriftsteller jüdischer Herkunft zu Wort kommen: im selben Heft folgte ein Beitrag über die Idee des Zionismus von Arnold Zweig ("Für das arbeitende Palästina"; WB 3.9.1929, II, 345-348), und im folgenden Heft, gestützt auf eigene Erfahrungen in Palästina, ein Bericht von Arthur Koestler ("Das Verbrechen in Palästina"; WB 10.9.1929, II, 392395). Zwei Monate später ging Morus (d.i. Richard Lewinssohn) erheblich kritischer mit dem Zionismus ins Gericht ("Früchte aus Palästina"; WB 19.11.1929, II, 781-784).

Nicht nur mit Rücksicht auf die Brisanz, die das Thema damals wie auch heute noch hat, halten wir den Hinweis auf die anderen Beiträge in der "Weltbühne" für erforderlich, die ein interessierter Benutzer im Reprint ohne Mühe nachlesen kann. Einen Querverweis auf Ossietzkys Äußerungen zum Zionismus in anderen Schriften gibt es nicht, weil uns solche noch nicht begegnet sind. Wir haben aber das Stichwort "Zionismus" in unsere Datenbank für das Sachregister eingegeben, und so kann es durchaus sein, daß später, falls wir noch auf Entsprechendes stoßen sollten, ein Zusatz eingearbeitet werden muß. Im "Vorspann" zu dem Artikel "Die Kaufleute von Berlin" werden zunächst die in der Rubrik Theaterkritiken üblichen Daten zur Aufführung genannt. Zusätzlich wird auf die Erst- und eine greifbare Ausgabe des Stückes von Walter Mehring hingewiesen und auf Erwin Piscators Bericht über die Aufführung in seinem "Das politische Theater" (1929,

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Weltbühne 25, 3.9.1929, II, S.341-344. Weltbühne 25, 27.9.1929, II, S.437-443.

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Neuausgabe 1986). Damit ist bereits ein Teil des zeitgenössischen Presse-"Kontextes" abgedeckt, denn Piscator hat zahlreiche Angriffe in seinem Buch nachgedruckt. Lediglich kritische Repliken von Walter Mehring selbst sind dort noch zu verzeichnen. Wenig sinnvoll sind dabei freilich bloß bibliographische Nachweise von Presseartikeln, die nur schwer zugänglich sind. Beim Aufwand an direkten Zitaten aus solchen Artikeln oder dem Nachweis von leichter greifbaren Nachdrucken ist zugleich stets das Verhältnis von Informationsertrag und Umfang ins Ermessen zu stellen. Für den Artikel "Zion" haben wir die Berichterstattung über die Ereignisse in Palästina in den großen Zeitungen der deutschen Presse zwischen dem 24. und 31. August 1929 von den Mikrofilmen in der Oldenburger Universitätsbibliothek kopiert und in einer Mappe im Ossietzky-Archiv zum Artikel deponiert. Die Zusammenstöße ereigneten sich am 23. August, die Presseberichte beginnen am 24., und das Abschlußdatum des 31. August ist durch den Redaktionsschluß für die Ausgabe der "Weltbühne" am 3. September gegeben. Auf diese Weise entsteht während unserer Arbeit an der Ausgabe im Oldenburger Ossietzky-Archiv allmählich eine Quellen- und KontextSammlung, die erheblich über das hinausgehen wird, was wir im Rahmen des Kommentars zur Ausgabe virtuell präsentieren können. Die Sammlung wird spätere Forschungsarbeiten erheblich erleichtem. Dasselbe wird für das Kurt Tucholsky-Archiv gelten, das ebenfalls um eine Quellen- und Kontext-Sammlung erweitert wird. Selbstverständlich können und wollen wir bei der Sichtung des zeitgenössischen Publikationskontextes keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, eine solche Leistung würde auch eine größere Arbeitsgruppe zeitlich völlig überlasten. Gesichtet werden die großen Berliner Zeitungen wie die "Vossische Zeitung", das "Berliner Tageblatt", der "Börsencourier", aber auch die "Deutsche Allgemeine Zeitung", die "Frankfurter Zeitung", der "Vorwärts", die "Rote Fahne", bis hin zum "Völkischen Beobachter". Der Umfang solcher Sichtungen hängt von der Art des Gegenstandes ab. Im Fall von "Zion" war es ein zeitlich begrenztes Ereignis, über das alle Zeitungen berichteten, so daß die entsprechenden Artikel relativ leicht auffindbar waren und bei begrenztem Zeitaufwand durchgesehen werden konnten. In formaler Hinsicht werden bei diesen Arbeitsschritten zunächst Teile der Quellen für Ossietzkys Texte erfaßt und zugleich Teile der Zitatnachweise abgesichert. An einer Stelle zitiert Ossietzky z.B. wörtlich eine Passage aus dem englischen Mandat für Palästina. Über geschichtliche Nachschlagewerke haben wir ermittelt, daß dieses "Mandate for Palestine" vom Völkerbund am 24. Juli 1922 verabschiedet worden war. Den englischen Originaltext des Mandats haben wir uns zwar noch besorgt, die Suche nach einer deutschen Übersetzung aber eingestellt, als wir feststellten, daß der von Ossietzky zitierte Passus sich wörtlich in einem Artikel "Palästina in Not" aus der "Frankfurter Zeitung" vom 28. August 1929 wiederfindet. Es liegt also die Vermutung mehr als nahe, daß Ossietzky das Zitat daraus übernommen hat, zumal weitere Details in seinem Artikel erkennen lassen, daß er den Bericht der "Frankfurter Zeitung" kannte. In der Regel lassen sich Zitatnachweise leichter durchführen, zumal für den gesamten großen Bereich der Zitate aus literarischen Werken und aus anderen namentlich genannten Schriften. Im "Zion"-Artikel verweist Ossietzky auf ein "Palästinabuch" von Arthur Holitscher, das leicht zu besorgen war und

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bibliographisch eingearbeitet wurde, an anderer Stelle auf eine biographische Selbstdarstellung des legendären "Lawrence of Arabia", die wir durch einen Querverweis auf einen Artikel von Ossietzky über "Lawrence" aus dem Jahr 1927 auffangen konnten. Zitatnachweise aus der zeitgenössischen Presse werden, soviel läßt sich mit Sicherheit voraussagen, keineswegs auch nur annähernd vollständig von uns ermittelt werden können. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber, daß die Ermittlungen doch häufiger bei einem vertretbaren Zeitaufwand zum Erfolg führen, als wir vor Eintritt in diese Arbeitsphase vermutet hatten. Was den Bereich der Quellen anlangt, werden wir im Verlauf der Sichtungsarbeiten an der zeitgenössischen Presse natürlich zunehmend Sicherheit entwickeln können, auf welche Zeitungen Ossietzky bevorzugt zurückgegriffen hat. Allerdings variiert dies in verschiedenen Phasen seiner journalistischen Tätigkeit und hängt zudem vom thematischen Gegenstand ab, der ihn beispielsweise gezielt zum "Völkischen Beobachter" greifen lassen konnte. Schwierigkeiten bereitet hier die ausländische Presse, zumal englische Zeitungen, die Ossietzky nachweislich zur Kenntnis genommen hat. Völlig unerschlossen ist der Bereich der Rundfunkberichte, die, anders als etwa bei den FilmWochenschauen, nicht einmal mehr auf Tonträgern erhalten sind. Aber als Zeitungsredakteur war für Ossietzky die Kenntnisnahme der Berichterstattung anderer Zeitungen ohnehin wichtiger, so daß die Konzentration darauf zumindest nicht irreführend ist, wenngleich nicht ausgeschlossen bleibt, daß andere Medien ebenso als Quellen in Frage kommen können. Die Struktur der Texte von Ossietzky läßt den Rückgriff auf andere Zeitungsberichte auch immer wieder erkennen, so in "Zion", ebenso in "Die Kaufleute von Berlin", nicht im Sinne einer ausführlichen Wiederholung der fremden Meldungen in Form gar eines längeren Quellenzitats, sondern vor allem in Form einer kurzen Erwähnung von Fakten und Ereignissen, die anderen Zeitungen entnommen sind, um dann seine eigenen, meist andersgearteten, oft entgegengesetzten analytischen Schlußfolgerungen daran anzuschließen. Wenn man so will, repräsentieren Ossietzkys Texte in gewisser Hinsicht eine metamediale Ebene im Verhältnis zu einer ersten, unmittelbar berichtenden. Wir bemühen uns nun darum herauszufinden, auf welche Berichte sich Ossietzky bei seinen Angaben gestützt haben könnte, wobei die Betonung auf "könnte" liegt. Manchmal gelingt uns der Nachweis, daß er einen Artikel mit Sicherheit benutzt hat, im Fall von "Zion" war es der aus der "Frankfurter Zeitung", meist aber läßt sich nur zusammenfassend auf mehrere Berichte verweisen, weil die Angaben zu unspezifisch gehalten sind. Es handelt sich also nur im geringeren Umfang um «echte» Quellen im Sinne eines identifizierbaren Textes, häufiger ist es so etwas wie ein Quellenfeld, gebildet aus einer Reihe von Artikeln. Dieses Quellenfeld liefert aber zugleich das, was wir oben als "Kenntnishorizont" des zeitgenössischen Publikums bezeichnet hatten, so daß die Suche nach Quellen mit den Bemühungen um die Rekonstruktion des zeitgenössischen Kenntnishorizonts einhergehen kann. Ein Gutteil der erforderlichen Sach- und Faktenerläuterungen werden im Zuge der geschilderten Arbeitsschritte bereits mit recherchiert, können vielfach auch nur durch die Lektüre zeitgenössischer Zeitungen ermittelt werden, weil es sich oft um historische Details handelt, die über Nachschlagewerke und wissenschaftliche Spezialliteratur nicht

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eruierbar sind. Wir verfahren nach dem Prinzip, daß wir Sachen nicht erläutern, die über ein heute gebräuchliches großes Lexikon (den "Brockhaus" oder "Fremdwort-Duden" z.B.) erklärbar sind. Ältere Lexika ziehen wir allerdings gelegentlich auch gewinnbringend heran. In den "Kaufleuten von Berlin" reitet Ossietzky z.B. eine heftige Attacke gegen Paul Fechter, den damaligen Feuilletonchef der "Deutschen Allgemeinen Zeitung", den Germanisten durch seine dreimal umgeschriebene Literaturgeschichte "Dichtung der Deutschen" in den Fassungen von 1932, 1940 und 1952 bestens bekannt, mit einer heute nicht mehr verständlichen Anspielung: "und Herr Fechter läßt seine Muse seitdem bei Grünberger büßen." Da es im Kontext um Zuckmayers "Fröhlichen Weinberg" ging, lag die Vermutung nahe, es könne sich um ein Berliner Lokal gehandelt haben, doch eine Ausgabe des "Brockhaus" aus dem 20er Jahren eröffnete uns dann den Hinweis auf die schlesische Stadt Grünberg, deren Weinproduktion meist nur für den Verschnitt taugte. Sehr hilfreich kann gelegentlich auch der "Brockhaus" aus der nationalsozialistischen Zeit wegen seiner antisemitischen Tendenzen sein. Das Ende des Lebensweges eines jüdischen Inflationsgewinnlers namens Kaftan, von dem Mehrings "Kaufmann von Berlin" handelt, beschreibt Ossietzky folgendermaßen: "Er wird kämpfen und zusammenbrechen, und am Seziertisch wird ihm ein Lubarsch zum Gaudium der Herren Studenten eine mehr charakterisierende als pietätvolle Leichenrede halten." Über den "Brockhaus" konnte ermittelt werden, daß es sich um Otto Lubarsch handelte, den 1933 verstorbenen Leiter des Pathologischen Instituts der Berliner Charitö, der 1927 die Obduktion an der Leiche des jüdischen Inflationsgewinnlers Iwan Kutisker vorgenommen und öffentlich antisemitische Äußerungen darüber gemacht hatte. Tucholsky reagierte darauf in der "Weltbühne" mit seinem kritischen Gedicht "Sektion".3 Ossietzky kam auf die Vorgänge 1931 noch einmal in einer marginalen Seitenbemerkung zurück: "...während es doch ein hervorragender Mediziner am Seziertisch fertiggebracht hat, einigermaßen hitlerische Rassentheorien zu entwickeln". 4 Diese Bemerkung hätte uns zweifellos äußerst zeitraubendes Kopfzerbrechen bereitet, wenn wir nicht andernorts über die Theaterkritik zu Walter Mehrings Stück bereits auf den Pathologen Lubarsch gestoßen wären. Selbstverständlich halten wir uns an den altbewährten Grundsatz, daß Kommentare keine Interpretation von Texten zu liefern hätten, gleichwohl ist das Verhältnis von Interpretation und Kommentar in der Praxis erheblich komplizierter, als es dieser Darstellungsgrundsatz zu erkennen gibt. Denn eine Textinterpretation ist natürlich die unabdingbare Voraussetzung für jede nachfolgende Kommentierungsarbeit, und zwar schon für die Feststellung der Kommentarbedürftigkeit, ohne die Interpretation wird der Kommentar nicht möglich, der sich selbst dann in seiner Darstellungsform der interpretierenden Auslegung zu enthalten hat. Dies sei an einem wiederum eher marginalen Beispiel aus dem Artikel "Zion" erläutert. Bezogen auf die in Paläjstina lebenden Araber schreibt Ossietzky: "Sie", die Araber, "haben nur ein Zipfelchen von Europa erwischt, und zwar nicht das beste". Diese Aussage haben wir auf das Gebiet in Palästina bezogen, wodurch unverständlich wird, warum Ossietzky es "Europa" 3 4

Weltbühne 23, 1927, II, S.304. Weltbühne 2 7 , 1 9 3 1 , 1 , S. 150.

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GrathoffI Kraker

zurechnet. Deshalb haben wir Kommentarbedürftigkeit notiert, um den vermeintlichen geographischen Fehler im Kommentar zu erläutern. Andere Mitarbeiter erklärten dagegen, der Ausdruck "Zipfelchen von Europa" sei im weltanschaulichen Sinn auf die "moderne nationalistische Demagogie" bezogen, von der zuvor die Rede war, welche die Araber von den Europäern geerbt hätten. Diese Textinterpretation überzeugt zwar nicht vollständig, aber sie ist zumindest besser als das mögliche Mißverständnis, und deshalb wird an dieser Stelle kein Kommentareintrag erfolgen. Das marginale Beispiel gibt es zwar nicht hinlänglich zu erkennen, doch läßt sich aus der Erfahrung der bisherigen Arbeit grundsätzlich festhalten, daß es für die Feststellung der Kommentarbedürftigkeit von journalistischen Texten, wie sie Ossietzky und Tucholsky hinterlassen haben, außerordentlich fruchtbar ist, wenn dabei auf die unterschiedlichen Lektüregewohnheiten und wissenschaftlichen Erfahrungshorizonte von Literatur-, Geschichts- und Politikwissenschaftlern gemeinsam zurückgegriffen werden kann.

Dirk Göttsche

Fragmente im Werkprozeß Zur konstitutiven Bedeutung des Kommentars für eine kritische Edition der nachgelassenen "Todesarten"-Prosa Ingeborg Bachmanns

Eine Edition fragmentarischer Texte, die sich an den Prinzipien der historisch-kritischen Methodik orientiert, steht in besonderer Weise vor dem Problem des interpretierenden Charakters jeder editorischen Darstellung von Werkgenesen und Werkzusammenhängen. Schon die Unterscheidung zwischen Überlieferungsfragmenten und Entstehungsfragmenten fallt schwer, wo Textverluste die Rekonstruktion ästhetischer Strukturen und ihrer Genese erschweren und die Textkonstitution zur interpretierenden Verbindung unterschiedlicher Rekonstruktionsverfahren nötigen.1 Die Grundelemente der editorischen Darstellung - die räumliche Anordnung der edierten Texte, das Verfahren der diakritischen Verzeichnung von Varianten sowie die Abstraktion der Textgeschichte zu genetischen Apparaten - erfordern eine weitere Interpretation des literarischen Materials.2 Dies ist für die Edition fragmentarischer Prosa grundlegend, da sich die Komplexität und Heterogenität des Materials hier mit formalen Mitteln wie Textanordnung und Apparatgestaltung paradoxerweise gerade nicht ohne die Gefahr eines Verlusts an Genauigkeit, Transparenz und Lesbarkeit darstellen läßt. Der Satz "Anordnung interpretiert"3 ist in der Fragmentenedition unhintergehbar. Die kritische Edition eines solchen komplexen und problematischen Materials bedarf daher der diskursiven Ergänzung in der Form eines differenzierten und fortlaufenden textkritischen Kommentars. Begründung, Funktion und Gestalt eines solchen Kommentars in der kritischen Edition literarischer Prosafragmente sollen im folgenden am Beispiel von Ingeborg Bachmanns unvollendetem "Todesarten"-Zyklus vorgestellt

Vgl. z.B. Manfred Pape: Integraler Apparat und Apparattext. Zur Edition von handschriftlichen Prosaentwürfen am Beispiel von Hofmannsthals "Andreas". In: ZfdPh 95, 1976, S.495-509, bes. S.500. Siehe die Geschichte der Wechselbeziehung zwischen Edition und Interpretation z.B. in der Hölderlinund Goethe-Forschung; vgl. Gunter Martens: Textkonstitution in Varianten. Die Bedeutung der Entstehungsvarianten für das Verständnis schwieriger Texte Hölderlins. In: Edition und Werkinterpretation. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bem und Frankfurt/M. 1981 (= JB. für internationale Germanistik A4), S.69-96, bes. S.70; Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 179-192. Winfried Woesler: Theorie und Praxis der Nachlassedition. In: Die Nachlassedition. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern und Frankfurt/M. 1979(= Jb. für Internationale Germanistik A4), S.42-53, hier S.50.

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Dirk Göttsche

werden. Dies erfordert zunächst einige Erläuterungen zu dem literarischen Gegenstand, an dem die Fragestellung entwickelt wird:4 Die Büchner-Preisrede "Ein Ort für Zufälle", der Roman "Malina" und die Erzählungen des Bandes "Simultan" stehen mit der nachgelassenen Erzählprosa Ingeborg Bachmanns in einem großen genetischen und thematischen Zusammenhang, bilden Stationen und Teile eines literarischen Projekts, dessen thematische und motivische Vorgeschichte bis in die frühen 50er Jahren zurückreicht, das Ingeborg Bachmanns Arbeit dann aber in den 60er Jahren nach den Erzählungen des Bandes "Das dreißigste Jahr" und den "Frankfurter Vorlesungen" bis zu ihrem Tod durchgängig bestimmt. In seiner Mitte steht die mehrfach neu ansetzende Arbeit an "Todesarten"-Romanen (Eugen-Roman, FranzaRoman, drei Ansätze zu einer Erzählung bzw. einem Roman um Fanny Goldmann, schließlich der als "Ouvertüre" des Zyklus 1971 als einziger dieser Texte zu Lebzeiten publizierte Roman "Malina").5 Für diese Romane hat die Autorin verschiedene zyklische Fügungen erwogen; darüber hinaus stehen aber auch die übrigen Texte des "Todesarten"Projekts - neben der Büchner-Preisrede und den "Simultan"-Erzählungen eine Fülle nachgelassener Erzählfragmente wie "Sterben für Berlin", "Geschichte einer Liebe", ein "Wüstenbuch", "Rosamunde", "Gier" u.a. - in so engen thematischen, motivischen und genetischen Zusammenhängen, daß ihre Entstehungsgeschichten untrennbar miteinander verflochten sind. Eine Edition dieser Texte ist daher nur nach historisch-kritischen Prinzipien denkbar, d.h. als Rekonstruktion und Darstellung der Entstehung, Entwicklung, Verflechtung und Ablösung der Einzeltexte im übergreifenden Zusammenhang des "Todesarten"-Projekts. Die Edition muß die Stellung der nachgelassenen Fragmente im Werkprozeß zur Geltung bringen und zugleich dem fragmentarischen Charakter der meisten "Todesarten"-Texte (genetische Fragmente) und den Unentscheidbarkeiten der Textkritik infolge des hohen Maßes an Textverlusten (Überlieferungsfragmente) gerecht werden (übrigens auch der vorläufig eingeschränkte Quellenlage v.a. durch die Sperrung von neueren Briefnachlässen). Fünf Problembereiche, mit denen sich die Edition der "Todesarten"-Prosa konfrontiert sieht und die mir durchaus paradigmatisch für fragmentarische Prosatexte der neueren Literatur zu sein scheinen, möchte ich zur Illustration des Ineinandergreifens von Edition und Kommentar skizzieren:

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Editionsprojekts "Ingeborg Bachmann: TodesarteriProsa" des Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (FWF Wien). Vgl. zur Rekonstruktion der Struktur und Genese des literarischen "Todesarten"-Projekts von Ingeborg Bachmann durchgängig Monika Albrecht: "Todesarten": "Malina" und frühere Entwürfe. Anmerkungen zu Ingeborg Bachmanns Romanzyklus und seiner Präsentation in der Werkausgabe. In: ZfdPh 107,1988, S.585-602; Verf.: "Malina" und die nachgelassenen "Todesarten"-Fragmente - Zur Geschichte des reflexiven und zyklischen Erzählens bei Ingeborg Bachmann. In: Ingeborg Bachmanns "Malina". Hrsg. von Andrea Stoll. Frankfurt/M. 1992 (= suhrkamp materialien 2115), S.182-203; Monika Albrecht: Poetologische Anthropologie. Zur Strukturgenese von Ingeborg Bachmanns fragmentarischem "Todesarten"-Roman. In: Ingeborg Bachmann - Neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposion Münster 1991. Hrsg. von Dirk Göttsche und Hubert Ohl. Würzburg 1992, S.129-145; Verf.: Die Strukturgenese des "Malina"-Romans - Zur Entstehungsgeschichte von Ingeborg Bachmanns "Todesarten"-'Ouvertüre'. Ebda. S.147-165.

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1. Formen und Grade der Fragmentarizität Das Romanprojekt um einen Historiker namens Eugen Tobai wird in seiner zweiten Stufe um 1963 zu dem ersten "Todesarten"-Roman und bildet thematisch und motivisch sowie seinem Figureninventar nach die Keimzelle des entstehenden Roman-Zyklus. Das überlieferte Material dieses 'Eugen-Romans' ist in einem dreifachen Sinne fragmentarisch: - Der Eugen-Roman ist materiell fragmentarisch infolge vermutlich erheblicher Textverluste, die im Falle der ersten, weit vor das "Todesarten"-Projekt in die 50er Jahre zurückreichenden Stufe des Romanvorhabens soweit gehen, daß fast nur ein frühes "Vorwort" (N3791, 3782) 6 und einige Erzählfragmente 7 erhalten sind, die zwar motivisch sowie durch die Figur Eugen mit dem Eugen-Roman in Verbindung stehen, deren struktureller Zusammenhang mit diesem Romanvorhaben jedoch unterschiedlich eng ist. - Der Eugen-Roman ist strukturell fragmentarisch, indem die ästhetische Struktur des Romans auch in seiner zweiten Stufe als erster "Todesarten"-Roman nur in Ansätzen entwickelt ist und sich einzig im Falle der Entwürfe zu einem ersten Kapitel mit dem Titel "Ein seltsamer Klub" zu einem zusammenhängenden Erzählverlauf verdichtet; - und er ist fragmentarisch im Sinne eines Werkprozesses,8 insofern die überlieferten Fragmente des Romans in seiner Entwicklung zu dem ersten "Todesarten"-Roman und darüber hinaus bis zu seiner Auflösung in die späteren Romanvorhaben insgesamt die Geschichte eines literarischen Werk-Prozesses dokumentieren, der keine endgültige Gestalt gewonnen hat und dessen Textgeschichte daher auch nicht von einer einzigen Fassung her ediert werden kann. Im Gegensatz z.B. zu dem Franza-Fragment ist das Werk außerdem nicht bis zu jenem späteren Stadium der Textgenese gelangt, in dem der typischen Arbeitsweise der Autorin entsprechend - aufeinander aufbauende Textstufen in Form von Reinschriften und Abschriften entstehen. Vielmehr dokumentieren die nachgelassenen Fragmente einen schrittweisen Konzeptionswandel, der Roman stellt sich im Wortsinne als "work in progress" dar. Aufgrund dieser dreifachen Fragmentarizität bedarf die editorische Anordnung und Darstellung der Fragmente des Eugen-Romans und vergleichbarer Nachlaßtexte der textkritischen Begründung in der Form eines Kommentars, der die editorischen Entscheidungen im Rekurs auf die als Werkprozeß begriffene Textgenese erläutert, fragliche Textanschlüsse diskutiert und z.B. die Mehrdeutigkeit des Nacheinanders gerade erzählender Fragmente (genetische vs. narrative Chronologie) transparent macht bzw. die Entschei-

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Die Blätter des literarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien werden mit der Sigle Ν und der Blattnummer der Erben-Paginierung bezeichnet; vgl. die derzeitige "Registratur des literarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann", hrsg. von Robert Pichl, im Auftrag des Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (FWF Wien) erarbeitet von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. Wien 1981. Neben den Blättern Ν 3779 und 3784, die mit einiger Sicherheit Fragmente dieser Romanstufe darstellen, die Fragmente "Hunger in Rom" (N 3783) und evtl. "In Ledas Kreis" (N 893, 894; 895, 896; 891, 892). Vgl. Klaus Kanzogs Begriff der "Instabilität" (Kanzog 1991, vgl. Anm.2, S.134).

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Dirk Göttsche

dung für eine chronologische oder eine stukturräumliche Fragmentenfolge9 in der editorischen Darbietung der jeweiligen Werkstufe / Entwurfsphase begründet. Letzteres gilt vor allem für eine vierte Form der Fragmentarizität, die in den Entwürfen zu dem "Malina"-Roman vorliegt:

2. Entwurfs-Fragmente (funktionale Fragmentarizität) Im Gegensatz zu dem herkömmlichen Erzählen des Eugen-Romans besitzt der "Malina"Roman eine komplexe, reflexive, dialektische und musikalische Struktur, in der an die Stelle narrativer Sukzession die Komposition relativ selbständiger und doch aufs engste miteinander verflochtener Textteile tritt. Diese Werkstruktur spiegelt sich bereits in den ersten Roman-Entwürfen, indem diese die Form kurzer, auf Motive, Situationen oder Reflexionen konzentrierter 'Aufzeichnungen' besitzen, in denen sich die Autorin an die spätere Komposition ihres Werks heranarbeitet. Zwar sind auch die "Malina"-Entwürfe keineswegs vollständig erhalten, das Entwurfsmaterial zu "Malina" ist also insgesamt ebenfalls fragmentarisch, doch besitzt die Fragmentarizität der überlieferten Entwürfe hier als Keimzelle der späteren Komposition von Anfang an eine strukturelle ästhetische Qualität. Die Entstehung des Romans aus solchen Entwurfsfragmenten verbietet daher den Versuch der Rekonstruktion einer fortlaufenden oder gar durchgängigen 'Entwurfsfassung' des Romans. Die Verlaufsstruktur der Reinschriftfassungen steht erst am Ende eines ca. dreijährigen Arbeitsprozesses, dessen Stationen aus sich heraus darzustellen sind und nicht retrospektiv von der Endfassung des Romans her. Die Rekonstruktion dieser langen Entwurfsphase als Grundlage der Anordnung der Entwurfsfragmente in der Edition ist jedoch nur in der Verbindung unterschiedlichster Kriterien möglich (Figurenund Motiventwicklung, Strukturgenese, Schriftbilder, Papiersorten, implizite und explizite Datierungen, Quellenzeugnisse u.a.). Im einzelnen bleiben bei der Rekonstruktion Interpretationsspielräume, die wiederum durch die kommentierende Begründung der editorischen Entscheidungen und durch die diskursive Darstellung der komplexen genetischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Entwurfsfragmenten bzw. Entwurfsgruppen sowie zwischen den Entwürfen insgesamt und den späteren Reinschriften aufgefangen werden müssen. Der Kommentar erläutert grundsätzlich (werkbezogen) wie im einzelnen (entwurfsbezogen) die Edition dieser Entwurfsfragmente unter dem leitenden Gesichtspunkt der Strukturgenese des Romans, d.h. in Gruppen, die innerhalb der rekonstruierten sukzessiven Stufen der Entwurfsphase die schrittweise Herausbildung und Besetzung von "Funktionspositionen"10 des entstehenden Werks dokumentieren.

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Vgl. hierzu Herbert Kraft: Die Edition fragmentarischer Werke. In: Zs. für Literaturwissenschaft und Linguistik 5, 1975, H.19/20, S.142-146. Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S.107 und 1 lOf.

Fragmente im Werkprozeß

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3. Übergänge im Werkprozeß Der enge werkgeschichtliche und zum Teil sogar textgenetische Zusammenhang der einzelnen "Todesarten"-Texte auch dort, wo keine zyklische Verknüpfung besteht, schlägt sich in Entwürfen nieder, die am Übergang zwischen unterschiedlichen Werkvorhaben stehen und darin deren genetische Verflechtung dokumentieren. Entwürfe, die am Übergang von dem Eugen-Roman zu den Romanprojekten um Fanny Goldmann (N1342; 1344; 1370-1373) und Franza (N650, 649, 663) stehen, sind hier zu nennen, aber z.B. auch solche, die die Verschränkung der Büchner-Preisrede mit dem "Wüstenbuch"-Projekt (N729 u.a.), den Übergang von dem "Wüstenbuch"-Projekt zu dem Franza-Kapitel "Die ägyptische Finsternis" (N1404, 1405, 1402, 1403 u.a.) oder vom Franza-Roman zu der Rahmenerzählung des späteren Goldmann/Rottwitz-Romans und den Anfängen des "Malina"-Romans (N1969, 1939) verdeutlichen. Ein Teil dieser Übergangs-Texte muß in beiden Textgeschichten, denen sie zugehören, also doppelt ediert werden. Der Kommentar erläutert die Beziehung zwischen den verflochtenen Textgenesen und stellt darüber hinaus grundsätzlich Querverbindungen zwischen den ggf. in verschiedenen Bänden edierten Texten her, um deren Zusammenhang im übergreifenden Prozeß des "Todesarten"-Projekts zu verdeutlichen.

4. Heterogenität der Textteile fragmentarischer Werke Das Romanfragment "Der Fall Franza", das seinem Umfang wie seiner ästhetischen Struktur nach weiter gediehen ist als alle anderen "Todesarten "-Fragmente, wirft durch die ästhetische wie genetische Heterogenität seiner Textteile besondere Probleme auf. Das erste Kapitel ("Heimkehr nach Galicien") und Teile des Kapitels "Die Ägyptische Finsternis" erreichen die Qualität einer möglichen Druckvorlage und scheinen durch die Lesungen der Autorin im Frühjahr 1966 eine besondere 'Autorisation' zu besitzen. Bei näherer Hinsicht zeigt sich jedoch, daß nicht nur das offensichtlich fragmentarische Kapitel "Jordanische Zeit" unauflöslich in den Werkprozeß eingebunden ist: Zu der aus der bestehenden Werkausgabe bekannten Fassung der "Heimkehr nach Galicien" liegen handschriftliche Ansätze zu einer allerdings nicht mehr ausgeführten Überarbeitung vor, und das scheinbar geschlossene dritte Kapitel erweist sich im Nachlaß als dreigliedrig, wobei der mittlere Teil (N1412-1413), wie Schriftbild- und Textanalysen zeigen, jedoch nicht bis zu der gleichen Textstufe geführt worden ist wie die übrigen, dennoch aber nach Ausweis einer entsprechenden Autorennotiz (N1019) auch in der letzten Reinschrift des Kapitels weiterhin mitgedacht wurde. Obwohl also im Prinzip eine durchgängige Roman-Struktur vorliegt, bleibt die Edition einer durchgängigen Text-Fassung problematisch, wäre deren Rekonstruktion doch auf Textteile unterschiedlicher Textstufen angewiesen und insofern ein Konstrukt, das zumindest eine kommentierende Relativierung erforderte. Aber auch, wenn die Kontamination der Textstufen vermieden und die frühere Textfassung, zu der das fragmentarische Mittelstück des Kapitels gehört, zusammenhängend als eigener Text ediert wird, bedarf die Edition der späteren Reinschriftfassung an der entsprechenden Stelle

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Dirk Göttsche

eines kommentierenden Rückverweises auf das mitzudenkende Element der älteren Fassung, das nicht mehr zur weiteren Ausführung gelangt ist. Um die Brüchigkeit des Romanfragments editorisch zur Geltung zu bringen, wird die textkritische Kommentierung in jedem Fall die strukturellen Probleme analysieren müssen, die in der Heterogenität der Textteile ihren Ausdruck finden und die in diesem Fall mit der Einschaltung des Kapitels "Jordanische Zeit" in die ältere Reisestruktur der "Heimkehr nach Galicien" und der Reise "Durch die Wüste" verbunden sind, Probleme, die unmittelbar mit dem übergreifenden Konzeptionswandel der "Todesarten" zusammenhängen und an denen der Franza-Roman scheitert.

5. Typographische Überlieferung und textkritische Kommentierung Der textkritische Kommentar kann auch zur Lösung einiger Probleme beitragen, welche die überwiegend typographische Form der nachgelassenen Prosa Ingeborg Bachmanns gegenüber Werken älterer Autoren neu aufwirft, insbesondere die Frage des großen Umfangs des überlieferten Entstehungsmaterials einiger Werke, die zur Publikation gelangten ("Malina") oder doch zeitweise zur Publikation vorbereitet wurden (FranzaFragment). Der übergreifende editorische Bericht kann auf die werkspezifische Gestalt relevanter Grundfragen der Edition typographischer Textformen aufmerksam machen (autorenspezifische Form der Funktion von Originalen und Durchschlägen, Verschreibungsproblematik, Schriftbilder, Abschriften fremder Hand etc.), Grundprobleme, welche die Textkonstitution bei typographischer Überlieferung bestimmen. Zu diesen gehört insbesondere die Existenz von parallelen 'Durchschlag-Fassungen', die in ihren Korrekturschichten 'Fassungsdivergenzen' z.B. durch unvollständige Korrektur-Übertragungen aufweisen, deren Abweichungen jedoch nachweislich nicht in die weitere Textgenese eingehen. Solche durch die typographische Textentstehung bedingten zahlreichen 'Nebenfassungen' (unvollständige Abschriften fremder Hand, weniger durchkorrigierte Durchschläge oder Originale, Zweit- und Drittdurchschläge, auf welche die Autorin ihre Korrekturen von fremder Hand übertragen ließ, u.a.) müssen zunächst im Rahmen der Rekonstruktion der Textgenese kritisch bewertet und können dann im Kommentar näher charakterisiert werden. Wo die Zahl der 'Varianten' in den 'Nebenfassungen' groß und ihre textgenetische Bedeutung nachweislich gering ist, stellt ihre Zusammenfassung in der Form einer lemmatisierten Abweichungsliste zusätzlich ein geeignetes Mittel der editorischen Berücksichtigung dar. Ein markantes Beispiel bildet das Kapitel "Heimkehr nach Galicien" des Franza-Romans, dessen Autorenreinschrift zwei Abschriften erfahren hat, von denen die ältere unvollständig ist, jedoch Anstreichungen fremder Hand aufweist, auf die hin die Autorin Überarbeitungen vorgenommen hat, welche jedoch nur zum Teil in die Korrektur der vollständigen, zweiten Abschrift eingegangen sind. 11 Die übergreifende

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In der genannten Reihenfolge R3, R4 und R5 in der derzeitigen "Registratur des literarischen Nachlasses" (S. 140-142).

Fragmente im Werkprozeß

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Erläuterung dieser Zusammenhänge in der Darstellung der Textgenese wird hier im Kommentar zu den Abschriftfassungen vertieft und durch dem Kommentar zugeordnete Listen (Liste der Anstreichungen, Liste der gegenüber der Zweitabschrift abweichenden Korrekturen, Liste der in die Zweitabschrift übernommenen Korrekturanregungen) ergänzt. An diese fünf Problembereiche der kritischen Edition fragmentarischer Prosa lassen sich nun auch Überlegungen zur Gestalt eines differenzierten textkritischen Kommentars anschließen. Die angesprochenen komplexen genetischen und ästhetischen Zusammenhänge zeigen, daß ein solcher Kommentar als konstitutiver Bestandteil einer kritischen Edition der "Todesarten"-Texte und vergleichbarer fragmentarischer Prosa nicht mit der Form eines herkömmlichen Werkstellenkommentars auskommt. Die ausgabenübergreifende, gegenstandsbezogene Begründung der Editionsprinzipien und -verfahren, der bandbezogene editorische Bericht, die einzelwerkbezogene Darstellung der Textgenese, die auf einzelne Werkteile bzw. Gruppen von Überlieferungsträgern bezogene textkritische Kommentierung sowie ggf. werkstellenbezogene Verweise als Vermittlung räumlich und symbolisch kaum darstellbarer Querverbindungen stehen in einem integralen, abgestuften Funktionszusammenhang. Auf der Ebene des Werkstellenkommentars verzahnen sich textkritischer und SachKommentar. Der Werkstellenkommentar kennt dann also zwei Typen von Einträgen, wobei sich die Einträge ggf. sowohl auf die Fassung des jeweils edierten Texts als auch auf seine in dem genetischen Apparat dargestellten Vorfassungen beziehen kann. Alle Ebenen der textkritischen Kommentierung zielen auf sich ergänzende und ineinandergreifende Weise erstens auf die philologisch adäquate Darstellung des literarischen Gegenstands in seiner Komplexität, ineins damit zweitens auf die Transparenz der editorischen Entscheidungen durch ihre diskursive Begründung und drittens dadurch auf die Transparenz der Darbietung, also auf die Benutzerfreundlichkeit und Lesbarkeit der Ausgabe. Der materialbedingte Zusammenhang von Edition und Interpretation muß auch für den an nachlaßbezogenen Spezialfragen nicht interessierten Leser der Ausgabe als Problem bewußt und im einzelnen durchschaubar sein.

Sigurd Paul

Scheichl

Kaiser Joseph und die anachronistischen Töchter Zum Kommentieren von Reflexen des Mündlichen

Das Kommentieren von Reflexen des Mündlichen ist ein weites Feld. Mit dieser Lieblingswendung des alten Briest beginne ich meine Überlegungen, obwohl ich keineswegs an einem Fontane-, sondern an einem Karl Kraus-Kommentar1 arbeite weil dieser Satz ein augenfälliges Beispiel für einen Aspekt des hier zu behandelnden Problems ist. Denn für eine Würdigung der stilistischen Qualitäten Fontanes wie auch seiner Kunst der Figurendarstellung ist die Information nicht unwesentlich, ob er seiner Figur eine ganz individuelle Prägung in den Mund legt oder ob er sie eine Wendung gebrauchen läßt, die von zeitgenössischen Leserinnen und Lesern als oft gebrauchtes Modewort wiedererkannt, als klischeehaft empfunden werden konnte. Diese Information wäre auch für unser Verständnis der mit dieser Romanfigur verfolgten Intention nicht unwesentlich. (Weit weniger interessant für das Verständnis des Romans ist es im übrigen, ob der Autor hier an eine bestimmte Person seines Umkreises gedacht und deren Sprachgewohnheiten als 'Quelle' benützt hat.) Fragen nach der Gebräuchlichkeit von Wörtern und Wendungen in der tatsächlich gesprochenen Sprache wie nach ihrem Stilwert zur Entstehungszeit eines Textes stellen sich bei der Interpretation von Literatur nicht selten, mindestens von Werken seit dem Sturm und Drang, seit dem die gesprochene Sprache Bedeutung für den Stil bestimmter Texte gewinnt;2 die Kommentatoren, deren Aufgabe das Bereitstellen solcher Informationen wäre, pflegen dem Interpreten die Antwort auf solche Fragen aber schuldig zu bleiben. Auch in der Nymphenburger Fontane-Ausgabe findet sich zum Satz des alten Briest nichts, obwohl das "Deutsche Wörterbuch" eine Reihe von vor Fontane liegenden Beispielen für den übertragenen Wortgebrauch dieses Syntagmas ("umfassendes aufgaben- oder betätigungsfeld") bietet.3 Die Vermutung eines Zitaten-Lexikons, das '

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Es handelt sich um ein vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich finanziertes, von mir geleitetes Projekt: Kommentar zu den Schriften von Karl Kraus (Karl Kraus: Schriften. Hrsg. von Christian Wagenknecht. 12 Bände. Frankfurt 1986-1989; die ab 1991 erscheinenden 8 Bände der zweiten Abteilung sind in das Projekt nicht einbezogen). Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Von der Männerschwäche und der Weihe der Kraft. Über praktische Probleme des Kommentierens von Karl Kraus. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv (Innsbruck) 9, 1990, S.28-37. Proben dieses Kommentars sind erschienen ebda., S.37-47 (Ulrike Lang: Schnitzler-Feier. Ein Kommentar), und in: Kraus-Hefte 50, 1989, S.l-19 (Sigurd Paul Scheichl: "In dieser großen Zeit." Ein Kommentar). Am Projekt arbeiten Ulrike Lang und Robert Huez mit. Vgl. Anne Betten: Sprachrealismus im deutschen Drama der siebziger Jahre. Heidelberg 1985 (= Monographien zur Sprachwissenschaft 14), S.147. Deutsches Wörterbuch 28, 1955, Sp.l232f. Auch Walter Schafarschik: Erläuterungen und Dokumente. Theodor Fontane: Effi Briest. Stuttgart 1972 ( = Reclams Universalbibliothek 8119), S.15,

Kaiser Joseph und die anachronistischen Töchter

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Stifters "Nachsommer", in dem die Wendung auch vorkommt, wegen seines kleinen Leserkreises als Quelle für ihre Verbreitung nicht in Frage komme, 4 läßt die Möglichkeit außer acht, daß das Syntagma schon vor seiner Verwendung in der Literatur mündlich von vielen gebraucht worden sein könnte. Es kann also mindestens nicht ausgeschlossen werden, daß der Romancier seiner Figur hier eine vorgeprägte Wendung in den Mund legt; daß andererseits viele textinteme Bezüge gegen die Ansicht sprechen, der alte Briest verwende Klischees, muß hier außer acht bleiben, da ein Kommentar gerade nicht von einer Interpretation ausgehen soll. Auch in diesem Fall reichen die Angaben der Wörterbücher, die in den meisten Fällen überhaupt nicht weiter helfen, letztlich nicht aus, um die Gebräuchlichkeit der Wendung des alten Briest - und schon gar in mündlich gebrauchter Sprache - wirklich zu bestimmen, und Zufallsfunde von Parallelstellen sind eben Zufallsfunde (und obendrein in der Regel ohne besondere Aussagekraft für den Gebrauch eines Wortes im alltäglichen Sprechen). Zudem besteht immer die Gefahr des Zirkelschlusses: man weiß ja wenig über die Geschichte der gesprochenen Sprache 5 und neigt daher dazu, in Dialogen, vornehmlich in dramatischen Dialogen, einen mehr oder minder genauen Reflex tatsächlicher Sprechweisen zu hören, Autoren als - mehr oder minder - "geschickte 'Soziolekt-Exploratoren'" 6 anzusehen, auch für Epochen, wo wir die Resultate dieser 'Exploration' im Grunde nicht überprüfen können. 7 Und das gilt im Grunde selbst für ein Werk wie "Die letzten Tage der Menschheit", obwohl sehr viel, auch Zeugnisse von Zeitgenossen, es nahelegt, die in diesem Werk verarbeitete gesprochene Sprache für authentisch zu halten. Solche Fragen müßte der Kommentar mindestens anreißen, soll er wirklich dazu verhelfen, das Werk historisch, mit den Augen des Autors (und seiner Zeitgenossen), zu lesen; aber er kann sie oft nicht anreißen, da die dafür notwendigen Ermittlungen zu aufwendig wären. Der alte Miller in Schillers "Kabale und Liebe" (besonders VI) gebraucht viele und darunter manche heute noch gebräuchliche Redewendungen; man kann daraus und aus bekannten Stiltendenzen der Zeit schließen, daß seine Sprache realistisch sein, wie real gibt, eine Ausnahme unter den Kommentatoren, mehrere literarische Belege für den Gebrauch dieser Wendung vor Fontane (die sich bei dem Autor selbst, ebda., S.101, schon 1839 findet). Vgl. femer den in Anm.4 erwähnten Beleg aus Stifters "Nachsommer" und den nicht uninteressanten metaphorischen Gebrauch des Syntagmas durch eine lächerliche Figur bei Nestroy ("Freiheit in Krähwinkel", III/l:"[...] die Freiheit [...] gewährt den Dichtem ein weites Feld zur Tummlung ihrer Pegasusse.") Kurt Böttcher et al.: Geflügelte Worte. Zitate, Sentenzen und Begriffe in ihrem geschichüichen Zusammenhang. 3.Aufl. Leipzig 1984, S.S73. Zu diesem Problem vgl. Sigurd Paul Scheichl: Ohrenzeugen und Stimmenimitatoren. Zur Tradition der Mimesis gesprochener Sprache in der Osterreichischen Literatur. In: österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Französische und Österreichische Beiträge. Hrsg. von SPS und Gerald Stieg. Innsbruck 1986 ( = Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Geimanistische Reihe 21), S.57-97, hier besonders S.60f. Vgl. - nicht ohne Berechügung, für einen mittelalterlichen Text - Max Silier: Soziolektale Phänomene im Fastnachtspiel. Computergestützte Analyse diasystematischer Varietäten in frühen dramatischen Texten. In: Historische Edition und Computer. Hrsg. von Anton Schwöb et al. Graz 1989, S.263-290, hier S.280, Anm.59. Vgl. das aufwendige (und nur durch besonders günstige Bedingungen mögliche) Verfahren Sillers, ebda.

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Sigurd Paul Scheichl

gesprochene Sprache wirken soll. Kann man aber daraus schließen, daß jede seiner bildhaften Formulierungen auch tatsächlich eine gebräuchliche Redewendung war? "Gleich muß die Pastete auf den Herd" zum Beispiel wird von Lutz Röhrich 8 - freilich in einem Wörterbuch und nicht in einem Kommentar - mit eben diesem Beleg (und der Bedeutungsangabe: 'sofort muß die Sache abgemacht werden') als Beispiel für die metaphorische Verwendung von 'Pastete' gebucht - mit einem Hinweis auf "scherzhaften" Gebrauch des Worts, also auf eine Stilfärbung, die allerdings an dieser Stelle bei Schiller sicher nicht gegeben ist; auch im Grimm steht dieser Beleg für den uneigentlichen Gebrauch von 'Pastete'. Kann man Wörterbuchangaben, die offenbar auf dieser Stelle beruhen, als Grundlage eines Kommentars über die gleiche Passage benützen? Im Band 5 der Schiller-Nationalausgabe 9 ist die Idiomatik Millers kaum kommentiert. Schafarschik 1 0 gibt - immerhin - "volkstümlich" und eine von Grimm und Röhrich leicht abweichende Angabe der Bedeutung des Syntagmas. Für die stilistische Einschätzung des Dialogs reichen diese Informationen kaum aus; aber mehr vermag der Kommentator mit seinen Hilfsmitteln oft nicht zu sagen. Ein anderes Beispiel: 11 für das Verständnis von Hebbels "Maria Magdalene" ist es von großer Bedeutung zu wissen, ob Meister Anton mit seinem Schlußsatz "Ich verstehe die Welt nicht mehr" von Hebbel Vorformuliertes in den Mund gelegt worden ist wie kurz vorher (III/8) Klara in ihrem Gebet oder ob der Dramatiker hier einen markanten, seither ohne Zweifel zum Zitat gewordenen 12 Satz geprägt hat. Die Erläuterungen von Karl Pörnbacher 13 gehen auf diese Stelle überhaupt nicht ein; auch der Grimm hilft nicht weiter. Die Wichtigkeit der richtigen stilistischen Einschätzung derartiger Sätze und die Notwendigkeit, den Leserinnen im Kommentar auch solche Angaben zur Verfügung zu stellen, sollte an diesen Beispielen ebenso deutlich geworden sein wie die Schwierigkeiten für den Kommentator, das Umfeld solcher Wörter und Wendungen und nicht zuletzt ihre Stilebene und ihre Stilfärbung 14 zu ermitteln. Möglich ist es bei entsprechend günstiger Quellenlage und bei Finderglück durchaus, auch ohne die Gefahr von Zirkelschlüssen: dafür ein Beispiel aus dem Kommentar zur

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Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 2 Bände. Freiburg i.B. 1973, S.712. (Auch in der 2. Aufl.: LR: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Bd.2. Freiburg 1992, S.1144). Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd.5: Kabale und Liebe. Kleine Dramen. Hrsg. von Heinz Otto Burger und Walter Höllerer. Weimar 1957, S.218f. Walter Schafarschik: Erläuterungen und Dokumente. Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Stuttgart 1980 ( = Reclams Universalbibliothek 8149), S.10. Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Feste Syntagmen im dramatischen Dialog. Materialien zur Geschichte eines Stilmittels zwischen Goethe und Kroetz. In: Tradition vind Entwicklung. Festschrift Eugen Thumher. Innsbruck 1982 ( = Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 14), S.383-407, hier besonders S.394f.

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So Röhrich 1973 vgl. Anm.7, S . l l l l ; Böttcher (Anm.4), S.507.

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Karl Pörnbacher: Erläuterungen und Dokumente. Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Stuttgart 1970 ( = Reclams Universalbibliothek 8105), S.28. Zu diesem Problem vgl. jetzt die aus literaturwissenschaftlicher Sicht zusammenfassende Darstellung von Ulrike Maria Lang: österreichische Wörter und Wendungen in polemischen Schriften von Karl Kraus (mit einem Wörterbuch). Diss, (masch.) Innsbruck 1992, S.42-55.

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Kaiser Joseph und die anachronistischen Töchter

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neuen Nestroy-Ausgabe. In "Einen Jux will er sich machen" 1 5 (1842) wird der "vazierende Hausknecht" Melchior unter anderem dadurch zur komischen Figur, daß er in allen möglichen und unmöglichen Situationen das "dumme Wort" 'classisch' benützt. 16 Dem Herausgeber und Kommentator dieses Bandes, W.E. Yates, ist es gelungen, einen Aufsatz aus einer Wiener Zeitung des Jahres 1836 ausfindig zu machen: "Genial und Classisch. Pygmäen-Bemerkungen über die Kraftäußerungen der jetzigen Kraftmenschen, oder: was alles zur Redensart wird!", 17 in dem "in der Form von Rede und Antwort Beispiele für den Mißbrauch des Worts classisch" angeführt werden. 18 Daß Wiest, der Verfasser jenes Artikels, in seinen Bemerkungen auf gesprochene Sprache zurückgreift, ist, auch wenn er satirisch übertreibt, ein besonderer Glücksfall. Damit erhält die Figur des Melchior eine zusätzliche Funktion, vielmehr: sie gewinnt diese Funktion für uns zurück: er ist nicht nur durch den wiederholten Gebrauch des einen (Schlag)wortes als eindimensionale Figur 19 (und damit als komische) gestaltet, sondern über seine Redeweise nimmt Nestroy wie jener Artikel "ein weitverbreitetes modisches Phänomen aufs Kom." 20 Diese aktuelle satirische Funktion läßt sich zwar auch ohne Kenntnis des damaligen Sprachgebrauchs ahnen, aber eben nur ahnen. Yates bietet den erhellenden Artikel übrigens in einem eigenen Abschnitt "Zeitanspielungen" vollständig und verweist dann in den "Erläuterungen" nur noch darauf. Die größere Breite in der Darbietung der Quelle ermöglicht einen tieferen Einblick in die von Nestroy kritisierte Sprechweise. Die Hebbel- und Schiller-Beispiele einer-, das Nestroy-Beispiel andererseits stellen selbstverständlich zwei verschiedene Typen von in literarische Texte integrierten Elementen gesprochener Sprache vor: einerseits die Verwendung von (vielleicht) über längere Zeit hinweg gebräuchlichen Idiomen, andererseits den zitierenden Gebrauch von nur kurz lebendigen Schlagwörtern (der selbstverständlich auch, in wahrscheinlich eher seltenen Fällen, ein naiver Gebrauch sein könnte). Auf diesen Unterschied, der auch unterschiedliche Schwierigkeiten beim Kommentieren nach sich zieht, kann ich hier nicht weiter eingehen. Anzugeben wären nicht nur die Bedeutung und die Gebräuchlichkeit des Wortes oder der Wendung, sondern auch die Stilebene; nicht unwichtig ist auch, wie das Nestroy-Beispiel gezeigt hat, der historischen Aspekt eines Worts, sein Charakter als Neologismus21 oder als Archaismus 2 2 Tatsächlich gehen aber die meisten Kommentare

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Johann Nestroy: Historisch-kritische Ausgabe. Stücke 18/1. Einen Jux will er sich machen. Hrsg. von W.E. Yates. Wien 1991. Z.B. ebda. S.16 (1/6), 18 (1/7), 19 (1/8) usw. bis zur Schlußszene (95). Ebda. S.112ff. Ebda. S.113. Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977 ( = UTB 580), S.243f. Yates 1991, vgl. Anm.15, S.115. Herman Meyers Untersuchung: Goethes "Kleine Blumen, Kleine Blätter" (1949). In: HM: Zarte Empirie. Stuttgart 1963, S.160-178, 398, ist mit seiner "wortgeschichtlichen Mikroskopie" (S.164) zum Neologismus 'Rosenband' modellhaft; doch handelt es sich in diesem Fall nicht um gesprochene Sprache. Die von Meyer für seine Ermittlungen aufgewendete Zeit steht freilich für einen Kommentar kaum je zur Verfügung. Winfried Wösler kommentiert in seiner Ausgabe von Heinrich Heine: Atta Troll. Stuttgart 1977

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bei ihren Worterläuterungen auf solche Merkmale nicht ein, sondern beschränken sich trotz dem heutigen Stand der Lexikografie auf - selbstverständlich unabdingliche und stets sehr verdienstvolle - Bedeutungsangaben. Auch in der Theorie, wie in Waltraud Hagens Überlegungen "Von den Erläuterungen", ist in Zusammenhang mit den "sprachgeschichtlichen Hilfen" von diesen Stilproblemen mit keinem Wort die Rede. 23 Solche Fragen stellen sich beim Erläutern dramatischer und erzählender Texte besonders häufig. Der Leser satirischer Literatur, zu deren Merkmalen es ja geradezu gehört, an Sprach- und eben auch an Sprechgewohnheiten anzuknüpfen und aus deren Zitieren besondere Wirkungen zu beziehen, bedarf zu ihrem historisch richtigen Verständnis - wenn es so etwas überhaupt gibt - selbstverständlich ebenfalls solcher Informationen. Bei Karl Kraus findet sich eine Fülle von in diesem Sinn erläuterungsbedürftigen Stellen, wobei die bei ihm zahlreichen Regionalismen, die zwar nicht alle, aber von denen doch ein großer Teil aus gesprochener bzw. gehörter Sprache kommen, die Arbeit des Kommentators noch vermehren. Zudem war Kraus ein Autor, für den akustische Eindrücke eine starke anregende Wirkung hatten, und man muß annehmen, daß, vor allem in den Dialogen der "Letzten Tage der Menschheit", sehr oft Gehörtes zitiert wird: sowohl Umgangssprachliches als auch mündlich gebrauchte Schlagworte und Ähnliches. Es ist zweifellos in einem Kommentar nicht möglich, Vermutungen darüber anzustellen, was nun Zitat von authentisch Gehörtem sein könnte und was Fiktion von Gesprochenem; doch mindestens in den Kommentarsuprastrukturen ist dieses Problem zu erörtern. Um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, zitiere ich einen im Ersten Weltkrieg geschriebenen Aforismus, 24 in dem Kraus dieses Problem sozusagen thematisiert: Ist es nicht Unzucht? Eben die Welt, deren höchstes Lob "gediegen" oder "leistungsfähig" war, darf jetzt "wacker" und "brav" sagen.

Die Schwierigkeit liegt darin zu bestimmen, welchen Gruppensprachen beispielsweise 'gediegen' zuzuordnen ist. Aus dem Gebrauch des Wortes an anderen Stellen bei Kraus 25 läßt sich ableiten, daß der Satiriker das Wort als eine Lobesformel zitiert, die ihm für die vermögende jüdische Bourgeoisie charakteristisch zu sein scheint, wohl vor allem in mündlicher Rede. Das Dilemma des Kommentators liegt darin, daß er einerseits Wörterbuchbelege für einen solchen Gebrauch wohl kaum wird finden können 2 6 daß aber andrerseits das Verständnis der Stelle mindestens erschwert ist, wenn er die besondere Verwendung dieses Wortes in einem Kommentar nicht erläutert. Am Ende dieses Teils meiner Überlegungen möchte ich noch ein Darbietungsproblem beim Kommentieren solcher Stellen andeuten, das eng mit der Frage der Kommentierung

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24 25 26

( = Reclams Universalbibliothek 2261), gelegentlich den bewußten Gebrauch von Archaismen durch Heine, z.B. S.138 (zu IV/81), und Unterschiede in der Stilebene zum heutigen Sprachgebrauch, z.B. S. 142 (zu VIII/13). Waltraud Hagen: Von den Erläuterungen. In: Siegfried Scheibe et al.: Vom Umgang mit Editionen. Berlin (DDR) 1988, S.205-224, hier S.212ff. Karl Kraus: Aphorismen. 1986 ( = Schriften 8, vgl. Anm.l), S.384. Karl Kraus: Aphorismen. 1986 ( = Schriften 8, vgl. Anm.l), S.384. Im Grimm (Bd.4, 1878, Sp.2022) findet sich der Hinweis, daß Adelung diese Bedeutung von 'gediegen' noch nicht kennt.

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von Regionalismen zusammenhängt. Es wird kaum Texte geben, die ausschließlich dem Mündlichen nachgebildet sind; auch bei Kraus oder bei Nestroy gibt es immer wieder Passagen, die eindeutig 'geschrieben' sind. Gerade bei Nestroy sind nun aber nicht die 'mündlichen' Passagen, die durchwegs stark regional gefärbt sind, sondern, schon wegen ihrer relativen Seltenheit, die hochsprachlichen Passagen merkmalhaft, doch hat der Kommentator nicht diese, sondern vor allem jene Stellen zu erläutern, wiewohl sie im Kontext der Stücke merkmallos sind. Er muß also, schon rein quantitativ, Akzente setzen, die das Verständnis des Stückes eigentlich verfälschen, wie schon, nicht als Kommentator Nestroys, sondern als sein Interpret Franz H. Mautner festgestellt hat: "Anmerkungen der Werkausgaben können, bis zu einem gewissen Grad, den Dialekt übersetzen, die Wirkung des Hochdeutschen [...] nicht." 27 Mindestens in den Formulierungen, etwa in Hinweisen auf Stilbrüche, müßte der Kommentar, der ja in der Regel einen nicht-österreichischen Leser informieren will, einem solchen falschen Eindruck entgegenzuwirken suchen. Das Erläutern von Reflexen des Mündlichen hat aber nicht nur mit dem Bereich der 'Worterläuterungen' zu tun, auf den sich die bisherigen Beispiele bezogen haben, sondern sehr wohl auch mit dem der 'Sacherläuterungen'. " K o m m e n t i e r e n ist ausführliches Erläutern, das sich an eine vorgegebene Äußerung anschließt und sichern soll, daß diese vom Hörer auf eine bestimmte Weise - [...] wie vom Verfasser der Vorlage beabsichtigt [ . . . ] - aufgenommen wird." 28 Will man es in diesem Sinn ermöglichen zu verstehen, was der Verfasser einer "vorgegebenen Äußerung" mit ihr zum Zeitpunkt ihrer Entstehung "beabsichtigt" hat, so muß man nicht nur über dessen Sprachgebrauch und die zeitgenössischen Stilnormen informieren, sondern auch über dessen Wissenshorizont, einschließlich aller möglichen Alltagserfahrungen. Ich meine damit hier speziell die Notwendigkeit des Kommentierens von Zitaten aus oder Anspielungen auf mündlich tradierte Quellen; ein Autor, der intertextuelle Verfahrensweisen anwendet, montiert nicht unbedingt nur Shakespeare und Schiller (und leider auch Scheffel, Geibel und Halm) in den eigenen Text ein, sondern, ohne jede Rücksicht auf künftige Kommentatoren, auch Witze, deren Kenntnis er bei seinen Lesern und Leserinnen voraussetzen konnte, die man heute aber nicht mehr oder doch nur in Ausnahmefällen kennt. Anspielungen auf den jüdischen Witz sind ein besonders markantes Beispiel für dieses Problem: daß dieser durch die Ausrottung der deutschen Juden aus dem öffentlichen Bewußtsein fast völlig verschwunden ist und obendrein dort, wo er noch geläufig ist, andere Reaktionen auslöst, erschwert unser Verständnis von Texten wie denen von Kraus in besonderem Maße.

28

Franz H. Mautner: Nestroy. Frankfurt 1978 ( = suhrkamp taschenbuch 465), S.67. Rede - Gespräch - Diskussion. Grundlagen und Übungen. Hrsg. von Wilhelm Schmidt und Eberhard Stock. 3.Aufl. Leipzig 1984, S.46 (in einem von Hanna Harnisch und Wilhelm Schmidt geschriebenen Abschnitt). Die Auslassung aus der Definition ist eigentlich sinnstürend, in diesem Zusammenhang aber zu rechtfertigen.

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Sigurd Paul

Scheichl

Um bei diesem Beispiel zu bleiben: in einem polemischen Aufsatz von Karl Kraus über den Gegensatz von Monarchie und Republik ("Monarchie und Republik") 29 aus dem Jahre 1921 heißt es (Die Fackel Nr.577-82, S.5): [...] ob der Herrscher von Gottes Gnaden noch als solcher glaubhaft ist, wenn er - was tut Gott! mit der Mehrzahl seiner Untertanen gerade deren hervorstechendste Eigenschaften teilt [...]

"was tut Gott!" ist ein Zitat aus einem jüdischen Witz, 30 in dem es das Eintreten einer so überraschenden wie wunderbaren Wendung in einer gefährlichen Situation markiert, vielleicht mit einem gewissen Spott auf orthodoxe Gläubigkeit. Schon in seiner Einbeziehung in die jüdische Sfare liegt eine gewisse Herabsetzung des Monarchen; daß ein erwartbares Urteil über den Herrscher wie ein Wunder dargestellt wird, ist eine andere Funktion dieses Zitats. Wer es nicht erkennt, versteht die Passage nicht oder mindestens nicht ganz, kann ihre Wertungen nicht nachvollziehen. Der Kommentator hat sie also zu erläutern - wenn er eine Quelle findet. Mir ist der Witz in zwei stark voneinander abweichenden Fassungen von jüngeren Zeitgenossen Kraus' erzählt worden; gedruckt habe ich ihn trotz großen Bemühungen nie gesehen. Ein anderes Beispiel: Kraus' - in den "Schriften" nicht enthaltene und daher von mir glücklicherweise nicht zu kommentierende - Glosse "Kaiser Josef und die Bahnwärterstochter" (Die Fackel Nr.324/25, Juni 1911, S.7f.); der Zusammenhang des Titels mit dem Inhalt der Glosse, Zitaten aus einem Bericht über die Heimkehr des todkranken Gustav Mahler nach Wien, ist nicht nachvollziehbar. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil der zugrundeliegende Scherz bisher nicht auffindbar gewesen ist. Daß Kaiser Josef II., eine gerade bei Liberalen sehr populäre Herrscherfigur, in einem trivialen Historischen Roman des Titels "Kaiser Josef und die schöne Bäckerstochter vom Himmelpfortgrund" (von Theodor Scheibe, Wien 1872) vorkommt und daß auch andere "Kaiser Josef und die -tochter"-Titel nachweisbar sind, kann für die Form des Glossentitels ausschlaggebend gewesen sein, erklärt aber noch nicht das (ebenfalls jenes TitelMuster verwendende) anachronistische Motiv der Β ahn wärterstochter, das sich beispielsweise 1928, wohl ohne Bezug zu der wenig bekannten Kraus-Glosse, als parodistischer Filmtitel in einem sozialistischen Kabarettprogramm findet: "Kaiser Josef und die Chauffeurstochter". 3 1 Die bekannteste Parallele ist selbstverständlich das Stück "Kaiser Joseph Π. und die Bahnwärterstochter" von Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1934). 32 Dessen Herausgeberin nennt zwar ebenfalls triviale Behandlungen Josephs Π., darunter "Kaiser Joseph und die Schusterstochter",33 und sie erwähnt auch die Kraus-Glosse,34 doch sie scheint 29

30

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33 34

Jetzt auch in Karl Kraus: Brot und Lüge. Aufsätze 1919-1924. 1991 ( = Schriften 16, vgl. Anm.l), S.151-157, Zitat S.154. Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Der Stilbruch als Stilmittel bei Karl Kraus. In: Karl Kraus in neuer Sicht. Londoner Kraus-Symposium. Hrsg. von SPS und Edward Timms. München 1986, S.128142, hier S.141. Friedrich Scheu: Humor als Waffe. Politisches Kabarett in der Ersten Republik. Wien 1977, S.92. Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Kaiser Joseph II. und die Bahnwärterstochter. In: FHO: Sämtliche Werke 6: Dramen. Hrsg. von Klaralinda Kircher. Salzburg 1985, S.73-147, 340-352, 380-394. Ebda. S.342. Ebda. S.380.

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gar nicht auf die Idee zu kommen, daß der Anachronismus auf einen anderen und andersartigen Text, nämlich auf einen Witz, anspielen könnte, den zu suchen freilich schwer hält. Einen authentischen Erzähler wie im Fall des jüdischen Witzes habe ich bislang noch nicht gefunden. Doch ist die Kraus-Glosse wohl überhaupt nur zu verstehen, wenn man weiß, worauf der Satiriker im Titel anspielt; und vielleicht ist auch Herzmanovskys Stück bei Beachtung dieses Kontexts anders zu lesen. Daß die Herzmanovsky-Herausgeberin diesen Zusammenhang gar nicht gesehen hat, scheint besonders signifikant und läßt mich für meine eigene Arbeit einiges befürchten; denn wahrscheinlich ist es unvermeidlich, Zitate und Anspielungen auf so unstabile und so wenig dauerhafte Texte wie Witze immer wieder zu übersehen. Andererseits ist die Einarbeitung solcher vorwiegend mündlich verbreiteter Pointen für Autoren gewisser Textsorten - bei Hofmannsthal und Rilke wird man auf solche Probleme eher nicht stoßen - ein wichtiges Mittel, mit dem sie ihren Arbeiten mehr Farbe gegeben haben. Anspielungen auf Witze sind deshalb, wenn man diesen Hintergrund überhaupt erkennt, in Kommentaren nach Möglichkeit als Bestandteil des Umfelds eines Autors so gut nachzuweisen wie Zitate aus literarischen Werken. 35 Die Schwierigkeiten des Nachweises sind allerdings groß; auch Witzblätter und Witzecken von Zeitungen werden da nicht viel weiterhelfen, da sie ja in der Regel gerade nicht mündlich weitverbreitete Witze abdrucken. Die Ergebnislosigkeit meiner bisherigen Suche nach dem Witz hinter der anachronistischen Bahnwärterstochter wird nur übertroffen durch die Ergebnislosigkeit meiner Suche nach anderen Witzen, auf die Kraus anspielt, etwa nach dem, der hinter dem Vers 36 steht: zeig dem Tropf, wieviel Uhr: er nimmt sie in den Mund.

Wenn Kraus einen pathetischen Bericht über die Reaktion deutscher Soldaten auf das Vorhandensein einer deutschen Buchhandlung in Hermannstadt mit dem "Wiener Gruß 'Lekmimoasch, i geh in den Volksbildungsverein!"' konfrontiert (Die Fackel Nr.462-71, Oktober 1917, S.63f.), dann hilft einem hier zwar die Formulierung weiter, Kraus deutet an, daß der Kontrast zwischen hehrer Institution und derber Formel aus dem Bereich des Witzes kommt. Aber auch hier wären Erläuterungen erhellend, die mehr über den - mir derzeit noch nicht bekannten - Zusammenhang eines solchen Witzes sagen können. Ähnliches gilt über den Witz hinaus für die gesamte Trivialkultur, etwa auch für Werbesprüche, die man vielleicht noch ein wenig leichter finden kann als Witze, die aber doch auch schlecht dokumentiert sind, insbesondere was ihr uns allen bekanntes Eindringen in die Alltagssprache betrifft. Angesichts der großen Gefahr, daß selbst die Möglichkeit solcher Zusammenhänge übersehen wird und daß daher unser Verständnis bestimmter Werke beeinträchtigt wird, würde ich in vergleichbaren Fällen sogar dafür plädieren, auch die bloße Vermutung eines solchen mündlichen Hintergrunds in die Erläuterungen aufzunehmen.

35 36

Vgl. dazu Hagen 1988 (Anm.23), S.218ff. Aus dem Gedicht "Brunnenvergiftung", in: Karl Kraus: Gedichte. 1989 ( = Schriften 9, vgl. Anm.l), S.473. Dieses Motiv erscheint auch an anderen Stellen.

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Sigurd Paul Scheichl

Es mag sein, daß das ein Spezialproblem satirischer Literatur ist, der im weitesten Sinn ja auch Herzmanovsky zuzuordnen ist. Aber satirische Literatur bedarf wegen ihres besonderen Charakters auch besonders intensiver Erläuterungen, und offenbar nicht nur wegen ihrer Ziele, sondern auch wegen ihrer sprachlichen Verfahrensweisen. 37 Vermutlich wird aber in Brief- und Tagebuchtexten das Mündliche eine ähnliche Rolle spielen und daher dort ebenfalls des Kommentars bedürfen. Also schon wieder neue Forderungen an die ohnehin schon zu umfangreichen Kommentare, obendrein Forderungen, deren Erfüllung, auch in den Worterläuterungen, nicht immer ohne Spekulation wird auskommen können. Aber der Kommentator kann hoffen, daß am Ende seiner Mühen jene, für die er kommentiert, auch aufgrund solcher spekulativen Hinweise einige Gelegenheiten weniger zum Seufzer haben werden, sie verstünden den Text nicht mehr.

37 Vgl. dagegen Gotthart Wunbergs radikale Absage an alles Kommentieren älterer Satire (insbesondere Klaus'): Ohne Nachwelt. Karl Kraus, der Satiriker. In: Literatur und Kritik 22,1987, S. 24-34.

Hans-Gerd Koch

Lassen sich Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften aufstellen?

"Herausgeben und Erklären - das sind die elementaren philologischen Tätigkeiten": Auf die fortbestehende Gültigkeit der von Wilhelm Scherer 1877 formulierten Maxime weist Hans-Gert Roloff hin: Das Material bereitzustellen und die Grundlagen zu seiner Erschließung zu bieten, gehört zu jenem Bereich von notwendigen Arbeiten, für den die technisch-naturwissenschaftlichen Diszilinen den Terminus "Grundlagenforschung" haben [...].'1

Die Bedingungen, unter denen diese Grundlagenforschung erfolgt, werden weitestgehend von dem zu edierenden und zu kommentierenden Gegenstand selbst sowie vom Forschungsstand der Editionswissenschaft bestimmt. Bedingungen ergeben sich von vornherein durch Besonderheiten der jeweiligen Textsorte. Die Versuchung etwa, vom Autor künstlerisch intendierte "primäre Dunkelheit" zu beseitigen - um die von Helmut Koopmann verwendeten Begriffe einzuführen - , besteht bei autobiographischen Schriften nur bedingt. "Erklären" oder "Kommentieren" bedeutet hier in erster Linie, "sekundäre Dunkelheit" zu beseitigen und die Grundlagen zur Texterschließung zu bieten. Die "zuchtlose Form" des Tagebuchs z.B., um Robert Musil zu zitieren, bringt es mit sich, daß der Rahmen, in dem sich die Kommentierung bewegt, vom jeweiligen Diaristen vorgegeben ist, von seiner Gestaltung der Textsorte, von den Funktionen, die sie für ihn erfüllt. Das tagtägliche Verzeichnen des erlebten und wahrgenommenen Geschehens im Erinnerungsjoumal Thomas Manns verlangt eine dem Inhalt der Aufzeichnungen angepaßte Kommentierung, die sich zwangsläufig von einer Kommentierung der Aufzeichnungen Musils mit ihrer materialmäßigen Erfassung der von ihm durchlebten Zeit oder der Verwebung von Literatur und Realität im Tagebuch Franz Kafkas unterscheidet. Hinzu kommt, daß autobiographische Schriften Teil der Biographie des Diaristen sind, sich von ihr nicht lösen lassen. Welche Auswirkungen dies auf den Kommentar haben kann, zeigen das Tagebuch und die Briefe Thomas Manns, hier im besonderen die aufgrund der prominenten Position des Diaristen in seiner Zeit große Zahl der genannten Personenen. Über die aus der Verbindung zur Biographie des Diaristen erwachsende Bedeutung hinaus kennzeichnet unter anderem diese Beispiel aber auch den Grad der Historizität der Aufzeichnung, aus dem sich weitere Bedingungen für den Kommentierungsrahmen ergeben.

Hans-Gert Roloff: Probleme der Edition barocker Texte. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 4, 1972, S.24-69, hier S.24.

Hans-Gerd Koch

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Zur Begriffsbestimmung Bei der Verwendung der Begriffe "Kommentar" und "Kommentierung" greife ich auf einen Abgrenzungsversuch Wolfgang Frühwalds zurück. Danach bezeichnet "Kommentar" jene Erläuterungen zum Text, die innerhalb historisch-kritischer Ausgaben eigentlich nicht Gegenstand des Apparates sind, die nicht im engeren Sinne der Darstellung der Textgenese oder überhaupt der Textdokumentation dienen, die auch nicht, wie vielleicht häufig ein Kapitel "Überlieferung", unmittelbar und ausschließlich auf die Textkritk bezogen sind. 2

Der Begriff soll also als einheitliche Bezeichnung für den Realkommentar gelten, "der gesichertes, wenn auch oft neu erschlossenes Wissen zum besseren Verständnis der edierten Texte mitteilt" 3 und, über kurze Sacherläuterungen oder Anmerkungen hinausgehend, Zusammenhänge darstellt. 1. Leitprinzip: Textbezogenheit Seine Grenzen erreicht dieser Realkommentar nach übereinstimmender Ansicht der meisten Editoren dort, wo Sachverhalte und Begriffe in allgemeinen Laxika nachgeschlagen werden können. Die Erläuterungen sollen "nicht zur Auslegung, der Interpretation werden und müssen auch noch so verlockende biographische, literatur-, kultur- und sprachgeschichtliche Exkurse vermeiden"; 4 darüber hinaus haben sie "vor der nicht belegbaren Hypothese Halt zu machen". 5 Was das viel diskutierte Verhältnis von Kommentar und Interpretation anbelangt, so stellt Herbert Kraft heraus, daß Kommentierung zwar immer interpretatorisch ist, allerdings "ohne das ein Kommentar schon deshalb eine Interpretation wäre; diese steht als andere wissenschaftliche Textsorte unter anderen Bedingungen". 6 Die besondere Kenntnis des edierten Textes, über die der Herausgeber zweifellos verfügt, muß in den Kommentar einfließen, doch gilt es, dabei die Grenzen der Textsorte zu beachten. Was über sie hinausgeht, aber für die Auseinandersetzung mit dem rezipierten Text auf einer anderen Ebene bedeutsam sein kann, muß in anderer Form zugänglich gemacht werden. Aufgabe der kommentierten Edition ist es, dazu den verläßlichen Text bereitzustellen und mit dem Kommentar

L

3

4

5 6

Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben. In: Probleme der Kommentierung. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter MüllerSeidel. Boppard 1975, S.13-32, hier S.16. Manfred Windfuhr: Herausgeberbericht. Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von M.Windfuhr. Bd.I/2: Buch der Lieder: Apparat. Bearb. von P. Greppin. Hamburg 1975, S.1271. - Mit der Verwendung des Begriffs "Realkommentar" grenzt Windfuhr die Erläuterungen von der "monographischen oder interpretatorischen Behandlung" (ebda.) ab. Hans-Ulrich Simon: Lesearten und Erläuterungen. Vorbemerkung. Eduard Mörike. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von H.-H. Krummacher, H. Meyer und B. Zeller, Bd.13: Briefe 1839-1841. Hrsg. von H.-U. Simon. Stuttgart 1988, S.282. Manfred Windfuhr, Herausgebeibericht, S.1271. Herbert Kraft: Rezeption und Historizität. In: Ders., Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S.183.

Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften

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eine Erschließungsarbeit zu leisten, ohne aber dem Benutzer "Meinungen", "Urteile" usw. suggerieren zu wollen. Nicht die Erarbeitung des Textes soll dem Benutzer abgenommen werden, sondern die jedem Falle mühselige und zeitraubende Materialermittlung.7

Geht der Kommentar über seine textbegleitende Funktion hinaus, beschränkt er u.U. die Texterkenntnis des Benutzers, dessen Möglichkeiten zum freien, selbständigen Umgang mit dem Text. Die hermeneutische Funktion des Kommentars besteht dagegen gerade darin, den durch die Textrezeption ausgelösten Erkenntnisvorgang zu fördern und zu unterstützen, das bei der Lektüre entstehende Bild dort, wo seine Hilfe in Anspruch genommen wird, zu ergänzen, bei Bedarf abfragbare Hilfen auf dem Weg zu eigenen Resultaten anzubieten. Das Verhältnis von Kommentar und Text ist nicht "das eines freien Spiels der Differenzen, sondern einer sachbezogenen und sich der Sache, dem kommentierten Text selbst, unterwerfenden Intertextualität",8 formuliert dazu Karlheinz Stierle als Theoretiker der Allgemeinen Literaturwissenschaft. Für die Praxis der Kommentierung läßt sich daher als erstes Leitprinzip die Forderung nach der Textbezogenheit aller Erläuterungenaufstellen. Der nach diesem Leitprinzip erstellte Kommentar hat als Wegbegleiter des Lesers bei der Textlektüre ein Höchstmaß an Information bereitzuhalten, um bei Bedarf die unterschiedlichsten Erläuterungen liefern zu können, gleich, ob zu einer dichterischen Phantasieschöpfung oder zu autobiographischen Schriften, d.h. der Wiederspiegelung subjektiv erfahrener Wirklichkeit. Der Bedingungsrahmen, den Manfred Fuhrmann für die Kommentierung literarischer Werke mit den Begriffen "primäre Dunkelheit" und "sekundäre Dunkelheit" umreißt, 9 läßt sich denn auch auf die Kommentierung von Tagebüchern unfd Briefen übertragen: Primäre Dunkelheit findet sich überall dort, wo der Autor - aus welchen Gründen auch immer - seine Eintragungen verschlüsselt. (Als Beispiel sei hier auf die Verwendung von astronomischen Symbolen für Personen in Goethes Tagebüchern verwiesen.) Sekundäre Dunkelheit ergibt sich aus der Historizität der Aufzeichnungen, daraus, daß "ein Teil der in dem Text vorkommenden Worte und Dinge aufgehört [hat], zur Lebenswlt der nunmehrigen Leserschaft zu gehören", 10 aus der zeitlichen oder kulturellen Distanz. Häufig wird die Verwandschaft von Tagebüchern mit Briefen hervorgehoben und die ähnliche Kommunikationssituation, in der beide stehen. Beiden Gattungen ist zu eigen, daß sie oftmals in knappster sprachlicher Form Informationen enthalten, deren Bedeutung dem Empfanger des Briefes oder dem Diaristen geläufig war, bei deren Erschließung der Benutzer einer entsprechenden Edition aber auf die Hilfe des Kommentars angewiesen ist. Aus der besonderen Kommunikationssituation des Tagebuchs, die in der Regel kein Gegenüber, keinen anderen Leser als den Autor selbst intendiert, ergibt sich

7 Hans-Gert Roloff: Probleme der Edition barocker Texte. Quellen der Barockforschung. Jahrbuch für Internationale Germanistik 4 (1972), H.2, S.65. 8 Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität, S.149. 9 Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker: Was man von einem guten Kommentar erwarten darf. Klassiker Magazin 3. Frankfurt 1988, S.ll. 10 Ebda.

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Hans-Gerd Koch

eine noch größere Sparsamkeit im verbalen Aufwand und ein entsprechend reicherer Gebrauch der je spezifischen Kürzel, Siglen, Zeichen, Hüllwörter als im Brief, da hier der Schreiber auf den mit ihm identischen 'erwarteten Leser* keine Rücksichten nehmen muß. 11

Diese Form der primären Dunkelheit vermischt sich mit Formen sekundärer Dunkelheit, die dadurch entstehen, daß im allgemeinen Briefe und Tagebuch-Aufzeichnungen in vielfacher Weise individuelle Kenntnisse und Wahrnehmungen der jeweiligen Lebenssituation voraussetzten, die ihrerseits textlich nicht thematisiert sind.

Der aus diesen Besonderheiten sich ergebende Bedingungsrahmen für autobiographische Schriften führt in der Kommentarpraxis zu drei Erläuterungskomplexen, deren größter in der Regel die Verifizierung und Darstellung des biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrundes ist (1). Hierzu zählen die Erläuterungen zu den genannten Personen (entsprechend ihrer Bedeutung für das Verständnis der Aufzeichnungen), ferner Begebenheiten im Leben des Autors, die in seinem Aufzeichnungen ihren Niederschlag gefunden haben. Aber auch erwähnte historische Personen und zeitgeschichtliche Ereignisse; allerdings sind die Grenzen der Erläuterungsbedürftigkeit in diesen Fällen fließend, ebenso bei erwähnten Orten, deren Zuordnung zu starten oder Benennung sich z.B. durch historische Entwicklungen verändert hat. Hier ist im Einzelfall vom Editor zu entscheiden, was bereits der Erläuterung bedarf oder als noch bekannt vorausgesetzt werden kann. Der zweite Erläuterungskomplex umfaßt den sprachlichen Bereich (2). Regionale, autorspezifische und historische Eigentümlichkeiten müssen kommentiert werden, wenn sich der Sinn von Textstellen nicht zweifelsfrei erschließen läßt oder falsch aufgefaßt werden könnte. Angesichts der Auflösung von durch einen gewissen Bildungsstand definierten sozialen Schichten (etwa dem sogenannten "Bildungsbürgertum") und der damit für heutige Editionen nicht mehr gegebenen Orientierung nach eindeutigen Zielgruppen, sollten fremdsprachige Textpassagen grundsätzlich - allenfalls mit Ausnahme des als Lingua franca zu betrachtenden Englischen - übersetzt, nicht allgemein gebräuchliche Fremdwörter in ihrer Bedeutung erläutert werden. Auf historische Verschiebungen in der Bedeutung einzelner Wörter muß der Kommentar in jedem Fall eingehen. Die Verwendung fremdsprachiger Wörter und Redewendungen sowie die Einbindung solcher Passagen in die eigenen Aufzeichnungen geben einen Hinweis auf den Bildungsstand des Autors; regional gebräuchliche Ausdrücke können auf seine Herkunft verweisen, historisch gewordene Begriffe über die engere Entstehungszeit der Aufzeichnungen hinaus auf die den Sprachgebrauch prägende Epoche. Deutlicher und direkter als literarische Werke dokumentieren autobiographische Aufzeichnungen das Rezeptionsverhalten. Daraus ergibt sich der dritte Erläuterungskomplex: Der Nachweis von Quellen (3), wobei dies sowohl für Gelesenes als auch für Gehörtes oder Gesehenes gilt Dem Kommentar fällt die Aufgabe zu, bibliographische Angaben zu

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Urich Joost: Lichtenbergs 'geheime' Tagebücher: Probleme ihrer Edition und Kommentierung. In: Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Hrsg. von M. Werner und W. Woesler. Bern u.a.O., 1987, S.231. Klaus Hurlebusch: 'Überrest' und Tradition': Editionsprobleme von Tagebüchern, dargestellt an Klopstocks Arbeitstagebuch. In: Edition et Manuscrits, vgl. Anm.ll, S.121.

Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer

Schriften

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Lektürenotizen, zu Zitaten und Exzerpten, zu Beschreibungen sowie zu Anspielungen jeglicher Art zu liefern. In der Regel sollte es hierbei die authentischen Quellen im Wortlaut zitieren, insbesondere aber bei nicht allgemein zugänglichen Quellen und Abweichungen von der Vorlage. Sofern es sich um autobiographische Aufzeichnungen eines Schriftstellers handelt, läßt sich ein zusätzlicher, vierter Erläuterungskomplex definieren: Er betrifft die Bezüge zum dichterischen Werk. Tagebücher können Entwürfe zu literarischen Texten, Skizzen, Vorstufen, erste Fassungen und vollständige Niederschriften enthalten, kommentierende Äußerungen in Briefen die Entstehung eines Werkes begleitet haben. Aufgabe des Kommentars ist es, diese Zusammenhänge aufzuweisen, Bezüge herzustellen. Über die Notwendigkeit, zu den genannten Komplexen Erläuterungen zu geben, besteht bei Editoren eine grudsätzliche Übereinstimmung, betrachtet man die Ausführungen zur jeweiligen Praxis. Unterschiede in der praktischen Ausführung ergeben sich aufgrund der jeweiligen Prinzipien, die - unter Berücksichtigung der idividuellen Anforderungen des zu kommentierenden Textes - vom jeweiligen Editor zu diesen Komplexen zu erstellen sind, sowie aufgrund der Ermessensfreiheit, die sich er sich selbst bei der Anwendung seiner Prinzipien einräumt.

2. Leitprinzip: Benutzerfreundlichkeit Unterschiede ergeben sich aber auch aus der Anlage des Kommentars, daraus, welche äußere Form für den Kommentar gewählt wird. In der Regel erfolgt die Kommentierung als Stellenkommentar, sei es in Form von Fußnoten unter bzw. hinter dem Text oder aber in einem separaten Band. Unterschiede im Aufbau können sich durch Kommentarformen ergeben, welche diese herkömmliche Form variieren. Dazu zählen Sammelanmerkungen, vor allem aber Abschnittkommentare, die den Erläuterungen zu einzelnen Stellen übergeordnet sind und somit der Kommentierung größerer, zusammenhängender Textpassagen dienen sowie übergreifend Sinnzusammenhänge herstellen. Über die punktuelle Verständnishilfe hinausgehend, sind sie von ihrer Funktion her auf einer höheren hermeneutischen Ebene angesiedelt als der Stellenkommentar: erfüllen sie doch Aufgaben, die dessen begrenzten Rahmen überschreiten würden. Welche Form der Kommentierung im Einzelfall auch gewählt werden mag, die Anlage des Kommentars sollte unter dem Leitprinzip der Benutzerfreundlichkeit, der leichten Handhabbarkeit stehen. Der formale Aufbau des Kommentars muß gewährleisten, daß alle enthaltenen Informationen leicht auffindbar sind und der Benutzer sich nicht erst umständlich über die Wege zur Auffindung informieren muß. Register sollten so angelegt sein, daß sie ihre sekundierenden Funktion bei der Benutzung gerecht wenden. Die Systematik des Bandes sollte auch ohne langwieriges Studium von Vorbemerkungen, oder, falls diese sich gar ausschweigen, ohne mühsame Erschließungsarbeit durchschaubar sein. Verbindliche Regeln für den Umfang eines Kommentars aufzustellen, etwa in prozentualen Relationen zu Umfang des kommentierenden Textes, erscheint unsinnig angesichts der unterschiedlichen Texttypen und der text- und autorspezifischen Erläuterungs-

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bedürftigkeit. Versteht man den Kommentar als eine die Rezeption begleitende und unterstützende Textsorte und nicht als Beitrag zur Sekundärliteratur über den Text, liegt es nahe, eine gewisse Knappheit in den Erläuterungen anzustreben. Auf formaler Ebene bieten sich Sammelanmerkungen und Stellenkommentare zur Raffung an. Im Rahmen historisch-kritischer Ausgaben kann zusätzlich auch das Zusammenspiel von Apparat und Kommentar dazu beitragen. Im Apparat enthaltende Darlegungen zur Textentstehung können für in einem gemeinsamen Kontext stehende Niederschriften eine erläuternde Funktion übernehmen, auf dem Kommentar zu den einzelnen Textstellen, wo sie in dieser Ausführlichkeit nicht erfolgen können, bei Bedarf hingewiesen wird. An dieser Stelle auch ein Wort zur Bedeutung des Editionstyps: Historisch-kritische Ausgaben sowie Studien- und Leseausgaben wenden sich traditionell an Benutzer mit eher fachwissenschaftlich ausgerichtetem Erkenntnisinteresse und Anspruch, was Inhalt und Anlage des Kommentars anbelangt. Für neuere Editionen ergibt sich allerdings mehr und mehr das Problem, möglichst vielen Ansprüchen gerecht zu werden. Manfred Fuhrmanns Feststellung, man komme "gar nicht umhin, bei seiner kommentierenden Tätigkeit einen einheitlichen, und zwar einen einheitlich niedrigen Wissenstand vorauszusetzen", man müsse "so ziemlich alles erläutern, was einst zum Kanon der bürgerlichen Allgemeinbildung gehört hat", 13 bezieht sich zwar zunächst auf Editionen, die sich - wie die Bibliothek deutscher Klassiker - an ein breites Lesepublikum wenden. Der Erkenntnis entsprechend, daß es "keine Gruppen und Schichten mehr [gibt], denen ein je spezifisches Bildungsniveau ein charakteristisches Profil" verleiht, 14 sollten aber auch neuere Editionen mit wissenschaftlichem Anspruch keiner eindeutigen Zielgruppendefinition mehr folgen, sondern in der Praxis die theoretische Forderung nach "Kreuzung zielgruppenorientierter Kommentartypen"15 erfüllen.

Folgerung für die Praxis In der Editionspraxis ergibt sich daraus eine Vielzahl in Niveau und Umfang unterschiedlicher Formen der Kommentierung. Übersetzungen einzelner Wörter und kurze Sacherklärungen können sich mit Kurzbiographien, Darstellungen zu persönlichen Beziehungen und Verbindeungen sowie zu zeitgeschichtlichen Ereignissen mischen, kurze Essays zur Einführung in angesprochene Problemkreise sowie zur Werkgenese und zu Verbindungen zwischen Tagebuch oder Brief und Werk hinzutreten. Autobiographische Schriften verlangen also einen in der Form flexiblen Kommentar, was die Anlage und das hermeneutische Niveau angeht. Für die Kommetarpraxis über allgemeine Vorgaben hinausgehende präzise Regeln aufzustellen, ist deshalb kaum möglich. Der

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Manfred Fuhrmann: Komentierte Klassiker? Über die Erläuterungsbedürftigkeit der klassischen deutschen Literatur. In: Warum Klassiker? Gin Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg. von G. Honnefelder. Frankfurt 1985, S.55f. Ebda Wolfgang Frühwald: Zusammenfassung der Diskussion 1972. In: Probleme der Kommentierung, vgl. Anm.2, S.209.

Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften

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ideale Kommentar wird sich zwischen den Extremen des "Minimalkommentars", einer Art "Kompilation lexikalischen Minimalwissens", und des "Universalkommentars", einer "allgemeine[n] Kulturgeschichte in Fragmenten", 16 bewegen; formal kann er je nachdem als Stellen- oder als Abschnittkommentar sinnvoll und zweckmäßig sein. Bei der Wahl der jeweils zweckmäßigen Kommentarform sollte sich der Komentator der Bedingung bewußt sein, die sich für die Anlage des Kommentars aus der Textsorte und der Art, wie diese rezipiert wird, ergeben. Tagebücher und Briefe werden beispielsweise oft als Quelle für Angaben (etwa zur Biographie) nur punktuell benutzt und nicht kontinuierlich gelesen. Diesem Rezeptionsverhalten entsprechend, sollten im Kommentar einmal gegebene Informationen im Weiteren nicht stillschweigend vorausgesetzt werden, zumindest aber Uber das Register wiederauffindbar sein. Im Einzelfall liegt es im Ermessen des Kommentators, zu entscheiden, ob der Kontext einer Textstelle eine Erläuterung überflüssig macht, ob der Sachverhalt aufgrund eines vorauszusetzenden allgemeinen Bildungsstandes als zumindest in den Grundzügen bekannt angesehen weiden kann, oder ob eine Annotation notwendig ist. Der Kommentar sollte sich allerdings nie auf das Niveau einer bestimmten, vorausgesetzten Lesergruppe einstellen. Ein solchermaßen konzipierter Kommentar würde seiner Aufgabenstellung gerecht. Das Niveau eines Kommentars wird vom Wissensstand des jeweiligen Benutzers bestimmt, der das von ihm an Information Benötigte, seinen "persönlichen Kommentar",aus dem Gebotenen auswählt. Hält der Kommentar die gesuchten Informationen leicht auffindbar bereit, wird der Rezipient ihn als sachgerecht und angemessen empfinden; muß er die gewünschten Erläuterungen mühsam aus einer Fülle von ihm nicht benötigter Informationen herausfiltern, entsteht bei ihm bald der Eindruck der "ÜberKommentierung"; fehlen die erwarteten Erläuterungen, ist der Kommentar nicht sachgerecht, zu elitär oder zu dürftig, je nachdem. Was das Reizwort 'Über-Kommentierung' angeht, so ist dies in quantitativer Hinsicht sicherlich eine weitgehend subjektives Urteil, das nicht zuletzt von der äußeren Form des Kommentars abhängt. Objektiv kann es Über-Kommentierung im quantitaven Sinn nicht geben, solange die prinzipiellen Grenzen nicht überschritten werden und der Kommentar sich nur auf die zur Erhellung der betreffenden Textstelle erforderlichen und in anderen Quellen nicht ohne weiteres verfügbaren Informationen beschränkt. Ihn in diesem Zusammenhang in theoretischen Überlegungen von vornherein auf eine prozentualen Verhältnis kleinere, fixe Größe im Verhältnis zum Textumfang festzulegen, oder seinen Umfang gar zum Maßstab der Beurteilung zu machen, erscheint unsinnig. Bezugsgröße für den Umfang des Kommentars ist allein die Kommentierungsbedürftigkeit des Textes. Noch einmal zusammenfassend: Der Bedingungsrahmen für die Komemntierung von autobiographischen Schriften wird bestimmt: (1) durch die Textsorte sowie durch die Funktionen, die sie für den Autor

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Helmut Koopmann: Für eine argumentative Edition: Probleme der Kommentierung am Beispiel der Philosophischen Schriften Schillers und Eichendorffs 'Ahnung und Gegenwart'. In: Edition et Manuscrits, vgl. Anm.ll, S.48.

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erfüllt; (2) durch den Grad an primärer und sekundärer Dunkelheit der Aufzeichnungen; (3) durch die Biographie des Autors. Das zu diesem Bildungsrahmen vom Kommentator für seine Arbeit zu entwickelnde Kommentarkonzept beinhaltet das Erstellen von Prinzipien zu den vier Erläuterungskomplexen (1) Biographie und Zeitgeschichte, (2) Sprache, (3) Rezeption und (4) Werkbezüge; die Anwendung diesr Prinzipien, die eigentliche Komemntierung, erfogt unter dem Leitprinzip der Textbezogenheit; die gesamte Anlage des Kommentars steht unter dem Leitprinzip der Benutzerfreundlichkeit, d.h. das Ordnungssystem muß für den Benutzer leicht durchschaubar, alle Informationen müssen schnell auffindbar sein. Die Leitprinzipien Textbezogenheit und Benutzerfreundlichkeit können nur als Richtlinien fungieren; ein absolutes Einverständnis über das Zuviel oder Zuwenig sowie über das Sinnvolle und das Praktische kann nicht bestehen. Den perfekten Kommentar kann es nicht geben, er kann nur angestrebt werden: Es gibt keine Patentlösung für die Kommentierung. Es gibt vorbildliche Kommentare; sie können aber allenfalls in der praktischen Anwendung der Leitprinzipien Anregungen für andere Editionen geben. Mit den zwei Leitprinzipien und den dargestellten Erläuterungskomplexen sind die Voraussetzungen, eine Art "Rahmenmodell", für die Kommentierung gegeben; die Details der Umsetzung in die Kommentarpraxis hängen weitgehend vom jeweiligen zu kommentierenden Text und schließlich vom Kommentator selbst ab. Die nach seinem Ermessen erfolgte Kommentierung, die von ihm vorgenommene Umsetzung der allgemeinen Vorgaben in die Praxis muß von ihm begründet werden, zumindest aber von der Anlage her für den Benutzer der Edition nachvollziehbar sein. Die gilt sowohl für die Form des Kommentars als auch für den Inhalt. Hinter den Visionen des idealen Kommentars, die von Editionstheoretikern wie Ulfert Ricklefs überzeugend entworfen werden, 17 wird die Praxis naturgemäß stets zurückbleiben. Ihren Sinn erfüllen sie, wenn sie dazu führen, daß die Methoden, Aspekte und Fragestellungen zum Komplex "Herausgeben und Erläutern" überdacht und - den veränderten Bedingungen des editionswissenschaftlichen Erkenntnisstandes und des Rezeptionsverhaltens entsprechend - in die Praxis umgestzt werden.

Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme der Kommentierung, vgl. Anm.2, S.33-74.

Walter Hettche

Die Autobiographie als Sonderfall für die Kommentierung am Beispiel von Goethes "Dichtung und Wahrheit" "Ein Herausgeber muß alles wissen." (Gustav von Loeper) Jeder Kommentator wird, wenn er sich lange genug mit einem Werk befaßt hat, unweigerlich zu dem Schluß kommen, bei 'seinem' Text handle es sich ohne Zweifel um einen Sonderfall, ein Unikum, das sich von jedem anderen Text in jeder Hinsicht unterscheidet und ganz außergewöhnliche Anforderungen an die Kärrnerarbeit des Kommentierens stellt. Wie in allen Übertreibungen liegt auch in dieser ein Körnchen Wahrheit. Die Besonderheiten des einzelnen Textes bedingen freilich nicht, daß für jedes Werk die Aufgaben, die der Kommentar zu erfüllen hat, neu definiert und die Techniken der Kommentarpraxis neu entwickelt werden müssen. Gleichwohl gibt es bestimmte Gattungen, die sich hinsichtlich ihrer Kommentarbedürftigkeit und Kommentierbarkeit von anderen Gattungen unterscheiden. Innerhalb der Gattung Autobiographie wiederum erscheint Goethes "Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit" aus vielen Gründen als ein Beispiel, an dem sich die Spezifika des Kommentars zu einer Autobiographie besonders gut erläutern lassen. Schließlich hat Goethe selbst im "Vorwort" zu "Dichtung und Wahrheit" angedeutet, daß seine Autobiographie ohne erläuternde Zusätze nicht angemessen verstanden werden kann, indem er formulierte, daß seine "Arbeit" eines Vorworts "vielleicht mehr als eine andere bedürfen möchte" (I, S.71),1 und er hat sich selbst gelegentlich auf Leseranfragen mit einem eigenen Kommentar zu einzelnen Stellen geäußert.2 Die Besonderheit der Autobiographie beruht auf ihrer Stellung an der Grenze zwischen historischer Faktizität und ästhetischer Fiktionalität.3 Die Autobiographie ist darum auch eine der kommentarbedürftigsten Gattungen: Fakt und Fiktion gehen ineinander über, und die Trennung zwischen beiden Bereichen ist für den Leser kaum möglich ohne kommentierende Hilfestellung, ohne die Präsentation von Dokumenten und Informationen, die den fiktionalen oder historisch-faktischen Charakter der kommentierten Textstelle transparent machen. Der Kommentar erschließt die ästhetische Eigenart des Textes und verhindert so, daß die Autobiographie auf undifferenzierte Weise als Quellentext von unbezweifelter Korrektheit rezipiert wird. Der Kommentar muß mithin sowohl

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Zitate aus "Dichtung und Wahrheit" werden künftig direkt im Text mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl belegt nach der Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Walter Hettche. Bd.I: Text, Bd.II: Kommentar, Nachwort, Register. Stuttgart, 1991. So im Brief an Karl Friedrich Reinhard vom 13. Februar 1812 (II, S.1S) und an Karl Friedrich Zelter vom 15. Februar 1830 (II, S.47f.). Goethe selbst spricht im Vorwort von "halb poetische[r], halb historische[r] Behandlung" (I, S.10).

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dem dokumentarischen als auch dem literarischen Charakter des Textes Rechnung tragen: Anders als im Falle der Kommentierung von Briefen und Tagebüchern muß bei der sachlichen Erläuterung von Personen, Orten, Daten, Ereignissen, Zitaten etc. stets die Möglichkeit einer ästhetischen Wirkungsabsicht des Autors bedacht werden. Dies gilt in besonderem Maße, wenn der Autobiograph die Spannung zwischen "Wahrheit" und "Dichtung" theoretisch reflektiert und als Strukturelement seiner Lebensbeschreibung funktionalisiert, wie es Goethe im Vorwort zu "Dichtung und Wahrheit" und im Brief an König Ludwig I. von Bayern vom 17. Dezember 1829 getan und erläutert hat. Doch auch wenn andere Autobiographen nicht ausdrücklich auf diese Spannung zwischen Historizität und Fiktionalität hingewiesen haben, so muß doch grundsätzlich in jeder Autobiographie mit ihr gerechnet werden. Sie läßt sich strenggenommen als konstitutives Element der Gattung Autobiographie begreifen. Eine wesentliche Aufgabe des Kommentators einer Autobiographie besteht also in der Aufdeckung solcher Widersprüche zwischen Fakt und Fiktion. So kann ein historisch 'falsches' Datum in jeder Autobiographie ein Irrtum, aber auch ein bewußter Akt der Verschleierung sein. Der Kommentar muß auf solche Möglichkeiten hinweisen, ohne eine Wertung oder gar Deutung zu versuchen. Anders wiederum als im Falle der Kommentierung von fiktionalen Texten, bei der es wesentlich auf die Erhellung dunkler Stellen, auf Quellen- und Querverweise u.ä. ankommt, muß bei der Kommentierung einer Autobiographie zusätzlich berücksichtigt werden, daß sie vielfach nicht als fiktionaler Text rezipiert wird, sondern selbst Quellenstatus annimmt. Nicht umsonst wird in Robert Steigers Chronik "Goethes Leben von Tag zu Tag" für die ersten Lebensjahre Goethes kaum eine andere 'Quelle' zitiert als eben "Dichtung und Wahrheit". Für die Kommentarpraxis ergibt sich aus dieser Problemlage die Notwendigkeit, eine Fülle von zeitgenössischen Dokumenten zu befragen und im Kommentar möglichst ausführlich zu Wort kommen zu lassen, um die in der Autobiographie gegebene Darstellung entweder als historisch korrekt oder als historisch falsch bestimmen zu können, wobei solche Feststellungen nicht als Besserwisserei zu verstehen sind, sondern als Mittel zur Interpretation der ästhetischen Komponente der Autobiographie. Dazu einige Beispiele aus "Dichtung und Wahrheit". Die Erläuterung, oft auch allererst die Ermittlung von Personennamen ist eine Hauptaufgabe gerade des Kommentators einer Autobiographie. Goethe selbst ist ein Gewährsmann für die Rechtfertigung eines solchen 'kriminalistischen' Interesses auch an den Biographien der - vermeintlichen - Nebenfiguren in "Dichtung und Wahrheit". In der 1806 entstandenen Rezension der "Bildnisse jetzt lebener Berliner Gelehrten" schreibt er über die Autobiographie Johannes von Müllers: "Wie liebenswürdig hat er sich [...] des grossen Vorteils eines Selbstbiographen bedient, daß er gute, wackere, jedoch für die Welt im Großen unbedeutende Menschen, als Eltern, Lehrer, Verwandte, Gespielen, namentlich vorführte, und sie als ein vorzüglicher Mensch ins Gefolge seines bedeutenden Daseins mit aufnahm!" 4 Auch aus dem Vorwort zu "Dichtung und Wahrheit" läßt sich

Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 24 Bde. und 3 Ergänzungsbde. Hrsg. von Emst Beutler. Stuttgart/Zürich, 1948ff. Bd.XIV: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Fritz Strich (1960, 2 1964), S.229. (Künftig: GA).

Die Biographie als Sonderfall für die Kommentierung

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die Notwendigkeit begründen, die Identität direkt oder indirekt erwähnter Personen zu ermitteln. Im 3. Buch spricht Goethe von dem Dolmetscher Johann Heinrich Diene, der während der französischen Besetzung Frankfurts im Jahre 1759 im Goethehaus ein und aus ging und von dem es heißt, Goethes Mutter habe ihm "ein Kind aus der Taufe gehoben" (I, S.91). Handelte es sich bei "Dichtung und Wahrheit" um einen fiktionalen Text etwa einen Roman - , bedürfte eine solche Stelle kaum eines Kommentars. Doch eingedenk der Worte Goethes über die Bedeutung der Mitmenschen für das eigene Leben sollte der Kommentar zu einer Autobiographie versuchen, solchen Spuren nachzugehen. Die Nachforschung in den Frankfurter Taufbüchern hat sich in dem geschilderten Fall gelohnt, brachte sie doch die Erkenntnis, daß nicht, wie in "Dichtung und Wahrheit" gesagt wird, Goethes Mutter, sondern der noch nicht zehnjährige Johann Wolfgang Goethe selbst der Taufpate des kleinen Johann Wolfgang Diene gewesen ist. Das Ergebnis dieser Recherche im Frankfurter Stadtarchiv lenkt indessen auch den Blick auf einen Zirkel, mit dem man es bei der Arbeit an einem Kommentar nicht selten zu tun hat: Ob eine Textstelle kommentarbedürftig ist, erkennt man oft erst dann, wenn man sie kommentiert hat. 5 In diesem Fall hat die Kommentararbeit einen wichtigen Hinweis für die Interpretation dieser Stelle in "Dichtung und Wahrheit" erbracht, eine Interpretation allerdings, die nicht im Kommentar geleistet werden kann und soll, sondern in einer dafür geeigneten Publikationsform.6 Weniger wichtig für das unmittelbare Verständnis von "Dichtung und Wahrheit", aber dennoch von kulturgeschichtlichem Wert ist die Ermittlung einer zweiten, nur indirekt erwähnten Person. Im 4. Buch erzählt Goethe von der Seidenraupenzucht seines Vaters und sagt, einige "Bekanntschaften in Hanau, wo man die Zucht der Würmer sehr sorgfältig betrieb", hätten ihm "die nächste Veranlassung" zu dieser Liebhaberei gegeben (I, S.128). In Hanau war die Seidenraupenzucht im Jahre 1736 von Landgraf Wilhelm ΙΠ. eingeführt worden. In dem Artikel "Kurze Nachricht von dem Seidenbau bey Hanau" im "Hanauischen Magazin" 7 heißt es: "Die beiden Hauptanlagen zur Wartung und Behandlung der Seidenraupen sind schon seit einiger Zeit [...] unter der Pflege eines aus Languedoc vorlängst verschriebenen und der Sache kundigen Mannes namens Flessier." Dieser Francois Flessier (1703-1785) wird in Johann Caspar Goethes Haushaltsbuch zwischen 1761 und 1770 neunmal erwähnt, meist im Zusammenhang mit Seidenprodukten wie z.B. Strümpfen; oft wird auch nur eine bestimmte Summe verbucht, ohne daß daraus hervorgeht, wofür Goethes Vater sie ausgegeben hat. Es ist also mehr als wahrscheinlich, daß sich hinter den "Bekanntschaften in Hanau" auch dieser F r a n c i s Flessier verbirgt. Wenn mit der Kenntnis dieses Namens für das Verständnis der Autobiographie auch nicht viel gewonnen sein mag, so kann es doch in anderem Zusammenhang einmal wichtig sein, von der Verbindung des Namens Flessier mit

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"Bereits die Besümmung der Lemmata für Erläuterungen ist eine interpretatorische Arbeit"; Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt, 1990, S.185. Vgl. Walter Hettche: Der junge Goethe als Taufpate. Ein bisher unbekanntes Dokument. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1988, S.57-59. 26. Stück, 1778, S.225-228.

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Johann Caspar Goethe und dem Seidenbau in Hanau zu wissen. Auch solche Quellenfunde sollten also im Kommentar mitgeteilt werden - wie man sich umgekehrt auch nicht scheuen sollte, vergebliche Bemühungen um die Identifizierung einer Person, eines Zitats oder eines Werktitels im Kommentar zu offenbaren und ein schlichtes "nicht ermittelt" zu setzen, um Forschungslücken zu markieren. Gustav von Loepers Maximalforderung, ein Herausgeber müsse "alles wissen", ist ohnehin unerfüllbar, und spätere Kommentatoren werden vielleicht fündig. Quellen wie Johann Caspar Goethes Haushaltsbuch oder die Frankfurter Taufbücher geben nicht nur wichtige Hinweise bei der Ermittlung von Personen, sie können auch bei der Kommentierung anderer biographischer Fakten hilfreich sein. Auch dafür ein Beispiel. Goethe beginnt das 1. Buch von "Dichtung und Wahrheit" bekanntlich mit dem Satz: "Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt" (I, S.10). Fände sich dieser Satz in ähnlicher Form in einem Quellendokument, wäre er nicht kommentarbedürftig. Es zeigt sich jedoch erneut, daß der Kommentar einer Autobiographie anderen Gesetzen folgt als der eines Quellendokuments. Auch hier bringt ein Blick in die Frankfurter Taufbücher den Aufschluß, daß es sich bei Goethes Formulierung um ein fiktionales Element innerhalb seiner Autobiographie handelt, denn im Taufbuch ist von Johann Wolfgang Goethe als einem "gestrigen Donnerstags Mittags zwischen 12. und 1. Uhr gebohrnen Sohn" die Rede (Taufbuch 1745-1750). Selbst wenn sich in diesem Fall die Gründe für die historisch 'falsche' Angabe unschwer erkennen lassen - Goethe wollte ohne Zweifel die 'Besonderheit' des eigenen Lebens durch die 'Besonderheit' der Geburtsstunde hervorheben 8 - wird man es im Kommentar bei der Feststellung der Diskrepanz zwischen den beiden Daten belassen und sich eine Deutung versagen. War in den bisher geschilderten Fällen die Verifizierung bzw. Falsifizierung der Behauptungen Goethes ohne große Schwierigkeiten zu leisten, so steht das folgende Beispiel für den Fall eines auch mit Hilfe von externen Quellen nicht lösbaren offensichtlichen Widerspruchs. Im 17. Buch schildert Goethe die Feier zum 17. Geburtstag von Lili Schönemann. Es ist eine der seltenen Stellen in dieser Autobiographie, an denen Goethe ein vollständiges Datum nennt: "Nun aber wird man erwarten daß Lilis Geburtstag welcher den 23. Juni 1775 sich zum 17. Mal wiederholte besonders sollte gefeiert werden" (I, S.746); es folgt die heitere Schilderung, wie Goethe in Offenbach jenes "jammervolle Familienstück" mit dem Titel "Sie kommt nicht!" schreibt und welche Wirkung er damit erzielt. Doch am 23. Juni 1775 hielt Goethe sich nicht in Offenbach auf, sondern in der Schweiz, wie durch vier dort entstandene und von ihm eigenhändig datierte Zeichnungen und durch zahlreiche andere Dokumente zweifelsfrei belegt ist. Dieser offenkundige Widerspruch muß im Kommentar benannt werden, ohne daß dort der Ort für seine Interpretation sein kann. Freilich gibt es Fälle, in denen die bloße Benennung eines Widerspruchs zwischen Text und Quelle dessen Interpretation einschließt. Das gilt besonders für diejenigen Stellen, an denen Goethe eigene Texte aus der Zeit bis 1775 in "Dichtung und Wahrheit" erwähnt oder zitiert und dabei charakteristisch verändert. So spricht er im 18. Buch von Auch die genaue Angabe der Stemenkonstellation deutet darauf hin.

Die Biographie als Sonderfall für die Kommentierung

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seiner 1774 entstandenen Farce "Hanswursts Hochzeit", referiert kurz den Inhalt - die Hochzeit Hanswursts mit Ursel Blandine - und schreibt: "hier findet sich nicht das mindeste Hindernis und das Ganze beruht eigentlich nur darauf, daß das Verlangen der jungen Leute, sich zu besitzen, durch die Anstalten der Hochzeit [...] hingehalten wird" (I, S.770). Das ist eine dezente Formulierung des alten Goethe; das "Verlangen [...], sich zu besitzen" wird im Text von 1774 - der erst im Jahre 1836 veröffentlicht wurde sehr viel deutlicher benannt als in "Dichtung und Wahrheit": "Indes was hab ich mit den Flegeln, / Sie mögen fressen und ich will vögeln" (II, S.325). Ähnlich verhält es sich mit den 'Zitaten' aus dem Tagebuch der ersten Schweizer Reise von 1775, die Goethe in aufschlußreicher Weise verändert. Wenn es in "Dichtung und Wahrheit" heißt, im Tagebuch von 1775 finde sich die Notiz: "Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht" (I, S.793), so wird diese Behauptung durch das Tagebuch selbst korrigiert, denn dort steht nur der knappe Satz: "Gejauchtzt bis Zwölf' (II, S.335), und wenn Goethe in der Autobiographie in 'klassischer1 Syntax formuliert: "An der Matte fand sich der berühmte Ursener Käse und die exaltierten jungen Leute ließen sich einen leidlichen Wein trefflich schmecken um ihr Behagen noch mehr zu erhöhen und ihren Projekten einen phantastischem Schwung zu verleihen" (I, S.797), dann beruht dies auf der wesentlich frischeren Tagebuchnotiz: "an der Matte trefflicher Käss. Sauwohl u. Projeckte" (II, S.337). 9 Das bloße Zitat dieser originalen Passagen im Kommentar führt ohne weiteres zu dem interpretatorischen Schluß, daß Goethe in "Dichtung und Wahrheit" den typischen Duktus des Sturm und Drang in eine gemilderte Foim bringen wollte, um den Eindruck zu erwecken, als habe er keinen großen Anteil an dem Gebaren jener Epoche, von der er in "Dichtung und Wahrheit" immer wieder mit deutlichem Befremden spricht, wobei er auch die eigenen Werke dieser Zeit abwertet - wenn er sie überhaupt einmal erwähnt. 10 Während im Fall des Tagebuchs der Schweizer Reise der Erkenntnisgewinn aus den formalen, sprachlichen Unterschieden zwischen der Quelle und ihrer Umsetzung in "Dichtung und Wahrheit" resultiert, tragen andere Quellentexte auch zur Bewertung des Inhalts einer Aussage des Autobiographen bei. So ist es wichtig zu wissen, daß Goethe die Informationen über die Frankfurter Maler, die während der französischen Besetzung im Haus am Hirschgraben arbeiteten, fast wörtlich aus Henrich Sebastian Hüsgens "Artistischem Magazin" (Frankfurt/Leipzig 1790) zitiert, daß seine überwiegend negative Einschätzung der Tätigkeit des Reichskammergerichts weniger auf eigener Anschauung als auf den kritischen Schriften über die Behörde beruht, die er während der Arbeit an den betreffenden Teilen von "Dichtung und Wahrheit" benutzt hat, und daß manche seiner Äußerungen über Frankfurt auf den eigenen Aufzeichnungen in der "Reise in die Schweiz 1797" basieren. Auch Goethes überwiegend negative, oft sogar boshafte Cha9 Bereits in seinen zur Vorbereitung des entsprechenden Buches von "Dichtung und Wahrheit" diktierten Exzerpten aus dem Tagebuch der Schweizer Reise von 1775 hat Goethe den Ausdruck gemildert: "An der Matte trefflicher Käße. Wildes Behagen und Projekte" (Paralipomenon 131; Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von Siegfried Scheibe. Bd.I: Text, Bd.II: Überlieferung, Variantenverzeichnis, Paralipomena. Berlin, 1970 und 1974. Bd.II, S.590; Hervorhebung W.H. (Künftig: HKA). Ό "Wandrers Sturmlied" beispielsweise nennt er "Halbunsinn" (I, S.559).

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rakteristik seines Vaters wird relativiert, wenn man seine Darstellung mit dem Bild vergleicht, das sich aus der Kenntnis von Johann Caspar Goethes Haushaltsbuch ergibt. Die positive Einschätzung Straßburgs schließlich wird ihrer Eindimensionalität entkleidet, wenn man ihr zeitgenössische Äußerungen Johann Gottfried Herders gegenüberstellt. Goethe schreibt: "Die Straßburger sind leidenschaftliche Spaziergänger und sie haben wohl recht es zu sein. Man mag seine Schritte hinwenden, wohin man will, so findet man teils natürliche, teils [...] künstlich angelegte Lustörter, einen wie den andern besucht und von einem heitern lustigen Völkchen genossen" (I, S.393). Herder hat die Dinge ganz anders gesehen: "Strasburg ist der elendeste, wüsteste, unangenehmste Ort, den ich [...] in meinem Leben gefunden [...]; hier ist einmal kein Wald, kein Ort, wo man mit seinem Buch und Genius einmal im Schatten liege."11 Zu den Quellentexten, die Kommentarfunktionen übernehmen können, gehören auch jene Vorstufen, verworfenen und nicht zur Veröffentlichung gelangten Textteile, die man mit dem Begriff 'Paralipomena' zu umschreiben pflegt. Ihre Bedeutung für den Kommentar sollte nicht unterschätzt werden. So ergeben sich aus der Anlage des "Biographischen Schemas" von 1809 und aus der nicht in die Erstausgabe aufgenommenen Vorrede zum 3. Teil von "Dichtung und Wahrheit" 12 wichtige Aufschlüsse für Goethes ursprüngliche Wirkungsabsichten und ihre Realisation im veröffentlichten Text. Während man solche übergreifenden Bezüge kaum im Kommentar zu einer Textstelle wird unterbringen können, sondern sich dafür einer zusammenhängenden Darstellung etwa in Gestalt eines Nachworts bedient, gibt es Bestandteile der Paralipomena, die unmittelbar auf eine Textstelle zu beziehen sind und zu deren besserem Verständnis beitragen können. Wenn Goethe im 12. Buch schreibt: "Das Prinzip, auf welches sich die sämtlichen Äußerungen Hamanns zurückführen lassen, ist dieses: 'Alles was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich."' (I, S.5S2), so entsteht der Eindruck, es handle sich hier um ein wörtliches Zitat aus Hamanns Schriften. Zieht man jedoch das Paralipomenon 123 hinzu, erweist sich der Satz als eine Formulierung Goethes: "Hamann hatte Keine Lehre als für den Gesamtgebrauch unsrer Kräfte, Keinen Streit als gegen ihre Vereinzelung."13 Ähnlich verhält es sich mit einem Satz, den Goethe im 18. Buch Johann Heinrich Merck in den Mund legt: '"Dein Bestreben', sagte er, 'deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen und das gibt nichts wie dummes Zeug.'" (I, S.776). Hier belegt das entsprechende Paralipomenon, daß es sich in Wirklichkeit um eine Selbstcharakteristik Goethes handelt: "Meine unablenkbare Richtung dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben. Dagegen die Andern das Poetische zu verwirklichen suchen."14

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An Merck, um den 20. September 1770. Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 17631803. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Bd.I: April 1763 bis April 1771. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar, 1977, S.226. Paralipomenon 122, HKA II, S.581f. Paralipomenon 123, HKA II, S.583. Paralipomenon 138, HKA II, S.616.

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Aus diesen Beispielen wird deutlich, daß es in vielen Fällen sinnvoll ist, Lebensdokumente des Autobiographen und seiner Zeitgenossen wie auch Paralipomena im Kommentar möglichst wörtlich zu zitieren. Neben der weitgehenden Vermeidung subjektiver Eingriffe des Kommentators bei der Paraphrase des jeweiligen Dokuments spricht auch die größere Anschaulichkeit für dieses Verfahren. Wenn etwa Goethe im 6. Buch von "Dichtung und Wahrheit" den Leipziger Professor für Geschichte und Staatsrecht Johann Gottlob Böhme vorstellt und dabei dessen "Haß gegen alles was nach schönen Wissenschaften schmeckte" (I, S.264) hervorhebt, ist es für den Leser sicher von Nutzen, wenn er in einem Kommentar aus einem Brief Böhmes die Bestätigung für Goethes Charakteristik entnehmen kann. Böhme beklagt "den augenscheinlichen Verfall der gründlichen Gelehrsamkeit unserer studierenden Jugend" und meint: "Gewiß sind die Grundursachen davon der seichte und verkehrte Unterricht auf niedern Schulen, und die so genannte schöne Literatur [...] auf der Universität" (II, S.120). 15 Und wenn Goethe im 18. Buch von seinem Besuch bei dem Schweizer Arzt Johannes Hotz erzählt, gewinnt der Kommentar an Farbe, wenn man aus einem Brief Hotz' an Lavater die Sätze zitiert: "Er [Goethe] ließ ein Schnupftuch bei mir zurück, aber ich vermag es nicht, ihm's zurückzuschicken. Dieses Andenken seines Seins bleibt bei mir" (II, S.334). 16 So wünschenswert eine ausführliche Kommentierung mit Hilfe aussagekräftiger Dokumente auch ist: Es bleibt dennoch festzuhalten, daß nicht jede Behauptung, die der Autobiograph im Text aufstellt, auf ihre historische Faktizität überprüft werden kann. Nicht zu jedem Lebensereignis sind entsprechende Quellentexte überliefert, und selbst im Falle eines so gut dokumentierten Lebens wie demjenigen Goethes kann es nicht Aufgabe des Kommentars sein, alles auszubreiten, was je über die dargestellte Epoche im Leben Goethes gesagt und geschrieben worden ist. Der Kommentator ist gezwungen, selektiv vorzugehen, und er sollte sich darüber im klaren sein, daß diese Vorgehensweise bereits einen interpretatorischen Akt bedeutet. 17 In den "Maximen und Reflexionen" heißt es: "Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen." 18 Auf die Kommentierung einer Autobiographie übertragen, ließe sich formulieren: Wo der Autobiograph eine Behauptung aufstellt, ein Urteil ausspricht, eine Begebenheit erzählt, liegt möglicherweise ein 'Kommentandum' verborgen. In solchen Fällen sollte der Kommentator Äußerungen von Zeitgenossen über den gleichen Sachverhalt oder die gleiche Person oder die gleiche Begebenheit heranziehen, aber auch zeitgenössische Äußerungen des Autobiographen selbst, wie die bereits genannten Tagebuchnotizen von der ersten Schweizer Reise. Im Falle Goethes ist diese Arbeit sehr erleichtert, weil es eine Fülle von Dokumentationen gibt ("Gespräche", "Begegnungen und Gespräche", "Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen", "Goethes Leben von Tag zu Tag", Briefwechsel, Tagebücher etc.). ^

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Brief vom 1. Januar 1768, Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt/M. Brief vom 2. Juli 1775. In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherm von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig. 5 in 6 Bden. Stuttgart/Zürich: Artemis 1965-1987. Bd.I, S.150. Vgl. Anm.5. "Maximen und Reflexionen", Nr.713; GAIX, S.594.

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Doch das entbindet den Kommentator nicht von der Pflicht zu eigenen Recherchen. Auch wenn eine Textstelle schon viele Male kommentiert wurde und die bisherigen Kommentare fast wörtlich übereinstimmen, sollte man stets bedenken, daß auch Kommentatoren Menschen sind, die es gerne bequem haben und ihre Erläuterungen auf bereits erschienenen Kommentaren aufbauen. Eine Kontrolle und auch eine erneute Recherche des schon hundertmal Recherchierten ist in vielen Fällen empfehlenswert und kann helfen, Peinlichkeiten zu vermeiden. Ausdrücklich als Warnung vor leichtfertigen Übernahmen aus älteren Kommentaren (die so alt manchmal gar nicht sind) und nicht etwa als schadenfrohes Vorführen der ertappten Sünder wollen die letzten beiden Beispiele verstanden sein. Im 3. Buch von "Dichtung und Wahrheit" stellt Goethe den Königsleutnant Francis de Thöas, Comte de Thoranc vor, der während des Siebenjährigen Krieges im Haus am Hirschgraben einquartiert war. Die Schreibung dieses Namens hat den Kommentatoren immer wieder Rätsel aufgegeben. In der Erstausgabe heißt es: "Es war Graf Thorane" (I, S.89), mit einem e am Schluß. Mittlerweile ist längst belegt, daß die Schreibung mit c also Thoranc - die richtige ist. Immer wieder hat man nun zu erklären versucht, wie es zu der falschen Schreibung 'Thorane' kommen konnte. Richard M. Meyer hat in den Erläuterungen in der "Jubiläumsausgabe" (Cotta, 1903/04) vermutet, sie beruhe "wohl auf der Analogie von französischen Autorennamen, wie Fontanes, und Feldherrennamen, wie Castellane, beide aus napoleonischer Zeit". 19 Selbst mit dem so gründlichen Philologen Erich Trunz geht in diesem Fall die Phantasie durch. In der Hamburger Ausgabe schreibt er: "Als Goethe "Dichtung und Wahrheit" begann, wußte er den Namen des Königsleutnants nicht mehr. Er erkundigte sich in Frankfurt bei Fritz Schlosser. Dieser sah in alten Akten nach und las das c als e; so kommt es, daß Goethe die Namensform Thorane benutzt. Man pflegt heute die richtige Form dafür einzusetzen." 20 Kein Wort davon ist wahr. Schon im 1809 angelegten "Biographischen Schema" wird der Königsleutnant namentlich erwähnt, und schon dort findet sich in Riemers Hand die Schreibung 'Thorane'. 21 Es gibt folglich auch keinen einzigen Brief an Schlosser, in dem Goethe nach dem Namen des Königsleutnants fragt. Dennoch haben sich die späteren Kommentatoren bis hin zu Klaus-Detlef Müller in Band 14 der Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags dieser These angeschlossen. Richtig ist, daß aufgrund der eigenwilligen Unterschrift Thorancs schon seine Zeitgenossen den Namen als 'Thorane' lasen und ihn auch in dieser Form in Versalien auf amtliche Bekanntmachungen druckten.22 Gravierender ist eine durch alle Kommentare mitgeschleppte falsche 'Erläuterung' zum 19. Buch. Sie betrifft keinen Text aus Goethes Feder, sondern eine Stelle aus Lava19

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Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bden. Hrsg. von Eduard von der Hellen [u.a.]. Stuttgart,1902-1907. Bd.XXIl: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Teil. Hrsg. von Richard M. Meyer (1903), S.273. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bden. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg, 1948-1960, Neuaufl.: München, 1981ff. Bd.IX: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Erich Trunz (1955, 10 1982), S.671. (Künfüg: HA). Vgl. HKA II, S.453. Vgl. die Abbildung in der von Richard Wiilker besorgten "Illustrierten Ausgabe" von "Dichtung und Wahrheit", Leipzig: Seemann 1903, S.63.

Die Biographie als Sonderfall für die Kommentierung

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ters "Physiognomischen Fragmenten". Goethe zitiert daraus die Charakteristik der beiden Brüder Stolberg. Über Friedrich Leopold zu Stolberg heißt es dort: "aber der hohe, edle gewaltige! der mit gemäßigtem 'Sonnendurst' in den Regionen der Luft hin- und herwallt, über sich strebt, und wieder [...] zur Erde sich stürzt, in des 'Felsenstromes1 Fluten sich taucht und sich wiegt 'im Donner der hallenden Felsen umher'" (I, S.814).Trunz schreibt zu "Sonnendurst", "Felsenstrom" und "im Donner der hallenden Felsen", es handle sich dabei um "Anklänge an Stolbergsche Dichtungen aus der Zeit um 1775 (keine genauen Zitate)." 23 Alle späteren Kommentatoren haben sich auf diese Angaben verlassen und sie mit geringfügigen Variationen in ihre Erläuterungen übernommen. Ein Blick in Stolbergs Gedichte hätte sie rasch belehrt, daß es sich in der Tat um wörtliche Zitate aus zwei Gedichten Friedrich Leopold zu Stoibergs handelt. In "Der Genius" lautet der fünfte Vers: "Du gabst, Natur, ihm Flug und den Sonnendurst!",24 und in der Ode mit dem Titel "Der Felsenstrom" heißt es: "Wie bist du so furchtbar / Im Donner der hallenden Felsen umher! ", 25 Angesichts solcher Fehlinformationen wird mancher Leser mit Goethes Pfarrer im "Brief des Pastors" ausrufen: "wehe dem Christen der aus Commentaren die Schrift verstehen lernen will", 26 oder er wird gleich Karl Friedrich Zelter zustimmen, der meint: "Wenn die Philologen reden, möchte man sich die Ohren zuhalten." 27 Um solche Reaktionen zu vermeiden, sollte man, wie bei aller philologischen Arbeit, auch beim Schreiben eines Kommentars Goethes Maxime beherzigen: "Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben, irgendwo wieder einmal von vorn zu gründen." 28 Für den Verfasser eines wissenschaftlichen Kommentars wird dieses Recht zur Pflicht, derer er sich stets bewußt sein sollte.

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HA X, S.643. Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. Hrsg. von Heinrich Christian Boie. Karlsruhe, 1783, S.16. Ebda. S.124. "Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu **» " (1773); GA IV, S.135. An Goethe, 2. Februar 1814. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Riemer. 6 Bde. Berlin,1833-1834. Bd.II, S.91. "Maximen und Reflexionen", Nr.548; GA IX, S.570.

Jochen Golz

Zu Aufbau und Interdependenz von Erläuterungen und Register bei der Kommentierung von Goethes Tagebüchern

Ein neues editorisches Unternehmen erstmals vorzustellen erweist sich als heikles Unterfangen, noch dazu, wenn es sich wie in unserem Falle um eine neue GoetheEdition handelt. Es mag darum erlaubt sein, dem eigentlichen Thema einige Bemerkungen vorauszuschicken, in denen Rahmenbedingungen skizziert werden sollen, unter denen heute eine neue Ausgabe von Goethes Tagebüchern vonstatten gehen kann. Daß die Erneuerung der Weimarer Goethe-Ausgabe zu den großen, weithin noch uneingelösten Aufgaben der Editionsphilologie gehört, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Verwiesen werden soll hier nur auf die Leopoldina-Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, auf die Ausgabe von Goethes amtlichen Schriften und auf die Akademie-Ausgabe von Goethes poetischen Werken, die 1949 unter solchen Vorzeichen begründet bzw. konzeptionell verändert worden waren. Im Jahre 1962 war man dann an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar übereingekommen, die Abteilungen III und IV der Weimarer Ausgabe (Tagebücher und Briefe enthaltend) zu erneuern und überdies eine Regestausgabe aller an Goethe gerichteten Briefe zu veranstalten. 1 Aus Gründen, die hier nicht im einzelnen zu erörtern sind, kamen die Arbeiten an der sogenannten "Neuen Weimarer Ausgabe" (NWA) zum Erliegen. Begonnen und fortgeführt wurden hingegen die Arbeiten an der Regestaus- gäbe, von der inzwischen fünf Bände vorliegen. Sieht man einmal von der Leopoldina-Ausgabe und der Regestausgabe ab, die kontinuierlich vorankommen, bis zu ihrem Abschluß gewiß aber noch einen respektablen Zeitraum beanspruchen werden, so ist die Situation insgesamt als unbefriedigend zu bezeichnen, und doppelt bedauerlich erscheint unter diesem Aspekt der Abbruch der Akademie-Ausgabe.2 Seit geraumer Zeit werden darum - nicht zuletzt auch im Vorstand der Goethe-Gesellschaft - Überlegungen angestellt, wie diesem Mißstand zu begegnen sei, und solche Überlegungen standen auch am Beginn einer Beratung, zu der sich am 15. September 1990 Direktoren der einschlägigen Forschungseinrichtungen (Freies Deutsches Hochstift Frankfurt, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Goethe-Museum Düsseldorf, NFG Weimar), dazu editorisch versierte Fachwissenschaftler in der HerzogDazu Hans Böhm: Neue Weimarer Ausgabe. Bemerkungen zur Neubearbeitung der Briefe und Tagebücher Goethes (Abteilungen III und IV der Weimarer Ausgabe). In: Goethe. Neue Folge des Jahr- buchs der Goethe-Gesellschaft Neunundzwanzigster Band, 1967, S. 104-138. Zum wissenschaftspolitischen Kontext dieser Entscheidung vgl. Siegfried Scheibe: Schweipunkte künftiger germanistischer EditionsaibeiL Gesehen aus der Perspektive eines Textologen der DDR. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Bd.l, 1987, S.l-14; dort vor allem S.3f.

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August-Bibliothek Wolfenbüttel auf Initiative ihres Direktors Paul Raabe zusammengefunden hatten. Wenngleich der Vorsatz einer Erneuerung der Weimarer Ausgabe bei den damaligen Gesprächen stets mitreflektiert wurde, so war bei alledem doch von vornherein die Verhältnismäßigkeit der Kräfte und Mittel zu bedenken. Und unter diesem Aspekt erwies es sich bald als ausgemacht, daß das große Ziel nur von verschiedenen Punkten aus angesteuert werden konnte. Außer Betracht mußte zunächst die Erneuerung der WAAbteilung I bleiben, und auch für eine neue Edition der Goethe-Briefe war erst jene Bestandsermittlung zu leisten, wie sie Paul Raabe in vorläufiger Gestalt in drei Ergänzungsbänden zum dtv-Nachdruck der WA vorgelegt hat und wie sie nun als computergestütztes, nach den erreichbaren Quellen recherchiertes Briefrepertorium - Ergebnis eines mehrjährigen Forschungsprojekts - unmittelbar vor dem Abschluß steht.3 Auf Zustimmung stieß darum das Angebot der NFG Weimar, die Erneuerung der Abteilung ΠΙ der WA zu einem Arbeitsschwerpunkt im neugebildeten Bereich für Editionen und Forschung zu machen. Jene Verhältnismäßigkeit der Mittel fand auch in der Überlegung Ausdruck, die eventuell parallel zueinander zu organisierenden editorischen Vorhaben unter den Rahmentitel "Weimarer Goethe-Editionen" zu stellen, damit die Last des Anspruchs, die WA insgesamt erneuern zu wollen, von den Unternehmungen genommen werden konnte. Für eine Neuausgabe der Goetheschen Tagebücher existieren in Weimar objektiv die günstigsten Voraussetzungen. Nicht nur befinden sich die Tagebuch-Handschriften nahezu vollständig im Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs, sondern auch für die anstehende Kommentierung stellen die Weimarer Archive und Sammlungen aus Gründen, die noch zur Sprache kommen werden, den wesentlichen Materialfundus bereit. Nach der Wolfenbütteler Beratung begann in Weimar eine Arbeitsgruppe mit der Vorbereitung der Tagebuchedition, zunächst von Text- und Kommentarproben. Was ich hier vorstellen möchte, ist also ein Werkstattbericht, und es versteht sich bei einem noch sehr vorläufigen Arbeitsstand von selbst, daß meine Bemerkungen möglichst problemoffen gehalten sein sollen, um die Möglichkeit kritischen Debattierens zu eröffnen. Wenngleich sich unsere Tagung vorrangig mit Fragen der Kommentierung befaßt, so kann ich doch aus meinen Bemerkungen Mitteilungen zur Textkonstitution nicht ganz ausschließen - auch und zumal im Hinblick darauf, daß Textkonstitution und Kommentierung in einer Tagebuchedition eine ganz spezifische Verbindung eingehen. Darum zunächst einiges zur Überlieferung der Goetheschen Tagebücher. Mit anderen Autoren Lichtenberg wäre hier z.B. zu nennen - teilt Goethe die Eigenheit, Tagebuchaufzeichnungen in gedruckte Kalender eingetragen zu haben. 4 Einige Sonderfälle beiseite gelassen, existieren im wesentlichen drei Überlieferungsformen. 1. Von 1776 an trug Goethe seine Aufzeichnungen eigenhändig in gedruckte Schreibkalender unterVgl. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Nachträge und Register zur IV. Abteilung: Briefe. Hrsg. von Paul Raabe. Bd. 1-3. München 1990. Dazu Irmtraud Schmid: Auf dem Wege zu einer Gesamtausgabe der Briefe Goethes. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 110,1991, S.515-529. Vgl. Ulrich Joost: Lichtenbergs 'geheime' Tagebücher. Probleme ihrer Edition und Kommentierung. In: Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Hrsg. von Michael Wemer und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt am Main, New York, Paris 1987, S.219-241.

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schiedlicher Herkunft ein; eigenhändig nahm er auch die Datumseintragungen vor. 2. Beginnend mit dem Jahre 1797 verwendete er für die Tagebuchnotizen Exemplare des "Gothaischen verbesserten Schreib-Calenders" (teils durchschossen, teils nicht durchschossen), die jeweils auf der linken Seite ein vorgedrucktes Kalendarium besitzen (zwei Tage auf einer Seite), rechts jeweils Raum für anderweitige Notizen bieten (eigentlich für die Eintragung von Einnahmen und Ausgaben); von diesem Zeitpunkt an werden die Tagebuchnotizen auch zumeist einem Schreiber diktiert. Etwa um 1800 läßt sich in Goethes Eintragungen eine nicht unwichtige Veränderung beobachten. Nunmehr spaltet sich das Tagebuch auf in die eigentliche Aufzeichnung täglicher Verrichtungen (links im Kalendarium befindlich) und in Notizen (auf der rechten Seite), die strenggenommen nicht eigentlich Tagebuchcharakter besitzen: verzeichnet wenden dort vor allem ausgehende Brief- und Paketsendungen ('Expedienda'), aber auch Buchtitel, Lektürezitate, Reflexionen allgemeiner Natur, Bemerkungen hauswirtschaftlichen Inhalts. Hinzu kommen Aufzeichnungen unterschiedlicher Art auf den Vorsatzblättern (vorn und hinten) der Monatskalendarien bzw. des ganzen Jahrgangbandes. 3. Vom 21. März 1817 an läßt Goethe (teils nach Diktat, teils nach Konzept) die Tagebuchaufzeichnungen in halbbrüchige Foliobogen eintragen, die zunächst vierteljahrsweise zwischen stärkere blaue Aktendeckel zusammengeheftet wurden und wahrscheinlich erst nach Goethes Tod jahrgangweise in Halblederbände mit Titelschild und Rückenprägung zusammengebunden worden sind. Von Hand eingetragen wird auch das Kalendarium, strenger disponiert ist nunmehr die Textverteilung. In der rechten Kolumne befindet sich jeweils der fortlaufende Tagebuchtext, links werden, den Tagen zugeordnet, vor allem Aufträge an die Helfer und ausgehende "Expeditionen" notiert. Im Hinblick auf die Textdarbietung ist die Weimarer Ausgabe vor allem in zwei Punkten zu korrigieren: gegenüber der von WA vorgenommenen "Entrohung" 5 des Textes ist strikt den Handschriften zu folgen (im Sinne eines diplomatischen Wiedergabeverfahrens, wie es etwa Brigitte Leuschner beschrieben hat), 6 und analog zur Edition des Klopstockschen Arbeitstagebuchs sind die räumlichen Verhältnisse der Handschrift "nicht in urkundlicher, sondern in struktureller Entsprechung" 7 in den edierten Text zu transponieren. Das heißt zunächst, daß alles, was z.B. in einem Schreibkalenderjahrgang aufgezeichnet ist - auch der Text auf den Vorsatzblättern - , mit entsprechender Kennzeichnung als edierter Text aufzunehmen ist und daß auch Textkolumnen entsprechend wiedergegeben werden müssen (nach unseren augenblicklichen Vorstellungen durch Einrückung nach der jeweiligen Tageseintragung); die Weimarer Ausgabe hat z.B. die am Rande stehende Verzeichnung der ausgehenden Expeditionen unter rigoroser Veränderung der originalen Zeichensetzung in den fortlaufenden Text integriert. Erwähnen will ich noch, daß die Variantenverzeichnung in Gestalt eines negativen Apparates (für den sich die Variantenverzeichnung in Scheibes Edition von

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WA III 2, S.320. Vgl. Brigitte Leuschner: Probleme des diplomatischen Abdrucks bei handschriftlicher Überlieferung mit Beispielen aus Briefe von Therese Huber (Heyne). In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Hrsg. von Martin Stern. Tübingen 1991, S.73-81. So in: Klopstocks Arbeitstagebuch. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 1977, S.204.

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"Dichtung und Wahrheit" 8 als sinnvoll zu nutzendes Modell erwies) am Fuß der jeweiligen Textseite erfolgen soll; erste Entwürfe dafür liegen vor. Dieser Apparat soll zweigeteilt sein: zunächst werden die Schreiber der Handschrift genannt und deskriptive Details aus den Handschriften mitgeteilt, dann folgt die eigentliche Varianten-verzeichnung. Da wir die Ausgabe mit TUSTEP herstellen wollen, bereiten wir die ersten praktischen Arbeitsschritte, typographische Entwürfe und Probeseiten betreffend, gemeinsam mit dem Tübinger Zentrum für Datenverarbeitung und der Firma pagina vor. Detailliert werden Probleme der Textkonstitution in Goethes Tagebüchern auf der Weimarer Editorentagung im Oktober 1993 zur Sprache kommen können. Ein Sonderproblem soll wenigstens noch angedeutet werden. Publiziert werden sollen in der neuen Edition nicht nur die eigentlichen, relativ sicher einzugrenzenden Tagebuchtexte (unter Einschluß der Ephemerides),9 sondern auch Goethes Agenda und Notizbücher. Hier tun sich Schwierigkeiten auf, die im Grunde nur nach Maßgabe einer vollständigen Goethe-Edition angemessen aufzulösen wären und die zudem nur im Zusammenhang mit der Erschließung des Goethebestandes im GSA, wie sie gegenwärtig vollzogen wird, Schritt für Schritt aufzuheben sein werden. So sinnvoll und notwendig die Konstituierung eines neuen Tagebuchtextes auch ist, ihre eigentliche Berechtigung gewinnt die Ausgabe durch die Erarbeitung eines umfassenden Kommentars, der sich ungeachtet aller Vorarbeiten als dringendes Erfordernis der Goetheforschung erweist. Dessen Spezifik jedoch ist nur angemessen zu bestimmen, wenn man sich Aufbau und Struktur der Goetheschen Tagebücher vergegenwärtigt. Habe ich mich im Zusammenhang mit einigen Bemerkungen zur Textkonstitution zunächst mit formalen Aspekten der Tagebücher beschäftigt, so müssen nun inhaltliche Probleme berührt werden. Bezieht man die Ephemerides in die Aufzeichnungen ein, dann hat Goethe über einen Zeitraum von ungefähr 60 Jahren hinweg Tagebuch geführt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren seine Aufzeichnungen nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, bildeten somit einen Teil seines Nachlasses und wurden vollständig erst in der Weimarer Ausgabe ediert, nachdem vorher Teilpublikationen nur gegen den mehr oder minder erheblichen Widerstand der Goethe-Enkel zustande gekommen waren. 10 Nicht für ein Publikum also waren Goethes Tagebücher bestimmt, sondern allein für den Dichter selbst; daraus erklärt sich die Freiheit des Ausdrucks, ihr monologischer Charakter, der Verzicht auf eine kommunikative Struktur, gar auf eine Wirkungsstrategie, wie sie etwa Hebbels Tagebüchern zugeschrieben werden kann. In seinem inneren Aufbau folgt der Tagebuchtext zumeist dem Ablauf eines Lebenstages; stichwortartig, häufig elliptisch verkürzt werden Handlungen, Ereignisse und Begebenheiten festgehalten. Von Beginn an haben Goethes Aufzeichnungen einen 'geschäftsmäßigen' Charakter, sind sie in der 8

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Vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe, bearbeitet von Siegfried Scheibe. Bd.2: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. Berlin 1974, S.7-12. Vgl. Hanna Fischer-Lamberg: Zur Entstehungsgeschichte der Ephemerides. In: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von Ernst Grumach. Berlin 1959, S.91-103. Vgl. Goethes Tagebücher der sechs ersten Weimarischen Jahre (1776-1782). Hrsg. von Heinrich Düntzer. Leipzig 1889, S.3f.

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Tradition des bereits von der Antike sich herschreibenden 'Journals' zu sehen, wie es von Politikern, Kaufleuten oder Ärzten geführt worden war.' 1 Diese sehr allgemeine Zweckbestimmung ist freilich im Laufe eines langen Lebens vielfach modifiziert worden. In den zwischen 1776 und 1782 verfaßten Tagebüchern tritt noch stärker ein Element des Reflektierend-Bekenntnishaften, auch des Narrativen hervor. Hier geben Goethes Aufzeichnungen am ehesten ihre Verwandtschaft mit dem (pietistischen) Tagebuch der Selbsterforschung und des Selbstbekenntnisses zu erkennen. 12 Daß Goethe hier Bekenntnishaftes partiell wirklich ausformuliert und gestaltet hat, macht uns diese Aufzeichnungen als subjektiv authentische Dokumente seiner Welthaltung besonders wertvoll. Grundsätzlich gilt dies auch noch für das Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein. Nach der Rückkehr aus Italien aber verstummt der Tagebuchschreiber Goethe zunächst - Zeichen auch für eine damals sich einstellende tiefe Lebenskrise und die dann Mitte der 90er Jahre einsetzenden diaristischen Aufzeichnungen weisen eine andere Struktur auf. Als ein keineswegs nur äußeres Indiz erweist sich dabei der Wechsel von eigenhändiger Aufzeichnung zur Niederschrift der Diener nach Diktat oder Konzept. Er ist nicht nur Ausdruck Goethescher Arbeitsökonomie, der Fülle der Tagesforderungen auch durch strenge Zeiteinteilung Herr zu werden, es artikuliert sich darin ebenso eine Haltungsethik, die auf Disziplinierung des Subjektiv-Spontanen zielt, dem Innersten, Persönlich-Privaten auch im Tagebuch kaum noch Raum geben will, in entsagungsvoller Pflichterfüllung einen wichtigen Lebenssinn erblickt. Davon Rechenschaft zu geben, täglich Bilanz der Lebensaufgaben (poetischer, wissenschaftlicher, politischer) zu ziehen, im Gegenständlichen die Einheit von Denken und Tun zu bezeichnen wird nunmehr zur Hauptaufgabe des Tagebuchs. Und in dem Maße, wie Goethe sich selbst als kulturelle Instanz begreifen lernt, wie der Mann von fünfzig Jahren im Wechselspiel der fälligen Lebenskrise sich selbst historisch zu werden beginnt, tritt noch ein anderer Aspekt hinzu: das Bemühen, ein "Archiv" 13 seiner selbst einzurichten, die Kontakte mit den Mitlebenden, mit politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen im Tagebuch zu dokumentieren. Darum dann auch die Verzeichnung ausgehender Briefe, die penible Aufzählung von Besuchern. All das nimmt an Intensität noch zu, als Goethes Bewußtsein von der Vorgeschichte seiner selbst in den Vorsatz mündet, dieser Lebensproblematik sich als Erzähler zu stellen, und er nicht ohne Betroffenheit gewahr wird, wie unvollständig und lückenhaft die eigenen Tagebücher als nunmehr für "Dichtung und Wahrheit" (und später auch für andere autobiographische Werke) zu nutzende Quellen ausgefallen waren. So erweist sich der Entschluß, von 1817 an ein eigenes Tagebuchjournal einzurichten, als äußeres Indiz für das Bemühen, mit der "täglichen Buchführung" ernst zu machen, denn dafür erwies sich der Schreibraum in den Kalendern einfach als zu eng. Mit bewundernswerter Energie hat Goethe dies dann im Verein mit seinen Dienern und Helfern bis ans

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Vgl. Gertrud Hager: Grundform und Eigenart von Goethes Tagebüchern. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 25, 1951, S.351-371; vor allem S.354f. Vgl. ebda. S.352f. WA I 36, S.292.

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Lebensende in die Tat umgesetzt. Über den Ertrag der diaristischen Methode für die eigene Lebensführung hat er sich am prägnantesten am 23. August 1827 gegenüber Kanzler von Müller ausgesprochen; die vielzitierte Stelle soll auch hier nicht fehlen: Wir schätzen ohnehin die Gegenwart zu wenig, tun die meisten Dinge frohnweise ab, um ihrer los zu werden. Eine tägliche Übersicht des Geleisteten und Erlebten macht erst, daß man seines Tuns gewahr und froh wird, führt zur Gewissenhaftigkeit. Was ist die Tugend anderes als das wahrhaft Passende in jedem Zustande? Fehler und Irrtümer treten bei solcher täglichen Buchführung mit sich selbst hervor, die Beleuchtung des Vergangnen wuchert für die Zukunft. Wir lernen den Moment würdigen, wenn wir ihn alsobald zu einem historischen machen. 14

Was sich hier im Prinzipiellen Geltung verschafft, kann als Brücke zu unserer Kommentarproblematik betrachtet werden. "Tägliche Buchführung" bedeutet auch, daß sich hier eine Lebensleistung dokumentiert, die in nahezu allen Bereichen der Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft Geltung erlangt. Spiegel nicht nur der Subjektivität sind Goethes Tagebuchaufzeichnungen, sondern ebenso objektiver Reflex einer ganzen geschichtlichen Lebenswelt. Und hinzu tritt das Bemühen, im Prozeß des Aufzeichnens differenzierende Ordnung in die Phänomene zu bringen, durch die schriftlich zu dokumentierende "regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge" 15 Intensität und Anstrengung bei der Bewältigung des selbstauferlegten Pensums zu bezeugen und sich selbsterzieherisch in die Pflicht zu nehmen. Kommentierung, soviel kann hier schon gesagt werden, hat nicht nur die Aufgabe, das historische Detail zu erhellen, sondern auch im raffenden Überblick geschichtliche Zusammenhänge zu vermitteln, die im täglichen Auf und Ab unbemerkt bleiben könnten. Dem Goetheschen Ordnungsdenken, sprachlich auf vielfältige Weise im Tagebuch dokumentiert, ist auf angemessene Weise auch in den Kommentierungsverfahren Rechnung zu tragen. Damit ist das Problem der Interdependenz von Kommentar und Register schon unmittelbar berührt. Bevor aber dazu etwas gesagt wind, muß die generelle Anlage des Kommentars zur Sprache gebracht werden. Die Diskussion unter den Editoren, begonnen auf den DFG-Kolloquien der siebziger Jahre, ob einem hermeneutischen Kommentar, wie ihn damals am entschiedensten Ricklefs forderte, 16 oder einem Sachkommentar der Vorzug zu geben sei, erweist sich im Hinblick auf die Kommentierung autobiographischer Zeugnisse als irrelevant. Im wesentlichen herrscht bei Editoren von Briefen und Tagebüchern Einigkeit darüber, daß solche historischen Zeugnisse vor allem von ihrem Sachgehalt her aufzuschließen sind. Ein Tagebuchkommentar muß in erster Linie über all jene lebensweltlichen Fakten informieren, die im Goetheschen Text komprimiert benannt sind oder auf die nur angespielt oder verwiesen wird. In der Entscheidung darüber, an welchem Ort, im Stellenkommentar oder im Register, Detailinformationen placiert werden, liegt ein wesentliches Problem. Nur mit Bezug auf die innere Struktur von Goethes Tagebüchern läßt es sich angemessen lösen. An einem Beispiel, hier ist Goethes Jenaer Aufenthalt im Frühjahr 1817 herausgegriffen, kann man dies am besten demonstrieren. 14 15 16

Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Hrsg. von Ernst Grumach. Weimar 1959, S.140f. WA I 28, S.209. Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme der Kommentierung. Boppard 1975, S.33-74.

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Am 21. März 1817 fährt Goethe von Weimar nach Jena hinüber. "Gelinde Kälte, umwölkter Himmel, wenige Schneeflocken", 17 so im Tagebuch notiert, begleiten die kurze Reise. Quartier nimmt er wiederum im Jenaer Schloß, das sich an der Stelle befand, wo später das Universitätshauptgebäude errichtet wurde. Das Tagebuch der nächsten Wochen gibt knappe, lakonisch formulierte, auf das Wesentliche zusammengedrängte Auskunft über ein immenses Arbeitspensum, das sich Goethe täglich auferlegt. Einen Schwerpunkt bildet dabei die "Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst". 18 Dazu nur einige Stichworte. Eine Verwaltungsreform für die Universität Jena steht bevor, und Goethe läßt es sich angelegen sein, in Gesprächen mit den Kommissären von Conta und von Hoff Informationen einzuholen und selbst Einfluß auf den Gang der Dinge zu nehmen. Reformiert soll auch die Universitätsbibliothek werden, Baumaßnahmen werden in diesem Zusammenhang eingeleitet. Gefördert wird die Universitätssternwarte, der Goethe - nicht zuletzt durch klugen Umgang mit der spendablen Großherzogin Maria Pawlowna - neue Instrumente zu verschaffen weiß; gebaut werden muß auch dort. In dem Veterinärmediziner Renner, der mehrere Jahre in Rußland gelebt hatte, findet Goethe einen welterfahrenen Gesprächspartner und tüchtigen Wissenschaftler, bei dem er z.B. die "Anat. der Katze" 19 (so im Tagebuch unter dem 23. April 1817) im Seziersaal studiert; die im September 1816 gegründete Veterinäranstalt wird von Goethe tatkräftig gefördert, ihre Mitarbeiter werden gegen mißliebige Jenaer Philister in Schutz genommen. Goethes damals wohl wichtigster wissenschaftlicher Partner in Jena ist der Chemiker Doebereiner, mit dem er das Problem der entoptischen Farben (theoretisch und beim Experimentieren) sowie die Stöchiometrie erörtert. Auch ihm gewährt Goethe in vielfacher Weise Unterstützung. Zu fördern sind zudem die im Schloß befindlichen mineralogischen, botanischen, anatomischen Sammlungen, schließlich auch die Anatomie der Universität selbst, sodann der botanische Garten. Schillers Gartenhaus ist baufällig geworden. Goethe veranlaßt eine Untersuchung der Bausubstanz und vergibt Aufträge an die Handwerker. Literarisch ist er nicht untätig. In Vorbereitung sind das zweite Heft von "Über Kunst und Altertum" und das erste Heft "Zur Morphologie", deren Druck in Jena Goethe direkt überwacht. Drucken läßt er bei Frommann, in dessen Haus er oft zu Gast ist. Nicht minder häufig sucht er Knebel in dessen Haus am Paradies auf. Wie üblich sind die Abende, wenn nicht der Lektüre, dann dem Gespräch und der Geselligkeit gewidmet. Der Kontakt mit Weimar reißt nicht ab, wenngleich es gute Gründe gibt, sich gerade im Frühjahr 1817 von der Residenzstadt zu absentieren, fällt doch in jene Wochen der Konflikt mit der großherzoglichen Mätresse Karoline Jagemann, welche die Bühnenpräsenz eines Pudels protegiert und durch diese wohlkalkulierte Intrige Goethes Abschied von der Theaterleitung provoziert hatte. Die Abberufungsbriefe - einen privaten, einen offiziellen - schreibt ihm Carl August im April 1817 nach Jena. Doch bricht Goethe nicht alle

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WA III 6, S.23. Vgl. dazu als neuere Darstellung Irmtraud Schmid: Die Oberaufsicht über die naturwissenschaftlichen Institute an der Universität Jena unter Goethes Leitung. In: Impulse. Aufsatze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Folge 4. Berlin und Weimar 1982, S.148-187. WA III 6, S.40.

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Brücken ab. Kräuter und sein Sohn August müssen ihm zu Diensten sein; Bücher und Kunstgegenstände sind zu besorgen, allerlei kleine Handreichungen zu leisten. Mit Minister Voigt werden brieflich Dienstgeschäfte erörtert; Heinrich Meyer konsultiert Goethe im Zusammenhang mit der neu zu gründenden Zeichenschule. Poetisches kommt in dieser Zeit kaum zustande. Von all diesen Vorgängen geben die Tagebuchaufzeichnungen zwischen dem 21. März und dem 30. April 1817 knapp und gedrängt Kenntnis. Und zu fragen ist, wie deren historisch-faktischer Gehalt im Kommentar angemessen zu erschließen ist. In den Lesartenverzeichnissen der WA, die de facto eine Mischung aus Variantenangabe, Überlieferungsbeschreibung und Kommentierung darstellen, findet sich dafür schon manch brauchbarer Hinweis, und überdies kann auf Goethes Briefe und Gesprächszeugnisse, auf kommentierte Briefwechselausgaben (mit Carl August, Meyer, Voigt, um nur wichtige zu nennen) zurückgegriffen werden, ferner auf die im GSA erschlossenen Briefe an Goethe, auf die Bände der Leopoldina-Ausgabe, die Sammlung "Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken" und manches andere. Daß sich aber der Gang zu den Quellen als ebenso unabdingbar erweist, dürfte einleuchten. Akten der Universität Jena, die Oberaufsichtsakten (sofern noch vorhanden), Dokumente zu Goethes amtlicher Tätigkeit, seine Rechnungen müssen eingesehen und ausgewertet werden. Überdies ist der Germanist, der Goethes naturwissenschaftliche Tätigkeit zu kommentieren hat, notwendigerweise auf Expertenhilfe angewiesen. Er wird historisch interessierte und bewanderte Geologen, Anatomen, Botaniker, Zoologen und Astronomen konsultieren müssen. Einverständnis herrscht auch darüber, daß Textherstellung und Kommentierung eines Bandes jeweils in einer Hand liegen sollen und daß Text und Kommentar in separaten Bänden jeweils zusammen publiziert werden. Gedacht ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt an acht Text- und acht Kommentarbände. Kommentierung als Korrektiv der Textgestaltung, 20 dieser Aspekt ist auch im Hinblick auf Goethes Tagebücher geltend zu machen. Unter dem 4. April 1817 läßt Goethe den Jenaer Bibliotheksschreiber Färber z.B. notieren: "Professor Doebereiner, Versuche mit der Gaserhitzung."21 Färber hatte eigentlich "Glaserhitzung" geschrieben, das 1 ist (nachträglich?) gestrichen worden. Der Bandbearbeiter der WA ignoriert die Streichung und setzt "Glaserhitzung" in den edierten Text, nicht ohne guten Grund, weil wenig später von Doebereiners Versuchen mit erhitzten Glasplatten (im Zusammenhang mit Experimenten zu den entoptischen Farben) die Rede ist. Vermutlich stellt die Schreibung "Gaserhitzung" eine Reminiszenz an Doebereiners Versuche zur Gasbeleuchtung dar, wie sie auch in Goethes Tagebuch unter dem 3. November 1816 bezeugt sind. Hier könnte erst die Ermittlung des tatsächlich Vorgefallenen sachliche Klarheit bringen. Was ich oben an Arbeitsvorgängen für die ersten Wochen von Goethes Jenaer Aufenthalt im Frühjahr 1817 beschrieben habe, stellt einen Extrakt aus sich wiederholenden und im Detail auch sich modifizierenden Tagebucheintragungen im Rahmen einer 20

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Vgl. Ulrich Joost: Der Kommentar im Dienst der Textkritik. Dargestellt an Prosa-Beispielen der Aufkläningsepoche. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Bd.l, 1987, S.184-197. WA III 6, S.30.

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durchgehend chronologischen Struktur dar. Zu fortlaufender Lektüre reizt das Goethesche Tagebuch kaum; hauptsächlich wird man es wohl punktuell konsultieren. Der wissenschaftliche Benutzer braucht darum Informationen zu den im Tagebuchtext benannten oder angedeuteten Sachverhalten, ihm soll das Vergangene vergegenwärtigt, der jeweilige historische Zusammenhang aufgehellt werden. Die Kommentarbedürftigkeit des Textes ist außerordentlich groß - ein proportionales Verhältnis von Text und Kommentar wage ich noch nicht anzugeben - , und die Entscheidung darüber, ob Quellen (Briefe, An-Briefe, Gespräche, Akten) extensiv zitiert werden sollen oder ob auf sie (leichte Erreichbarkeit vorausgesetzt) verwiesen werden kann, wird zuweilen auch pragmatisch zu treffen sein. Daß die Stellenerläuterungen bei alledem knapp und konzentriert zu halten sind, daß sie sich an jenen Quellen zu orientieren haben, die Goethe tatsächlich selbst herangezogen hat, daß jeweils die Funktion der Kommentarermittlung für die jeweilige Textstelle ins Kalkül gezogen werden muß, soll betont werden; ebenso ist anzumerken, daß Unsicherheiten und offene Fragen nicht verschwiegen werden sollen. Die Funktionalität der Erläuterung im jeweiligen Kontext ist auch darum herauszuheben, weil die Gefahr einer unendlichen Textauslegung naheliegt. Ebenso wird jedoch ein übergreifendes Erkenntnisinteresse an strukturierenden Elementen des Goetheschen Weltverhältnisses beim wissenschaftlichen Benutzer der Tagebuchedition vorauszusetzen sein, und ihm sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich zusammenhängend vom Einzelfall her über solche Vorgänge zu orientieren. Unter dem Aspekt einer Steuerung des Materials wären also kontext-relevante Informationen insbesondere dem Einzelstellenkommentar zuzuweisen, während die zweite Funktion vor allem vom kommentierenden Register zu übernehmen wäre. Die Frage, an welche Stelle Informationen placiert werden, ist mithin für den Einzelstellenkommentar leichter zu beantworten, verlangt hingegen differenziertere Überlegungen bei der Organisation eines kommentierenden Registers. Für dessen Anlage bietet Hans Gerhard Gräfs Register zu Abteilung III der W A einen brauchbaren Ausgangspunkt. Aufzunehmen sind natürlich alle im Tagebuch erwähnten Personen und ihre Werke, des weiteren Anonyma und Periodica, wobei vorauszusetzen ist, daß der Stellenkommentar insofern eine Brücke zum Register bildet, als in ihm Anspielungen auf Personen und Werke aufzuschlüsseln, falsche Namensschreibungen zu berichtigen sind, anonyme Werke der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst sowie Periodica inhaltlich möglichst genau bestimmt werden müssen; daraus resultiert auch die Einrichtung eines entsprechenden Verweissystems im Register. Nach dem Beispiel neuerer Briefausgaben sollten die Angaben zur Person (Namen, alle Vornamen, Rufname gesperrt) durch knappe biographische Informationen (Lebensdaten, Nationalität, Wohnort, Angaben zum Beruf) ergänzt werden; wie in der WA praktiziert, sollten bei Personen von diesen geschriebene Briefe an Goethe sowie Briefe, die sie von Goethe erhalten haben, soweit im Tagebuch erwähnt, gesondert erfaßt werden. Werke werden mit ihrem vollständigen Titel und dem Jahr der Erstpublikation angeführt. Alle in einem spezifischen Sinne kontextbezogenen Informationen zu Personen und Werken (Zweck von Besuchern, Goethes Interesse an ihnen, Gesprächsinhalte, bei Werken spezifische Angaben zu dem von Goethe benutzten Exemplar, zum Zweck der Lektüre usw.) müßte jedoch der Stellenkommentar bereitstellen. Biblische Namen und Namen der antiken

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Mythologie werden ebenfalls ins Register aufgenommen und, wenn nötig, mit kommentierenden Zusätzen versehen. Zu erwägen wäre, ob an einer Stelle im Kommentar (nach dem Vorbild etwa der Klopstock-Briefausgabe) Goethes Verhältnis zu einer bestimmten Person zusammenhängend dargestellt werden sollte, 22 worauf dann im Register besonders abgehoben werden müßte. Das Register sollte auch Namenserwähnungen aus den Erläuterungen (mit kursiver Zahl) aufnehmen, diese freilich im Hinblick auf ihre tatsächliche Relevanz für den Tagebuchtext nach noch genauer zu ermittelnden Kriterien selektieren. Auch bliebe zu entscheiden, ob zum Zwecke benutzerfreundlicher Übersichtlichkeit bandweise z.B. Listen von Besuchern oder Verzeichnisse der benutzten Bücher angelegt werden sollten. Geographische Namen und Begriffe, deren diplomatische Wiedergabe im Text in den Erläuterungen nötigenfalls zu berichtigen wäre, werden einen weiteren Bereich des Registers bilden; auch hier hat die Weimarer Ausgabe Vorarbeit geleistet. In besonderem Maße stellt sich dabei die Frage einer sinnvollen und adäquaten Binnenstruktur. In unserem Beispiel etwa würde Jena das Hauptstichwort bilden; darunter wären dann in alphabetischer Folge aufzuführen: Berge, Flüsse und Bäche, Straßen, Gärten und Parks, Gebäude, Kirchen, Stadttore, ferner literarische und wissenschaftliche Einrichtungen. Schwierig ist die Frage nach der Intensität kommentierender Zusätze zu beantworten. Daß solche Zusätze im Hinblick darauf formuliert werden müßten, inwiefern sich am jeweiligen Objekt Goethes Tätigkeit materialisiert, dürfte einleuchten. Doch wie ausführlich sind dann im einzelnen Angaben zur Baugeschichte und zur Funktion des Jenaer Schlosses zu halten, was ist im Detail zum Anatomischen Museum, zur Sternwarte, zur Mineralogischen Gesellschaft im Register zu sagen? Sollte man detaillierte Erläuterungen in den Stellenkommentar setzen und darauf im Register durch Heraushebung der entsprechenden Registerzahl verweisen? Dabei sind auch praktische Fragen zu bedenken wie z.B. die typographische Einrichtung solcher kommentierenden Einschübe bei Unterbegriffen oder die differenzierte Gestaltung lebender Kolumnentitel, die etwa bei einem so riesig dimensionierten Stichwort wie "Rom" genaue Überlegungen erfordern werden. Entschieden werden kann dies letztlich wohl erst im genaueren Zusammenspiel von Stellenkommentar und Register, die, wie bereits gesagt, jeweils bandweise und bandspezifisch angelegt sein sollten und von Band zu Band kumulierend publiziert werden könnten. Die Gefahr besteht immer, daß allzu viele kommentierende Zusätze in einem Register das Verweissystem komplizieren, den Benutzer verwirren könnten und das Register im Extremfall schwer benutzbar machen, weil Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit des Zugriffs dann nicht mehr gewährleistet sind. Tagebücher, auch die Goethes, zeichnen sich dadurch aus, daß kontinuierlich über die Arbeit an poetischen, theoretischen, naturwissenschaftlichen Texten Rechenschaft gelegt wird. Auch hier bietet sich eine sinnvolle Aufgliederung der Informationen zwischen Stellenkommentar und Register an. Anliegen des Editors wird es sein, im Stellenkommentar aufgrund einer umfassenden und sorgfältigen Quellenauswertung ent22

Gegen eine solche Kommentierungspraxis sind freilich auch begründete Einwände erhoben worden; vgl. Waltraud Hagen: Von den Erläuterungen. In: Vom Umgang mit Editionen. Berlin 1988, S.205224; insbesondere S.223f.

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stehungsgeschichtliche Zusammenhänge so genau wie möglich zu rekonstruieren, doch wird dies selbst bei besten Vorsätzen immer eine ideale Forderung bleiben. Ein Verzeichnis von Goethes Werken, eingeschlossen die von ihm herausgegebenen Zeitschriften und seine Werksammlungen, muß ergänzend zur Detailinformation im Stellenkommentar eine Überblicksdarstellung geben. Bei einem Werk wie dem Faust - um das wichtigste Beispiel zu nennen - wird man die Belege nach Entstehungsphasen, nach Akten und Szenen differenziert verzeichnen müssen, so daß das Register am Ende eine geraffte Darstellung der Entstehungsgeschichte vermitteln kann. Außerdem empfiehlt es sich, analog zu den Registern in der Sammlung von "Quellen und Zeugnissen zur Druckgeschichte von Goethes Werken", entsprechende Belege nach sachlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Zu prüfen und zu entscheiden ist noch, ob die Teilregister zu einem Gesamtregister in alphabetischer Folge zusammengefaßt oder gesondert publiziert werden sollen. Hier gehen die Meinungen auseinander, und der subjektive Ermessensspielraum ist nicht unbeträchtlich. Im Augenblick neigen wir eher der Publikation von Teilregistem zu, sind an diesem Punkt aber für Hinweise und Anregungen noch offen. Ein durchaus strittiges Problem stellt gegenwärtig noch das Anlegen oder NichtAnlegen eines Sachregisters dar, und die Entscheidung darüber hängt wesentlich davon ab, wie man den Charakter der Goetheschen Tagebücher insgesamt beurteilt. Ein Sachregister lohnt sich immer dann, wenn ein Tagebuch in größerem Umfang reflektierendbekenntnishafte Partien aufweist, in denen weltanschauliche, poetologische, wissenschaftstheoretische und -historische Probleme zur Sprache kommen, die am ehesten von einem Sachregister her verfügbar gemacht werden können. Dieser Sachverhalt trifft aber - und dies eingeschränkt - im wesentlichen nur für die Aufzeichnungen Goethes bis einschließlich 1790 und erst recht in begrenztem Maße für das Tagebuch der letzten Lebensjahre zu. Die übrigen Tagebücher haben einen bilanzierenden, faktenreferierenden Charakter; ihnen ist jenes Gegenständliche eingeschrieben, in dem sich die Einheit von Tun und Denken Geltung verschafft. Solche gegenständlichen Bezüge aber sind nahezu vollständig durch die bereits beschriebenen Teilregister aufzufangen, hier liefe ein Sachregister auf die Reduplizierung des edierten Textes hinaus. Hinzu tritt das Argument, daß heute schon z.B. über die Arbeitsstellen des GoetheWörterbuchs gewünschte Belege abrufbar sind und daß nicht auszuschließen ist, später mit den Mitteln der Datenverarbeitung den ohnehin gespeicherten Text nach bestimmten Kriterien zu sortieren. So haben wir uns zunächst nach intensiver Diskussion für den Verzicht auf ein Sachregister entschieden. Vorgesehen ist hingegen ein Goethe-Glossar, das bedeutungsrelevante Wortformen im jeweiligen Band knapp erläutert. Register führen den Vorteil mit sich, den Stellenkommentar von Wiederholungen und Verweisen zu entlasten und dem Benutzer die benötigten Informationen direkter zur Verfügung zu stellen, wenn sich das zugrunde gelegte System als unkompliziert und rasch durchschaubar erweist. Dies alles einmal vorausgesetzt, wird auch die Erarbeitung der Register nicht ohne kooperative Forschungsbeziehungen möglich sein. Das gilt zunächst im Hinblick auf die im GSA bearbeitete Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe und für die Nutzung der seit Jahrzehnten im Archiv erarbeiteten Karteien und archivalischen Hilfsmittel, allen voran das jetzt im Entstehen begriffene Goethe-

Kommentierung von Goethes Tagebüchern

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Bestandsverzeichnis, sodann auch für einige andere Projekte der Goethe-Forschung. Zu verweisen ist hier auf das von Karl Richter in Saarbrücken geleitete Projekt einer EDVgestützten Dokumentation von Ergebnissen der Goethe-Forschung und auf das schon erwähnte Brief-Repeitorium, das zugleich das Fundament bildet fur eine Erneuerung der Briefabteilung der WA, wie sie in nicht allzu ferner Zukunft begonnen werden sollte. Daß "wir alle kollektive Wesen" seien, "wir mögen uns stellen wie wir wollen", hat Goethe Eckermann zufolge am 17. Februar 1832 ausgesprochen. "Denn wie weniges", so fährt er fort, "haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind."23 Dieses Kollektive im Tagebuchtext zu erkennen und im Zeichen kritischer Reflexion zu erschließen wird auch nur durch Teamarbeit und Expertenkonsultationen möglich sein.

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Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Regine Otto. Berlin und Weimar 1982, S.662.

Dieter Mehl

Kommentar und Autorenbiographie bei der Edition von D. H. Lawrence

Es geht im folgenden um ein Problem, das sicher viele Verfasser von Kommentaren zu kritischen Ausgaben von Zeit zu Zeit beschäftigt, das sich aber bei einem Dichter wie D.H. Lawrence besonders häufig und dringlich stellt, der sich bekanntlich in seinen Erzählungen wie auch in seiner Lyrik und Essayistik in sehr auffalliger, schon für seine ersten Leser umstrittener, für die Betroffenenen nicht selten irritierender Weise autobiographischer Elemente bedient. Dies betrifft sowohl bestimmte Örtlichkeiten oder Landschaften als auch, wesentlich problematischer, erkennbare Zeitgenossen, deren Biographie, persönliche Eigenheiten und menschliche Umgebung. Solche scheinbar offensichtlichen Übereinstimmungen führten mehrmals schon im Vorfeld der Veröffentlichung zu Mißhelligkeiten, der Androhung gerichtlicher Schritte und als Reaktion darauf zu Änderungen am Text oder Verzögerung der Publikation. Besonders notorische Beispiele sind der Roman "Women in Love" oder die Erzählung "The Man Who Loved Islands". Für den Kommentator stellt sich in solchen Fällen die Frage, wie weit er auf diese Hintergründe aufmerksam machen und wieviel er an biographischer Information in seinen Kommentar aufnehmen soll, zumal die Akribie der Detailschilderung sich bei Lawrence mit einer unbekümmerten Freiheit der Erfindung und sehr persönlicher Manipulation der erfahrenen Realität verbindet, sodaß die Grenzen zwischen vermutetem "Schlüsselroman" und purer Fiktion alles andere als eindeutig sind, der Leser durch eine einseitige Kommentierung jedoch leicht zu mißverständlichen Spekulationen oder biographischen Unterstellungen verleitet wird. Vor allem berührt solche Art von dokumentarischem Realismus oft nur einen, und nicht unbedingt den charakteristischsten Aspekt von Lawrences Erzählkunst, die durch ganz andere Qualitäten aus der Menge des gleichzeitig Publizierten herausragt. Aus meiner Arbeit an zwei Bänden der "Cambridge Edition of the Letters and Works of D.H. Lawrence" 1 möchte ich an zwei konkreten Beispielen einige der sich daraus ergebenden Probleme erläutern. Die Kommentierung in dieser Ausgabe ist auf Einleitung und "Explanatory Notes" verteilt, wobei Fragen der Genese, Überlieferung und Rezep-

Zu den wichtigsten Prinzipien dieser Edition vgl. Christa Jansohn: Die D.H. Lawrence-Ausgabe der Cambridge University Press. In: editio 5, 1991, S.199-212. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die beiden von mir herausgegebenen Bände: The Fox. The Captain's Doll. The Ladybird. Cambridge 1992, und The Woman Who Rode Away and Other Stories. Hrsg. von Dieter Mehl und Christa Jansohn (soll 1993 erscheinen). Für die Erlaubnis, aus der Cambridge Edition of the Letters and Wortes of D.H. Lawrence zu zitieren, danke ich der Cambridge University Press und dem Literary Executor des Estate of Frieda Lawrence Ravagli, Laurence Pollinger Ltd."

Kommentar und Autorenbiographie bei der Edition von D.H. Lawrence

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tion in der Einleitung, Erläuterungen zum Text in den Anmerkungen (im Anschluß an den Text gedruckt) ihren Platz haben. Die pragmatischen Anweisungen von Verlag und Herausgebergremium an die einzelnen Bandherausgeber machen deutlich, daß, was die Anmerkungen betrifft, nur an rein sachliche Verständnishilfen für den "moderately well educated native speaker of English" gedacht ist: These [Explanatory Notes] are intended to assist the reader more fully to understand Lawrence's meaning. Editors will be expected to explain literary, classical, Biblical, etc., references, dialect forms or obsolete idioms, matters of social significance and historical allusions. This should be done as briefly and as tactfully as possible. All quotations should be referred to a source. Otherwise the aim should be to give a brief explanation of any feature which a moderately well-educated native speaker of Englishwould not now understand at second glance or could not fairly quickly find out from obvious sources. It is difficult to be more specific; cases must be decided on their merits. Err on the side of fullness: the General Editors will expect to reduce this material to a uniform level.2

Dabei sind sich die Herausgeber, wie aus einem ergänzenden Nachtrag von 1981 hervorgeht, der Gefahren simplifizierender biographischer Kommentierung durchaus bewußt. So wird gewarnt: [...] do not feel obliged to pursue an original for every village, streetname, or character. There may sometimes be one, which is not worth mentioning. The way in which the relationship is expressed also needs care. 3

Der letzte Satz weist, wenn auch in sehr allgemeiner Form, auf das eigentliche Problem hin, für das es, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen, keine einfache Faustregel gibt. Der erste Text stellt für den Kommentator eine sowohl biographische wie heimatkundliche Versuchung dar. Es handelt sich um die 1921 entstandene Erzählung "The Captain's Doll", deren erste Hälfte in Köln und deren zweiter Teil in den österreichischen Alpen bei Zell am See spielt. 4 Die Lawrences hatten vom 20. Juli bis 25. August 1921 Friedas Schwester in Thumersbach am Zeller See besucht. Lawrence war offensichtlich von der Landschaft stark beeindruckt, und schon nach zehn Tagen schrieb er an seinen amerikanischen Verleger Thomas Seltzer: "Perhaps when I am cajoled into a good mood, I will write you a Tyrol story - " 5 Seine Briefe aus diesen Tagen berichten immer wieder von Ausflügen in die umliegenden Berge: so schreibt er am 19. August an die Schwiegermutter: Frieda und ich gehen morgen mit dem Auto nach Moserboden. Sie sagt sie will auf einem Gletscher treten. Es ist viel Schnee gefallen daroben [...] Der Gletscher sollte wunderschön aussehen. (Letters IV, S.75)

Schon kurz nach der Rückkehr in die Fontana Vecchia in Taormina, wo die Lawrences den Winter verbrachten, schreibt Lawrence dann im Oktober und November tatsächlich

Vgl. Prospectus and Notes for Volume Editors. Cambridge 1978, S.15. Supplement to the Prospectus (September 1981), S.9. Die Namen sind nur teilweise und dann meist geringfügig verändert So erscheint Zell am See als Kaprun; das Kapruner Tal, das ebenfalls Schauplatz der Geschichte ist, wird nicht mit Namen genannt. The Letters of D.H. Lawrence, Vol.IV. June 1921-March 1924. Hrsg. von Warren Roberts, James T. Boulton und Elizabeth Mansfield. Cambridge, 1987, S.58. Im folgenden wird die von James T. Boulton herausgegebene Briefausgabe (Cambridge 1979ff.), von der bisher sechs (von acht vorgesehenen) Bände erschienen sind, mit "Letters" und der Angabe des Bandes abgekürzt.

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Dieter Mehl

seine "Tyrolstory". In ihr wird im zweiten Teil eine gemeinsame Wanderung des Helden, Captain Alexander Hepburn, und seiner Freundin Hannele auf den Gletscher beschrieben. Die Schilderung der Bergwelt im Kontext sowohl des vom Krieg zerschlagenen Österreich wie auch der komplexen Beziehung zwischen den beiden Ausflüglern gehört zum Eindrucksvollsten im Werk des Dichters. Ihre symbolischen und psychologischen Konnotationen sind in der Kritik verschiedentlich herausgestellt worden. Was den Kommentator, vor allem wenn er selbst aus dem Alpenraum kommt, aber zunächst nicht weniger fesselt, ist die unübertroffene Genauigkeit der Beschreibung. Sie ließ sich durch Augenschein an Ort und Stelle in vieler Hinsicht bestätigen; teilweise freilich auch nur mehr durch zeitgenössische Reisehandbücher und Bildquellen, da die Landschaft durch zwei große Stauseen und Kraftwerksanlagen bis zur Unkenntlichkeit verändert ist. In vieler Hinsicht ist "The Captain's Doll", was die Beschreibung des Kapruner Tals betrifft, geradezu ein historisches Dokument, da der unwiederbringlich verlorene, offensichtlich besonders eindrucksvolle Charakter dieses Tals hier bis in viele Einzelheiten festgehalten worden ist.6 Die Genauigkeit fast aller Details, von dem Haus der Schwägerin am See bis zum Fuße des Karlinger Kees, bestätigte sich dem recherchierenden Kommentator im örtlichen Archiv und in der Höhe des Moserbodens fast auf Schritt und Tritt.7 Aber wieviel davon soll in den Kommentar einer kritischen Ausgabe aufgenommen werden? Ein erster Entwurf meiner "Explanatory Notes" wurde von einem Mitglied des Herausgebergremiums mit dem Einwand kommentiert, der Verfasser habe den Wald vor lauter Stauseen aus den Augen verloren, und die Anmerkungen hätten zu viel von einem Reiseführer an sich. Dies führte zu einer Reihe von Kürzungen und Akzentverschiebungen, aber keiner grundlegenden Umorientierung, da mir die angebotene Information, etwa auch aus dem von Lawrence benützten Baedeker, nach wie vor von beträchtlichem Interesse scheint, nicht nur zur Befriedigung historischer Neugier, sondern im Sinne eines besseren Verständnisses der besonderen Ausprägung von Lawrences Realismus wie auch des von ihm selbst immer wieder betonten Zusammenhangs von Autorenbiographie und Dichtung.8 Die Gefahr, daß der Leser vor lauter Interesse an der historischen Präzision der Lokalschilderung von den tieferen Bedeutungsschichten der Erzählung abgelenkt wird, scheint mir zu den Risiken zu gehören, die der Kommentator auf sich zu nehmen hat. Das Risiko wird vielleicht dadurch etwas akuter, daß die Cambridge Edition erklärtermaßen auf jede Form der Interpretation verzichtet, sowohl im Kommentar als auch in der Einleitung, sodaß dem Leser kein Korrektiv zu den biographischen und geographischen Informationen angeboten wird. Da die Lawrence-Forschung aus vielerlei Gründen ohnehin seit jeher

Vgl. auch Michael W. Weithmann: D.H. Lawrence im Salzburger Land. In: Schriftenreihe des Salzburger Landesarchivs 8,1990, S.87-106. Beispiele wären etwa die Route des Busverkehrs von Zell am See zum Kesselfallhaus, der Wegzoll am Eingang zum Aufstieg, dessen genauer Verlauf, über die zwei Hütten auf dem heute verschwundenen Wasserfallboden hinauf zum Moserboden, dem Lawrence den volkstümlichen Spitznamen des "Lammeiboden" (nach dem Inhaber des örtlichen Reisebüros) verleiht Vgl. dazu Lawrences deutlich autobiographischen Roman Mr Noon und meinen Aufsatz: D.H. Lawrence und sein 'neuer' Roman Mr Noon. In: Poetica 21,1989, S.164-178, besonders S.171.

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eine Neigung zur "autobiographical fallacy" hat, könnte eine so kommentierte Ausgabe dem eine Art wissenschaftlicher Sanktion verleihen, als ob solcher Information eine besondere Priorität für das Textverständnis zukomme. Andererseits ist dies auch eine Frage der Lesererwartung: wenn von vornherein nur so etwas wie Hintergrundsinformation gegeben und möglichst wenig in die Freiheit der eigenen Interpretation eingegriffen werden soll, dürfte der Leser die Kommentare als das nehmen (oder ignorieren), was sie sein sollen: ein Hinweis auf Fakten, die dem zeitgenössischen Leser (vielleicht auch nur dem Lawrence Nahestehenden oder Ortskundigen) bekannt waren oder bei ihm vorausgesetzt werden. Es kann in diesem Falle auch kaum die Rede davon sein, daß der Dichter die Topographie bewußt unbestimmt lassen wollte. Die Verschleierung ist so oberflächlich und unvollständig, daß sie kaum den Zweck haben kann, dem Leser die nähere Identifizierung unmöglich zu machen. Im übrigen enthalten die erklärenden Anmerkungen ja auch andere als biographische und lokale Angaben und stehen zudem nicht direkt unter dem Text, sondern im Anschluß daran. Es scheint mir aber auch nicht ganz irrelevant für ein genaueres Verständnis von Lawrences Erzählkunst, ob es sich hier um eine brillant nachempfundene Phantasielandschaft oder um ein in allen Einzelheiten beobachtetes Milieu, in der Art seiner meisterhaften Reiseschilderungen, handelt. Lawrences besondere Sensibilität für das, was er "the spirit of place" nannte, ist gerade auch für den Charakter dieser Erzählung prägend und sollte dem Leser nahegebracht werden. Daher wird im Kommentar auch häufig auf Übereinstimmungen mit Lawrences etwa gleichzeitig mit den Erzählungen geschriebenen Briefen hingewiesen, wo sich ebenfalls nicht-fiktionale Parallelen zu verschiedenen Motiven finden. Bei manchen Schauplätzen, wie etwa der Stadt Köln und ihrer speziellen historischen Situation im ersten Teil der Geschichte oder dem berühmten Cafe Stephanie in München, wo Hepburn sich nach Hannele erkundigt, wird es darüber wohl kaum Meinungsverschiedenheiten geben; bei anderen, wie dem jetzt unter einem Stausee begrabenen Moserbodenhotel oder dem Busverkehr zwischen Zell am See und dem Kesselfallhaus, könnte man im Zweifel sein, ob eine Eruierung der damaligen Lokalitäten dem Leser zum Verständnis der Geschichte hilft oder nicht. Jede lokalhistorische Information erhält jedoch im Kontext des ganzen Werkes eine mehr als nur biographische oder in einem beschränkten Sinn persönliche Bedeutung; denn die Erzählung als Ganzes beschreibt ja nicht in abstrakter Weise das Verhältnis von Mann und Frau oder allgemeine anthropologische Konstanten, sondern sie setzt sich vor allem auch mit der geistigen Verfassung Mitteleuropas unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg auseinander, einem für Lawrence besonders brennenden Thema, das ihn selbst sehr persönlich beschäftigte, das er aber keineswegs nur als ein Problem der eigenen Biographie sah. Insofern wird eine sachliche Aufschlüsselung der vom Autor erfahrenen historisch-geographischen Realität auch auf Aspekte des Textes aufmerksam machen, die ohne solche Information schwerer zugänglich wären oder dem Leser überhaupt nicht mehr vermittelt würden. Es schiene mir jedenfalls ein Versäumnis, ihm die Ergebnisse entsprechender Forschungen bzw. Nachforschungen vorzuenthalten. Ein wesentlich brisanteres Beispiel für biographische bzw. autobiographische Hintergrundsinformation, die einerseits notwendig, andererseits möglicherweise irreführend sein könnte, ist die 1926 entstandene Geschichte "The Man

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Who Loved Islands".9 Es ist nachweisbar, daß sie, zumindest was die ungewöhnliche Ausgangssituation betrifft, auf Person und Lebensumstände des erfolgreichen Schriftstellers Compton Mackenzie (1883-1972) zurückgeht, den Lawrence bereits 1914 kennengelernt hatte und mit dem er in freundschaftlichem Briefwechsel stand. Im Jahre 1920 hatte Mackenzie die beiden Kanalinseln Herrn und Jethou gepachtet. Nachdem er drei Jahre lang vergeblich versucht hatte, die Insel Herrn zu kultivieren und so etwas wie eine kleine ländlich-patriarchalische Gemeinschaft zu gründen, gab er Herrn auf und siedelte auf die benachbarte kleinere Insel Jethou über, 10 wo er bis zum Todesjahr Lawrences (1930) blieb. Schon 1920 hatte Lawrence sich in einem Brief über Mackenzies Inselleben mockiert und eine Satire angekündigt: What is this I hear about Channel Isles? The Lord of the Isles. I shall write a skit on youone day. (Letters III, 594).

Es ist nicht belegt, ob Lawrence sich an diese Äußerung erinnerte, als er sechs Jahre später die Erzählung "The Man Who Loved Islands" schrieb, die nach einigen vergeblichen Anläufen 1927 in zwei Zeitschriften in England und den Vereinigten Staaten erschien.11 Zu Schwierigkeiten kam es, als sie kurz darauf innerhalb der Sammlung "The Woman Who Rode Away" in Buchform publiziert werden sollte. Immerhin hatte Lawrence schon selbst mit möglichen Verstimmungen gerechnet. Im Mai 1927 schrieb er an seinen Londoner Verleger Martin Secker: Did Faith Mackenzie object to her portrait-sketch in 'Two Blue Birds?' Surely not. Nor he!-I hope he won't mind either 'The Man Who Loved Islands' when it comes in the London Mercury He only suggests idea-it's no portrait. (Letters VI, 68-9). 12

Seine Befürchtung erwies sich als sehr begründet. Mackenzie protestierte gegenüber Secker, der auch sein eigener Verleger war, entschieden gegen die Veröffentlichung der Erzählung und drohte mit juristischen Konsequenzen. Lawrence reagierte höchst gereizt; seine Briefe an Secker enthalten eine klare Zurückweisung simpler Identifikationen: I'm disgusted at Compton Mackenzie taking upon himself to feel injured. What idiotic selfimportance! If it's like him, he ought to feel flattered, for it's very much nicer than he is - and if it's not like him, then what's the odds. - People are sure to recognise him' - And what if they do? Will it hurt him? - But as a matter of fact, though the circumstances are some of them his, the man is no more he than I am. 1 3 9

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Sie wird im Rahmen der Cambridge Edition in dem Band "The Woman Who Rode Away and Other Stories" erscheinen. Vgl. My Life and Times. Octave Five. 1915-1923. London 1965, wo Mackenzie das Leben auf Herrn beschreibt Der folgende Band, Octave Six. London 1967, enthält ausführliche Schilderungen der Jahre auf Jethou. Vgl. ebenfalls die Erinnerungen seiner Frau, Faith Compton Mackenzie, More Than I Should. London 1940. The Dial, lxxxiii (Juli 1927), 1-25, und London Mercury, xvi (August 1927), S.370-88. Der Hinweis auf "Two Blue Birds" bezieht sich auf eine kurz vorher erschienene Erzählung, in der Lawrence für Zeitgenossen deutlich erkennbar Compton Mackenzies Persönlichkeit und schriftstellerische Methode humoristisch darstellt. Auch hier kam es zu einigen gereizten Reaktionen, vor allem von Seiten Mackenzies Gattin Faith, die sich kurz vorher bei Lawrence über ihr Verhältnis zu ihrem Mann ausgesprochen hatte. Die Erzählung ist ebenfalls in der Sammlung "The Woman Who Rode Away and Other Stories" enthalten. Brief vom 3. November 1927; in: Letters VI, 205. Im gleichen Brief heißt es: "It's all an imbecile sort of vanity. What does he think he is, anyhow?—the one perfect man on earth. I don't want the

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Zwei Wochen später wiederholte er seinen Protest und warnte seinen Verleger davor, sich von Mackenzies Drohungen beeindrucken zu lassen; dabei äußert er sich erneut dezidiert zu der Anschuldigung, es handle sich um ein erkennbares Portrait: If people identify him with my story, they will inevitably have a deeper respect for him... What was his whole island scheme but showing off? The Man who loved islands has a philosophy behind him, and a real significance. I consider myself I have done Mr Monty a great deal of honour. If he can't see it, it shows what a cheapjack he is. (Letters VI, 218)

Seeker gab jedoch nicht nach, und als Lawrence die ersten Druckfahnen seiner Novellensammlung erhielt, mußte er feststellen, daß die Geschichte fehlte. "The Man Who Loved Islands" erschien zwar in der amerikanischen Ausgabe von "The Woman Who Rode Away and Other Stories", wurde jedoch in England erst nach dem Tod des Dichters in Buchform veröffentlicht.14 Auch bei diesem Text stellt sich die Frage, ob ein Kommentar, der all diese, heute eher erheiternd wirkenden Querelen unter Literaten im einzelnen darstellt, nicht unnötige Aufmerksamkeit auf einen fur das Verständnis der Erzählung keineswegs entscheidenden Aspekt lenken und dadurch von dem ungewöhnlich originellen, durchaus philosophischen Gegenstand ablenken, ja die Erzählung zu einem harmlosen Scherz trivialisieren könnte. Nun sind jedoch die Übereinstimmungen mit Compton Mackenzies kurioser Biographie tatsächlich eklatant und gehen über die naheliegenden Details weit hinaus; dies betrifft etwa die Mitbewohner der kleinen Gemeinschaft und das persönliche Auftreten des Helden der Erzählung. Bei der Lektüre der entsprechenden Passagen von Mackenzies erst mehr als dreißig Jahre nach Lawrences Tod erschienenen populären Autobiographie 15 hat man den fast unheimlichen Eindruck einer prophetischen Wahrheit von Lawrences Erzählung. Einige von Mackenzies Beschreibungen, selbst von Details, die sich auf die Zeit nach der Niederschrift von Lawrences Erzählung beziehen oder von denen Lawrence selbst kaum Kenntnis haben konnte, finden sich so genau in "The Man Who Loved Islands" wieder, daß man fast auf den Verdacht kommen könnte, Mackenzie habe die "lunatic story" selbst als Quelle für seine Memoiren benutzt. Angesichts dieser ungewöhnlichen biographischen und intertextuellen Zusammenhänge scheint es mir doch die Schuldigkeit des Kommentators zu sein, das wichtigste Material bereitzustellen, da

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story omitted. I would rather you never published the book, than left it out, and yielded to such tommy-rot. Put the blame on me. Tell him he can write the worst story imaginable about me, and I shan't tum a hair. He could no more put me on paper than I have put him. What rot! One mustn't give in to iL" (S.205-206). Mackenzie selbst gibt in seinen Memoiren eine etwas andere Darstellung: It was some time this year that a story by D.H. Lawrence appeared in the London Mercury called The Man who Loved Islands I told Charles Evans of Heinemann's that if he included it in a forthcoming collection of Lawrence shoit stories I should injunct it. "But it's not meant to be Monty," Lawrence moaned. I replied that I was well aware of that but if Lawrence used my background of a Channel Island and an island in the Hebrides for one of his preposterous Lawrentian figures the public would suppose that it was a portrait. In any case Lawrence needed a lesson in Botany. He had written too beautifully about flowers to be easily forgiven for covering a granite island in the Channel with cowslips; he should know that cowslips favour lime. I was in fact getting tired of Lawrence's caricatures of people against photographic backgrounds. Francis Brett Young wrote to tell me that Lawrence was ill and that my injunction of his story was making him worse. So I withdrew the injunction and the lunatic story may be read today. (My Life and My Times. Octave Six, S.131-132). My Life and My Times, in zehn Bänden. London 1963-71.

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auch hier wieder ein sehr charakteristisches Merkmal von Lawrences Fiktion und der besonderen Qualität seines Ineinanderblendens von dokumentierbarer Realität, phantasievoller Erfindung und eigenwilliger Philosophie verdeutlicht wird. 16 Daß der erläuternde, auf Interpretation möglichst verzichtende Kommentar nicht alle Seiten dieser Texte in gleicher Weise erschließt und insofern natürlich doch eine Form der Interpretation darstellt, scheint mir letztlich kaum zu vermeiden. Aber ebenso wie die Entstehungsbedingungen eines fiktionalen Werkes, der mögliche Anlaß und nachweisbare Quellen legitime Themen für einen Kommentar sind, so sollten auch biographische Fakten und erkennbare Vorbilder aus der Realität der unmittelbaren Erfahrung des Dichters soweit wie möglich, wenn auch ohne archäologischen Übereifer, identifiziert werden, vor allem wenn die tatsächlichen oder vermuteten Identifizierungsmöglichkeiten bereits für die Publikationsgeschichte eine Rolle spielten und es sich auch nicht etwa nur um zufällige oder spekulative Übereinstimmungen handelt. Für die beiden hier angeführten Erzählungen trifft dies kaum zu: im Falle von "The Captain's Doll" ist die historische Situation, bis zu den kleineren Details des Lokalkolorits, ein so zentraler Bestandteil der Erzählung, daß der präzise informierende Kommentar manche Einseitigkeiten der Interpretation zurechtrücken kann. Für das Verständnis von "The Man Who Loved Islands" ist der persönliche Anlaß, die Biographie Mackenzies und der gereizte Briefwechsel schon deshalb von Bedeutung, weil Lawrences heftige Reaktion einiges von seiner Einstellung zu oberflächlichen Gleichsetzungen verrät und somit für Leser und Kommentator als Warnung dienen kann, diesen Aspekt nicht absolut zu nehmen, sondern ihn im Kontext anderer für die Erschließung des Textes ebenso notwendiger methodischer Schritte zu sehen. Der Kommentar kann zumindest zur Erhellung des literarischen Umfelds der Geschichte beitragen, das Ausmaß der tatsächlichen Porträtierung Mackenzies deutlicher machen, zugleich aber auch auf die beschränkte Relevanz für die Deutung der Erzählung hinweisen, die letztlich mehr mit Robinson Crusoe und anderen Inselmythen gemeinsam hat als mit den Lebenserinnerungen eines heute nur mehr wenig gelesenen Schriftstellers. Auch in diesem Falle gilt freilich, daß es den Kommentar, der nur informiert und dem Verständnis aufhilft, ohne eine Aussage zur Interpretation zu machen, nicht geben kann. 17

Die angebotene Information wird freilich auch in diesem Fall auf Einleitung (Vorgeschichte der Publikation) und Anmerkungen zu einigen Stellen verteilt. Komplizierter sind die Erzählungen, in denen Lawrence selbst auftritt und in denen er, sei es aus fatalistischem Übermut, Gehässigkeit oder Wunschdenken, seine Beziehungen zu Freunden und Bekannten in grotesk unrealistischer Weise ausspielt. Dazu gehören aus der Sammlung "The Woman Who Rode Away and other Stories" "The Last Laugh", wo Lawrence als Faun in das Schicksal seiner Freunde eingreift, "The Border-Line", wo er als Geist eines Gefallenen den jetzigen Mann seiner früheren Frau tötet, und "Glad Ghosts", wo er neue Vitalität und Fruchtbarkeit in die erstarrte Familie einer Jugendfreundin zurückbringt. Diese Texte verlangen vom Kommentator in besonderer Weise Behutsamkeit und Takt; doch auch hier gehört die enge Verbindung von präzisem Detail und symbolischer Bedeutung zu den wichtigsten Stilzügen, die der Kommentar erschließen muß.

Peter Sprengel / Rene

Sternke

Das Tagebuch als literarischer Text Zur Kommentierung von Gerhart Hauptmanns Tagebüchern

Stand der Edition Die Edition von Hauptmanns Tagebüchern befindet sich in ihrer zweiten Phase. Die erste Phase war das Lebenswerk Martin Machatzkes, der insgesamt fünf Bände mit Tagebüchern Gerhart Hauptmanns herausgegeben hat, und zwar zunächst nicht in chronologischer Folge.1 Die Auswahl richtete sich anfangs offenkundig nach dem Interesse des Herausgebers oder des intendierten Publikums an bestimmten Zeiträumen in Hauptmanns Leben, und die Konzeption der Ausgabe, insbesondere auch der Kommentar, blieb davon nicht unbeeinflußt. Machatzke verstand die Tagebuchedition ganz offenkundig als eine Art Schneise, die in das weitgehend unerforschte Dickicht des Hauptmannschen Nachlasses geschlagen wurde. Er nutzte den Kommentar zur Rekonstruktion unbekannter Sachverhalte aus Hauptmanns Biographie und der Geschichte seiner Werke; dabei galt sein besonderes Engagement der Erhebung sozialgeschichtlicher Tatbestände. Was es beispielsweise über Hauptmanns Beziehungen zur Sozialdemokratie im allgemeinen und August Bebel im besonderen zu wissen gibt, entnimmt man am besten der Tagebuchedition Martin Machatzkes.2 Dem Eintrag "bezog ich die neue Wohnung" vom 16.2.1898 entspricht ein fast zwei eng bedruckte Seiten umfassender Kommentar über die Geschichte des betreffenden Hauses, seine Aufteilung und die jeweiligen Mieten aufgrund der Unterlagen der Katasterverwaltung.3 Machatzke hat damit der Hauptmann-Forschung wichtige Anregungen, ja in vielen Fällen eine neue Grundlage gegeben. Wieweit sein Modell der Tagebuchkommentierung in jeder Hinsicht verbindlich oder fortzuführen ist, ist eine andere Frage. Sie stellt sich seit dem frühen Tod Martin Machatzkes (Oktober 1988) und der Übernahme der Herausgeberschaft durch Peter Sprengel. Beabsichtigt ist die Fortführung der Edition von Hauptmanns Tagebüchern in der folgenden Form: als nächstes soll der Band 1906-1913 erscheinen, für den Machatzke schon erste Vorarbeiten geleistet hatte. Dann werden die politisch heiklen Zeiträume 1914-1918 und 1933-1945 folgen.

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Gerhart Hauptmann: Italienische Reise. Tagebuchaufzeichnungen. Hrsg. von Martin Machatzke. Berlin 1976; ders.: Diarium 1917-1933. Hrsg. von Martin Machatzke. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980; ders.: Notiz-Kalender 1889 bis 1891. Hrsg. von Martin Machatzke. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1982; ders.: Tagebuch 1892 bis 1894. Hrsg. von Martin Machatzke. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1985; ders.: Tagebücher 1897 bis 1905. Hrsg. von Martin Machatzke. Frankfurt/M., Berlin 1987. Vgl. Hauptmann 1982, S.444-446 und 456f.; Hauptmann 1985, S.209-211. Hauptmann 1987, S.519f.

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Sprengel / Sternke

Die Bände werden ein verändertes Gesicht schon daher erhalten, daß sie sich im Unterschied zur bisherigen Praxis um strikte Authentizität in der Wiedergabe der originalen Orthographie und Interpunktion und darüber hinaus, soweit tunlich, auch des Schreibvorgangs bemühen. Die Fragen der Kommentierung, die hier vorgestellt werden, hängen in gewisser Weise damit zusammen. Es geht um ein Ernstnehmen des Tagebuchs als Text in seinen intra- und extratextuellen Bezügen und um die Frage, wieweit sich ein Kommentar dieser Aufgabe annehmen soll oder darf und, wenn ja, wie er es tun soll. Zuvor noch ein Wort zur Eigenart des Hauptmannschen Tagebuchs jedenfalls in dem Zeitraum, der gegenwärtig bearbeitet wird (1906-1913). Hauptmanns Tagebücher unterliegen ja einem ausgesprochen markanten Veränderungsprozeß. Während sie in der Frühund in der Spätzeit stark den Charakter von Materialsammlungen haben und zum großen Teil aus eingeklebten Zeitungsartikeln oder Exzerpten bestehen,4 herrscht in der Zeit von 1892 bis 1918 die eigenhändige Fixierung von Beobachtungen, Erlebnissen und Reflexionen vor, denen der Tagebuchschreiber eine gewisse Relevanz einräumt. Wir haben also nicht den Typ des Protokoll-Tagebuchs wie z.B. bei Schnitzler, wo fast jeder Besucher namendich erfaßt wird, und auch nicht die Gleichmäßigkeit und Detailversessenheit Thomas-Mannscher Diarien. Wir haben es gleichwohl mit einem Medium zu tun, das inhaltlich wie äußerlich einen bestimmten Gestus vollzieht und Strukturen aufweist, die prinzipiell ähnlich analysiert werden können wie entsprechende Strukturen in sogenannten dichterischen oder fiktionalen Texten. Tatsächlich handelt es sich bei Hauptmanns Tagebuchaufzeichnungen ja nachweislich um einen Fundus zur dichterischen Weiterverwendung. Für verschiedene autobiographische oder autobiographisch orientierte Werke nahm Hauptmann eigene Tagebuchaufzeichnungen früherer Zeiten zur Grundlage. In viele gleichzeitig entstehende Werke nahm Hauptmann Elemente seiner Diarien auf. Einen Sonderfall stellen die Aphorismen dar, die bei ihrer späteren Aufnahme in eine Sammlung oder sonstiger Sekundärverwertung im ursprünglichen Tagebuch geradezu durchgestrichen wurden. Mit dieser Durchstreichung scheiden sie freilich nicht als Bestandteile des ursprünglichen Tagebuchs aus; eher ist diese Durchstreichung als eine Auszeichnung zu verstehen: es handelt sich jeweils um Stellen, in denen die grundsätzliche Hauptfunktion des Hauptmannschen Tagebuchs, Brückenschlag zwischen kruder Realität und poetischer Weiterverarbeitung zu sein, bereits in Erfüllung gegangen ist. Vor diesem Hintergrund sind die beiden folgenden Beispiele zu sehen: sie erläutern die Eigenart des Hauptmannschen Tagebuchs als Problem seiner Kommentierung.

Beispiel 1 Motivstrukturen: Spinnen und Schmetterlinge In Hauptmanns Tagebuch der Jahre 1905-1907 finden sich in auffälliger Häufung Erwähnungen von Spinnen und Insekten, von Gliederfüßern also, wie zoologisch korrekt der Oberbegriff heißt. Die meisten Erwähnungen sind metaphorischer Natur; dazu Vgl. Peter Sprengel: Fremdes und Eigenes in Hauptmanns Tagebüchern. In: Gerhart Hauptmann Autor des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Krysztof A. Kuczyski und Peter Sprengel. Wiirzburg 1991, S.11-31.

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gleich Näheres. Es findet sich aber auch eine Reihe konkreter Beobachtungen: Da werden die "herrlichefn] Trauermäntel" erwähnt, die sich an einem "reinen Herbsttag" um die Rosen des Wiesenstein sammeln.5 Ein "dickleibiger, grauer, kurzflüglicher, nachtfalterartiger Schmetterling" wird verzeichnet, dessen Rüssel "länger war als sein Leib".6 Von den Mücken ist die Rede, die mit Vorliebe Ida Orloff stechen, von einem Käfer, den sie kleinen Kindern zum Spielen gibt, und dem Marienkäfer, der sich ein Jahr später auf das Manuskript des Dramas "Kaiser Karls Geisel" setzt, in dem Hauptmann seine Leidenschaft für die 17jährige verarbeitet hat 7 Bei solcher Aufmerksamkeit für das Feld der Entomologie wundert es nicht, wenn Hauptmann im Juni 1907 notiert: "Schreibe Comödie: 'die Ameisen'."8 Sieht man sich freilich seine damaligen Notizen und Entwürfe an, so stellt sich bald heraus, daß das Stück, für das Hauptmann auch den Titel "Die Fliegen" oder "Die Insekten" erwog,9 mit den betreffenden Tieren nicht viel mehr gemein gehabt hätte als die "Wespen" des Aristophanes oder Hauptmanns "Ratten" mit den titelgebenden Tieren. Bestenfalls eine Art Chor hätten die Insekten abgegeben, wahrscheinlich eher eine Art Leitsymbol. Diesen mutmaßlichen Stellenwert macht ein Schopenhauer-Exzerpt Hauptmanns deutlich. "Bulldogs-Ameise (bulldog=ant) in Australien: wenn man sie durchschneidet beginnt ein wüthender Kampf zwischen d Kopf u dem Schwanztheil. Der Kopf beisst, der Schwanz sticht."10 Für Schopenhauer manifestiert sich in derlei Fällen die "Selbstentzweiung des Willens", in der "homo homini lupus" wird.11 Die Ameisen verkörpern also eine wölfische Wahrheit - die des radikalen Egoismus - , die in der geplanten Komödie offenbar über gegenteilige Vorgaben triumphieren sollte. Insofern verdient es unser Interesse, daß das erste Stichwort zur Ameisen-Komödie "Neue Gemeinschaft" heißt. Die Neue Gemeinschaft der Brüder Hart war ja gerade ein - freilich kläglich gescheitertes - sozialutopisches Experiment zur Überwindung des Egoismus oder Individualismus in einer höheren ethischen Einheit. 12 Übrigens hätten sich auch die Gebrüder Hart auf ein 5

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GH Hs IIb, 192 (erneute Erwähnung: ebda., 193). Das Kürzel "GH Hs" bezeichnet den Manuskriptnachlaß Gerhart Hauptmanns in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. Wir danken den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung für vielfältige Unterstützung. Zitate aus der zu edierenden Handschrift werden in Originalorthographie und -Interpunktion, aber unter Verzicht auf Sonderzeichen wiedergegeben, die zur Bezeichnung von Zeilenenden, unvollständigen Buchstaben, Streichungen oder Korrekturen im Text vorgesehen sind. Für diejenigen Teile des Tagebuchs, die in normalisierter und unkommentierter Form 1969 veröffentlicht wurden, wird zur besseren Orientierung des Lesers zusätzlich die Seitenzahl des folgenden Bandes angegeben: Gerhart Hauptmann und Ida Orloff. Dokumentation einer dichterischen Leidenschaft Frankfurt/M. 1969. Die Erwähnung der "Trauermäntel" findet sich doit auf S.94f. GH Hs IIb, 193; vgl. Hauptmann 1969, S.93. GH Hs IIb, 167, 180, 240; vgl. Hauptmann 1969, S.74, 85. GH Hs IIb, 253. Vgl. GH Hs 217, 38 r -39 v u. 218, 175. GH Hs 205, 3r. Der Zusatz "Schop 213. Welt als W" verweist auf folgende Ausgabe: Schopenhauer's Sämmtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Eduard Grisebach. Bd. 1.2 [in 1 Bd.]. Leipzig 1905, S.212 (!). In Hauptmanns Handexemplar (Staatsbibliothek zu Berlin, Sign. 204123 R) ist der exzerpierte Passus angestrichen. Schopenhauer 1905, vgl. Anm.10, S.212 (von Hauptmann angestrichen). Vgl. Die Berliner Moderne 1885-1914. Hrsg. von Jürgen Schutte u. Peter Sprengel. Stuttgart 1987, S.79-84 u. 634ff.

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Sprengel / Slernke

Vorbild aus dem Reich der Insekten berufen können: auf das "Leben der Bienen", das Maeterlinck in einer sehr eindringlichen und stark anthropomorphisierenden Weise geschildert hatte. 13 Hauptmann, der die deutsche Übersetzung von Maeterlincks Buch (1901) zum großen Teil gelesen hat, 14 lemte hier eine der Schopenhauerschen Auffassung völlig konträre Auffassung der Insektenwelt kennen: als Inbegriff einer asketischen, durch Hingabe an das höhere Ganze bestimmten, quasi geistigen Existenz. Der metaphorische Rekurs auf die Gliederfüßer in Hauptmanns Tagebuch bewegt sich zwischen diesen beiden Polen, ohne direkt auf sie zurückzugehen. Da ist zunächst der Bildbereich des Netzes, des Spinnennetzes, in dem sich ein hilfloses Insekt verfängt. "Wie löse ich mich aus dem Spinnennetz dieser Liebe, dass [!] mich ersticken will? Es ist beinahe ein tötliches Würgen". 15 Ida Orloff ist die hier mitzudenkende Spinne, von der es an anderer Stelle heißt: "sie wird tanzen und ihre Haare wie ein Netz ausspreiten". 16 Sie findet im Tagebuchschreiber ein dankbares Opfer: "Ich freue mich, dass Du in mir schwebst und Liebes=Zaubemetze webst". 17 Aber sie ist auch selbst bedroht: "ein halb ersticktes Seelchen, das sich im Allzuirdischen und in sich selber verwickelt hat", 18 eine "arme Motte im Spinnennetz". 19 Das letze Zitat steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem polemischen Ausfall gegen Wedekind, den Hauptmann zur Zeit seiner Verliebtheit in Ida Orloff anscheinend als Konkurrenten fürchtet. 20 Vielleicht ist Wedekind selbst als die Spinne zu verstehen, die der Motte hier auflauert. In einer früheren Tagebuchaufzeichnung hat Hauptmann Wedekind unzweideutig mit einer Spinne verglichen: "Soeben aus 'Hidalla', wo Wedekind selbst mitwirkte. Es war ein groteskes Vergnügen, diese Spinne, inmitten ihres eignen Netzes, und darin erwürgend, zappeln zu sehen."21 Die Metapher umfaßt hier mehrere Bezugsebenen: sie bezieht sich zunächst auf Wedekinds Auftritt in der Hauptrolle seines eigenen Stücks - als Karl Hetman nämlich "der Zwergriese" (wie der spätere Titel lautet). Sie spielt darüber hinaus auf die autobiographische Deutung an, die viele Zeitgenossen - nicht zuletzt aufgrund der Verkörperung der Hetmann-Rolle durch den Autor - diesem Stück um einen gescheiterten Sexualreformer gaben. Und sie meint letztlich sicher auch die von Wedekind hier wie andernorts betonte Bedeutung der Sexualität, verstanden als übermächtige Triebkraft, der sich der Mensch so wenig entziehen kann wie eine Fliege dem Spinnen-Netz, in das sie geraten ist.

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Maurice Maeterlinck: La Vie des Abeilles. Paris 1901. Ein Vierteljahrhundert später veröffentlichte Maeterlinck eine Darstellung des Ameisenlebens: La Vie des Termites. Paris 1926. Wie die Anstreichungen (die bis S.161 reichen) in seinem Handexemplar ausweisen: Maurice Maeterlinck: Das Leben der Bienen. Übers, von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski. Leipzig 1901 (Staatsbibliothek zu Berlin, Sign. 203574 R). GH Hs IIb, 129; vgl. Hauptmann 1969, S.44. GH Hs IIb, 197; vgl. Hauptmann 1969, S.98. GH Hs IIb, 196; vgl. Hauptmann 1969, S.98. GH Hs IIb, 118; vgl. Hauptmann 1969, S.36. Der anschließende Satz lautet: "Sie ist verwickelt man könnte sie auftrieseln." GH Hs IIb, 97; vgl. Hauptmann 1969, S.21. Vgl. Sprengel 1991, vgl. Anm.4, S.29f. Hauptmann 1987, S.449.

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Verschiedene Stellen in Hauptmanns literarischem Werk, z.T. schon lange vor den hier erörterten Tagebuchaufzeichnungen entstanden, bezeugen diese semantische Dimension der Spinnennetz-Metapher unzweideutig. In "Bahnwärter Thiel" (1887) beispielsweise heißt es über die Ausstrahlung, die von der zweiten Frau des Bahnwärters und ihren "vollen, halbnackten Brüsten" und "breiten Hüften" ausging: "Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, überwindend, erschlaffend." 22 Und die Gleise des Bahnkörpers, an dem Thiel arbeitet, werden "in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren eisernen Netzmasche" verglichen. 23 In derlei Bildern deutet sich schon die Verfallenheit des Bahnwärters an den Wahnsinn an; sie signalisieren die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Diktat der Triebwelt 24 Gleiches gilt im wesentlichen auch für die angeführten Tagebuchstellen, auch wenn in ihnen die erotische Verstrickung unterschiedlich bewertet wird und die Objekte und Subjekte wechseln. Gleiches gilt teilweise - aber eben nur teilweise - auch für den zweiten Bildbereich: den des Schmetterlings. Er ist, sofern er überhaupt auf eine Einzelperson bezogen wird, durchgängig mit Ida Orloff verknüpft. Auch hier geht es zunächst um Triebhaftes. Der Vergleich mit einem flatterhaften, aus unterschiedlichen Blüten nippenden Schmetterling 25 signalisiert die sexuelle Freizügigkeit der jungen Schauspielerin, die Hauptmann mit einem eigentümlichen Gemisch von Entsetzen und Fasziniertheit zur Kenntnis nimmt. Er deutet diese Freizügigkeit als rätselhaften Zwang: aus dem "saugenden Schmetterling" wird ein "schreiender Schmetterling" 26 - man beachte die Kühnheit der Bilder. "Ängstlich flattert sie um mich, ich will und muss sie ausstossen". 27 Mit einem Selbstzitat aus "Und Pippa tanzt!" sagt Hauptmann: "Sie ist wirklich, mehr als ich geahnt habe 'die arme Motte, die an meine Lampe geflogen ist.' [...] Sie zittert in sich, ebenfalls wie eine Motte, in jenem verrätherischen Zittern, dessen Sprache der Mensch sogar a d Motte versteht: Liebe." 28 Auch hinter den Versen: Du sollst Dich nicht verirren nicht Dir dein Köpfchen zerschwirren.2'

steht das Bild der Motte, die ihren Flug an die Lampe mit dem Leben bezahlt. In "Selige Sehnsucht", einem der bekanntesten Gedichte des "West-östlichen Divan", heißt es:

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Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Egon Hass [u.a.], Bd.1-11. Frankfurt/M., Berlin (Wien) 1962-1974 (Centenarausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters, im folgenden abgekürzt: CA), Bd.6, S.47. CA VI 49. Aus Hauptmanns späterem - die Erfahrung des Ida-Orloff-Erlebnisses aufnehmenden - Werk ist als spektakulärste Parallele der Tanz "Mara oder das Opfer der Spinne" im Roman "Atlantis" (1912) anzuführen: CA V 433f„ 627f. Vgl. die Äußerung des Schauspielers Rudolf Rittner, die Hauptmann am 27.2.1906 zitiert: "einstweilen nippt sie an allem, wie ein Schmetterling und ziemlich wahllos" (GH Hs Hb, 117; vgl. Hauptmann 1969, S.35f.). GH Hs IIb, 200; vgl. Hauptmann 1969, S.101. GH Hs IIb, 197; vgl. Hauptmann 1969, S.98. GH Hs IIb, 106; vgl. Hauptmann 1969, S.28. GH Hs IIb, 93; vgl. Hauptmann 1969, S.19.

Sprengeil Sternke

174 Keine Feme macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du Schmetterling verbrannt. 30

Hauptmann hat Goethes Divan wiederholt und gründlich gelesen, in einer Tagebuchnotiz dieses Zeitraums greift er daraus die Formel "Stirb und Werde" auf. 3 1 Aus Burdachs Kommentar zum Gedicht "Selige Sehnsucht" in Bd.5 der Jubiläumsausgabe notiert er sich am 1. Januar 1906 die folgende Lesefrucht: "Orphische Symbolik. Schmetterling Sinnbild der Psyche." 3 2 Er mag darin eine nachträgliche Bestätigung seiner eignen dichterischen Praxis gesehen haben. Denn in seinem damals gerade fertiggestellten Drama "Und Pippa tanzt!" ist die symbolische Beziehung zwischen der weiblichen Titelfigur und der menschlichen Seele von konstitutiver Bedeutung; diese Beziehung aber stellt sich im Drama nicht zuletzt über das Bild des Schmetterlings her. Hauptmanns Wort von der "kleinen gescheuchten Motte", die an seine Lampe geflogen ist, 3 3 wurde ja bereits zitiert. An anderer Stelle wird Pippa mit einem Schmetterling verglichen, der einen Bären umgaukelt. 34 Der Bär ist Huhn, der auf Pippas Frage nach dem Tod vieldeutig antwortet: "A Raupia, a Puppla, a Schmatterling". 35 Als Hauptmann nach Beendigung der Ida-Orloff-Affäre nach Venedig reist, wird er in den Randleisten eines berühmten Miniaturenkodex der Markusbibiliothek (des Breviarium Grimani) auf "das ewig wiederkehrende Symbol von Raupe, Schmetterling an Blume" stoßen. 3 6 Und schon vor der ersten Bekanntschaft mit Ida enthält das Tagebuch einen längeren Passus, in dem die Verwandlung der Raupe in den Schmetterling, des Engerlings in den Maikäfer als Hinweis auf eine Weiterexistenz nach dem Tode, auf eine Art Metamorphose des Menschen, hier: des Künstlers dient. Es handelt sich um einen Brief Vincent van Goghs, der in halb spielerischer Weise ein Weiterleben und Weiterschaffen auf anderen Sternen ins Auge faßt. 37 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Schmetterlingsmetaphorik in Hauptmanns Tagebuch eine weniger bedrohliche, fast schon eine versöhnliche Dimension. Von der Hoffnungslosigkeit der Entfremdung, die sich fast gleichzeitig in Kafkas Tagebuch als Selbstidentifikation mit einem großen Käfer artikuliert 38 - fünf Jahre vor der Nieder-

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® Goethe: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd.5: West-östlicher Divan. Hrsg. von Konrad Burdach. Stuttgart, Berlin [1905], S.16. Das Sterben und Werden, ohne dass der leibliche Tot eintritt, ist vielleicht das schwerste, für gewisse Naturen, und nicht nur so durchaus herrlich wie Goethe es hinstellt" (GH Hs 1 lb, 145; vgl. Hauptmann 1969, S.56). 32 GH Hs IIb, 85; vgl. Hauptmann 1969, S.13. Der exzerpierte Kommentar Burdachs findet sich in: Goethe 1905, S.335; Hauptmanns Exemplar (mit Anstreichungen und Randbemerkungen) im Geihait-Hauptmann-Museum Ericner. 33 CA II 302. 34 CA II 277. 35 CA II 284. 36 GH Hs IIb, 203. 37 Hauptmann 1987, S.434f. Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers, glaube ich" (zit. Emst Pawel: Das Leben Franz Kafkas. München 1986, S.194f.).

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schrift der "Verwandlung" von der Radikalität solcher Selbstaufgabe ist Hauptmann demnach weit entfernt. Doch dürfen wir überhaupt so argumentieren? Ist es zulässig, die Entfaltung von Bildbereichen im Tagebuch und das ganze Spektrum ihrer Abwandlungen, Überschneidungen und unterschiedlichen Applikationen als homogenes poetisches System zu behandeln, wie wir es bei der Interpretation poetischer Texte zu tun gewohnt sind? Schließlich handelt es sich um eine Reihe von Einzeleintragungen, die Hauptmann über einen längeren Zeitraum hinweg aufgrund durchaus heterogener Anlässe vorgenommen hat. Der Zufall des Alltags regiert in einer ganz anderen Weise in das Textgefüge des Tagebuchs hinein, als es beispielsweise bei der Konzeption eines Romans vorausgesetzt werden kann. Wenn in einem beliebigen Kapitel eines Romans ein Schmetterling auftaucht, so dürfen wir eine kompositorische, vielleicht sogar eine symbolische Absicht des Autors vermuten. Was aber ist mit den Trauermänteln, die die schottischen Rosen des Wiesenstein aufsuchen? Sie hätten ohne das günstige Wetter eines bestimmten Herbsttags gewiß nicht Eingang ins Tagebuch finden können. Daß sie darin schließlich auch auftauchen, hat allerdings mehr als zoologische oder meteorologische Gründe. Es hat entscheidend mit dem Willen des Tagebuchschreibers zu tun, sein Leben als poetische Einheit zu begreifen, in der Alltagsrealität Hinweise auf einen höheren Sinn zu erblicken und/oder sie zugleich als Material für eine literarische Verarbeitung ins Auge zu fassen. So entsteht ein Text, der ähnliche Strukturen wie ein dichterisches Werk aufweist, ohne daß die Absicht zu einem solchen und die typischen Voraussetzungen eines solchen vorgelegen hätten. Woran soll sich der Kommentator halten? Soll er in einem Überblickskommentar oder an geeigneter Stelle des Zeilenkommentars den Bildkreis Schmetterling oder Spinne als poetisches Subsystem entfalten? Soll er sich auf einen lapidaren Hinweis beschränken, etwa des Typs: "Zur besonderen Aufmerksamkeit des Tagebuchschreibers für Schmetterlinge und zur Vorliebe für entsprechende Vergleiche s. auch die Eintragungen vom soundsovielten und soundsovielten"? Oder soll er sich auf sein 'eigentliches' Geschäft beschränken, die aufwendige und ihm meist so wenig gedankte Recherche von Namen, Daten, Zeitungsmeldungen etc., die vielfach beschworenen sachlichen "Erläuterungen"? Von der Entscheidung des Kommentators darüber, wie er mit derartigen Beobachtungen umgeht, wird die Rezeption des Tagebuch-Textes, sein Status auf der Skala zwischen Dokument und Dichtung, ganz wesentlich bestimmt sein.

Beispiel 2 Intertextuelle Bezüge: Giordano-Bruno-Rezeption Wenn ich auch die Gedanken nicht verstehe, werde ich doch die Worte hören, und wenn nicht die Worte, so doch die Stimmen.

Als Beispiel für die Darstellung intertextueller Bezüge in Hauptmanns Tagebuch dient hier folgender Ausschnitt: 5 Juli. Alt Westerland. 1906. Haus von Bernhard Boysen.

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"Jeder Tag ist ein Schöpfungstag und wie der erste so herrlich. Hierin liegt für jeden Schmerz der Trost. Besondere Weltkörper leuchten für uns im Raum, Sonnen. Sollte nicht diesen abgesonderten und vereinzelten Leuchtkörpem ein Urmeer des Feuers zum Grunde liegen, zu dem sie sich verhalten wie Tropfen? - Und eine zweite, staiTe, ausgesonderte Welt, die das Eisige in übersinnlichen Graden wäre, stünde als Gegensatz. Das Feuermeer wäre dann etwa das Höllischen daraus sich Gott, als das Licht, zu lösen hat, das einen reinen ruhigen Raum erfüllt. Gott würde also der reinen ruhigen Raum des Lichtes sein zwischen den Meeren: dem Eismeer und dem Feuermeer. Schlossen und Feuertropfen würden in diesem Raum Licht, also göttliches Leben erzeugen. Dies ist eine Märchen Phantasie. Feuer in einem bestimmten Grade und in bestimmter Menge würde eins mit den eisigen Feinden des Organischen, das was in uns als die einzige Hülle und Quelle des Geistigen bekannt ist und erschüfe das Organische und also den Geist Gott ist Geist "so leuchtet doch die Sonne nicht für die Sonne". Bruno 9

Gerhart Hauptmann nennt die zitierte Tagebucheintragung eine "Märchen Phantasie". Der ganze Abschnitt stellt eine literarische Reaktion auf die Lektüre von Brunos Schrift "Vom unendlichen All und den Welten" in der Übersetzung von Ludwig Kuhlenbeck dar. Diese Übersetzung ist der dritte Band der von Kuhlenbeck herausgegebenen BrunoGesamtausgabe. Hauptmann benutzte die 1904 in Jena erschienene zweite Auflage. 40 Das die Tagebucheintragung abschließende Zitat "so leuchtet doch die Sonne nicht für die Sonne" befindet sich auf Seite 14, im Einleitungs-Schreiben, in welchem Bruno den in den Gesprächen vollzogenen Gedankengang offenlegt. Die ganze "Märchen Phantasie" steht in enger Beziehung zu dem dieses Zitat umgebenden Abschnitt in Brunos Text "Jeder Tag ist ein Schöpfungstag"; hier greift Hauptmann einen Gedanken auf, der bei Bruno auf Seite 9, also fünf Seiten vor dem Zitat erstmalig ausgesprochen wird: "Die göttliche Schöpferkraft darf nicht müßig sein". Sowohl an dieser Stelle als auch bei seiner späteren Erwähnung hat Hauptmann diesen Gedanken Brunos angestrichen. Für Bruno ist die Vorstellung von einem allen Teilen des Weltalls immanenten in unendlicher Tätigkeit begriffenen Schöpfer ein wichtiges Argument, um die Unendlichkeit des Alls zu beweisen. Hauptmann löst diesen Gedanken, unbekümmert um die Intentionen des von ihm gelesenen Autors, aus der Argumentation. Der Zusammenhang zwischen einer ständig fortdauernden Schöpfung und dem Guten, der Herrlichkeit und dem Trost, findet sich ebenfalls bei Bruno, und zwar auf der folgenden Seite. Hier heißt es mit Bezug auf die unendliche Wirkung des Schöpfers: "die Annahme des Gegenteils würde dem Glauben an Gottes Größe und Güte Abbruch tun". Das theologische Argument dient Bruno zur Begründung seiner Kosmologie. Hauptmann kehrt das Begründungsverhältnis um: nicht die Güte Gottes begründet die fortdauernde Wirkung, sondern das Fortdauern der Schöpfung begründet die Sinnhaftigkeit der Welt. 39 40

GH Hs IIb, 174. Giordano Bruno: Zwiegespräche vom unendlichen All und den Welten. Verdeutscht und erläutert von Ludwig Kuhlenbeck. 2. Auflage. Jena 1904. (Giordano Bruno: Gesammelte Werke, hrsg. von Ludwig Kuhlenbeck, Bd.3). Hauptmanns Exemplar in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz hat die Signatur 202287-3 R. - Hinweise auf die intensive Bruno-Rezeption um 1900, die u.a. in der Gründung eines Giordano-Bruno-Bunds in Berlin Ausdruck fand und an der Hauptmanns Freunde Bruno Wille und Wilhelm Bölsche maßgeblich beteiligt waren, gibt: Eberhard Roters: "Weltgeist, wo bist du?" Monismus, Pantheismus, Individualismus. In: Berlin um 1900. Katalog zur Ausstellung der Berlinischen Galerie in Verbindung mit der Akademie der Künste. Berlin 1984, S.375-393.

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Durch den Vergleich des zu kommentierenden Textes mit seiner Quelle wird die Beliebigkeit von Interpretationen eingeschränkt. Denn es weiden die Stellen markiert, an denen Bedeutung angelagert ist. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die Darstellung von Bezügen zu den Quellen innerhalb des Kommentars nicht allein die Bedeutungsorganisation des Textes erkennbar machen kann, sondern auch die besonderen Verfahren, die zu seiner Hervorbringung eingesetzt wurden. "Brennende Weltkörper leuchten für uns im Raum, Sonnen." Auf Seite 13 hat Hauptmann die Formulierung "Sonnen, auf denen das Feuer vorherrscht" in seinem Handexemplar am Rande angestrichen. Woher stammt nun die Vorstellung von einem "Urmeer des Feuers", von der sich bei Bruno hier nichts findet? Fest eingebunden in die Beweisführung, daß aus dem Leuchten eines Weltkörpers noch nicht folge, daß er selbstleuchtend sei, sagt Bruno: "so leuchtet doch die Sonne nicht für die Sonne, ebensowenig wie die Erde für die Erde; vielmehr erhält jedes Gestim sein Licht von einem ihm gegenüberstehenden". Und Bruno bringt, um zu zeigen, daß hier die optische Wahrnehmung kein Garant für die Wahrheit sein kann, folgendes Bild: "wie wir denn auch von hochliegenden Punkten, z.B. von Bergen aus deutlich das ganze Meer leuchten sehen, während wir auf dem Meere selbst von diesem reflektierten Lichte nichts bemerken, sondern nur so weit und in so geringer Ausdehnung, als sich uns das Bild der Sonne oder des Mondes gegenüber befindet." Genau diese Vorstellung des leuchtenden Meeres ist es, die Hauptmann in seiner kosmologischen "Märchen Phantasie" zur Vision des Feuermeers ausweitet. Die kontrastierenden Bilder des Feuermeers und des Eismeers erinnern an die von Bruno auf der vorhergehenden Seite getroffenen Unterscheidung von "Sonnen, auf denen das Feuer vorherrscht" und "Erden (Planeten) oder Weltkörper[n], auf denen das Wasser vorherrscht". Diese Gegenüberstellung wird nun genau auf der Seite, auf welcher das Bild des leuchtenden Meeres erscheint, wiederholt; der von Hauptmann unterstrichene Passus lautet: "Darum werden die Gestirne mit Recht in Wasser- oder Feuerwelten eingeteilt sowohl von wahren Naturphilosophen wie von göttlich begeisterten Propheten und Dichtem".41 Mit seiner "Märchen Phantasie" begibt sich Hauptmann in direkten Gegensatz zu den Auffassungen, die Bruno an ebender Stelle vertritt. "Gott, als das Licht, [...] der reine ruhige Raum des Lichtes [...] zwischen den Meeren" - das ist genau die Vorstellung, die Bruno hier bekämpft: die Vorstellung von einem den vier Elementen äußerlichen Gott, von einer Quintessenz, die von den anderen vier Essenzen verschieden ist. Gerade der auf denjenigen mit dem Bild des leuchtenden Meeres folgende Absatz handelt "Von der Nichtigkeit der fünften Essenz." Er enthält den "Beweis, daß sämtliche sichtbaren Weltkörper aus denselben Elementen bestehen, wie der irdische". Die Vorstellung von Welten, die nur aus Wasser oder Feuer bestehen, widerspricht den Auffassungen Brunos, der sich in diesem Zusammenhang auch gegen jegliche Hierarchisierung der 41

Ebda. S.14. Die enge Orientierung an Brunos Text läßt sich auch anhand einer Koirektur in der oben zitierten Textstelle nachweisen. Wo es nun heißt: "zwischen den Meeren: dem Eismeer und dem Feuermeer", hieß es ursprünglich: "zwischen den Welten". Hauptmanns Konstruktion einer Metaebene (Meer) zu den Welten (=Tropfen) bedurfte dieser Korrektur, um die gedankliche Kohärenz zu wahren.

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Elemente ausspricht: "Selbst wenn die Einteilung der Elemente an sich richtig sein sollte, so ist doch keinesfalls eine solche Reihenfolge derselben wahrzunehmen, wie man gewöhnlich voraussetzt; und selbst nach Aristoteles sind die vier Elemente gleichermaßen Bestandteile und Glieder dieser Weltkugel, wenn wir nicht etwa sagen wollen, daß das Wasser auf ihr vorherrscht."42 Mit den Worten: "Dies ist eine Märchen Phantasie", scheint Hauptmann bei Bruno einzulenken, der sagt: "Folglich ist jene schöne Stufenleiter in der Natur nur ein alberner Traum und ein Ammenmärchen", und der auf der vorhergehenden Seite die Auffassungen seiner Gegner als "pure Phantasien" bezeichnet hat. 43 Doch darf man annehmen, daß für den Autor, der in seinen eigenen Dichtungen in den vorangegangenen Jahren verstärkt Märchenelemente verwendete, der Ausdruck "Märchen Phantasie" keineswegs so pejorativ konnotiert ist wie die zitierten Ausdrücke Brunos. In der Art, in der Hauptmann dann seinen Schöpfungsmythos ausgestaltet, folgt er weiterhin wenn auch nicht den Gedanken, so doch den Worten, und wenn nicht den Worten, so doch der Stimme Giordano Brunos. Dieser sagt über die Weltkörper: "auf denselben findet keine andere Bewegung und Veränderung der Teilchen statt, als eine solche, die dem Kreislauf und Stoffwechsel des Blutes und anderer Feuchtigkeiten, der kleinsten Teilchen und Lebensgeister in uns und anderen kleinen Geschöpfen entspricht" Hauptmann folgt Bruno nur noch insofern, als er die Wendung zum Organischen nachvollzieht. Die ganze Passage schließt scheinbar mit einem Zusammenklang, indem Hauptmann nun sogar Bruno zitiert; allein durch die Lösung aus ihrem Kontext bekommen Brunos Worte über das Leuchten der Sonne einen Glanz und eine Dunkelheit, wie sie sie vorher nicht besaßen. Will man nun die Textelemente, die in der bislang betrachteten Quelle nicht nachweisbar waren, ebenfalls auf Quellentexte zurückführen, so zeigt sich ein Problem, das generell bei der Integration von Quellenforschung in den Kommentar besteht. Der Kommentator gelangt zu Hypothesen, die zwar sehr wahrscheinlich, aber stark von Interpretamenten durchsetzt sind. Um anderen die Kritik seiner Hypothesen zu ermöglichen, müßte der Kommentator seine Vorgehensweise offenlegen, was die Kommentare stark aufschwemmen würde. Das soll am Beispiel des vorliegenden Tagebuchausschnittes veranschaulicht werden. Woher stammen das Bild eines Tropfens, der sich aus einem Urmeer löst, und das Aufscheinen des göttlichen Lichtes? Im "Vorwort des Übersetzers" zu "Vom unendlichen All und den Welten" zitiert Kuhlenbeck in dem Abschnitt "Einfluß der Brunoschen Philosophie auf die deutsche Dichtung" aus Klopstocks "Frühlingsfeier", jener Schilderung des Kampfes der Elemente, die schon Werthers Lotte Feuer und Wasser in die Augen lockte. Hier werden nur die in diesem Zusammenhang relevanten Verse zitiert: "Nicht in den Ozean der Welten alle / Will ich mich stürzen [...] Nur um den Tropfen am Eimer, / Um die Erde nur, will ich schweben und anbeten [...] Der Tropfen am Eimer rann aus der Hand des Allmächtigen auch. // Da

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Ebda.S.13.

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der Hand des Allmächtigen / Die größeren Erden entquollen, / Die Ströme des Lichts rauschten [...] Da entrannst du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!"44 Die Art, auf welche die Gedanken Brunos und Klopstocks von Hauptmann verbunden werden, verweist auf seine Lektüre der Schriften Jacob Böhmes, mit dem er sich seit 1897 intensiv beschäftigte45 und aus dessen "Mysterium Magnum" er wenige Wochen später ein längeres Zitat in sein Tagebuch einfügen wird.46 Im folgenden Passus aus "Aurora oder Morgenröte" im Aufgang finden sich die Vorstellungen des Gegensatzes von Hitze und Kälte, der dadurch hervorgerufenen Tropfenbildung, der Bildung und Ablösung des Geistigen und des Geistigen als Quelle allen Lebens: Von der lufft qualificirung vnd des wassers. Die lufft Halt ihren vrsprung von der Hitze vnd kelte / den die Hitze vnd kelte Treiben gewaltig von sich / vnd er fillen alles / Dauon wird Eine lebende vnd webende Bewegung / Wen aber die kelte die Hitze Senfftiged / So wird Beider qualitet dinne / vnd die Bitter qualitet zeuged es zu sammen das es Trepflicht wirdt. Die lufft aber Hau ihren vrsprung vnd gröste Bewegung auB der Hitze / vnd das wasser von der kelte / Nun Ringen die zwo qualiteten stets mit Einander / die Hitze ver zered das wasser / vnd die kelte zwinged die lufft. Nun ist aber die lufft Eine vrsache / vnd Geist alles lebens vnd aller Bewegung in diser weld / Es Sey gleich im fleische oder in allem dem / was aus der Erden wechst / So hatt es alles Sein leben von der lufft / vnd kahn nichts ausser der lufft Bestehen / das in diser weld ist / das sich Beweged / Das wasser quailed auch in allem lebendigen vnd webenden dingen in diser weld / In dem wasser Bestehed der leib aller dinge / vnd in der lufft der Geist / Es sey gleich im fleische / oder in den gewechsen auß der erden / Vnd dises Beides kömpt aus der Hitze vnd Kelte / vnd qualificirt vntter Einander wie Ein ding. 47

Weitere Spuren der Bruno-Lektüre finden sich in den Tagebucheintragungen vom 7. und 8. Juli 1906. Der Eintrag vom 7. Juli nimmt Bezug auf eine anderen Textstelle aus dem Einleitungs-Schreiben zu "Vom unendlichen All und den Welten", der vom 8. Juli entnimmt Gedanken aus Kuhlenbecks Vorwort 48 In dem Eintrag vom 7. Juli ist vor allem die Thematisierung der Anschauung interessant, die den Passus von der Vorlage abhebt 49 Dieses Moment und die Aufforderung an sich selbst: "Verfolge und stelle dar, das Symbol des Lichtes."50 deuten daraufhin, daß Hauptmann parallel zu der erwähnten

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Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Frühlingsfeier, zitiert ebda. S.LXf. Vgl. Philip Mellen: Gerhart Hauptmann - Jacob Böhme: Anatomy of Influence. In: HauptmannForschung. Neue Beiträge / Hauptmann Research. New Directions. Hrsg. von Peter Sprengel u. Philip Mellen. Frankfurt/M., Bern, New York 1986 (Europäische Hochschulschriften. 1,890), S.93125; Machatzke im Kommentar zu: Hauptmann 1987, S.472f. GH Hs IIb, 183; vgl. Hauptmann 1969, S.87. Jacob Böhme: Die Urschriften. Erster Band. Stuttgart 1963, S.27. Vgl. auch ebd., S.26: "Das licht bestehed in Gott ohne Hitze [...]". Da es hier nur auf die Systemreferenz ankommt, wird darauf verzichtet, aus Hauptmanns Handexemplar zu zitieren. Das Tagebuch enthält folgende Aufzeichungen: "Wir heliozentrischen Menschen. Das Zentralfeuer des Pythagoras "Nichts Neues unter der Sonne' Brunos beliebtester Denkspruch" (GH Hs IIb, 178). In Kuhlenbecks "Vorwort des Übersetzers" werden diese Themen in ebender Reihenfolge angesprochen; vgl. Bruno 1904, vgl. Anm.40, S.II, IV, XIV. "Die Bewegungsgeschwindigkeiten der Weltenräume spotten schon der Anschauung des Menschen und doch werden sie einst angeschaut werden, werden schon angeschaut, wenn auch noch nicht von uns." (GH Hs IIb, 175; vgl. Hauptmann 1969, S.80) Ebda.

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SprengelI Sternke

Schrift den fünften Band der Bruno-Gesamtausgabe 51 gelesen hat. Dieser Band, die "Eroici furiosi (Zwiegespräche vom Helden und Schwärmer)" ist von stärkeren Lesespuren gezeichnet als der dritte, welcher 238 Seiten hat, jedoch nur bis S.73 Anstreichungen aufweist und ab S.121 nicht mehr aufgeschnitten ist. Zum Verständnis des Tagebucheintrags vom 5. Juli 1906 ist aufschlußreich, daß in den "Eroici furiosi" die Stellen stark angestrichen sind, an denen die Gegensätzlichkeit von Himmel und Hölle, Geist und Körper thematisiert wird. Da, wo Bruno sagt, daß Harmonie nur da existiert, wo "Gleichgewicht unter verschiedenen Wesen waltet und jegliches Wesen seine Natur wahren kann", hat Hauptmann ein mit einem Ausrufezeichen versehenes "Also!" an den Rand geschrieben. 52 Die verstärkte Beschäftigung mit den "Eroici furiosi" und insbesondere mit dem Symbol des Lichtes hat ihren Niederschlag in dem Roman "Der Narr in Christo Emanuel Quint" gefunden. Aber auch die Tagebucheintragung vom 5. Juli 1906 stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen Hauptmanns Bruno-Lektüre und diesem Werk dar. So wird beispielsweise die Wahrnehmung der Helligkeit einer beleuchteten Räche von einem hochliegenden Punkt ganz so dargestellt, wie bei Bruno: "Am Ende der Kirschenallee angelangt, wurden die Wanderer von den ersten warmen Strahlen der Sonne berührt. Um nun das erhabne Gestirn über die weite Fläche des Erdreichs auftauchen zu sehen, erklommen sie eine gelinde Böschung." 53 Die Opposition der Bilder Feuer und Wasser ist in dem gesamten Roman strukturierend, z.B. "Das Schwefelfeuer der Läuterung hatte wohl nun, wie er annahm, die Zungen genugsam nach einem Tropfen lebendigen Wassers durstig gemacht, nach jenem erquickenden Element, dessen tiefer Brunnen ihm offenstand." 54 Immer wieder wird suggeriert, daß der Gottsucher Quint auf das Martyrium Brunos zusteuert: "Wie Flammen umfloß seine Stime, Schläfen, Wangen und Schultern das rote Haar, als wären es heilige Flammen, die ein Opfer verbrennen, das sich selbst darbringt." 55 Und so ist der einsame Kältetod Quints, den man erst einige Monate später, nach der Schneeschmelze, findet, ein Gegenstück zu dem Tod im Feuermeer, das sich in den Augen der Menge spiegelt. Es wird deutlich, daß es bei der Kommentierung eines Tagebuches mit Werkstattcharakter interessant sein kann, die spätere Weiterverarbeitung der zu kommentierenden Texte zu berücksichtigen. Andererseits verdeutlicht das Beispiel, wie problematisch es ist, hier mit Bestimmtheit intertextuelle Bezüge aufzudecken. 56 Das liegt im Fall Hauptmann vor allem daran, daß er sehr komplizierte Verfahren zur Transformation von 51

52 53 54 55 56

Giordano Bruno: Eroici furori (Zwiegespräche vom Helden und Schwärmer). Ins Deutsche übertragen von Ludwig Kuhlenbeck. 2.Aufl. Jena 1907. (Giordano Bruno: Gesammelte Werke. Hrsg. von Ludwig Kuhlenbeck, Bd.S). Hauptmanns Exemplar in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz hat die Signatur 202287-5 R. Ebda. S.83. CA V 33. CA V 28. CA V 33. So ließe sich beispielsweise auch eine Verwendung der anfangs zitierten Tagebuchpassage in "Der Ketzer von Soana" (1918) nachweisen. Hier wird Brunos Auffassung von der Allgegegenwart eines der Welt immanenten Schöpfers zur Legitimierung des Liebeserlebnisses des Priesters und des sein Dasein einem Inzest verdankenden Mädchens eingesetzt; vgl. CA VI 159.

Das Tagebuch als literarischer Text

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Bildern verwendete, sehr unterschiedliche Quellen verschmolz und gleichzeitig den Produkten gegenüber eine große Freiheit bewahrte, um sie immer wieder zu modifizieren. Da er oft über Jahrzehnte an einem Werk und dabei gleichzeitig an zahlreichen anderen arbeitete, dürfte die Analyse der Texte ebenso aufwendig sein, wie es einst deren Synthese war. Für die Bruno-Rezeption Hauptmanns ist es weiterhin interessant, daß er einen Satz aus dem ersten Dialog herausnimmt und poetologisch funktionalisiert, indem er hinzufügt: "Zur Dramaturgie Überschreibe Deine Dramaturgie: 'die Stimmen.'" 57 Es handelt sich um die Replik des Burchio: "Und ich, wenn ich auch die Gedanken nicht verstehe, werde doch die Worte hören, und wenn nicht die Worte so doch die Stimmen." 58 Burchio ist bei Bruno die personifizierte Borniertheit, so wird ein Sachverhalt "in einer dem mittleren Verständnisse angepaßten Begründungsart behandelt, indem Fracastorio sich dem Begriffsvermögen eines Burchio anzupassen versucht". 59 Der Versuch scheitert, und Burchio wird aus der Philosophenrunde ausgeschlossen. Abschließend ein Hinweis darauf, wie Hauptmann die bei der Bruno-Lektüre gewonnenen Bilder und Strukturen zur Darstellung und Deutung des eigenen Lebens nutzt: O, es waren Augenblicke der Schönheit, als sie mit blossem Oberkörper in der Strandsonne Rügens neben mir sass: wo ihr vermuthet, dass jemand einen Strahl der Schönheit empfindet, dort verstärkt seine Freude! freut euch mit ihm. Erweitert euer Individuum, schlagt seinen Panzer durch, wie Bruno das Himmelsdach.60

Bei der erwähnten Frau handelt es sich nicht um Margarete Hauptmann, sondern um die Schauspielerin Ida Orloff; die literarische Anspielung bezieht sich auf das erste, in Hauptmanns Handexemplar angestrichene Terzett des Sonetts, mit dem Brunos EinleitungsSchreiben zur Schrift "Vom unendlichen All und den Welten" abschließt: Die Schwingen darf ich selbstgewiß entfalten. Nicht fürcht' ich ein Gewölbe von Kristall, Wenn ich der Äther blauen Duft zerteile.61

57

58 59 60 61

GH Hs IIb, 175; vgl. Hauptmann 1969, S.80. Schon in Hauptmanns Wiener Rede von 1905, später unter dem Titel "Die Sendung des Dramatikers" veröffentlicht, wird ähnliches formuliert: "es meldeten sich in meinem Innern stets viele Stimmen zum Wort, und ich sah keine andere Möglichkeit, einigermaßen Ordnung zu schaffen, als vielstimmige Sätze: Dramen zu schreiben" (CA VI 689). Bruno 1904, vgl. Anm.40, S.50. Ebda. vgl. Anm.40, S. 14. GH Hs IIb, 176; vgl. Hauptmann 1969, S.80f. Bruno 1904, vgl. Anm.40, S.26.

Brigitte Leuschner

Kommentierende und kommentierte Briefe Zur Kommentargestaltung bei Briefausgaben

Ohne das Definitionsproblem hier zur Diskussion zu stellen, möchte ich eine kurze Bemerkung zur Terminologie vorausschicken. Der Begriff 'Kommentar' ist in seinem Bedeutungsgehalt stark von dem Moment der Interpretation mitgeprägt, während 'Erläuterungen' und 'Anmerkungen' mehr das Moment der Information zum Zwecke des besseren Textverständnisses assoziieren. Und gerade das scheint mir bei Briefen die Hauptsache zu sein. Ich erinnere an das Kolloquium der DFG von 1975 über Probleme der Briefedition, bei dem Norbert Oellers in der Diskussion zur Briefkommentierung konstatierte: "Ein 'Kommentar' im eigentlichen Sinne der alten Wortbedeutung ist in wissenschaftlichen Briefausgaben zwar durchaus denkbar, dort aber in der Regel noch weniger angezeigt als in Werkausgaben."1 Ich verwende hier die Begriffe 'Kommentar" und 'Kommentierung', die im Tagungsthema vorgegeben sind, im Sinne von und synonym mit 'Erläuterungen' bzw. 'Anmerkungen', wobei die dazu gehörenden Abschnitte Überlieferung und Varianten hier außer Betracht bleiben. Mit solchem Begriffsverständnis arbeitet auch Manfred Windfuhr in seinem Diskussionsbeitrag auf dem Heine-Kolloquium 1990.2 Seine Ausführungen beziehen sich jedoch auf Werkausgaben. Bei Briefen hat der Kommentar eine andere Funktion als bei Werken, der Herausgeber als Kommentator eine andere Aufgabe. Ob und wann fiktionale Texte einen Kommentar erfordern, der Interpretation einschließt, ist in der Fachdiskussion umstritten. Briefe verlangen, so meine ich, nur in seltenen Fällen einen Kommentar im Sinne einer Interpretation. Bei einem fiktionalen Text stellt sich der Autor/ die Autorin als Adressaten eine größere Gruppe von unbekannten, meist nicht näher zu bestimmenden Personen vor. Das bedeutet, der Text muß ein allgemeines Interesse beanspruchen. Er wird objektiviert sein. Ein Brief richtet sich an einen oder wenige bekannte Adressaten, kann also subjektiver sein und das Interesse an individuellen Gegebenheiten und persönlichen Mitteilungen voraussetzen. Durch solche Subjektivität bietet er Informationen, die - z.B. für die Entstehung eines Werkes - ihrerseits als Kommentar verwendet werden. Briefzitate und -auszüge bilden eine wichtige Quelle, auf die sich Kommentare zu Werkausgaben stützen. Biographische Daten und Fakten werden durch Briefe belegt und / oder erläutert. Politische Ereignisse können durch Briefe kommentiert werden; die Rezeption literarischer Werke spiegelt sich in brieflichen Äußerungen. Die Briefschreiber/Innen sind Augenzeugen des Zeitgesche1

2

Wolfgang Frühwald (Hrsg.): Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Referate und Diskussionsbeiträge. Bonn-Bad Godesberg 1977, S.l 12. Vgl. M. Windfuhr: Zum Verständnis von Kommentar und Genese. In: editio 5,1990, S.173-177.

Kommentierende und kommentierte Briefe

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hens. Briefe haben somit kommentierende Funktion. Je mehr allerdings ein Brief objektiviert ist, d.h. dem Charakter eines Werkes nähert, oder einen solchen Charakter annimmt, je mehr wird er auch in ähnlichem Maße wie ein Werk kommentiert werden müssen. Von solcher Annäherung zwischen Brief und Werk einmal abgesehen, werden Briefe in den meisten Fällen mehr Informationen enthalten als bedürfen. Denn gerade um dieser subjektiven, individuellen Informationen willen werden Briefeditionen veranstaltet. Briefe stellen authentische Zeugnisse dar. Sie sind historische Dokumente, die durch die in ihnen enthaltenen Informationen ihrerseits Kommentarfunktion erfüllen können. Das wird besonders deutlich bei Briefwechseln. Hier können sich Brief und Antwortbrief gegenseitig erläutern, so daß die Kommentierung oft nur in Verweisungen besteht. Werden nur die Briefe eines Korrespondenten / einer Korrespondentin publiziert, so werden erhaltene Antwortbriefe mit herangezogen und in den Erläuterungen zitiert und referiert. Auch Briefe ein und desselben Schreibenden können untereinander zur Erläuterung herangezogen werden, wenn derselbe Sachverhalt oder dasselbe Thema in mehreren Briefen zur Sprache kommt. Auch hier wird man in Erläuterung mit Verweisungen arbeiten, auch hier erläutern sich Briefe gegenseitig. Ferner können Briefe aus dem Umkreis des Schreibers /der Schreiberin zur Erläuterung verwendet werden, da sie oft wichtige Aufschlüsse zum Verständnis des Brieftextes bieten. Bei solchen wechselseitigen Beziehungen in Briefen von, an und über einen Briefeschreiber /einer Briefeschreiberin handelt es sich um Erläuterung durch Briefe, anders gesagt, um kommentierende Briefe. Solche kommentierenden Briefe können editorisch auf verschiedene Weise behandelt werden. Ein gängiges Verfahren ist, in den Anmerkungen aus Antwort- oder Umfeldbriefen zu zitieren, zu referieren oder darauf zu verweisen. Unpublizierte Briefe werden auch wohl in extenso im Erläuterungsteil abgedruckt, um die Information geschlossen darzubieten, ohne sie durch Umformulierung des Herausgebers zu brechen. Ein weiterer Schritt ist dann, solchen Umfeldbrief in den Textteil hineinzunehmen. Dadurch wird ihm zwar formal die Funktion des Kommentierens genommen, inhaltlich aber behält er sie. Kommentierender und kommentierter Brief rücken dann eng zusammen. Als ein Beispiel für diesen Typ von Briefausgaben sei die Ausgabe der Musil-Briefe genannt,3 die sowohl Briefe von, an und über Musil enthält, und zwar letzteres sowohl im Text als auch im Kommentarteil. Das zeigt die Problematik im Umgang mit kommentierenden Briefen. Diese wird noch deutlicher in dem kürzlich erschienenen Band in der Reihe der Storm-Briefwechsel, der die Beziehung zwischen Storm und Groth dokumentiert. In einem Anhang sind Briefe der beiden Korrespondenten an einen dritten Adressaten abgedruckt, die sich mit einem gemeinsamen Thema befassen, das auch in dem Briefwechsel zwischen Storm und Groth angesprochen wird. Diese Briefe haben Kommentarfunktion; ihre Plazierung im Anhang begründet der Herausgeber damit, daß das kommentierende Material für Einzelanmerkungen zu umfangreich, für das 3

Robert Musil: Briefe 1901-1942. Hrsg. von Adolf Friese, unter Mithilfe von Murray G. Hall. Bd.l: Briefe. Bd.2: Kommentar, Register. Reinbek 1981.

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Brigitte Leuschner

Verständnis einzelner Stellen aber überaus hilfreich, manchmal unerläßlich sei. Zudem seien diese im Anhang gedruckten Briefe über das Inhaltsverzeichnis leichter zugänglich. Soweit ist dem Herausgeber zuzustimmen. Dann aber heißt es: "Weil eine neuerliche Kommentierung auch dieser Briefe selbstverständlich nicht zu vertreten ist, wird der Kontext, in dem sie stehen und den sie bilden, einleitend expliziert."4 Das bedeutet, daß kommentierende Briefe ihrerseits einen Kommentar erfordern und auch erhalten; nur wird dieser an anderer Stelle untergebracht, nämlich in einer Einleitung. Hier handelt es sich sicher um einen exzeptionellen Fall editorischer Praxis, dessen negative und positve Aspekte hier nicht im einzelnen erörtert werden sollen.5 Das Beispiel dient in der von mir hier zugespitzten Darstellung nur dazu, die Verquickung von kommentierenden und kommentierten Briefen sichtbar zu machen. Das editorische Problem ist also, wie und wo können kommentierende Briefe am besten dargeboten werden, wenn sie als Erläuterung dienen sollen. Eine generelle Lösung dürfte es kaum geben. Die Entscheidung kann nur pragmatisch getroffen werden, d.h. aufgrund der Überlieferung und unter Berücksichtigung der Relevanz des Kommentars. Für kommentierte Briefe dagegen, also für die Anmerkungen zu Briefen, gibt es exemplarische Modelle, die hier vor- und zur Diskussion gestellt werden sollen. Viele innerhalb von Briefen enthaltene Informationen sind oft so formuliert oder nur angedeutet, daß zwar der ursprüngliche Empfänger des Briefes sie vollständig verstehen konnte, der spätere Leser aber Erläuterungen bedarf. Ähnlich wie ein Werk enthält auch ein Brieftext sogenannte Leerstellen, die vom Leser ausgefüllt werden müssen. Dazu sind zusätzliche Informationen erforderlich, die die Erläuterungen zu Briefen bieten müssen. Das bedeutet, die bereits im Brief enthaltenen Informationen müssen ergänzt und erschlossen werden. In diesem Charakter der Erläuterungen sehe ich das Spezifische der Kommentierung von Briefen. Diese Funktion sollte bei der Überlegung berücksichtigt werden, wie und wo Briefe kommentiert werden sollen, also bei der Entscheidung über den Bezugstext und die Anordnung. Die klassische und traditionelle Praxis des Stellenkommentars ist auch bei Briefen unverzichtbar. Besonders bei Briefen aus früheren Jahrhunderten werden einzelne Wörter, Begriffe und Wendungen sowie historische Fakten erläutert werden müssen. Diese bilden bei der punktuellen Erläuterung gewissermaßen die kleinste Einheit als Bezugstext. Darüber hinaus kann eine syntaktische Einheit erläuterungsbedürftig sein. In beiden Fällen ist der Bezugstext klar abgrenzbar und kann eindeutig im Kommentar wenn auch mit gekennzeichneten Auslassungen [...] - als Lemma erscheinen. Anders verhält es sich bei inhaltlichen Erläuterungen. Hier kann sich die Anmerkung auf eine kürzere oder längere Textpartie, also auf einen Teil des Briefes beziehen, der nicht genau verbal einzugrenzen ist. Sie kann auch den gesamten Brief betreffen, ohne daß sie an einzelne Textstellen angebunden werden muß. Der Brief bildet einen natürlichen Abschnitt als Bezugspunkt innerhalb einer Briefedition. Ihm werden auch die Stellenanmerkungen zugeordnet, obwohl sie außerdem meist durch Seiten- und 4

5

Theodor Storm - Klaus Groth: Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Mit Dokumenten und den Briefen von Storm und Groth zum Hebel-Denkmal im Anhang. Hrsg. von Boy Hinrichs. Berlin 1990. S.26. Vgl. dazu die Rezension von Brigitte Leuschner. In: DLZ 113,1992, S.355-357.

Kommentierende und kommentierte Briefe

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Zeilenzahl ausgewiesen werden. Wenn in einer Gesamterläuterung zu einem Brief die erläuterungsbedürftigen einzelnen Textstellen alle erfaßt und somit aufgehoben werden können, ist diese Form der punktuellen Erläuterung vorzuziehen. Das ist sicher nur bei einigen, meist kürzeren Briefen durchzuführen. Hier allerdings erweist sich die punktuelle Erläuterung als unpraktisch, ja unangemessen. Unzulänglich wird sie, wenn sich eine Anmerkung auf briefübergreifende Themen bezieht, oder auf Personen und Orte, die in mehreren Briefen begegnen. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird dann mit Verweisungen gearbeitet. Sind häufige Verweisungen erforderlich, stellen diese ebenfalls Wiederholungen dar. Um dem zu begegnen, kann eine Bündelung oder Sammelanmerkung vorgenommen werden. Das bietet sich vor allem bei Briefempfängern an, an die entweder viele Briefe gerichtet sind, oder die eine bedeutende Rolle für den Briefschreiber spielen. Hier wird an einer Stelle, meist beim ersten Auftauchen, die Beziehung zum Briefschreiber in einer Anmerkung kurz dargelegt. Über das Register ist die Anmerkung auch ohne Verweisung zu finden. Beide Verfahren, mit und ohne Verweisung, werden praktiziert und bewähren sich bei der Benutzung. 6 Ähnlich kann man bei Personen verfahren, die zwar nicht als Empfänger in Erscheinung treten, sondern nur im Brieftext begegnen, aber eine wichtige Rolle im Leben des Briefschreibers gespielt haben. Gegebenenfalls kommen auch Aufenthaltsorte für solche generellen Anmerkungen in betracht. Eine weitere - allerdings anders zu bewertende - Möglichkeit der briefübergreifenden Kommentierung sind Erläuterungen zu einer Gruppe von Briefen. Dies Verfahren wird bei Auswahl- und Leseausgaben angewandt. Hier sind die chronologisch angeordneten Briefe meist in Perioden eingeteilt, die entweder vom Lebenslauf des Schreibers oder von zeitgeschichtlichen Einschnitten bestimmt werden. Diesen Perioden werden jeweils Ausführungen vorangestellt, die den zeitgeschichtlichen Hintergrund skizzieren oder /und die biographischen Fakten mitteilen, die zum Verständnis der Briefe nützlich oder notwendig sind bzw. dem Herausgeber so erscheinen. Hierdurch kommt ein interpretatorisches Moment hinein.7 Ein methodischer Unterschied zu wissenschaftlichen Ausgaben besteht darin, daß die klare Trennung von Autor- und Herausgebertext aufgegeben ist. Zur fortlaufenden Lektüre werden dem Leser abwechselnd Brieftexte und Herausgebertexte geboten. Obwohl beides drucktechnisch unterschieden sein kann, wird bei dieser Textanordnung eine narrative Rezeption nahegelegt, besonders, wenn außer den einleitenden Bemerkungen zu jeder Briefgruppe noch zwischen den Brieftexten Herausgeberergänzungen eingeschaltet sind. Solche Verknüpfung von Brieftext und Kommentar ist also an einen bestimmten Editionstyp gebunden. Dagegen können die anderen übergreifenden Kommentarformen - Sammel- und Gesamtanmerkung - den Einzelstellenkommentar bei wissenschaftlichen Ausgaben sinnMit Verweisung: Z.B. Hebbel-Briefe. Neue und ergänzte Briefe und Regesten der bisher gedruckten Briefe. Hrsg. Tilo Alt. Berlin 1989. Ohne Verweisung: Z.B. Schillers Werke. Nationalausgabe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Bd.23ff.: Schillers Briefe. Weimar Beispiele: Liselotte von der Pfalz. Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orleans an ihre Geschwister. Hrsg. Heinz Herz. Leipzig 1972. - Ich war wohl klug, daB ich dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777-1785. Hrsg. von Ilse Schreiber. München 1980.

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Brigitte Leuschner

voll entlasten. Außerdem ergänzen sie ihn, indem sie Beziehungen und Zusammenhänge von mehreren Briefen deutlicher erkennen lassen als bei rein punktueller Erläuterung. Finden Herausgeber stellen sie einen Schnittpunkt dar, an dem sich zwei Diskurse treffen, nämlich die streng textbezogene Erläuterung und die darüber hinausweisende. In einer Sammel- oder Gesamtanmerkung ist der Übergang vom Kommentar zur eigenständigen Untersuchung angelegt. Um beides zu verbinden, ist der Begriff 'Kommentar-Essay' geprägt worden. Dieser scheint mir jedoch, jedenfalls bei Briefausgaben, problematisch. Denn ein Essay sollte nicht im Kommentar untergebracht werden. Die Gründe für und wider sind oft diskutiert worden, so daß ich hier nicht näher darauf eingehe, sondern nur den Grundsatz wiederhole: Editionen, auch Briefeditionen, sollen Forschungen ermöglichen, stimulieren, Voraussetzungen dafür schaffen, Richtungen und Perspektiven aufzeigen. 8 Damit ist nichts gegen die knapp gehaltene Gesamtanmerkung gesagt, die eine gute und willkommene Ergänzung zum Stellenkommentar ist. Sie sollte jedoch thematisch auf den Brieftext bezogen bleiben und nicht zu einer Abhandlung oder Miszelle ausufern, der die Briefstelle nur als Ausgangspunkt dient. Das Problem für den Herausgeber besteht darin, daß seine durchzuführenden Ermittlungen oft sehr zeitaufwendig sind, so daß er das schließlich zutage geförderte - manchmal - umfangreiche und auch aufschlußreiche Material nicht gerne ungenutzt im Zettelkasten oder auf Diskette gespeichert archivieren möchte. Seine Situation ist der eines Goldwäschers ähnlich, der eine Menge Flußgestein fischen und fangen muß, um daraus ein Körnchen Gold zu gewinnen. Und es erfordert eine gewisse Entsagung, aus einem umfangreichen ermittelten Material eine knappe textbezogene Anmerkung zu formulieren. Anders jedoch als der Goldsucher kann der Herausgeber als Kommentator aus seinem Flußgestein ein neues Thema oder einen Gegenstand für die Forschung gewinnen, so daß daraus eine eigenständige Untersuchung wird. Außerdem wächst ihm ein Kenntnisfundus zu, der, wenn auch nur mittelbar, seiner weiteren Arbeit zugute kommt. Als methodischer Grundsatz sollte daher gelten: Das durch Ermittlung aufgespürte Material wird stets umfangreicher sein als die daraus entstehende Anmerkung. Es gilt also gegen die Versuchung zu kämpfen, alles Ermittelte, Gefundene oder Entdeckte auch in der Anmerkung darzubieten. Ein wichtiges Instrument zur Entlastung des Stellenkommentars und zur Vermeidung von Wiederholungen sind erläuternde Register, hauptsächlich Personenregister. Je nach Befund des Textes können Werk- und Ortsregister nützlich sein, gegebenenfalls Sachregister, die gerade bei Briefausgaben die Auswertung und Nutzung der Texte auch in Auswahlausgaben - beträchtlich erweitern können. 9 Zu erwägen ist auch, ob häufig wiederkehrende erläuterungsbedürftige Begriffe und Wendungen, die den Stellenkommentar durch Wiederholung oder Verweisung belasten, in einer alphabetischen Liste erklärt werden können, ähnlich wie das bei beibehaltenen Abkürzungen geschieht.10

8 Vgl. dazu auch: Brigitte Leuschner. Rez. zu: Christian Morgenstern. Werke und Briefe. Stuttgarter Ausgabe. In: editio 4, 1990, S.252/53 9 Beispiele: Schillers Briefe, vgl. Anm.6. - Theodor Storm: Briefe. Hrsg. von Peter Goldammer. Bd.2. Berlin und Weimar 1972, S.611-620 10 Beispiel: Georg Forsters Werke. AA 12, S.449/450.

Kommentierende und kommentierte Briefe

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Insgesamt möchte ich bei dem Bezugstext für eine Kombination der vorgestellten Möglichkeiten plädieren, d.h. für eine elastische und pragmatische Kommentargestaltung bei Briefausgaben. Hierbei sollten, wenn es sich als nützlich erweist, traditionelle und sanktionierte Gepflogenheiten aufgegeben und neue drucktechnische Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Bei der Anordnung der Anmerkungen dagegen muß eine Entscheidung zwischen vier Modellen getroffen werden. Diese erlaubt Rückschlüsse auf den Stellenwert, der ihnen zugebilligt wird. Stehen Anmerkungen am Ende jeder Druckseite als Fußnote, so wird der punktuelle Charakter betont. Denn die Druckseite ist ein willkürlicher, mechanischer Einschnitt des Brieftextes. Durch die Plazierung am Ende jedes Briefes wird zwar der enge Zusammenhang von Brieftext und Anmerkung hergestellt, bei längeren Briefen jedoch dürfte dies Verfahren für den Leser und Benutzer unpraktisch sein. Besser zu handhaben ist die Anordnung am Ende eines Bandes, die die Zusammengehörigkeit von Text und Anmerkungen durch die gemeinsame Buchbindung gewährleistet. Dies ist bei Anmerkungen in einem gesonderten Band, der allerdings gewisse Vorteile für den Benutzer und auch für die Herstellung hat, weniger gegeben. Bei der Entscheidung über die Anordnung der Anmerkungen sollte in erster Linie der Umfang von Text und Erläuterungen eine Rolle spielen. Bei der Berücksichtigung der drucktechnischen Praktikabilität - die aus ökonomischen Gründen eine Rolle spielen muß - sollte keinesfalls der Gesichtspunkt des Lesers und Benutzers außer acht gelassen werden, für den die Edition hergestellt wird. Die hier vorgestellten Möglichkeiten der Kommentargestaltung bei Briefen bieten dem Herausgeber einen Spielraum, der je nach dem Befund des Textes genutzt werden sollte. Das Ziel dabei müßte sein, die Erschließung des Textes zu unterstützen, die seiner Interpretation vorausgehen muß.

Regina

Nörtemann

Probleme der Kommentierung in Auswahlausgaben am Beispiel der Edition des Briefwechsels zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim

Bevor ich auf Probleme der Kommentierung in dieser Auswahledition eingehe, möchte ich einige a l l g e m e i n e Überlegungen zur Kommentierung v o n Briefausgaben voranschicken, die sich als ein Fazit der Beschäftigung mit der eigenen Edition s o w i e der Diskussion um Kommentierungsprobleme in den letzten zwanzig Jahren verstehen. 1

Orte des Kommentars Orte für den Teil des Kommentars einer Auswahlausgabe, der sich nicht von d e m einer Gesamtausgabe unterscheidet, sind -

der Stellenkommentar (als Ort für Erläuterungen von Sachverhalten in den Briefen)

-

übergreifende Kommentare einschließlich kommentierende Register, Listen etc.

-

Anhänge mit Briefen von Dritten und an Dritte und anderen Dokumenten

Orte für den Teil des Kommentars, der sich in einer Gesamtausgabe erübrigt, da sich dort die B r i e f e in g r ö ß e r e m U m f a n g g e g e n s e i t i g k o m m e n t i e r e n , sind in einer Auswahlausgabe -

Regesten der Stellenkommentar (als Regestenersatz)

Ich beziehe mich vor allem auf die Sammelbände: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971; Probleme der Kommenuerung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Frankfurt/M. 12.-14. Oktober 1970 und 16.-18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1975; Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Schloß Tutzing am Starnberger See, 8.-11. September 1975. Referate und Diskussionsbeiträge hrsg. von Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mähl und Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1977; Ediüon und Interpretation/ Edition et Interprdtaüon des Manuscrits Littiraires. Akten des mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Centre National de la Recherche Scientifique veranstalteten deutschfranzösischen Editorenkolloquiums Berlin 1979. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bein, Frankfurt/M., Las Vegas 1981; Ediüon et Manuscrits. Probleme der Prosa-Ediüon. Akten des mit Unterstützung des Centre National de la Recherche Sciennfique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1983. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt/M., New York, Paris 1987; ediüo. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 1987 ff. Ich setze die einzelnen Beiträge zum Thema als bekannt voraus. - Es haben sich auch im Laufe der Tagung Überschneidungen mit anderen Referaten ergeben, so etwa mit dem von Hans Gerhard Senger, der ebenso wie ich den Begriff des Metakommentars einfuhrt, und mit dem von Brigitte Leuschner.

Probleme der Kommentierung

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übergreifende Kommentare (die sich auf nicht abgedruckte Passagen beziehen).

An den zuletzt genannten drei Orten können Sachverhalte aus nicht abgedruckten Briefen dargestellt werden, die für das Verständnis der abgedruckten Briefe notwendig sind. Das heißt also, daß in einer Auswahlausgabe ohne Regesten wie die Ausgabe des Briefwechsels zwischen der Karschin und Gleim im Stellenkommentar und im übergreifenden Kommentar Funktionen übernommen werden müssen, die in anderen Ausgabetypen die anderen Briefe oder Regesten übernehmen. Übergreifende Kommentare können sich bei allen Ausgabetypen sowohl im editorischen Bericht, im Nachwort als auch in Listen, Registern, Anhängen und einzelnen Abschnitten vorangestellten Passagen befinden.

'Metakommentar' Eine Auswahlausgabe muß in noch weitreichenderem Maße als eine Gesamtausgabe ihren Standort und ihre Prinzipien transparent machen. Die Editorin / der Editor einer Auswahlausgabe ist in der Hinsicht in größerem Ausmaß Autor2 als die Editorin / der Editor einer Gesamtausgabe, als er /sie sowohl durch die Auswahl als auch durch den Kommentar interpretiert. Anders ausgedrückt: er / sie muß einen doppelten Interpretationsvorgang berücksichtigen: den ersten Schritt, der im Prozeß der Auswahl aus dem gesamten überlieferten Material besteht, und den zweiten Schritt, in dem das durch die Auswahl bereits 'vorkommentierte' Material kommentiert wird. Die beiden Schritte sollten in einer Art von 'Metakommentar' selbst kommentiert werden. Der 'Metakommentar' ist der Ort, an dem in der Auswahlausgabe wie in der Gesamtausgabe transparent gemacht werden: -

der historische und wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund der Edition die Prinzipien des Stellenkommentars (einschließlich Lemmatisierung, die ihrerseits bereits Interpretation enthält) die Prinzipien des übergreifenden Kommentars (einschließlich von Listen, Registern etc.) Überlegungen zu Enthaltsamkeit bzw. Nicht-Enthaltsamkeit bei der Kommentierung, etwa Berücksichtigung bzw. Nicht-Berücksichtigung von Forschungsliteratur.

Im 'Metakommentar' der Auswahlausgabe müssen darüber hinaus transparent gemacht werden -

die Prinzipien bzw. der Interpretationsvorgang der Auswahl.

Klaus Briegleb: Der Editor als Autor. Fünf Thesen zur Auswahlphilologie. In: Texte und Varianten,vgl. Anm.l, S.91-116.

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Regina Nörtemann

Zur Edition des Briefwechsels Karsch - Gleim 3 Bei der Edition des Briefwechsels Karsch - Gleim handelt es sich um eine Auswahlausgabe ohne Regesten, die etwa ein Drittel der gesamten erhaltenen Korrespondenz in zwei Bänden präsentieren wird. Unser Projekt ist angesiedelt im Forschungsprojektschwerpunkt "Der Brief als kommunikatives und literarisches Faktum. Ein interdisziplinärer Beitrag zur Theorie und Geschichte des Briefs seit dem 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Frau als Autorin und Adressatin" (Betreuung Prof. Dr. Anke Bennholdt-Thomsen) am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin. Auf eine eingehendere Darstellung unserer Arbeit kann hier verzichtet werden, da wir an anderer Stelle bereits ihre Grundzüge dargestellt haben.4 Die oben angesprochenen Kommentierungsprobleme sollen nun an einigen konkreten Fragestellungen, die sich direkt auf unsere Ausgabe beziehen, exemplifiziert werden: 1) Zur hermeneutischen Voraussetzung des Kommentars: Sowohl in der Auswahl der Briefe, als auch in der Bestimmung der Lemmata ist schon 'Interpretation' vorhanden. Wie weit kann man in der Kommentierung zurückhaltend sein? Wie läßt sich Zurückhaltung, bzw. Nicht-Zurückhaltung rechtfertigen oder zumindest reflektieren? Eine Aufgabe des 'Metakommentars' der Ausgabe ist es, die strukturelle Veränderung darzustellen, die sich dadurch ergibt, daß das Verhältnis der Anteile der Korrespondenten an der Gesamtkorrespondenz gegenüber dem überlieferten Material verschoben wird zugunsten eines angenommenen historischen Zustandes. Darüber hinaus ist bei der Beschreibung der Kriterien für die Auswahl, die Lemmatisierung und die Kommentararbeit zu berücksichtigen erstens die historische Situation, in der die Arbeit begonnen wurde, zweitens der Standort dieser Edition im wissenschaftlichen Diskurs - sowohl im Hinblick auf 'gender studies' als auch auf Diskussionen in Editorenkreisen. Die Zurückhaltung im Stellenkommentar (siehe 2)) läßt sich mit Hinweis auf übergreifende Kommentierung rechtfertigen. Dem Lesepublikum werden im editorischen Bericht die Orte genannt, an denen Sachinformationen und die, an denen interpretierende oder die Interpretation reflektierende Passagen zu finden sind. 2) Welche Sachverhalte werden im Stellenkommentar erfaßt? Welche Sachverhalte lassen sich nicht durch den Stellenkommentar darstellen, bzw. welche Sachverhalte lassen sich ökonomischer an anderer Stelle verhandeln? Wo ist übergreifende Kommentierung notwendig?

"Mein Bruder in Apoll". Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Hrsg. von Regina Nörtemann. Bd.l: Briefwechsel 1761-1768. Hrsg. von Regina Nörtemann; Bd.2: Briefwechsel 1769-1791. Hrsg. von Ute Pott mit einem Nachwort von Regina Nörtemann. Göttingen [voraussichtlich 1993]. "Mein Bruder in Apoll". Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Vorabdruck (von fünf Briefen und Kommentaren, mit einer Einleitung). Hrsg. von Regina Nörtemann und Ute Pott Göttingen 1991.

Probleme der Kommentierung

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Der - zurückhaltende - Stellenkommentar enthält Biographisches und Bibliographisches (sofern nicht in Register, Zeittafel und Anhang erfaßt), sozialhistorische und sprachgeschichtliche Fakten, sowie diese und andere Korrespondenzen bzw. Korrespondenznetze betreffende Einzelheiten. Über die Darstellung von Korrespondenznetzen (siehe 3» hinaus werden übergreifend kommentiert: - Personen und Orte (in einem kommentierten Namenregister, das sowohl auf den Brieftext als auch auf den Kommentar verweist). - Münzen, Maße, Gewichte und Abkürzungen (in einem besonderen Abschnitt). - Werke von Karsch, Gleim und anderen Autoren werden unter den jeweiligen Namen im Register verzeichnet.. An der ersten kommentierten Stelle steht der vollständige bibliographische Nachweis. - Biographische Daten in der Zeittafel. Darüber hinaus: - Die Briefliste mit der Erfassung aller erhaltenen Briefe der Korrespondenz führt jeweils die Briefnummer in der Ausgabe, Schreibort, Datum, Briefschreiber und Inventarnummer an. An der Briefliste sind ablesbar: die Verteilung der ausgewählten Briefe im Gesamtkonvolut und die Häufigkeit des Schreibens in einzelnen Zeiträumen. Im Nachwort wird zusätzlich in groben Zügen auf Gründe für intensive und sporadische Korrespondenzzeiten, bzw. Lücken in der Korrespondenz eingegangen, sofern sich das nicht aus den Briefen selbst ablesen läßt, sondern für Erklärungen auf das 'Korrespondenznetz', in dem dieser Briefwechsel eingebettet ist, zurückgegriffen werden muß. - Sachverhalte, die häufig auftauchen und grundlegende Bedeutung für den Briefwechsel haben, wie zum Beispiel die Anspielung auf anakreontische und sapphische Tradition oder auch die Diskussion um eine zweite große Gedichtausgabe von A.L. Karsch, werden im Nachwort verhandelt. Im Stellenkommentar wird in dem Falle auf das Nachwort verwiesen. 3) Wie können bei Verzicht aufRegesten Sachverhalte aus nicht abgedruckten Briefen der Korrespondenz dargestellt werden, die für das Verständnis von abgedruckten Briefen notwendig sind? Wie verfährt man bei Verweisen auf nicht abgedruckte Briefe? Wie können Sachverhalte aus nicht abgedruckten Briefen von und an andere Korrespondenten dargestellt werden? Wie lassen sich Probleme für die Kommentierung bei Fehlen von Antwortbriefen oder Briefen an Dritte oder von Dritten lösen, auf die in der Korrespondenz Bezug genommen wird? Wie lassen sich 'Korrespondenznetze' erfassen? Im Stellenkommentar werden sowohl für das Verständnis wichtige Sachverhalte aus anderen Briefen zusammenfassend dargestellt, als auch für den Sachverhalt relevante Passagen aus nicht ausgewählten Briefen abgedruckt. Wenn auf nicht abgedruckte Briefe verwiesen wird, werden die Signatur und das Datum angegeben. Gegebenenfalls wird zusammengefaßt und/oder zitiert (Beispiel a)). Das gleiche Verfahren wird bei Briefen von Dritten oder an Dritte angewendet. Ausgenommen sind hier einige wenige wichtige Texte (wie die Lebensbeschreibung der Karschin in vier Briefen an Sulzer), die in einem

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Regina Nörtemann

Anhang vollständig abgedruckt werden und auf die im Stellenkommentar gegebenenfalls verwiesen wird (Beispiel b)). In dem Falle, daß Antwortbriefe oder Briefe an Dritte oder von Dritten nicht erhalten sind, wird zunächst deutlich gemacht, daß die Lücke nicht durch die Auswahl, sondern durch abhanden gekommene Briefe entstanden ist. In dem Falle, daß zur Klärung des Sachverhalts durch andere, noch vorhandene Briefe beigetragen werden kann, wird auf diese verwiesen. Der Nachteil der Methode, andere Briefe nicht im Text selbst, sondern in erläuternden Passagen zu dokumentieren, besteht darin, daß Korrespondenznetze nur verdeckt im Stellenkommentar bzw. Anhang ihre Darstellung finden. Will man aber nicht einen ganz anderen Typus von Ausgabe, bei dem die beiden ausgewählten Briefpartner in den Hintergrund treten zugunsten eines aus mehreren Korrespondenten bestehenden Zusammenhangs, gibt es kaum eine andere Möglichkeit, dem Problem gerecht zu werden. Allerdings wird im Nachwort (als übergreifendem Kommentar) auf Karschin und Gleim als Korrespondenten auch mit Dritten eingegangen werden, so daß, wenn ein Korrespondenznetz schon nicht strukturell wiedergegeben werden kann, es auf keinen Fall aber verschwiegen oder vernachlässigt wird. Beispiele (Ich gebe jeweils nur das Lemma wieder, auf das es in dem Beispiel ankommt.) a) [Die Karschin hatte einige Wochen zusammen mit ihrer Freundin Phillis, mit bürgerlichem Namen vermutlich Baier (die endgültige Recherche steht noch aus), in deren kleiner BrieftextWohnung (Karsch in anBerlin Gleim,gewohnt.] 6. Januar 1763) [...] ich entdekte zu viel spuhren von Eigennuz Ruhmsucht und Stollz und die Geschichte meines lezten Tages bey Ihr ist zu niedrig alß daß ich Sie erzählen köntte, mein Gleim würde die Dumheit Seiner freundin schelltten die sich so lange Zeit Eine binde vor daß Auge legen lies, kurz ich untterdrüke jeden unanständigen Zug [...]

Stellenkommentar die Geschichte meines lezten Tages bey Ihr] K. erzählt sie in einem undatierten Brief [Januar 1763] an Sophie Dorothea Gleim (K 417): " [...] ich verlies Sie mit Einer Art von Abscheu, Stellen Sie sich vor daB man mich auß Haabsucht, auß Eigennuz, auß niederträchtigen Geiz um daß liebste der Geschenke um die Dose mit den zween Amors bringen wolltte [...] wir Schienen Einander zur Last zu werden, und es war die Rede davon daß ich entweder Berlin, oder doch zum wenigsten Ihr Hauß verlaßen wolltte [...]". Zur Frage, warum K. diesen Brief nicht an Gleim selbst richtet, siehe Nachwort

Übergreifender Kommentar (Nachwort) Hier wird die Funktion der Adressatin "Gleminde" [S.D. Gleim, der Nichte Gleims, die ihm den Haushalt führte] in den Fällen, in denen K. sich nicht direkt an Gleim wendet, erläutert

Probleme der Kommentierung

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b) Brieftext

(Karsch an Gleim, 28. April 1761)

Mein Bruder in Apoll Ihr Vorgang giebt mir daß Recht Ihnen untter Einer so lieblichen Benennung anzureden, mein Bruder, dieser Nähme noch süßer als der Nähme Eines Freundes, noch mehr bedeutender, Er sey mir zum Gebrauch vergönt [...]

Stellenkommentar Ihr Vorgang] vgl. Lebensbericht in vier Briefen an Sulzer (siehe Anhang S. 000) und Brief 000. Den ersten Brief von G. (in den Hss. der Korrespondenz nicht mehr vorhanden) erhielt K. entweder am 24. April 1761, vgl. Brief 000 und Brief 000, oder am 17. Mai 1761, vgl. Brief 000.

Übergreifender Kommentar (Nachwort): Der Stellenwert der vier Briefe an Sulzer im Zusammenhang mit der Entstehung der Auserlesenen Gedichte (1764) wird u.a. im Kontext der verschiedenen brieflichen Pläne, auch Briefe der Karschin zu veröffentlichen, behandelt

Christa

Stöcker

Zur wechselseitigen Bedingtheit von Brief- und Werkkommentierung - kritische Bemerkungen zu Kommentierungsfragen der Briefe Heines

Innerhalb einer historisch-kritischen Ausgabe, die die Werke und die Briefe eines Dichters herausgibt, stellt sich die Frage, welche der beiden Abteilungen vorrangig ediert werden sollte, wobei es der Idealfall wäre, beide Abteilungen, Werke und Briefe, parallel zu fördern. Für die Heine-Säkularausgabe (HSA) wurde die Entscheidung getroffen, die Briefabteilung als erste zu erarbeiten, d.h. sie einem Zeitpunkt zu erarbeiten und zu publizieren, als die Arbeit an den Werkbänden noch gar nicht oder gerade erst begonnen hatte. Dabei waren die Gründe für diese Entscheidung zunächst ganz pragmatisch. Der bekannte Heine-Forscher F.H. Eisner war bereit, an der Ausgabe mitzuarbeiten. Sein besonderes Interesse galt Heines Briefen, hatte er doch als Mitarbeiter von F. Hirth dessen 6bändige Briefausgabe mit betreut und deren letzten Band verantwortlich erarbeitet. Mit F.H. Eisner war darüber hinaus eine Persönlichkeit gewonnen worden, der es aufgrund langjähriger persönlicher Verbindungen als einziger gelingen konnte, Zugang zu Briefen aus bisher unzugänglichen, zumeist jüdischen Privatsammlungen zu bekommen. Die Briefbände wurden zügig bearbeitet; in dem kurzen Zeitraum von nicht einmal 15 Jahren, zwischen 1970 und 1984, erschienen vier Bände Briefe von, vier Bände Briefe an Heine, die dazugehörenden Kommentarbände und der die Ausgabe vervoll-ständigende Registerband.1 Damit stand das gesamte Brief-Corpus mit zahlreichen bisher ungedruckten und unbekannten Briefen der Forschung zur Verfügung; auch die bisher schon bekannten Briefe lagen jetzt in zuverlässiger Textgestalt vor. Das führte dazu, daß die Briefbände, vom Moment ihres Erscheinens an, als Standardausgabe wissenschaftlich anerkannt waren.2 Es bedeutete einen enormen Vorteil für die Erarbeitung der Werkkommentare, daß die Briefe von und an Heine vollständig und zuverlässig ediert vorlagen und ausgewertet werden konnte.

1

2

Heinrich Heine Säkularausgabe. Im folgenden zitiert: HSA. Bd.20-23 (Briefe von Heine): 19701972; Bd.20-23 Kommentar: 1975-1976; Bd. 24-27 (Briefe von Heine): 1974-1976; Bd.24-27 Kommentar: 1978-1980; Bd.20-27 Register: 1984. M. Windfuhr schreibt im Herausgeberbericht der Düsseldorfer historisch-kritischen Gesamtausgabe dazu: "Auf eine eigene Briefabteilung konnte im Hinblick auf die Heine-Säkularausgabe verzichtet werden. Dort sind die Neuausgabe der Briefe Heines und die Erstausgabe der An-Briefe bereits weit fortgeschritten, so daß sich eine Duplizierung verbietet." (Bd. 1/2, Hamburg 1975, S.1260).

Zur wechselseitigen Bedingtheit von Brief- und Werkkommentierung

195

Als Beispiel sei hier Heines Arbeit am dritten Band des "Salon"3 betrachtet, der 1837 erschien und die beiden Texte "Florentinische Nächte" und "Elementargeister" enthält 4 Im Entstehungsprozeß dieses Buches, in einem Zeitraum von 9 Monaten, der zwischen der ersten Erwähnung eines neuen Buches und der Übersendung der Druckvorlage liegt, werden zwischen Heine in Paris und seinem Verleger Julius Campe in Hamburg etwa ein Dutzend Briefe gewechselt, die immer auch dieses Buch betreffen. Sie beginnen mit ersten Andeutungen über ein "kostbares, welterfreuliches Buch" 5 im Juli 1835, behandeln im Oktober 1835 die noch ungeklärte Titelfrage bzw. die Aufnahme des entstehenden Buches in die Publikationsform der "Salon"-Bände, erörtern am Jahreswechsel 1835/36 die durch den Bundestagsbeschluß vom 10. Dezember 1835 verschärften Zensurbedingungen und belegen die erste Manuskriptsendung Heines am 8. März 1836. Die Briefe der folgenden Monate enthalten die wiederholten Mahnungen des Verlegers, mehr Manuskript zu liefern, um mit einem Umfang von mehr als 20 Bogen wenigstens die Vorzensur zu umgehen, und die ebenso wiederholten Vertröstungen Heines, der zunächst nicht in der Lage ist, Campes Wünsche zu erfüllen, bis es ihm schließlich doch gelingt, am 5. November 1836 den zweiten Teil des Manuskripts für den dritten Band des "Salon" zu schicken. Es steht außer Frage, daß es nur mit Hilfe dieses Briefwechsels Heine - Campe gelingen konnte, die Zusammenhänge der Entstehung des drittes "Salon"-Bandes deutlich zu machen. Für die Entstehungsgeschichte sowohl der "Florentinischen Nächte" als auch der "Elementargeister" wurden immer wieder Briefzitate herangezogen; briefliche Äußerungen erwiesen sich in vielen Fällen als zuverlässiger und genauer als etwa zeitgenössische Äußerungen Dritter. Mit Hilfe der Briefe gelang es wiederholt, Einzelheiten drucktechnischer und zensurpolitischer Art zu klären. Briefe konnten für Probleme der Kommentierung herangezogen werden und lieferten darüber hinaus Informationen zu Fragen der Überlieferung, nämlich zu Entstehung und Funktion einzelner Textzeugen. Dafür ein Beispiel: Für den Text "Ueber den Denunzianten", den Heine am 23. Januar 1837 seinem Verleger Campe übersandte, um ihn als Vorrede dem dritten "Salon"Bande beizugeben, ist die handschriftliche Vorlage nicht überliefert. Obwohl Heine im Begleitbrief an Campe 6 ausdrücklich betont, er sei so vorsichtig gewesen, "eine besondere Abschrift" zurückzubehalten, ist auch diese Abschrift, wenn es sie gegeben hat, nicht überliefert, ebensowenig wie Konzepte oder sonstige handschriftliche Zeugnisse. Im Nachlaß Friedrich Hirths 7 befinden sich drei Seiten einer zeilengetreuen Schreibmaschinenabschrift Hirths; ihm lag ein Konzept Heines zur Vorrede vor, wie er selbst angibt. Interessant ist die Information, die aus der Hirthschen Umschrift für die Entstehung des Konzepts gewonnen werden kann. Die Angaben des ersten Satzes: "Ich i 4

5 6 7

Der Salon. Dritter Band. Hamburg, Hoffmann und Campe, 1837. Beide Texte und auch die für diesen Band geschriebene Vorrede "Ueber den Denunzianten" sind in Band 9 der HSA publiziert. Heine an Campe, 2.7.1835; HSA Bd.21, Nr.543. Heine an Campe, 23.1.1837; HSA Bd.21, Nr.609. Centre nationale de la recherche scientifique. Institut des textes et manuscrits modernes. Paris, Nachlaß Hirth, Nr.5118-5120.

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Christa Stöcker

schreibe diese Zeilen in der kleinen Stadt Hiers in der Provinz, wohin ich mich auf einige Wochen begeben, [...]" erlauben es, die Entstehungszeit dieses Entwurfs ziemlich genau zu bestimmen. Er wurde geschrieben auf einer Reise in die Provence, die Heine Ende September 1836 antrat und während der er sich vermutlich Mitte Oktober in Hyöres bei Toulon aufhielt. Zieht man nun eine briefliche Äußerung hinzu, so ergibt sich, daß es sich bei dem vorliegenden Konzept zum Anfang der Vorrede nicht um den ersten Entwurf handelt, vielmehr gingen ihm drei Versuche voraus. Schon am 1. September hatte Heine an Campe geschrieben: "Dreymal habe ich die Vorrede zu dem Salon bis zur Mitte geschrieben und dreymal vernichtet - [...]."" Der Brief kann hier zur Klärung der Überlieferungssituation herangezogen werden, und beide, die Umschrift Hirths und der Brief, sind Beleg dafür, daß es lange vor der Übersendung des auf den 24. Januar 1837 datierten Druckmanuskripts schon schriftlich festgehaltene Versuche einer Auseinandersetzung Heines mit Wolfgang Menzel gab. Sie waren von Anfang an als Vorrede fur den dritten "Salon"-Band vorgesehen. So unbestritten die Vorteile sind, die sich für die Werkkommentare der HSA aus der Entscheidung ergaben, die Briefabteilung zuerst zu erarbeiten, so deutlich sind deren Nachteile für die Briefkommentare. Sie resultieren daraus, daß die Ergebnisse, die bei der Kommentierung der Werke gewonnen werden, für die der Briefe noch nicht zur Verfügung standen. Das verursachte eine vielfach zu spartanische und, wenn auch nicht falsche, so doch ungenügende Kommentierung der Briefe, so daß sie nur sehr bedingt die Forderung erfüllen, die Norbert Oellers so formulierte: "Der Briefkommentar hat den Zusammenhang der Briefe mit den literarischen Werken, um derentwillen in erster Linie eine wissenschaftliche Ausgabe veranstaltet wird, aufzudecken".^ Als Beispiel einer möglichen detaillierteren Kommentierung sei Heines Brief an Campe vom 8. März 1836 betrachtet, der Brief, mit dem Heine den größten Teil der Druckvorlage des dritten "Salon"-Bandes übersandte. Er wurde 1970 in Band 21 der HSA als Nummer 570 gedruckt; der dazugehörige Kommentar erschien 1975.10 570. An Julius Campe in Hamburg Paris den 8 Merz 1836. Dienstag Eine Siindfluth von Beschäftigungen, liebster Campe, verhindert mich Ihren Brief vom 14 Februar umständlich zu beantworten. Daher für heute das Nöthigste. Ich habe Ihnen ein Paquet geschickt, dessen Inhalt Sie jetzt gewiß schon gelesen haben. Es ist das Manuscript des Buchs welches jetzt erscheinen soll. Ich will, Ihrem Verlangen gemäß, diesem Buche einen besonderen Titel geben. Wie gefällt Ihnen der Titel: "Das stille Buch"? Gefällt Ihnen dieser Titel nicht, so könnten Sie das Buch "Mährchen" tituliren. Es besteht aus drey Partien:

8 HSABd.21.Nr.592. 9 N. Oellers: Probleme der Briefkommentierung am Beispiel der Korrespondenz Schillers. In: Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schloß Tutzing am Starnberger See. 8.-11.9.1975, Mitteilungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn - Bad Godesberg 1977, S.122. 10 Vgl. HSA Bd.21, S.141f., und Bd.21 K, S.llOf. - Text und Kommentar wurden von dort übernommen, so erklärt sich die Zeilenzählung des Brieflcommentars.

Zur wechselseitigen Bedingtheit von Brief- und Werkkommentierung

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1° Elementargeister, welches eine freye Bearbeitung eines Stückes meiner "Allemagne"; alles Politische und Antireligiöse ist ausgemerzt, und das Ganze nimmt stoffartiges Interesse in Anspruch. 2° Erste Nacht (der florentinischen Nächte), worin Sie sehen daß ich die drey Thürme nicht vergesse. 3° Zweyte florentinische Nacht, welches Stück ich keine Zeit hatte nachzulesen, und in dieser Beziehung schicke ich Ihnen heute eine Notiz, die Sie bey Leibe nicht vergessen dem Setzer mitzutheilen. Das Buch muß so reichlich als möglich gedruckt werden damit es über 20 Bogen giebt; glauben Sie nicht daß das Manuscript über 20 Bogen giebt, so sagen Sie mir dieses umgehend, und ich füge noch etwas hinzu zu einer Vorrede, welche ich Ihnen gleich überschicke sobald ich Ihre Antwort habe. Die Hauptsache aber ist, daß dieses Buch gar keiner Censur, und am allerwenigsten einer p r e u ß i s c h e n C e n s u r unterworfen wird. Nie werde ich mich der preußischen Censur unterwerfen um ein Buch erscheinen lassen zu dürfen; dieses ist indirecter Verkauf, diese filzige Regierung will mich für mein eignes, wohlerworbenes Geld, für das Honorar meines Verlegers k a u f e n . Hier ist ein Ehrenpunkt. Können Sie also das Buch nicht ohne Censur drucken, so möge es ungedruckt bleiben; sind Sie aber überzeugt daß es keiner ignobeln Censur bedarf, und wollen Sie es ohne dergleichen drucken, so schicken Sie es gleich in die Presse. Es kann alsdann in fünf bis sechs Wochen erscheinen. Leider muß ich jetzt meine wichtigsten Arbeiten im Pulte liegen lassen, und hätte doch das Geld nöthig. Ist das nicht Opfer genug? Sie sehen, mein Servilismus ist nicht bedenklicher Art. Ihr Freund H. Heine.

570. An Julius Campe in Hamburg (8. März 1836) ÜBERLIEFERUNG Η

Verschollen. Ehem. Slg. Gottschalk, Berlin (Verglichen von Erich Loewenthal).

D

Strodtmann, Bd.20, S.66-68.

ERLÄUTERUNGEN 141.29

Manuscript des Buchs - "Der Salon. Dritter Band". Hamburg 1837.

141.30

besonderen Titel - Campe wünschte einen anderen Titel (s. Brief vom 16.2.1836), weil der "Salon" schon viel Ärger verursacht habe (HSA Bd.24 Nr.276).

142,4f.

eines Stückes meiner "Allemagne" - Vgl. "Oeuvres de Henri Heine V und VI: De rAUemagne" 1. und 2. Band, Paris 1835. Band 2 enthält in der "Sixifcme partie" den Anfang der "Elementargeister" (HSA Bd. 17).

142,8

drey Thürme - Gemeint ist Hamburg. Das Wappen der Stadt Hamburg enthält drei Türme. Heine spielt auf seine Schilderung von Paganinis Konzert in Hamburg an, in: "Florentinische Nächte. Erste Nacht" (HSA Bd.9).

142,10

eine Notiz -

142,16f.

keiner Censur ... unterworfen - Nach einer preußischen Verfügung vom 16. Februar 1836 sollten die Bücher der verbotenen jungdeutschen Schriftsteller in

Verschollen.

198

Christa Stöcker PreuBen erscheinen dürfen, wenn sie einer preußischen Zensur vorgelegen hatten. Vgl. zu 138,17. Trotz Heines nachdrücklichen Verlangens wurde das Buch der Zensur in Gießen vorgelegt, die die "Vorrede: Ueber den Denunzianten" (HSA Bd.9) gegen Wolfgang Menzel beanstandete; s. auch zu 139,2. - Vgl. auch Nr. 751 "Schriftstellernöthen" vom 3.4.1839.

Zu dem etwa eine Druckseite umfassenden Text wird ein Zeilenkommentar von lediglich sechs erläuterten Stellen gegeben. Keine der Erläuterungen ist falsch, aber nahezu alle können jetzt ergänzt und präzisiert weiden. So wird in der ersten Erläuterung zu dem Manuskript des Buches, dessen Übersendung an Campe Heine mitteilt, nur der bibliographisch korrekte Titel des späteren Buches mitgeteilt: "Der Salon. Dritter Band. Hamburg 1837". Man muß annehmen, daß es sich bei der Manuskriptsendung um das Manuskript des ganzen Bandes handelte, um so mehr, da beide Texte des Bandes, die "Florentinischen Nächte" und die "Elementargeister" offenbar enthalten waren. Nimmt man nun aber die Gegenbriefe Campes hinzu und kennt man die Überlieferungssituation der beiden Texte genauer, läßt sich der Inhalt der Manuskriptsendung eindeutig bestimmen. Am 15. März 1836 bestätigte Campe, daß das Manuskript eingetroffen sei, wies Heine aber sofort auf den zu geringen Umfang des Buches hin: "Für 20 Bogen ist n i c h t M s p t g e n u g . Es sind ja nur 190 Seiten Mspt!" 11 - Die Druckvorlage zum dritten Band des "Salon" ist überliefert, sie umfaßt für die "Florentinischen Nächte" zwei Manuskriptteile von insgesamt 126 Seiten und für die "Elementargeister" zwei getrennt paginierte Manuskriptteile von 106 Seiten, das ergäbe ein Manuskript von 232 Seiten. Da Campe jedoch nur 190 Seiten erhielt, muß ein Teil erst nachträglich geliefert worden sein, was durch den weiteren Briefwechsel auch bestätigt wird. Nachweislich enthielt das am 8. März übersandte Manuskript beide "Florentinischen Nächte", also 126 Seiten. Fügt man zu diesen 126 Seiten den ersten Manuskriptteil der "Elementargeister", von Heine 1 - 6 8 paginiert, hinzu, so erhält man ein Manuskript von 194 Seiten, was Campes Umfangsangabe entspricht. Diese 68 Seiten enthalten den vollständigen ersten Abschnitt der "Elementargeister", für den sich Heine auf Vorarbeiten stützen konnte. Nur dieser erste Teil sollte ursprünglich zusammen mit den "Florentinischen Nächten" den dritten Band des "Salon" bilden. Der zweite Teil der "Elementargeister", von Heine 1 - 3 8 paginiert, war im ursprünglichen Druckmanuskript nicht enthalten, ja, wie sich aus dem weiteren Briefwechsel ergibt, noch nicht einmal geschrieben. Das fehlende Manuskript wird nicht, wie von Heine geplant, 12 aus Vorarbeiten zusammengestellt, sondern im Oktober 1836 neu geschrieben. Im Brief vom 7. Oktober 1836 an Campe heißt es: "Aber die nächsten sonnigen Tagen, sobald mir nur einige Stralen Gesundheit wieder ins Gemüth fallen, schreibe ich die paar Druckbogen, die zur Ergänzung des Buches erforderlich, und ich bitte Sie bis dahin zu gedulden -", 1 3 Am 5. November schließlich sandte Heine von Aix aus das fehlende Manuskript an Campe. Campe bestätigte den Empfang am 15.

11 12 13

HSA Bd.24, Nr.280. Heine an Campe, 25.7.1836; HSA Bd.21, Nr.588. HSA Bd.21, Nr.596.

Zur wechselseitigen Bedingtheit von Brief- und Werkkommentierung

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November: "Heute Mittag erhielt ich die mir am 5 t e n d. gesandten 38 Seiten Mspt." 14 Campes Angabe, daß es sich um ein Manuskript von 38 Seiten handelte, und die Tatsache, daß die Druckvorlage zum zweiten Teil der "Elementargeister" von Heine eigenhändig 1 - 3 8 paginiert ist, belegen eindeutig, daß dieser Teil in der ursprünglichen mit dem vorliegenden Brief gesandten Druckvorlage nicht enthalten ist. Diese präzisere Kommentierung ist unerläßlich. Im Ermessen des Bearbeiters muß bleiben, ob er darüber hinausgehend an dieser Stelle mitteilt, daß der letzte Teil des Manuskripts, der zweite Teil der "Elementargeister", erst am 5. November von Heine nachgeliefert wird, daß sich der Erscheinungstermin des Bandes aber noch weit länger hinausschiebt wegen der an späterer Stelle auch in diesem Brief schon erwähnten Vorrede (S. 142,14f.), einer Stelle, die jetzt - zu Unrecht - ganz unkommentiert bleibt. Zu dieser Vorrede, die Heine hier innerhalb kürzester Zeit zusagt, sollte zumindest bemerkt werden, daß sie erst am 23. Januar 1837 an Campe übersandt wurde und daß sich vor allem ihretwegen das Erscheinen des Buches noch um mehr als ein Jahr verzögerte. Es erschien Mitte Juli 1837.15 Die zweite Erläuterung kommentiert den Satz: "Ich will Ihrem Verlangen gemäß, diesem Buche einen besonderen Titel geben" (S.141f.) mit der viel zu allgemeinen Aussage, daß Campe einen anderen Titel wünschte, weil der "Salon" schon viel Ärger verursacht habe. Der zusätzliche Verweis auf Campes Brief vom 16. Februar 1836 belegt nur diesen Wunsch Campes, bringt aber keine weitere Information, da man in der Erläuterung der entsprechenden Stelle des Campe-Briefes nur erfährt, was man eben gelesen hat, daß nämlich das Buch mit dem Titel "Salon. Dritter Band" erschien. Zur Titelfrage sollte aber etwas gesagt werden: Heine war bis zu diesem Zeitpunkt in der Frage des Titels für dieses Buch noch unentschlossen, hatte auch den Rat seines Freundes und Verlegers dazu erbeten, ein für Heine nicht ungewöhnlicher Vorgang. Aus dem ersten Brief, in dem das Buch überhaupt erwähnt wird, gewinnt man zwar den Eindruck, Heine habe schon zu diesem frühen Zeitpunkt, am 2. Juli 1835, einen Titel für sein neues Buch, wenn er an Campe schreibt: "[...] - wenn Sie keine Plapperlotte wären, würde ich Ihnen den Titel nennen", 16 aber ein solcher Titel wird im folgenden nicht genannt, vielmehr sind Autor und Verleger gleichermaßen im Zweifel darüber, welche der beiden Möglichkeiten, Einzeltitel oder Fortsetzung der "Salon"-Bände, publikumswirksamer und natürlich auch kommerziell erfolgreicher sein könnte. So heißt es im Oktober 1835: "Für mein nächstes Buch habe ich noch keinen Titel und ich weiß nicht ob ich es nicht lieber als 3 t e n Salontheil erscheinen lasse" 17 und ganz ähnlich im Dezember: "Ich habe mich noch nicht darüber entschlossen, ob ich das Buch separat oder als 3 t e n Salonband erscheinen lasse; [...]"18 In dem Moment aber, als Heine endlich entschlossen zu sein schien und am 4. Februar 1836 an Campe schrieb: "[...] ich hatte

14 15 16 17 18

HSA Bd.24, Nr.311. Campe an Heine, 29.7.1837; HSA Bd.25, Nr.364. HSA Bd.21, Nr.543. Heine an Campe, 11.10.1835; HSA Bd.21, Nr.551. Heine an Campe, 11.10.1835; HSA Bd.21, Nr.551.

200

Christa Stöcker

die Absicht dasselbe unter dem Titel: Salon 3 t e n Theil herauszugeben, [...]"19 zu diesem Zeitpunkt beurteilte Campe die Situation anders und schrieb: "Für das ietzige Buch finde ich den Salons t i t e l n i c h t p a ß e n d , denn eben der Salon enthält ja alle die Dinge welche geärgert haben mögen." 20 Auf diese Bemerkung bezieht sich Heines Wendung "Ihrem Verlangen gemäß". Die zensurpolitischen Erwägungen, die bei Campes "Verlangen" eine Rolle gespielt hatten, sollten zumindest mit einem Verweis auf die Vorgänge beim zweiten Band des "Salon", wo die Abhandlung "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" nur gekürzt erscheinen konnte, erwähnt werden. - Die Titelfrage wurde letztlich entschieden, als Campe das Manuskript in Händen hatte. Sie wurde nach inhaltlichen Gesichtspunkten entschieden, und sie wurde vom Verleger entschieden mit dem Satz: "Deswegen [wegen seines Inhalts] muß Salon 3 ter zum Titel dienen."21 Heine selbst erwähnte die Titelfrage nicht mehr. Auch in der folgenden Erläuterung ist eine Präzisierung notwendig. Zwar stimmt der Hinweis auf die "Sixifcme partie" des zweiten Bandes von "De rAllemagne"; hier war im Rahmen der "(Euvres de Henri Heine" (Band V und VI) im Jahre 1835 der Text erschienen, der dann den ersten Teil der "Elementargeister" bildete. Der HSA ist aber nicht die frühe Ausgabe von 1835, sondern die "(Euvres completes. Nouvelle ödition" von 1855 - 1857 zugrunde gelegt. In dieser Ausgabe und also auch in dem inzwischen erschienenen Band 17 der HSA entspricht der Text der "Septieme partie. Traditions populaires". Interessant und zu erläutern ist die unmittelbare folgende Wendung "alles Politische und Antireligiöse ist ausgemerzt". Diese Behauptung, hier nur für den Verleger aufgestellt, wird öffentlich wiederholt - und das sollte der Kommentar anmerken; in der Vorrede "Ueber den Denunzianten" heißt mit nahezu wörtlicher Übereinstimmung: "Die 'Elementargeister' sind nur die deutsche Bearbeitung eines Kapitels aus meinem Buche 'De rAllemagne'; alles was ins Gebieth der Politik und der Staatsreligion hinüberspielte, ward gewissenhaft ausgemerzt, [...]22 - Bei der Arbeit an den Handschriften, die für die "Elementargeister" überliefert sind, gelang es, ein umfangreiches Manuskript, das bis dahin als Konzept der "Elementargeister" angesehen wurde, genauer zu bestimmen. Es handelt sich um ein paginiertes Manuskript von 47 Seiten und 8 Beilagen, die zusammen mit dem Manuskript etwa 70 Seiten ergeben. Bei genauerer Untersuchung dieses Konzepts stellten sich Zweifel ein, ob es sich hier wirklich um eine Handschrifteneinheit handelt. Die Zweifel bestätigten sich: das ursprüngliche paginierte Manuskript, ohne die offenbar später hinzugefügten Zusätze, wurde nicht - wie bisher angenommen - für die "Elementargeister" geschrieben, sondern entstand schon für die "Sixifcme partie" von "De l'Allemagne". Es ergibt trotz seines eindeutigen Konzeptcharakters eine geschlossene Fassung, die sich fortlaufend transkribieren läßt. Mit dieser Transkription erhält man einen Text, der mit ganz wenigen Abweichungen wörtlich der "Sixieme partie" von "De l'Allemagne" entspricht, d.h., man erhält Heines eigenhändige Übersetzungsvor19 20 21 22

HSABd.21.Nr.566. Campe an Heine, 16.2.1836; HSA Bd.24, Nr.276. Campe an Heine, 15.3.1836; HSA Bd.24, Nr.280. HSA Bd.9, S.256.

Zur wechselseitigen Bedingtheit von Brief- und Werkkommentierung

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läge für diesen Text. Als Heine an die Erarbeitung der "Elementargeister" ging, erlangte es eine neue Funktion: die ursprüngliche Übersetzungsvorlage des französischen Textes wurde nun zum Konzept der "Elementargeister". Für die geplante deutsche Veröffentlichung wurde das Manuskript auf die verschiedenste Weise überarbeitet und durch Einfügungen erweitert. An dieser Handschrift mit doppelter Funktion läßt sich Heines hier gemachte Behauptung, läßt sich sein Ausmerzen politisch und religiös anrüchiger Stellen verifizieren. Das kann natürlich der Briefkommentar nicht leisten, wohl aber muß dafür verwiesen werden auf Band 9 Kommentar, wo die Varianten dieser Handschrift verzeichnet werden, und auf Band 17 Kommentar, wo durch einen Vergleich des französischen und des deutschen Textes Heines hier getroffene Äußerung bestätigt wird. Während die beiden folgenden Erläuterungen mit geringen Veränderungen übernommen werden können, ist die Frage der Zensur des dritten "Salon"-Bandes genau darzustellen. Die Vorrede "Ueber den Denunzianten" spielt hier zunächst gar keine Rolle, sie ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht geplant, geschweige denn geschrieben. Erst zehn Monate später, am 23. Januar 1837, wird sie an Campe geschickt. Hier geht es zunächst um das übersandte und in diesem Brief beschriebene Manuskript. Heine bezog sich bei seinem Verlangen, ohne Zensur gedruckt zu werden, auf ein Versprechen Campes, das dieser ihm im Brief von 8. Dezember 1835 gegeben hatte: "Ihr nächstes Buch werde ich an einem andern Orte drucken laßen, geben Sie Sich Mühe Anstößiges zu meiden; ich werde dann sehen, daß ich ohne Censur, auf meine Gefahr, einen Drucker dafür finde."23 - An dieses Versprechen fühlte sich aber Campe nicht mehr gebunden, denn inzwischen gab es den Bundesbeschluß vom 10. Dezember 1835, der alle Schriften des "Jungen Deutschlands" und Heines für Preußen verbot, und es gab die preußische Ministerialverfügung vom 16. Februar 1836, die den Druck der verbotenen Schriften dann erlaubte, wenn sie die preußische Zensur passiert hatten. So schickte Campe das Manuskript schon einen Tag nach dessen Empfang und ehe er den vorliegenden Brief erhielt, nach Berlin zur Zensur. Er rechtfertigte sein Verhalten Heine gegenüber am 5. April 1836, 24 nachdem Heine am 14. März seine Forderung, ohne Zensur zu drucken, wiederholt und am 22. März sogar sein Manuskript zurückverlangt hatte. 25 Auf solche in diesem Zusammenhang wichtigen Briefe sollte zumindest verwiesen werden ebenso wie auf Heines öffentlichen Protest in den "Erörterungen" vom 26. April 1836 26 und viel später noch im offenen Brief "Schriftstellernöthen" vom 3. April 1839. 27 Schließlich müssen Campes Briefe vom 20. Mai, 11. Juli und 5. August 1836 28 ausgewertet werden, nach denen sich der Zensurvorgang rekonstruieren läßt: das Manuskript wurde von Berlin, das sich für ein in Hamburg verlegtes Buch nicht zuständig sah, zurückgewiesen; über Altenburg und Darmstadt kam es schließlich nach Gießen, wo es mit Genehmigung des Zensor J. V. Adrian gedruckt wurde.

23 24 25 26 27 28

HSA Bd.24, Nr.258. HSA Bd.24, Nr.284. HSA Bd.21, Nr.571 und 573. HSA Bd.21, Nr.580. HSA Bd.21, Nr.751. HSA Bd.24, Nr.293, 300 und 303.

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Christa Stöcker

Soweit einige Bemerkungen zu den Erläuterungen, wie sie 1975 für diesen Brief gegeben wurden und wie sie heute, nachdem auch die Briefe an Heine vorliegen und nachdem die Arbeit an den Werkkommentaren weit fortgeschritten ist, gegeben werden könnten. Wird - wie bei der HSA - die Herausgabe und Kommentierung der Briefe schon vor der Bearbeitung der Werke abgeschlossen, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Überarbeitung der Briefkommentare, die durch die Ergebnisse der Werkkommentierung ergänzt und präzisiert werden müssen. Abschließend sei darauf wenigstens noch hingewiesen, daß nicht nur die viel zu spartanische Erläuterungspraxis eine zweite Auflage der Briefabteilung wünschenswert erscheinen läßt. Wichtiger noch ist die Tatsache, daß in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche neue Briefe bzw. die Handschriften nur nach dem Druck edierter Briefe, darunter auch die des hier betrachteten, vom Heine-Institut Düsseldorf erworben werden konnten, so daß deren authentischer Text in einer zweiten Auflage geboten werden könnte.

Henning Buck

Ins Stammbuch geschrieben Überlegungen zur Kommentierung von Stammbuch-Editionen

I. Stammbücher im Blickfeld von Editoren - oder: Welche Berechtigung haben Stammbuch-Editionen? Vor vierzehn Jahren hat in Wolfenbüttel ein Arbeitsgespräch zum Thema 'Stammbuch' stattgefunden, dessen Referate 1981 unter dem Titel "Stammbücher als kulturhistorische Quellen" veröffentlicht worden sind.1 Und obwohl sicherlich keiner der Beiträger versäumt hat, auf die Bedeutung von Stammbüchern im Sinne des damaligen Tagungsthemas hinzuweisen, ist in editorischer Hinsicht noch immer das von Paul Raabe 1970 herausgegebene Stammbuch Ernst Theodor Langers aus den 1770er Jahren bevorzugt zu nennen. 2 Stammbücher werden heute in erster Linie von den aufbewahrenden Institutionen katalogisierend und gelegentlich bibliographisch zugänglich gemacht, wie etwa neuere Kataloge von Wolfgang Klose und Lotte Kurras zeigen; beide sind 1988 erschienen. 3 Dieser beschreibenden Verzeichnung ganzer Stammbuch-Bestände kann die Auswahledition folgen, wie sie z.B. Lotte Kurras unter dem Titel "Kulturhistorische Miniaturen aus Stammbüchern des Germanischen Nationalmuseums" besorgt.4 Im folgenden soll der Sonderfall einer wissenschaftlich verantworteten Gesamtedition eines Stammbuches behandelt werden. Wie kann dabei der Kommentar jenes "Ganze" eines Stammbuches zur Darstellung bringen, das die Einträge erst als Ensemble erzeugen? Das erfordert, den Charakter des betreffenden Stammbuches kenntlich zu machen, und die von seinem Besitzer im Verlauf des Sammeins der Einträge verfolgten Intentionen, wie sie sich in der Anlage des Stammbuches manifestieren, nachvollziehbar 1

2

3

4

Jörg-Ulrich Fechner (Hrsg.): Stammbücher als kulturhistorische Quellen. München und Wolfenbüttel 1981 (=Wolfenbütleler Forschungen Bd.l 1). Ernst Theodor Langers Stammbuch. Aus dem Besitz der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel in Auswahl hrsg. von Paul Raabe, Stuttgart 1970. Die Einträge sind faksimiliert. - Vgl. auch: Göttinger Studenten-Stammbuch aus dem Jahre 1786, in Auswahl hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Wilhelm Ebel, Güttingen 1966; bei dieser Faksimile-Edition teilt erst das Vorwort den Namen des Stammbuch-Besitzers mit; die 65 Eintragungen sind in alphabetischer Folge angeordnet. Wolfgang Klose: Corpus Alborum Amicorum. Ein Bericht über die Sammlung und Beschreibung von Stammbüchern der frühen Neuzeit. In: IASL 10, 1985, S.154-169; sowie ferner Lotte Kurras: Die Stammbücher. Teil I: Die bis 1750 begonnenen Stammbücher. Wiesbaden 1988 (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Die Handschriften V/1) - rezensiert von W.W. Schnabel in: IASL 15, 1990, S.239-241. Lotte Kurras: Zu gutem Gedenken. Kulturhistorische Miniaturen aus Stammbüchern des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 1570-1770. München 1987 - ebenfalls von W.W. Schnabel rezensiert, vgl. Anm. 3.

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Henning Buck

werden zu lassen. Denn erst in diesem Ganzen erfüllt sich die jeweils besondere Bestimmung, die 'Funktion' des Stammbuches für seinen Besitzer. Die Vorlage eines Stammbuches zum Zweck der Eintragung und die erbetene Eintragung selbst verweisen auf ein Verhältnis, worin sich die jeweils zwei Beteiligten spätestens zu diesem Zeitpunkt befinden. Urtypisch ist das Verhältnis von Lehrer und Schüler: Die Logik des so zu kennzeichnenden Stammbuch-Typs läßt sich wie folgt skizzieren: Mit der Bitte um einen Eintrag bezeugt der (jugendliche) Besitzer gegenüber dem (meist älteren) Einträger - dem weltklugen, erfahrenen und gelehrten Verwandten, Kommilitonen, väterlichen Freund oder Lehrer - Affekte persönlicher Ergebenheit wie Vertrauen, Verehrung oder Liebe. Umgekehrt wird diese Verehrung vergolten mit der Gewährung und der besonderen Qualität einer Eintragung. Diese nun gibt vor, durch die Mitteilung sittlich-tugendhafter bis lebenspraktisch orientierter Maximen bei der erfolgreichen Bewältigung künftiger Fährnisse zu helfen und verspricht, für den zu absolvierenden Weg zu Bewährung und bürgerlicher Reputierlichkeit von Nutzen sein zu können. Auch wenn diese Lehrer/Schüler-Konstellation selbst oft Gegenstand höflichspielerischer Umwertung ist: wenn also der jugendliche Besitzer bereits als 'Höchstgelehrter' ("doctissimus") angesprochen wird, wenn etwa der Professor sich selbst als 'ergebensten Diener' des jungen Studiosus empfiehlt: In dem modellhaften Lehrer/ Schüler-Verhältnis beansprucht die Gabe des Sinnspruchs größtes Gewicht und eine Bedeutsamkeit, die idealiter ihre Gültigkeit nicht verlieren soll. Über diese schöne Spiegelung eines ganz bedingungslosen, ganz im Persönlichen begründeten Verhältnisses von Besitzer und Einträger hinaus ist allen Beteiligten die praktische Dimension des Stammbuches bekannt: Indem das Stammbuch dritten Personen zur Eintragung oder auch nur zur Ansicht vorgelegt wird, spielt es gleichzeitig seine Rolle als 'Ausweis' des Besitzers. Es ist die gesellschaftliche Ehrerbietung, die der Einträger wegen seiner Verdienste oder seines gesellschaftlichen Standortes genießt, die dann zur Anweisung auf eben jene Wahrnehmung und Anerkennung wird, die der Besitzer selbst beanspruchen möchte.

II. Besondere Kommentarbedürfnisse einer Stammbuch-Edition am Beispiel Das Stammbuch, auf das ich mich hier beziehe, 5 hat sein Besitzer Justus Friedrich August Lodtmann aus Osnabrück wohl im Alter von 20 Jahren angelegt, nachdem er bereits ein Jahr an der Helmstedter Universität als Student der Rechte immatrikuliert war. Im Juni 1763 trägt sich als erster der nicht viel ältere 30jährige Rechtslehrer Frickius ein, und zwar mit einem längeren Cicero-Zitat. Noch im Monat darauf kann der junge Lodtmann die Eintragung eines hochrangigen Klerikers, eines Superintendenten, und des

Das Stammbuch Lodtmanns verwahrt die Justus Möser-Dokumentationsstelle der Universität Osnabrück. Dem Leiter, Prof. Winfried Woesler, danke ich für den Hinweis auf dieses Stammbuch und die Genehmigung zu vorliegender Veröffentlichung.

Ins Stammbuch geschrieben

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ersten ordentlichen Jura-Professors verbuchen. Damit ist die Anlage dieses in der Tradition der Gelehrten-Stammbücher des 16. und 17. Jahrhunderts stehenden Albums angedeutet: Bis 1767, also im Verlauf von vier Jahren, wird Lodtmann 85 Eintragungen, überwiegend von Universitätslehrern, in seinem knapp 140 Blätter starken Album versammelt haben. II I. Zu den Korrespondenzen der Stammbuch-Eintragungen Für die Kommentierung der einzelnen Stammbuch-Einträge werden keine wesentlich anderen Forderungen gelten als die üblicherweise an Kommentare gestellten. Die vorliegenden Überlegungen gelten deshalb der Frage nach den Korrespondenzen der Einträge untereinander, zur Sprache sollen jene Kommentierungsbedürfnisse kommen, die die 'kleinste Einheit' des Stammbuches, den einzelnen Eintrag, übersteigen und die Bezüglichkeiten der Einträge untereinander und zum Ganzen des Stammbuches betreffen. Im Zusammenhang mit einer Stammbuch-Edition hätte sich der Kommentar u.a. den mit folgenden Beispielen nur anzureißenden Fragen zu stellen: 1. Das unmittelbar auffällige Verhältnis von beschriebenen und unbeschriebenen Seiten - womit für den Editor wie den Leser die Frage nach dem Maßstab der Beurteilung des Stammbuch-Unterfangens aufgeworfen ist: Wie 'fertig oder unfertig' ist eigentlich das Stammbuch? - Wieweit sind Absichten bzw. Möglichkeiten der Selbstrepräsentation seines Besitzers gediehen? - Damit unmittelbar verbunden sind die Vakate selbst und ihre Anzahl vor oder nach den Einträgen. Leere Seiten baucht man nicht zu kommentieren, könnte man sagen, aber: die Abstände sind durchaus sprechend. Die Einträge im Stammbuch Lodtmann beginnen erst auf der Seite 19; zwischen den Seiten 25 und 43 liegt ein weiterer 'Block' von 8 vakanten Doppelseiten. - Die Berücksichtigung von u.U. zahlreichen unbeschriebenen Blättern machen den Vorgang der Standortsuche und Standortbestimmung im Stammbuch für heutige Leser rekonstruierbar. 2. Die expliziten Bezugnahmen zwischen den Eintragungen: hier verewigen sich zwei mutmaßliche Kommilitonen mit Grafentitel bei einem zeitlichen Abstand von 10 Tagen auf einer Doppelseite (auf den Seiten 24 und 25) einander gegenüber; die Einträge Zitate von Terenz und Horaz - korrespondieren offensichtlich in ihrer graphischen Gestaltung und laden dazu ein, sowohl die Schreiber, als auch die zitierten Autoren und den mitgeteilten Inhalt in Beziehung zu setzen, oder wenigstens nach solchen Beziehungen zu suchen.6 3. Dann die Zusammenhänge mit der Biographie des Besitzers bzw. dessen Familie: Helmstedt, der Ort, an dem der Besitzer den Grundstock der Einträge seines Albums zusammenträgt, war auch Wohn- und Amtssitz des erst wenige Jahre zuvor als Rechts-

Horatius Ille potens sui, Laetusque deget, cui licet, in Diem, Dixisse, vixi. Eintrag von Ludwig Friedrich Graf von Auersperg am 23.9.1765 auf Seite 25, also auf der rechten Hälfte der aufgeschlagenen Doppelseite; Terentius Obsequium amicos, Veritas odium parit. Eintrag von August Dietrich Graf von Marschall am 2.10.1765; auf der linken Hälfte davorgeselzL

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Henning Buck

professor dort verstorbenen Onkels, was in keinem der Einträge ausdrücklich mitgeteilt wird, aber sicher einige Mitglieder des ehemaligen Kollegiums motiviert hat. 4. Zu Datierungen und Ortsangaben der Einträge: rasche Folgen von Datierungen an unterschiedlichen Orten geben im Fall von Lodtmanns Stammbuch (hier auffällig im Herbst 1765 zwischen Leipzig, Halle und Göttingen) Hinweise auf Reiseunternehmungen, -rauten, gezielte Besuche und persönliche Präferenzen. - Diese Zusammenhänge mit Hinweisen auf biographische Umstände blieben unberücksichtigt, wenn nicht das Ganze des jeweiligen Stammbuches im Blick bleibt und kommentiert wird. 5. Der Umfang einer Eintragung im Verhältnis zu anderen und zum Zeitpunkt der Anlage des Stammbuchs: der als zweiter und (womöglich deshalb?) sehr umfangreich sich einschreibende Rechtsprofessor wäre bemerkenswert; andere später erübrigen u.U. ganz lakonisch nur drei Worte. - Der Umfang der Eintragungen steht sicher auch in Relation zum gesellschaftlichen Rang, den der Einträger beansprucht: Mit wachsendem Abstand zum gesellschaftlichen Standort des Besitzers scheint der Umfang der Eintragung abzunehmen. Erst die im Vergleich zu den übrigen Einträgen auffälligen Ausnahmen lassen ein besonderes Verhältnis des Einträgers zum Besitzer erkennen. 6.Feststellbare zeitliche Häufungen von Eintragungen:7 Sind sie - wie bei Lodtmann zu rekonstruieren - auf bevorstehende Ortswechsel und Reisen zurückzuführen? 8 Oder handelt es sich um anders begründete Aktualisierungen der Stammbuch-Intentionen? II.2. Soziobiographische Bezüglichkeiten der Einträger Neben den Beispielen für unterschiedliche Korrespondenzen zwischen den StammbuchEinträgen ist die Art und Weise, wie sich der Kreis der Eintragenden jedes Stammbuchs konstituiert, für die Kommentierung von einiger Bedeutung, wie das Beispiel des untersuchten Stammbuches Lodtmanns augenfällig zeigt. Insofern der hier vorliegende Typus des Gelehrten-Stammbuchs seinen Charakter als Repräsentationsmittel kaum verhüllt, dürfen auch die umschweifig mitgeteilten, die Person des Einträgers auf 7

Dazu eine Übersicht zur zeitlichen Verteilung der Eintragungen im Stammbuch Lodtmann: Total Jan. Feb. Mär. Apr. Mai Jun. Jul. Aug. Sep. Okt. Nov. Dez. 1763: 8 1 2 3 2 1764: 15 10 3* 2 1765:55 4 2 3 1 2 4 1 18** 20*** 1766: 1767: 6 1 4 1 1768: 1769: 1 1 Ende des Studiums in Helmstedt und Abreise nach Leipzig alle Einträge in Leipzig ***

7 in Leipzig, 5 in Halle, 1 in Halberstadt, 7 in Göttingen; Abreise nach Osnabrück nach Tod des Vaters. Dieser Befund deckt sich mit einem Hinweis Dieter Lohmeiers, der die 1621-1639 entstandenen Stammbücher des Flensburger Arztes Paul Moth untersucht hat: "[...] daß sich Eintragungen in einem Stammbuch häufen, ist ein sicheres Indiz dafür, daß der Besitzer abreisen will [...]"; Dieter Lohmeier: Gelehrtenleben des Späthumanismus im Spiegel des Stammbuchs. Die Stammbücher des Paul Moth aus Flensburg. In: Jörg-Ulrich Fechner (Hrsg.), 1981, vgl. Anm.l, S.181-196; hier S.189.

Ins Stammbuch geschrieben

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vielfältige Weise kennzeichnenden Zugaben zu den Namen der Einträger den Leser nicht überraschen. Karrieren zeichnen sich ab, absolvierte Laufbahnen, die in ihrem äußerlichen Regelmaß so etwas wie die Konsolidierung der Person zugleich beweisen und verheißen. 1. Die Zugehörigkeit bzw. die Selbstzuschreibung zu den akademischen Disziplinen: hier sind es knapp 20 Juristen, die von 10 Theologen, 5 Philologen, 6 Medizinern und 4 Mathematikern gefolgt werden - jeweils nach eigenen Angaben im Stammbuch; das komplexe (Konkurrenz-) Verhältnis akademischer Disziplinen zueinander dokumentiert sich durch Reihenfolge und Häufungen der Einträge auf je besondere Weise im Stammbuch und wird damit kommentierbar. 2. Amt und Rang der Einträger: Auf mehr als 50 Blättern stellen sich Ein träger als Professoren vor, Extraordinarien oder schlichte Universitätslehrer sind wohl nur drei; sechsmal werden zusätzliche Hochschulämter genannt (Rektor, Decan, Senior, Primarius); zehnmal wird der Titel eines Hofrates und siebenmal die Mitgliedschaft in Gelehrten-Gesellschaften angegeben. - Akademische Positionen, Ämter und Stellungen werden offenkundig auch im Stammbuch repräsentativ eingesetzt; in jedem Stammbuch konstituiert sich so das Material für ein eigenes Soziogramm der Beteiligten, das den Funktionszusammenhang von Stammbüchern unterstreicht. 3. Zu diesem Zusammenhang tragen entscheidend auch formale Merkmale der Einträge bei: Die Einträger inskribieren sich im Lodtmannschen Stammbuch in sechs verschiedenen Sprachen, wobei das Lateinische als zeitgenössische Gelehrtensprache schlechthin in fast dreiviertel aller Eintragungen zum Zuge kommt.9 4. Die Gelehrsamkeit der Einträger sollen wohl auch die ausgewiesenen Zitate signalisieren.10 Interessant und kommentierbar sind dabei die Nuancen: In welcher Sprache inskribiert wer? Welche literarischen und Bildungstraditionen werden von wem in Anspruch genommen? 5. Es erhebt sich auch die Frage, wieweit der Kreis der Einträger über den der akademischen Lehrer hinausreicht, insofern darin auch die Gesellschaftsfähigkeit des Besitzers, seine 'Soziabilität' deutlich werden soll: zu wem er Zugang hat und mit wem er umgeht, wie breit sein Bildungsbemühen angelegt ist. II.3. Die Ästhetik der Repräsentation Stammbücher sind ästhetisch anspruchsvoll. Die äußere Gestalt (Einband, Vergoldungen, Prägungen etc.) macht das ebenso deutlich wie Erscheinungsbild der einzelnen Blätter: Auf Schriftbild, Zeichnungen und Embleme wird Wert gelegt. Die genannten Zwecke der Repräsentation sollen also auf eine 'schöne' Weise realisiert werden. Anders gesagt: wichtig scheint, daß man dem Stammbuch nach Möglichkeit nicht das eigentlich ernste und bisweilen angestrengt durchkalkulierte Vorhaben anmerkt! Damit sind auch 9

lateinisch 63 (= gut 73 %) deutsch 9 französisch 7 griechisch 3 englisch 3 hebräisch 1 Es finden sich von: Horatius 8, von Seneca und Cicero je 4, von Terenz und Ovid je 2, von Epikur, Plinius und Virgil je 1 Zitat. Aber auch einzelne neuere frz., engl, und dt. Autoren werden zitiert.

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die demonstrierten Prinzipien der Anordnung der Einträge angesprochen: Spielerische Leichtigkeit, Zwang- und Absichtslosigkeit, ja Zufälligkeit scheinen die idealen Umstände der Entstehung dieses Ausweises der eigenen Person zu sein. Deshalb gilt nicht die Forderung chronologischer Ordnung im Stammbuch! Von den praktischen Umständen, unter denen die Eintragungen zustande kamen, soll offenbar so wenig wie möglich sichtbar bleiben und so drängt sich der Eindruck einer hergestellten Unordnung auf. 11 - Aber die vermeintliche Unordnung hat Methode. Man könnte auch sagen: die biographischen Zwänge und Zufälligkeiten, wie sie sich in einer chronologischen Reihenfolge spiegeln würden, werden verdrängt von einer 'höheren Ordnung' der Eintragungen: Im Lodtmannschen Stammbuch tragen sich auf den Seiten 19,24 und 25 drei Grafen ein. 12 Die übrigen Blätter davor sind freigeblieben - für wen? Auch über andere Stammbücher wird Entsprechendes berichtet: die Vornehmen dürfen vordere Plätze beanspruchen. Balthasar Heinrich Baumann, "comites ab Hohenlohe secretarius", wie ihn auch die Leipziger Matrikel mit gleichen Immatrikulationsdatum wie seinen Herrn und Schützling Graf Albrecht Wolfgang von Hohenlohe führt, trägt sich auf der Seite 255 ein. Sicherlich weniger vordergründige soziale Ungerechtigkeit, als vielmehr Ausdruck des allseitigen Einvernehmens der Beteiligten über die Gesetze der Ordnung im Stammbuch, ebenso wie in der Gesellschaft: Den drei Grafen folgt mit einem devoten Abstand von neun vakanten Blättern (bzw. 18 Seiten) der Rektor der Universität in Halle, der den Reigen der überwiegend akademischen Amtsträger eröffnet. Die Kommilitonen nehmen auf den hinteren Blättern die Plätze ein.

III. Schlußfolgerungen für Edition und Kommentierung Gegen die selbständige Edition von Stammbüchern mag nach wie vor das Argument stehen, die Einträge seien, insofern sie sich gerade auch als Zitate anderer Autoren bekennen, als literarische Texte unzusammenhängend. Auch die Konventionalität, die Formelhaftigkeit der Erinnerungs- und Grußsprüche, die mangelnde Originalität, weiden angefühlt, um diese Sicht zu stützen. Dagegen ließe sich das lebendige Interesse der Literaturwissenschaft an einzelnen Autographen anführen: Was für diese ganz selbstverständlich ist, nämlich als sozialhistorisches Dokument literarischen Lebens geschätzt zu werden, sollte auch für komplette Stammbücher gelten können. Daher spricht bei allem Eklektizismus der Einträger die kunstvolle Zweckhaftigkeit des Ganzen für sich. Eine Faksimile-Edition ist sicherlich für ein Stammbuch die schönste Lösung. Auf Vakate wird man wohl verzichten, ihre Existenz im Original kann durch entsprechende Paginierung deutlich werden. Soll das Geflecht der Bezüglichkeiten dem Leser aber deutlich werden, so ist ein Kommentar wünschenswert, der den genannten Fragekomplexen nachgeht. Den Kommentar zu den Einträgen könnte man sich gut z.B. auf 11

12

Im Lodtmannschen Stammbuch ergibt die chronologische Folge der mit Eintragungen versehenen Seitennummem (für die beiden ersten Jahre) die folgenden, ganz willkürlich erscheinenden Zahlenreihen: 1763: 107, 063, 095, 121, 125, 133, 111, 101, 1764: 139, 049, 151, 123, 109, 127, 097, 047, 145, 137, 135, 117, 129, 235, 189. Zuerst Albrecht Wolfgang Graf von Hohenlohe und Gleichen sowie dann die in Anm.6 genannten.

Ins Stammbuch geschrieben

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(ausklappbaren oder z.B. wie in einem Fotoalbum auf transparentem Zwischenblatt) neben dem faksimilierten Eintrag vorstellen, aber auch in einem Anhang. Der Kommentar würde neben der Transkription des Eintrags den Nachweis von Zitaten, ggf. die Übersetzung und Wort- und Sacherläuterungen bieten. Zur Biographie der Einträger und ihr Verhältnis zum Besitzer wie auch zu den übrigen Einträgern möchte man natürlich gerne etwas lesen. Ferner könnte man sich (formalisierte) Querverweise auf die Chronologie, also auf zeitlich vorausgehende und zeitlich folgende Einträge vorstellen. Übergreifende Erläuterungen, hier etwa aus dem Bereich der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, sollten den Kommentar ebenso ergänzen wie Erläuterungen zu literarischen Zeitströmungen, die die einzelnen Einträge erst ins rechte Licht setzen könnten. Solche Editionen würden dem Betrachter und Leser die Ges.chichte des Albums vermitteln und damit den spannenden Prozeß der Entstehung einer einerseits sehr persönlichen, andererseits höchst öffentlichen, literarisch-ästhetischen Ausdrucksform der Individualität vor Augen stellen können.

Heidrun Bärenfänger I Elisabeth Blakert

Kommentierung von literarischen Übersetzungen

I. Einleitung Obwohl beinahe jeder Editor, dessen Schützling im Jahrhundert Goethes gelebt hat, mit Übersetzungen, einer zu dieser Zeit weit verbreiteten Leidenschaft, 1 in Berührung kommt, scheint, gemessen an den spärlichen theoretischen Äußerungen, 2 bisher kaum jemand irgendein Problem damit gehabt zu haben. Die Edition und Kommentierung von literarischen Übersetzungen in den bekannten Ausgaben machen dann auch eher den Eindruck einer Pflichtübung, der man sich wegen des Vollständigkeitsgebots einer Historisch-kritischen Ausgabe entledigen mußte. Größeres Ansehen im Werk eines Dichters genießen natürlich die 'Originale' vor seinen Übersetzungen, die häufig gegen das Stigma, nur Literatur aus zweiter Hand zu sein, zu kämpfen haben. Dennoch verdienen auch diese eine angemessene Würdigung, zum einen, weil sie neue Impulse auf das Wirken eines Dichters zu geben vermögen, was durch die Auflistung von Werkparallelen im Kommentar dokumentiert werden muß, zum anderen, weil natürlich auch das Übersetzen ein originärer, schöpferischer Akt ist. Daher besteht das Ziel eines Übersetzungskommentars gerade darin, diese Eigenleistung des Dichters herauszuarbeiten. Die Leitfrage der gesamten Kommentierungsarbeit lautet also: was verändert der Dichter an der Vorlage? Besteht aber seine Leistung gerade darin, daß er trotz des Wechsels in eine andere Sprache das Werk seines Vorlagenautors treu bewahren will, ist die entscheidende Frage: wie gelingt es dem Dichter, seine eigene Sprache der Ausgangssprache unterzuordnen? Wir bieten nun einige Gedanken zu den Spezifika eines Übersetzungskommentars an. Dabei orientieren wir uns an den einzelnen Abteilungen einer Historisch-kritischen Ausgabe, gehen aber nicht auf die Apparatteile ein, die Übersetzungen und andere Werke unterschiedslos betreffen. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf Übertragungen antiker Literatur als ein klassisches Feld lebhafter Übersetzertätigkeit. 1

2

Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Hrsg. von Reinhard Tgahrt u.a. Zweite, durchgesehene Auflage. Marbach 1989. Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. Bd.l, Teil 3.4. Berlin 1905, S.l-61. Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. Erste Fassung. Marburg/Lahn 1984, S.101-103 (Thomas Michael Mayer). Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke "Frankfurter Ausgabe". Bd.15 Pindar. Nach Vorarbeiten von Michael Franz und Michael Knaupp hrsg. von D.E. Sattler. Basel, Frankfurt am Main 1987, S.11-12. Klaus Gerlach: Zu Problemen der Übersetzungen. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S.105-110.

Kommentierung von literarischen

Übersetzungen

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II. Textdarbietung Zunächst stellt sich die Frage nach der Plazierung einer Übersetzung innerhalb einer Werkausgabe. Leitfaden sollte hierbei die Bedeutung sein, die Übersetzungen im CEuvre des zu edierenden Autors haben. Im Falle einer Wieland-Ausgabe ist es nur recht und billig, eine eigene Abteilung für die Übersetzungen einzurichten, während eine DrosteHKA gut daran tut, sie im Anhang unterzubringen. Bei einem dritten Autor, für den eine Übertragung weder einen so hohen Stellenwert hat, daß sie quasi zu einer eigenen Gattung wird, noch eine unbedeutende "Entgleisung" darstellt, mag es sinnvoll sein, die Übersetzungen je nach Gattung oder Entstehungszeit unter den Werken einzuordnen. Auf diese Weise werden die wechselseitigen Beziehungen zwischen Übersetzungen und sonstigem Schaffen augenfällig. Desweiteren muß der Editor eine Entscheidung über den Abdruck der fremdsprachlichen Vorlage fällen. Denn eine literarische Übersetzung zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie aus und mit ihrer Vorlage lebt, weshalb es entgegen der bisher üblichen Praxis zwingend erforderlich scheint, auch diese in die Edition mitaufzunehmen. Bei kürzeren Texten versteht sich diese Maßnahme von selbst, während z.B. bei längeren Romanen ökonomische Zwänge dem entgegenstehen können und man sich auf eine repräsentative Auswahl beschränken muß. Mit dem Abdruck der Vorlage wird eine erste, wichtige Kommentarfunktion erfüllt. So stellt etwa Sattler in der Frankfurter HölderlinAusgabe die Vorlage, erschlossen durch eine Interlinearversion, der Übersetzung gegenüber und begründet dieses Vorgehen folgendermaßen: Zugleich tritt, in den nun erst wahrnehmbaren Phänomenen von Identität und Differenz, Übereinstimmung und Abweichung vom Original, das Wesentliche von Hölderlins Verfahren anschaulich vor Augen: die Befreiung der eigenen Sprache im Dienst einer anderen.3

Zusätzlich haben wir es hier aber auch mit einer ökonomischen Maßnahme zu tun. Da nämlich die Einzelstellenerläuterungen häufig auf den Vorlagentext rekurrieren müssen, hilft sein Abdruck bei der Vermeidung umständlicher und platzraubender Zitate, so daß ein kurzer Verweis auf die Vorlage genügt. Nicht zuletzt hat der Abdruck der oft schwer identifizierbaren und möglicherweise nur noch in geringer Anzahl vorhandenen Vorlage für den Benutzer den wichtigen Nebeneffekt, ihm aufwendige Recherchen zu ersparen. Soll nun die Vorlage im Text- oder im Kommentarteil erscheinen? Eine Übersetzung, die der Treue zur Vorlage verpflichtet ist, verlangt geradezu danach, mit dieser zusammen abgedruckt zu werden. Gibt man dagegen einer freien, nach literarischer Eigenständigkeit strebenden Übersetzung die Vorlage bei, hieße das, eine Verbindung zu schaffen, die der Dichter bewußt zerschlagen wollte, und so den Grundstein zum falschen Verständnis des Textes zu legen. Einem solchen Verfahren stehen allein schon technische Schwierigkeiten entgegen, die entstehen können, wenn der Autor beispielsweise ganze Passagen ausläßt oder Umgruppierungen vornimmt. Die Folge: weiße Seiten werden unvermeidbar, konkrete Textzuordnungen problematisch. Die Übersetzung steht hier im Grenzbereich zu einer freien Bearbeitung des Textes. Aus diesen Gründen sollte man die Vorlage sinnvoller und kostensparender im Kommentarteil unterbringen. 3

Hölderlin: Frankfurter Ausgabe Bd.15, vgl. Anm.2, S.12.

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Bärenfänger IBlakert

III. Kommentar III.l

Entstehung

Dem innersten Anliegen eines Entstehungskapitels, der Datierung, verschließen sich Übersetzungen, besonders die antiker Literatur, häufig, da sie naturgemäß keine Bezugspunkte zur Biographie des Dichters liefern. Der Editor muß dann seine ganze Hoffnung auf außerhalb des Werkes liegende Zeugnisse setzen. Auf eine weitere Schwierigkeit trifft der Editor bei der Identifikation der Vorlage, wenn wie im Fall antiker Texte eine Vielzahl kaum voneinander zu unterscheidender Ausgaben kursiert. Anhaltspunkte bieten explizite Äußerungen des Dichters oder im Nachlaß aufgefundene Bibliothekskataloge bzw. Leselisten. Wenn der Editor Glück hat, kann er aus der Übersetzung Trennfehler rekonstruieren, durch die die Vorlage eindeutig ausgemacht werden kann. Ansonsten muß er auf die der Vorlage am nächsten kommende Ausgabe zurückgreifen. Dies läßt sich durchaus rechtfertigen, da bei der hohen Zahl textlich fast identischer Ausgaben die konkret vom Dichter benutzte letztlich doch nur einen geringen Erkenntnis wert bietet. Keinesfalls aber darf man der Übersetzung moderne, häufig mit der Dichtervorlage nicht mehr übereinstimmende Editionen gegenüberstellen, was leicht Fehlurteile über Bedeutung und Umfang von Abweichungen nach sich zieht. Diesen Vorwurf macht Thomas Michael Mayer der bisherigen Büchner-Forschung in ihrem Umgang mit dessen Hugo-Übersetzung. 4 Auch die Sprachkenntnisse des Dichters müssen in einem Entstehungskapitel beleuchtet werden. Denn von hier aus kann man entscheiden, ob er den Text aus Unkenntnis entstellt oder bewußte Änderungen vornimmt. Aus der Sprachkompetenz resultiert zudem die Benutzung von Lexika und Grammatiken, auf die sich unter Umständen ungewöhnliche, vom Dichter sonst nicht gebrauchte Wörter zurückführen lassen. Als weiteres Hilfsmittel standen ihm möglicherweise auch schon vorhandene Übersetzungen zur Verfügung. Im Extremfall kann sein Text sogar eine Kompilation aus diesen darstellen; sie nehmen hier fast die Stelle der fremdsprachlichen Vorlage ein. Dann bietet sich das bei der Historisch-kritischen Mörike-Ausgabe angewandte Verfahren an, sowohl im Textband als auch in einem gesonderten Band "Bearbeitungsanalysen" durch ein bestimmtes Zeichensystem Eigen- und Fremdanteil der Übersetzung zu unterscheiden. Die Konsultation einer fremden Übersetzung kann ebenso wie der Gebrauch eines Lexikons das Phänomen einer vom sonstigen Sprachgebrauch des Dichters abweichenden "Übersetzungssprache" hervorrufen, die der Kommentator auf diesen ihren Ursprung zurückzuführen hat. Nicht zuletzt gehören in ein Entstehungskapitel auch die Intentionen, die den Dichter zum Übersetzen bewogen haben. Der eine fertigt eine Schulübersetzung an und will zeigen, wie gut er mit der fremden Sprache zurechtkommt; der andere verdingt sich als Auftragsübersetzer für Theater oder Verlag und hat sich nach seinem Geldgeber zu richten; ein dritter möchte bei einem breiten Publikum Begeisterung für seinen Autor wecken, während wieder ein anderer nach künstlerischer Auseinandersetzung strebt. Je nach Absicht entscheidet sich der Dichter für einen bestimmten Übersetzungstyp, nimmt er Rücksicht auf Kenntnisstand und Geschmack des Publikums oder setzt sich darüber hinweg. 4

Mayer 1984, vgl. Anm.2, S.101.

Kommentierung von literarischen

Übersetzungen

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111.2 Überblickskommentar Dieses Kapitel bietet sich an als Ort für kurze Angaben zum Vorlagenautor und seiner Rezeption in der Zeit des Übersetzers. Auf dem Hintergrund dieser Rahmeninformationen sollte das Interesse des Dichters am übersetzten Stoff erhellt werden. So läßt sich erkennen, inwieweit er bestimmten Traditionen seines eigenen literarischen Umfeldes verpflichtet ist oder sich von diesen abhebt. Eine Form von Beziehung zum übersetzten Autor ist auch die Treue bzw. Untreue gegenüber Originalwortlaut und metrum; damit kommt die Frage nach den Übersetzungsmaximen ins Blickfeld. Je nach Sprachbewußtsein finden sich diese in wohldurchdachten theoretischen Schriften dargelegt oder müssen, wie im Falle einer Schulübersetzung, aus dem Text selbst rekonstruiert werden. Erst durch ihre Kenntnis können Abweichungen von der Vorlage angemessen bewertet werden. So lassen Änderungen, die ein bewußt wörtlich übersetzender Dichter an der Vorlage vornimmt, aufhorchen und verlangen nach einer Behandlung im Einzelstellenkommentar. Auch auf den Umgang mit dem Originalmetrum wirken sich die Übersetzungsmaximen aus. Gerade für die Übertragung antiker Poesie ist dieses Problem interessant. Obwohl z.B. Mörike sich darum bemüht, das antike Versmaß zu halten, räumt er auch ein: Zu einer guten Verdeutschung eines Dichters aber [...] gehört [...] ohne Zweifel eine dem deutschen Sprachgeist homogene, gefällige Form, wobei man lieber an der äußersten Strenge der Metrik etwas nachläßt, als daß man den natürlichen Vortrag preisgibt und dazu regelrechte, aber harte und gezwungene Verse liefert.5

Ein Autor aber, der sich bedingungsloser als Mörike dem Originalmetrum verpflichtet fühlt, kann zu sonst unüblichen Wortstellungen oder neuen Wortprägungen gezwungen werden. Die im Überblickskommentar aufgearbeitete Beziehung des Autors zu seiner Vorlage wird nun en detail im Einzelstellenkommentar nachgewiesen. 111.3 Einzelstellenkommentar Der Klassiker des Einzelstellenkommentars, die Wort- und Sacherklärungen, birgt bei der Übersetzungskommentierung eine besondere Gefahr in sich, da der Editor sich leicht dazu verführen lassen kann, einen Kommentar zum Vorlagenautor anzufertigen. So haben z.B. in der Bucolica-Übertragung der Droste Angaben über Vergils TheokritNachahmung nichts zu suchen, es sei denn, es ließe sich nachweisen, daß sie Theokrit mitherangezogen und sich von ihm hat beeinflussen lassen. Die Angst, in dieser doppelten Textschicht unterzugehen, sollte jedoch nicht dazu führen, auch keine Erklärungen mehr zu antiken Städtenamen etwa oder mythologischen Motiven abzugeben. Ihre Kenntnis ist auch für das Verständnis des deutschen Textes wichtig. Als Orientierungshilfe auf diesem unsicheren Gebiet mag gelten, daß das erläutert werden soll, was auch in anderen Texten des Autors für kommentierungswürdig erachtet wird. Leitfaden aber bei der Kommentierung einzelner Stellen ist: was verändert der Übersetzer an der Vorlage bzw. wo gibt er ihr Vorrang gegenüber den Gesetzen seiner

Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd.8,1 Übersetzungen. Hrsg. von Ulrich Hötzer. Stuttgart 1976, S.287.

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Bärerßnger / Blakert

eigenen Sprache? Abweichungen können ihre Ursache entweder in schlichten Fehlern oder im freien Gestaltungswillen des Dichters haben. Die Entscheidung für das eine oder das andere kann von der Sprachbeherrschung eines Autors abhängen: wenn z.B. die Droste in ihrer als Schulübung entstandenen Vergil-Übersetzung von der Vorlage abweicht, wird dies eher Schwierigkeiten mit der lateinischen Konstruktion als ihrer Kreativität zuzurechnen sein. Eine andere Fehlerquelle kann in der Benutzung unzuverlässiger Textausgaben oder fehlerhafter, schon vorhandener Übersetzungen liegen. Läßt sich eine Abweichung nicht ohne weiteres mit einem Fehler erklären, hilft ein Blick auf die Übersetzungsmaximen: in einem strengster Wörtlichkeit verpflichteten Text muß natürlich jede Divergenz verdächtig erscheinen, während im umgekehrten Fall Änderungen Wesensmerkmal der Übersetzung sind und eher selten auf Unfähigkeit zurückgeführt werden können. Hat der Kommentator eine solche Unfähigkeit ausgeschlossen, besteht nun seine wichtigste Aufgabe darin, den Grund für das Abrücken vom Vorlagentext zu eruieren. Allerdings würde der immer wiederkehrende Hinweis auf Abweichungen, die sich schlicht aus der unterschiedlichen Struktur von Ausgangs- und Zielsprache herleiten lassen, nur unnötigen Ballast für den Kommentar bedeuten; denn für den Benutzer ist es ermüdend, wieder und wieder vom Editor zu erfahren, daß etwa verschränkte lateinische Relativsätze im Deutschen umgeformt werden müssen. Nicht schweigen darf der Editor aber über inhaltliche Konsequenzen, die sich ergeben, wenn die Zielsprache sich einer direkten Nachahmung verweigert, wodurch er den Benutzer davor bewahrt, dem nur aus der Not Geborenen zu große Bedeutung beizumessen. Zur zweiten Kategorie gehören sinnverändernde Eingriffe, die mit der Anpassung an den neuen Adressatenkreis zusammenhängen. Nationale Spezialitäten wie Wortspiele, Sprichwörter oder tagespolitische Anspielungen werden gerne durch erklärende Zusätze erweitert oder gegen Analoges ausgetauscht. Auch mit einem bestimmten Kulturkreis verbundene Phänomene wie Nationalgerichte, heimische Pflanzen, Landeswährung usw. verlangen bei Ausrichtung auf den neuen Leserkreis nach Umformung in Bekanntes. Daher setzt Luther in seiner Bibelübersetzung statt des griech. "denarion" zunächst "Pfennig" und später "Groschen". Hinter solchen Veränderungen stand bei ihm das handfeste Interesse, den Text an das Publikum heranzuführen. Eher mit einer Verlegenheitslösung haben wir es zu tun, wenn die Droste das lat. "baccar", das vom Lexikon nur ungenau als Pflanze mit wohlriechender Wurzel identifiziert werden kann, mit "Haselwurzblüthe", einer in Ostwestfalen heimischen Pflanze, wiedergibt. Richtschnur für weitere Modifizierungen kann auch verletztes sittliches Empfinden des Übersetzers oder seines ins Auge gefaßten Publikums sein. Bei der Übertragung aristophaneischer Komödien oder griechischer und lateinischer Lyrik wird sich dieses Problem auf Schritt und Tritt stellen.Ebenso fordert die Rücksicht auf die herrschende politische Meinung in einigen Fällen ihren Tribut, was allerdings Übersetzungen von Antikem weniger betrifft, da hier der zeitliche Abstand zwischen Vorlage und Übersetzer für eine gewisse Neutralität sorgt, wenn nicht bewußt aktualisiert wird. Zum dritten ändert der Dichter den Ton der Vorlage, wenn er seine eigenen Stilvorlieben in die Übersetzung hineinträgt. Diese können von der Bevorzugung direkter Rede bis zur Straffung oder breiteren Ausgestaltung bestimmter Szenentypen reichen. Von be-

Kommentierung von literarischen

Obersetzungen

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sonderem Wert wäre es, dies durch beweiskräftige Parallelen aus den anderen Werken im Kommentar zu dokumentieren. Hat der Editor es bei einem frei übersetzenden Dichter in erster Linie mit der Kommentierung der Veränderungen gegenüber der Vorlage zu tun, muß er im gegenteiligen Fall aufdecken, wie das deutsche Sprachsystem zugunsten der Ausgangssprache gebeugt wird. Latinismen, Gallizismen oder '-ismen' verschiedenster Sprachen meidet der Dichter nicht, sucht sie sogar. Ein auffälliges Beispiel dafür stellt die Übersetzung des Alten Testamentes durch Martin Buber und Franz Rosenzweig dar. Sie vertreten grundsätzlich die Ansicht, daß eine sprachliche Äußerung in einer einmaligen Einheit aus den beiden Aspekten Inhalt und Form besteht, die eine Übertragung in eine andere Sprache so nicht nachvollziehen kann. Eine solche soll jedoch zumindest eine möglichst genaue Nachahmung versuchen und dabei auch in Rhythmus und Klangfarbe bis an die Grenzen der Zielsprache vorstoßen. Buber/Rosenzweig begrüßen durchaus eine gewisse Ungeläufigkeit, um damit zu einer bewußten Auseinandersetzung mit dem Text anzuregen.6 Ähnlich kann sich allerdings auch ein sonst frei übersetzender Autor verhalten, wenn eine Textstelle bei Überführung in die Zielsprache ihre Prägnanz zu verlieren droht. Der Benutzer möchte hier auf das vom sonstigen Übersetzungsstil abweichende Vorgehen aufmerksam gemacht werden, um erkennen zu können, welchen besonderen Stellenwert der Übersetzer der entsprechenden Aussage zumißt. So kann Luther, der klassische Fall eines an der Zielsprache orientierten Autors, sagen: "aber ich habe ehe wollen der deutschen Sprache abbrechen, denn von dem wort weichen".7

IV. Schluß Anliegen dieser kleinen Darstellung ist es, den Übersetzungskommentar ein wenig mehr ins Blickfeld zu rücken, ihn gleichsam aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken. Es geht uns darum, den "Editionswerkstätten" ein theoretisches Gerüst für die Übersetzungskommentierung anzubieten, vom dem wir hoffen, daß es im Gegenzug mit praktischen Erfahrungen angereichert wird. Unsere Anregungen: ebenso nützlich wie schwierig ist die Identifikation der Vorlage, um sie dann abdrucken zu können. Hierbei ist der Spezialist gefragt. Er muß über solide Kenntnisse in der Sprache der Vorlage verfügen, um auf die Spur der vom Dichter tatsächlich benutzten Ausgabe zu kommen. Doch die Affinität zum fremdsprachlichen Text darf nicht dazu verführen, den Vorlagenautor zu kommentieren. Im Gegenteil: die Hauptarbeit eines Übersetzungskommentators liegt darin, die Eigenleistung des Dichters herauszuarbeiten, sei es, daß er sich durch kunstvolle Änderungen an der Vorlage hervortut, sei es, daß er diese mit nicht minderer Kunstfertigkeit zu bewahren sucht.

6

Maitin Buber: Werke, Bd.2: Schriften zur Bibel. München 1964, S . l l l l - 1 1 1 6 .

7

D. Martin Luthers Werke: Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). 1.Abteilung Schriften. Bd.30,2. Weimar 1909, S.640.

Günter Berg

Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben Bertolt Brechts Werke in 30 Bänden

Positivistische Forschung steht in den Geisteswissenschaften seit geraumer Zeit hoch im Kurs, historisch-kritische Texteditionen als institutionelle Großprojekte mit extrem langen Laufzeiten sind entsprechend 'in'. Immer ausgefeilter sind die diakritischen und editionstechnischen Darstellungsformen geworden, konkurrierende Editionsmethoden und -modelle werden ständig auf ihre Tauglichkeit und Übertragbarkeit geprüft: das kritische Edieren ist vom einsamen Dialog Einzelner mit dem Text seit den frühen achtziger Jahren zur diskutablen wissenschaftlichen Disziplin erhoben worden. - Wirklich beliebt wurden die respektablen Ergebnisse dadurch nicht. 'Kritische' oder 'Wisschenschaftliche Studienausgaben', 'Kommentierte Auswahlausgaben' oder auch schlicht: 'Leseausgaben' behaupten ihre Stellung neben den historisch-kritischen Editionen; auf dem Buchmarkt allemal, doch auch bis hineien in die Bibliographien wissenschaftlicher Abhandlungen. Fragt man nach den Gründen, so ist es - neben der Erschwinglichkeit - die offenkundig leichtere Benutzbarkeit und übersichtlichere Aufmachung der letzteren, die sie den ultimativen überlegen macht. Verzichtet man nun auch noch auf den Dünkel, der dem Marktgängigen gegenüber den ganzen Verdacht hegt, dann geschieht diese leichtere Zugriff offenbar nicht zu unrecht: Norbert Oellers warnt vor der 'Editio hybrida', und auch Gunter Martens möchte auf den Typus der 'wohlfeilen Ausgabe', wenn sie mit Sachverstand hergerichtet wird, nicht verzichten, da sie die Chance bietet, den Anspruch einer breiten Leserschaft nach dem 'authentischen Text' zu befriedigen. Jede Verbreitung einer Ausgabe mit abgesicherten Texten kommt allemal der Diskussion eines Autors zugute. Dennoch: Was bleibt, ist die Distanz zwischen den historisch-kritischen Gesamtausgaben, dem - wenn man so will - aufbereiteten Spiegelbild des Dichterwillens und seiner 'Schrumpfstufe', der Studienausgabe. Was bleibt, ist auch die stete Kritik an diesen, denen der eingeweihte Philologe weiterhin und manchmal auch zurecht Schlamperei vorwerfen wird. Über meinen Schreibtisch als Verlagslektor laufen die Bände der "Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Bertolt Brechts" (GBA). Seit 1988 sind im Frankfurter Suhrkamp Verlag und im Ostberliner Aufbau-Verlag 13 Bände erschienen, 30 werden es insgesamt bis Ende 1994. Um es nur ganz kurz vorwegzuschicken: Allergrößte Editionsprobleme ergeben sich bei diesem Autor durch die hinterlassene Textmenge, Schwierigkeiten bereiten die nicht klärbare (kollektive) Autorisation der Texte bzw. die Definition der 'autorisierten Textfassung', etwa bei Fehlen eines Erstdrucks. Exakte Datierungen und damit die Anordnung der Texte innerhalb der Gattungschronologie (ca. 2.400 Gedichte und 1.800 theoretische

Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben

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Schriften, mehr als 50 Stücke und Stückbearbeitungen und ca. 160 Stückfragmente) sind nur bei ganz wenigen Texten möglich.1

Problemfeld: Kommentare Bei Studienausgaben ist der beschreibende Sach- und Stellenkommentar integraler, wenn nicht zentraler Teil des Editionsprojekts. Er ist für diesen Editionstyp - explizit ausgesprochen oder nicht - wichtiger als die ausführliche Präsentation philologischer Details, ohne daß diese von den Herausgebern auch nur im geringsten vemachläßigt werden könnten. Im günstigsten Fall präsentiert die Studienausgabe also Forschungsergebnisse, verläßliche Informationen, ohne dem Benutzer und Leser die Mühe der eigenen Aufbereitung zu machen, allerdings auch ohne ihm die Chance der detaillierten Rekonstruktion dieser Ergebnisse zu geben. Leicht benutzbare Kommentare brauchen unbedingt ein eindeutiges Schema: die Kommentare der neuen Brecht-Ausgabe sehen eine Gliederung in maximal sechs Abschnitte vor. Zu jeden Text findet der Leser zunächst die Angabe der ausgewählten Textgrundlage. Einer zumeist tabellarischen und für die rasche (Re-)Orientierung günstigen Übersicht mit den wichtigsten Daten zu einem Text folgt ein Abschnitt Entstehung, in dem die Entstehungsgeschichte eines Textes diskursiv abgehandelt wird. Der Abschnitt Text / Fassungen soll einen möglichst genauen Einblick in die Überlieferungslage bieten, sowie die Auswahl der Textgrundlage begründen. Hier werden im Kommentar notwendige Eingriffe in die Textgrundlage, d.h. Fragen der Textgestaltung (Angleichungen und Vereinheitlichungen, beispielsweise von Sprechernamen; Berichtigung von Textfehlern; Eingriffe in Orthographie und Zeichensetzung, insbesondere wichtig bei Nachlaßtexten, die - brechtspezifisch - ohne jede Zeichensetzung überliefert sind, etc.) erörtert, aber auch Fassungsvergleiche, für das Verständnis der Textentwicklung relevante Szenenvarianten und -synopsen, sowie Quellen gegeben. Der Kommentarteil Wirkung beschreibt die Text- bzw. Aufführungsrezeption zu Lebzeiten des Autors. Der sechste und letzte Abschnitt ist der traditionelle Zeilenkommentar. Er liefert in erster Linie stellenbezogene Sacherläuterungen und Querverweise innerhalb der Ausgabe. Im Falle der Brecht-Ausgabe werden die Kommentare von vier Herausgebern betreut, insgesamt aber von mehr als einem Dutzend verantwortlicher Bandbearbeiter geschrieben. Alle Mitarbeiter an dieser Ausgabe sind angehalten, die von ihnen ermittelten Angaben in der beschriebenen, fest umrissenen Form zu präsentieren. Insbesondere im Falle der Kommentarabschnitte Entstehung und Text I Fassungen kommt es immer wieder zu Überschneidungen. Das Wirkungskapitel weist häufig Wiederholungen zu den vorhe-

Als 'Leseausgabe mit wissenschaftlichem Anspruch' ist die Ausgabe von den vier Herausgebern seinerzeit angekündigt worden. Erläuterungen zur Struktur dieser Ausgabe finden sich in: notate. Informations- und Mitteilungsblatt des Brecht-Zentrum der DDR. Sonderheft GBA. Berlin/DDR 1985. - Über die erheblichen editionstechnischen Probleme der Werke Bertolt Brechts orientieren seit 1966 vor allem die Beiträge von Gerhard Seidel, neuerdings regelmäßig in den editio-Bänden und Beiheften, aber auch die Aufsätze und Arbeiten sämtlicher Brecht-Herausgeber.

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rigen auf usw. Die größten Probleme bei diesem Typ der kommentierten Studienausgaben machen so auch die beiden Abschnitte Entstehung und Text / Fassungen. Der Grund ist die durch den Ausgabentyp bedingte Auswahl und die damit notwendig einhergehende Ausscheidung von Textfassungen. Es erfordert unbedingten Überblick über das gesamte Material sowie ein hohes Maß an Formulierungstalent, die Genese z.B. eines Stücks 2 so wiederzugeben, daß die wichtigsten Bearbeitungsstufen berücksichtigt weiden und für den Leser - eben auch ohne einen kritischen Apparat - nachvollziehbar bleiben. Es ist erklärtermaßen nicht das Ziel dieser Ausgaben, Textzeugen rekonstruieren zu können. Dennoch muß der Kommentar flexibel genug sein, die Präsentation von neuen, d.h. auch der Forschung bislang unbekannten Editionsfunden angemessen berücksichtigen zu können, ohne daß der Kommentar an solchen Stellen zum Forschungsbericht wird. Dabei ist auffällig, daß es erhebliche Diskrepanzen zwischen minutiöser Philologie und einer lesergerechten Aufbereitung ihrer Arbeitsergebnisse in den Kommentaren gibt. Die Prüfung der Kommentartexte auf eine konsistente Diktion und eine Gleichbehandlung der Textgrundlagen ist eine wichtige Aufgabe der Schlußredaktion der einzelnen Bände; sie kann am besten im Lektorat des Verlags wahrgenommen weiden. Hierzu einige Beispiele: Auch in Kommentaren mc/if-historisch-kri tischer Ausgaben häufen sich insbesondere im Falle komplizierter und langwieriger Entstehungsprozesse die Fassungen, Bearbeitungen, Versionen, Stufen, Phasen etc. Da in aller Regel nur die wichtigen Zeugen wiedergegeben werden sollen und können (Brechts "Mahagonny"Projekt füllte mit allen Varianten der Zeit zwischen 1924 und 1931 alleine zwei Bände dieser Ausgabe), ist bei den Beschreibungen auf äußerste Präzision zu achten, um weder etwas zu unterschlagen, noch den Leser in undurchsichtige textphilologische Details zu verstricken. Auch zwingende oder nur duldbare Texteingriffe - und seien sie auch "zur Beseitigung von Störungen innerhalb der internen Struktur oder der spezifischen Logik"3 des Textes - bedürfen der eindeutigen und nachvollziehbaren Rechtfertigung im Kommentar.4 Das hat - seriöserweise - mit dem Typ der Ausgabe nur vermittelt zu tun, d.h. auch wissenschaftliche Studienausgaben ohne den historisch-kritischen Anspruch können ihre Arbeitsgrundlagen zweifelsfrei offenlegen. Die Sach- und Stellenkommentare zielen stets auf einen 'idealen', d.h. vorab definierten Leser mit einem bestimmten Bildungshorizont und einem geschätzten Informationsbedürfnis. Das Informationsangebot sollte grundsätzlich über ein gängiges Konversationslexikon hinausgehen und sich auch im Stil nicht unbdingt an einem Lexikon orientieren: die Aufgabe des Zeilenkommentars ist immer die Erläuterung eines 1

3 4

Dasselbe gilt ohne Abstriche auch für die anderen Gattungen, etwa im Falle der Lyrik: das "Solidaritätslied" oder Brechts Versifikation des "Kommunistischen Manifests" sind entstehungsgeschichtlich außerordentlich heikel; dasselbe gilt im Falle der Prosa etwa für das voluminöse Fragment "Der Tuiroman", aber auch für so öffentliche Texte wie die "Keunergeschichten", deren Entstehungsumstände sehr im Dunkeln liegen. So eine Textfehler-Definition von Siegfried Scheibe, in: editio 5, 1991, S.35. Als eindeutige Beispiele können hier der in allen Drucken stets neu verzählte Verszähler in der "Antigone" oder der Ausfall und die versehentliche Wiederholung von Zeilen im Erstdruck des "Kaukasischen Kreidekreises" (beide Band 8 der GBA) angeführt werden.

Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben

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Textteils, sein Verständnis soll erleichtert werden, nicht das eines einzelnen Lemmas. Als effizientes Arbeitsinstrument hat sich das Fortschreiben einer Lemmaliste bewährt. Es wurde früh damit begonnen, gleiche oder ähnliche Annotationen in einer Liste zu führen. Damit sind neu zu kommentierende Stellen, die eventuell mit solchen in bereits erschienen Bänden übereinstimmen, schnell auffindbar, und ihre mögliche Übernahme wird leichter. Vorteile hat dieses Verweissystem auch im Hinblick darauf, daß Zeilenkommentare der GBA von zahlreichen Bandbearbeitern geschrieben werden, deren Kommentarstil erheblich differiert. Die Lemmaliste ist also als Vorschlagsliste dieser eigentümlichen Textsorte 'Zeilenkommentar' zu verstehen. - Gelegentlich hilft diese Fortschreibung der Annotationen auch, bereits gegebene Erläuterungen korrigieren zu können oder ganz und gar falsche zu finden, um sie für ein Errataliste zu verzeichnen.

Problemfeld: Register Bei über viele Jahre erscheinenden Ausgaben, zumal wenn daran mehrere Herausgeber/Bandbearbeiter beteiligt sind, ist es unbedingt nötig, die Verzeichnung verschiedenster Nachweise in einem frühen Stadium des Projekts zu beginnen. Dazu ist die Anlage der Register bereits im Planungsstadium ausgabenspezifisch genau zu entwerfen, unabhängig davon, auf welche Weise die Register hergestellt werden. Im Falle der GBA werden Register manuell, aufgrund von Autopsie der erschienen Bände und unterstützt durch eine eigens im Lektorat hierfür entwickelte Datenbankanwendung (Grundlage ist das Programm dBASE IV) mit Hilfe eines Personalcomputers erstellt. Der zentrale Ort dieser Verzeichnung ist der Verlag, hier laufen die Fäden der Registrierung zusammen. Es wäre ein folgenschwerer Irrtum anzunehmen, daß Register ausschließlich den späteren Benutzern zugute kommen. Bei einer Ausgabe von 30 Bänden bedarf es bereits nach den ersten 10 eines Registers, um sich überhaupt noch zurechtzufinden. Register sind also in erster Linie Arbeitsinstrumente. Sie wachsen am besten mit der Ausgabe und steuern nicht selten die Arbeit an den Bänden. Da die Brecht-Ausgabe nach Gattungen in vier Abteilungen aufgeteilt wurde (zehn Bände Stücke, fünf Bände Gedichte, fünf Bände Prosa, fünf Bände Schriften, vier Bände Journale und Briefe, sowie den abschließenden Registerband), ergibt sich die Notwendigkeit von Teilregistern. Diese beschränken sich aus Gründen der Ökonomie - auf die Verzeichnung von Brecht-Titeln in der jeweiligen Abteilung: der die Lyrik abschließende Band 15 erhält beispielsweise ein vollständiges Register der Gedichttitel und -anfange, das später in einem Gesamt-Titelregister in Band 30 aufgehen wird. Darüber hinaus wird es - gattungsspezifisch - z.B. ein BriefeRegister und ein Personenregister für die beiden Briefe-Bände geben, ein Verzeichnis häufig genannter Personen am Ende der Journale-Bände zur Entlastung des Zeilenkommentars von immer wiederkehrenden biographischen Details usw. Sinn ist, daß bereits einzelnen Abteilungen bei ihrem Erscheinen und vor Abschluß der Ausgabe einfach benutzbar sind. Die Arbeit an der Teilregistern ist keineswegs mehraufwendig, da dieselben Informationen später für den abschließenden Registerband aufbewahrt werden. Für diesen, die Ausgabe abschließenden Band 30 der GBA sind vier Gesamt-Register fest vorgesehen:

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Brechts Werke 5 Personen und ihre Werke 6 Register der Periodika 7 Register der Institutionen Zum jetzigen Zeitpunkt gesammelt verzeichnet werden außerdem: Bibelstellen Namen aus Mythologie und Sagenwelt Vorschläge für ein Sachregister, das jedoch in aller Regel dazu neigt, zu einem Wortindex zu werden 8 Die Planungen für diese Register liegen lange zurück. Es wurde so verfahren, daß ausführliche Roh-Register bereits erstellt worden sind, als der erste Textband gerade erschienen war: leicht möglich ist die Voraberstellung eines Titelregisters beispielsweise, wenn es bereits eine Werkausgabe - möglicherweise ergänzt durch Einzelausgaben eines Autors gibt. Handelt es sich um eine verbreitete Ausgabe, scheint es sogar notwendig, in dieser Art zu verfahren. Angesichts der immensen Titelmenge und der zahlreichen an der Edition Beteiligten entsteht durch die frühzeitige Erstellung eines Titelregisters ein Kontrollinstrument gegen das Verschwinden von Texten. 9 Außerdem sind Titeländerungen und Querverweise zu der Zeit möglich, zu der sie auftauchen: wird etwa ein häufig zitiertes und ebenso häufig gedrucktes Gedicht wie "Der Schneider von Ulm" in einer neuen Ausgabe unter dem Titel "Ulm 1592" (Band 12) publiziert, weil Brecht mit dem ersten Titel nachweislich nichts zu schaffen hat, dann muß darauf im Interesse des Benutzers Rücksicht genommen werden. Der Ort dafür sind die Register: sie allein verwahren Änderungen oder Verschiebungen und sorgen somit für ein schnelles und präzises Auffinden der Texte. Auch hier ist jedoch Vorsicht geboten: es ist unschwer vorstellbar, wie zahlreich die Fehlerquellen gerade für Querverweise innerhalb einer Ausgabe sein können. Die

Probleme mit dem Titelregister entstehen insbesondere im Falle der bei Neueditionen nicht seltenen Titelünderungen aufgrund wechselnder Textgrundlagen, bzw. bei früheren Ausgaben lax gehandhabten Herausgeberentscheidungen. Stets neu zu beantwortende Frage: In welchem Umfang sollen 'alle', d.h. auch falsche Titel registriert werden, wenn sie sich 'eingebürgert' haben? Für die GBA wurden hier in Hinblick auf die komfortable Benutzung weitgehende Verweise für alle Register festgelegt, d.h. es 'verschwinden' keine alten Titel. Fragen in diesem Zusammenhang sind zum Beispiel: Verzeichnet das Register ausschließlich historische Personen? Wann ist eine historische Person gemeint, wann erscheint sie im poetischen, d.h. fiktiven Kontext, und wie verhält sich dazu das Register (Beispiel: Galileo Galilei)? - Einen überaus brauchbaren, allgemeinen Überblick zu diesen im Detail heiklen Fragen gibt der Beitrag von Uta Motschmann: Von den Registern. In: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in die Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe (u.a.), Berlin/DDR 1988, S.225-263. Im Falle von Schriftstellern des 20. Jahrhunderts ist die Verzeichnung unbedingt notwendig. Man bedenke die zahlreichen und sehr verstreut publizierten Exilveröffentlichungen, deren Kontext für die Einschätzung erheblich ist. Nicht abschließend entschieden ist die Erstellung eines brechtspezifischen Schlagwortregisters im letzten Band der Abteilung Schriften (Band 25 der GBA). Wechselt aufgrund von neuester Datierung ein Text den Band und ggf. den Bandbearbeiter, dann wird er nicht verlorengehen können, wenn es eine Aufnahme dieses Titels bereits gibt, d.h. solange der Titel nicht abgehakt ist, gibt es ihn in der neuen Ausgabe nicht.

Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben

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Probleme klingen zunächst banal. Verweist ein bestimmter Titel wirklich auf genau den mit diesem Titel bezeichneten Text?10 - Die Frage ist also: Hat die Titelwahl - etwa in den Kommentaren - in erster Linie allgemein verweisende oder präzise benennende Funktion? Konkret für die Brecht-Ausgabe bedeutet das: es ist streng genommen nicht möglich, auf ein Stück mit dem Titel "Baal" oder "Mann ist Mann" oder "Die Maßnahme" oder "Die Mutter" zu verweisen. Hier bekommt das Register bis zu einem bestimmten Punkt die Aufgabe der philologischen Vorsortierung, d.h. der Fassungstrennung, oder bei Titelgleichheit die Funktion der Gattungstrennung. Da sich die Kommentarschreiber in erster Linie auf die inhaltlichen Zusammenhänge ihrer Texte konzentrieren, schleichen sich gelegentlich derartige Ungenauigkeiten ein, die über das Register erst gefunden werden, z.B. wenn auffällt, daß ein und dasselbe Gedicht nach der Verzeichnung und alphabetischen Einordnung mit unterschiedlichen Titeln in einem solchen Vorabregister auftaucht, weil es unter eben diesen unterschiedlichen Titeln publiziert wurde und von den verschiedenen Herausgebern in je unterschiedlichen Quellen/Kontexten gefunden wurde.11 - Um es zunächst abzukürzen: Im Falle der GBA wird das Titelregister aufgrund der enormen Menge, aber auch aufgrund der sehr zahlreichen Titeländerungen im Vergleich zur Werkausgabe in 20 Bänden von 1967 das schwierigste sein. Ein kommentiertes Personen / Werke-Register sollte ebenfalls dann bereits vor oder während der eigentlichen Kommentierungsarbeit erstellt werden, wenn es Biographien, Briefe-Editionen etc. gibt, die solche Register haben. Vorteil ist auch hier die rasche Kontrollmöglichkeit in Hinblick auf Unstimmigkeiten (Lebensdatenermittlung, Falschschreibungen, konkurrierende Schreibweisen, Pseudonyme etc.) und natürlich die fortwährende Ergänzung während der Arbeit, d.h. man stellt beispielsweise nicht erst nach Abschluß der Edition fest, daß ein polnischer Maler oder chinesischer Philosoph in mehreren, konkurrierenden Schreibungen vorkommen. - Festgelegt wurde für die Notwendigkeit bzw. Ausführlichkeit der Kommentierung einer Person eine Dreiteilung: Personen, die aufgrund ihrer universellen Relevanz nicht kommentiert werden können (Goethe, Napoleon, Schiller etc.), solche, bei denen zunächst in knappster Form ein Lebensregest geliefert werden muß (z.B. Schauspieler, Theaterleute, einige Rezensenten) und schließlich solche, die in Hinblick auf ihre längeren Kontakte mit Brecht kommentiert werden müssen (z.B. Benjamin, Eisler, Feuchtwanger, Weill). - Dasselbe gilt zumindest für die Registrierung der Periodika und Institutionen, bei denen die nachherige Informationsbeschaffung das weitaus größere Problem darstellt Das Verfahren: Entsprechend der langen Vorbereitungen wurde folgendes Verfahren für die Erstellung der abschließenden Register entwickelt: seit den ersten Bänden 10

11

Spätestens nach der Lektüre von Gunter Martens' Beitrag über Goethes "Weither" und seine vier Titelvarianten (mit und ohne Artikel, mit und ohne Genitiv-S) wird jedem klar sein, daß diese Frage keinesfalls banal ist; vgl. Martens: Der wohlfeile Goethe. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Tübingen 1991, S.72-90. Der andere Fall von notwendigen Titelkoirekturen macht das Problem der Autorisation aus: "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" heißt nach der Textgrundlage für GBA jetzt entsprechend "Der Aufstieg des Arturo Ui", Die "Steffinische Sammlung" wird mit dem korrigierten Titel "Steffinsche Sammlung" gedruckt, die späte Shakespeare-Bearbeitung der Berliner Zeit trägt - nach Typoskript den Titel "Coriolanus" usw.

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Günter Berg

bekommt jeder Herausgeber/Bandbearbeiter nach Erscheinen seines Bandes eine Kopie bereits sehr vollständiger Register, in denen alle erschienenen Bände erfaßt sind. Stellenangaben aus dem neuen Band brauchen also nur noch an der entsprechenden Stelle ergänzt zu werden, oder sie werden - was immer seltener vorkommt - neu hinzugefügt. Eine solche Überarbeitung führt - nachdem sie dem PC beigebracht wurde - zu einem 'Update' der vier Register, die dann dem nächsten Herausgeber / Bandbearbeiter nach Erscheinen dessen Bandes zugeschickt werden usw. Dieses Verfahren hat sich als praktikabel erwiesen. Es enthebt die Beteiligten vor allem der redundanten Neuaufnahme aller registerrelevanten Einträge z.B. auf Karteikarten. Selbstverständlich kommt dem PC dabei als unterstützendem Datenspeicher eine enorme Bedeutung zu, auch wenn wir für unser Projekt auf jede Form der automatischen Registererstellung verzichtet haben. Entscheidender Vorteil für ein editorisches Großprojekt dieser Art ist die jederzeit mögliche Überprüfung der Bände, die sich gerade im Manuskriptstadium befinden, eben anhand der bereits geprüften Register. Andauernd auftretende Fragen wie: Zitiert Herausgeber X den korrekten Gedicht-Titel, den Herausgeber Y - gegen bisherige Ausgaben - ermittelt hat? - oder: gibt es die Schrift mit diesem Herausgebertitel aus älteren Ausgaben noch oder nicht? All diese Fragen können geklärt werden, bevor die Bände mit zu vielen Fehlern im Laden stehen.

Ulrich Seelbach

Die Ermittlung personenbezogener Informationen für den Kommentar der Czepko- Ausgabe

In der 50. Historie des "Eulenspiegel" wird erzählt, wie der Titelheld eine Fachtagung der Schneider für die norddeutschen Länder einberuft. Er verschickt Einladungen an die wendischen, sächsischen, holsteinischen, pommerschen Städte, auch Briefe nach Stettin, Mecklenburg, Lübeck, Wismar - und Hamburg. Das Consilium der Schneider findet in Rostock statt. Er wolle den Schneidern eine Kunst beibringen, die ihnen und ihren Kindern nützlich sei. Voller Erwartung reisen die Fachleute an. In seinem Vortrag berichtet Eulenspiegel davon, wie nützlich es sei, einen Knoten in den Faden zu machen, bevor man den ersten Stich führt. - In der Diskussion stellt sich natürlich heraus, daß die Schneider diese Kunst schon lange kennen. Da der Beruf des Schneiders wesentlich älter als der des neugermanistischen Kommentators ist, dürfte es vielleicht doch auch für Andere nützlich sein, von den praktischen Erfahrungen bei der Kommentierung der Werke eines Autors des 17. Jahrhunderts zu berichten. Mein Thema sind die personalen Knotenpunkte im Werk Daniel Czepkos und die roten Fäden, die von ihm zu seinen Zeitgenossen verlaufen. Daß man mitunter eine Nadel im Heuhaufen findet, gehört mit zum Thema. Die Kommentierung der Werke Czepkos1 ist für mich seit letztem Jahr ein Freizeitvergnügen, erwachsen aus der Verpflichtung, die man durch die mehrjährige Mitarbeit an der Edition übernommen hat. Vieles, was in den Kommentar übernommen werden soll, wurde schon in der Phase der Textkonstituierung zur Absicherung der handschriftlichen Lesungen notiert. Unter anderm wurde ein annähernd vollständiges Verzeichnis der erwähnten Personennamen erstellt, das nach und nach mit Literaturhinweisen, Lebensdaten, zufälligen Nachrichten und Querverweisen ergänzt wurde. Unsere Aufgabe ist nun, bei dem absehbaren Ende der Textpublikation, aus diesem Gerüst ein brauchbares Register und aussagekräftige Stellenkommentare zu entwickeln. Personale Ermittlungen werden zu folgenden Gruppen von Zeitgenossen geführt (die mythologischen und geschichtlichen Persönlichkeiten früherer Jahrhunderte seien hier ausgeklammert):

Daniel Czepko. Sämtliche Werke. Unter Mitarbeit von Ulrich Seelbach und Lothar Mündt hrsg. von Hans-Gert Roloff und Marian Szyrocki. Berlin, New York 1980ff. (Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVffl. Jahrhunderts). Erschienen sind bisher Bd.I/1,1/2, III, IV und V - Bd.VI liegt seit über einem Jahr beim Verlag, Bd.II ist ebenfalls satzfertig abgeschlossen). Vgl. Verf.: Überlieferung, Edition und Kommentierung der Werke Daniel Czepkos - ein Werkstattbericht. In: Forschungstelle für Mittlere Deutsche Literatur. Redaktion Hans-Gert Roloff. Berlin [1992], S.4S-S2.

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Ulrich Seelbach

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Widmungsempfänger von Werken Czepkos Anlaßgeber für Leichgedichte, Hochzeits-, Geburtstags- und andere Gelegenheits gedichte und die nächsten Angehörigen der Anlaßgeber, sofern sie als Auftraggeber oder indirekte Adressaten in Frage kommen. - Zeitgenösssische historische Persönlichkeiten, die in den Werken selbst Erwähnung finden (Offiziere, Gelehrte, schlesische Adelige und Bürger) - Briefpartner unter Einschluß indirekt erschlossener Briefpartner, deren Korrespondenz nicht mehr überliefert ist.

Die Zahl der Widmungsempfänger, bedichteten Personen, der Briefpartner und zeitgenössischen Persönlichkeiten beträgt ca. 400. Das Ideal, das uns vorschwebt, ist zwar die Identifizierung aller genannten Personen aufgrund historischer Quellen, also die Ermittlung der wichtigsten Lebensdaten, Angaben zum Beruf und zu den persönlichen Beziehungen zum Autor Czepko - zu fragen ist jedoch, was wissenschaftsökonomisch an Aufwand vertretbar ist. Für die meisten der im Werk genannten Personen ist der Zeitaufwand für die Ermittlungen gering, wenn es gerechtfertigt ist, die Suche dann abzubrechen, bevor sie zur Detektivarbeit ausartet. Letztere sollte nur dann unternommen werden, wenn es sich um einen besonders wichtigen Briefpartner, Gedicht- oder Widmungsempfänger handelt, der in der Literaturgeschichtsschreibung als Vermittler, Mäzen oder Autor selbst eine Rolle spielt. Mit diesen Einschränkungen vorab will ich die Suchwege nachzeichnen, die uns zu den von uns gewünschten Lebensdaten der Zeitgenossen Czepkos geführt oder auch in die lire geleitet haben: Seit 1982 haben wir ein sehr brauchbares Instrument für die Ermittlung von Personendaten aus früheren Jahrhunderten, das Deutsche Biographische Archiv auf Mikrofiches - eine Kompilation aus 264 der "wichtigsten Nachschlagewerke". Seit das gedruckte Register, der Deutsche Biographische Index (erschienen 1986), dazu vorliegt, kann man sich eine Menge an Sucharbeit sparen.2 Allerdings habe ich darin nur 50 Einträge zu Persönlichkeiten im Werk Czepkos finden können. Der Große Zedier 3 - der sonst so zuverlässige Ratgeber in Kommentierungsfragen zu älteren Texten - hilft darüber hinaus nur in 17 Fällen weiter. Es stellt sich daher die Frage, wo man denn die notwendigen Informationen noch erhält, wenn schon 265 Nachschlagewerke in 330 Fällen mit einem "Weiß ich nicht" antworten. In der Regel ist der Editor eines Werkes vor 1700 mit dem (Euvre eines vor allem regional wirkenden Autors beschäftigt und jede Region hat nicht nur seine Dichter, sondern auch Gelehrte hervorgebracht, die große Mühen und Zeit geopfert haben, die regional und lokal bedeutsamen Gestalten ihrer Heimat zu würdigen. Den fleißigen

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Deutsches Biographisches Archiv. Eine Kumulation aus 254 der wichtigsten biographischen Nachschlagewerke für den deutschen Bereich bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. MicroficheEdition. Hrsg. von Bernhard Fabian. Bearb. unter der Leitung von Willy Gorzny. 1431 Fiches. München, New York 1982-1986; Deutscher Biographischer Index. Bearb. von Hans-Albrecht Koch, Uta Koch und Angelika Koller. 4 Bde. München, New York 1986.

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Johann Heinrich Zedlers Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. 4 Suppl.-Bde. Halle, Leipzig 1732-1754. - Reprint: Graz 1961-1964.

Die Ermittlung personenbezogener Informationen

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Schulmännern und Pfarrern vor allem des 18. Jahrhunderts verdanken wir äußerst nützliche, jeweils eine Stadt, ein kleines Fürstentum oder die ganze Region umfassende Lexika bzw. geschichtliche Darstellungen. 4 Allerdings sind hier drei Personengruppen eindeutig bevorzugt: der A d e l , die Gelehrten und die Pfarrer. Letztere, die die Buchführung über das menschliche Leben begonnen und erfolgreich durchgesetzt haben, hatten schon früh ein besonderes Interesse an ihrem eigenen Stand. S o gibt es in jeder Landschaft Darstellungen zur Pfarrergeschichte jedes nur denkbaren Ortes, und in ihnen meist ausführliche Pfarrerviten. 5 Daher ist der Erfolg bei der Ermittlung von Geburtsund Wirkungsort, den exakten Lebensdaten bei 18 von 2 0 i m Werk Czepkos genannten Pfarrern und Theologen kein Wunder. Beigetragen haben hierzu nicht nur die ausgedehnte kompilatorische Arbeit von Sigismund Justus Ehrhardt, der eine Presbyterologie des Evangelischen Schlesiens (1780-1784)6 in mehreren Bänden verfaßt hat, sondern auch die rührige Tätigkeit der Pfarrer selbst, die als Verfasser von Leichpredigten, als Dichter und Autoren gelehrter Abhandlungen, als Tagebuchschreiber 7 auch anderweitig beachtet wurden. Angehörige des A d e l s sind nicht ganz so gut greifbar: wer der Dritt- oder Viertgeborene eine Geschlechts war und es zu keinem einflußreichen Hofamt gebracht hat, v o n dem ist oft nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als daß er gelebt hat und wer sein Vater war. Besonders um die Töchter eines adeligen Hauses hat sich die genealogische Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts kaum bemüht. Wenn ein adeliges Fräulein nicht geheiratet hat, existiert sie nicht. Unverheiratet blieb die einflußreichste Muse Czepkos,

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F[riedrich] L[ucae]: Schlesische Fürsten-Krone/Oder Eigentliche, wahrhaffte Beschreibung Ober- und Niederschlesiens. Frankfurt/M. 1685; Nikolaus Henel von Hennenfeld: Silesiographia renovata, necessariis scholiis, observationibus et indice aucta. [Ed. Michael Joseph Fibinger.] 2 Tie. Breslau, Leipzig 1704 (mit Biographien von Gelehrten); Georg Sculietus: Hymnopoei Silesiorum. Wittenberg 1711 (nur Kirchlieddichter); Joh. Sigismund John: Parnassi Siiesiaci sive recensionis poetarum silesiacorum quotquot vel in patria vel in alia etiam lingua musis litarunt Centuria I-II. Breslau 1728-1729 (200 Charakteristiken Schlesischer Poeten); Johann David Matthäus: Commentatio philologico-historica de poetis Silesiae, gente et arte nobilibus. Lauban [1732]; Theodor Krause: Literati Svidnicenses, Oder: Historische Nachrichten Von Gelehrten Schweidnitzern. Erste Oefnung. Leipzig, Schweidnitz 1732 (40 Biographien. M.n.e.); Karl Gustav Heinrich Bemer: Schlesische Landsleute. 1180 bis zu Gegenwart. Leipzig 1901 (unzuverlässige und zu knappe Artikel).

Adam Pantke: Der Evangel. Kirchen zu St. Elisabeth in Breßlau Pastores [etc.]. Breslau 1713 - Der Pfarrkirchen zu St. Maria Magdalena in Breslau Pastores [etc.]. Breslau 1713 - Der Kirchen zum H. Geist in Breslau Praepositi [etc.]. Brieg 1714 - Der Evangelischen Kirchen zu St. Elisabeth in Breslau Ecclesiastae [etc.]. Brieg 17IS; Theodor Krause: Die Vortrefflichkeit des Evangelischen Zions Zur Heil. Dreyfaltigkeit vor Schweidnitz in seinen Predigern. Schweidnitz [1714]; Adam Pantke. Lebensbeschreibungen aller BreBlauischen Kirchenlehrer. Breslau 17S6 (ca. 200 Lebensläufe) Schwarz:; Beiträge zur Schlesischen Predigergeschichte. In: Jahrbuch des Vereins für Schlesische Kirchengeschichte (Correspondenzblatt) 20, 1929, S. 130-161; 22, 1931, S.65-90; Otto Schultze: Predigergeschichte des Kirchenkreises Schweidnitz-Reichenbach. 0.0.1938. 6 Sigismund Justus Ehrhardt: Presbyterologie des Evangelischen Schlesiens. 1,1: Stadt u. Fürstentum Breslau; Namslauer Kreis. Liegnitz 1780-11,1: Stadt u. Fürstentum Brieg. Liegnitz 1782 - 11,2: Fürstentum Carolat-Beuthen. Liegnitz 1782 -11,3: Fürstentum Crossen. Liegnitz 1782 -111,1: GroßGlogau. Liegnitz 1783 -111,2: Fürstentum Jauer. Liegnitz 1784. 7 Langer (Pastor): Gottfried Hahn, Pastor an der Schweidnitzer Friedenskirche und seine Familie. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 8, Liegnitz 1903, S.206-229.

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Barbara Dorothea von Czigan: wenn nicht der Freund Czepkos, Friedrich Fischer, ein Leichgedicht8 auf ihren Tod verfaßt und zum Druck gebracht hätte, gäbe es keine Information, die über das hinausführt, was schon in den Viten ihrer wesentlich besser dokumentierten Brüder steht. Johannes Sinapius hat in zwei Bänden 9 die ausführlichsten Nachrichten zu Angehörigen des Schlesischen Adels geliefert. Wer als Suchender dort nicht fündig wird, hat es schwer, an weitere Informationen zu kommen. 10 Da ich aber nur fünfzehn Minuten Fußweg zur umfangreichsten Sammlung genealogischer Spezialliteratur habe, kommt für mich natürlich eine Ausrede der eben gemachten Art nicht in Frage. Die Bibliothek des genealogischen und heraldischen Vereins Herold (im Gebäude des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz) umfaßt nicht nur die einschlägigen Reihenpublikationen wie das Handbuch des deutschen Adels, das deutsche Geschlechterbuch (in unserem Zusammenhang sind vor allem die vier Bände des Schlesischen Geschlechterbuchs 11 wichtig), eine Vielzahl von andernorts indexierten und erschlossenen familiengeschichtlichen Zeitschriften, sondern auch eine Sammlung von speziellen, oft maschinenschriftlicher Darstellungen einzelner Familien und handschriftliche genealogische Materialien. Für die Angehörigen des Geschlechts der Czigan - die als Anreger und Förderer Czepkos eine eminent wichtige Rolle spielen - konnte ich auf eines der sechs Exemplare der Darstellung von Ludwig Igälffy 12 zurückgreifen. Hier finden sich ausführliche Angaben zu Karl Heinrich von Czigan, seinen Brüdern Johann Georg und Wenzel, die gemeinsam das Brieger Gymnasium besuchten und gemeinsam in Altdorf und Leiden studierten. Auf ihrem Landgut Dobroslavitz entstanden Czepkos frühen Werke, der "Coridon", die "Consolatio ad Baronissam Czyganeam" und eine Anzahl umfänglicher Alexandrinergedichte, die er befreundeten oberschlesischen Adeligen widmete. Eine der unbeantworteten Fragen im Leben Czepkos war die Ortsangabe Birawa, die unter vielen Gedichten und Briefen aus der Zeit von 1630 bis 1634 begegnet. In seinen Briefen und im selbstverfaßten lateinischen Lebenslauf spricht Czepko nie davon, wem er seine Stellung als Hauslehrer auf Birawa verdankte und welche Zöglinge er dort unter-

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Friedrich Fischen In obitum illustris heroinae Barbarae Dorotheae Cziganianiae, natae L. Bamonissae de Slupska, Freistadt & Dobroslavviz, quae A.C. MDCL. Mens. Septemb. d. 27 fatali peractae ... obdormivit. 2 Bll. (Wroclaw, BU, 562931). Johann Sinapius: Schlesischer Curiositäten Erste Vorstellung, Darinnen die ansehnlichen Geschlechter des Schlesischen Adels. Leipzig 1720. - Des Schlesischen Adels Anderer Theil. Breslau 1728 (insgesamt 2244 S.) Vgl. noch Genealogiophilo [Carl Ferdinand von Gruttschreiber und Czopkendorff]: Genealogische Nachlese von einigen Graflichen, Freyherrlichen und Adelichen Geschlechts-Linien in Schlesien. 2 Tie. 1765 (wenige Nachrichten aus der Zeit vor 1700); C. Blazek: J. Siebmachers großes und allgemeines Wappenbuch. Bd.6, Abt8: Der Abgestorbene Adel der Preussischen Provinz Schlesien. T1.3. Nürnberg 1894; Hans Friedrich von Ehrenkrook und Carola von Ehrenkrook: Stammfolgen Schlesischer Adelsgeschlechter. Lieferung 1-3 (m.n.e.). Görlitz 1941; Roman Freiherr von Prochatzka: Genealogisches Handbuch erloschener böhmischer Herrenstandsfamilien. Neustadt a.d. Aisch 1973. Schlesisches Geschlechterbuch 1-4 (Deutsches Geschlechterbuch 73,112,153,179). Ludwig Igälffy de Igäly: Die Kiczka-Karwinsky. Eine Studie über die Herkunft der Freiherrn Karwinsky von Karwin und Czegota von Slupsk und aller anderen Familien desselben Wappens. Manuskript in 6 Exemplaren. Wien 1969.

Die Ermittlung personenbezogener Informationen

in

richtet hat. Ein Beitrag von Igälffy in der österreichischen Zeitschrift "Adler" 13 gab hierzu den gewünschten Aufschluß: Barbara Dlugomil, Herrin auf Birawa, mußte die Kinder alleine erziehen, da ihr zweiter Mann, Peter Sedelnitzky, 1628 zum Rebell erklärt wurde und ins Exil ging. Es ist kaum glaubhaft, daß sich Czepko des Umgangs mit Wenzel Sedelnitzky und seiner Stiefbrüder schämte, denn auch die Familien der Czigan und Donat waren antikaiserlich gesinnt. Allerdings gab es für Czepko einen Grund, die Beziehungen zu seinem Wirkungsort als Hauslehrer später zu verleugnen. Birawa ist dem Ort Reigersfeld benachbart und Czepko hat den Namen für sein erschlichenes Adelsprädikat "von Reigersfeld" wohl diesem Ort entlehnt. Über die Findmittel zur Identifizierung von Angehörigen der dritten Gruppe - der Gelehrten - brauchte man sich eigentlich keine Gedanken zu machen, im Vertrauen darauf, daß auch lokale Gelehrten- und Schriftstellerlexika im Deutschen Biographischen Archiv eingearbeitet sind - doch gibt es weitaus mehr Lexika lokaler und regionaler Ausprägung, die nicht ausgewertet wurden und sehr zuverlässige Angaben bieten. So ist z.B. in Johann David Koehlers "Schlesischer Kern-Chronik" 14 - einem kunterbunten Gemisch von Anekdoten, Geschichten, Dokumenten u.ä. - eine alphabetische Liste von "vornehmen, berühmten und gelehrten Leuten in Schlesien" enthalten, die in knappster Form die Lebensdaten, Titel und berufliche Tätigkeit zu ca. 1.400 Schlesiem, vornehmlich des 16. und 17. Jahrhunderts bietet. Bei Köhler finden sich ebensoviele Namen aus Czepkos Werk wie im Deutschen Biographischen Archiv insgesamt, nämlich 50 Personen, darunter eine stattliche Anzahl von Funktionsträgern, d.h. hohen Beamten der schlesischen Fürstentümer, zu denen an anderer Stelle kaum Wissenswertes zu finden war. Eine ähnliche Fundgrube (sie umfaßt ebenfalls ca. 1.400 Personen) ist Johann Heinrich Cunrads "Silesia togata", 15 die außer den knappen, aber meist sehr zuverlässigen Angaben zum Leben auch ein lateinisches Distichon zur persönlichen Charakteristik enthält. Johann Christian Leuschner hat dann in nicht weniger als 48 Schulprogrammen, die in Hirschberg und Breslau in den Jahren 1752 bis 1784 erschienen, 16 die Hälfte seines Lebens an Nachträgen zu Cunrads Werk gearbeitet. Wer als Kommentator weder in den allgemeinen Lexika, den lokalen Pastorenverzeichnissen, den Adelslexika und den regionalen Lexika der bedeutenden Männer (Frauen sind darin meist nicht zu finden) fündig geworden ist, muß speziellere Suchpfade einschlagen: Viele Adelige haben sich im Rahmen ihrer Kavalierstour an irgendeiner Universität eingeschrieben; Bürger, die es zu einem Amt bringen wollten oder als Ärzte, Pfarrer und Advokaten tätig waren, mußten zuvor studiert haben. Es

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Ludwig Igälffy-Igäly: Schlesische Grabdenkmäler, Totenschilder und Ahnentafeln. In: Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik 8 (22), Wien 1968-1970, S.173-179,185-189,206-211, 322-328. [Johann David Koehler:] Der Schlesischen Kern-Chronike Anderer Theil. Frankfurt u. Leipzig 1741, S.523-708: Von vornehmen, berühmten und gelehrten Leuten in Schlesien, wenn uind wo sie gebohren, gelebet, und gestorben, nach dem Alphabet. Jo[hann] Henricus Cunradus: Silesia togata, Sive Silesiorum doctrina & virtutibus clarissimorum Elogia. Ed. Caspar Theophil Schindlerus. Liegnitz 1706. Johann Christian Leuschner: Ad Cunradi Silesiam togatam I-XXXXVIII. Hirschberg u. Breslau 1752-1784 (Exemplar: Wroclaw UB 442246).

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empfiehlt sich daher die Durchsicht der Universitätsmatrikeln,17 wobei man schneller zum Ziel gelangen kann, wenn man die in einer Region bevorzugten Studienorte kennt und deren Matrikeln zuerst heranzieht. Für Schlesier im 17. Jahrhundert - so habe ich in anderem Zusammenhange ausgezählt - sind vor allem die Universitäten Altdorf, Leipzig und Wittenberg attraktiv gewesen, mit Abstand gefolgt von Leiden, Frankfurt an der Oder und Straßburg. In der Matrikel von Altdorf 18 stehen wertvolle Hinweise von Elias von Steinmeyer, der sich in vielen Fällen erfolgreich bemüht hat, die in Altdorf immatrikulierten Studenten auch anderweitig nachzuweisen. Die Matrikeln katholischer Universitäten braucht man bei den zumeist protestantischen Adeligen und Bürgern im Umkreis Czepkos gar nicht erst aufzuschlagen. Aufschlußreich können auch die Stammbücher des 17. Jahrhunderts sein, von denen mehrere gedruckt oder in Registern aufbereitet vorliegen. Vor allem in der Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde (des Vereins Herold) erschienen zusammenfassende Verzeichnisse zu den Stammbuchsammmlungen verschiedener Bibliotheken. Dabei lohnt auch eine Durchsicht von entlegenen Sammlungen, beispielsweise die der Bibliothek von Weimar, 19 von Königsberg, 20 der Stammbücher im Besitz oberlausitzischer Bibliotheken21 und sogar des norddeutschen Adels 2 2 Über die Bedeutung der Leichpredigten-Kataloge und -Sammlungen brauche ich hier sicher nicht zu sprechen: für die Ermittlungen im Umkreis Czepkos waren vor allem die Kataloge der bekannten Stolberg-Stolberg'schen Sammlung in Wolfenbüttel und die der Liegnitzer Peter- u. Paul-Kirche (in Wroclaw) von Bedeutung. In den anderen Sammlungen konnten wir allenfalls Zufallsfunde verbuchen.23 Wichtig ist bei den zahlreichen nicht namentlichen Nennungen in Briefen und den historisch-politischen Werken Czepkos die Bestimmung der Funktionsträger, also der 17

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Eine Bibliographie der gedruckten Hochschulmatrikeln findet sich in: Wolfgang Ribbe, Eckart Henning: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung. Begründet von Friedrich Wecken. 9., erw. u. verb. Aufl. Neustadt a.d. Aisch 1980, S.142-180. Die Matrikel der Universität Altdorf. Hrsg. von Elias von Steinmeyer. 2 Tie. Würzburg 1912. Reprint: Nendeln 1980. Georg von Obernitz: Verzeichnis hervorragender Namen von Gelehrten, Schriftstellern, hohem und niederm Adel aus einem großen Teil der Stammbücher auf der Großherzogl. Bibliothek zu Weimar. In: Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 29, 1901, S.285-389; 32, 1904, S.157-240. Kurt Bogun: Die Stammbuchsammlung in der Stadtbibliothek zu Königsberg. In: Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 29, 1901, S.l-62; 32,1904, S.36-155. W. v. Boetticher: Stammbücher im Besitz oberlausitzischer Bibliotheken. In: Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 24,1896, S.172-220. Ad. M. Hildebrand: Stammbuchblätter des Norddeutschen Adels. Berlin 1874. Werner Konstantin von Arnswald: Katalog der Fürstlich Stolberg-Stolbergischen LeichenpredigtenSammlung. 4 Bde. u. 2 Erg.-Bde. Leipzig 1927-1935 (Bestände seit 1980 in Wolfenbüttel, HAB); Richard Mende: Katalog der Leichenpredigten-Sammlungen der Peter-Paul-Kirchenbibliothek in Liegnitz. Marktschellenberg 1938 (Bestände in Wroclaw, UB). Die Bestandsverzeichnisse von Fürstenstein, Görlitz verzeichnen nur die Verstorbenen, keine Beiträger. Von den ca. 120.000 Personalschriften der UB Wroclaw sind nur die Liegnitzer Bestände und eine Auswahl (Rudolf Lenz. Marburg 1986 - 514 Einheiten) verzeichnet. Gelegentlich sind in den älteren u. neueren Leichpredigten-Katalogen von Erlangen, Gießen, Halle, Hannover, Helmstedt, Hildesheim, Hof, Jönköping, Kempten, Leipzig, Lüneburg, Marburg, Meiningen, Merseburg, Rothenburg, Schleusingen, Schorndorf, Wolfenbüttel, der Vogelsbergregion, Weimar, Zerbst, Zittau auch Schlesier verzeichnet.

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Identifizierung der zahlreichen Landeshauptmänner, Capitanei, Procuratoren, OberBiergefäll-Einnehmer, Kanzleibeamten und Bürgermeister. Hier haben wir regionalgeschichtliche Studien ausgewertet (die an dieser Stelle nicht aufgezählt werden können) 24 und die Angaben den Personaldaten zugeordnet, sofern sie dort nicht schon ermittelt waren. Um ein Beispiel zu geben: Ein Schreiben Czepkos vom 13. März 1659 an den Herrn OberAmmtsCantzler handelt von der Ernennung des Dichters zum königlich-böhmischen Rat durch Kaiser Rudolph; die Bezeichnung fand sich in der Personendatei zweimal. Da der Oberamtskanzler Martin von Knobeisdorff am 9. Februar, also einen Monat vor Abfassung des Briefes, verstorben ist, muß der Empfänger mithin sein Amtsnachfolger sein, Georg Abraham von Dyherm. Daß die Identifizierung korrekt ist, findet man bestätigt durch das Protokoll der Vereidigung Czepkos als Rat, die unter Beisein von Herzog Georg von Liegnitz-Brieg (als oberstem Hauptmann in Schlesien) und dem genannten Georg Abraham von Dyherrn am 17. Mai des Jahres in Breslau stattfand. 25 Handschriftliche Materialien benutzen wir nur in Ausnahmefällen. Insbesondere ist der Aufwand nicht vertretbar, die Kirchenbücher zu wälzen, 26 um das Geburts- oder Sterbedatum einer bestimmten Person gezielt zu suchen. Eine Ausnahme war die Auswertung des Diariums oder Totenbuchs der Elisabethkirche in Breslau, das die Jahre 1599 bis 1676 umfaßt, also mehr als die Lebensspanne des Autors Czepko. In dieser Handschrift der UB Wroclaw (R 784) 27 haben wir immerhin elf für unseren Kommentar wichtige Lebensläufe gefunden, darunter den von Magister Christian Hoffmann - der oft mit dem Namensvetter von Hoffmannswaldau verwechselt wurde - , den des LiegnitzBriegischen Landeshauptmanns Gabriel von Hund und den des fürstlichen Rates Gottfried Schildbach. Schildbach und von Hund zählten zu Czepkos engsten Freunden in seinen letzten Lebensjahren. Im Staatsarchiv Wroclaw haben sich handschriftliche Materialien zur Geschichte und Genealogie der Familie von Hochberg auf Fürstenstein vorgefunden. Verfasser und Schreiber einer Geschichte der Familie von Hochberg war der nicht ganz unbekannte Dr. Philipp Jacob Spener. 28 Diese Abhandlung mag für andere interessant sein, aber im Kommentar zu Czepkos Werk sollte man besser davon schweigen - das Werk ist schlicht 24

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Vgl. hierzu die Spezial-Bibliographien von Heinrich Nentwig: Silesiaca in der Reichsgräflich Schaffgotsch'schen Majoratsbibliothek zu Warmbrunn. Leipzig 1900-1902 und Victor Loewe: Bibliographie der Schlesischen Geschichte. Breslau 1927 (beide mit Personen- und Ortsregister). Ein vergleichbarer Fall ist in dem Brief vom 6.1.1652 an einen "Procurator Regie" zu sehen: dieser Titel gilt dem "kaiserlichen Steuereinnehmer" der Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, Ernst von Nimptsch, zu dessen Hochzeit Czepko 1645 ein launiges Gedicht schrieb (Sämtliche Werke Bd.1,1, S.303), das auf sein Amt anspielt. Vgl. Johannes Grünewald: Verzeichnis noch vorhandener, insbesondere evangelischer Kirchenbücher Schlesiens. In: Schlesisches Geschlechterbuch 4. Limburg 1978, S.XXVII-LV (Deutsches Geschlechterbuch 178). Vratislaviense diarium mortuorum Silesiorum et intra Silesiam exterorum ab a. 1599 ad a. 1676 (Wroclaw, UB R.784 - Mikrofilm beim Johann Gottfried Herder-Institut Marburg FK 172). D. Philipp Jacob Spener: Descriptio Comitum et Baronum ab Hohberg. 8 Bll. - Staatsarchiv Wroclaw: Hochberg I Arch.5517, Nr.22; brauchbarer ist eine andere handschriftliche Genalogie derselben Familie: Paul Kerber: Reichsgräflich von Hochbergsches Familienbuch. - Staatsarchiv Wroclaw: Hochberg I Arch.5518.

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unbrauchbar. In seiner ebendort aufbewahrten Autobiographie hat der spiritualistische Dichter und Staatsmann Hans Heinrich von Hochberg seinen Lebenslauf 29 geschönt: von der 1647 gegen ihn erhobenen Anklage wegen Notzucht, Ehebruch und Kindesmord ist darin nichts zu finden (er ist übrigens mit einer Geldstrafe wegen Ehebruchs in Trunkenheit davongekommen). Von Hochberg war 1650/51 interimistischer Landeshauptmann der Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, wurde 1650 von Ferdinand III. in den Freiherrenstand erhoben und 1660 von Leopold I. zum Kaiserlichen Rat ernannt. Da die Werke Czepkos zum größten Teil nur handschriftlich überliefert sind, war es für uns interessant zu erfahren, wer die Schreiber waren; namentlich bekannt sind u.a. die gut bezeugten Schreiber Zacharias Allert, 30 Christian Ezechiel 31 und Samuel Benjamin Klose. Einen Schreiber vermutete man früher hinter den Buchstaben A.R.S. eigenartig war aber, daß er sich so vieler verschiedener Hände bediente. Das Kürzel steht nicht für die Initialen eines Schreibers, sondern für "anno recuperatae salutis", eine Formel, die vor der Jahreszahl steht (im Jahr des wiedererlangten Heils). Unter dem Kürzel I.S.E. aber verbirgt sich der wichtigste Schreiber, denn seine Abschriften gehen stets auf die Orginal-Konzepte und Reinschriften aus dem Besitz Czepkos zurück. Tätig war er in den Jahren 1718-1722. Einmal beendete er eine Abschrift am 23.0ktober und vermerkte dazu, daß dies sein Geburtstag sei. Da ich in dem Schreiber Johann Sigismund Ebersbach vermutete, war meine Enttäuschung groß, als das mühsam ermittelte Geburtsdatum des Kandidaten auf den 7.November fiel. Noch habe ich nicht aufgegeben und sehe bis zur Entdeckung, daß auch hier der Geburtstag nicht stimmt, nun in Johann Siegmund Eckhard, dem späteren Pastor von Langenwaldau, den gesuchten Schreiber. Zur Not habe ich auch einen Ersatzkandidaten, der aber erst dann bekannt gegeben wird, wenn der Langenwaldauer Pfarrer gestrichen ist. Bei der Aufbereitung der Daten als Teile des Kommentars verfahren wir so, daß es einen erfahrenen Editor nur grausen kann. Alles was dem Herausgeber bei den Texten nicht mehr erlaubt ist, kommt hier zu neuen Ehren. Ohne Bedenken kontaminieren wir die Quellen, entlehnen dem einen Lexikon das Geburtsdatum, dem Druck mit Leichgedichten das Sterbedatum und einem lokalgeschichtlichen Aufsatz die "Schandtaten" der Person. Die Schreibung der Namen und Amtsbezeichnungen wird rigoros normalisiert und von den Lesarten eines gut dokumentierten Lebens geben wir nur eine für das Verständnis relevante subjektive Auswahl. So gesehen, könnte man bei der Kommentierung die Freude am Werk wiedergewinnen, die man bei der editorischen Sklaverei schon fast verloren hatte.

29 Graf Hans Heinrich I. von Hochberg: Lebenslauf de Anno 1599 biß 1670. - Staatsarchiv Wroclaw: Hochberg I 5519. 30

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Vgl. Julius Krebs (Hrsg.): Zacharias Allerts Tagebuch aus dem Jahre 1627. Breslau 1887 (Ergänzungsheft zum 64. Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur). [Hermann] Markgraf: Christian Ezechiels Leben und Schriften. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens 12, 1875, H.l, S.163-194.

Sabine Schäfer

Zur Ermittlung von Personendaten. Erfahrungen, Probleme, Wünsche

Die Regestausgabe der Briefe an Goethe (RA)1 ist ein editorisches Vorhaben des Goetheund Schiller-Archivs Weimar (GSA). Mit ihr werden annähernd 21.000 Briefe von ca. 3.500 Briefautoren inhaltlich erschlossen und in chronologischer Folge der Forschung zugänglich gemacht. Aus Goethes erster Lebenshälfte sind nur wenige der an ihn gerichteten Briefe überliefert. Erst mit dem Herbst 1792, damals war Goethe bereits 43 Jahre alt, setzt die Überlieferung in dichter Folge ein. Mehr als 90% der Briefe werden im GSA aufbewahrt. Sie bilden innerhalb des Goethe-Nachlasses einen eigenen Bestandsteil, der aus Goethes Briefregistratur hervorgegangen ist und heute aus einer chronologischen und einer alphabetischen Reihe besteht. Ein geringerer Teil der Korrespondenz ist einzelnen Sachakten und Werkmanuskripten zugeordnet. Die Briefregistratur darf gewiß als einzigartig bezeichnet werden. Ihr originaler Kern umfaßt 157, in der Regel vierteljahrweise geführte Hefte im Folioformat, die sogenannten Quartalsfaszikel. In ihnen hat Goethe die überwiegende Anzahl der fast täglich eingehenden Briefe und Billetts sammeln lassen, ohne eine bewertende Auswahl zu treffen. Obwohl die Briefserie in der Periode der Nachlaßverwaltung mannigfachen Eingriffen ausgesetzt gewesen ist und einzelne Faszikel bis zu 30% ihres Inhalts eingebüßt haben, ist der ursprüngliche Bestand der Registratur fast vollständig überliefert. Die meisten der aus den Heften herausgelösten Stücke sind in die alphabetische Briefreihe eingegangen.2 Die Regestausgabe führt beide Reihen zusammen und gestattet erstmals einen Einblick in die Vielgestaltigkeit der Korrespondenz Goethes. Neben den Briefen namhafter Korrespondenten stehen Tausende Mitteilungen von 'namenlos' gebliebenen Zeitgenossen. Weit mehr als die Hälfte der Briefe kommt aus Weimar und Jena, etwa jeder dritte bis vierte aus den politischen und kulturellen Zentren Deutschlands und Europas von Berlin bis Wien, von Paris bis Moskau.

Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Redaktion: Irmtraut Schmid. Bd.1-5: 1764-1810. Weimar 1980ff. Vorgesehen sind insgesamt 14 Textbände, ab Bd.6 mit erweitertem Registerteil, sowie Gesamtregister. Ausführlich über die Formen der Briefablage sowie über die grundsätzlichen Probleme, die die Edition des Gesamtcorpus der Briefe an Goethe aufwirft, informiert der Herausgeber in der Einleitung im l.Bd. der RA, S.9-32; vgl. auch die ebda, auf S.9 angegebenen Aufsätze von Karl-Heinz Hahn und Hans-Heinrich Reuter.

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Sabine Schäfer

Jeder der fünf vorliegenden Bände enthält ca. 1.600 Regesten, ein kommentierendes Briefschreiberverzeichnis und ein Register der erwähnten Personen. Pro Band rechnen wir mit 350 bis 450 Briefautoren und, seitdem wir ihre vollzählige Übernahme aus den Brieftexten anstreben, mit mehr als 2.000 weiteren Personennamen im Erwähnungsregister. Das einzelne Regest vermittelt vor allem den sachlichen Gehalt des zugrundeliegenden Briefes. Es informiert in knapper, immanent erläuternder Form über die im Brief angesprochenen Sachverhalte, Personen und Werke und führt so den Interessenten gegebenenfalls auf die vollständigen Texte hin. Das Personenerwähnungsregister verzeichnet die Namen der in den Regesten genannten historischen Personen, einschließlich der nicht ausdrücklich erwähnten Werkautoren. Es weist nach, ob bzw. in welchem Regest ein Name vorkommt. Im Verzeichnis der Briefschreiber findet der Leser zusätzlich ausführliche biographische Informationen. Die biographischen Angaben werden jedoch, soweit uns das möglich ist, für alle vorkommenden Personen recherchiert, nicht nur für die jeweiligen Briefschreiber. Das ist ein Erfordernis der Arbeit an den Regesten und zugleich eine notwendige Vorarbeit für ein erläuterndes Gesamtregister. Um der 'Namensflut' wenigstens annähernd Herr zu werden, widmet sich ein Mitarbeiter speziell der Personenrecherche, also der Ermittlung der als gültig anzusehenden Namensformen und der biographischen Daten und - in problematischen Fällen - der Klärung der Identität der gesuchten Person. Damit wollen wir erreichen, - daß zu den einzelnen Namen, unabhängig davon, wie oft sie in Erscheinung treten, nur einmal recherchiert wird, - daß die Auskunftsmittel möglichst effektiv und kritisch genutzt weiden und - daß unsere Regesttexte und Register den jeweils neuesten bzw. den schon andernorts erreichten Kenntnisstand wiedergeben. Letzteres mag zum Teil ein Standortproblem sein. Uns fehlen in Weimar insbesondere regionalgeschichtliche Neuerscheinungen und die maßgebenden ausländischen Personenlexika. Unter effektiver Nutzung der Auskunftsmittel verstehe ich das 'gewußt, wo' ich die Suche ansetze. Ich wage die Behauptung, daß bis zu 80% der Personen, deren biographische Daten wir benötigen, bereits in irgendeinem Werk verzeichnet sind. Kritisches Herangehen meint eine wohldosierte Skepsis gegenüber allen Informationsquellen. Wenn irgend möglich, sollte keine Angabe ungeprüft übernommen werden. Zweifellos ist die Verankerung der Regestausgabe im Goethe- und Schiller-Archiv ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Wir haben leichten Zugang zu den Handschriften im Goethe-Nachlaß und in diversen zeitgenössischen Nachlässen. An erster Stelle ist Goethes Korrespondenz selbst zu nennen, deren möglichst genaue Kenntnis uns bei der täglichen Arbeit, die Personenrecherche eingeschlossen, zugute kommt. 3 Der entscheiDaß es diese Kenntnisse - speziell aufgrund der besonderen Überlieferungsgeschichte der Goetheschen Briefregistratur - ständig zu erweitern und zu vertiefen gilt, belegt mein Aufsatz: Zur Erschließung der bei Goethe eingegangenen Briefe. Die Einbeziehung der Vorarbeiten zu Goethes "Tag- und Jahresheften" in die Redaktion der ersten Bände der Regestausgabe "Briefe an Goethe". In: Im Vorfeld der

Zur Ermittlung von Personendaten

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dende Hinweis auf die Identität einer gesuchten Person kann aber ebenso einem Beleg in Goethes Rechnungen entstammen, einem Theaterzettel im Bestand Goethe-Werke, einem Stammbuch August v. Goethes, einer Korrespondenz des Kanzlers Friedrich v. Müller, den Briefen Charlotte v. Steins an ihren Sohn Fritz in Breslau oder dem Tagebuch Karl Ludwig v. Knebels. Auch wenn es gilt, den Absender eines anonym überlieferten Briefes anhand seiner Handschrift zu identifizieren, bieten die Bestände im GSA in vielen Fällen Vergleichsmöglichkeiten. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen: Beispiel 1: Im Mai des Jahres 1803 wird Goethe ein Lustspiel zur Beurteilung zugesandt, dessen Einsender offenbar anonym bleiben will. Er unterzeichnet seinen Begleitbrief mit dem Kürzel "N." (RA 4, Nr.738). Zunächst fand sich kein Hinweis auf den Urheber, und das Regest mußte unter der Rubrik "Nicht ermittelt" eingeordnet werden. Zu Beginn der Redaktion unseres 5. Bandes stießen wir endlich auf einen - vermutlich im Mai 1805 geschriebenen - Brief des Schriftstellers Wilhelm Salice-Contessa (RA 5, Nr. 107). Darin beruft sich Contessa auf ein vor zwei Jahren an Goethe gesandtes Theaterstück. Der Vergleich der Schriftzüge beider Briefe ergab zweifelsfrei, daß "N." kein anderer als Wilhelm Salice-Contessa ist. Sein Name konnte noch rechtzeitig vor der Drucklegung unseres 4. Bandes eingefügt werden. Beispiel 2: RA 5 enthält zwei Mitteilungen des Mythologen Johann Arnold Kanne (Nr.312 und 324). Der frühere Brief ist - infolge von Mäusefraß - ohne vollständige Unterschrift überliefert. Kannes Andeutungen im 2. Brief und der Vergleich der Handschriften ermöglichten es, ihm auch das fragmentarische Schreiben zuzuordnen. Beispiel 3: Umständlicher gestaltete sich die Identifizierung der Handschrift des schwedischen Philosophen und Schriftstellers Thomas Thorild. Zwischen den Anfang 1800 bei Goethe eingegangenen Briefen liegt ein Blatt ohne Unterschrift, dessen Wortlaut wir zunächst nicht deuten konnten (RA 3, Nr.524). Der Absender bezeichnet sich darin als "ein Skalde Nordens". Erst die Bestimmung der aufgeklebten Verse in schwedischer Sprache (sie entstammen Thorilds Poem "Die Passionen", 1781) führte auf die richtige Spur. Endgültige Klarheit brachte ein ebenfalls eigenhändiger Brief Thorilds an den Philosophen Karl Leonhard Reinhold, der im GSA im Nachlaß Reinholds überliefert ist. Thorild hatte Anonymität nicht beabsichtigt. Seine Zeilen begleiteten sein jüngstes Werk, "Maximum seu Archimetria" (1799), das noch heute unaufgeschnitten in Goethes Bibliothek steht. Wichtige Ergänzungen unserer Archivbestände stellen die Ausleihbücher in der ehemals großherzoglichen Bibliothek dar sowie die Akten im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar. Hervorheben möchte ich die Fourierbücher und die Akten im Bestand Kunst und Wissenschaft. Letztere enthalten manche Einzelheiten, die der Person eines Briefschreibers an Goethe Kontur verleihen oder den sachlichen Hintergrund eines Briefes erläutern.

Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Studien. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1991, S.85-107.

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Beispiel 4: Beides trifft auf den Weimarer Karl Schwabhäuser zu, der sich im Februar 1805 mit der Bitte an Goethe wendet, ihm zu einer festen Anstellung in seiner Heimat zu verhelfen (RA 5, Nr.36). Über Goethes Reaktion ist nichts bekannt. Schon anderthalb Jahre vorher hatte sich der Gymnasialprofessor Johann Friedrich Kaestner für seinen ehemaligen Schüler bei Goethe eingesetzt (RA 4, Nr.947). Aus Kaestners Brief erfahren wir lediglich, daß Schwabhäuser vor Jahren "bei einer Unruhe in Jena relegiert" worden war. Zwei Aktenstücke im Hauptstaatsarchiv lassen erkennen, wie sehr Schwabhäuser einer Fürspache beim Herzog bedurfte. Er war im Jahre 1795 nach studentischen Händeln außer Landes geflohen und hatte sich dadurch den Zorn seines Fürsten zugezogen. Schwabhäusers erste Gesuche um die Genehmigung seiner Rückkehr nach Weimar lehnte Herzog Karl August mit unnachsichtiger Schärfe ab, und erst im Jahre 1811 wurde die Relegation in aller Form aufgehoben. Karl Schwabhäuser lebte später als Schriftsteller, Übersetzer und Sprachlehrer vorwiegend in Weimar. Er ist im 7. Band von Goedekes "Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung" (S.301) verzeichnet; die spärlichen biographischen Angaben beziehen sich jedoch auf einen ebenfalls literarisch in Erscheinung getretenen Bruder. Unentbehrlich für die Personenrecherche sind Tauf-, Heirats- und Sterberegister. Es ist ein Vorzug, daß wir sie in der Stadtkirchnerei Weimar selbst einsehen dürfen. Dadurch ist es möglich, weit mehr aus ihnen herauszulesen, als sich schriftlich erfragen ließe. Ein häufig auftretendes Problem stellen sich ändernde Namensformen dar. Daß die Aufzählung der Taufpaten ebenso wichtig sein kann wie das korrekte Geburtsdatum des Täuflings, läßt sich nicht unbedingt voraussehen. Angaben über die Eltern können sich als manipuliert erweisen. In einem Falle klärte sich die Verwirrung über zwei verschiedene Geburtsdaten erst, als sich herausstellte, daß der Gesuchte dieselben Vornamen wie sein kurz zuvor verstorbener Bruder erhalten hatte. Beispiel 5: Kirchenbücher geben bisweilen lange gehütete Geheimnisse preis: Im März 1795 wendet sich eine Briefschreiberin aus Weimar, die "D.R." unterzeichnet, an Goethe (RA 1, Nr. 1219). Sie ist verwitwet und bittet Goethe, sich wegen der Hoforganistenstelle für einen gewissen Sander, von dem sie ein Kind erwartet, zu verwenden. Alles Weitere, ihren vollständigen Namen, ihre Herkunft und ihre Lebensdaten, konnten wir den Registern in der Stadtkirchnerei entnehmen. Im November 1795 brachte "D.R." oder Dorothea Katharina Rost, geborene Hauenschild, nunmehr verehelichte Sander, einen Sohn zur Welt. Mit schriftlichen Anfragen an Archive (staatliche, kommunale, kirchliche oder auch Universitätsarchive) haben wir sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, in Ost und West gleichermaßen. Eine wichtige Adresse ist die Zentralstelle für Genealogie in Leipzig. Voraussetzungen für den Erfolg einer Recherche sind die Kenntnis der jeweiligen archivischen Zuständigkeiten und so konkrete Angaben zu der erfragten Person wie möglich. Die Findhilfsmittel sind von Archiv zu Archiv unterschiedlich beschaffen. Je mehr Anknüpfungspunkte ich zur Verfügung stellen kann (z.B. Hinweise auf Beruf, ungefähres Alter, Studienort oder -richtung), desto größer sind die Chancen auf eine brauchbare Auskunft. Ich erwähne das deshalb, weil ich des öfteren selbst Archivaus-

Zur Ermittlung von Personendaten

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künfte erteile: Eine präzis formulierte Anfrage erleichtert die Recherche, und sie fordert zu einer präzisen Antwort heraus. Ein wichtiger Ansatzpunkt für gezielte Nachforschungen sind ferner Staatshandbücher, militärische Ranglisten, städtische Adreßbücher, Intelligenzblätter, Zeitungen, vor allem wenn sie mit einem Register ausgestattet sind, Matrikeln, Verzeichnisse von Kur- und Badegästen u.a. Unschätzbar ist z.B. das von Franz Varrentrapp und später von Varrentrapp und Wenner in Frankfurt am Main verlegte "Genealogische Reichs- und Staatshandbuch", das bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches erschienen ist. Es enthält besonders detaillierte Genealogien der europäischen regierenden Häuser und der deutschen Fürsten bis hin zu den Reichsgrafen sowie, in einem zweiten Teil, Verzeichnisse der Staatsbeamten - von den "wichtigsten" in den größeren außerdeutschen Staaten bis zu den "wichtigern und auch minderwichtigen" im deutschen Reich - , wie es im Inhaltsverzeichnis zum Jahrgang 1805 heißt. Im 'Varrentrapp' holte sich schon Goethes Ministerkollege Christian Gottlob Voigt Rat, und durch einen Hinweis in Voigts Briefen sind wir auf dieses Nachschlagewerk aufmerksam geworden. Der notwendige Zugang zu genealogischer Literatur ist im Einzelfall schwierig. Ich denke dabei noch nicht einmal an die verschiedenen Serien des "Gothaischen Genealogischen Taschenbuches" oder an das inzwischen auf annähernd 200 Bände angewachsene "Deutsche Geschlechterbuch" (hrsg. von B. Körner, 1889ff.), sondern an die in regionalgeschichtlichen Reihen versteckten Abhandlungen und an die vielen Beiträge zur Geschichte einzelner Familien, die oftmals nur in wenigen Bibliotheken oder Archiven zu finden sind. Eine Fundgrube für biographische Details sind Lebenserinnerungen, Tagebücher und Briefe. Es ist immer wieder faszinierend zu verfolgen, wer wo wem begegnet ist, d.h., in welchen anderen Lebenszusammenhängen wir den in Goethes Umfeld - bzw. dem seiner Korrespondenten - agierenden Zeitgenossen wiederbegegnen. Die Fülle autobiographischer Literatur ist jedoch kaum zu überblicken. Wünschenswert wäre eine handliche Bibliographie, z.B. für die Goethe-Zeit, erschlossen nach verschiedenen Gesichtspunkten, wie etwa Wohnorten und Berufen. So könnte der rasche Zugriff auf die Lebenserinnerungen etc. der weniger prominenten Zeitgenossen erleichtert werden. Nicht missen möchte man die biographischen Archive und Indizes aus dem K.G. Saur Verlag sowie vergleichbare Neuerscheinungen. Sie erschließen eine Fülle biographischer Informationen, verkürzen und erschließen Suchwege. / 6: Einem gewissen Johann Gottlieb Ungewitter hätten wir ohne den "Deutschen Biographischen Index" (1986) nur zufällig auf die Spur kommen können. Sein Brief an Goethe ist am 15. August 1810 in "Mirow auf der Straße nach Hamburg" geschrieben worden (RA 5, Nr. 1536). Weitere Hinweise zur Person sind der kurzen Mitteilung nicht zu entnehmen. Der DBI verweist unter diesem Namen auf Rotermunds Lexikon Bremer Gelehrter ("Lexikon aller Gelehrten, die seit der Reformation in Bremen gelebt haben", 2 Teile, 1818). Darin ist ein Bremer Pfarrerssohn Johann Gottlieb Ungewitter verzeichnet, der im Sommer 1810, von Heimweh getrieben, von Riga nach Bremen zurückgekehrt

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war. Eine Schriftprobe, die uns das Archiv der Ev.-luther. Landeskirche in Hannover schickte, brachte die Gewißheit, daß der von Rotermund erwähnte Ungewitter mit dem Briefschreiber an Goethe identisch ist. Eine gewisse Vorsicht im Umgang mit den kompilierenden Nachschlagewerken ist jedoch angebracht. Sie konservieren einen teilweise veralteten Wissensstand, und sie können zu der Annahme verleiten, daß es müßig sei, weitere Nachforschungen anzustellen. Sehr viel Zeit kostet das Nachschlagen in den Registern anderer Editionen. Ich hoffe, daß wir in Weimar bald in der Lage sein werden, die Register verschiedenster Editionen, die Goethes Lebenszeit berühren, auf einen elektronischen Datenträger einzulesen. Der Effekt sollte dem der Saurschen biographischen Indizes vergleichbar sein. Ein Problem im Umgang mit den meisten Briefausgaben, wie mit biographischen Nachschlagewerken überhaupt, besteht darin, daß biographische Informationen in der Regel ohne Quellenangabe mitgeteilt werden. So ist es oft unmöglich, sie auf ihre Richtigkeit zu prüfen und widersprüchliche Angaben zu bewerten. Einerseits werden inzwischen berichtigte ungenaue und falsche Daten tradiert und neue Forschungsergebnisse, die z.B. aus Kirchenbuchauskünften resultieren, nicht als solche erkannt. Andererseits mehren sich, wie ich vermute, mit jeder neu beginnenden Quellenedition die Doppelrecherchen. Im Interesse der Qualität unserer Arbeit und der Zeitökonomie sollten wir nach Mitteln und Wegen suchen, den an einem Ort erreichten Wissensstand zu verallgemeinem. Im GSA wird geplant, die in den Karteien der Regestausgabe festgehaltenen Informationen als Grundstock einer computergestützten Datenbank für personenbezogene Daten der Goethe-Zeit zu verwerten. Dies soll in enger Kooperation mit einem bereits in Gang befindlichen, von Karl Richter geleiteten Projekt an der Saarbriicker Universität geschehen. Dort werden Ergebnisse der Goethe-Forschung zu einer EDV-gestützten Dokumentation verarbeitet. Wenn das Vorhaben des GSA Gestalt annimmt, werden sich ihm gewiß auch Editoren außerhalb Weimars anschließen und eigene publizierte und nicht publizierte Forschungsergebnisse zur Verfugung stellen. Fazit: Die Ermittlung von Personendaten für die Regestausgabe der Briefe an Goethe ist eine spannende, keineswegs einseitige Tätigkeit. Fast jeder Brief bietet Anknüpfungspunkte für eine mehr oder weniger gezielte Suche nach biographischen Informationen. So werden aus zahlreichen 'namenlosen' Zeitgenossen Goethes lokal und sozial bestimmte Individuen.

Günter

Arnold

Vom heuristischen Wert eines kommentierenden Registers

Im Problemaufriß dieser Fachtagung zeichnen sich auf den ersten Blick zwei divergierende Tendenzen ab: Kritik an der Uneinheitlichkeit der Kommentare auf der einen, Wissen um die Spezifik der verschiedenen Editionen auf der anderen Seite. Bei der gegenstandsbedingten Vielfalt der Kommentierungsverfahren und Kommentarformen scheint mir eine dem jeweiligen Inhalt adäquate Methode wichtiger zu sein als irgendwelche normative Zielvorstellungen, die nicht einmal dann verbindlich sein könnten, wenn für alle Editionen gleiche Ausgangsbedingungen beständen. Längerfristige editorische Unternehmungen aber haben ihre eigene Geschichte, die von den unterschiedlichsten äußeren Faktoren geprägt sein kann, wie zur Verfügung stehende Mittel, Kräfte und Fähigkeiten, die Gefahr einer angekündigten Paralleledition, der man zuvorkommen muß, oder die durch geschichtliche Ereignisse veränderte Überlieferungssituation. Beispiele dafür sind allen Philologen geläufig. Noch entschiedener widersetzen sich die fach-, epochen- und gattungsspezifischen Erfordernisse der Editionen dem Streben nach Vereinheitlichung. Was sich z.B. bei der Kommentierung von Gedichten bewährt, muß nicht für andere Textsorten wie Briefe oder philosophische Abhandlungen geeignet sein, und Texte der Renaissance stellen andere Anforderungen an den Editor als Texte der Gegenwart. Am Beispiel der Herder-Briefausgabe soll hier von den Möglichkeiten eines kommentierenden Registers die Rede sein. Auf die in neun Textbänden gedruckt vorliegende Ausgabe trifft zu, was hinsichtlich der äußeren Faktoren einer Edition angedeutet wurde.1 Um die Veröffentlichung zu beschleunigen, wurde seinerzeit auf die Kommentierung der Briefe verzichtet; die einzelnen Bände enthalten zu jedem Brief nur Anmerkungen zur Überlieferung und Datierung, Angaben zu den Gegenbriefen und textkritische Mitteilungen. Es versteht sich von selbst, daß zur chronologischen Einordnung der zahlreichen nicht datierten Briefe Herders bereits Kommentararbeit erforderlich war. Um nach Abschluß der Textbände möglichst kurzfristig die inhaltliche Erschließung der ca. 2800 edierten Briefe Johann Gottfried und Karoline Herders zu gewährleisten, wurde die Entscheidung getroffen, auf der Grundlage der sukzessive verkarteten Namen in den Briefen ein kommentierendes Register zu erarbeiten, das zum 250. Geburtstag Herders im Druck vorliegen soll. Man kann davon ausgehen, daß eine bandweise erfolgte Kommentierung aller Briefe einen längeren Zeitraum bzw. mehr Arbeitskräfte erforderlich machen würde. Vgl. Günter Arnold: Ideale und reale Bedingungen für Editionen und die geplante Fortführung der Herder-Briefausgabe. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeiler. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991, S.53-61.

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Günter Arnold

Wichtiger aber ist, daß anders als bei bandweiser Edition durch verschiedene Mitarbeiter alle Texte gleichzeitig zur Kommentierung vorliegen, auf diese Weise Voraussetzungen für inhaltliche Kohärenz gegeben sind und viele formale Wiederholungen überflüssig werden. Aufgabe der Kommentierung des Herderschen Briefoeuvres ist, unter Einbeziehung seiner Werke und der in der Ausgabe nicht veröffentlichten Briefe an Herder die dem jeweiligen Text zugrundeliegende geistige Welt im biographischen und werkgeschichtlichen Zusammenhang zu erschließen. Dabei erweist sich die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion seines diskursiv und assoziativ entfalteten Gedankenreichtums, die neben dem Nachvollzug seiner gesamten, zum Teil unbekannten Lektüre auch die Kenntnis seiner nicht dokumentierten Gespräche voraussetzen würde. Angesichts dieser Sachlage und bei dem fortschreitenden Verlust an ehemals selbstverständlichem antik-humanistischem Bildungsgut oder im Hinblick auf die situationsbedingte Hermetik zeitgenössischer Anspielungen in den Brieftexten ist die Rolle des Zufalls bei den Ermittlungen nicht hoch genug einzuschätzen. Angesichts der Gewichtigkeit der inhaltlichen Probleme wie der nahezu unüberschaubaren Verflechtung von Traditionsbezügen, Zitatencentos und bibliographischen Andeutungen erscheint es beinahe nebensächlich, über die Grenzen zwischen Erläuterung und editionsfremder Interpretation oder über die Akzeptanz von Lexikonwissen für den Kommentar nachzudenken. 2 Auch allgemein zugänglich Ermittlungen sind nicht überflüssig, sofern sie auf den ganz konkreten Textbezug bzw. auf ihre spezifische Bedeutung für das Schaffen des kommentierten Autors eingegrenzt werden. Unverzichtbar sind auf jeden Fall Angaben aus zeitgenössischen Lexika. Die enzyklopädische Vielfalt von Namen, Werktiteln, Anspielungen auf Namen und Titel wurde der Übersichtlichkeit und des leichteren Zugriffs wegen (im Unterschied zu den sonst noch immer in vielem vorbildlichen Gesamtregistem der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken, Tagebüchern und Briefen) auf folgende einzelne Register aufgeteilt, die durch zahlreiche Querverweise miteinander verbunden sind: 1) Herders in seinen Briefen erwähnte Werke: I. Schriften und Dichtungen II. Vorreden III. Zeitschriftenaufsätze IV. Rezensionen V. Öffentliche Erklärungen VI. Gedichte VII. Nachdichtungen und Übersetzungen VIII. Kirchliche Amtsschriften IX. Predigten X. Schulamtliche Schriften

Vgl. Siegfried Scheibes Abgrenzung der textologischen Deutung von der literaturwissenschaftlichen Interpretation. In: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S.162; dagegen Herbert Kraft: "Edition ist interpretatorisch." In: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S.183.

Vom heuristischen Wert eines kommentierenden

Registers

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XI. Schulreden XII. Nachlaßfragmente und Entwürfe 2) Personen und ihre Werke 3) Periodica und nichtermittelte Anonyma 4) Namen aus Mythologie und Sagenwelt 5) Biblische Namen 6) Bibelstellenverzeichnis 7) Geographische Namen Wie leicht zu erkennen, wird schon durch die differenzierende Untergliederung weitgehend Kommentierungsarbeit geleistet, hat man es doch im Text oft nur mit vagen Anspielungen zu tun. Im Register von Herders Werken sind die Belegstellen nach entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten angeordnet: Zur "Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts" z.B. wird zunächst auf die Nachlaßfragmente "Archäologie des Morgenlandes" verwiesen, dann werden alle Stellen angeführt, an denen von ersten Plänen und allgemeinen Erwähnungen des Werkes die Rede ist, dann ein Manuskript 1768 "Über die ersten Urkunden [...]", die Zwischenstufe 1771/72 "Unterhaltungen und Briefe über die ältesten Urkunden", die Druckfassung l.Band 1774, Entwurf und Druckfassung 2.Band 1776, die geplante Fortsetzung, Rezensionen und andere Urteile über das Werk, auf die Herder in den Briefen anspielt. Sammelwerke, wie die Zeitschrift "Adrastea", die "Briefe zu Beförderung der Humanität" oder die "Zerstreuten Blätter", sind bis auf einzelne Aufsätze, Briefe oder Gedichte untergliedert, die Einzelstücke in der alphabetischen Ordnung mit Verweis auf die jeweilige Sammlung eingereiht. Die Erwähnungen der Personen und ihrer Werke (mit Ausnahme Herders) gliedern sich in allgemeine Erwähnungen, Briefe von Herder, Briefe an Herder, Briefwechsel mit anderen Korrespondenten, Schriften allgemein, Einzelschriften in alphabetischer Folge und Rezensionen des Verfassers. Zu den Personen werden Lebensdaten und -orte, Nationalität, Berufe, Titel, Beziehung zu Herder oder Bedeutung für sein Werk angegeben, bei ihren Werken Erscheinungsort und -jähr, eventuell die Nummer in Herders Bibliothekskatalog sowie substantielle Erwähnungen in Herders Werken (SuphanAusgabe), ferner, soweit vorhanden, einzelne Bestandteile ihrer Werke und Zitate daraus, die unter ihrem Lemma mit Verweis im Alphabet zu finden sind, so daß man durch das kommentierende Register sowohl in den Text hinein als auch heraus auf die zugrundeliegende Quelle geführt wird. Also z.B. III 132,36 "Velut aegri somnia" (wie Träume eines Kranken), siehe Horatius, De arte poetica, Vers 7. Auch mythologische, biblische und geographische Namen werden im Hinblick auf ihren Kontext erläutert. Unter "Aachen", wo Herder 1792 und 1802 zur Kur weilte und unter anderem auch Krönungskleinodien betrachtete, steht im Register: "Freie Reichsstadt, Krönungsstadt der deutschen Könige, seit 1801 Hauptstadt des französischen Departements Roer, Kurbad (Mineralquellen)". Besonders wegen der Kleinstaaterei im 18. Jahrhundert ist die (mitunter wechselnde) präzise historische Zuordnung von Städten und Dörfern zu den Territorialstaaten nicht überflüssig. Generell werden auch alle zeitgenössischen Namen in den Editoranmerkungen der Briefbände erfaßt.

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Erfahrungen bei der Kommentierung einer Reihe äußerst inhaltsreicher Briefe an Herder3 lassen die Schlußfolgerung zu, daß von 10 notwendigen Erläuterungen 9 Namen und Büchertitel betreffen. Gestalten literarischer Werke, biographische und historische Ereignisse lassen sich mit Verweisen auf Personen- oder geographische Namen einordnen. Nicht die Form der ermittelten Erläuterung wirft Probleme auf, sondern Herders Ungenauigkeit des Zitierens bzw. die Undeutlichkeit oder Ironie der Anspielungen, die den Bearbeiter nicht selten auf Holzwege geführt hat. Nur durch den parallelen Deutungsversuch zweier unterschiedlich formulierter versteckter Zitate mit ähnlichem Sachverhalt war es möglich, ihre Identität festzustellen: II 101,68f. (1772) VI82, 8f. (1789)

Hamann müsse Matthias Claudius im "Wandsbecker Bothen" erkennen, "wie jener Mathematicus die Menschen aus dem Sande." Herder über Florenz:"[...] hier sind, wie jener Schiffer sagte, doch wenigstens Fußtritte von Menschen [...]"

In Herders "Italienischer Reise", hrsg. von Albert Meier und Heide Hollmer, München 1988, wird die Anekdote zu Recht dem schiffbrüchigen griechischen Philosophen Aristippus von Kyrene (nach Vitruvius' "De Architectura" ) zugeschrieben. Herders eigendiche Quelle aber war Diderots "Encyclop£die"-Artikel Beau, in dem es ohne Anführung von Namen heißt: "[...] ob jener Philosoph, der von einem Sturm an das Ufer einer unbekannten Insel geworfen wurde, Grund hatte, angesichts einiger geometrischer Figuren auszurufen: 'Mut, liebe Freunde, hier sind menschliche Fußstapfen!'" Die namenlose Anekdote findet man später auch in § 64 der "Kritik der Urtheilskraft". Vergebliche Mühe wurde darauf verwandt, in VII 394,4f. die 1798 an Knebel geschickten Bücher "GalloFrancus" und "Franconicus" zu identifizieren. Handelte es sich etwa um eine anonyme Schrift zur Französischen Revolution und einen Titel des 16. oder 17. Jahrhunderts aus dem Fränkischen Reichskreise? Recherchen in den entlegensten Katalogen und Bücherlexika brachten kein Resultat. Aus dem vorausgehenden Brief Knebels wird aber deutlich, daß es sich bei dem "GalloFrancus" um die "Theorie der Erde" des zeitgenössischen französischen Naturphilosophen La M6therie handelte, bei dem "Franconicus" um die von Knebel erhaltenen "Dichtungen" des Nürnberger Predigers und Lokaldichters Johann Heinrich Wilhelm Witschel. Das sind Beispiele dafür, wie sich verschiedene Briefe, unter Umständen zeitlich weit auseinander, wechselseitig kommentieren können, bzw. wie unerläßlich für das Verstehen die genaue Kenntnis der Gegenbriefe ist. Dergleichen Einzelfälle, die im langjährigen Arbeitsprozeß laufend vorkommen, erwecken die Hoffnung, daß ein in Registerform angelegter Kommentar auch beim künftigen Benutzer zu Ideenassoziationen fuhren und, vor allem auf Grund der genetisch angeordneten Quellenbelege, selbständiger wissenschaftlicher Forschung Impulse geben wird. Ich wage die Hypothese, daß die Registerform des Kommentars sowohl dem enzyklopädischen Geist Herders und der Aufklärung als auch der inhaltlichen Spezifik der edierten Textsorte angemessen ist und 3

Vgl. Günter Arnold: Briefe literarhistorischen Inhalts aus Herders Nachlaß. In: Impulse. Aufsatze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Folge 10, 1987, S.274-323; Folge 11, 1988, S.255-313.

Vom heuristischen Wert eines kommentierenden Registers

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daß die übersichtliche wechselseitige Verflechtung der zahlreichen gelehrten Titel und Anspielungen einzelne Fachdisziplinen und Nationalliteraturen übergreifende Betrachtungen eher anregen wird als ein im Apparat vieler Bände verstreuter Stellenkommentar. Die Universalität von Herders Literaturrezeption im umfassendsten Sinne, seine unbegrenzte Aufnahmefähigkeit, verleiht seinen Werken gewissermaßen Palimpsestcharakter, 4 damit führen die zeitlich fixierten Lektürenachweise unmittelbar zu hermeneutischen Fragestellungen der Ideentradition. Mit welcher Selbstverständlichkeit man sich des über verschiedene Zwischenstufen tradierten antiken Bildungsgutes bediente, mag ein letztes Beispiel verdeutlichen: IV 256,25ff. 1783 schreibt Herder an Hamann über Karoline: "Sie lernt jetzt mit dem Gottfried u. ihm zur Aufmunterung Griechisch, hat die Declinationen schon recht gut inne u. schlägt sich jetzt m i t Z V / T f i a [typto] herum."

Es handelt sich hier um ein damals offenbar sehr geläufiges Zitat aus Montaignes "Essays" (I. Buch, 24. Kapitel: Von der Pedanterei) nach Xenophons Erziehungsroman "Kyrupädie". Kyros spricht darin von Schulen, in denen es Prügel setzt, "wenn ein Schüler den ersten Aorist von typto vergessen hat." Rousseau, der wie andere Aufklärer Montaigne viele Anregungen verdankte, hat diese Stelle in seiner ersten Preisschrift von 1750 zitiert. Solche Rezeptionszusammenhänge lassen sich im Register leicht durch Verweise veranschaulichen. Nur selten kann sich der Bearbeiter einer Gesamtausgabe bei der Klärung von Detailproblemen auf Forschungsliteratur beziehen. Zur MontaigneRezeption Herders z.B. gibt es meines Wissens keine einzige Arbeit, obwohl grundlegende Gemeinsamkeiten beider Schriftsteller, ihre assoziative, unsystematische Denkweise, ihr tiefes Einfühlen in die Individualität und der essayistische Stil beider nicht zu verkennen sind. Es wird zu den Aufgaben des in Arbeit befindlichen Registerbandes gehören, mit seiner erläuternden Übersicht der Autoren und Werke im Kontext des Herderschen Schaffens solchen und ähnlichen Untersuchungen den Weg zu bereiten.

4

Vgl. Wolfgang Proß: Johann Gottfried Herder. Werke. Bd.I, München/Wien 1984, S.696.

Ursula Regener

Die Praxis der computerunterstützten Edition am Beispiel der "Nachlaßgedichte" Eichendorffs im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe 1 Möglichkeiten und Unmöglichkeiten Daß EDV und Edition auch im literarischen Bereich Hand in Hand gehen, dafür sprechen nicht nur die zahlreichen mittlerweile bekannten computerunterstützten Editionsprojekte.2 Zunehmend werden sogenannte Elektronische Editionen neben den gedruckten Buchausgaben angeboten, so daß die beiden Erscheinungsformen - wo sie nicht als unverzichtbare Ergänzungen begriffen werden - in ein Konkurrenzverhältnis geraten. Natürlich wird zu Recht auf die Vorteile der elektronischen Verarbeitung verwiesen: neben einer enormen Zeitersparnis und Effizienz liegen diese - sind die erforderlichen Daten erst einmal eingegeben - vor allem in der Unbestechlichkeit der verschiedensten Auswertungen zu Forschungszwecken und in der ungleich bequemeren Einrichtung für den Druck. Mühsame und mehrfache Fahnenkorrekturen entfallen durch die Möglichkeit, die mit einem gängigen Textverarbeitungsprogramm erstellten Dateien nochmals mit einem professionellen Satzprogramm wie "Ventura Publisher" zu bearbeiten, auf diese Weise belichtungsfähige Dateien zu erstellen und damit die Perfektion des herkömmlichen Satzes im Druckbild zu erreichen. Kein Wunder, daß die Herausgeber des Bandes zur Tagung "Historische Edition und Computer", die im Oktober 1988 in Graz stattfand, folgerten: "Editionsunternehmen ohne elektronische Datenverarbeitung sind in letzter Zeit kaum noch vertretbar."4 Thematisiert

1 Sämtliche Werke des Freiherm Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe, begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch (t) und Helmut Koopmann. Band VI. Gedichte. Erster Teil. Text. Hrsg. von Harry Fröhlich und Ursula Regener. Band 1/2. Gedichte. Erster Teil. Kommentar und Lesarten. Hrsg. von Harry Fröhlich. Band 1/3. Gedichte. Zweiter Teil. Text, Kommentar und Lesarten. Hrsg. von Ursula Regener. 2 Um nur diejenigen zu nennen, die die aus Anlaß des Germanistentages 1991 von Helmut Schanze veranstaltete Informationsbörse "Neue Informations- und Wissenstechnologien in der Germanistik" verzeichnet Bernhard Gajek: Kommentar zu Clemens Brentanos "Das bittere Leiden" in der historisch-kritischen Frankfurter Brentano-Ausgabe; Ausgabe der Briefe von und an Ludwig Fulda, Ausgabe der Werke und Briefe Ludwig Thomas. Hans J. Kreutzer, Stefan Füssel: Edition der "Historia von D. Johann Fausten"; Stefan Füssel: Quellenrepertorium der Göschen-Briefe, Edition und Kommentar zum Göschen Briefwechsel. Eckhardt Meyer-Krenden Wilhelm Raabes Tagebücher. Projekt: Raabe Datenbank und Edition. Robert Musil: Literarischer Nachlaß. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Fris6. 3 Mit dem "Ventura Publisher" arbeiten heute die meisten Satzfirmen, so daß die Verlagswahl nicht (wie bei der Arbeit mit TUSTEP) wesentlich eingeschränkt ist. 4 Historische Edition und Computer. Möglichkeiten und Problem interdisziplinärer Textverarbeitung undTextbearbeitung. Hrsg. von Anton Schwöb, Karin Kranich-Hofbauer und Diethard Suntinger. Graz 1989. Vorwort, S.U.

Die Praxis der computerunterstützten Edition

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wurde allerdings auch die nicht immer unproblematische "Verbindung von historischer Arbeitspraxis, germanistischem Anspruch und dem Erfahrungshorizont der Informationswissenschaft". Aufwand und erforderliche Planungen sind, strebt man beide Editionsformen zugleich an, tatsächlich nicht zu unterschätzen. Mein Beitrag über die computerunterstützte Editionspraxis der "Nachlaßgedichte" Eichendorffs möchte - möglichst unabhängig von der dem einzelnen Editor zur Verfügung stehenden Hard- und Software-Ausstattung5 - diejenigen Schritte vorstellen, die sich für die einzelnen Stadien der Editionspraxis (Texterfassung, Variantenerstellung, Kommentar und Druckvorbereitung) überhaupt als sinnvoll erwiesen haben. Da sich im Verlauf einer solchen Arbeit - ausstattungs- und projektübergreifend - immer wieder ähnliche "Erfolgsstrategien" herauskristallisieren, werden dem einen oder anderen zumindest die Teile dieser Ausführungen bekannt sein, die die Texterfassung, Kollationierung und Druckvorbereitung betreffen. 6 Diese Punkte sollen hier deshalb nur der Vollständigkeit halber und in dem Maße erläutert werden, wie sie für die Eichendorff-Edition relevant waren. Ziel der Ausführungen ist eine Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der EDV bei der Kommentierung.

1. Zur Texterfassung Wie bei jedem Editionsvorhaben kam es auch im Hinblick auf die historisch-kritische Eichendorff-Ausgabe darauf an, alle zur Disposition stehenden Texte vollständig zu erfassen sowie die für eine spätere Sortierung relevanten Kriterien nach einheitlichen Vorgaben, möglichst mit Hilfe sogenannter Eingabemasken, zu verzeichnen. Mit zweierlei Vorlagen war zu arbeiten: Handschriften und Drucken. 1.1 Handschriften transkribieren Da die Möglichkeiten elektronischer Erkennung von individuellen Handschriften noch minimal sind, waren wir im Fall der Autographen und Abschriften von fremder Hand auf das eigene Lesen und Transkribieren angewiesen. Die Arbeit am PC gleicht hier - sieht man von den besseren Korrekturmöglichkeiten ab - der Arbeit an der Schreibmaschine.

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An erster Stelle computerunterstiitzer Projektbeschreibungen stehen normalerweise die Informationen über die vorhandene Hard- und Softwareausstattung. An der Uni Augsburg stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung: Hardware: 468er Rechner, 8 MB Hauptspeicher, 2 0 0 MB Festplatte, Colormonitor (die farblich Variante Textdarstellung übertrifft die graphische um ein Vielfaches an Übersichtlichkeit), ein HP Laserjet ΙΠ-Drucker, das Kurzweil 5200. Intelligent Scanning System. Windows™ Edition. Software: Word 5.0, Paradox 3.5, WordCruncher, Sage Professional Editor, Ventura Publisher.

6

Grundlegend hierzu: Wilhelm Ott, Hans Walter Gabler, Paul Sappler: EDV-Fibel für Autoren. Tübingen 1982; Computerfibel für die Geisteswissenschaften. Einsatzmöglichkeiten des Personal Computers und Beispiele aus der Praxis. München 1986; Wilhelm Ott: Edition und Datenverarbeitung. In: Herbert Kraft: Editionsphilologie, Darmstadt 1990, S.59-70. Neuerdings: Eckhardt Meyer-Krentler: Edition & EDV. Philologische Textedition und Verwaltung edierter Texte als Datenbank mit dem WORD-Zusatzpacket ECCE. Erscheint voraussichtlich München 1992.

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Ursula Regener

12 Drucke einscannen Für die automatische Erfassung von Drucken hingegen optimieren sich die technischen Voraussetzungen zusehends. Nachdem sich der Standard der Texterkennungssoftware gerade in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, so daß der Fehlerqoutient bei ausreichendem Schrifttraining und gut kopierten Vorlagen ausgesprochen niedrig gehalten werden kann, bot sich das sogenannte "Einscannen" für nahezu alle gut erhaltenen und lesbaren gedruckten Vorlagen an. 1.3 Hinweise auf vermutliche Überlieferungsträger Mit ebenso großer Sorgfalt wurden schließlich alle Hinweise auf vermutliche Überlieferungsträger digital erfaßt.

2. Aufbereitung der erfaßten Texte In einem Arbeitsgang, der sich direkt an die Erfassung der jeweiligen Einzeltexte anschloß, wurden alle vorhandenen Verweise auf Datierungen sowie die bekannten handschriftlichen und gedruckten Überlieferungsträger verzeichnet. Diese zusätzlichen Informationen wurden unter einheitlichen Siglen gegeben, wobei die konsequente Verwendung von Textbausteinen für den späteren Zugriff die größte Zuverlässigkeit gewährleistet. Ebenso wie alle Titel oder Textanfänge und in Verbindung mit diesen wurden diese Informationen auf besondere Weise klassifiziert und gekennzeichnet, um sie später gesondert abrufen zu können.7 Diese strukturierte, datenbankähnliche Textaufnahme gehört zu den unbedingten Konditionen einer EDV-Edition. In diesem Sinne unterzogen wir auch die erfaßten Texte einer ersten Korrektur und legten vor allem bei den Titeln auf eine (zusätzliche) dudenorientierte Schreibweise wert, damit Zugriffsroutinen nicht an falschen Buchstabenfolgen scheitern.

3. Erste editorische Entscheidungen Nachdem auf diese Weise eine gesicherte, wenn auch noch - abhängig vom Erfassungsmodus - relativ ungeordnete Materialbasis bereitgestellt wurde, standen und stehen die aufgenommenen Titel nun für Abfragen und Sortiervorgänge jedwelcher Art zur Verfügung: Einfache Suchroutinen informieren schnell über das Vorkommen von Parallelstellen. Eine alphabetische Sortierung der Titel läßt doppelt aufgenommene Titel rasch erkennen, die der Wörter informiert über Wortschatz und Worthäufigkeit. Mit der Erfassung der jeweiligen Datierung war die Bedingung fur die chronologische Sortierung der Texte gegeben. Diese chronologische Anordnung entspricht im Großen und Ganzen schon der letztgültigen Textfolge, die für den "Nachlaßband" vorgesehen ist.

Arbeitet man mit einem Textverarbeitungsprogramm, das über Druckformate Gliederungsmöglichkeiten bietet, können diese zusätzlichen Informationen entweder im Titelabsatz oder in einem anderen Verzeichnisabsatzformat festgehalten werden.

Die Praxis der computerunterstützten Edition

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3.1 Textauswahl Aber auch in Fragen der Textverteilung auf verschiedene Bände wie im Fall der LyrikEdition Eichendorffs im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe (HKA) bot sich jetzt eine leichte Handhabe. Zur Auswahl der Eichendorff-Gedichte fur die "Nachlaß"-Edition gehörte eine genaue Absprache mit dem Herausgeber des ersten Teils der Lyrik-Edition, Harry Fröhlich. Nachdem dieser sich für die 1841 erschienene, zweite, um 74 Gedichte vermehrte und veränderte Auflage von Eichendorffs Gedichten 8 als Druckvorlage entschieden hatte, entfielen auf den "Nachlaßband" (HKA 1/3) die aus den anderen drei Auflagen nicht übernommenen bzw. neu hinzugekommenen Gedichte 9 sowie die vom Autor nicht in die Sammlung aufgenommenen verstreuten und nachgelassenen Gedichte und Fragmente, Entwürfe und Pläne. Der Selektionsvorgang war in diesem Fall denkbar einfach: um einen Überblick über das Editionsvolumen des zweiten Teils der Gedichte zu bekommen, mußten lediglich alle Titel, die die Information B 2 I, bzw. A 2 , also die Siglen der für den ersten Band gewählten Druckvorlage, enthielten, aussortiert werden; dazu natürlich eventuelle Vorstufen, die die Darstellung der jeweiligen Textgenese im Kommentarband ermöglichen. ^ Übrig blieben 349 Titel, die natürlich je nach Änderung der Quellenlage korrigiert oder ergänzt werden können. 32 Inhaltsverzeichnisse der Überlieferungsträger Da viele der Eichendorffschen Handschriften als verschollen gelten, hat sich eine weitere Abfrage als äußerst sinnvoll erwiesen: die Sortierung nach den verzeichneten Überlieferungsträgern. Mit deren Hilfe konnten provisorisch Inhaltsverzeichnisse der Handschriften und Drucke zusammengestellt werden. Die darauf folgende Aufnahme vorhandener Blattbeschreibungen und der zugehörigen Kennungen ermöglichte eine erste Überprüfung auf Vollständigkeit der bisher erfaßten Texte und gewährleistete einen schnellen Überblick über den ursprünglichen Bestand der Autographen. Zu jeder Handschrift wurden dann - soweit bekannt - systematisch alle Standortwechsel sowie die jeweils aktuellsten Signaturen aufgenommen, so daß die Überlieferungsgeschichte der Eichendorffschen Gedichte ohne allzu großen Aufwand beinahe beiläufig aktualisiert werden konnte. Die Blattbeschreibungen wurden vorläufig in einer eigenen Datei abgelegt und werden bei jeder sich bietenden Gelegenheit (Erwähnungen in der Sekundärliteratur, Mitteilungen über neu erworbene Handschriften, Bibliotheksbesuche) auf den neuesten Stand gebracht.

8

B 2 : Joseph Freiherm von Eichendorffs Werke. Berlin 1842 [1841/42] Bde.I-IV. B2I: Gedichte (identisch mit A 2 ) [1841], A2: Gedichte von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Zweite vermehrte und veränderte Auflage. Berlin 1843 (identisch mit B 2 I). 9 Das aus Al nicht in B 2 I übernommene Gedicht "Das alte Mädchen" und das erst ab A 3 hinzugekommene Gedicht "Liberta's Klage". Ist man mit den Texten (durch Erfassung und Bearbeitung) nicht bestens vertraut, wäre die automatische Suche nach Vorstufen eine mühsame und umfangreiche Prozedur, denn es milßten praktisch alle Verse mit allen anderen abgeglichen werden.

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Ursula Regener

4. Zur Varianten-Verzeichnung 4.1 Automatische Kollationierung Nicht nur, was die Möglichkeiten der automatischen Textkollationierung und damit Lesartenapparat-Erstellung betrifft, bietet die EDV dem Editor willkommene Hilfen. Kollationierungsprogramme sind - vermutlich wegen der schwer zu lösenden Synchronisierungsprobleme - zumeist interaktiv eingerichtet und dienen nicht zuletzt auch der Auffindung von weniger offensichtlichen Abschreibfehlern ("innerer Duden", Interpunktion). 11 Gleichgültig, ob die Varianten durch automatischen oder konventionellen Textvergleich erschlossen werden, kommt die EDV aufgrund ihrer Verweisstruktur der Apparaterstellung aber auch noch von anderer Seite her entgegen. Ohne bestimmte Vorentscheidungen über die Einrichtung eines angemessenen Apparates geht es auch hier nicht. 4.2 Vorläufige Entscheidung über diakritische Zeichen im Hinblick auf die spätere Einrichtung für den Druck Diese betreffen zunächst die Wahl der diakritischen Zeichen, die jedoch unter der Voraussetzung ihrer Eindeutigkeit, was die technischen Möglichkeiten betrifft, jederzeit ersetzbar sind. 12 Dafür müssen Mißverständnisse in der Verständigung darüber, ob ein Zeichen verbatim oder als Metazeichen aufzufassen ist, ausgeschlossen werden. Beispielsweise sollten Lemmaklammern sich von eckigen Klammern durch ein distinktives Merkmal unterscheiden, desgleichen Bindestrich und Gedankenstrich. In der EDV ist es Konvention unter den Programmierern, solche Metazeichen durch die Voranstellung eines signifikanten zusätzlichen Zeichens (\) zu kennzeichnen. Die nötige

11

12

Diese treten bei quantitativ unterschiedenen Paralleltexten auf. Eine Ausnahme bildet die Option "Vergleiche" des Tübinger Systems von Textverarbeitungs-Programmen (TUSTEP). Solche Kollationierungsprogramme werden zunehmend auch zum einfachen Korrekturlesen empfohlen. In den Lyrik-Bänden der HKA haben wir uns auf folgendes Minimum an diakritischen Zeichen beschränkt: (1), (2) etc. Variantenzählung. (a), (b) etc. rekonstruiert stufenweise die Genese einer Textpassage: (a) erste Fassung (mit Angabe der Streichungen für die zweite Fassung) (b) zweite Fassung (mit Angabe der Hinzufügungen). [ ] Streichung durch Eichendorff. ~ Bei mehreren Streichungen innerhalb einer Passage werden die Klammem durch Fett- und Normaldruck unterschieden. I I Hinzufügung durch Eichendorff. I[ ] Hinzufügung durch Eichendorff, dann von ihm gestrichen. > 1) Variante entspricht dem Lemma. 2) Variante wird zu a) der folgenden Variante (durch Überschreiben der Buchstaben) oder b) dem Lemma (in diesem Fall folgt die Sigle des Textzeugen). [< ] entstanden aus. Tilde: ermöglicht die Synopse von Varianten Fassungen ohne Wiederholung des unveränderten Wortlauts; das über dem Zeichen stehende Wort (einschließlich des zugehörigen Satzzeichens) muß auf dieser Stufe mitgelesen werden. [.] Durch Streichung unlesbar gewordener Buchstabe. < > Hinzufügung durch den Herausgeber.

Auslassung durch den Herausgeber.

Die Praxis der computerunterstützten Edition

247

Eindeutigkeit ließe sich aber auch durch die vorläufige Wahl eines nirgends sonst verwendeten Zeichens aus dem Zeichensatz erreichen oder, wie Eckhardt Meyer-Krender vorschlägt, über spezifizierende Formatierungen. 13 Bei der Einrichtung für den Druck können dann alle entsprechenden Zeichen oder Zeichenformate mittels eines eigens eingerichteten Druckertreibers realisiert und in eine endgültige Datei geschrieben werden. 4.3 Verweisstruktur Wie bekannt, hängt die Einrichtung der Lesartenapparate weitgehend von Umfang und Art des Materials ab. Für die Eichendorff-Lyrik haben wir uns auf den positiven Variantenapparat verständigt, integrieren die Entstehungsvarianten also nicht durch Mehrfarb- oder andere Techniken, die die Lesbarkeit erheblich hemmen, ins Druckbild. Über verborgen formatierte Fußnoten ist der Bezug vom Text zur jeweiligen Varianten Lesung auch am Bildschirm jederzeit gewahrt, ohne daß sich im Druckbild störende Fußnotenziffern bemerkbar machen. 14 Eine generelle Umstellung der zeilenorientierten Lemmatisierung oder synoptischen Textdarbietung auf das sichtbare Fußnotenprinzip wäre aus Gründen der Textdarbietung nicht akzeptabel.

5. Zur Kommentierung 5.1 Vorgaben Der Kommentarteil zu den Eichendorff-Lyrik-Editionen untergliedert sich auf übliche Weise für jedes Gedicht in vier Aspekte: außer den Punkten "Überlieferung" und "Lesarten" werden gesondert Informationen zur Entstehung und Erläuterungen gegeben. Wenn im folgenden von Kommentierung die Rede ist, so in dem engeren Sinn, daß nur die letzteren Rubriken als eigentlicher Kommentarteil verstanden werden. Während unter dem Punkt "Entstehung" anhand aller bislang bekanntgewordenen Daten und Fakten das jeweilige Gedicht möglichst genau datiert sowie, wenn belegbar, die näheren Umstände der Entstehung (Autobiographisches aus Briefen und Tagebüchern, weiteres biographisches Material, Anregungen, Aufträge, Verlegerkorrespondenz etc.) aufgeführt werden, informieren die "Erläuterungen" über den jeweiligen literarhistorischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang; darüber hinaus werden dort sachliche (geographische, archivalische, sprachwissenschaftliche etc.) Fakten kommentiert und Anklänge an oder Entlehnungen aus literarischen Vorbildern unter Angabe der Quelle zitiert. Ist ein Gedicht Bestandteil eines Prosawerks oder eines Dramas Eichendorffs, so wird der Kontext kurz umrissen. Querverweise zu anderen Gedichten Eichendorffs sollen auf Motivreihen aufmerksam machen. 15

13 14

15

Meyer-Krentler: Edition & EDV, vgl. Anm.6. Da die Druck-Edition des ersten Teils der Gedichte auf Text und Kommentarband verteilt ist, können die Lesarten jederzeit parallel zum Text gelesen werden. Die Lesarten der "NachlaBgedichte", werden im gleichen Band wie diese und der Übersichdichkeit halber auf der jeweiligen Seite gegeben. Auf Interpretationen wird (nach dem Vorbild der Stuttgarter Hölderlin Ausgabe) verzichtet und zwar sowohl auf fremde als auch solche des Herausgebers.

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5.2 Möglichkeiten der EDV Die erwähnte Verweisstruktur der Datenverarbeitung vereinfacht natürlich auch das Auffinden der für eine Kommentierung relevanten Textstellen. Hierzu werden sogenannte Retrieval-Programme eingesetzt, wie sie in allen Programmpaketen, die den Umgang mit dem jeweiligen Betriebssystem erleichtern oder dessen Möglichkeiten erweitern, zu finden sind. Mit DOS selber verfügt man z.B. über das Kommando "grep", das im angegebenen Bereich nach Zeichenketten und auch regulären Ausdrücken sucht und die Fundorte in Sekundenschnelle entweder auf dem Bildschirm oder in einer Datei allerdings ungeordnet zusammenstellt. Ähnlich funktioniert der Textsearch-Befehl unter "Norton Utilities". Ausgesprochene Übersichtlichkeit hingegen bietet die komfortable Retrieval Software "ViewETC". Dieses unter dem Namen "WordCruncher" bekannte und angebotene Programm erfreut sich zum einen nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland einer immer weiteren Verbreitung, so daß Benutzerprobleme seltener werden. Zum zweiten bietet es Optionen, die eine Darstellung der gesuchten Passagen auf Wort, Satz und Kontextebene ermöglichen. Die Angaben über die vorher indizierten Quellen-, Seiten-, Zeilenangaben - hier kann der Benutzer nach eigenen Bedürfnissen frei walten - erscheinen selbstverständlich gleichzeitig. Das erspart langwieriges Suchen in verschiedenen Karteikästen und erleichtert beispielsweise bei hierarchisch strukturierten Kommentierungen die Entscheidung, welche der vielen Belege eines kommentarbedürftigen Begriffs als Zentralstelle anzusehen ist. Die Möglichkeiten erstrecken sich natürlich auch auf alle Formen der Registrierung, wobei Anspielungen außerhalb der Reichweite eines Rechners, der sich ja nur auf Zeichenketten "versteht", liegen. 5.3 Grenzen der EDV Die für eine Kommentierung nötigen Informationen können natürlich nur insofern automatisch zusammengestellt werden, als sie vorher eingegeben wurden. Ist dies schon für eine faktenorientierte Kommentierung kaum möglich, wieviel schwieriger gestaltete sich das Unternehmen, wollte man zusätzlich Interpretationsansätze verzeichnen. Trotz modemer Scannertechnik, die die Texterfassung enorm beschleunigt, stößt die Eingabekapazität, je nach Teamgröße und Qualität der technischen Ausstattung, früher oder später auf ihre Grenzen.16 Schon der von Meyer-Krentler vorgeschlagene Grundsatz der Totalaufnahme (nämlich des Gesamtwerks des entsprechenden Autors) 17 würde im Einzelfall Jahre kosten. Diese Leistung vorausgesetzt, könnten natürlich alle werkimmanenten Faktoren auf elektronischem Wege abgerufen werden. Bei den Erläuterungen zu Einzelstellen, Wort- und Sacherklärungen also, wäre man schon darauf angewiesen, daß die zeitgenössischen Lexika und Wörterbücher elektronisch aufgearbeitet vorliegen. Der automatischen Feststellung von Bezügen zu anderen Werken oder zum Tagesgeschehen schließlich müßte entsprechend eine rechnerorientierte Aufbereitung auch dieser Daten vorausliegen. Ist dies alles für einen Autor kaum zu leisten, wie viel 16

17

Diese sind im Idealfall einer sowohl germanistisch als auch im Bereich der Programmierung versierten EDV-Beratung, wie er an der Uni Augsburg durch Markus Ohlenroth gegeben ist, weiter gesteckt, aber nicht aufgehoben. Meyer-Krentler: Edition & EDV, vgl. Anm.6.

Die Praxis der computenmterstützten Edition

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schwerer ist es dann für sein geistiges und historisches Umfeld. Manfred Thaller hat im historischen Bereich auf das Paradoxon aufmerksam gemacht, daß "der Historiker, der den Rechner einsetzte, um eine größere Zahl von Quellen beherrschen zu können, [...] letzten Endes weniger [Quellen verwendet]", und begründet dies mit der einfachen Einsicht: "so wie sein Vorgänger nur jene Quellen benützen konnte, die er mit eigener Hand während eines stark beschränkten Archivaufenthaltes kopierte, steht ihm nur das Material zur Verfügung, das für eben diesen Zweck in den Rechner eingegeben wurde." 18 Die Vorstellung von der Autarkie eines EDV-gestützten Herausgebers stößt spätestens hier an die Grenze der Realität und Realisierbarkeit. Als Ausweg wäre außer der von Thaller vorgeschlagenen und problematisierten Einrichtung eines Projektverbundes fachspezifischer Workstations ein allgemein zugängliches Datennetz denkbar, zu dem jeder, der sich computer-editorisch betätigt, Daten beiträgt, um im Gegenzug auf die eines anderen Projektes zurückgreifen zu können. In den USA existiert ein solches Netz unter dem Namen "Humanist"; ob es auch funktioniert, muß sich erst erweisen. Eine Alternative böte der kommerzielle Vertrieb solcher Daten, wie es der Niemeyer Verlag mit der "Elektronischen Bibliothek zur Deutschen Literatur" versucht. Doch dürfte zum einen der Interessenten- und Käuferkreis unterhalb der für einen Verleger finanziell tragbaren Grenze liegen, zumal die Buchausgaben der elektronischen Werke - in der Regel mit guten Registern ausgestattet - zumeist schon im Besitz der möglichen Abnehmer sind. Zum anderen ist ein solcher Vertrieb von Seiten des strengen copy right ziemlichen Beschränkungen ausgesetzt. Das ohnehin fragwürdige Ideal einer vollständig in digitaler Form vorliegenden Geisteswissenschaft (Primär- und Sekundärtexte aller Autoren und Zeiten) zeichnet sich nicht einmal am Horizont ab. Und selbst wenn alle diese Hindernisse überwunden und Datenbanken solchen Ausmaßes allgemein zugänglich wären, was außerdem die Normierung der Schreibweisen und eine Einigung über ein allen Zwecken gerecht werdendes Abfragesystem unbedingt voraussetzen würde, damit die Abfragen technisch überhaupt funktionieren, - wenn das alles einmal der Fall sein sollte: Wer könnte mit diesen Daten etwas anfangen, ist doch der Datenaustausch grundsätzlich mit dem Problem behaftet, daß derjenige, der für die Eingabe verantwortlich zeichnet, am besten um die Fragestellungen und möglichen Forschungen weiß. Ohne Frage keine Antwort und ohne Lektüre kein Horizont für Fragen. Das Zeitalter der Datenabfragen wird kommen - und sicher wieder gehen. Es wird eine Neuorientierung der Literaturwissenschaft notwendig machen - wieder hin zur Heuristik des Lesens, des Interpretierens, auf der Basis historisch-kritischer Ausgaben, die den Computer als zwar unentbehrliches, aber nur bedingt universelles Hilfsmittel verstehen.

Manfred Thaller: Datenbasen als Editionsformen? In: Historische Edition und Computer. Möglichkeiten und Probleme interdisziplinärere Textverarbeitung und Textbearbeitung. Hrsg. von Anton Schwöb, Karin Kranich-Hofbauer und Diethard Suntinger. Graz 1989, S 215-241, hier S.220f.

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Ursula Regener

Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der computerunterstützten Edition

Texterfassung Handschriften transkribieren

Drucke einscannen

Hinweise abschreiben

Aufbereitung der erfaßten Texte Korrekturen

Textexterne Informationen

Zusätzliche Dudenorientierung

Erste editorische Entscheidungen r Textauswahl

Ordnung des Materials

Blattbeschreibungen

Varianten-Verzeichnung Automatische Kollationierung

Vorläufige Entscheidung über diakritische Zeichen im Hinblick auf die spätere Einrichtung für den Druck

Verweisstruktur von EDV und Edition I (verborgene) Fußnoten

Kommentieru ng 1 Vorgaben Fakten Interpretationen

Möglichkeiten der EDV

Grenzen der EDV I

Retrieval Software

Totalaufnahme

Einrichtung für den Druck 1 Spezifizieren der diakritischen Zeichen r Metazeichen

Verbatim-Zeichen

Einrichtung einer Datei mit Satzanweisungen mittels eines Druckertreibers zur Vorbereitung für die Bearbeitung mit einem Satzprogramm

Walter

Morgenthaler

Der produktionsorientierte Stellenkommentar in der Computer- Edition

Statt profunde theoretische Erkenntnisse auszubreiten, werde ich mich in meinem Kurzreferat darauf beschränken, die drei im Titel zusammengebrachten Begriffe aus vorwiegend pragmatischer Sicht zu erläutern und dann mit einem Anwendungsbeispiel zu illustrieren. Die Computer-Edition steht zunächst im Gegensatz zur traditionellen Buchedition. Sämtliche Texte, Varianten, Kommentare, Dokumente werden computeriell erfaßt und gespeichert; aber nicht vorweg und einzig, um gleich wieder in ein anderes Medium, das Buch, transferiert zu werden; und auch nicht - die zweite, oft damit verbundene Variante - , um als bloße träge Archivmasse zu dienen, die bei Bedarf angezapft werden kann, aber jeweils erst für die spezifische Benutzung aufbereitet werden muß. In der ComputerEdition werden alle Daten in selbständiger, die computeriellen Möglichkeiten ausnutzender Form verwaltet und auch präsentiert (letzteres im Gegensatz zur sogenannten computerunterstützten Edition). Mit Computer-Edition meine ich dabei nicht primär das hochelaborierte System, das in multimedialer Totalvernetzung - nur noch der (vorwiegend didaktischen) Präsentation meist kanonischer Werke dient und - schon aus Kostengründen - erst dort einsetzen kann, wo die Editionstätigkeit schon sauber abgeschlossen ist. Vielmehr spreche ich von einem Programm, das schon während des Editionsprozesses zum Einsatz kommt: das einerseits die Datenerfassung unterstützt, andrerseits aber auch die Daten in jedem Stadium ihrer Erfassung als Ganzes zu präsentieren vermag, so daß Erfassung, Verwaltung und Präsentation produktiv ineinanderwirken: die Präsenz der Edition beim Edieren. Die Edierenden sind dabei zugleich Hersteller und erste Anwender. Eine Zusatzbemerkung. Mit dem eben Geäußerten wird keineswegs der Verdrängung des Buches das Wort geredet. Die Computer-Edition - am Ende - wird als Ergänzung zum Buch zu sehen sein. Wer wollte schon freiwillig, umdröhnt vom unvermeidlichen Ventilator, dauerbestrahlt von der Bildröhre, meist eingeengt auf das lästige 25-Zeilenformat und genervt durch die ausgefransten Zeichensymbole - wer also wollte schon ganze Texte am Bildschirm lesen oder auch nur ausgedehntere Apparatteile ebenda eingehender studieren! Aber - umgekehrt - wer wollte nicht: - bestimmte Stellen aufsuchen, zur schnellen Einsicht nach wählbaren Kriterien auflisten, Parallelstellen anzeigen,

252

Walter Morgenthaler

- Varianten und Kommentare zu einer Textstelle ohne den mühsamen Umweg über Inhaltsverzeichnisse, Register oder eingelegte Buchzeichen direkt verfügbar haben, - aus dem Apparat nur die gewünschte Korrekturschicht des gewünschten Textzeugen herausfiltern, - aus einem lemmatischen Verzeichnis von Lesarten den integralen Text einer beliebigen Stufe generieren und ausdrucken lassen? Einige der Möglichkeiten, welche die Computer-Edition - und eben nur diese - bietet und welche dazu beitragen, daß sich Zweck und Gestalt der Buchedition wohl entscheidend ändern weiden, so daß sich meine vorherige Bemerkung auch umkehren ließe: die Buchedition wird als Ergänzung zur Computer-Edition zu sehen sein. Der Stellenkommentar in der Computer-Edition: damit sind die auf bestimmte Stellen eines Referenztextes bezogenen Informationen gemeint: Erläuterungen zu Varianten oder Emendationsentscheiden, Verweise auf Parallelstellen, Wort- und Sacherklärungen. Vom technisch-pragmatischen Gesichtspunkt aus sind diese - editionstheoretisch bisher natürlich beachtlichen Unterscheidungen - nicht von entscheidender Relevanz. Der produktionsorientierte Stellenkommentar in der Computer-Edition: ein Kommentar, der allererst gar nicht aufs Ende aus ist, ein Kommentar für die Edierenden zunächst, der Anstöße, wichtige Feststellungen, provisorisch formuliert, inkonsistent noch, in Entwicklung begriffen. Auch das Unfertige, sich Entwickelnde, Vorsystematische, soll seinen - produktiven - Ort im System erhalten. Denkbar ist - bezüglich der Erfassung von Stellenkommentaren - eine Struktur, welche die kommentierende Eingabe nicht nur kanalisiert, sondern auch, qua Struktur, anregt: die leere Zeile, die beschrieben werden will und zugleich zur Knappheit der Mitteilung drängt - die Zeile, die sich, wenn umfangreichere Äußerungen nötig werden, gleichsam aufklappen läßt, um größere, gestaltbare Schreibflächen freizugeben. Solche Kommentare sind, wie gesagt, nicht von Anfang an fertig, sondern werden im Zusammenspiel mit andern ergänzt, provozieren selbst Einträge an neuen Stellen, die man wiederum nur in Reichweite hat, weil sie durch verschiedene Suchmöglichkeiten zitierbar sind. Text und Kommentar, aber auch Kommentar und Kommentar werden untereinander, visuell präsentierbar, vernetzt - die Erfassung ist nicht linear (beamtenhaft) fortschreitend, sondern zirkulär (chaotisch, wenn Sie so wollen). Selbst die geordnetste der Speicherformen, die Datenbank, dürfte so etwas von der irritierenden Zerstreuung zurückerhalten, die den Editor /die Editorin angesichts der enigmatischen Zeichenmassen hin und wieder und immer wieder befallen mag. Natürlich wird sich - so die Absicht - aus dem kreisenden Komplettieren nach und nach die objektive, für den allgemeinen Benutzer zuträgliche Kommentierung ergeben, wird die Edition, das souveräne Werk für das Auge des andern, entstehen. Wo die Produktion zur Diskussion steht, muß aber auch dem erst sich Formierenden ein fester Stellenwert zugestanden werden. Ich plädiere für die Unterscheidung von zwei strategischen Typen des Stellenkommentars: - dem objektiven, zur Gültigkeit tendierenden, allgemein leser-orientierten Kommentar (wie er auch, bereinigt, ins Buch einrücken wird)

Stellenkommentar in der Computer-Edition

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- und dem subjektiven, rein arbeitsbezogenen, internen Kommentar: persönliche editorische Notizen, Mitteilungen an sich selbst und an Mitarbeiterinnen, z.B. die Aufforderung, ein Satzzeichen nochmals am Original zu überprüfen oder die Varianten eines neuen Textzeugen zu erfassen oder einfach ein zu Unzeiten verbalisierter schwermütiger Seufzer. Für beide Typen gelten die gleichen technischen Bedingungen. Von methodischer Relevanz scheint mir aber, daß auch der 'subjektive Kommentar' in kommunikationsfähiger Form festgehalten und bei Bedarf in der Koedition intersubjektiv verfügbar gemacht werden kann. Am Anfang sogar dominierend, wird er sich am Ende selbst zurücknehmen, bzw. als dokumentarisches Relikt überdauern, gemahnend an die auch nach der Fertigstellung einer Edition ungelösten Probleme. Wie leicht ersichtlich, versuche ich, in die Welt der technisch durchstrukturierten, automatisierten Arbeitsabläufe ein Moment des Handwerklichen hinüberzuretten. Es schwebt mir bei alledem die wohl etwas archaisch anmutende Vision vor, die Zeichen, Wörter, Sätze möchten - gerade im und mit dem elektronischen Medium - immerhin von den Edierenden noch wahrgenommen, nicht nur als Daten formalisiert und maschinell verarbeitet werden. Vom Pakt mit der Technik erwarte ich nicht nur eine Entlastung von der Mühe, mich mit Datenmassen herumschlagen zu müssen, sondern auch die Möglichkeit, mich in ihnen einrichten, mit ihnen umgehen zu können und dabei jenes Lustmoment zu bewahren, welches nur direkte Berührung gewährt. Unter Editoren begegnet man des öftern der Befürchtung, man könnte der Edition am Ende anmerken, daß nichtphilologische Einflüsse mitgewirkt hätten. Wieso eigentlich nicht, ließe sich zurücktragen. Entweder will man Wege zu einem kreativen Zusammenspiel finden, oder man denkt sich die Technik zum vorneherein - fantasielos - als bloßes Mittel zur bequemeren Erreichung dessen, was man sowieso schon ohne sie wollte. Es fragt sich aber, ob nicht gerade bei dieser Haltung die Macht der Technik, der man sich dann unter Umständen zur Erreichung seiner Zwecke bedingungslos unterwirft, allererst inthronisiert wird. Anhand einer kurzen Übersicht soll das Modell einer Computer-Edition vorgestellt werden, das aus solchen Fragestellungen heraus - als Eigenentwicklung - entstanden ist Die Applikation wird bei den Vorbereitungsarbeiten einer historisch-kritischen Gottfried Keller-Ausgabe eingesetzt und aufgrund der sich während der Anwendung präzisierenden Benützerbedürfnisse auch laufend modifiziert und weiterentwickelt. Sie ist nicht als allgemein zu vertreibendes Editionsprogramm gedacht, sondern auf die spezifische Überlieferungs- und Editionslage bei Keller hin konzipiert (autorisierte Gesamtausgabe, die sich als Referenztext anbietet; mehrere Druckauflagen, meist ohne einschneidende Abweichungen; wenig Handschriften, v.a. Druckvorlagen; geringe genetische Stufung). Basis des Ganzen ist der bereits vorhandene (mit Textverarbeitung erfaßte oder eingescannte) und in eine Datenbank integrierte Referenztext. Auf diesen werden alle übrigen zu erfassenden und verwaltenden Informationen bezogen: Varianten, Wortindex, Inhaltsverzeichnis, Schlagwörter, Querverweise und eben auch Stellenkommentare und -

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Walter Morgenthaler

notizen. Grundprinzip der Darstellung ist die durchgängige visuelle Parallelisierung von Text und darauf bezogenen Informationen. Diese können dann in verschiedener Weise angezeigt, durchsucht, verglichen oder ausgewertet werden. Durch Optionen-Menüs, einblendbare Auswahllisten, Funktionstasten, farbliche Differenzierung und automatisch gesteuerte Relationierungen soll eine möglichst einfache Anwendung (sowohl beim Erfassen wie beim Recherchieren) garantiert werden: unbehelligt von Steuerzeichen, Dateiattributen und Abfrageformeln. Der Referenztext wird in der oberen Bildschirmhälfte angezeigt, während in der unteren Hälfte lemmatisch die Stellenkommentare (oder Varianten, Querverweise, Notizen) zu der mit dem Cursor markierten Textzeile aufgelistet werden. Um Einträge zu erfassen, werden Anfang und Ende der Referenzstelle mit dem Cursor markiert, worauf ein Eingabefenster für strukturierte Kurzkommentare (Varianten usw.) eingeblendet wird, welche sich im Bedarfsfall durch ausführlichere Hintergrundtexte ergänzen lassen. Die Dominanz des Referenztextes gegenüber den übrigen, nur als Varianten erscheinenden Textfassungen, wird dadurch relativiert, daß sich aus den Lemmata beliebige Fassungen generieren und synchronisiert mit dem Referenztext anzeigen lassen. Kommentare (und Varianten) lassen sich gleichermaßen wie die Referenztexte automatisch indexieren und dementsprechend absuchen. Durch Schlagwörter können die Suchmöglichkeiten weiter ausgebaut werden: Alle schon vergebenen Schlagwörter werden in einem Verzeichnis gesammelt und bei weiteren Zuordnungsaktionen zur Auswahl angezeigt. Eine Sonderform bilden die Querverweise auf andere Textstellen oder zusätzliche Fassungen, Passagen in Briefdokumenten, Quellentexten usw. Die betreffenden Stellen lassen sich als Zusatzinformationen in der unteren Bildschirmhälfte einblenden oder anstelle des aktuellen Textes aktivieren. Dadurch erübrigt sich auch das Problem der selektierenden und der wiederholenden Aufnahme von Dokumenten: was vorhanden ist, läßt sich - von verschiedenen Positionen her - adressieren, aber auch übergehen. Wie die literarischen Texte lassen sich auch die Dokumente zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption, die Rezensionen und Quellentexte als Referenztext behandeln: mit darauf bezogenen Kommentaren, Indices, Inhaltsverzeichnissen, Schlagwörtern usw. Ergänzend zur Text- und Dokumentenedition wird ein Informationssystem aus relationalen Datenbanken aufgebaut, das es erlaubt, Textzeugenkataloge, Titelverzeichnisse, Bibliographien, Personendaten und Daten zur Werkgenese zu erfassen, zu verwalten und miteinander und mit den Texten und Dokumenten zu verknüpfen. So wird z.B. beim Registrieren eines Briefes automatisch der Code generiert, der es erlaubt, auf Tastendruck den Wortlaut dieses Briefes aus der Dokumentendatenbank einzublenden; zur korrekten Angabe von Absender und Adressat können die Daten aus der Personendatenbank angezeigt und übernommen werden, und die Erstdruck-Sigle läßt sich aus der bibliographischen Datenbank einlesen. Das alles ist, gemessen an den technischen Möglichkeiten der heute schon eingetretenen Zukunft, nicht allzu spektakulär. Dennoch hat der konsequente Einsatz einer solchen Computer-Edition zur Folge, daß sich die editorischen Fragestellungen

Stellenkommentar in der Computer-Edition

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allmählich zu verschieben beginnen. Zentral sind nicht mehr so sehr deflatorische Abgrenzungen, Rechtssprechungen über Textkonstitution und Variantenwiedergabe oder über die Aufnahmewürdigkeit von Kommentaren, als Fragen zur zweckmäßigen Relationierung von Daten und zu deren genereller, nicht bevormundender Bereitstellung für die Benützer. Zur Diskussion steht letztlich das traditionelle Imperium des Editors selbst.

Nikolaus

Tiling

Einsatz von EDV bei der Nachlaß-Erschließung am Beispiel Hubert Fichte

Grundlage editorischer Vorhaben ist die Sicherung und kritische Überprüfung von Textbeständen, die veröffentlicht werden sollen. Die kommentierende Aufschlüsselung durch Quellen aus dem historischen Umfeld der Texte bzw. ihrer Autoren bildet einen zweiten Schwerpunkt und ist für das Verständnis des Materials sowie als Basis für neue interpretatorische Zugriffe unerläßlich. Die Tätigkeit der "Arbeitsstelle Hubert Fichte" am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg war zunächst auf den ersten Bereich konzentriert: die Sicherung der Arbeiten des Hamburger Autors. Eine detaillierte Katalogisierung des auffindbaren Bestandes sollte die dafür notwendigen Recherchen begleiten. Als Hubert Fichte im März 1986 in Hamburg starb, bestand sein veröffentlichtes Werk aus 16 Bänden. Es umfaßte Erzählungen, Interviews und Romane. Hinzu kamen über 200 Rundfunkproduktionen: Hörspiele, Features und Interviews. Die unterschiedlichen Artikel in diversen Zeitschriften sind bis heute noch nicht genau gezählt. Schon dieser, bis Mitte der achtziger Jahre publizierte Abschnitt des Werks, ist nicht nur in seiner Genre-Vielfalt, sondern auch thematisch mehrfach verschachtelt und durch Querverweise ineinander verwoben. Hubert Fichte war kurz nach seiner Geburt 1935 als uneheliches, halbjüdisches Kind mit der Mutter zu den Großeltem nach Hamburg-Lokstedt übergesiedelt. Vor allem in den sechziger Jahren avancierte der homosexuelle Autor zum literarischen Chronisten eines Halbweltmilieus um den Kiez und die Bahnhofsviertel der Hansestadt Weniger bekannt waren (und blieben) seine umfangreichen Erforschungen synkretistischer Kulte vor allem in Afrika und Südamerika, die er intensiv studierte und voller Hochachtung für die fremden Kulturen zu beschreiben versuchte. Nach seinem Tod kaufte die Stadt Hamburg nach längeren Verhandlungen den Nachlaß des Autors. Während die Besitzrechte an Hamburg und damit an die hiesige Staatsund Universitätsbibliothek gingen, erwarb der Fischer-Verlag die Veröffentlichungslizenz für einen Roman-Zyklus, der sich als Bestandteil des Nachlasses im Besitz der Alleinerbin Leonore Mau befand. Dieses Werk, das Fichte in Anlehnung an Marcel Prousts 'roman fleuve' "A la recherche du temps perdu" als 'Roman Delta' mit dem Titel "Die Geschichte der Empfindlichkeit" bezeichnet hatte, lag in unterschiedlichsten Bearbeitungsstadien vor - von Handschrift bis Typoskript, von Textsammlung bis zur fertigen Romanvorlage. Ein zugehöriger Plan, inzwischen als "vorläufige Ordnung der Geschichte der Empfindlichkeit" bezeichnet, listete 19 Romane und drei Anhang-Bände auf.

Einsatz von EDV bei der Nachlaß-Erschließung

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Diesem Roman-Zyklus, an dem Fichte offensichtlich parallel zu seinen anderen Arbeiten seit Mitte der sechziger Jahre geschrieben hatte, galt das erste Interesse einiger Literaturwissenschaftler, die sich mit dem bis dahin bekannten Werk auseinandergesetzt hatten. Schon dabei stellte sich immer wieder heraus, daß die Zusammenfiigung weit über die Texte verstreuter thematischer und ästhetischer Hinweise zu neuen Bewertungen, einer sukzessiven Entfaltung der Dimensionen des vorliegenden Werkes führte. Und nun hatte man ein Parallel-Werk, einen Roman über die Romane, eine Geschichte über die Geschichten und vor allem auch über die Bedingungen des Schreibens von vielleicht 5000 Seiten vor sich! Um den Zugang der im Nachlaß vorliegenden Materialien zu sichern und durch eine vollständige Bibliographie von Primär- und Sekundärliteratur zu ergänzen, wurde 1987 am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg die "Arbeitsstelle Hubert Fichte" gegründet. Parallel zur Vervollständigung der Bibliographie wird dort seit 1989 auch an der Katalogisierung und Erschließung des Nachlasses von Hubert Fichte gearbeitet. Mit dem literaturwissenschaftlichen Interesse der Textinterpretation, das sich primär dem formalen und inhaltlichen Aufbau, thematischen Bezügen und ästhetischen Konzepten zuwendet, waren implizite Vorgaben für ein Konzept der Nachlaß-Erschließung verbunden. Neben der notwendigen Standortbeschreibung über eine vorläufige FundortSignatur ging es uns in der 'Fichte-Arbeitsstelle' vor allem um - die Standortbestimmung des Dokuments innerhalb der Nachlaß-Umgebung, - die Datierung und lokale Identifizierung der Entstehung einzelner Dokumente und - um die inhaltliche Erschließung des Materials. Alle drei Arbeitsschwerpunkte haben dabei eine doppelte Dimension. Einerseits dienen sie der bio-bibliographischen Rekonstruktion von Leben und Werk Hubert Fichtes, andererseits geht es um die Überprüfung inhaltlicher, zeitlicher und lokaler Korrelationen. Aufenthaltsorte und -Zeiten sind in diesem (Evre mit inhaltlichen und ästhetischen Themen verknüpft, die, über Zeiträume verschoben, wieder aufgenommen, überarbeitet und neu arrangiert wurden. Von vornherein wurde dem Bereich inhaltlicher Erschließung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Angesichts der Menge des Materials (ca. 10.000 Dokumente - von der Karteikarte, über Fotos bis zu Briefen und Manuskripten - ) schien der Einsatz von EDV die einzige Möglichkeit, detailliert dokumentieren und anschließend thematisch orientiert recherchieren zu können. Diesen Anforderungen mußte das entsprechende Datenbankprogramm genügen, das außerdem auf dem Apple-Rechner der Arbeitsstelle leicht zu bedienen sein sollte, weil die Datei prinzipiell mit der Perspektive öffentlicher Nuzbarkeit aufgebaut wurde. Dafür erschien ein weitgehend oberflächengeführtes Programm mit flexibler Wahl von Eingabevariablen angemessen, das in der Lage ist - neben den üblichen numerischen und alpha-numerischen Sortierungen - Freitextrecherchen durchzuführen. Ein weiterer Gesichtspunkt war die Kompatibilität zu den bereits existierenden Primär- und Sekundärliteratur-Bibliographien, die mit dem Nachlaßverzeichnis abgeglichen werden sollten, um die erwähnten Korrelationen zeitlicher, lokaler und thematischer Art auf-

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zeigen zu können. Deshalb kam einmal mehr das Programm "FileMaker" zur Anwendung, mit dem wir schon vorher gute Erfahrungen gemacht hatten. Dieses Programm bietet eine indexsequentielle Dateistruktur, in der Eintragsfelder beliebig benannt und graphisch arrangiert werden können. Dabei ist gewährleistet, daß die sogenannte 'Maske1, der Aufbau eines jeden Datensatzes, sowohl bei der Eingabe als auch bei Suchvorgängen mit allen Feldern genau so auf dem Bildschirm sichtbar ist, wie sie im Druck der Datensätze ausgegeben wird. (Im Anhang befinden sich einige Beispiele für den Aufbau der Karteikarten). Die Eingabe erfolgt in die jeweils vorher benannten und definierten Felder, die Charakter-Vorgaben für die Sortierung und Eingabekontrolle enthalten. So werden z.B. bei einer Variablen-Definition als 'Datumsfeld' nur Eingaben akzeptiert, die kalendarische Struktur aufweisen. In den für uns besonders interessanten Text-Feldern ist die Eingabe frei und vom Umfang her praktisch nicht begrenzt. Nach der Eingabe baut das Programm automatisch einen feldbezogenen Index auf, der alle enthaltenen Worte bzw. Werte alpha-numerisch auflistet. Entsprechend der aufgenommen Daten findet das Programm alle Datensätze, in denen der Wert eines Suchbegriffes enthalten ist mit einer einfachen Suchfunktion wieder und kann sie auf verschiedene Weisen darstellen oder in andere Dateiformate überführen. So bietet die Datei einerseits ein Verzeichnis der Fundorte bestimmter Quellen, läßt diverse Sortierungen zu, und es können jederzeit die Datensätze zusammengestellt werden, in denen Begriffe vorhanden sind, die durch eine Abfrage gesucht wurden. So ist es möglich, sowohl eine chronologische Bibliographie zu produzieren, wie ein Verzeichnis der Texte, die in Hamburg, auf Tahiti, oder in Brasilien entstanden. Entsprechendes gilt für die Auflistung der Werke aus bestimmten Jahren oder anderen Zeitabschnitten. In einem ähnlichen Verfahren kann die Rekonstruktion thematischer Zusammenhänge durchgeführt werden. Ein Beispiel wäre das Auflisten aller Fundstellen, in denen das Stichwort "Cadombli" vorkommt, oder in denen auf andere Autoren wie Proust, de Sade oder Lohenstein eingegangen wird. Bei der Aufnahme der Nachlaß-Dokumente bestehen keine Eingabe-Beschränkungen oder begriffliche Vorgaben. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist es bei der Eingabe möglich, ohne Gebundenheit an Normvorgaben oder Begriffshierarchien, wie bei z.B. der an Thesauri orientierten Aufnahme, zu arbeiten. Damit ist zugelassen, daß bei der Eingabe genau die Stichworte bzw. Textabschnitte eingegeben werden, die das vorliegende Dokument inhaltlich charakterisieren, ohne abstrakte Begriffe dafür wählen zu müssen. Andererseits ist damit die Aufnahme an die Kenntnis der Mitarbeiter gebunden, von deren Auswahl es abhängt, was man bei der späteren Recherche wiederfinden kann. Erfolgt die Datenaufnahme in einem Zusammenhang, wie er in der "Fichte-Arbeitsstelle" gegeben ist, also in Kenntnis des Gegenstandfeldes, erscheint die interessengeleitete Eingabe mit einem nötigen Minimum an festgelegten Elementen deutliche Vorteile gegenüber normierten Systemen zu haben, die einen höheren Arbeitsaufwand erfordern. Der relative Nachteil eines solchen kleinen 'Expertensystems' liegt in einem Informationsangebot, das entsprechend der Aufnahme seinen Schwerpunkt in thematisch zentrierten und entsprechend gewichteten Informationen enthält. Angaben zum Zustand des Dokumentes werden dabei jedoch ebenso berücksichtigt, wie Hinweise zu seiner 'textu-

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eilen Umgebung'. So kann es z.B. von Bedeutung sein, wenn sich bestimmte Manuskriptteile zwischen einem Briefwechsel befinden, oder Zeitungsausschnitte in einem Wörterbuch aufgehoben sind, wenn sich daraus Hinweise nicht nur auf die Arbeitsweise des Autors, sondern auch auf die Parallelität von Themen und Informationen ergeben. Seit der Einrichtung der Datei in der "Fichte-Arbeitsstelle" sind auf die skizzierte Art und Weise inzwischen fast 2000 Datensätze zur Katalogisierung des Nachlasses erstellt worden. Zusammen mit den Verzeichnissen aus den Bereichen Primärliteratur (200), Rundfunk (260), Sekundärliteratur (280) und Rezensionen (500), die alle nach den gleichen Kriterien aufgebaut und inhaltlich erschlossen sind, präsentiert sich ein reichhaltiger Fundus für Recherchen unterschiedlichster Ansätze. Personen, Themen, Zeiten, Orte und deren Kombinationen können durch alle Verzeichnisse hindurch abgefragt werden und bieten einen Informationshintergrund zu einem weiteren wichtigen Bereich, der zur Zeit in der Arbeitsstelle entsteht. Dort wird mit Hilfe eines Scanners das gedruckt vorliegende Werk Hubert Fichtes eingelesen und der Volltextrecherche über EDV zugänglich gemacht. In der damit möglichen Kombination aus biographischen und bibliographischen Daten, Nachlaßverzeichnis und elektronischem Textarchiv steht an der Arbeitsstelle eine Materialgrundlage für die vielfältigen Fragen eines internationalen Kreises von Literaturwissenschaftlem bereit. Editorische Vorhaben finden durch diese Sicherung des Werkbestandes in Kombination mit der Katalogisierung und stichwortartigen Erschließung des Nachlasses entscheidende Grundlagen für ihre Arbeit vor. Angaben zu Zeitraum und Textkonstitution in den nachgelassenen und bislang unveröffentlichten Manuskripten, Hinweise zu Korrekturen und textueller Umgebung sind in einer leicht zugänglichen Datenbank vorhanden, die ohne langwierige Anleitung benutzt werden kann. Ein numerierter Katalog aller Stücke ist fertiggestellt. Um die Dokumente im Handschriftenlesesaal der Hamburger Staatsund Universitätsbibliothek offiziell einsehen zu können, sind noch Arbeiten zur Anpassung unterschiedlicher Systeme und Programme durchzuführen, die jedoch bereits in Auftrag gegeben sind und das Ziel verfolgen, gleichzeitig auch die Aufnahmen der SUB nutzen zu können. So liegt dort unter anderem der Nachlaß von Hans-Henny Jahnn, der auch im Zusammenhang mit dem Werk Hubert Fichtes von eminenter Wichtigkeit ist und ebenfalls mit Hilfe von EDV katalogisiert werden soll. Die noch laufende Edition des nachgelassenen Roman-Werkes von Hubert Fichte "Die Geschichte der Empfindlichkeit" im Fischer-Verlag ist teilweise in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle besorgt worden und wird auch weiterhin von hier aus aufmerksam verfolgt Aufstellungen über den Bearbeitungsstand, Korrekturen etc. der jeweils benutzten Vorlagen aus den 'roten Ordnern', in denen sich die Typoskripte und handschriftlichen Texte befanden, sind in der "Arbeitsstelle Hubert Fichte" vorhanden. Untersuchungen zu intertextuellen Bezügen sowohl innerhalb des Werkes als auch zu 'wahlverwandten' Autoren liegen ausschnittsweise bereits vor. Schließlich wird 1993 das zweite Internationale Fichte Symposion in Hamburg stattfinden, das die Aspekte der Multimedialität und Intertextualität im Werk Hubert Fichtes zum Gegenstand haben wird und dann auf eine entscheidend vervollständigte Bibliographie des gesammten Werkes sowie die erste Nachlaß-Katalogisierung zurückgreifen kann.

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Anhang - Einige Beispiele für Datensätze aus dem Katalog des Fichte-Nachlasses an der "Arbeitsstelle Hubert Fichte":

Kopie 2. Fichte-Nachlal) |K